Protokoll:
17237

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 237

  • date_rangeDatum: 25. April 2013

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:51 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/237 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 237. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Marie-Luise Dött und Annette Sawade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Astrid Klug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Siegmund Ehrmann und des Herrn Professor Dr. Richard Schröder als Mitglieder des Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Wahl der Abgeordneten Sabine Leidig als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 5 b . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Stabilität, Wachstum, Fortschritt – Den starken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest machen (Drucksache 17/12700) . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Erfolg der Pro- gramme zur Technologieförderung im Mittelstand in der laufenden Legisla- turperiode, insbesondere über die Ent- wicklung des Zentralen Innovations- programms Mittelstand (Drucksache 17/12771) . . . . . . . . . . . . . . c) Beratung der Antwort der Bundesregie- rung auf die Große Anfrage der Abgeord- neten Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Doris Barnett, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Situation des Mittelstands (Drucksachen 17/9655, 17/12245) . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Petra Müller (Aachen), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Öffentlich-Private Partner- schaften – Potentiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen – zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf- fentlich-Private Partnerschaften dif- ferenziert bewerten, mit mehr Transparenz weiterentwickeln und den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Dr. Konstantin 29651 A 29651 B 29651 B 29651 B 29651 D 29652 C 29652 C 29652 D 29652 D 29653 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 von Notz, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Trans- parenz in Public Private Partner- ships im Verkehrswesen (Drucksachen 17/12696, 17/9726, 17/5258, 17/13155) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rekommu- nalisierung beschleunigen – Öffentlich- Private Partnerschaften stoppen (Drucksachen 17/5776, 17/6515) . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Andrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bessere Politik für einen starken Mittelstand – Fachkräfte sichern, Innovationen fördern, Rahmenbedingun- gen verbessern (Drucksache 17/13224) . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Christian Freiherr von Stetten  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister  BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister  BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . . Dieter Jasper (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Reinhold Sendker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Sabine Bätzing- Lichtenthäler, Elke Ferner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Deutschland 2020 – Gerecht und solidarisch (Drucksache 17/13226) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohns (Min- destlohngesetz – MinLohnG) (Drucksache 17/12857) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Memet Kilic, Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Mit einem Natio- nalen Aktionsplan die Chancen des de- mografischen Wandels ergreifen (Drucksache 17/13246) . . . . . . . . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mehrheitswillen respektieren – Gesetzlicher Mindest- lohn jetzt (Drucksachen 17/8026, 17/9613) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für soziale Ge- rechtigkeit statt gesellschaftlicher Spal- tung – Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010 (Drucksachen 17/12683, 17/13182) . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin  BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Guntram Schneider, Minister  (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29653 A 29653 B 29653 C 29653 C 29655 B 29657 B 29659 A 29660 D 29662 B 29664 A 29664 D 29665 A 29666 D 29668 B 29669 C 29670 B 29671 D 29673 A 29675 A 29676 C 29676 D 29676 D 29676 D 29677 A 29677 B 29679 D 29682 B 29684 D 29686 B 29687 A 29688 C 29690 C 29693 A 29694 C 29695 C 29696 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 III Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 45: a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (Drucksache 17/13063) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur Verankerung von Kinder- rechten im Grundgesetz)  (Drucksache 17/13223) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sicherungslücke im Übergang von Arbeitslosengeld in eine Erwerbsminderungsrente schlie- ßen (Drucksache 17/13113) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein- Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Versorgungsqualität und Therapiefrei- heit in der Substitutionsbehandlung stärken (Drucksache 17/13230) . . . . . . . . . . . . . . . e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Bil- dung für eine nachhaltige Entwicklung (Ergänzender Bericht) (Drucksache 17/8099) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung: Bericht des Parlamen- tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung (Arbeitsbericht der 17. Wahlperiode) (Drucksache 17/13064) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Kerstin Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nationales Reformprogramm 2013 und Nationaler Sozialbericht 2013 (Drucksache 17/13195) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Neuorientierung im Umgang mit Ge- walt und Organisierter Kriminalität in Mexiko und Zentralamerika – Sicher- heitsabkommen unter dem Primat der Menschenrechte gestalten (Drucksache 17/13237) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 46: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die ab- schließende Aufteilung des Finanzver- mögens gemäß Artikel 22 des Eini- gungsvertrages zwischen dem Bund, den neuen Ländern und Berlin (Finanz- vermögen-Staatsvertrag) und zur Ände- rung der Bundeshaushaltsordnung (Drucksachen 17/12639, 17/13256) . . . . . b)–k) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 572, 573, 574, 575, 576, 577, 578, 579, 580 und 581 zu Petitionen (Drucksachen 17/13117, 17/13118, 17/13119, 17/13120, 17/13121, 17/13122, 17/13123, 17/13124, 17/13125, 17/13126) . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Elften Ge- setz zur Änderung des Bundes-Immissions- schutzgesetzes (Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284, 17/13190) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Fraktion der SPD: Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundesta- ges über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrig- keit der „Nationaldemokratischen Par- tei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Ab- satz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfas- sungsgerichtsgesetzes  (Drucksache 17/13227) . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 29698 A 29699 A 29700 C 29701 B 29702 B 29702 B 29702 C 29702 C 29702 C 29702 D 29702 D 29703 A 29703 B 29703 C 29704 C 29704 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Rechtsextremismus entschlossen be- kämpfen (Drucksache 17/13225) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Fraktion DIE LINKE: NPD ver- bieten (Drucksache 17/13231) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Rechtsextremismus umfassend be- kämpfen (Drucksache 17/13240) . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Boris Pistorius, Minister  (Niedersachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU) . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze (Drucksachen 17/12638, 17/13258) . . – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes (Drucksachen 17/11369, 17/13258) . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Strom- Versorgungssicherheit in Deutsch- land erhalten und stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Netz- ausbau bürgerfreundlich und zu- kunftssicher gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausbau der Übertra- gungsnetze durch Deutsche Netz- gesellschaft und finanzielle Bürge- rinnen-/Bürgerbeteiligung voran- bringen (Drucksachen 17/12214, 17/12681, 17/12518, 17/13258) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister  BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Lohndumping im 29704 D 29704 D 29705 A 29705 A 29706 B 29707 C 29709 A 29710 D 29711 C 29713 B 29714 C 29715 D 29716 C 29716 D 29717 B 29718 B 29719 A 29719 C 29720 C 29721 A, 29721 B 29723 D, 29726 C 29721 B 29721 C 29721 C 29721 D 29728 B 29730 B 29731 D 29733 A 29734 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 V Einzelhandel stoppen – Tarifverträge stärken, Entgelte und Arbeitsbedingun- gen verbessern (Drucksache 17/13104) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerüber- lassung (Arbeitnehmerüberlassungsge- setz) (Drucksache 17/13106) . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen – Sicherung der Allgemeinverbind- lichkeitsregelung von Tarifverträgen – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Tarif- system stabilisieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Tarifver- tragssystem stärken – Allgemein- verbindliche Tariflöhne und bran- chenspezifische Mindestlöhne er- leichtern (Drucksachen 17/8459, 17/8148, 17/4437, 17/10220) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Innen- entwicklung in den Städten und Ge- meinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts (Drucksachen 17/11468, 17/13272) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- neten Bettina Herlitzius, Daniela Wagner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Baugesetzbuch wirklich no- vellieren (Drucksachen 17/10846, 17/13272) . . . . . Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister  BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Antrag der Abgeordneten Agnes Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine bewaffneten Drohnen für die Bundeswehr – Internationale Rüstungs- kontrolle von bewaffneten unbemann- ten Systemen voranbringen (Drucksache 17/13235) . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Die Beschaffung unbemannter Systeme überprüfen – zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfol- genabschätzung gemäß § 56 a der Ge- schäftsordnung: Technikfolgenab- 29737 A 29737 B 29737 B 29737 C 29738 C 29739 B 29740 C 29741 C 29742 C 29743 B 29744 B 29745 B 29746 A 29747 B 29748 B 29749 A 29750 A 29750 D 29752 C 29752 D 29753 A 29754 B 29756 C 29757 C 29758 C 29759 C 29761 A 29762 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 schätzung (TA) – Stand und Perspektiven der militärischen Nut- zung unbemannter Systeme (Drucksachen 17/9414, 17/6904, 17/11083) . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Beschaffung bewaffne- ter Drohnen für die Bundeswehr (Drucksachen 17/12437, 17/12725) . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktion der SPD: Für eine um- fassende Debatte zum Thema Kampfdroh- nen (Drucksache 17/13192) . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes (Drucksachen 17/12678, 17/13279) . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/13280) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Drit- ten Conterganstiftungsänderungsge- setz und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern (Drucksachen 17/11041, 17/13279) . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Opera- tion Atalanta zur Bekämpfung der Pirate- rie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Verein- ten Nationen (VN) von 1982 und der Reso- lutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De- zember 2008, 1897 (2009) vom 30. Novem- ber 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) vom 21. November 2012 und nachfolgender Resolutionen des Sicher- heitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/ 907/GASP des Rates der EU vom 8. De- zember 2009, dem Beschluss 2010/437/ GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Drucksache 17/13111) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister  AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister  BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 29762 D 29763 A 29763 B 29763 B 29764 B 29765 D 29767 B 29768 B 29769 A 29769 C 29769 D 29770 C 29771 D 29772 D 29773 C 29773 D 29773 D 29774 A 29775 A 29776 B 29777 C 29778 C 29779 C 29780 B 29781 B 29781 C 29782 C 29784 C 29785 C 29786 C 29787 C 29788 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 VII Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Sören Bartol, Michael Groß, Uwe Beckmeyer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Kon- sens für eine moderne Infrastruktur – Die Bundesverkehrswege solide finanzieren (Drucksache 17/13191) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhold Sendker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen sowie zur Änderung weiterer steuerli- cher Vorschriften  (Drucksachen 17/13082, 17/13259) . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/13268) . . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schutz vor Schiffsun- fällen beim Bau der Fehmarnbelt-Que- rung sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüf- stand – Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit dem Königreich Dänemark verhan- deln – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Chancen und Risiken ergeb- nisoffen bewerten – Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau einer Festen Fehmarnbeltque- rung aufnehmen (Drucksachen 17/11365, 17/8912, 17/9407, 17/13154) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. No- vember 2011 zur Änderung der Richt- linie 98/78/EG, 2002/87/EG, 2006/48/EG und 2009/138/EG hinsichtlich der zu- sätzlichen Beaufsichtigung der Finanz- unternehmen eines Finanzkonglome- rats (Drucksachen 17/12602, 17/12997, 17/13245) b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung und Re- gulierung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente (Honoraranlagebe- ratungsgesetz) (Drucksachen 17/12295, 17/13131) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Kerstin Tack, Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abgeordne- 29789 C 29789 C 29781 C 29791 D 29792 D 29793 A 29794 B 29795 A 29795 D 29796 D 29797 D 29798 A 29798 A 29799 B 29800 C 29802 B 29803 B 29804 D 29806 B 29806 D 29808 B 29809 B 29810 B 29811 A 29812 C 29813 C 29814 C 29816 A 29816 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 ter und der Fraktion der SPD: Verbrau- cherschutz stärken – Honorarberatung etablieren (Drucksachen 17/8182, 17/13131) . . . . . . Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, Beate Walter- Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz bei Steinkohleimporten (Drucksachen 17/10845, 17/12228) . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bun- desarchivgesetzes (Drucksachen 17/12012, 17/13219) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer As- soziation zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika andererseits (Drucksachen 17/12355, 17/13176) . . . . . . . . Hans-Werner Ehrenberg (FDP) . . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Zu- sammenbruch des Emissionshandels ab- wenden – Überschüssige Zertifikate aus dem Markt nehmen (Drucksache 17/13193) . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leib- lichen, nicht rechtlichen Vaters (Drucksachen 17/12163, 17/13269) . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Franz Thönnes, Dr. Rolf Mützenich, Christoph Strässer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Viola von Cramon- Taubadel, Volker Beck (Köln), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Umfassende Modernisierung und Respektierung der Menschenrechte in Aserbaidschan unab- dingbar machen (Drucksachen 17/12467, 17/13177) . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29816 B 29816 C 29817 D 29818 D 29819 D 29820 C 29821 B 29822 D 29824 A 29824 A 29825 B 29826 A 29827 C 29828 B 29829 C 29829 D 29826 A 29831 A 29832 C 29833 C 29834 C 29835 D 29836 C 29836 D 29837 C 29838 C 29839 A 29840 A 29840 C 29840 D 29842 B 29844 B 29845 A 29846 A 29846 D 29848 A 29848 B 29849 A 29849 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 IX Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urhe- berrechtsgesetzes (Drucksachen 17/12013, 17/13270) . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenktag werden (Drucksachen 17/585, 17/12908) . . . . . . . . . . Manfred Behrens (Börde) (CDU/CSU) . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Handels- gesetzbuchs  (Drucksache 17/13221) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU) . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Beate Walter-Rosenheimer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ahndung von Therapien mit dem Ziel der Änderung der sexuellen Orientierung bei Minderjährigen  (Drucksache 17/12849) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundes- zentralregistergesetzes und anderer regis- terrechtlicher Vorschriften zum Zweck der Zulassung der elektronischen Antragstel- lung bei Erteilung einer Registerauskunft (Drucksache 17/13222) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Petra Crone, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Menschenrechte älterer Menschen stärken und Erarbeitung einer UN-Konvention fördern (Drucksachen 17/12399, 17/13220) . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29852 A 29852 D 29854 B 29855 C 29855 D 29856 C 29857 A 29857 D 29858 C 29859 C 29859 C 29860 B 29861 A 29861 D 29862 C 29863 C 29863 C 29864 B 29865 A 29865 C 29866 B 29867 C 29867 C 29868 B 29869 A 29869 B 29870 A 29871 A 29871 B 29872 B 29873 B 29873 C 29874 C 29875 B 29875 C 29878 C 29879 D 29880 C 29881 D X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- derung des Öko-Landbaugesetzes (Drucksache 17/12855) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Johannes Remmel, Minister  (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: a) Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Gustav Herzog, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Organisationserlass zur Was- ser- und Schifffahrtsverwaltung stop- pen – Reform rechtssicher gestalten (Drucksache 17/13228) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal- tung des Bundes ohne Beschlussfas- sung des Deutschen Bundestages und Bundesrates verhindern (Drucksache 17/13229) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emissionshandels (Drucksachen 17/12064, 17/12489) . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (fraktionslos) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheitsversor- gung von Menschen mit Behinderung menschenrechtskonform gestalten (Drucksache 17/12712) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller- Ohm, Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bildung und Teilhabe für alle Kinder, Jugendliche und junge Er- wachsene in Deutschland sicherstellen – Das Bildungs- und Teilhabepaket reformie- ren (Drucksache 17/13194) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- haltsausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Carsten Schneider (Erfurt), Uwe Beckmeyer, Klaus Brandner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Privat- kundengeschäft der Finanzagentur Deutschland GmbH fortsetzen (Drucksachen 17/12062, 17/12434) . . . . . . . . Alexander Funk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29882 C 29882 D 29883 B 29884 C 29885 B 29885 D 29886 C 29886 D 29886 D 29887 D 29888 D 29890 A 29891 A 29891 C 29892 C 29893 B 29893 C 29894 B 29895 B 29895 D 29896 C 29897 A 29897 D 29898 A 29900 B 29901 C 29902 B 29902 D 29903 D 29904 A 29905 C 29906 D 29908 C 29909 B 29910 C 29912 A 29912 B 29913 A 29914 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 XI Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Antrag der Abgeordneten Ulrich Maurer, Herbert Behrens, Karin Binder, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen als ersten Schritt zu deren Überwindung (Drucksache 17/13130) . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (fraktionslos) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Dr. Konstantin von Notz, Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 1. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Aus- reisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaa- ten der Europäischen Union – (KOM (2013) 95) 2. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Registrierprogramm für Reisende – (KOM (2013) 97) 3. zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/Ausreisesystems (EES) und des Programms für registrierte Rei- sende (RTP) – (KOM (2013) 96) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Ab- satz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bun- destag in Angelegenheiten der Europäi- schen Union Smart-Borders-Paket ablehnen (Drucksache 17/13236) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Chancen der Nano- technologien nutzen und Risiken für Verbraucher reduzieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nanotechnologie – Chancen nutzen und Risiken minimieren (Drucksachen 17/8158, 17/9569, 17/13217) . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wiedereingliederung fördern – Gefangene in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbeziehen (Drucksache 17/13103) . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29914 C 29915 A 29915 C 29916 D 29917 A 29918 B 29918 D 29919 D 29920 B 29921 A 29921 D 29923 A 29923 B 29925 A 29925 C 29926 B 29926 D 29928 A 29928 A 29929 A 29929 D 29930 D 29932 A 29932 D 29933 C 29933 D 29934 C 29935 C XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Katja Kipping, Sabine Zimmermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei den Jobcentern erhöhen (Drucksache 17/7844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Michael Groß (SPD) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: – Öffentlich-Private Partnerschaften – Po- tentiale richtig nutzen, mittelstandsfreund- lich gestalten und Transparenz erhöhen – Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf- fentlich-Private Partnerschaften differen- ziert bewerten, mit mehr Transparenz wei- terentwickeln und den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit stärken – Transparenz in Public Privat Partnerships im Verkehrswesen (Tagesordnungspunkt 3 d) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung: Sam- melübersicht 580 zu Petitionen (Tagesord- nungspunkt 46 k) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entschei- dung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationalde- mokratischen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundes- verfassungsgerichtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 5 a) Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Nešković (fraktionslos) . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner und Britta Haßelmann (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- mentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Fest- stellung der Verfassungswidrigkeit der „Na- tionaldemokratischen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundes- verfassungsgerichtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Stephan Kühn, Monika Lazar und Arfst Wagner (Schleswig) (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deut- schen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungs- widrigkeit der „Nationaldemokratischen Par- tei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 29937 C 29938 A 29938 D 29940 A 29940 A 29940 C 29941 B 29942 C 29943 B 29944 B 29945 C 29947 A 29947 C 29948 B 29949 A 29949 C 29950 B 29950 D 29951 D 29952 D 29953 B 29954 A 29954 C 29955 B 29955 C 29956 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 XIII des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichtsgeset- zes (Tagesordnungspunkt 5 a) . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jerzy Montag, Viola von Cramon-Taubadel, Ute Koczy und Dr. Valerie Wilms (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentli- chen Abstimmung über den Antrag auf Ent- scheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststel- lung der Verfassungswidrigkeit der „National- demokratischen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundes- verfassungsgerichtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bre- men), Birgitt Bender, Katja Dörner, Sven- Christian Kindler, Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Lisa Paus und Tabea Rößner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über den An- trag auf Entscheidung des Deutschen Bundes- tages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokratischen Partei Deutsch- lands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grund- gesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (Tages- ordnungspunkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Cornelia Behm, Agnes Brugger, Harald Ebner, Bettina Herlitzius, Thilo Hoppe, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Brigitte Pothmer, Dorothea Steiner, Markus Tressel und Daniela Wagner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- mentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Fest- stellung der Verfassungswidrigkeit der „Na- tionaldemokratischen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundes- verfassungsgerichtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Ansgar Heveling (CDU/CSU) zur Abstim- mung über den Entwurf eines Zweiten Geset- zes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze (Tagesord- nungspunkt 6 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jörn Wunderlich und Raju Sharma (beide DIE LINKE) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters (Tagesord- nungspunkt 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters (Tagesordnungspunkt 20) Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Bundesarchivgesetzes (Tagesord- nungspunkt 17) Wolfgang Börnsen (Bönstrup)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29956 C 29957 B 29958 A 29958 D 29959 D 29960 D 29961 A 29962 A 29962 B 29963 C 29964 B 29965 B 29966 A 29966 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29651 (A) (C) (D)(B) 237. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29947 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Michael Groß (SPD) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: – Öffentlich-Private Partnerschaften – Poten- tiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen – Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öffentlich-Private Partnerschaften differen- ziert bewerten, mit mehr Transparenz weiterentwickeln und den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit stärken – Transparenz in Public Private Partnerships im Verkehrswesen (Tagesordnungspunkt 3 d) Michael Groß (SPD): Mehr Transparenz, bessere Beteiligung und fundierte Wirtschaftlichkeitsuntersu- chungen – dies sind die neuen Vorgaben für ÖPP, die sich in den Anträgen widerspiegeln. Leider sieht die Praxis des Bundesverkehrsministers anders aus. Eigent- lich fehlen die finanziellen Mittel im Verkehrsetat für den Aus- und Neubau weiterer Straßenprojekte. Der Bundesverkehrswegeplan ist hoffungslos überzeichnet mit Verkehrsinfrastrukturprojekten und deutlich unter- finanziert. Viele Straßen-, Wasserstraßen- und Schienen- projekte werden leider in 20 Jahren noch nicht realisiert sein. Gleichzeitig müssen und werden die Finanzmittel des Verkehrsetats wesentlich stärker in Erhaltungsmaß- nahmen fließen, um unser bisher gutes und funktions- tüchtiges Verkehrsnetz für den Wirtschaftsstandort  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 25.04.2013 Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 25.04.2013 Binding (Heidelberg), Lothar SPD 25.04.2013 Bleser, Peter CDU/CSU 25.04.2013 Bockhahn, Steffen DIE LINKE 25.04.2013 Bollmann, Gerd SPD 25.04.2013 Brehmer, Heike CDU/CSU 25.04.2013 Dreibus, Werner DIE LINKE 25.04.2013 Fritz, Erich G. CDU/CSU 25.04.2013* Gabriel, Sigmar SPD 25.04.2013 Gerdes, Michael SPD 25.04.2013 Glos, Michael CDU/CSU 25.04.2013 Hagedorn, Bettina SPD 25.04.2013 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 25.04.2013 Hiller-Ohm, Gabriele SPD 25.04.2013 Korte, Jan DIE LINKE 25.04.2013 Kumpf, Ute SPD 25.04.2013 Lötzer, Ulla DIE LINKE 25.04.2013 Möller, Kornelia DIE LINKE 25.04.2013 Pflug, Johannes SPD 25.04.2013 Pronold, Florian SPD 25.04.2013 Roth (Heringen), Michael SPD 25.04.2013 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.04.2013 Schieder (Weiden), Werner SPD 25.04.2013 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 25.04.2013 Schuster, Marina FDP 25.04.2013 Voß, Johanna DIE LINKE 25.04.2013 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.04.2013 Werner, Katrin DIE LINKE 25.04.2013*  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 29948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Deutschland auch weiterhin zu erhalten. So sind die Projektrealisierungen als ÖPP – Öffentlich Private Part- nerschaft – gern genommene Krücken für den Bundes- verkehrsminister. Dabei ist es schlichtweg „Bauen auf Pump“! Den privaten Bau- und Betreiberfirmen wird vorab mehr Effizienz und damit kostengünstigere Projektrealisierung unterstellt. Auf Nachfrage beim Par- lamentarischen Staatssekretär Scheuer, woraus diese Aussagen resultieren, konnte ich erfahren, dass man „diese Effekte erwarte“. Hier müssen endlich belegbare Daten erfasst und wis- senschaftlich ausgewertet werden. Nur bei einem realis- tischen Vergleich von konventioneller Realisierung von Bauprojekten und der Realisierung über ÖPP auf der Grundlage einer objektiven und wissenschaftlich fun- dierten Wirtschaftlichkeitsuntersuchung können eventu- ell mögliche Effizienzgewinne und Kostenersparnisse festgestellt werden. Es bleiben starke Zweifel, ob ÖPP wirtschaftlicher sein kann, da die öffentliche Hand zins- günstiger Kredite in Anspruch nehmen kann. Weiterhin gibt es das Problem „unvollständiger Verträge“, die ein hohes Risiko für den Auftraggeber nach sich ziehen. Ebenso sind Redundanz- und Remanenzeffekte feststell- bar, die zwangsläufig bei einer Berücksichtigung in der Kostenrechnung zu einer Kostensteigerung der Projekte führen müssen. Zusätzlich hat der Auftragnehmer Ren- diteerwartungen, die im Preis abgebildet werden müs- sen. Letztendlich kann es unter anderem zum Verlust von guter Arbeit, fairem Lohn und damit zu Dumping- löhnen und dem Unterlaufen von tariflichen Mindest- standards führen. Neben den Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen ist die Frage der Transparenz eine der wichtigsten und meist diskutierten. Immer wieder wird zu ÖPP-Projekten Ent- scheidungsträgern Akteneinsicht erschwert, verwehrt oder mit höchster Geheimhaltung belegt. ÖPP-Projekte müssen auch konventionell über den öffentlichen Haus- halt finanzierbar sein und dürfen nicht zur Umgehung der Konsolidierungsziele und der Schuldenbremse füh- ren. Sonst widersprechen sie nachhaltigem Wirtschaften und nachhaltiger Finanzpolitik. Ich stimme daher gegen den Antrag der Koalitions- fraktionen und für den Antrag der Fraktion der SPD. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung: Sammelübersicht 580 zu Petitio- nen (Tagesordnungspunkt 46 k) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Die Mehrheit des Petitionsausschusses empfiehlt, das Petitionsverfahren 3-16-11-822-001555 abzuschließen. Dieser Empfehlung werde ich nicht folgen. Ich stimme gegen den Abschluss der Petition zur Al- tersversorgung der Bergleute der Braunkohleveredlung Borna-Espenhain und fordere, die Petition zur Erwägung an die Bundesregierung zu überweisen. Es geht hier um Männer und auch Frauen, die bei ih- rer Arbeit großen gesundheitlichen Gefährdungen ausge- setzt waren. Viele erkrankten durch den Umgang mit to- xischen Gasen, Stäuben und weiteren giftigen Stoffen unter anderem an Krebs. Wegen dieser extremen Bedin- gungen hatte der DDR-Gesetzgeber die Arbeit in der Braunkohleveredlung einer bergmännischen Tätigkeit unter Tage gleichgestellt. Diese Gleichstellung sicherte die Anwendung eines Steigerungsfaktors von 2,0 bei der Berechnung der Altersversorgung und einen vorgezoge- nen Renteneintritt, bei Männern mit 60 Jahren, bei Frauen mit 55 Jahren. Durch das Rentenüberleitungsgesetz wurde diese Gleichstellung mit einer bergmännischen Tätigkeit für alle Betroffenen, die bis zum 31. Dezember 1996 in Rente gegangen sind, anerkannt. Allen anderen mit ei- nem späteren Renteneintritt werden diese Ansprüche auf eine Rente für „bergmännische Tätigkeit unter Tage, gleichgestellt“ vorenthalten. Das geschieht, obwohl die Ansprüche in den Sozial- versicherungsausweisen und in schriftlichen Bescheini- gungen des Bundesbergbauunternehmens dokumentiert sind und obwohl die Unternehmen dafür die gesetzlich vorgeschriebenen höheren Anteile an die für die Renten- versorgung zuständige Knappschaft geleistet haben. Im Rentenbescheid, Anlage 12, werden die vom Ar- beitgeber gemeldeten Leistungszeiten exakt ausgewie- sen, aber mit „0“ bewertet. Die Knappschaft ignoriert damit völlig die Gleichstellung der Tätigkeit mit einer Arbeit unter Tage. Zum vorgezogenen Renteneintritt: Da er nicht gewährt wird, mussten und müssen viele Betroffene Rentenabschläge in Kauf nehmen. Und dies, obwohl im Rentenreformgesetz von 1999 ein Vertrau- ensschutz nach Montanuniongesetz zumindest für be- stimmte Geburtsjahrgänge festgeschrieben ist, und zwar für diejenigen, die vor dem 7. Mai 1944 (Frauen) bzw. vor dem 14. Februar 1944 (Männer) geboren sind. Diese Gesetzeslage hat das Bundessozialgericht mit drei Urteilen vom 27. August 2009 (Aktenzeichen: B 13 R 107/08 R, B 13 R 111/08 R und B 13 R 121/08 R) auf- gegriffen und Rentenabschläge bei einem vorgezogenen Renteneintritt gemäß Montanuniongesetz nach Arbeits- losigkeit bzw. Altersteilzeit als ungerechtfertigt bean- standet. Selbst für diese im Gesetz und in den Urteilen ge- nannte Personengruppe erfolgt die Umsetzung vor allem durch den Druck, den die Interessengemeinschaft der Bergleute ausübt. Die Knappschaft ist nach wie vor nicht bereit, alle Personen einzubeziehen, die eine Zusage für eine Rente für „bergmännische Tätigkeit unter Tage, gleichgestellt“ haben. Zum Steigerungsfaktor 2,0 bei der Berechnung der Altersversorgung: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29949 (A) (C) (D)(B) Die Anwendung des Steigerungsfaktors von 2,0 ist für alle noch betroffenen Bergleute gänzlich offen, ob- wohl dieser ebenfalls Bestandteil der Rente „für berg- männische Tätigkeit unter Tage, gleichgestellt“ ist. Auch hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die Gleichstellung mit einer bergmännischen Tätig- keit unter Tage muss endlich erfolgen. Dann kann über die Anwendung des § 254 a des SGB VI („Ständige Ar- beiten unter Tage im Beitrittsgebiet“) für die betroffenen Bergleute deren bestätigte Leistungszeit im Rentenbe- scheid Anlage 12 neu bewertet werden. Von den einst rund 1 000 betroffenen Bergleuten kämpfen aktuell noch 406 Bergleute um ihren erarbeite- ten Rechtsanspruch. Der Rückgang, so die Information der Interessengemeinschaft der Bergleute, sei „auf To- desfälle und Aufgabe des Rechtskampfes aus Alters- gründen zurückzuführen“. Wir als Gesetzgeber sollten dafür sorgen, dass alle diese älteren und häufig durch die Arbeit erkrankten Menschen endlich ihre erworbenen Ansprüche erhalten. Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Fest- stellung der Verfassungswidrigkeit der „National- demokratischen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungs- gerichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich habe heute dafür gestimmt, das Verbotsverfahren gegen die NPD einzuleiten. Die NPD ist eine der Hauptkräfte des Neo- faschismus in Deutschland. Bei ihr laufen die Fäden zwischen freien Kameradschaften und der sogenannten neuen Rechten zusammen. Das Einschüchtern und Terrorisieren von Migrantin- nen und Migranten, Menschen mit Behinderung und An- dersdenkenden ist ein Kernmerkmal der Neofaschisten. Das Verbot der NPD wäre ein Schlag, der die gesamte rechtsradikale Szene in Deutschland schwächen könnte. Es wäre ein Zeichen der gesellschaftlichen Ächtung der Nazis und der Solidarität mit all denen, die dem Terror der Nazis ausgesetzt sind. Aber wir wissen auch: Das Verbotsverfahren ist lang- wierig. Die juristischen Erfolgsaussichten sind unge- wiss. Und selbst ein erfolgreiches Verbot wird das Nazi- problem nicht lösen. Die Nazis werden sich selbst neue Strukturen schaffen, wie sie es bereits einige Male getan haben. Der Kampf gegen Neofaschismus bleibt eine gesamt- gesellschaftliche Aufgabe. Unabhängig vom NPD-Ver- botsverfahren können drei Dinge sofort getan werden, um die NPD zu schwächen: alle V-Leute abschalten, Na- ziaufmärsche verbieten und Zivilcourage gegen Rechts fördern statt kriminalisieren. Die NPD sowie ihr rechtsterroristisches Umfeld sind mit V-Leuten durchsetzt. Dabei handelt es sich um Per- sonen mit nazistischem und rassistischem Weltbild. Sie sehen es nicht als ihre Aufgabe an, brauchbare Informa- tionen über die Naziszene zu liefern, sondern die eigene Szene zu finanzieren. Deshalb müssen die Innenminister aller Bundesländer alle V-Leute auf allen Ebenen unver- züglich abschalten. Um Nazis erfolgreich zu schwächen, ist es notwen- dig, sich gemeinsam in breiten Bündnissen gegen Nazi- aufmärsche zu stellen und diese zu verhindern. So konnte beispielsweise der größte Naziaufmarsch Euro- pas in Dresden über mehrere Jahre hinweg verhindert werden. Doch genau dieser Widerstand wird immer wie- der kriminalisiert. So gab es jüngst mehrere Urteile ge- gen Teilnehmer der Blockaden von Dresden. Und mit der Einführung der sogenannten Extremismusklausel werden Projekte und Initiativen in ihrem Kampf gegen Rechts behindert. Statt Widerstand gegen Rechts zu stig- matisieren und zu kriminalisieren, muss Zivilcourage gefördert werden. Gitta Connemann (CDU/CSU): Dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion kann ich nicht zustimmen. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: Ich persönlich spreche mich gegen die Einleitung ei- nes Verbotsverfahrens aus. Dies tue ich nicht etwa, weil ich in irgendeiner Weise Sympathien für diese Organisa- tion hegen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Ich verab- scheue die menschenverachtende braune Ideologie. Seit etlichen Jahren engagiere ich mich in der Deutsch-Israe- lischen Gesellschaft sowie in der Christlich-Jüdischen Gesellschaft im Kampf gegen Rassismus und Antisemi- tismus. Ich bin mit Überlebenden der Shoah befreundet. Für mich ist es deshalb unerträglich, dass eine Partei wie die NPD existiert. Allerdings befürchte ich, dass ein Verbotsverfahren der NPD eher nützen als schaden würde. 2001 wurde be- reits einmal ein Verbotsantrag gestellt. Davor erhielt die NPD über 30 Jahre hinweg bei Bundestagswahlen je- weils nur etwa 0,4 Prozent der Stimmen. Der Verbotsan- trag scheiterte. Die NPD galt als scheinbar verfassungs- gemäß. Dies wirkte wie ein Ritterschlag für die NPD. Die Partei erhielt bei der darauffolgenden Bundestags- wahl statt 0,4 Prozent nun erstmalig 1,6 Prozent der Stimmen. Eine Art Märtyrereffekt sorgte dafür, dass sich das rechtsextreme Lager hinter der NPD sammelte. Eine weitere nicht unwesentliche Auswirkung: Damit stieg auch die Wahlkampfkostenerstattung. Die Partei ver- fügte über mehr finanzielle Mittel, die sie für ihre Propa- ganda einsetzen konnte. Es kann leider auch dieses Mal nicht ausgeschlossen werden, dass ein Verbotsantrag scheitert. Denn es gibt hohe Hürden für einen Erfolg eines neuerlichen Verbots- antrags. Ein Verbot kommt nur zustande, wenn diesem zwei Drittel des Senats, also sechs von acht Mitgliedern, zustimmen. Das neu gesammelte Material für ein NPD- 29950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Verbotsverfahren enthält über 1 000 Seiten und soll frei von Informationen von V-Leuten sein. Die Innenminister der Länder haben allerdings gezögert, dies selbst rechts- verbindlich zuzusichern. Die Verfassungsrichter müssen Beweise erheben. Eine Offenlegung der Quellen ist zwingend. Hinzu käme, dass die Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs für Menschenrechte mit ihren we- sentlich strengeren Voraussetzungen bereits beim Ver- botsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu berücksichtigen sein wird. Danach ist die Verhältnismä- ßigkeit des Parteiverbots in Bezug zu der Gefahr, die von dieser Partei ausgeht, zu würdigen. Bei der aktuellen Be- deutungslosigkeit der NPD wird man diese Voraussetzung nur schwierig bestätigen können. Die rechtsextreme Szene in Deutschland wird auf etwa 23 000 Personen ge- schätzt, nur 6 300 davon sind in der NPD organisiert. Es gibt in Deutschland 13 NPD-Parlamentarier. Dies sind 13 zu viel, aber auch nur 13. Dazu kommen noch etwa 300 kommunale Mandatsträger. Würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein NPD-Verbot kassie- ren, wäre dies eine Adelung dieser Partei und würde ihr praktisch einen Persilschein ausstellen. Deshalb ist das Prozessrisiko eines Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht hoch. Eine neuerli- che Einstellung des Verbotsverfahrens aufgrund der Ent- tarnung von V-Leuten wäre eine kolossale Niederlage für alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutsch- land. Ein mögliches Parteiverbotsverfahren würde im Übri- gen nach Einreichung des Verbotsantrags bei Gericht frühestens nach der Bundestagswahl im Herbst 2013 ab- geschlossen sein. Mit einer Urteilsverkündung ist nicht vor 2014 zu rechnen. Die mediale Aufmerksamkeit wäh- rend des ganzen Wahlkampfs wäre für die NPD unfrei- willig gesichert. Bereits die jüngste Veröffentlichung der Materialsammlung durch die NPD zeigt, dass diese ein Verbotsverfahren propagandistisch nutzen würde. All diese Argumente lassen mich schweren Herzens zu dem Entschluss kommen, dass ein NPD-Verbotsan- trag durch den Bundestag derzeit wenig Aussichten auf Erfolg hat. Deshalb lehne ich den Antrag der SPD ab. Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die SPD hat einen in der Sache richtigen Antrag gestellt. Nach meiner Überzeugung kann und muss der Deutsche Bundestag aufgrund seiner Erkenntnisse und seiner Bedeutung einen positiven Beitrag für ein NPD- Verbotsverfahren leisten. Dies muss aber zwischen allen Fraktionen abgestimmt und vorbereitet sein. Aber den notwendigen Abstimmungsprozess hat die SPD in der Art des Vorgehens unmöglich gemacht. Indem sie einen Antrag ohne Vorbereitung und Einbindung anderer Frak- tionen zur Abstimmung stellt, verhindert sie die unbe- dingt notwendige fraktionsübergreifende Mitarbeit an diesem Antrag. Damit schwächt sie die Chancen des Verbotsantrags; ich werde deswegen dem Antrag der SPD nicht folgen und mich der Stimme enthalten. Dabei ist es meine feste politische Überzeugung, dass der Bundestag mit all seinen demokratischen Parteien sich dem Verbotsantrag des Bundesrates gegen die NPD anschließen sollte. Nur so kann das größtmögliche demokratische Zeichen gegen die NPD und ihre braunen Gesinnungsleute gesetzt werden. Je breiter der Verbots- antrag gestellt wird, desto größer ist die Chance, dass dieser erfolgreich sein wird. Ich verkenne nicht, dass verfassungsrechtliche und gewichtige europarechtliche Gründe die Chancen für einen erfolgreichen Verbots- antrag gering erscheinen lassen. Bei der Bedeutung des Themas müssen wir aber diese Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichts herbeiführen. Wir müssen eine Antwort darauf geben, ob wir eine offen rassistische und fremdenfeindliche Partei dulden müssen, die sich zudem zum Teil mit öffentlichen Geldern finanziert. Wir können in Deutschland, vor dem Hintergrund unserer Geschichte, mit einem Parteienverbot für eine rechts- nationale und -radikale Partei auch nicht in gleicher Weise mit einer rechtsradikalen Partei umgehen wie in anderen europäischen Ländern. Die Parteien des Bundestages sind aufgefordert, mit größter Ernsthaftigkeit und Sorgfalt gegen den partei- politischen Arm dieser rechten Bewegung vorzugehen – einschließlich der Prüfung eines Verbots. Dabei wäre ein Scheitern des NPD-Verbots keine Niederlage für unsere parlamentarische Demokratie. Ein gemeinsames Zei- chen von Abgeordneten aller Fraktionen gegen die Um- triebe der NPD würde eine Stärkung unserer Demokratie bedeuten – unabhängig vom Ausgang eines Verbotsver- fahrens. Dennoch liegt die Betonung auf dem Wort „ge- meinsam“ – denn so hätten wir das stärkste demokrati- sche Fundament. Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Be- kanntwerden des rechtsextremistischen Terrors am 4. November 2011 steht die Politik unter Druck, sichtbar gegen Gewalt von Rechts vorzugehen. Sie möchte sich nach der Mordserie und dem Versagen der Sicherheitsor- gane handlungsfähig zeigen. Daher steht auch wieder ein NPD-Verbot auf der Tagesordnung. Es wird viel darüber diskutiert, welche verfassungsrechtlichen Hürden bei ei- nem NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfas- sungsgericht, BVerfG, überwunden werden müssten. In meiner persönlichen Erklärung möchte ich die kritischen Diskussionen im Hinblick auf die politische Dimension des Parteiverbots sowie das Risiko einer Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschen- rechte, EGMR, ergänzen. In einer wehrhaften Demokratie kann ein Parteiverbot zulässig sein, aber nur als Ultima Ratio. In einigen Bun- desländern sitzt die demokratiefeindliche NPD in den Landtagen und macht den Demokraten das Leben vieler- orts sehr schwer. Ja, es ist schwer zu ertragen, dass eine Partei mit Steuergeldern menschenverachtende Politik betreibt. Trotzdem ist es nicht nur erlaubt, sondern auch gebo- ten, zu prüfen, welche Vorteile ein Parteiverbot mit sich bringen würde. Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Parteiverbot erfüllt sind, gibt es keinen Automatismus Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29951 (A) (C) (D)(B) für das Verbotsverfahren. Nur eine juristische Abwä- gung vorzunehmen, ist der Politik nicht gestattet. An- sonsten wäre die Aufgabe nicht Bundestag, Bundesrat und der Bundesregierung übertragen worden, sondern der Staatsanwaltschaft. Verfassungsfeindliche Überzeugungen lassen sich nicht einfach durch ein Parteiverbot ausradieren. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich die Anhänger nach einem Verbot entweder in einer neuen Partei oder – noch schlimmer – im Untergrund organisieren würden. Hinzu käme noch eine besondere Attraktivität als „Partei mit Märtyrerrolle“ für Wähler, die in erster Linie gegen den Staat protestieren wollen. Eine solche Entwicklung habe ich in der Türkei er- lebt. Der stellvertretende Vorsitzende der später verbote- nen Refah-Partei – „Wohlfahrtspartei“ – war kein ande- rer als Recep Tayyip Erdoğan. Nachdem die Refah- Partei verboten wurde, führte er sein politisches Anlie- gen erst in der Nachfolgerpartei Fazilet fort, dann in der Adalet ve Kalkinma Partisi – AKP. Just in dem Jahr, als der EGMR das Verbot der Refah-Partei bestätigte, wurde Erdoğan erstmals zum Ministerpräsidenten der Türkei gewählt. Letztes Jahr gewann seine Partei bei den Wah- len mehr als 50 Prozent der Stimmen, so viele wie kaum eine andere Partei in der türkischen Geschichte. Sein au- tokratischer Führungsstil hat ihm seine Macht gesichert. Andersdenkende Künstler, Intellektuelle und Journalis- ten lässt er verfolgen und mit der politischen Justiz kne- beln. Von einer freien Presse ist in der Türkei nicht viel übrig geblieben. Um die Erfolgsaussichten eines NPD-Verbotsverfah- rens richtig einzuschätzen, reicht es nicht aus, die Maß- stäbe des BVerfG zu berücksichtigen. Auch die Recht- sprechung des EGMR muss in Betracht gezogen werden. Einen wesentlichen Unterschied zwischen dem grundge- setzlichen und dem konventionsrechtlichen Prüfungs- maßstab bildet der Gefahrenbegriff. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands – KPD – ist es nicht notwendig, dass sich das Verhalten der Mitglieder bereits zu einer konkreten Gefahr entwi- ckelt hat. Eine Partei kann nach dem BVerfG selbst dann verfassungswidrig sein, wenn nach menschlichem Er- messen keine Aussicht besteht, dass sie ihre verfassungs- feindliche Absicht in absehbarer Zeit verwirklichen wer- den könne. Der EGMR hat in dieser Sache eine andere Sensibili- tät, weil er in der Regel über Parteiverbotsverfahren in Unrechtsregimen zu entscheiden hat. Hinsichtlich der Gefahr, die von der Partei ausgehen muss, sind die An- forderungen an ein Parteiverbot nach der Rechtspre- chung des EGMR daher höher. Der EGMR prüft, ob im Fall eines Parteiverbots Menschenrechte und Grundfrei- heiten der EMRK, vorrangig die Vereinigungsfreiheit, verletzt sind. Gerechtfertigt sind Eingriffe in die Vereini- gungsfreiheit nur dann, wenn die Einschränkungen ge- setzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesell- schaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit. Ob die Einschränkungen notwendig sind, stellt der EGMR anhand einer umfassenden Verhältnis- mäßigkeitsprüfung fest. Danach kann der Staat gegen eine Partei vorgehen, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass ihr Programm eine unmittelbare Gefahr für die Demokratie bedeutet und die Auflösung einem dringen- den sozialen Bedürfnis entspricht. Der EGMR bejahte diese Voraussetzungen im Fall der türkischen Refah-Par- tei im Jahr 2003. Er betonte dabei, dass die Refah-Partei zur Zeit ihrer Auflösung eine echte Möglichkeit hatte, die politische Macht zu ergreifen, und dank ihrer pro- gnostizierten Alleinherrschaft ihr islamistisches Pro- gramm hätte umsetzen können. Nach diesen Grundsätzen dürfte eine hinreichende Gefahr für die Demokratie im Sinne des EGMR im Fall der NPD nicht nachweisbar sein. Die Macht der NPD in Deutschland ist mit der damaligen politischen Lage in der Türkei nicht vergleichbar. Die Refah-Partei erhielt bei den allgemeinen Wahlen 1995 circa 22 Prozent der Stimmen. Nach ihrer Regierungsbeteiligung im Rahmen einer Koalition erhielt sie bei den Kommunalwahlen im November 1996 ungefähr 35 Prozent der Stimmen. Nach einer Umfrage vom Januar 1997 hätte sie 38 Prozent der Stimmen erhalten, wenn es zu diesem Zeitpunkt Parla- mentswahlen gegeben hätte. Im Gegensatz dazu sta- gniert die Zustimmung für die NPD bei Bundestagswah- len seit den 70er-Jahren zwischen 0,3 und 1,6 Prozent der Stimmen. Statt den Kampf gegen Rechtsextremismus auf ein NPD-Verbot zu beschränken, sollten wir der Gefahr von Rechts im offenen Diskurs begegnen und dabei die ge- samte Gesellschaft einbinden. Dabei müssen nicht nur die Erscheinungsformen, sondern insbesondere auch die Ursachen bekämpft werden. Wir müssen dafür sorgen, dass junge Menschen Perspektiven haben und ihnen Ver- antwortung zugetraut wird. Wir brauchen mehr Aufklä- rung und Demokratieerziehung. Außerdem müssen bürgerschaftliche Initiativen nachhaltig finanziell unter- stützt werden und deren Erkenntnisse in die Arbeit der Sicherheitsbehörden einbezogen werden. Die bedeu- tendste Maßnahme gegen Rassismus ist aber, die Opfer- gruppen in ihren Bürgerrechten zu stärken. Dass die SPD bereits vor Wochen einen Antrag ohne Begründung und ohne Einsichtnahme der Beweismittel eingebracht hat, überzeugt mich in der Annahme, dass sie lediglich öffentlichkeitswirksam eine Aktivität vorwei- sen wollte. Eine Partei, die ihren eigenen prominenten Rassisten, Thilo Sarrazin, nicht aus der Partei ausschlie- ßen konnte, fordert hier scheinheilig ein komplettes Par- teiverbot. Dies klingt für mich nicht glaubwürdig. Wolfgang Nešković (fraktionslos): Ich habe dem heute zur Abstimmung gestellten Antrag auf Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens zugestimmt. Ein Verbot der NPD ist in meinen Augen längst über- fällig. Die Partei ist ohne Zweifel eine gegen das Grund- gesetz und die Völkerverständigung agierende Organisa- tion. Ein Verbot würde ihnen die Organisationsbasis entziehen. So könnten sie keinerlei staatliche Gelder – zum Beispiel Wahlkampfkostenerstattung – mehr er- halten. Ich halte es für unerträglich, die Existenz der NPD weiterhin mit Steuergeldern zu sichern. Bei einem 29952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Verbot könnten sie auch nicht mehr öffentlich für ihre rassistischen Vorstellungen werben. Auch rechtsextreme Netzwerke würden so erheblich gestört. Ihnen wäre mit dem Verbot der Partei eine wichtige Ressourcenbasis entzogen. Verbietet man also die NPD, trifft man dadurch auch die gesamte rechtsextreme Szene. Die Einteilung in die NPD auf der einen Seite und die „freien Kräfte“ auf der anderen Seite ist irreführend. Vielmehr ist es so, dass „freie Kräfte“ und die Partei an vielen Stellen miteinan- der kooperieren und die personellen Überschneidungen sehr ausgeprägt sind. Je nach konkretem Ziel treten die- selben Personen mal als Vertreter der NPD und mal als Vertreter einer anderen Organisation auf. Durch das Parteienprivileg sind der NPD jedoch viele Handlungs- optionen gegeben, die zum Beispiel einer „freien Kame- radschaft“ niemals zustünden. So werden unter dem Label der Partei Veranstaltungen angemeldet und öffent- liche Räume angemietet. Gleichzeitig distanziert sich die Partei öffentlich von Straf- und Gewalttaten, um die Ge- fahr ihres Verbots nicht zu erhöhen. Viele über lange Zeit aufgebaute Strukturen in der NPD, die Parteifinan- zen und nicht zuletzt des Parteienprivileg selbst, nutzen nicht nur der Partei, sondern der gesamten rechten Szene. Gegen die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens spricht auch nicht die Gefahr der Neugründung einer rechtsextremen Partei. Die direkte Neugründung einer ähnlichen Partei mit demselben Personal wäre durch das automatisch ergehende Verbot der Gründung von Nach- folgeorganisationen nicht möglich. Selbstverständlich verschwinden durch das Verbot aber nicht die Mitglieder einer Partei. Andere rechtsextreme Organisationen wür- den sehr wahrscheinlich mit Zulauf rechnen können. Dass es zukünftig auch wieder zur Gründung einer neuen rechtsextremen Partei kommen könnte, ist jedoch auch kein Grund, auf ein Verbot der NPD zu verzichten. Das Parteivermögen, der Immobilienbesitz und andere wichtige Besitztümer der NPD wären im Falle eines Ver- botes jedenfalls für die rechte Szene verloren. Jedoch gibt es Aspekte, die sorgfältiger Berücksichti- gung bedürfen. Ein NPD-Verbotsverfahren würde vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern, solange es V-Männer in den Führungsgremien der braunen Partei gibt. An den V-Leuten in der Führung der NPD schei- terte 2003 das erste NPD-Verbotsverfahren. V-Leute sind staatlich bezahlte Spitzel aus den Reihen der Nazis. Der Verfassungsschutz wirbt also Nazis als Informanten an und bringt sie damit in eine Doppelrolle. Einerseits fühlen sich die V-Leute der NPD verpflichtet und andererseits ihrer Kontaktperson vom Verfassungs- schutz. Doppelrollen verwirren Menschen. Irgendwann kann ein V-Mann selbst nicht mehr genau sagen, ob er sich eher dem Aufklärungsinteresse des Verfassungs- schutzes oder aber der Mitwirkung an der Hetze der Faschisten verpflichtet fühlt. Umso weniger ist das Bun- desverfassungsgericht in der Lage, zu unterscheiden, ob der V-Mann bei staatlicher Bezahlung das Nazigedan- kengut in der NPD fördert oder über dieses nur objektiv berichtet. Das erste NPD-Verbotsverfahren wurde zur Farce, als sich herausstellte, dass der nordrhein-westfäli- sche Landesverband der NPD von V-Leuten gesteuert wurde. Der Vorsitzende der Braunen, dessen Stellvertre- ter und obendrein der Chefredakteur der regionalen Parteizeitung – alle waren sie bezahlte Spitzel des Ver- fassungsschutzes. Als die Bundesverfassungsrichter den Verbotsantrag genauer prüften, stellten sie fest, dass da- rin eine Vielzahl von verfassungswidrigen Zitaten aus den Mündern von V-Leuten in der ganzen Republik stammten. Das Verbotsverfahren wurde zur Realsatire. Einerseits hatte der Staat Menschen bezahlt, die für die Entstehung und Verbreitung von verfassungswidrigem Denken und Tun verantwortlich waren. Andererseits wollte derselbe Staat die NPD wegen eben dieses Denkens und Tuns verbieten lassen. Das Bundesverfassungsgericht rügte die fehlende „Staatsferne“ der Partei und nannte gleich- zeitig die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches NPD-Verbot. Die V-Leute müssten aus der Führung der NPD verschwinden, der Staat müsse sie also abziehen oder den Kontakt mit ihnen abbrechen. Nunmehr wurden – den öffentlichen Verlautbarungen mehrerer Ministerpräsidenten zufolge – sämtliche V-Leute aus den Führungsgremien der NPD abgezogen. Unter dieser Maßgabe ist eine wesentliche Grundlage dafür ge- legt worden, dass ein erneuter NPD-Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg hat. Ein Parteienverbot stellt jedoch nur einen notwendi- gen Schritt im Kampf gegen den Rechtsextremismus dar. Mir ist bewusst, dass mit einem Parteienverbot allein rechtsextremes Gedankengut nicht verschwinden wird. Dafür braucht es mehr: Rechtsextremes Gedankengut darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben und muss konsequent bekämpft werden. Dies ist eine gesamt- gesellschaftliche Aufgabe, die nicht alleine dem Staat zufällt. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Aufgrund des von Bund und Ländern vorgelegten Materials können die Voraussetzungen für ein Parteien- verbot erfüllt werden. Das Material entspricht den An- forderungen des Bundesverfassungsgerichts, was Infor- mationen von V-Leuten angeht, und belegt auch die vom Europäischen Gerichtshof – EGMR – geforderte „Not- wendigkeit“ eines Verbots. Hierfür verlangt der EGMR, dass ein „dringendes gesellschaftliches Bedürfnis“ – pressing social need – vorliegt. Das vorliegende Material belegt die menschenfeindliche Grundhaltung der NPD anhand von antisemitischen, rassistischen und islam- feindlichen Äußerungen. Damit widerspricht die Nationaldemokratische Partei Deutschlands – NPD – dem demokratischen Selbstverständnis unserer Gesell- schaft und zielt mindestens auf eine Beeinträchtigung, wenn nicht auf eine Beseitigung unserer freiheitlich-de- mokratischen Grundordnung ab. Daher unterstützte ich den Antrag der Fraktion der SPD. Meine Heimatregion Oberfranken war jahrelang von Neonaziaufmärschen zum Gedenken an Rudolf Heß be- troffen. Zuletzt versammelten sich im Jahr 2004 etwa 5 000 rechtsextreme Demonstranten in Wunsiedel. Eine Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29953 (A) (C) (D)(B) deutlichere Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft und größere Störung des öffentlichen Friedens, als die, die die Stadt Wunsiedel und die gesamte Region belastete, ist kaum vorstellbar. Das befand auch das Bundesverfassungsgericht und ver- bot die Rudolf-Heß-Gedächtnismärsche im Jahr 2009. Entscheidend ist, die NPD nicht isoliert zu betrachten. Vielmehr fungiert sie als parlamentarischer Teil einer gut vernetzten, aggressiven, gewaltbereiten, nationalsozia- listischen Bewegung. Zu ihr zählt das „Freie Netz Süd“ – FNS –, der größte und gefährlichste rechtsextreme Zu- sammenschluss in Bayern, dessen Verbot der Bayerische Landtag bereits im April 2012 fraktionsübergreifend be- schlossen hat. Diese Bewegung versucht gezielt, durch den Aufkauf von Immobilien in strukturschwachen Re- gionen „Nationale Häuser“ und „national befreite Ge- biete“ zu schaffen und agiert, wie im Dreiländereck Bayern/Thüringen/Sachsen, dabei länderübergreifend. Der NPD-Verbotsantrag der Länder beim Bundesver- fassungsgericht in Karlsruhe sollte durch den Bundestag unterstützt werden. Weitere Anträge bei Gericht können das Anliegen der Länder unterstreichen. Zudem kann der Bundestag Erkenntnisse aus dem NSU-Untersuchungs- ausschuss ergänzen. Dagegen wäre das Verzichten auf einen Antrag als Distanzierung von der Initiative der Länder zu verstehen. Die NPD bekämpft unsere freie Gesellschaft als Ganzes. Deswegen sollte auch der Bun- destag als Träger des parlamentarischen Systems auf ein Verbot der Partei hinwirken. Raju Sharma (DIE LINKE): Die SPD und die Linke im Bundestag haben beantragt, dass der Deutsche Bun- destag beim Bundesverfassungsgericht ein Verfahren zum Verbot der NPD einleitet. Die Forderung eines Verbots der NPD entspricht dem Parteiprogramm der Partei Die Linke. Dort heißt es: „Wir fordern das Verbot aller Organisationen der extre- men Rechten; dabei sind wir uns bewusst, dass ein Verbot die gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht ersetzt.“ Die NPD ist meines Erachtens zweifellos eine Orga- nisation der extremen Rechten. Um die notwendige ge- sellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser extremen Rechten zu führen, habe ich mich in der Vergangenheit an zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen ge- gen Naziaufmärsche beteiligt, mich in entsprechenden Bündnissen engagiert, deren Aktivitäten unterstützt und mich in politischen Gremien gegen alle Formen des Fa- schismus, Rechtspopulismus und Rassismus eingesetzt. Ich werde dies auch zukünftig tun. Eine abstrakte programmatische Forderung ist als alleinige Grundlage für die Beantragung eines Parteien- verbots jedoch nicht ausreichend. Zu ihrer Umsetzung sind sowohl die konkreten Erfolgsaussichten eines ent- sprechenden Verbotsantrags als auch die möglichen Folgen bei einem Scheitern des Antrags realistisch ein- zuschätzen. Das Scheitern des im Jahr 2001 von der damaligen Bundesregierung eingeleiteten und vom Bundesrat so- wie dem Bundestag unterstützten Verbotsverfahrens führte zu einer Aufwertung und Stärkung der NPD und somit zum Gegenteil des von den Verfahrensbeteiligten verfolgten Ziels. Ein erneutes Scheitern würde diesen negativen Effekt noch einmal – absehbar nachhaltig – verstärken. Wer jetzt auf eine gründliche Prüfung und Abwägung verzichtet, riskiert das Gegenteil des Ge- wünschten zu erreichen: Statt eines Verbots der NPD de- ren Stärkung. Ursache für das Scheitern des ersten Verbotsverfah- rens im Jahr 2003 war vor allem, dass die Führungs- strukturen der NPD mit V-Leuten der Verfassungs- schutzämter durchsetzt waren. Um dies für ein erneutes Verfahren auszuschließen, hatte der Bundesminister des Innern die Innenminister und -senatoren der Länder gebeten, die „V-Mann-Freiheit“ der für das Verfahren zusammengetragenen Materialien zu testieren. Dieses Testat wurde nicht erteilt, sodass nicht davon ausgegan- gen werden kann, dass der entscheidende Grund für das Scheitern des ersten Verfahrens beseitigt worden ist. Ausweislich der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke – Drucksache 17/1201 – haben die Innenminister und -senatoren der Länder sowie das Bun- desministerium des Innern beschlossen, zum 2. April 2012 die Quellen auf Führungsebene der NPD abzuschalten. Die Materialsammlung bezieht sich jedoch in nicht uner- heblichem Umfang auf Belege und Zitate aus einem Zeitraum vor dem 2. April 2012, sodass auch in dieser Hinsicht fraglich ist, inwieweit das zusammengetragene Material im Verfahren belastbar verwertet werden kann. Im Rahmen der Erfolgsaussichten eines Verbotsan- trags ist darüber hinaus die Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs für Menschenrechte, EGMR, zu be- rücksichtigen. Danach ist ein Parteienverbot nur dann zulässig, wenn hierfür ein „dringendes soziales Bedürf- nis“ besteht. Um dies zu bejahen, muss unter anderem ein unmittelbar bevorstehendes Risiko für die Demokra- tie vorliegen. Angesichts des derzeitigen Zustands der NPD ist dies offensichtlich nicht der Fall. Sofern nicht bereits das Bundesverfassungsgericht den Verbotsantrag ablehnt, ist damit zu rechnen, dass der EGMR das Verbot aufhebt. Die damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland wären zumindest uner- freulich, die politischen Folgen wären verheerend. Schließlich hat es weder im Innen- noch im Rechts- ausschuss eine seriöse Befassung mit der Materialsamm- lung und ihrer Ergänzung gegeben, wie es die SPD noch in ihrem Antrag auf Drucksache 17/12168 gefordert hatte. Dem Rechtsausschuss wurde die Materialsamm- lung nicht einmal offiziell zugeleitet. Eine Entscheidung über einen Beitritt zum Verbotsverfahren setzt aber zwingend eine seriöse Befassung mit dem vorgelegten Material voraus. Vor diesem Hintergrund halte ich den Beitritt zu ei- nem Verbotsverfahren zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unverantwortlich. Ich habe deshalb bei beiden Anträgen mit Nein gestimmt. 29954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Zugestimmt habe ich demgegenüber dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/13240. In diesem Antrag wird die Bundesregierung aufgefor- dert, in Zusammenarbeit mit den Ländern verschiedene Maßnahmen für die Bekämpfung des Rechtsextremis- mus zu ergreifen. Der Antrag nimmt die Bedenken hinsichtlich der Erfolgsaussichten und die Kritik hin- sichtlich des Verfahrens zur Bewertung der Material- sammlung auf. Die Forderungen im Antrag gehen in die richtige Richtung, auch wenn sie aus meiner Sicht nicht ausreichend sind. Tatsächlich ist nicht nur ein Morato- rium für den Einsatz von V-Leuten nötig, sondern der konsequente Verzicht auf diese. Der Verfassungsschutz ist nicht nur „in seiner derzeitigen Form aufzulösen“. Geheimdienste, zu denen auch der Verfassungsschutz gehört, sind abzuschaffen. Dieter Stier (CDU/CSU): Bei der heutigen Abstim- mung zur Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD gemäß Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 13 Nr. 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes habe ich mich als Parlamentarier meiner Fraktion angeschlossen und über diesen SPD-Antrag mit Nein gestimmt. Dennoch möchte ich die Möglichkeit des § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages nut- zen und ergänzend zu meinem Votum eine Erklärung ab- geben, um meine Bedenken zu äußern. Der Bundesrat hatte ursprünglich einen Antrag auf NPD-Verbot gestellt. Die Bundesregierung hingegen kam zu dem Entschluss, dass ein eigener Verbotsantrag nicht notwendig ist. Ein Verbot auf Bundesebene würde die Bedeutung der NPD überwerten. Aus diesem Grunde lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesen Antrag der SPD ab. Ich schließe mich der Haltung der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion an, muss aber im Hinblick auf meine persönlichen Erfahrungen als Kreistagsvorsitzender auf erhebliche Probleme bei Zusammenarbeit mit gewählten NPD-Kommunalvertretern hinweisen. Diese Probleme resultieren aus der antidemokrati- schen Grundhaltung der NPD. Der insbesondere auch vom Land Sachsen-Anhalt unterstützte NPD-Verbotsan- trag des Bundesrates ist daher auch im Hinblick auf die schwierige Zusammenarbeit mit der NPD auf kommuna- ler und lokaler Ebene mehr als nachvollziehbar. Natürlich wäre es aus meiner Sicht besser, wenn es deshalb die NPD nicht mehr gäbe und sie überdies nicht auch noch auf eine staatliche Parteienfinanzierung zu- rückgreifen könnte. Die Gefahr, dass ein Verbotsantrag jedoch wiederholt scheitert, würde aus meiner Sicht der NPD eine völlig unnötige mediale Aufwertung besche- ren. Auch meine Erfahrungen mit dem Rechtssystem der ehemaligen DDR, der sinkenden und zahlenmäßig be- legbaren Bedeutung der NPD und dem überaus gefestig- ten Demokratiesystem in unserem Land lassen mich nach reiflicher Abwägung aller Argumente zu diesem Abstimmungsverhalten kommen. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Zu dem Antrag stimme ich mit Nein. Der Antrag der SPD ist falsch und ungeeignet. Er bringt der NPD zusätzliche unverdiente Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit durch Behandlung im Bundestag und tagelang in den Medien, obwohl keinerlei Chance besteht, dass der Antrag von einer Mehrheit angenom- men wird. Wer ernsthaft einen NPD-Verbotsantrag – wo- für es durchaus triftige Gründe gibt – des Bundestages will, sollte einen solchen mit ausreichender Begründung formulieren lassen und dann dafür eine Mehrheit im Par- lament suchen, bevor dort darüber abgestimmt wird. Aber ich halte ein NPD-Verbotsverfahren derzeit auch in der Sache für falsch. Die rassistische, antisemitische, völkische und re- vanchistische Agitation und Propaganda der NPD ist schrecklich. Solche Äußerungen und auch Taten von NPD-Mitgliedern oder -Funktionären sind empörend. Das Zusammenwirken mit Gewalttätern etwa in soge- nannten Kameradschaften ist unerträglich. All das muss bekämpft werden. Aber nicht schon wieder durch ein Verbotsverfahren. Schon gegen den gescheiterten Verbotsantrag des Bun- destages von 2001 habe ich gestimmt. Die Gefahr, dass ein solcher Antrag abermals vor dem Bundesverfassungsgericht oder beim Europäischen Ge- richtshof für Menschenrechte scheitert, ist erheblich. Auch ich halte die Partei zwar für verfassungswidrig. Aber ob ein Verbot verhältnismäßig ist, wie diese Ge- richte fordern, scheint mir zweifelhaft. Denn die NPD ist zerstritten, finanziell marode, parlamentarisch margina- lisiert und politisch weitgehend irrelevant. Außerdem ist die von Bund und Ländern zusammengetragene Indi- ziensammlung zur Verfassungswidrigkeit nicht unbe- denklich, sondern möglicherweise durch V-Leute infi- ziert, provoziert und beeinflusst. Die Behauptung des Gegenteils durch die Innenminister ist nicht überzeu- gend. Die Innenminister haben sich anders als verlangt bisher geweigert, durch individuelle förmliche Testat-Er- klärungen die V-Mann-Freiheit des umfangreichen Ma- terials zu garantieren. Das können sie wohl auch gar nicht, weil Auskünfte der Ämter für Verfassungsschutz nicht stets verlässlich sind. Wenn schon die zuständigen Minister keine Garantie für das Material geben, kann der Bundestag dies für dessen V-Mann-Freiheit noch weni- ger. Auch daran könnte ein Verbotsantrag erneut schei- tern. Hinzu kommt: Ein Jahre dauerndes Verbotsverfahren mit ständiger Medienberichterstattung nutzt der NPD für Propagandazwecke. Es kann auch erneut zur Solidarisie- rung der eigentlich zerstrittenen rechtsradikalen Szene führen. Die NPD, die derzeit in den großen Bundeslän- dern bei unter einem Prozent Zustimmung liegt und er- hebliche Finanzprobleme hat, würde gestärkt. Nach einem Verbot könnten sich die Mitglieder als Märtyrer präsentieren. Die Kader und Aktivisten gäbe es weiter. Rassistisches Denken und Propaganda bestünden fort. Aufmärsche und Veranstaltungen werden heute schon nicht mehr von der NPD angemeldet, sondern Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29955 (A) (C) (D)(B) durch Einzelpersonen aus Kameradschaften. Ein Verbot der NPD würde daran nichts ändern. Deren Mitglieder und Rassisten würden – wie gehabt – in neue Parteien gehen. Die Partei „Die Rechte“ steht schon bereit. Ein kleinerer Teil könnte sich radikalisieren, noch gewalt- tätiger werden, gar in die Illegalität abtauchen. Deren Bekämpfung wird damit nicht leichter. Ein Verbot der NPD hilft nicht gegen rechte Gewalt und Mord, nicht ge- gen rassistische Parolen auf Demos, nicht gegen soge- nannte befreite Zonen, nicht gegen Vertrieb hetzerischer Musik-CDs, nicht gegen Heß-Gedenkfeiern, Sonnen- wendfeiern oder andere rechte Aufmärsche, Konzerte und Veranstaltungen. Die Finanzierung von Propaganda und Aktivitäten der NPD aus Steuermitteln ist fürwahr ein großes Ärger- nis. Anstelle eines Verbotsverfahrens sollte versucht werden, diese Geldvergabe zumindest stark einzuschrän- ken, durch Gesetzesänderungen und Gerichtsverfahren. Juristische Gutachten stützen solche Überlegungen. Auch die Gewerkschaft der Polizei fordert die Prüfung dieses Weges, um der NPD den Geldhahn zuzudrehen. Letztlich müssen Rechtsextremismus und rassisti- sches Denken beharrlich politisch bekämpft werden durch Bildung und Aufklärung – auch auf den Straßen und Plätzen durch Kundgebungen und Demonstrationen. Erste Erfolge sind der starke Rückgang der Teilnehmer- zahlen an Aufmärschen und rassistischen Veranstaltun- gen: dank des Widerstandes zivilcouragierter Bürgerin- nen und Bürger. Serkan Tören (FDP): Der Bundesrat hat sich ein- mütig für die Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens ausgesprochen. Die Frage des Verbotsverfahrens liegt nun auch dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vor. Die Möglichkeit eines Parteienverbots ist ein Mittel, das uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter dem Eindruck der NS-Diktatur an die Hand gegeben ha- ben, um die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen. Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grund- ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig. Bei meiner Arbeit im NSU Untersuchungsausschuss ist in mir die Erkenntnis gereift, dass die NPD den ideo- logischen Nährboden für die Mordserie des NSU bereitet hat. Zwischen dem NSU und der NPD lassen sich nach bisherigen Erkenntnissen keine direkten Verbindungen herleiten. Dennoch sehe ich in der NPD eine Partei, die durch ihr Handeln die Bedingungen für ein Parteienver- bot nach den Bedingungen des Grundgesetzes erfüllt. Gerade dieses verfassungsfeindliche Handeln hat der Bund-Länder-Bericht in erschreckender Art und Weise aufgezeigt. Es steht außer Frage, dass man das von der NPD ver- tretene Gedankengut nicht durch ein Verbot einer Partei unterdrücken kann. Dennoch ist es unerträglich, dass die Steuerzahler diese Partei im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzie- rung alimentieren. Zu einer wirkungsvollen Bekämpfung des politischen Extremismus gehört in einer wehrhaften Demokratie auch ein Parteienverbot. Mit der Unterstützung zivilgesellschaftlichen Enga- gements, mit Aussteigerprogrammen aus der rechten Szene und mit Initiativen zur Präventionsarbeit und Op- ferhilfe setzt der Antrag der Koalitionsfraktionen ein klares Bekenntnis für Toleranz und unsere freiheitlich- demokratische Grundordnung und stellt sich damit dezi- diert gegen die Feinde der Demokratie. Da es allerdings reicht, dass der Verbotsantrag von nur einem Verfassungsorgan, in diesem Fall dem Bun- desrat, gestellt wird, stelle ich meine persönliche Mei- nung zu einem Verbotsantrag zurück und stimme mit der Mehrheit der FDP-Bundestagsfraktion gegen den Ver- botsantrag. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Meine Enthal- tung basiert auf dem Respekt vor dem Parteiprogramm der Partei Die Linke, in dem es heißt: „Wir fordern das Verbot aller Organisationen der extremen Rechten, …“ Ich halte die NPD für eine Organisation der extremen Rechten. Ich halte die NPD für ekelerregende Nazis, de- nen ich mich bisher und auch zukünftig konsequent auch bei Demonstrationen und anderen außerparlamentari- schen Aktionen entgegenstellen werde. Die Umsetzung der Forderung nach einem Verbot der NPD setzt aber voraus, dass ein solcher Verbotsantrag Aussicht auf Erfolg hat. Die vorgelegte Materialsamm- lung, die Nachlieferung zur Materialsammlung, die bisherige Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR hinterlassen bei mir erhebliche Skepsis an den Erfolgs- aussichten. Erstens. Der erste Anlauf zu einem Verbot der NPD scheiterte an der Durchsetzung der Partei und ihrer Füh- rungsstrukturen mit V-Leuten der Verfassungsschutzäm- ter. Obwohl der Bundesinnenminister die Landesinnen- minister und -senatoren um eine Testierung der V-Mann- Freiheit der Materialien in der Materialsammlung gebe- ten hat, ist diese Testierung nicht erfolgt. Die Prüfung der Belege in der Materialsammlung erfolgte nicht mittels Offenlegung aller V-Leute in Bund und Land – vergleiche Drucksache 17/12019. Ohne Testierung der V-Mann-Freiheit der Belege in der Materialsammlung gibt es aus meiner Sicht erhebliche Risiken bei einem Verbotsverfahren. Zweitens: Ausweislich der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke – Drucksache 17/12019 – haben die Innenminister und -senatoren der Länder so- wie des Bundesministeriums des Innern beschlossen, zum 2. April 2012 die Quellen auf Führungsebene der NPD abzuschalten. Die Materialsammlung bezieht sich jedoch in nicht unerheblichem Umfang auf Belege und Zitate aus einem Zeitraum vor dem 2. April 2012. Auch 29956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) insoweit gibt es Risiken hinsichtlich der Erfolgsaussich- ten eines Verbotsverfahrens. Drittens. Die derzeitige Rechtsprechung des EGMR setzt für ein Parteienverbot voraus, dass ein „dringendes soziales Bedürfnis“ für ein Parteiverbot besteht. Darun- ter wird unter anderem ein unmittelbar bevorstehendes Risiko für die Demokratie verstanden. Der derzeitige Zustand der NPD lässt nicht den Schluss zu, dass diese unmittelbar vor der Machtübernahme steht und somit ein unmittelbar bevorstehendes Risiko für die Demokratie darstellt. Es bestehen auch insoweit Risiken hinsichtlich der Erfolgsaussichten eines Verbotsverfahrens. Viertens. Weder im Innen- noch im Rechtsausschuss hat eine seriöse Befassung mit der Materialsammlung und ihrer Ergänzung stattgefunden, wie es im Antrag der SPD auf Drucksache 17/12168 gefordert wurde. Der Rechtsausschuss hat die Materialsammlung nicht einmal offiziell übersandt bekommen. Eine Entscheidung über einen Beitritt zu einem Verbotsantrag setzt aber zwin- gend eine seriöse Befassung mit dem vorgelegten Mate- rial voraus. Fünftens. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen greift die Bedenken hinsichtlich der Erfolgsaussichten und die Kritik hinsichtlich des Verfahrens zur Bewertung der Materialsammlung auf. Die Forderungen im Antrag der Grünen gehen in die richtige Richtung, auch wenn sie nicht ausreichend sind. Tatsächlich ist nicht nur ein Moratorium für den Einsatz von V-Leuten nötig, sondern der konsequente Verzicht auf diese. Der Verfassungs- schutz ist nicht nur „in seiner derzeitigen Form aufzulö- sen“. Geheimdienste, zu denen auch der Verfassungs- schutz gehört, sind abzuschaffen. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner und Britta Haßelmann (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bun- destages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundes- verfassungsgerichtsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 5 a) Wir sind dafür, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands – NPD – zu verbieten. Aus unserer Sicht handelt es sich bei der NPD um eine verfassungsfeindli- che, die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland in aktiver, kämpferischer Weise bekämpfende Partei. Das Verbot einer solchen Or- ganisation ist unserer Meinung nach neben vielen ande- ren unerlässlichen Maßnahmen ein wichtiger Baustein in der Bekämpfung des Rechtsextremismus durch einen wehrhaften Rechtsstaat. Die Frage, ob die NPD verboten werden soll, ist je- doch nicht Gegenstand des vorliegenden Antrags der SPD-Bundestagsfraktion. Es geht heute einzig und allein darum, ob der Deutsche Bundestag neben dem Bundes- rat einen eigenen Verbotsantrag vor dem Bundesverfas- sungsgericht stellt. Wir sind dafür, einen solchen Antrag zu stellen, wenn nach menschlichem Ermessen die Voraussetzungen ge- geben sind, dass dieser erfolgversprechend erscheint. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, wissen wir nicht. Aus unserer Sicht ist eine ordentliche Beratung ebendie- ser Frage in den Ausschüssen unerlässlich. Dies gilt ins- besondere auch, weil die Frage eines eigenen Verbotsan- trages des Deutschen Bundestages eine schwerwiegende Entscheidung ist. Wir werden uns daher heute, wo der Antrag der SPD- Fraktion ohne vorherige Ausschussberatung dem Ple- num des Deutschen Bundestages zur Abstimmung vor- liegt, der Stimme enthalten. Der Antrag unserer Fraktion findet unsere Unterstüt- zung. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Stephan Kühn, Monika Lazar und Arfst Wagner (Schleswig) (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entschei- dung des Deutschen Bundestages über die Ein- leitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokrati- schen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Num- mer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichts- gesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) Rechtsextremismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit treffen heute leider bei vielen Menschen auf Zustimmung. Einige von ihnen geben bei Wahlen der NPD ihre Stimme. Dadurch konnte die rechtsextreme und verfassungsfeindliche NPD zahlreiche Mandate in Landtagen und auf kommu- naler Ebene erringen. Das hat ihre Sichtbarkeit in der Gesellschaft erhöht. Die Erkenntnisse rund um den ver- brecherischen NSU zeigen zudem, dass etliche NPD- Mitglieder Kontakt zu einer gewalttätigen nationalsozia- listischen Bewegung halten und rechte Gewalt billigen. Die Zusammenhänge mit menschenfeindlichen Ein- stellungen in der Bevölkerung einerseits und neonazisti- schen Strukturen andererseits verdeutlichen: Mit einem Verbot der NPD lassen sich die Probleme in unserer De- mokratie nicht beseitigen. Rechte Aktivitäten würden nur verlagert. Hinzu kommt, dass es wegen einer unzureichenden Materialsammlung zum Nachweis eines aggressiv- kämpferischen Agierens der NPD zu viele Fragezeichen hinsichtlich der juristischen Aussichten gibt. Denn rechtsextreme Äußerungen sind in der Demokratie von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das Material müsste viel- mehr zweifelsfrei belegen, dass die Partei gezielt an- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29957 (A) (C) (D)(B) strebt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden. Auch müsste sicherge- stellt sein, dass keinerlei Informationen von V-Leuten verwendet werden, da dies beim ersten Verbotsverfahren zum Scheitern führte. Außerdem sind die hohen Aufla- gen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für ein Parteienverbot zu beachten. Überstürzter Aktionismus kann daher nach hinten los- gehen. Nichts wäre kontraproduktiver als ein Verbots- verfahren, das nicht zum NPD-Verbot führt. Staat und Zivilgesellschaft müssen radikalen Neona- zismus ebenso nachhaltig bekämpfen wie gruppenbezo- gene Menschenfeindlichkeit in der Gesamtgesellschaft. Dazu gehören eine qualitätsorientierte Demokratiebil- dung auf allen Ebenen, eine Reform der Sicherheits- behörden, eine dauerhafte lokale Verankerung von Strukturen wie mobilen Beratungsstellen, spezifischen Opferberatungsstellen und geschlechtersensiblen Aus- stiegsprogrammen und breit angelegte Maßnahmen zur Förderung des sozialen und gesellschaftlichen Zusam- menhalts in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus ist eine Daueraufgabe. In einer attraktiven Demokratie, in der ein Klima von Vielfalt und Weltoffenheit gefördert wird, verliert die NPD ihre Wählerstimmen und kann auch ohne Verbots- verfahren wieder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Im nächsten Jahr haben es die Wählerinnen in Sachsen in der Hand, dafür zu sorgen, dass die NPD nicht mehr im Sächsischen Landtag vertreten ist. Das würde auch dazu führen, dass ein großer Teil ihrer staatlichen finan- ziellen Einnahmen wegfällt. So könnte der NPD ein ef- fektiverer Schlag versetzt werden als durch ein jahrelan- ges Verbotsverfahren mit unsicherem Ausgang. Aus diesen Gründen lehnen wir ein neues NPD-Ver- botsverfahren ab. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jerzy Montag, Viola von Cramon-Taubadel, Ute Koczy und Dr. Valerie Wilms (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemo- kratischen Partei Deutschlands“ gemäß Arti- kel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsge- richtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) Wir stimmen ausdrücklich den Feststellungen in allen vorliegenden Anträgen zu: Die NPD ist eine antidemo- kratische, antisemitische, fremdenfeindliche und extre- mistische Partei, die den Ideen des Nationalsozialismus anhängt und die demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zer- stören und durch eine völkische Gemeinschaftsdiktatur ersetzen möchte. Sie grenzt sich von rechtsradikaler Gewalt nicht ab und verharmlost Gewalttaten gruppen- bezogener Menschenfeindlichkeit. Darin sind sich CDU/ CSU, FDP, SPD und Linke mit uns Grünen einig. Der Deutsche Bundestag entscheidet aber nicht über ein mögliches Verbot der NPD als Partei. Zur Diskussion steht lediglich die Frage, ob auch der Bundestag einen entsprechenden Antrag an das Bundesverfassungsgericht stellen solle. Der Bundesrat hat bereits beschlossen, ei- nen solchen Antrag einzureichen, der zur Durchführung eines Verbotsverfahrens völlig ausreichend ist. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags müssen deshalb heute entscheiden, ob sie einen Verbotsantrag an das Bundesverfassungsgericht für in der Sache aus- sichtsreich halten. Mit anderen Worten: Es geht um eine Prognoseentscheidung über eine zukünftige gerichtliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Diese Frage ist so schwierig wie ausschlaggebend für unser Abstimmungsverhalten, weil sich – fast – alle einig sind, dass ein Scheitern vor dem Verfassungsgericht politisch verheerend wäre. Würde die NPD am Ende nicht verbo- ten werden – können –, würde ihr dies Auftrieb geben und sie mit dem Siegel der Verfassungsmäßigkeit schmücken. Die entscheidende Frage ist für uns heute nicht die Bewertung der NPD, sondern die Einschätzung der Erfolgsaussichten vor dem Bundesverfassungsge- richt. Zwei Argumente bestärken uns in unserer Entschei- dung: Das Bundesverfassungsgericht von heute ist in seiner Haltung zum Grundrechtsschutz aller Bürgerin- nen und Bürger, zur besonderen Rolle politischer Parteien und bei der faktischen Aberkennung von Grundrechten nicht das Bundesverfassungsgericht der Jahre 1952 und 1956. Die Hürden für ein Parteienverbot hängen nicht auf der Höhe des KPD-Verbots, sondern ungleich höher. Hinzu kommt, dass gleichsam über dem Bundesverfassungsgericht inzwischen die Instanz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entstan- den ist, der sich in den letzten Jahren mit Parteienverbo- ten in Spanien und der Türkei beschäftigt hat und auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention Kriterien für ein mögliches Parteienverbot entwickelt hat. Dazu gehört vorrangig, dass die reale Gefahr für die Demokratie, die von einer zu verbietenden Partei aus- geht, zum Prüfungsrahmen der Verhältnismäßigkeit ei- nes Verbots gehört. Diese – neuen – Überlegungen wird das Bundesverfassungsgericht bereits bei seiner Ent- scheidung mit zu bedenken haben. Dies bedeutet, dass nicht nur die Programmatik und das Verhalten der NPD und ihrer Mitglieder zu bewerten sein werden, sondern auch ihre reale Fähigkeit, unseren Staat zu gefährden oder gar aus den Angeln zu heben. Angesichts der ideologischen und persönlichen Zerris- senheit der NPD, ihrer Misserfolge bei den Wahlen und ihrer finanziell desolaten Lage halten wir sie – zumin- dest zur Zeit – für keine Kraft, die auch nur ansatzweise in der Lage wäre, die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Und genau das ist der Prüfungsmaßstab, den das Bun- desverfassungsgericht beim Verbotsverfahren anlegen muss und anlegen wird. 29958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Ein Verbotsverfahren und auch ein etwaiges Verbot der NPD ersetzt nicht die politische Auseinandersetzung und den politischen Kampf gegen die Ideen der NPD und ihrer Kader und Mitläufer. Die antisemitische und fremdenfeindliche Grundhaltung reicht weiter, als es der Parteiarm der NPD vermag. Der Kampf der Demokraten gegen diese Grundhaltungen, die wir für wichtiger als ein Verbot halten, muss zivilgesellschaftlich und von al- len demokratischen Kräften mit Unterstützung des Staa- tes und seiner Organe geführt werden. Ein umfassender Ansatz zur Bekämpfung des rechten Nazismus ist not- wendig. Den Rahmen hierzu zeigt der Antrag unserer Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zum Teil auch der An- trag der Koalitionsfraktionen auf. Im Ergebnis kommen wir zur Einschätzung, dass die Gefahren eines Scheiterns vor dem Bundesverfassungs- gericht die Chancen eines möglichen und von uns in der Sache durchaus befürworteten Verbots weit überwiegen. Bei dieser Einschätzung der Erfolgsaussichten einer Klage vor Gericht ist es rational folgerichtig, das Risiko zu meiden und keinen Antrag zu stellen. Dies schmälert im Übrigen die Erfolgsaussichten des Antrags des Bun- desrats nicht, weil jedes antragsberechtigte Verfassungs- organ durchaus für sich ein Verbotsverfahren in Gang setzen kann. Wir stimmen heute deshalb gegen die Anträge der SPD und der Linken. Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Birgitt Bender, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Lisa Paus und Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- mentlichen Abstimmung über den Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemo- kratischen Partei Deutschlands“ gemäß Arti- kel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsge- richtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) Die NPD ist eine rechtsextremistische und verfas- sungsfeindliche Partei, die auf die Abschaffung der frei- heitlich-demokratischen Rechtsordnung ausgerichtet ist. Wir bekämpfen diese Partei mit allen uns zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln. Zu diesen Mitteln kann auch ein Parteiverbotsverfahren gemäß Art. 21 Abs. 2 GG gehören. Dies ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass einem Verbotsantrag stattgegeben wird. Andernfalls würde die NPD juristisch und gesellschaftlich gestärkt. Genau diese Gefahr sehen wir in der heutigen Abstimmung über ein erneutes NPD-Verbotsverfahren, dem keine or- dentliche Beratung in den Ausschüssen vorrausging. Die Erfolgsaussichten eines Verbotsantrages sind der- zeit unklar und werden nicht besser, indem der Bundes- tag – obwohl keine Mehrheit dafür besteht – über ein NPD-Verbotsverfahren abstimmt. Ob die V-Mann-Pro- blematik behoben ist, an der das erste Verbotsverfahren 2003 scheiterte, ist nach wie vor fraglich. Dies entzieht sich der Kenntnis des Bundestages, da er nicht über das hierzu notwendige Wissen verfügt. Zudem bestehen Zweifel, ob die inhaltlichen Anforderungen an ein Ver- bot erfüllt sind. Weil das Bundesverfassungsgericht die neuere Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen hat, sind die Anforderungen höher, als sie es bei den bis- lang einzigen erfolgreichen Verbotsverfahren in den 1950er-Jahren waren. Die Materialsammlung von Bund und Ländern ist auf diese neuen Anforderungen nicht ausgelegt. Sie richtet sich nach Angaben des Bundes- innenministers an der alten Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts zum Verbot der KPD aus. Ob die vorgelegten Materialen daher ausreichen, um ein Verbot inhaltlich zu begründen, ist fraglich. Angesichts dieser Unsicherheit unterstützen wir kei- nen neuen Antrag des Bundestages auf ein Verbot der NPD, da das Risiko eines Scheiterns momentan zu groß ist. Aufgrund des von SPD und Linksfraktion gewählten Verfahrens enthalten wir uns. Zudem halten wir ein Ver- botsverfahren nicht für ein Allheilmittel im Kampf ge- gen Rechtsextremismus und setzen deshalb auf eine stär- kere Unterstützung der Zivilgesellschaft im Kampf gegen den alltäglichen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und alle anderen Formen der gruppenbe- zogenen Menschenfeindlichkeit. Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Cornelia Behm, Agnes Brugger, Harald Ebner, Bettina Herlitzius, Thilo Hoppe, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Brigitte Pothmer, Dorothea Steiner, Markus Tressel und Daniela Wagner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nament- lichen Abstimmung über den Antrag auf Ent- scheidung des Deutschen Bundestages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokrati- schen Partei Deutschlands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Num- mer 2, § 43 ff. des Bundesverfassungsgerichtsge- setzes (Tagesordnungspunkt 5 a) Mit dem von Bund und Ländern zusammengetrage- nen Material können die Kriterien des Bundesverfas- sungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinsichtlich eines Parteienverbotes er- füllt werden. Die Erfolgschancen eines Verbotsantrags sind gegeben. Daher stimmen wir dem Antrag zu. Bund und Länder haben auf 1 000 Seiten Material über die NPD zusammengetragen. Das Material genügt den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die „Quellenfreiheit“. Das Gericht hat 2003 verlangt, dass V-Leute vor dem Stellen des Verbotsantrags abge- schaltet werden und nur „bereinigtes Erkenntnismate- rial“ vorgelegt wird, das heißt, der Antrag darf sich nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29959 (A) (C) (D)(B) auf mündliche Äußerungen oder Schriften von V-Leuten beziehen. Alle Innenminister haben eine Abschaltung der V-Leute zum 1. April 2012 erklärt, und anders als beim ersten Anlauf ist diesmal das Bemühen um „Staats- freiheit“ des Beweismaterials evident. Eine hundertpro- zentige Sicherheit wird es zwar nie geben können, sie verlangt das Gericht aber auch nicht. Es will nur nicht unwissentlich seine tragende Beweisführung auf staat- lich beeinflusste Quellen stützen. Das Parteiverbot in Art. 21 Abs. 2 GG ist ein präven- tives Instrument. Zweck ist eine Sicherung der Verfas- sung vor zukünftigen Gefahren. Mithilfe des Materials ist belegbar, dass von der NPD eine konkrete Beein- trächtigung der freiheitlichen Grundordnung ausgeht, also die Partei verfassungs- und demokratiefeindliche Ziele politisch durchsetzt. Die Aussagen von prominen- ten NPD-Protagonisten, weiteren Funktionären, einfa- chen Parteimitgliedern und Materialien wie das Partei- programm oder Broschüren belegen eine Feindschaft gegenüber Demokratie und Verfassung. Antisemitische, rassistische, islam- und menschenfeindliche Äußerungen dieser Partei zielen darauf ab, die freiheitlich-demokra- tische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu besei- tigen. Einen Fehler begeht, wer die NPD isoliert betrachtet. Denn es sind nicht die Wahlergebnisse, die jeweils zu Verbotsanträgen geführt haben. Es war die Gewalt auf der Straße, es waren die brennenden Flüchtlingsheime und es ist jetzt der Rechtsterrorismus, der ihr angelastet wird. Diese Partei ist aggressiv kämpferisch in ihrem Vorgehen. Sie ist der parlamentarische Arm der soge- nannten freien Szene und begreift sich als integraler Be- standteil einer gewalttätigen nationalsozialistischen Be- wegung. Durch die Rechtsprechung des Europäischen Ge- richtshofs für Menschenrechte hat es eine Weiterent- wicklung gegeben. Er verlangt in seiner Rechtsprechung eine Konkretisierung der schon eingetretenen Gefahr für die Demokratie; ein Verbot muss „notwendig“ sein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte versteht den Begriff der „Notwendigkeit“ als „dringendes gesell- schaftliches Bedürfnis“ – „pressing social need“. Zur Beurteilung der „Notwendigkeit“ zieht der EGMR zum einen die Ziele der Partei heran und zum anderen die Mittel, mit denen diese Ziele verfolgt werden. Eine Kon- kretisierung der Gefahr für die Demokratie kann auch in der Nähe der Partei zu Gewalt und Terrorismus liegen. Parteien, die die demokratische Grundordnung des Staa- tes zerstören wollen und/oder ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen oder durchsetzen wollen, können sich nicht auf die Menschenrechtsgarantien der Konvention beru- fen. Beim Vortrag vor Gericht wird es daher entscheidend darauf ankommen, darzulegen, dass der Übergang von der NPD zu den „Kameradschaften“, zur gewalttätigen freien Szene, fließend ist. Man agiert bewusst und ge- wollt arbeitsteilig und verfolgt identische Ziele. Man be- wegt sich in derselben subkulturellen Musikszene, die der Hauptrekrutierungsfaktor für das rechtsextreme Mi- lieu ist. Rechtsextreme sind auf dem Weg – auch mit Gewalt gegen Minderheiten, gegen Parteibüros demo- kratischer Parteien, gegen Exponenten der Zivilgesell- schaft –, Dominanzgebiete, „national befreite Zonen“, „völkische Siedlungsräume“ zu schaffen. Die geforderte Bedrohung der Demokratie ist leider nur allzu konkret und alltäglich. Unabhängig von der politischen Frage, ob es vorstell- bar ist, dass ein europäisches Gericht nach unserer His- torie es der Bundesrepublik untersagt, eine Nazipartei zu verbieten, kann festgestellt werden: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt eine präzisere Begründung der konkreten Gefährdung der Demokratie, ist aber kein Hindernis für ein erfolgreiches Verbotsver- fahren. Der Bundestag darf die Länder in Karlsruhe nicht al- leinelassen, wie es die Bundesregierung tut. Die Länder haben das Einreichen des Antrags bei Gericht für Juni 2013 angekündigt. Es geht also nicht mehr um ein „Ob“ des Antrages auf Verbot, sondern um das „Wie“ des Auftretens in Karlsruhe. Mehr Antragsteller können nach Aussagen des Präsidenten des Bundesverfassungs- gerichts eine vielschichtigere Argumentation vortragen. Nur der Bundestag kann Erkenntnisse aus dem NSU-Un- tersuchungsausschuss und der Zivilgesellschaft einbrin- gen. Das Nichtstellen eines eigenen Antrags, nach mona- telanger Prüfung des Materials und der Rechtslage, nach kontroverser Debatte im Plenum, würde als eine Distan- zierung von dem Schritt der Länder verstanden werden. Anlage 10 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Ansgar Heveling (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Zwei- ten Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleuni- gung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze (Tages- ordnungspunkt 6 a) Dem Zweiten Gesetz über Maßnahmen zur Beschleu- nigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze stimme ich nicht zu. Ich habe rechtspolitische Bedenken, da aus meiner Sicht die Festlegung der Netzverknüpfungs- punkte nicht ausreichend abgewogen worden ist, wie das Verfahren um den in meinem Wahlkreis befindlichen Netzverknüpfungspunkt Osterath zeigt. Ohne Frage ist der beschleunigte Netzausbau eine wichtige Aufgabe, die ich grundsätzlich unterstütze. An- gesichts der großen Herausforderungen halte ich es auch für richtig, gesetzliche Möglichkeiten zur Verfahrens- beschleunigung und Rechtswegkonzentration zu nutzen. Im Grundsatz wird mit einem Bedarfsplangesetz, wie es heute zur Abstimmung steht, dabei der richtige Weg be- schritten. Es wird aber nicht nur ein neuer Weg bezüglich des Netzausbauverfahrens beschritten. Es sollen auch neue, bisher in Deutschland nicht genutzte Übertragungstech- niken zum Einsatz kommen, unter anderem die Hoch- spannungsgleichstromübertragung. 29960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Meiner Auffassung nach berücksichtigt das zur Ab- stimmung stehende Gesetz in seinen Festlegungen die Besonderheiten dieser neuen technischen Verfahren nicht in ausreichender Weise. Mit dem Gesetz werden Anfangs- und Endpunkte verbindlich als Netzverknüp- fungspunkte festgelegt. Sie haben klare geografische Ortsbezeichnungen – etwa Osterath – und sind bindend für sämtliche nachfolgenden Planungsebenen, sodass sie einer weiteren Abwägung auf diesen Stufen nicht zu- gänglich sind. Gerade im Hinblick auf die notwendige Transparenz und die Nachvollziehbarkeit von Abwägungen erlebe ich anhand des in meinem Bundestagswahlkreis gelegenen Netzverknüpfungspunktes Osterath, dass die fehlende Klarheit von Abwägungsgründen – aus meiner Sicht berechtigt – großen Widerspruch in der Bevölkerung hervorruft. Gleichzeitig sind mit der verbindlichen Festlegung von Netzverknüpfungspunkten meiner Ansicht nach not- wendigerweise Folgewirkungen für die erforderlichen zusätzlichen Anlagen, wie beispielsweise Konverteran- lagen, verbunden. Denn es ist zwar richtig, dass das Ge- setz zu den konkreten Anlagen keine Festlegungen trifft, sodass hier die exakte Standortsuche im Wege der Ab- wägung auf nachfolgenden Planungsstufen erfolgen wird. Durch den notwendigen Bezug der Anlagen zum Netzverknüpfungspunkt dürften diesem Prozess gleich- wohl aufgrund der gesetzlichen Festlegung der Netzver- knüpfungspunkte Grenzen gesetzt sein. Dies wird aus meiner Sicht im Gesetz nicht ausrei- chend berücksichtigt. Es ist für mich auch nicht erkenn- bar, dass bei der Auswahl der Netzverknüpfungspunkte die notwendige Abwägung dieser und anderer Belange sowohl auf der Ebene der Netzentwicklungsplanung als auch im Bedarfsplangesetz in ausreichender Weise statt- gefunden hat. Mithin ist zwar der Weg der Bedarfsplangesetz- gebung aus meiner Sicht richtig, aber gleichzeitig habe ich bezüglich der gesetzgeberischen Umsetzung rechts- politische Bedenken. Ich begrüße zwar, dass der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie auf Antrag der Fraktionen von CDU/ CSU und FDP in der Beschlussempfehlung davon ausgeht: Mit der Regelung des § 1 des Bundesbedarfsplan- gesetzes sind die im Bundesbedarfsplan genannten Netzverknüpfungspunkte als Anfangs- und End- punke der Vorhaben verbindlich. Für diese Vorhaben werden nach § 1 Absatz 1 des Bundesbedarfsplange- setzes die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und der vordringliche Bedarf festgeschrieben. [Bei neu zu errichtenden Netzverknüpfungspunkten sind die geografischen Ortsangaben naturgemäß als Such- raum zu verstehen.] Die verbindliche Festlegung von Netzverknüp- fungspunkten bedeutet hingegen noch keine ver- bindliche Vorgabe für den konkreten Standort von neu zu errichtenden notwendigen Anlagen (zum Beispiel Konverter). Der Standort von Nebenanla- gen kann auch mehrere Kilometer von dem ver- bindlichen Netzverknüpfungspunkt entfernt gele- gen sein und zum Beispiel über eine Stichleitung mit dem benannten Netzverknüpfungspunkt ver- bunden werden. Die Entscheidung über einen geeigneten und ver- träglichen Standort von notwendigen Anlagen ein- schließlich der Alternativenprüfung erfolgt erst in den nachfolgenden Planungsschritten in den dafür vorgesehenen Verfahren. Hierbei gibt es keine starre Begrenzung der Standortsuche. Sie hat sich unter anderem an der technischen Machbarkeit, der Raum- und Umweltverträglichkeit sowie der Wirt- schaftlichkeit zu orientieren. Im Rahmen der erfor- derlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren kann sich auch die Öffentlichkeit über die bestehen- den Beteiligungsmöglichkeiten in die Suche nach einem geeigneten Standort und die Alternativenprü- fung einbringen. Im Interesse einer rechtssicheren Festlegung und Klä- rung, aber auch im Hinblick auf die – nicht zuletzt mit Blick auf die Bevölkerung – notwendige Verbindlich- keit, wäre es aber aus meiner Sicht notwendig gewesen, die vorstehend angeführten Aspekte unmittelbar im Ge- setz selbst zu verankern und die gesetzliche Möglichkeit der Flexibilisierung auch für nachfolgende Planungsebe- nen zu schaffen. Bedarfsplangesetze in anderen Berei- chen enthalten oftmals solche Flexibilisierungsklauseln. Damit hätte den Bedenken, insbesondere den rechtspoli- tischen, Rechnung getragen werden können. Da sich die genannten Gesichtspunkte im Bedarfs- plangesetz selbst nicht ausreichend wiederfinden, stimme ich dem Gesetz nicht zu. Anlage 11 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jörn Wunderlich und Raju Sharma (beide DIE LINKE) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Va- ters (Tagesordnungspunkt 20) Wir stimmen diesem Gesetzentwurf aus folgenden Gründen zu: Allen Fraktionen war bewusst, dass mit dem Bekannt- werden des leiblichen Vaters sozialer Zündstoff und be- trächtliche Risiken für eine intakte soziale Familie ent- stehen können, weshalb im Rahmen der Beratungen für alle Fraktionen neben dem vorrangigen Aspekt des Kin- deswohls auch der Schutz dieser Familien im Vorder- grund gestanden hat. Ziel war es, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit dem größtmöglichen Schutz der sozialen Familie umzu- setzen, ohne die Rechte des leiblichen Vaters zu schmä- lern. Dies wird nach unserer Überzeugung mit dem Gesetz in der Ausschussfassung erreicht. Die Hürden für ein Umgangsrecht wurden bewusst hoch angesetzt, um Will- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29961 (A) (C) (D)(B) kür vorzubeugen. Gleichzeitig wurde vermieden, ein Umgangsrecht des leiblichen Vaters an ein Anfechtungs- recht zu koppeln, um dem rechtlichen Vater nicht seine Position zu entziehen. Die Voraussetzungen des Umgangs, die eidesstattli- che Versicherung, das nachzuweisende ernsthafte Inte- resse des leiblichen Vaters und die Prüfung, dass der Umgang dem Kindeswohl dienen muss, bilden nach meiner Überzeugung die Basis, die im Rahmen der Umsetzung des Urteils einerseits den größtmöglichen Schutz der sozialen Familie und des Kindes gewährleis- tet und andererseits den Vätern die Möglichkeit eröffnet, den Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen. Anlage 12 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters (Tagesordnungs- punkt 20) Cornlia Möhring (DIE LINKE): Ich gebe diese Er- klärung auch im Namen meiner Kollegin Dr. Barbara Höll und meines Kollegen Jan van Aken ab, die ebenso wie ich heute gegen den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung gestimmt haben, weil der vorliegende Gesetzent- wurf insbesondere in den folgenden Punkten sehr pro- blematisch ist: Erstens. Der Gesetzentwurf stellt in unverhältnismä- ßiger Weise auf biologische Vaterschaft ab und kehrt da- mit zu einem biologistischen Vaterbild zurück. Bisher ist Vaterschaft im deutschen Recht in erster Linie durch so- ziale Merkmale gekennzeichnet: Ehe mit der Mutter, Anerkennung der Vaterschaft, sozial-familiäre Bezie- hung, Übernahme tatsächlicher Verantwortung. Das Fa- milienrecht schließt bisher Umgangsrechte für biologi- sche Väter ohne sozial-familiäre Beziehung zum Kind aus, um bestehende sozial-familiäre Beziehungen zu schützen. Die Interessen der sozialen Familie werden nicht zuletzt im Sinn des Kindeswohls im Abwägungs- prozess in aller Regel höher bewertet als die des biologi- schen Vaters, der in keinerlei tatsächlicher Beziehung zu dem Kind steht. Das soll jetzt mit dem Gesetzentwurf geändert werden. Zweitens. Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf hinsichtlich des Ausmaßes der Stärkung der Rechte bio- logischer Väter, die – und sei es unverschuldet – in kei- ner Beziehung zu dem Kind stehen, für zu weitreichend. Biologische Väter, die in der Regel die Vaterschaft nicht anerkannt und keinerlei Kontakt zu dem Kind haben, werden über das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderte Maß hinaus in ihrem Um- gangs- und Auskunftsrecht gestärkt. Der EGMR hatte le- diglich verlangt, eine positive Kindeswohlprüfung vor- zunehmen. Dem biologischen Vater soll dazu verholfen werden, dass in einem Verfahren seine Interessen mit de- nen der sozialen Familie abgewogen werden. Über diese Maßgabe geht der Gesetzentwurf mit dem Umgangs- und Auskunftsrecht des biologischen nicht rechtlichen Vaters quasi als Regelfall deutlich hinaus. Drittens. Für besonders fatal halte ich die Möglich- keit, dass biologische, nicht rechtliche Väter künftig auch gegen den Willen der Mutter ein Vaterschafsfest- stellungsverfahren erwirken können. Das betrifft auch Antragsteller, bei denen die biologische Vaterschaft gar nicht feststeht und bekannt ist. Möglicherweise jahr- zehntelang gelebte familiale und soziale Beziehungen könnten mit dieser Regelung durch die Erforschung der biologischen Abstammungsbeziehung und den Umgang mit dem biologischen Vater erheblich verändert werden. Ist dem Kind und/oder dem sozialen Vater das Ausei- nanderfallen von rechtlicher und biologischer Vater- schaft nicht bekannt, zum Beispiel weil die Mutter die biologische Vaterschaft nicht klären ließ, wird schon der Antrag auf ein Vaterschaftsverfahren zu Konflikten in der sozialen Familie führen. Es ist ja im Regelfall nicht davon auszugehen, dass Mutter und rechtlicher Vater ge- meinsam beschlossen haben, dem biologischen Vater den Umgang zu verweigern. Im Gegenteil: Im Regelfall wird der rechtliche Vater nicht wissen, dass er nicht der biologische Vater ist. Das birgt die Gefahr des Auseinan- derbrechens der bestehenden sozialen Familie. Und selbst wenn sich durch den Test herausstellt, dass keine biologische Vaterschaft des Antragstellers existiert, wird die Mutter gezwungen, gegen ihren Willen Intimkon- takte preiszugeben. In seiner jetzigen Form weicht der Gesetzentwurf so den Schutz der sozialen Familien und der persönlichen Freiheitsrechte der Mutter unangemes- sen auf. Viertens. In der beschlossenen Form stellt der Gesetz- entwurf keine Rechtssicherheit für die Beteiligten her, weil er weder eine Konkretisierung möglicher Fallkon- stellationen enthält noch die im Gesetzentwurf verwen- deten Kriterien wie „Kindeswohl“ oder die „tatsächliche Verantwortung“ näher bestimmt. Die damit vorprogram- mierte Rechtsunsicherheit hat negative Folgen in nicht absehbarem Ausmaß für die soziale Familie. Ich sehe ei- nen dringenden Nachbesserungsbedarf im Sinne einer Konkretisierung möglicher Konstellationen, in denen dem biologischen, nicht rechtlichen Vater ein Umgangs- recht eingeräumt wird, die sich auf Sonder- und nicht Regelfälle beschränken. Außerdem muss wegen der zu befürchtenden negativen Auswirkungen auf die soziale Familie klargestellt werden, dass die inzidente Vater- schaftsfeststellung und ein Umgangsrecht im Regelfall nicht dem Kindeswohl entsprechen, sondern nur in Aus- nahmekonstellationen möglich sein können. Fünftens. Ich halte es rechtlich für sehr problema- tisch, dass mit dem Gesetzentwurf für den biologischen, nicht rechtlichen Vater Rechte gegenüber der sozialen Familie und dem Kind entstehen, aber keinerlei Pflich- ten. Er erhält ein Umgangsrecht, aber keine Unterhalts- pflicht. Damit hat der biologische, nicht rechtliche Vater deutliche Vorteile gegenüber dem von der Mutter ge- trennt lebenden rechtlichen Vater, der Unterhalt zahlen muss. Verbände wie der VAMV hatten im Vorfeld bereits Vorschläge dazu unterbreitet, wie dieses Missverhältnis geändert werden könnte, zum Beispiel durch ein Erb- 29962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) recht des Kindes gegenüber dem biologischen, nicht rechtlichen Vater. Jens Petermann (DIE LINKE): Ich stimme diesem Gesetzentwurf aus folgenden Gründen zu: Allen Fraktionen war bewusst, dass mit dem Bekannt- werden des leiblichen Vaters sozialer Zündstoff und be- trächtliche Risiken für eine intakte soziale Familie ent- stehen können, weshalb im Rahmen der Beratungen für alle neben dem vorrangigen Aspekt des Kindeswohls auch der Schutz dieser Familien im Vordergrund gestan- den hat. Ziel war es, die Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs für Menschenrechte mit dem größt- möglichen Schutz der sozialen Familie umzusetzen, ohne die Rechte des leiblichen Vaters zu schmälern. Dies wird nach meiner Überzeugung mit dem Gesetz in der Ausschussfassung erreicht. Die Hürden für ein Umgangsrecht wurden bewusst hoch angesetzt, um Will- kür vorzubeugen, Gleichzeitig wurde vermieden, ein Umgangsrecht des leiblichen Vaters an ein Anfechtungs- recht zu koppeln, um dem rechtlichen Vater nicht seine Position zu entziehen. Die Voraussetzungen des Umgangs, die eidesstattli- che Versicherung, das nachzuweisende ernsthafte Inte- resse des leiblichen Vaters und die Prüfung, dass der Umgang dem Kindeswohl dienen muss, bilden nach meiner Überzeugung die richtige Grundlage. Sie ge- währleistet im Rahmen der Umsetzung des Urteils einer- seits den größtmöglichen Schutz der sozialen Familie und des Kindes und eröffnet andererseits den Vätern die Möglichkeit, den Kontakt zu ihren Kindern aufzuneh- men. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes (Tagesordnungspunkt 17) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Ein Baum bleibt dank seiner Wurzeln erhalten, ein Mensch dank seiner Freunde und Erinnerung, so lautet eine russi- sche Lebensweisheit. Kinofilme sind ein lebendiger Spiegel und Zeugnis unserer Geschichte und Gesell- schaft. Bewahren wir unser filmisches Erbe nicht, gehen auch ein gewaltiges Stück kollektives Gedächtnis und Erinnerung an mittlerweile rund 120 Jahre deutscher Ge- schichte verloren. Jeder Film, ob gut oder schlecht, ob Komödie, Tragödie oder Dokumentarfilm, erzählt uns etwas über seine Zeit. Jeder Film ist ein Zeitzeuge. Ster- ben diese weg, können sie uns von damals nichts mehr berichten. Wir stehen damit auch bei den nachfolgenden Gene- rationen in der Pflicht. Das Gesetz, das wir heute beschließen, bietet einen Einstieg in die Sicherung unseres nationalen Filmerbes. Dieses Ziel hatten wir uns im Koalitionsvertrag 2009 ge- setzt. Mit der Einführung einer gesetzlichen Pflichtregis- trierung für Kinofilme kommen wir dem nach. Wie wir überhaupt alle kultur- und medienpolitischen Vorhaben des Koalitionsvertrages – mit einer Ausnahme – umge- setzt haben. Durch eine Pflichtregistrierung gewinnen wir einen Überblick über den Gesamtumfang der jährlichen Film- produktion in Deutschland. Der ist bisher nicht vollstän- dig bekannt. Erst wenn wir wissen, wie viele Filme un- sere kreativen Mitbürgerinnen und Mitbürger Jahr für Jahr drehen, kennen wir auch die Kosten: die Kosten für eine generelle Pflichthinterlegung. Eine Hinterlegung wirklich aller Filme wäre natürlich wünschenswert. Aber das kostet Geld, viel Geld, das wir leider nicht auf Anhieb haben. Daher müssen wir Stück für Stück vorge- hen und uns auf potente Partner stützen. Dennoch beginnen wir ja beileibe nicht bei null. Ge- schätzte 80 bis 90 Prozent aller jährlich produzierten Filme werden seit 2004 aufgrund ihrer öffentlichen För- derung von Produktion oder Verleih sowieso hinterlegt. Hinzu kommt: Die Bundesregierung und die Länder ebenso wie die Filmwirtschaft geben bereits namhafte Beträge für die Digitalisierung des filmischen Erbes, also seine zukünftige Zugänglichmachung. Der Kultur- staatsminister fördert aus seinen 5 Millionen Euro Digi- talisierungsmittel auch die Digitalisierung von Filmen. Die Filmförderungsanstalt, die Selbstorganisation der Filmbranche, hat in ihren Haushalt 1 Million Euro zur Digitalisierung der 500 wichtigsten Filme aus Deutsch- land eingestellt. Der Deutsche Bundestag hat im Februar den Antrag von Union und FDP zur Stärkung des Filmerbes be- schlossen. Darin setzen wir eine Reihe von Akzenten: Wir fordern den Aufbau eines Bestandskatalogs, der klärt, an welchem Ort in Deutschland Filmkopien eines Werkes in welchem Format vorliegen. Wir fordern eine Prüfung kostengünstiger und transparenter Hinterle- gungsmodelle. Wir fordern Forschungsvorhaben zu ge- eigneten technischen Standards für die Langzeitarchivie- rung auf internationaler Ebene. Dies sind nur einige Beispiele. Insgesamt haben wir damit ein gutes Paket geschnürt. Und wir haben viele starke Partner. Das Bundesarchiv als zentrales deutsches Filmarchiv, die Stiftung Deutsche Kinemathek, die gerade ihren 50. Geburtstag gefeiert hat und das Deutsche Filminstitut, DIF, sind die Hauptmit- glieder des Kinematheksverbunds. Sie bewahren und si- chern in ihren Archiven einen gewichtigen Teil der zum deutschen Filmerbe gehörenden Kinofilme. Zu ihrem Auftrag gehört es, diese Filme für die Allgemeinheit zu- gänglich zu machen. Gesammelt werden deutsche Filme aller Genres – darunter Wochenschauen, Trickfilme, Do- kumentarfilme und Spielfilme – und aller Epochen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Bei einem Besuch im vergangenen Herbst in der Deutschen Kinemathek konn- ten wir Mitglieder des Kulturausschusses uns ein Bild von der hervorragenden Arbeit der motivierten, begeis- terungsfähigen und hoch qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29963 (A) (C) (D)(B) Daneben leisten auch die Friedrich-Wilhelm-Murnau- Stiftung und die DEFA-Stiftung wertvolle Arbeit. Die Bundesregierung unterstützt sie bei der Digitali- sierung von Filmerbeklassikern. Wir alle erinnern uns noch an die winterliche Open- Air-Aufführung von Fritz Langs Metropolis während der Berlinale 2010 vor dem Brandenburger Tor. Für das nächste Jahr ist die digitale Restaurierung von Das Cabinet des Dr. Caligari in Vorbereitung. Diese Hüter und Pfleger des deutschen Filmerbes stellen ihre Bestände auch in die Deutsche Digitale Bib- liothek ein. Hier soll einmal unser gesamtes kulturelles Erbe zur Ansicht und Nutzung präsentiert werden. Bewegtbilder, also Filme, sind davon ein besonders attraktiver Bestandteil, der mit Sicherheit besonders häu- fig nachgefragt werden wird. Voraussetzung dafür ist eine Klärung der Rechte. Ich freue mich, dass das Bun- deskabinett nun endlich einen Gesetzentwurf zur Nut- zung der verwaisten und vergriffenen Werke vorgelegt hat. Damit wird die Einstellung von verwaisten Film- werken, deren Rechteinhaber nicht mehr ermittelt wer- den kann, in die Deutsche Digitale Bibliothek und die Europeana möglich. Inhaltlich waren die Anträge der Opposition von un- serer Initiative nicht weit entfernt. Die Oppositionsfrak- tionen haben natürlich deutlich mehr gefordert, ohne sich untereinander einig zu sein. Wer diese Ansprüche durchrechnet, muss der Filmbranche auch sagen, dass es jährlich einen zweistelligen Filmbeitrag von allen Betei- ligten geben muss. Man kann sich immer mehr wün- schen. Der Erhalt und die Verfügbarmachung des Filmerbes kostet aber sehr viel Geld. Die Filmbranche sagt uns: Circa 200 Spiel- und Dokumentarfilme und circa 2 500 Kurzfilme wären pro Jahr zu hinterlegen. Die reine Er- fassung und einfache Sicherung dieser Filme allein würde jährliche Kosten in Millionenhöhe verursachen. Die dauerhafte Erhaltung ist aber kein Selbstzweck. Man muss diese Filme auch zugänglich und nutzbar machen. Mittelfristig – sagen uns Experten – müssten wir uns bei einer gesetzlichen Pflichthinterlegung auf weitere Kos- ten bis zu 10 bis 12 Millionen Euro einstellen. In Zeiten der Schuldenbremse ist das leider nicht realistisch. Wie schon gesagt: Auch die FFA leistet ihren Beitrag. Dennoch macht sich die Filmwirtschaft bislang recht klein und zeigt mit dem Finger in erster Linie auf die Politik. Bereits durch die reduzierte Mehrwertsteuer för- dert der Staat das Film- und Kinoland beträchtlich. Da- bei ist die Filmdigitalisierung in erster Linie Sache der Rechteinhaber. Nur nach dem Staat zu rufen, kann nicht die Lösung sein. Manche Vertreter der Produzentenallianz, aber auch Vorstand und Präsidium der Filmförderunganstalt zeigen für Stufenlösungen mit Eigenbeteiligung durchaus Ver- ständnis. Wir werden neue Finanzierungsformen finden müssen, zum Beispiel öffentlich-private Partnerschaften. Noch existiert kein technischer Standard, der für die Langzeitarchivierung von Digitalisaten geeignet ist, we- der national noch international. Bis dahin ist auch eine Pflichthinterlegung müßig. Denn durch den technischen Wandel müssen auch die bereits hinterlegten Filme wie- der aufwendig umkopiert werden. Wir leben in Zeiten eines rasanten technologischen Wandels. Solange das so ist, so lange bleibt das Thema „Sicherung und Digitalisierung des Filmerbes“ auf der Tagesordnung. Noch einmal mit Nachdruck betont: Fast 90 Prozent aller bei uns produzierten und geförderten Filme werden bereits pflichtgemäß hinterlegt. Und nicht jeder Flopp, so die Branchenkenner, sollte eine Bestandsgarantie be- kommen. Wir werden diese Thematik auch in der kommenden Legislaturperiode wieder aufgreifen; denn es gilt, unser Filmerbe insgesamt zu sichern. Johannes Selle (CDU/CSU): Wir debattieren heute über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes. Im Wesentlichen wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Pflichtregistrie- rung für Kinofilme eingeführt. Erste Erkenntnis auf dem nicht einfachen Weg, auf dem wir unser großartiges deutsches Filmerbe auf Dauer sichern wollen, war: Wir haben keine vollständige Über- sicht über den Gesamtumfang. Wir haben noch nicht ein- mal eine Übersicht über die jährlich neu erscheinenden Kinofilme. Deshalb haben wir in unserem Antrag „Das Filmerbe stärken, die Kulturschätze für die Nachwelt be- wahren und im digitalen Zeitalter zugänglich machen“ vom Oktober 2010 als erste Forderung die Einführung der Pflichtregistrierung im Bundesarchivgesetz benannt. Nun ist der erste Schritt auf dem langen Weg getan. Wir brauchen den ersten Schritt, wie bei jeder unbekann- ten Reise, um zu sehen, wie wir weiterkommen. Wir brauchen neben der nun zentralen Erfassung im Bundes- archiv auch Kenntnis vom Ort, an dem sich eine ein- wandfreie technische Kopie befindet, und wir haben mit der Gesetzvorlage auch eine Definition erhalten, welche Produktionen betroffen sind. Es war weiter festzulegen, wer verpflichtet ist, die Eintragung in der zentralen Da- tenbank vorzunehmen, und wer folglich bei Pflichtver- letzung dann wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt werden kann. Das alles wurde mit diesem Gesetzentwurf in seinen Details klargestellt, und dafür möchte ich Staatsminister Neumann ausdrücklich danken. Die Änderung des Bundesarchivgesetzes wird nun Grundlage der nächsten Schritte, zum Beispiel der Kal- kulation einer Pflichthinterlegung. Auch bei den nächsten Schritten werden wieder viele Einzelfragen zu beantworten sein. Es deutet sich schon aus den Erfahrungen mit der seit 2004 praktizierten Hin- terlegung der geförderten Filme an. Die Branche kann sich darauf verlassen, dass wir mit Augenmaß vorgehen 29964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) und kleinere Hersteller nicht überfordern wollen mit Kosten, aber auch nicht mit Bürokratie. Filme sind Wirtschafts- und Kulturgut. Sie geben – seit es sie gibt – am eindrücklichsten die Entwicklung der Gesellschaft in ihren Facetten wieder. Mit dem Film lassen sich Menschen am leichtesten ansprechen. Sie sind Massenmedium im wahrsten Sinne des Wortes ge- worden, und sie sind deshalb auch ein demokratisches Medium. Das Filmportal des Deutschen Filminstituts umfasst circa 80 000 Filme. Jährlich kommen mindestens 200 neue Filmproduktionen hinzu. Kulturpolitiker fühlen sich verpflichtet, das entstan- dene und das entstehende nationale Filmerbe zu sichern und für den Zuschauer verfügbar zu halten. Nach der technischen Entwicklung in den Kinos, den Methoden in Wissenschaft und Forschung und den Gewohnheiten der Konsumenten führt an der Digitalisierung aller Film- werke kein Weg vorbei. Das ist eine sehr komplexe Auf- gabe hinsichtlich der Festlegungen von Umfang des Materials, Qualität, Restaurierungsnotwendigkeiten, Stan- dardformaten, Pflege, Prioritäten, Zusatzinformationen, Rechteklärungen, Finanzierungen usw. An diesen Lösungen muss weiter zügig gearbeitet werden; denn die Zeit schreitet fort, und es entstehen ir- reparable Schäden an den Filmen, und immer weniger sind in den Kinos sichtbar und verfügbar für die Wissen- schaft. Das öffentliche Fachgespräch des Ausschusses für Kultur und Medien „Filmerbe – Archivierung und Digi- talisierung“ am 9. November 2011 hat die Problemfelder deutlich gemacht, die mit der Sicherung des Filmerbes verbunden sind und auf uns zukommen. Von der Koalitionsvereinbarung über unseren Antrag bis hin jetzt zur Änderung des Bundesarchivgesetzes zieht sich ein roter Faden konsequenten und zielstre- bigen Handelns. Ich weiß, dass schon vor dieser Legis- laturperiode an diesem Thema gearbeitet wurde. In dieser Koalition wurde jedenfalls gehandelt, und für das deut- sche Filmerbe wäre es gut, wenn wir das in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen würden. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Filme sind fester Bestandteil unseres kulturellen Erbes. Sie sind Teil des nationalen Gedächtnisses. Sie sind Ausdruck des kultu- rellen Reichtums und der kulturellen Vielfalt. Es ist un- sere Aufgabe, diesen Reichtum zu erhalten und den Menschen auch zugänglich zu machen. Wenn wir über das Thema Filmerbe reden, dann müs- sen insbesondere die folgenden Punkte zur Sprache kommen: Erstens. Die Registrierung und Hinterlegung der Kinofilme der Gegenwartsproduktion, zweitens, die Digitalisierung des alten und jüngeren Filmbestandes für die Präsentation und Zugänglichmachung und für die Langzeitsicherung. Damit wird klar, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf der Bundesregierung heute nur ei- nen kleinen Schritt für unser Filmerbe tun. Denn zum Beschluss liegt uns das Gesetz für die Pflichtregistrierung für deutsche Kinofilme vor. Das ist ein überfälliger Anfang, den wir natürlich begrüßen. Aber der umfassenden Herausforderung, die mit unse- rem Filmerbe verbunden ist, wird das nicht gerecht. Diese große kulturpolitische Herausforderung ist von der Bundesregierung lange unterschätzt und vernachlässigt worden. Fünf Jahre ist es nun her, dass alle Fraktionen einen gemeinsamen Antrag zur Sicherung unseres Filmerbes vorgelegt haben. Und vor fast einem Jahr hat die SPD den Antrag „Ein nationales Digitalisierungsprogramm für unser Filmerbe“ eingebracht, und wir haben im Aus- schuss zwei Expertenanhörungen durchgeführt. Und jetzt, nach insgesamt fünf Jahren, kommen die Dinge langsam in Bewegung. So hatten wir immer wieder die Ratifizierung des Eu- ropäischen Übereinkommens zum audiovisuellen Erbe angemahnt. Kürzlich hat das Kabinett den entsprechen- den Gesetzentwurf beschlossen. Das können wir nur be- grüßen. Aber auch hier gilt: Zu viel kostbare Zeit wurde vertan. Dieser Schritt war überfällig und notwendig, um die Bedeutung des Filmerbes anzuerkennen. Aber auf der Ratifikation aufbauend, müssen jetzt auch konkrete Initiativen folgen, mit denen die Bewahrung und Präsen- tation des Filmerbes ermöglicht wird. Und wir haben auch immer wieder die Lösung der ur- heberrechtlichen Fragen gefordert. Denn ein Dauerpro- blem für die Archive und Filmmuseen ist der Umgang mit den verwaisten Filmwerken, deren Rechteinhaber ungeklärt sind. Erst auf Drängen der EU, die eine ent- sprechende Richtlinie beschlossen hat, hat jetzt die Bun- desregierung einen Gesetzesvorschlag unterbereitet, wie mit verwaisten Werken umzugehen ist. Auch das ist im Grundsatz zu begrüßen. Kritisch anzumerken ist, dass damit eine Nutzung nur im Internet ermöglicht werden soll, nicht aber zum Beispiel in den Kinos der Filmerbe- einrichtungen oder im Rahmen von Ausstellungen. Die Pflichtregistrierung, die Ratifikation des Europäi- schen Übereinkommens zum audiovisuellen Erbe und der Umgang mit verwaisten Filmwerken – das alles war überfällig. Und immer noch bleibt es hinter dem Erfor- derlichen zurück. Denn Filmerbe meint immer das vor- handene Erbe und das zukünftige. Was also ist mit dem älteren und jüngeren Filmbestand? Wo bleiben die Antworten auf die Fragen, die mit der notwendigen Digitalisierung und Zugänglichmachung verbunden sind? Wo sind ernsthafte Bemühungen, die drängenden Fragen der Langzeitsicherung zu lösen? Digitalisierung meint immer zugleich Sicherung und Nutzung. Also wir müssen digitalisieren, um die Filme zugänglich zu machen, und wir müssen digitalisieren, um die Filme langfristig bewahren zu können. Vergessen wir doch nicht: Das Kino ist inzwischen digital. Und die Nachfrage im Internet nimmt zu. Alles, was künftig nicht digitalisiert ist, wird in den Archiven verstauben und kein Mensch bekommt es zu sehen. Und was nützt uns ein Filmerbe, das weggeschlossen bleibt? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29965 (A) (C) (D)(B) Die Veranstaltung der Deutschen Filmakademie zur Langzeitsicherung des Filmerbes im vergangenen Fe- bruar hat uns diese Notwendigkeiten vor Augen geführt. Dramatisch sieht es bei der Langzeitsicherung aus, so eine aktuelle Studie: Wenn wir nicht bald etwas unter- nehmen, müssen wir in fünf bis sieben Jahren mit dem Verlust aller bis dato produzierten analogen Werke rech- nen, die nicht digitalisiert worden sind. Um alle diese mit der Digitalisierung verbundenen Fragen lösen zu können, brauchen wir eine mittel- bis langfristige Strate- gie. Wir brauchen ein nationales Programm für die Digi- talisierung und Zugänglichmachung unseres Filmerbes. Dafür muss die Bundesregierung die Initiative ergreifen. Anders bekommen wir das nicht in den Griff. Dabei sollte sie sich auf Lösungsvorschläge stützen, die von den Beteiligten selber kommen, von den Archiven und Kinematheken, von den Filmerbestiftungen, von den Produzenten und den Experten für Langzeitsicherung. Und das muss jetzt ganz schnell angegangen werden. Ich begrüße es außerordentlich, dass der Vorstand der Filmförderungsanstalt im Rahmen der Veranstaltung der Deutschen Filmakademie die Initiative für eine Abstim- mung der Beteiligten zu den Erfordernissen der Lang- zeitsicherung vorgeschlagen hat. In der nächsten Woche wird es den ersten Runden Tisch dazu geben. Das ist ganz wunderbar. Ich möchte Herrn Kulturstaatsminister dringend empfehlen, diese Initiative zu unterstützen, vo- ranzutreiben und auszuweiten. Denn das ist der Ort, wo konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet werden können, die in ein nationales Digitalisierungsprogramm münden können. Dabei müssen alle Beteiligten ihre Interessen bündeln, gemeinsam mit der Politik und der Filmförde- rung. Finanziell gelingen kann die Sicherung, Digitali- sierung und Bereitstellung unseres Filmerbes nur, wenn wir mit allen Beteiligten ein Programm auflegen und eine Zeitschiene für die Umsetzung abstecken. So haben wir es doch auch bei der Kinodigitalisierungsförderung gemacht. Und das ist ein Erfolg geworden. Auch beim Filmerbe kann ich mir ein Fünfjahresprogramm vorstel- len. Der Bund ist zu einem Beitrag bereit. Das zeigt der Haushaltsansatz des laufenden Jahres beim Bundesar- chiv. Aber das allein reicht nicht. Die FFA ist bereit. Das zeigt die Bereitstellung von 1 Millionen Euro für die Filmerbedigitalisierungsförderung im laufenden FFA- Haushalt. Hinzukommen müssen noch die Filmerbe- institutionen, die Produzenten, die technischen Dienst- leister, die Länder mit ihren Fördereinrichtungen und die öffentlich-rechtlichen Sender. Dabei erwarte ich insbe- sondere von den öffentlich-rechtlichen Sendern mit ihrem Kulturauftrag einen Beitrag. Ich fordere Herrn Kulturstaatsminister Neumann er- neut auf, die Initiative für ein Filmerbeprogramm nach dem Erfolgsmodell der Kinodigitalisierungsförderung zu ergreifen. Unsere Unterstützung wäre Ihnen sicher. Soll- ten Sie es jetzt nicht mehr tun, dann wird es eine neue Regierung tun, an der wir beteiligt sein werden. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Filme sind Kul- turgut. Sie geben wie kein anderes Medium Einblick in die Vergangenheit, spiegeln die Gegenwart und malen die Zukunft aus. Diese Zeugnisse künstlerischer Per- spektiven und technischer Möglichkeiten sind unbedingt erhaltenswert. Auch für uns als FDP-Fraktion war und ist die Bewahrung des deutschen Filmerbes deshalb ein wichtiges Anliegen. Es ist erfreulich, dass wir heute ei- nen weiteren Schritt in Richtung der dauerhaften Siche- rung und Zugänglichmachung gehen können. Interfraktionell sind wir uns inzwischen darin einig, dass wir eine umfassende Digitalisierungsstrategie brau- chen, die belastbare Finanzierungs- und Kooperations- modelle für einen Erhalt und die Zugänglichmachung des Filmerbes festschreibt. Eine solche Strategie kann nur in enger Zusammenarbeit gelingen – auch mit unse- ren internationalen Partnern. Insbesondere hervorheben möchte ich die Notwendigkeit einheitlicher digitaler Speicherstandards. Dieses Problem betrifft nicht nur Filme, sondern alle digitalen Archivarien. Wir plädieren deshalb dafür, auch die Forschungsförderung im Rah- men einer Digitalisierungsstrategie heranzuziehen. Um die Chancen der Digitalisierung für den Bereich Kinofilme nutzbar zu machen, haben wir als Koalition in dieser Legislaturperiode bereits das Förderprogramm in Höhe von 20 Millionen Euro zur Umrüstung kleinerer Kinos und Filmkunsttheater auf digitale Abspieltechnik verabschiedet. Die heute zu beschließende Pflichtregis- trierung für deutsche Kinofilme ist nun ein weiterer Schritt zum Umgang mit digitalen Filmwerken. Die Pflichtregistrierung ist viel mehr als das Funda- ment eines zentralen Filmarchivs. Sie ermöglicht eine an zentraler Stelle gebündelte Übersicht über den bislang unbekannten Umfang der jährlichen Filmproduktion. Erst durch eine solche, umfassende Bestandsaufnahme können die Kosten der Digitalisierung analog produzier- ter Filme und die der Archivierung insgesamt seriös ab- geschätzt werden. Auch die Branche selbst braucht Ge- wissheit über den Kostenumfang, bevor sie überhaupt eine Beteiligung an den Kosten der dauerhaften Archi- vierung und Zugänglichmachung in Erwägung ziehen kann. Lassen Sie uns nicht länger an Runden Tischen disku- tieren, sondern jetzt die notwendigen Voraussetzungen zur Sicherung unseres Filmerbes schaffen. Unsere Initia- tive anerkennt ausdrücklich die Bedeutung des Kino- films für das kulturelle Leben in Deutschland. Deshalb ist sie auch ein klares Signal an die Film- und Kreativ- wirtschaft insgesamt: Wir würdigen die Leistung der Kultur- und Kreativwirtschaft als gesellschaftlichen Mehrwert für alle Menschen in Deutschland. Derzeit ist der „Wert der Kreativität“ in aller Munde. Wenn wir über die Herausforderungen digitaler Archi- vierung beraten, dürfen wir die Herausforderungen der digitalen Verwertung nicht aus dem Blick verlieren. Für viele Unternehmen der Wertschöpfungskette Filmindus- trie sind digitale Geschäftsmodelle überlebensnotwen- dig. Als Politik sind wir in der Pflicht, hierfür Rahmen- bedingungen zu setzen und noch stärker zu vermitteln, welch große Bedeutung die Kreativwirtschaft für den Wirtschaftsstandort Deutschland hat. 29966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 (A) (C) (D)(B) Die Kreativität ist eine unserer wenigen unerschöpfli- chen Ressourcen. Wir können diesen Schatz aber nur he- ben, wenn wir öffentliche Akzeptanz für die Regeln di- gitaler Geschäftsmodelle schaffen. Nur wer versteht, welchen Wert ein Film sowohl volkswirtschaftlich als auch gesamtgesellschaftlich hat, entwickelt auch ein Be- wusstsein für den Schaden von Urheberrechtsverletzun- gen. Deshalb plädiere ich am Vorabend des Welttags des geistigen Eigentums für eine positive, aber gesamtheitli- che Betrachtung der „digitalen Revolution“ und erneuere für die FDP-Fraktion unser Bekenntnis zu einer zu- kunftsweisenden, digitalen Filmwirtschaft. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Die Einfüh- rung der Pflichtregistrierung aller deutschen Kinofilme ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherung des nationalen Filmerbes. Dieser Schritt ist überfällig und bietet tatsächlich in der Bundesrepublik zum ersten Mal einen lückenlosen Überblick über die Kerndaten hierzulande produzierter Filme. Für die Zukunft wird angestrebt, dass keine Filme mehr verloren gehen. Die Pflichtregis- trierung erweitert die bislang übliche Praxis der Pflicht- hinterlegung von staatlich geförderten Kinofilmen. Nunmehr werden auch Filme erfasst, die ohne staatliche Förderung entstehen. Die Linke begrüßt diese Erweite- rung ausdrücklich. Kritisch anzumerken ist, dass der Gesetzgebungspro- zess schon seit Jahren dauert. In der Zwischenzeit fehlen Stammdaten einzelner Filme, die für die Archivierung von essenzieller Bedeutung sind, wie zum Beispiel Kopienstandorte, Kopienform und -qualität sowie vonei- nander abweichende Fassungen etc. Hier hätte schneller gehandelt werden können und schneller gehandelt wer- den müssen! Trotzdem wird die Linke dem Gesetzentwurf zustim- men, weil wir der Meinung sind, dass es sich hierbei um eine richtungsweisende Entscheidung handelt, die sich langfristig auszahlen wird. Wir glauben auch nicht, dass man die berechtigten Einwände gegen den durchaus zähen Gesetzgebungsprozess für ein anderes Stimmver- halten einsetzen muss. Sachlich gesehen ist das Resultat bedeutender als eine an diesem Punkt eher marginale Gegenpositionierung. Viel interessanter ist für die Linke ein Teil der Be- gründung des Gesetzentwurfes. Dort heißt es zum Bei- spiel recht verklausuliert, dass „die politische Forderung nach einer Ausweitung des insoweit bereits bestehenden Schutzniveaus … seit Längerem im Raum“ steht. An an- derer Stelle wird betont, dass „die hohe Bedeutung des nationalen Filmerbes für unser kulturelles und gesell- schaftliches Leben … auch im parlamentarischen Raum wiederholt hervorgehoben“ worden ist. Die Bundes- regierung verweist dann jeweils unmittelbar auf den An- trag der vier anderen Fraktionen aus der 16. Wahlperiode zum deutschen Filmerbe, in welchem sie bekanntlich das nationale Filmerbe „ohne zusätzliche Belastungen der öffentlichen Haushalte“ sichern wollten. Bekanntlich war das schon damals unrealistisch, was die Fraktion Die Linke in einem eigenen Antrag mit ganz konkreten und seriös durchgerechneten Finanzie- rungsvorschlägen untermauert hat. Diesen Antrag muss- ten wir nun in der laufenden Wahlperiode nahezu wortgleich noch einmal einreichen, weil es in Sachen Finanzierung des Filmerbes keinerlei substanzielle Be- wegung gibt – die jetzt geleisteten Aufwendungen sind jedenfalls bislang dem Bedarf der Digitalisierung und Archivierung nicht angemessen. Für uns ist bezeichnend, dass die Bundesregierung es nicht für nötig hält, die politische Forderung nach der Ausweitung des Schutzniveaus und die hohe Bedeutung des Filmerbes im Parlament dort zu verorten, wo die ei- gentlichen Initiativen dafür entwickelt wurden: bei der Linken. Wir haben den Finanzierungsbedarf ausgerech- net! Wir haben die Idee entworfen, die Digitalisierung des Filmerbes in den Aufgabenkatalog der Filmförde- rungsanstalt aufzunehmen! Wir sind für eine gerechte Verteilung der Digitalisierungskosten auf öffentliche Hand, Filmwirtschaft und Kinopublikum! Und wir woll- ten vor allen anderen die Pflichtabgabe aller deutschen Kinofilme! Wir verstehen die Pflichtregistrierung somit als Auftakt zur vollständigen Pflichthinterlegung. Zum Schluss noch ein wichtiger Hinweis, weil ja hier das Bundesarchivgesetz geändert wird: Die finanzielle Ausstattung des Bundesarchivs ist unbedingt und signifi- kant zu verbessern. Nur auf einer soliden Finanzbasis ist die Sicherstellung des deutschen Filmerbes wirklich als gesamtstaatliche Aufgabe zu erfüllen. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Es war eine wirklich besondere Stunde des Parla- ments, als Herr Börnsen von der Union uns vor fünf Jah- ren das Lied vom „Theodor im Fußballtor“ gesungen hat: Wie der Ball auch kommt, wie der Schuss auch fällt, der Theodor, der hält! Das Lied ist aus dem gleichnamigen Film mit Theo Lingen, den wir uns heute leider nicht mehr ansehen können, weil er verloren gegangen ist – verlorenes Film- erbe! Hoffentlich taucht das Werk wieder auf. Unsere damaligen Beratungen waren auch überschat- tet vom Konkurs eines Filmkopierwerks. In der Kon- kursmasse standen ja ganze Regale mit Filmen des deut- schen Filmerbes sozusagen „herrenlos“ herum, ohne dass auszumachen war, welche filmhistorische Bedeu- tung sie eigentlich hatten. Der Theodor hat gehalten – die Bundesregierung lei- der nicht. Viel zu wenig von dem, was wir uns 2008 gemeinsam im von uns Grünen angeregten interfraktio- nellen Antrag „Das deutsche Filmerbe sichern“, Druck- sache 16/8504, vorgenommen hatten, wurde umgesetzt. Darüber kann auch der von der Koalition nun einge- brachte Gesetzentwurf zur Änderung des Archivgesetzes nicht hinwegtäuschen, in dem eine „Pflichtregistrierung“ für deutsche Filme vorgesehen ist. Die Pflichtregistrie- rung ist ein kleiner Schritt – viel zu klein angesichts der Zeit, die verstrichen ist, und angesichts der großen Auf- gaben, die beim Filmerbe anstehen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29967 (A) (C) (D)(B) Wir brauchen nicht nur eine Pflichtregistrierung, son- dern vor allem eine obligatorische Hinterlegung, wie sie im interfraktionellen Antrag von 2008 gefordert wird. Das heißt, auch Filme, die bisher nicht archiviert wer- den, weil sie zum Beispiel keine öffentliche Förderung hatten, müssen Eingang in die Filmarchive finden. Letzt- lich brauchen wir eine Pflichtarchivierung ähnlich wie bei der Buchproduktion – das ist die Aufgabe, vor der die Regierung sich drückt. Der Filmarchivierung geschadet hat es auch, dass die Bundesregierung Stellen im Bundesarchiv abgebaut und Gelder für das Archiv gekürzt hat – zum Beispiel nach dem Brand der Herzogin Anna-Amalia-Bibliothek, wäh- rend sie gleichzeitig Millionenbeträge verpulvert, zum Beispiel für eine Vertriebenenstiftung, die nicht Versöh- nung, sondern Streit mit unseren Nachbarn bringt, oder für ein neues Sudetendeutsches Museum, das am Kultur- ausschuss vorbei in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in den Kulturhaushalt hineingedrückt wurde. Zudem sind in den letzten fünf Jahren beim Filmerbe große Aufgaben neu hinzugekommen, vor allem die Filmerbedigitalisierung. Nachdem nun die Kinos weit- gehend digitalisiert sind, brauchen wir auch ein digitali- siertes Filmerbe – um es abspielbar zu halten und es nicht abzuhängen von der technischen Entwicklung. Auch hier hat die Bundesregierung lange geschlafen und erst auf den letzten Drücker nach einem Einstieg gesucht – ohne klares Konzept –, während zum Beispiel die Nie- derlande schon fast ihr gesamtes Filmerbe digitalisiert haben. Als „ein Tropfen auf den heißen Stein“ wurden die Aktivitäten der Bundesregierung in dieser Sache ja bei der Anhörung zur FFG-Novelle bezeichnet. Die Pflichtregistrierung ist ein Minischritt in die rich- tige Richtung. Angesichts der anstehenden Aufgaben ist er viel zu klein und wirkt wie ein Feigenblatt für eine konzeptlose Filmerbepolitik, die nicht wirklich auf der Höhe der Zeit ist. Wir enthalten uns deshalb der Stimme. Wenn die Union auch nach fünf Jahren noch so ein großes Problem damit hat, die Pflichthinterlegung durchzusetzen, dann sollte sie vielleicht auch diese Auf- gabe ins Wahlprogramm für 2020 schreiben – wie die Frauenquote und den Mindestlohn. Dort ist ja der Tisch, an dem schon viele Katzen jammern und so manches Re- gierungsversprechen auf seine Einlösung wartet. 237. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3, ZP 2 Mittelstandspolitik TOP 4 Lohn- und Sozialpolitik TOP 45, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 46 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 4 Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses TOP 5, ZP 5-7 Einleitung eines NPD-Verbotsverfahrens TOP 6 Ausbau der Elektrizitätsnetze TOP 7 Tarifvertragspolitik gegen Lohndumping TOP 13 Fortentwicklung des Städtebaurechts TOP 9, ZP 8 Militärische Nutzung unbemannter Systeme TOP 10 Conterganstiftungsgesetz TOP 11 EU-Operation Atalanta TOP 12 Bundesverkehrswegefinanzierung TOP 8 Verkürzung der Aufbewahrungsfristen TOP 14 Fehmarnbeltquerung TOP 15 Beaufsichtigung der Finanzunternehmen TOP 16 Transparenz bei Steinkohleimporten TOP 17 Bundesarchivgesetz TOP 18 Assoziationsabkommen EU-Zentralamerika TOP 19 Emissionshandel TOP 20 Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters TOP 21 Menschenrechte in Aserbaidschan TOP 22 Urheberrechtsgesetz TOP 23 8. Mai 1945 als Gedenktag TOP 24 Handelsgesetzbuch TOP 25 Ahndung von Therapien gegen sexuelle Orientierung TOP 26 Elektronische Antragstellung Bundeszentralregister TOP 27 Menschenrechte älterer Menschen TOP 28 Öko-Landbaugesetz TOP 29 Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung TOP 30 Ausstieg aus der Kohleverstromung TOP 31 Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung TOP 32 Bildungs- und Teilhabepaket TOP 33 Finanzagentur Deutschland GmbH TOP 34 Moratorium für Hartz IV-Sanktionen TOP 35 Registrierungsprogramm für Reisende TOP 36 Nanotechnologie TOP 37 Einbeziehung Gefangener in die Sozialversicherung TOP 38 Beiräte bei Jobcentern Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723700000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie

herzlich. Ich freue mich, dass wir uns nach zwei bemer-
kenswerten Fußballgala-Abenden


(Rainer Brüderle [FDP]: Sehr gut!)

nun mit gefestigter Motivation unseren ähnlich glanzvol-
len parlamentarischen Geschäften widmen können. Wir
fangen auch ganz vorsichtig und besonders fröhlich und
freundlich an, indem wir der Kollegin Marie-Luise Dött
und der Kollegin Annette Sawade gratulieren, die in
den zurückliegenden Tagen jeweils ihren 60. Geburtstag
gefeiert haben. Alle guten Wünsche für die nächsten
Jahre!


(Beifall)

Für den verstorbenen Kollegen Ottmar Schreiner hat

die Kollegin Astrid Klug erneut die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag erworben. Ich darf Sie im Namen
des ganzen Hauses herzlich begrüßen und wünsche uns
für die verbleibende Zeit eine gute Zusammenarbeit.


(Beifall)

Dann müssen wir noch eine Wahl von Mitgliedern des

Beirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
gemäß § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes durchführen.
Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den turnusmäßig aus-
scheidenden Herrn Markus Meckel den Kollegen
Siegmund Ehrmann sowie für eine weitere Amtszeit
Herrn Professor Dr. Richard Schröder als Mitglieder
des Beirats zu berufen. Stimmen Sie dem zu? – Das ist
offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Ehrmann
und Professor Schröder in den Beirat nach dem Stasi-
Unterlagen-Gesetz gewählt.

Darüber hinaus müssen wir noch eine Schriftführer-
wahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor,
für die Kollegin Ingrid Remmers die Kollegin Sabine
Leidig als Schriftführer zu wählen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist Vorstellung gewünscht? Wo ist die Kollegin? – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ist der letzte Wechsel in dieser Wahlperiode!)


– Ich komme auch fast ins Grübeln, ob das Amt jetzt wö-
chentlich neu besetzt werden soll.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die letzte Wahl in dieser Wahlperiode! Toi, toi, toi!)


– Mit dieser feierlichen Bekräftigung vonseiten der un-
mittelbar zuständigen Fraktion nehme ich dann diesen
Vorschlag als offenkundig einvernehmlich so zu Proto-
koll. Damit ist die Kollegin Leidig als neue Schriftführe-
rin gewählt.


(Beifall bei der LINKEN)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde 

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN:

Große Vermögen durch Neuverhandlung des
deutsch-schweizerischen Steuerabkommens so-
wie durch eine Vermögensabgabe heranziehen

(siehe 236. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Bessere Politik für einen starken Mittelstand –
Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,
Rahmenbedingungen verbessern
– Drucksache 17/13224 –

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 45

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nationales Reformprogramm 2013 und Natio-
naler Sozialbericht 2013

– Drucksache 17/13195 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Neuorientierung im Umgang mit Ge-
walt und Organisierter Kriminalität in Me-
xiko und Zentralamerika – Sicherheitsabkom-
men unter dem Primat der Menschenrechte
gestalten

– Drucksache 17/13237 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss 
Innenausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
zes

– Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,
17/13190 –

Berichterstattung: 
Abgeordneter Jörg van Essen

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen

– Drucksache 17/13225 –

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE

NPD verbieten

– Drucksache 17/13231 –

ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Rechtsextremismus umfassend bekämpfen

– Drucksache 17/13240 –

ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Für eine umfassende Debatte zum Thema
Kampfdrohnen

– Drucksache 17/13192 –

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen

– Drucksache 17/13241 –

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 8 und 13 werden getauscht.
Die Redezeit für den Tagesordnungspunkt 8 beträgt nun-
mehr 30 Minuten, so wir denn nicht vor Beginn dessel-
ben anderes beschließen. Für den Tagesordnungs-
punkt 13 sind jetzt 45 Minuten vorgesehen.

Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 5 b abgesetzt
werden.

Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der am 18. April 2013 (234. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehr dem Haus-
haltsauschuss (8. Ausschuss) zusätzlich nach § 96 der
Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen wer-
den:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Beseitigung sozialer Überforderung
bei Beitragsschulden in der Krankenversiche-
rung

– Drucksache 17/13079 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie damit einverstanden? – Auch das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e
sowie den Zusatzpunkt 2 auf:

3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Thomas
Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner

(Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion der FDP

Stabilität, Wachstum, Fortschritt – Den star-
ken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfest
machen

– Drucksache 17/12700 –

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht über den Erfolg der Programme zur
Technologieförderung im Mittelstand in der
laufenden Legislaturperiode, insbesondere
über die Entwicklung des Zentralen Innova-
tionsprogramms Mittelstand

– Drucksache 17/12771 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Situation des Mittelstands

– Drucksachen 17/9655, 17/12245 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Karl
Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver
Luksic, Patrick Döring, Petra Müller (Aachen),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP

Öffentlich-Private Partnerschaften – Poten-
tiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich
gestalten und Transparenz erhöhen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt
Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf-
fentlich-Private Partnerschaften differen-
ziert bewerten, mit mehr Transparenz wei-
terentwickeln und den Fokus auf die
Wirtschaftlichkeit stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Konstantin von Notz, Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz in Public Private Partnerships
im Verkehrswesen

– Drucksachen 17/12696, 17/9726, 17/5258,
17/13155 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Sendker
Michael Groß

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rekommunalisierung beschleunigen – Öffent-
lich-Private Partnerschaften stoppen

– Drucksachen 17/5776, 17/6515 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Klaus Brandner
Otto Fricke
Roland Claus
Tobias Lindner

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Bessere Politik für einen starken Mittelstand –
Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,
Rahmenbedingungen verbessern

– Drucksache 17/13224 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Frak-
tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1723700100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-

tieren über Mittelstandspolitik, ein besonders wichtiges
Thema. Ich vermisse den Kanzlerkandidaten der SPD,
Herrn Steinbrück; aber vielleicht hat er auch Probleme
mit seiner Politik für den Mittelstand.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der redet gerade beim Mittelstand! – Sören Bartol [SPD]: Ein super Beginn!)


Vor wenigen Jahren waren wir der kranke Mann
Europas. „Sick man of Europe“ war das geflügelte Wort.
Damals war Rot-Grün an der Regierung und hat die Re-
gierungspolitik gestaltet. Wir hatten 5 Millionen Ar-
beitslose und Jahre lähmender Rezession.


(Sören Bartol [SPD]: Die habt ihr uns aber hinterlassen damals!)


Heute ist die Einschätzung eine andere. Heute findet
man „Modell Deutschland“ auf dem Titel des Economist
und anderer internationaler Zeitungen. Deutschland ist
erfolgreicher als alle anderen Länder aus der Krise he-
rausgekommen. Die internationalen Beobachter haben
ein Schlüsselwort dafür – sie haben kein eigenes Wort,
sondern nur ein Lehnwort –, nämlich „German Mittel-
stand“. Der Mittelstand ist also eine der Schlüsselgrößen
dafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind und
wie erfolgreich wir Politik betrieben haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mittelstand ist nicht irgendeine Betriebsordnung, Mit-
telstand ist eine Geisteshaltung, ist eine eigene Richtung,
ist eine eigene Gedankenwelt. Da wird in Generationen,
nicht in Quartalen gedacht. Viele dieser Mittelständler
sind Hidden Champions in ihrem Bereich, also Welt-
marktführer. Manche in Deutschland träumen von ein
paar gewerkschaftsdominierten Aktiengesellschaften
plus Millionen kleiner Ich-AGs.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)






Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Das ist nicht mein ökonomisches Weltbild; das will ich
auch nicht haben. Ich will eine starke Mitte.

Die Entwicklung ist geprägt durch ein – wie es im
Ausland dargestellt wird – neues deutsches Wirtschafts-
wunder. Wir haben 42 Millionen Arbeitsplätze in
Deutschland. So viele gab es noch nie.


(Sören Bartol [SPD]: Damit habt ihr nun gar nichts zu tun!)


Das ist ein Beschäftigungswunder. Wir haben ein Ex-
portwunder: Exporte in Höhe von gut 1 Billion Euro; das
sind über 1 000 Milliarden Euro. Und die Ausländer
kaufen unsere Produkte freiwillig, weil sie gut sind. Das
ist keine Zwangsabnahme. Wir haben ein Wohlstands-
wunder: seit drei Jahren steigende Reallöhne.

Es sind die fleißigen Menschen im Land, dynamische
Unternehmen, die dies erreicht haben, aber auch die
christlich-liberale Politik.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)


Wir haben die Weichen richtig gestellt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Welche Weichen?)


Wir haben auf Entlastung gesetzt. Wir haben das Wachs-
tum beschleunigt. Wir haben die Rentenbeiträge und da-
mit Lohnzusatzkosten gesenkt. Wir haben die Renten er-
höht. Wir haben die Praxisgebühr abgeschafft. Wir
haben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Mittelstand
bei der Erbschaftsteuer entlastet und 13 Milliarden Euro
zusätzlich in Bildung und Forschung gesteckt, ohne den
Staatshaushalt aufzublähen. Das ist erfolgreiche Politik
auch für den deutschen Mittelstand. Das sind die Rah-
menbedingungen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Staatsquote ist auf 45 Prozent gesenkt worden. Un-
ser Ziel ist es, auf 40 Prozent herunterzukommen. So-
zialsysteme haben Überschüsse statt Defizite, und wir
haben im Haushalt die schwarze Null auf den Weg ge-
bracht, erreicht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind die schwarze Null!)


Christlich-liberale Politik hat den Staat fit gemacht.
Rot-grüne Politik will den Staat fett und träge machen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Für den Kollegen Trittin ist die Staatsquote nur eine Re-
cheneinheit, wie er sagt. Ihm ist egal, ob sie 40 Prozent,
45 Prozent, 60 Prozent beträgt. Das ist eben das fatal fal-
sche Denken. Das macht den Mittelstand kaputt.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unsinn!)


Sie wollen die Wirtschaft abwürgen: mit der Erhöhung
der Erbschaftsteuer, mit der Erhöhung der Einkommen-
steuer, mit der Wiedereinführung der Vermögensteuer.


(Sören Bartol [SPD]: Die Welt geht unter!)


Ich habe mir das Gutachten der SPD-Finanzminister
genau angeschaut und habe es auch dabei. Das Gutach-
ten ist die Blaupause für die Wiedereinführung der Ver-
mögensteuer. Das trifft 160 000 Unternehmen in
Deutschland. Das sind 160 000 Unternehmen zu viel, die
davon betroffen werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn in jedem Unternehmen dadurch nur ein Arbeits-
platz verloren geht, erreicht die Zahl, die wir an Arbeits-
plätzen verlieren, eine Größenordnung, die der Einwoh-
nerzahl einer Stadt wie Potsdam entspricht. Deshalb ist
Ihre Politik falsch.

Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für Sie ist
offenbar nicht klar, dass für viele Mittelständler die Ein-
kommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für viele
Handwerker die Einkommensteuer die Unternehmen-
steuer ist, dass für viele Selbstständige und Freiberufler
die Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass
für viele Landwirte die Einkommensteuer die Unterneh-
mensteuer ist. Mit Ihrer Politik der Einkommensteuer-
erhöhung und auch mit der Erhöhung des Spitzensteuer-
satzes treffen Sie diese Bereiche des Mittelstands ins
Mark.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hinzu kommt die Erhöhung der Abgeltungsteuer, der
Mehrwertsteuer, der Erbschaftsteuer. Rot-Grün würde
die deutschen Steuerzahler, wenn Rot-Grün die Mehrheit
bekäme, mit 30 bis 40 Milliarden Euro zusätzlich be-
lasten – und das bei Rekordsteuereinnahmen von über
600 Milliarden Euro. Das ist absolut falsche Politik.

Frau Andreae und andere Grüne laufen auch Sturm
gegen die Vermögensteuerpläne der eigenen Partei. Sie
warnen vor der Substanzbesteuerung, die der Möchte-
gern-Finanzminister Jürgen „Bilderberg“ Trittin einfüh-
ren will. Aber Herr Trittin hat noch ein zusätzliches
Konzept: eine Vermögensabgabe von 100 Milliarden
Euro obendrauf, also Abgabe plus Wiedereinführung der
Vermögensteuer. Das alles geht nicht ohne Einbeziehung
der Betriebsvermögen; es wäre sonst auch verfassungs-
widrig. Herr Trittin hat kürzlich sogar erklärt, die Ver-
mögensabgabe rückwirkend einziehen zu wollen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unglaublich!)


Auch das halte ich für einen Verfassungsbruch. Das ist
eine grottenfalsche Politik, die den Mittelstand voll trifft.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man liest im Spiegel, dass Herr Trittin bei internen
Sitzungen rumgebrüllt habe und gewarnt habe vor dem,
was sich politisch abzeichne. Das zeigt: Er ist nervös.
Die Grünen selber merken: Rot-Grün schwimmen die
Felle davon. – Rot-Grün kann sich keiner leisten und
will sich auch keiner leisten. Der aufziehende Wahl-
kampf muss deshalb mit aller Härte und Deutlichkeit ge-
führt werden, damit der Mittelstand eine faire Chance
hat.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Wir schlagen in unserem Antrag 20 Punkte vor, damit
der Mittelstand in Deutschland weiter gute Chancen hat:
Wir wollen die kalte Progression abbauen. Wir wollen
Basel III – –


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Warum haben Sie es denn nicht gemacht?)


– Weil der Bundesrat mit Ihnen dabei, also Rot-Rot-
Grün, blockiert.


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


Es ist doch immer das Gleiche. Fällt den Sozis etwas ein,
muss es eine neue Steuer sein. Wer ist mit dabei? Die
grüne Partei. – Das ist die Gefechtslage in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Tötö, tötö, tötö! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Karneval ist vorbei!)


– Ja, schreien Sie nur rum! Die Bürger werden entschei-
den,


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrer
Gulasch gemacht wird, also Ihr Rückmarsch in die Vor-
stellungen von vorgestern stattfindet.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Lassen Sie doch den Karl Marx in seinem Museum!
Kommen Sie doch nicht wieder mit den alten Klamotten
heraus!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: heuteshow! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Helau!)


Sie müssen doch mal was dazulernen! Das ist ja Mu-
seumspolitik, was Sie betreiben!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutsch-
land klare Weichenstellungen. Wir brauchen mehr rich-
tige Ingenieure und weniger rot-rot-grüne Sozialinge-
nieure.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Helau und Alaaf! Narrhallamarsch!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723700200

Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1723700300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lassen Sie uns jetzt ausnahmsweise mal über Mit-

telstandspolitik reden! Diese dampfplaudernden Reden
nützen dem Mittelstand überhaupt nichts, Herr Brüderle.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie
hier morgens Karnevalsreden halten, längst von der
Realität mittelständischer Unternehmen verabschiedet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand
ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Das wird verschie-
dentlich von allen Parteien so beschrieben. Aber klar ist
auch, dass der deutsche Mittelstand von dieser Bundes-
regierung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Er
ist gleichwohl erfolgreich. Wenn Sie es mir nicht glau-
ben, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, was der neue
Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammer-
tages Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat – mit Ver-
laub, ich darf es zitieren –:

Auch wenn wir derzeit gut dastehen: Zu wenig Re-
formen und Innovationen dürfen wir uns nicht leis-
ten, sonst ist unser Vorsprung schnell weg.

Wenn Sie uns nicht glauben und Herrn Schweitzer
nicht glauben, der ja aus der FDP ausgetreten ist, Herr
Brüderle, dann glauben Sie bitte dem Institut der deut-
schen Wirtschaft – keine Vorfeldorganisation der SPD –,
das dieser Bundesregierung ins Stammbuch schreibt,
dass sie nur von Entscheidungen von Vorgängerregie-
rungen, vom Mut zu Strukturreformen aus rot-grüner
Zeit profitiert und diesen Vorsprung durch das Chaos
schwarz-gelber Politik aufbraucht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: August Bebel war es!)


– Übrigens: August Bebel war ein Handwerksmeister.
Sie haben ja gar keine Ahnung von Geschichte; das ha-
ben Sie verschiedentlich bewiesen.

Ich sage Ihnen: Das einzig gute Schwarz-Gelb war
gestern Abend Dortmund.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja so was von dümmlich!)


Aber das, was Sie für den Mittelstand leisten, ist tatsäch-
lich nichts, für das Sie sich rühmen können.

Wie ist die Situation in Deutschland? Der BDI, der
Bundesverband der Deutschen Industrie, der auch mit-
telständische Unternehmen vertritt, beklagt einen massi-
ven Verfall der öffentlichen Infrastruktur im Land. Der
Nord-Ostsee-Kanal muss gesperrt werden, weil diese
Bundesregierung mit Herrn Ramsauer zu wenig in die
Infrastruktur, auch in die wirtschaftsnahe Infrastruktur in
diesem Land investiert. Das ist die Wirklichkeit. Auto-
bahnbrücken müssen gesperrt werden, weil Sie nicht in
der Lage sind, die notwendigen Investitionen zu schul-
tern. Das schadet der Wirtschaft, auch dem Mittelstand
in Deutschland.


(Beifall bei der SPD)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, hier muss ich Ihre dünnen
Anträge zum Thema Mittelstandspolitik lesen und diese
oberflächlichen Reden von Herrn Brüderle anhören.
Sprechen Sie einmal mit real existierenden Mittelständ-
lern in Deutschland – mit Handwerksmeistern, mit Fa-
milienunternehmern, mit einer freien Selbstständigen,
mit einer Existenzgründerin –, dann stellen Sie fest:
Diese haben ganz andere Sorgen als das, was Sie hier an
die Wand malen. Sie haben ganz konkrete Ansprüche.
Der Unterschied zwischen Ihrer Bundesregierung und
dem guten deutschen Mittelstand ist: Im guten deutschen
Mittelstand gibt es Unternehmer, die etwas unterneh-
men. Sie sind eine Regierung, die etwas unterlässt.


(Beifall bei der SPD)


Nun zu unseren Anträgen und zu unseren Vorschlä-
gen. In genau vier Bereichen sagen wir sehr konkret, was
wir unter einer ambitionierten, einer zukunftsgerichteten
Mittelstandspolitik in Deutschland verstehen.


(Zuruf von der FDP: Steuern!)


Erstens. Was kann und muss getan werden für qualifi-
zierte Fachkräfte in diesem Land? Zu diesem wichtigen
Thema haben Sie keinen Satz gesagt. Es sind vor allen
Dingen die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
Herr Brüderle, die unter Fachkräftemangel leiden wer-
den. Die großen Konzerne können sich Personalrekrutie-
rungen leisten. Die kleinen und mittelständischen Unter-
nehmen nicht. Deshalb muss etwas getan werden, damit
Frauen und Männer in diesem Land arbeiten können, da-
mit sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen, das Ar-
beitsvolumen von Frauen in diesem Land tatsächlich
entfalten kann. Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit
von Beruf und Familie statt Ihres idiotischen Betreu-
ungsgeldes. Das trägt zur Fachkräftesicherung bei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen jungen Menschen eine Chance geben.
60 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr die
Schule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen
zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche
Erstausbildung. Das duale System der beruflichen
Erstausbildung ist unser Standortvorteil. Darum hätte
sich diese Regierung kümmern müssen. In diesem Be-
reich haben Sie nichts getan.


(Beifall bei der SPD)


Zweites Thema: Innovationsanreize, Investitionen in
Forschung und Wissenschaft. Wir haben in Deutschland
einen hochinnovativen Mittelstand. Aber von der öffent-
lichen Forschungsförderung dieser Regierung profitieren
nur Großunternehmen, kleine und mittelständische Un-
ternehmen nicht.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Wo ist eigentlich die steuerliche Forschungsförderung
geblieben, die Sie dem Mittelstand versprochen haben?
Wir werden steuerliche Forschungsförderung einführen,
damit wir privates Kapital stärker in Forschung und Ent-

wicklung gerade im Mittelstand lenken können, damit
der Mittelstand davon profitieren kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was tun Sie eigentlich für Existenzgründer? Sie ha-
ben den Gründungszuschuss plattgemacht, ein wesentli-
ches Instrument für Menschen, die den Mut haben, sich
selbstständig zu machen, um mit einer Markteinführung
tatsächlich nach vorne zu kommen. Hier haben Sie am
falschen Ende gestrichen. Sie haben nichts getan. Wir
werden etwas tun, zum Beispiel im Bereich der Investi-
tionszulagen. Wir brauchen eine Gründerkultur in
Deutschland. Die Sozialdemokraten stehen an der Seite
derjenigen, die den Mut haben, sich mit guten Konzep-
ten selbstständig zu machen, aber im Moment von Ihnen
sträflich vernachlässigt werden. Sie bekommen am Ka-
pitalmarkt oft nicht die nötige Unterstützung. Deshalb
werden wir in diesem Bereich handeln.


(Beifall bei der SPD)


Drittens. Die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Ich habe
schon über Verkehrswege gesprochen. Wir müssen aber
genauso über die Frage der Breitbandinfrastruktur in die-
sem Land sprechen. Gerade für kleine und mittelständi-
sche Unternehmen, die es oft auch im ländlichen Raum
gibt, ist die Tatsache, dass Sie beim Ausbau des schnel-
len Internets nicht von der Stelle gekommen sind, mitt-
lerweile zum Standortnachteil geworden. Bei allem Ju-
bel über unsere Stärke müssen wir feststellen, dass
Deutschland gegenüber anderen Ländern beim schnellen
Internet zurückgefallen sind. Wer ist zuständig? Ihre Re-
gierung. Wer hat nichts getan? Ihre Regierung. Warme
Worte, Herr Brüderle, solche Reden, wie Sie sie hier hal-
ten, schaffen keinen Arbeitsplatz. Sie befriedigen mit Ih-
rer Art und Weise vielleicht einige in Ihren Reihen, aber
sie nützen der deutschen Wirtschaft nichts. Im Bereich
Breitband haben Sie nichts getan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Bereich der Energiepolitik haben Sie auch kei-
nen Satz verloren. Gerade der Mittelstand in Deutsch-
land leidet unter Ihrem energiepolitischen Chaos. Sie ha-
ben Planungs- und Investitionssicherheit in Deutschland
zerstört. Sie belasten Unternehmen mit immer höheren
Strompreisen. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Sie
haben nichts getan, um in den letzten vier Jahren eine
neue Ordnung am Strommarkt durchzusetzen. In diesem
Bereich werden wir viel aufräumen müssen,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


damit der Mittelstand von den Chancen der Energie-
wende profitieren kann und damit die Energiewende
nicht zum wirtschaftlichen und sozialen Risiko für
Deutschland wird. Auch das unterscheidet uns.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


Viertens. Im Mittelstand, Herr Brüderle, sind vor al-
len Dingen die klassischen Werte der sozialen Markt-
wirtschaft gefragt; das sind Maß und Mitte, Anstand und
Augenmaß. Es sind gerade die deutschen Mittelständler,
die über die Exzesse auf den Finanzmärkten entsetzt
sind. Es sind gerade die mittelständischen Unternehmen,
die in den letzten Jahren erlebt haben, dass in vielen
Bereichen der Finanzwirtschaft Finanzdienstleistungen
nicht mehr Dienstleistungen waren, vielmehr umgekehrt
die Realwirtschaft, also auch der deutsche Mittelstand,
als Dienstleister für Zocker auf den Finanzmärkten be-
handelt wurde. Das hat die mittelständischen Unterneh-
men, also diejenigen, die reale Werte schaffen und nicht
spekulieren, richtig erzürnt. Die Unternehmen in diesem
Land nehmen es einem übel, wenn mit ihrem Vermögen,
mit ihrer Zukunft und mit ihren Arbeitsplätzen gespielt
wird. Wir fragen uns deshalb: Wie regulieren wir den Fi-
nanzmarkt so, dass in die Realwirtschaft, also in Indus-
trie und Mittelstand, investiert wird? Das ist die zentrale
wirtschaftliche Frage.


(Zurufe des Abg. Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU])


Heute wird Herr Rösler seine Wachstumsprognose für
dieses und nächstes Jahr vorlegen. Sie sind stolz auf ein
Wachstum von 0,5 Prozent. Das ist ein schmales Wachs-
tum in diesem Jahr.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723700400

Herr Kollege!


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1723700500

Sie prognostizieren vor dem Hintergrund der Bundes-

tagswahl ein Wachstum von 1,6 Prozent. Wir müssen er-
heblich etwas dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Denn die Wachstumserwartungen stehen durch die Euro-
Krise auf tönernen Füßen. Der deutsche Mittelstand
braucht daher starke politische Partner. Schwarz-Gelb ist
das nicht. Das zeigt sich auch in diesen Tagen. Schauen
Sie sich einmal an, was Ihnen die Unternehmer ins
Stammbuch schreiben. Von Wirtschaftspolitik hat diese
Bundesregierung keine Ahnung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723700600

Christian von Stetten ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1723700700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn Sie heute Morgen in die Wirtschaftsteile der deut-
schen Tageszeitungen schauen, dann können Sie viel
über große Automobilkonzerne, über Versicherungskon-
zerne und über große börsennotierte Technologieunter-
nehmen lesen. All diese sind sicherlich wichtige Unter-
nehmen für die Bundesrepublik Deutschland. Aber das
Rückgrat der deutschen Wirtschaft, der Garant für die si-

cheren Arbeitsplätze sind und bleiben der Mittelstand
und insbesondere die deutschen Familienunternehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt 3,7 Millionen mittelständische Unternehmen
in Deutschland. Diese Firmen sind das Herz unserer
Wirtschaft. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir so gut
aus der Krise gekommen sind. Sie stellen immer noch
71 Prozent aller Erwerbstätigen. 83 Prozent der Auszu-
bildenden werden im Mittelstand ausgebildet. All das
sind stolze Zahlen. Aber: Wir sollten diese Zahlen nicht
nur in der heutigen Debatte hochhalten, sondern die
Wichtigkeit und die Wertschätzung dieser Betriebe auch
in unserer täglichen Gesetzgebung unterstreichen.

Dass der Mittelstand heute gut dasteht, hat Herr
Brüderle bereits ausgeführt. Die Bundesregierung stützt
diese positive Entwicklung durch zahlreiche Maßnah-
men. Wir haben Maßnahmen zur Fachkräftesicherung
ergriffen. Wir haben mithilfe des Normenkontrollrates
die Bürokratiekosten um 12 Milliarden Euro gesenkt.
Wir haben die Mittel des Zentralen Innovationspro-
gramms Mittelstand um 500 Millionen Euro aufgestockt.
Wir haben diverse Maßnahmen zur Verbesserung der Fi-
nanzierung des Mittelstands auf den Weg gebracht.

Wir haben hier im Deutschen Bundestag zahlreiche
weitere Beschlüsse gefasst, um den Mittelstand, die mit-
telständischen Betriebe und die Mitarbeiter zu entlasten.
Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-
position – das wurde vorhin bereits deutlich gemacht –,
haben diese Gesetze mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat
gestoppt und somit verhindert. Die kalte Progression,
also die sogenannte Facharbeiterfalle, ist vorhin schon
angesprochen worden. Ich denke aber auch an die ener-
getische Gebäudesanierung oder an die Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen für Rechnungen und Belege. All
das sind sinnvolle Maßnahmen, die Sie hier verhindert
haben.

Wenn jetzt einer einen Zwischenruf macht – –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Macht doch gar keiner!)


– Sie werden aber kommen.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blöd, wenn man eine vorgefertigte Rede hat, in der „Zwischenrufe“ steht!)


Wenn jetzt einer von Ihnen sagt, dass dies keine sinnvol-
len Maßnahmen seien, dann fragen Sie einmal Ihren
Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, wie er darüber
denkt. Es stimmt: Die SPD hat, genau wie die Grünen,
die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen abgelehnt.
Keine zwei Monate später, am 4. März dieses Jahres, hat
die IHK Siegen Herrn Steinbrück eingeladen, um seine
Thesen zu sozialdemokratischer Mittelstandspolitik zu
präsentieren. Einer der Teilnehmer hat mir das vom
Kanzlerkandidaten verteilte und anschließend auch vom
Willy-Brandt-Haus an die Medien verschickte Thesen-
papier zukommen lassen. Da steht bei Punkt 7 unter der





Christian Freiherr von Stetten


(A) (C)



(D)(B)


Überschrift „Der Mittelstand braucht Beinfreiheit“ – ich
zitiere Peer Steinbrück –:

Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kosten-
trächtige Regelungen abgeschafft werden:

– und dann fordert er –

Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rech-
nungen und Belege …


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Da bin ich zwar überrascht, aber ich kann zu 100 Prozent
zustimmen.

Wenn sich jetzt plötzlich CDU/CSU, FDP und der
Kanzlerkandidat der SPD bei dieser wichtigen Maß-
nahme für den Mittelstand einig sind, dann sollten wir
das entsprechende wichtige Gesetz zum Wohl des deut-
schen Mittelstandes noch vor der Wahl gemeinsam und
ohne Streit hier im Deutschen Bundestag verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kollegen, wir haben dieses gemeinsame Anlie-
gen von Peer Steinbrück und den Koalitionsfraktionen
jetzt auch sofort wieder in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht. Gestern hat der Finanzausschuss des Deut-
schen Bundestages über die Verkürzung der Aufbewah-
rungsfristen entschieden. Wir von CDU/CSU und FDP
haben Wort gehalten und mit Mehrheit zugestimmt. Und
was haben die Kollegen der SPD-Fraktion gemacht? Sie
haben ihren Kanzlerkandidaten im Stich gelassen und
gegen dessen eigenen Vorschlag gestimmt. – Herr
Steinbrück hatte von Ihnen etwas Beinfreiheit verlangt.
Und was haben Sie gemacht? Sie haben ihm die Beine
einfach abgeschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben heute Nachmittag, wenn wir im Deutschen
Bundestag abschließend über den Gesetzentwurf debat-
tieren, die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren und
diesem Gesetzentwurf zum Bürokratieabbau zuzustim-
men.

Wer das gesamte Wahlprogramm der SPD liest, der
wird feststellen, dass die Vorstellungen des SPD-Kanz-
lerkandidaten im Wirtschaftsbereich überhaupt nicht
mehr vorkommen. Die vereinigte Linke in der SPD hat
sich komplett durchgesetzt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh Gott! – Sören Bartol [SPD]: Huch!)


Das geht sogar so weit, dass der SPD-Landesvorsitzende
aus Baden-Württemberg, Nils Schmid, und der grüne
Ministerpräsident Kretschmann zwei Tage vor dem
SPD-Bundesparteitag in Augsburg gemeinsam einen
Brandbrief an den SPD-Bundesvorsitzenden geschrieben
haben, in dem sie vor den Folgen des eigentlichen Pro-
gramms gewarnt haben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie haben sich doch durchgesetzt!)


Sie warnten vor den Folgen der Substanzbesteuerung
und insbesondere vor deren katastrophalen Auswirkun-
gen auf Mittelstand und Familienunternehmen. Und, hat
dieser Protest etwas genutzt?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! – Zuruf von der SPD: Ja!)


Nein, im Gegenteil: Am Ende des Tages hat sogar der
Protestbriefschreiber Nils Schmid diesem Wahlpro-
gramm zugestimmt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Maulheld!)


Gott sei Dank ist es noch nicht Gesetz; es darf auch nie
Gesetz werden. Alle SPD-Delegierten, auch die aus
Baden-Württemberg, haben diesem Mittelstandsge-
fährdungsprogramm, bestehend aus höherer Einkom-
mensteuer, höherer Erbschaftsteuer, zusätzlicher Vermö-
gensteuer und zusätzlicher Bürokratie, einstimmig
zugestimmt. Das ist sozialdemokratische Mittelstands-
politik, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Wiedererhebung der Vermögensteuer und die Er-
höhung der Erbschaftsteuer sind Gift für unseren Mittel-
stand.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles nur Phrasen!)


Sie führen zu einer Besteuerung der Substanz, selbst
wenn das Unternehmen Verluste macht. Natürlich würde
die Umsetzung der Vorschläge der Opposition zu einer
Art Wettbewerbsverzerrung zugunsten der börsennotier-
ten Unternehmen und zulasten der Familienbetriebe füh-
ren. Die großen DAX-Konzerne hätten mit der Einfüh-
rung einer Vermögensteuer überhaupt keine Probleme,
und eine Verdopplung der Erbschaftsteuer ist den DAX-
Konzernen auch egal. Aber unsere mittelständischen Be-
triebe, die Familienbetriebe, müssen diese zusätzlichen
Kosten in ihre Preiskalkulation mit einrechnen. Dann ist
doch klar, wer in Zukunft bei Ausschreibungen den
günstigeren Preis anbieten kann. Das, was Sie verlangen,
führt zu Wettbewerbsverzerrung. Wir werden das selbst-
verständlich verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihre Fraktion allerdings, Herr Bartsch – Sie sind ja der
nächste Redner für die Linksfraktion –,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Gut, dass Sie mich ankündigen!)


hat in der Mittelstandsdebatte den Vogel abgeschossen.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: 100 Prozent Steuern!)


Mit Ihrer Forderung nach einer jährlichen Vermögen-
steuer


(Zurufe von der LINKEN: Abgabe!)


in Höhe von 5 Prozent bezogen auf den Verkehrswert
kommen Sie einer Enteignung der betroffenen Bürger
nahe.





Christian Freiherr von Stetten


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das können die am besten!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ist auch besser so!)


In unserem heute zur Abstimmung gestellten Antrag
„Stabilität, Wachstum, Fortschritt – Den starken deut-
schen Mittelstand weiter zukunftsfest machen“ wird
deutlich, wie wichtig unserer Fraktion der deutsche Mit-
telstand ist. Durch unser Regierungshandeln werden wir
das auch weiter unter Beweis stellen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723700800

Ich erteile dem Kollegen Dietmar Bartsch für die

Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723700900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von

Stetten, ich bedanke mich für die Ankündigung. Wenn
ich Herrn Brüderle und Ihnen zuhöre und wenn ich den
Titel der Unterrichtung lese: „Bericht über den Erfolg
der Programme …“, dann werde ich an eine Zeit erin-
nert, die lange vorbei ist. Fragen Sie einmal die Ossis in
Ihrer Fraktion; sie wissen, wie das ist, wenn nur von Er-
folgen berichtet wird.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Parteitag der FDP!)


Halten Sie es lieber mit dem Altbundeskanzler Kohl, der
gesagt hat: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“
Ich finde, das sollte der Maßstab sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Es reicht, eine Zahl zu nennen: 0,5 Prozent Wirt-
schaftswachstum. Das ist faktisch nichts. Das ist das Er-
gebnis Ihrer Politik, die Sie hier zu verantworten haben.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: 2 Millionen Arbeitslose weniger!)


Nur die realen Ergebnisse zählen wirklich.


(Beifall bei der LINKEN)


Völlig unbestritten ist: Der Mittelstand in Deutsch-
land hat viel geleistet. Ich war selber einige Jahre Unter-
nehmensberater.


(Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP: Oh! Oh!)


– Ja, da kann ich Ihnen viel erzählen. – Ich habe erlebt,
wie dort agiert wird. Aber der Mittelstand ist nicht nur
eine Geisteshaltung, der Mittelstand ist viel differenzier-
ter. Es gibt sehr unterschiedliche Unternehmen in diesem
Bereich, sodass man sie nicht über einen Kamm scheren
kann.

Gerade weil der Mittelstand in der deutschen Wirt-
schaftslandschaft eine herausragende Bedeutung hat,
muss man ihn differenzierter fördern und zielgenauer
agieren. Man muss vor allen Dingen seine Wettbewerbs-
position gegenüber den Großunternehmen stärken und
darf das nicht nur ankündigen, Herr von Stetten. Was ist
denn geblieben von der Steuervereinfachung, die Sie in
Ihrem Wahlprogramm angekündigt haben? Wie sieht es
in der Realität aus? Nahezu nichts!

Ich will aus Ihrem Antrag zitieren. Dort steht:

Deutlicher denn je zeigt sich, dass die Selbststän-
digen und die kleinen und mittelgroßen Unterneh-
men … insbesondere auch in Ostdeutschland … das
Rückgrat unserer Wirtschaft bilden.

Dieses Selbstlob steht in völligem Widerspruch zur
Realität. Auch 23 Jahre nach der deutschen Einheit ist
die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern doppelt so
hoch wie in den alten Ländern, die Löhne befinden sich
auf dem niedrigsten Niveau, wir haben weiterhin eine
hohe Abwanderungsquote, und wir haben weiterhin
1,5 Millionen Pendlerinnen und Pendler. Das ist das Er-
gebnis Ihrer Politik.

Die Bundeskanzlerin ist zwar nicht da, aber lassen Sie
mich einmal konkret auf unser gemeinsames Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommen. Meck-
lenburg-Vorpommern wird, wie andere norddeutsche
Bundesländer, mit der finanziellen Hilfe für die Werften
jetzt alleingelassen. Der Bund will das Bürgschaftspro-
gramm nicht weiterführen. Einen falscheren Zeitpunkt
dafür kann es überhaupt nicht geben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Volle Auftragsbücher!)


Jetzt, wo sich die Werften auf die Bereiche Spezial-
schiffbau und Offshoreprodukte ausgerichtet haben,
streichen Sie das Programm. Das ist mittelstandsfeind-
lich; denn die Werften bei uns in Mecklenburg-Vorpom-
mern sind nichts anderes als Mittelstand. Sie als FDP
verhindern die Förderung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Linke ist eine mittelstandsfreundliche Partei.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will Ihnen das an einigen Punkten darlegen:

Der Mittelstand hat überall, aber besonders in den
neuen Ländern, Finanzierungsprobleme. Es geht um Fi-
nanzquellen, es geht aber auch um Finanzierungskondi-
tionen. Die Finanzkrise hat die Probleme verstärkt. Fakt
ist – Sie wissen das –: Kreditanträge von Kleinunterneh-
men mit weniger als 1 Million Euro Jahresumsatz wer-
den deutlich öfter abgelehnt als Anträge von Unterneh-
men mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz. Das sind
letztlich wettbewerbsverzerrende Rahmenbedingungen
zulasten der Mittelständler. Wir setzen deshalb vor allen
Dingen auf eine sichere Finanzierung durch Sparkassen
sowie Volks- und Raiffeisenbanken und nicht auf Ret-





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)


tungsmilliarden für Großbanken und deren Aktionäre.
Das haben Sie in den letzten Jahren gemacht.


(Beifall bei der LINKEN)


Die privaten Großbanken haben sich häufig aus dem
normalen Geschäft mit dem Mittelstand zurückgezogen.
Das ist gerade in den neuen Ländern zu beobachten. Da
gibt es diese Geschäftsbeziehungen faktisch nicht mehr.
Gott sei Dank gibt es die Sparkassen und Volksbanken,
die das übernehmen.

Der öffentliche Finanzsektor muss stärker auf die Fi-
nanzierung des Mittelstandes verpflichtet werden.
Außerdem müssen wir die Rolle der Sparkassen weiter
stärken, weil nur darüber die notwendige Eigenkapital-
quotenerhöhung und -stärkung möglich ist. Häufig sind
es Kleinstkredite, die benötigt werden, und die sind häu-
fig sehr schwierig zu bekommen.

Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, der
auch unter den Mittelständlern unserer Partei umstritten
ist: das Thema Mindestlohn. Aber unsere Position ist
klar: Wir sind und bleiben bei unserer Forderung nach
der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von
10 Euro, weil dadurch gleiche Wettbewerbsregeln für
die Unternehmen geschaffen werden. Es darf kein Ge-
schäftsmodell sein, über Aufstocker Vorteile zu erzielen.
Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindest-
lohn, der im Übrigen auch die Kaufkraft und die Nach-
frage für Handwerk und Dienstleistung stärkt.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Energiewendepolitik ist für den Mittelstand ein
ganz großes Problem. Eigentlich ist das gar keine Ener-
giewendepolitik; denn das einzig Zuverlässige an Ihrem
Kurs ist, dass für die Mittelständler nichts sicher, nichts
planbar ist. Wer den Mittelstand fördern will, der muss
die Macht der Energiemonopole brechen und für stabile
Strom- und Gaspreise sorgen. Das ist Ihre Aufgabe, da-
mit der niedrige Strompreis an der Leipziger Strombörse
auch beim Mittelständler ankommt. Sie begünstigen ein-
seitig stromintensive Großunternehmen. Das ist die Rea-
lität.

Außerdem brauchen wir mehr Aufträge für den Mit-
telstand; auch das ist klar. Schauen Sie sich einmal Ihre
Investitionspolitik in den letzten vier Jahren an: Bei je-
der Haushaltsberatung hat die Opposition zu Recht kriti-
siert, dass die Investitionen viel zu gering sind. Mit In-
vestitionen sanieren wir doch die Infrastruktur, tun wir
etwas für Schulen, Krankenhäuser etc. und schaffen da-
mit Aufträge auch für den Mittelstand.

Wir brauchen auch ein anderes Vergabegesetz. Klei-
nere Lose sind notwendig, weil die öffentlichen Auftrag-
geber – egal ob unter CDU, SPD oder der Linken – sonst
überhaupt keine Chance haben. Wenn Sie die regionale
Wirtschaft wirklich fördern wollen, dann brauchen wir
diesbezüglich ein anderes Herangehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke hat im Übrigen seit vielen Jahren einen ei-
genen Unternehmerverband – OWUS –, von dem wir
viele Hinweise für unsere Politik bekommen, was sehr

vernünftig ist, denn diese Hinweise helfen uns dann auch
gerade in der Sozialpolitik.

Ich will vor allen Dingen auf eines verweisen: Wir ha-
ben in Berlin den Wirtschaftssenator gestellt, hatten Re-
gierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern
und stellen jetzt in Brandenburg den Wirtschaftsminister.
Sie alle können eine sehr erfolgreiche Politik vorweisen.
Harald Wolf hat in Berlin unter einer rot-roten Regie-
rung endlich einen einheitlichen Unternehmensservice
geschaffen. Er hat außerdem in Berlin/Brandenburg eine
Clusterentwicklung gefördert. Und weil wir letzte Wo-
che die Diskussion über die Frauenquote in Aufsichtsrä-
ten hatten: In Berlin hat Harald Wolf als Wirtschaftsse-
nator und zugleich Frauensenator den bundesweit
höchsten Anteil von Frauen in Aufsichtsräten öffentli-
cher Unternehmen erreicht. Das kann sich doch wirklich
sehen lassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt habe ich eine umfassende Erfolgsgeschichte,
muss aber leider wegen der Redezeit abbrechen; ich
weiß, Herr Präsident. Lassen Sie mich nur noch ein klei-
nes Beispiel nennen. Helmut Holter hat in meinem Bun-
desland ein Mikrodarlehensprogramm für Existenzgrün-
der geschaffen. Die Welt – wirklich keine linke Zeitung –
hat geschrieben, das sei europaweit einmalig. Dieses
Lob gehört hierher.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701000

Tobias Lindner ist der nächste Redner für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Lassen Sie mich mit einem Geständnis beginnen:


(Zurufe von der FDP: Oh!)


Als ich heute morgen zu dieser Debatte gegangen bin
– es war ja die Koalition, die sie auf die Tagesordnung
gesetzt hat –, da hatte ich als junger Abgeordneter tat-
sächlich für einen Moment die naive Hoffnung, Sie, Herr
Brüderle, würden etwas über die Inhalte Ihrer Mittel-
standspolitik erzählen. Einen Moment lang hatte ich
diese naive Hoffnung.

Nun ist es ja so, dass ich als Pfälzer Sie auch phone-
tisch dekodieren kann.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir haben von Ihnen keine Bilanz und auch keine gro-
ßen Zukunftspläne der Koalition gehört. Nein, es gab nur
die Aussage: Deutschland geht es gut. – Da würde ich
Ihnen in einigen Punkten überhaupt nicht widerspre-
chen. Ansonsten besteht das mittelstandspolitische Pro-
gramm dieser Koalition einzig und allein noch in Ab-
wehrreaktionen und Halbwahrheiten im Hinblick auf





Dr. Tobias Lindner


(A) (C)



(D)(B)


grüne und zugegebenermaßen auch rote Steuerpolitik.
Wenn das Ihre Mittelstandspolitik ist, dann ist das ein
Armutszeugnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Sie haben das ja alles schon aufgeschrieben! Dann müssen Sie es ja auch schon gewusst haben!)


– Es muss nicht immer alles im Manuskript stehen, Herr
van Essen.

Unternehmen in Deutschland – vor allen Dingen Mit-
telständlern – geht es um drei Dinge: Chancengleichheit,
Planbarkeit und Durchschaubarkeit von Regeln.

Fangen wir mit der Chancengleichheit an und spre-
chen kurz über Steuern. Deutschland gehen durch krea-
tive und aggressive Steuergestaltung multinationaler
Großunternehmen jährlich schätzungsweise bis zu
150 Milliarden Euro an Steuern verloren. Weltbekannte
Kaffeehäuser und internationale Buchketten zum Bei-
spiel zahlen hier so gut wie keine Steuern. Der deutsche
Mittelstand kann entsprechende Steuergestaltungs-
schlupflöcher allerdings nicht nutzen. Das ist alles an-
dere als Chancengleichheit. Da müssen wir gerade im
Interesse des deutschen Mittelstands gegensteuern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Punkt einge-
hen. Die wichtigste Voraussetzung, damit es dem Mittel-
stand in diesem Land gut geht, sind vernünftige Rah-
menbedingungen, ist eine gute Infrastruktur,


(Manuel Höferlin [FDP]: Wie die Grünen das in Rheinland-Pfalz machen, oder was?)


die nicht einzig und allein aus Beton besteht, sondern
zum Beispiel auch Breitbandinternetanschlüsse und die
Verfügbarkeit von Fachkräften umfasst.


(Manuel Höferlin [FDP]: Lächerlich!)


Der wichtigste Rohstoff, den wir in diesem Land ha-
ben, ist Grips. Die wichtigsten Voraussetzungen sind
eine gute Bildungspolitik und eine gute Fachkräftepoli-
tik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, und
dafür brauchen wir auch und gerade einen Staatshaus-
halt, der endlich einmal die Altschulden in den Blick
nimmt und die Voraussetzungen für vernünftige Finan-
zen und dauerhaft stabile Rahmenbedingungen schafft.
Deshalb fordern wir von Bündnis 90/Die Grünen eine
zeitlich befristete und zweckgebundene Abgabe auf
hohe Vermögen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt – es ist
schon interessant, dass man das gerade einer vermeint-
lich bürgerlichen Regierung erklären muss –: Es muss
erst etwas erwirtschaftet werden, bevor man etwas ver-
teilen kann.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/CSU])


– Ja. – Bevor Sie über Steuern reden, sollten Sie besser
einmal über die Voraussetzungen reden, die erfüllt sein
müssen, um Gewinn zu erzielen. Diesbezüglich war Ihre
Rede, lieber Herr Brüderle, ganz schwach.

Ich will noch etwas zum Thema Planungssicherheit
sagen: Das Gegenteil von Planungssicherheit ist das,
was Sie im Moment bei der Energiewende machen. Vier
Novellen zum EEG in den letzten Jahren – können Sie
mir erklären, wie ein Mittelständler, der die Energie-
wende als Chance begreift, angesichts dessen Investi-
tionsentscheidungen treffen soll? Ich kann ihm das nicht
erklären.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt reden wir einmal über Innovationspolitik. Jeder
hier im Haus hält den Begriff „Innovation“ gerne hoch:
Ja, wir müssen innovativ sein. Sie haben von „Hidden
Champions“ geredet. Es ist natürlich richtig, dass unser
Marktvorteil in den hochspezialisierten kleinen Unter-
nehmen besteht. Aber sind in Deutschland wirklich die
Voraussetzungen gegeben, dass wir aus den Innovatio-
nen eine Menge Gewinn ziehen können? Schauen Sie
sich doch einmal den IT-Bereich an. Ich glaube nicht,
dass wir in Deutschland unbegabtere oder untalentiertere
Informatiker oder Gründer als in anderen Ländern
haben. Aber warum sind dann Firmen wie Yahoo,
Facebook oder Google in den USA entstanden? Aus
zwei Gründen: zum einen, weil an den Hochschulen in
den USA eine ganz andere Kultur herrscht und die
Strukturen dort ganz anders sind. Dort entstehen auf eine
ganz andere Art und Weise aus Ideen Unternehmen.
Zum anderen gibt es dort viel mehr privates Wagniskapi-
tal. Diese Regierung ignoriert faktisch die Frage, wie wir
zu mehr privatem Wagniskapital in Deutschland kom-
men, wie wir diesbezüglich die richtigen Anreize setzen
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie reden immer gerne über Bürokratieabbau und be-
tonen, wie unbürokratisch alles sein müsste. Schauen wir
uns einmal Ihre Innovationsförderung an: Im Etat des
Bundeswirtschaftsministers findet man einen Dschungel
an Förderprogrammen. Viele größere Unternehmen kön-
nen da noch gut durchblicken. Sie haben Spezialisten,
die wissen, wie man den Antrag schreibt und wo man
Geld herbekommt. Aber viele Mittelständler, die eine
Idee haben, haben weder Zeit noch Leute, um konkrete
Anträge zu schreiben. Denen wäre mit einer steuerlichen
Forschungsförderung besser gedient. In Ihrem Koali-
tionsvertrag steht, dass Sie eine steuerliche Forschungs-
förderung anstreben. Sie hatten vier Jahre Zeit, aber Sie
haben nichts gemacht, meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Hubertus Heil hat schon erwähnt, was der DIHK-
Chef über die Mittelstandspolitik dieser Bundesregie-





Dr. Tobias Lindner


(A) (C)



(D)(B)


rung sagt. Ihre Hightech-Strategie, zu der diese Woche
ein Treffen stattfand, wird vielfach gerade von mittel-
ständischen Unternehmen kritisiert und als Rohrkrepie-
rer bezeichnet. Das Problem ist, dass Sie sich auf den Er-
folgen, die zu der derzeitigen Situation geführt haben,
ausruhen, anstatt die Herausforderungen der nächsten
Dekade in den Blick zu nehmen. Ich prophezeie Ihnen:
Wenn das so weitergeht, werden wir in den nächsten Jah-
ren die Folgen Ihrer Unterlassungen zu spüren bekom-
men.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.


(Rainer Brüderle [FDP]: Das ist gut!)


Mittelständische Unternehmen zeichnen sich speziell in
Deutschland insbesondere dadurch aus, dass sie nicht
nur den Gewinn im Blick haben. Ja, Gewinn ist nötig,
damit ein Unternehmen am Leben bleiben und wachsen
kann. Mittelständische Unternehmen übernehmen aber
auch Verantwortung, Verantwortung für ihre Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter, für ihre Familien und für die Ei-
gentümer. Mittelständische Unternehmen denken über
den Tag hinaus und haben ein breites Blickfeld. Das
muss eine Mittelstandspolitik in den Blick nehmen.
Diese Eigenschaften muss man bei einer Politik für den
Mittelstand berücksichtigen. Das Gegenteil davon ist
das, was Sie tun. So kann und darf es nicht weitergehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Manuel Höferlin [FDP]: Das ist das Gegenteil von dem, was Sie in den Ländern tun!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701100

Für die Bundesregierung erhält nun der Bundeswirt-

schaftsminister das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist ihre
Struktur im Allgemeinen und die mittelständische Struk-
tur im Speziellen. Ja, es ist richtig: Unsere mittelständi-
schen Unternehmer sind regional tief verwurzelt. Sie
leisten Hervorragendes. Sie bringen hervorragende Pro-
dukte, Technologien und Dienstleistungen auf den
Markt. Sie haben ein hervorragendes Verhältnis zu ihren
Beschäftigten, und sie sind weltweit anerkannt.

Deswegen bin ich den Regierungsfraktionen sehr
dankbar dafür, dass sie genau dieses Thema heute auf die
Tagesordnung gesetzt haben. Denn eines ist doch klar:
Mittelstand ist nicht nur eine Frage von Strukturen, ist
nicht nur eine Frage von Kennzahlen, sondern – Rainer
Brüderle hat es gesagt – der unternehmerische Mittel-
stand in Deutschland ist weitaus mehr. Er ist eine Geis-
teshaltung, der sich diese Koalition in besonderer Weise
verpflichtet fühlt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hatten wir schon mal!)


Dass Rote, Grüne und Linke kein Interesse am Mittel-
stand haben, das kennen wir schon.


(Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


– Das sieht man jetzt wieder an Ihren Reaktionen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Linken sind nur für Großkonglomerate!)


Leider mussten wir gerade in den letzten Monaten fest-
stellen: Sie haben nicht nur kein Interesse mehr, sondern
Sie fangen jetzt auch langsam an, massiv Politik gegen
den unternehmerischen Mittelstand in Deutschland zu
betreiben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Überall da, wo Sie in den Ländern Verantwortung tra-
gen, machen Sie das Gegenteil von dem, was der Mittel-
stand in Deutschland heute braucht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Stabiles Geld, Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit von
Energie, Forschung, Technologie und Innovationen
– dazu sollten sich die Grünen übrigens erst recht nicht
äußern – sowie neue Märkte, neue Chancen. Das sind
aktuell die Themen bei jedem Mittelstandsbesuch von
Politikern, egal welcher Fraktion.

Schauen wir uns einmal an, was Sie da machen. Ihre
Europapolitik besteht doch darin, durch Europa zu reisen
– so wie es gerade Ihr Spitzenkandidat getan hat – und
nach der Rückkehr gegen solide Haushalte zu wettern.
Das ist Ihre Europapolitik. Sie wollen eine Vergemein-
schaftung von Schulden, Sie wollen am Ende Euro-
Bonds, und das Schlimme daran ist, dass Sie hier in
Deutschland die Steuern erhöhen wollen, um die Schul-
den in anderen europäischen Staaten zu bezahlen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine rechtspopulistische Unverschämtheit! Überlegen Sie sich einmal, was Sie hier sagen!)


Beim Thema Fachkräftesicherung spricht Herr
Dr. Lindner von Grips. Das finde ich schön. Aber
schauen Sie sich doch einmal rot-grüne Bildungspolitik
in den Ländern an. Als Allererstes wollen Sie das Sitzen-
bleiben abschaffen, um den jungen Menschen zu zeigen:
Leistung lohnt sich nicht. Das ist Ihre Bildungspolitik
und Ihr einziger trauriger Beitrag zur Fachkräftediskus-
sion in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])






Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Energiepolitik. Gerade nach der letzten Woche finde
ich Ihre Haltung wirklich bemerkenswert. Sie blockieren
doch jede Reform, jeden kleinen Fortschritt bei der Ver-
besserung der Förderung der erneuerbaren Energien im
Sinne von Bezahlbarkeit.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Sie sind durch Ihre Politik verantwort-
lich dafür, wenn in den nächsten Monaten die Strom-
preise steigen. Sie sind für jede künftige Strompreis-
steigerung in Deutschland verantwortlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701200

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Ich bin jetzt so schön drin. Nein, vielen Dank.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701300

Gut.

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Nehmen wir uns einmal das Beispiel Belastungen vor.
Wenn wir Ihnen vorwerfen würden, dass Sie den Mittel-
stand belasten, dann könnten Sie sagen: Nein, es ist die
Aufgabe der Regierung, etwas für den Mittelstand zu
tun.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Bloß Polemik und keine Fragen zulassen! Wie peinlich!)


Die taz von heute – ja, ich gebe zu, ich muss mich outen,
auch ich lese die taz –


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als ob die taz das wollte!)


hatte eine dazu passende Überschrift. Es geht in dem Ar-
tikel um die Belastungen durch Rot und Grün, insbeson-
dere durch die Grünen und die Dinge, die Sie morgen
und am Wochenende auf Ihrem Bundesparteitag be-
schließen wollen. Die Überschrift lautet: „Grün am
Steuer, das wird teuer“.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


All das, was Sie vorhaben, bedeutet 40 Milliarden Euro
Belastungen für den Mittelstand, für die gesellschaft-
liche Mitte; dazu kommen noch die neuen Pläne der
Grünen. Das ist Ihre Mittelstandspolitik für Deutschland.


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das mit den Steuersenkungen vor der letzten Wahl? Könnten Sie das noch mal sagen?)


Schauen Sie sich den Bereich Forschung und Techno-
logie an. Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand. Es gilt als Goldstandard der Innovationsför-
derung im Mittelstand. Was ist Ihr Beitrag gerade für
junge Unternehmen, die hochkreativ sind, die hochinno-
vativ sind? Stichwort Wagniskapital. Sie haben durch
Ihre Politik im Bundesrat zunächst verhindert, dass es
volles Gründungskapital für junge Start-up-Unternehmen
gibt, weil Sie als Allererstes genau dieses Streubesitz-
kapital, dieses Gründungskapital besteuern wollten. So
sieht Ihre Innovationsförderung aus. Das ist eine
Schande, und das schadet gerade den neuen Unterneh-
men in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Neue Märkte, neue Chancen. In jeder Debatte im
Wirtschaftsausschuss wird aufs Neue kritisiert, dass der
deutsche Mittelstand exportstark ist, dass unsere Pro-
dukte, Dienstleistungen und Technologien nachgefragt
werden. Da wird kritisiert, dass wir Außenhandelsbilanz-
überschüsse haben.


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Diese wollen Sie reduzieren. Es ist kein Nachteil, wenn
man Überschüsse hat, sondern das ist ein Beweis für die
Leistungsfähigkeit unseres Mittelstandes in Deutsch-
land.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abschließend. Herr Kollege Heil, Sie haben hier mit
Grabesstimme eine Grabesrede auf den Mittelstand ge-
halten.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und Sie haben keine Frage zugelassen!)


Das ist für Ihre Mittelstandspolitik bezeichnend. Erst ha-
ben Sie den Mittelstand nicht wahrgenommen, dann ha-
ben Sie ihn im Bundesrat bekämpft. Aber die Krönung


(Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Achtung! Jetzt kommt es!)


war das Thema „IHK und Übergabe der Präsident-
schaft“; Sie haben davon berichtet. Ihr Spitzenkandidat
war dort –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der war auch da, ja!)


er ist ja sonst sehr geschickt – und hat den Unterneh-
mern, dem versammelten Mittelstand in Deutschland, er-
zählt, dass er – Punkt eins – eigentlich gar keine Steuer-
erhöhungen will


(Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD]: Nein, so hat er es nicht gesagt!)


und dass er – Punkt zwei – eine Vermögensteuer ohne
Substanzbesteuerung will.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)


Ich glaube, er glaubt selber nicht daran, meine Damen
und Herren. Es fängt langsam an, dass Rote, Grüne und





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Linke den Mittelstand in Deutschland verhöhnen. Das ist
Ihre Mittelstandspolitik, und das, meine Damen und
Herren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701400

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Heil das

Wort.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1723701500

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister

Rösler, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie nicht
souverän genug waren, eine Zwischenfrage zuzulassen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Blödmann! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


– Herr Präsident, muss ich mich vom Vorsitzenden der
CDU/CSU-Fraktion bleidigen lassen?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)


Ich bitte, das im Protokoll nachlesen zu lassen. Herr
Kauder, Sie können sich ja nachher entschuldigen, wenn
Sie die Größe dazu haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dümmlich!)


Lesen Sie diesen Begriff bitte im Protokoll nach. Wir
können das ja nachher miteinander klären.

Jetzt zur Sache. Herr Rösler, ich habe mich zu Wort
gemeldet, um mit Ihnen über Energiepolitik zu sprechen,
weil ich eigentlich den Eindruck hatte, dass Sie neben
Herrn Altmaier in den letzten Jahren der dafür zustän-
dige Minister gewesen sind. Herr Altmaier hat einen
Vorschlag gemacht, den er nicht mit Ihnen abgestimmt
hat, unter dem Stichwort „Strompreisbremse“. Ich sage
Ihnen: Wir sind bei diesem Thema nach wie vor zu Ver-
handlungen bereit, und wir haben konkrete Vorschläge
gemacht. Wir haben gesagt: Wir sind bereit zu Sofort-
maßnahmen beim EEG, um den Anstieg der EEG-Um-
lage zu bremsen. Wir haben gesagt: Wir sind bereit,
darüber zu reden, wie wir die Befreiungstatbestände bei
den Ausnahmen für energieintensive Betriebe mit Augen-
maß regeln können. Außerdem haben wir den Vorschlag
gemacht, die Stromsteuer zu senken. Das sind konkrete
Vorschläge.

Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie, weil Sie
als zuständiger Minister sich nicht mit Herrn Altmaier
einig sind – das ist ein Teil des Problems der Energie-
wende –, von Ihrer Uneinigkeit ablenken wollen, indem
Sie versuchen, den Schwarzen Peter anderen zuzuschie-
ben. Sie tragen als Regierung seit 2009 in Deutschland
die Verantwortung für die Energiepolitik. Sie sind Ihrer
Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie sind Zick-
zack gefahren und haben die Planungs- und Investitions-
sicherheit kaputtgemacht. Deshalb meine ganz klare
Bitte, Herr Rösler: Erzählen Sie dem deutschen Mittel-
stand keine Märchen, wenn die EEG-Umlage und die
Energiepreise im Herbst dieses Jahres, vielleicht auch

schon im August, massiv steigen werden. Sie sind dafür
verantwortlich, niemand sonst.


(Widerspruch bei der FDP)

Zeigen Sie nicht mit dem Finger auf andere!

Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie es in vier
Jahren nicht geschafft, gemeinsam als Regierung einen
klaren Vorschlag im Hinblick auf ein neues Strommarkt-
design bzw. eine neue Ordnung am Strommarkt zu ma-
chen? Im Bereich der Energiepolitik sind Sie eine Nicht-
regierungsorganisation.

Übrigens habe ich keine Grabesrede auf den Mittel-
stand gehalten. Wir haben einen starken und guten Mit-
telstand. Wenn Sie zugehört hätten – das haben Sie viel-
leicht nicht getan; das kann sein –, hätten Sie gehört,
dass ich gesagt habe: Der Mittelstand in Deutschland ist
nicht schwach; er ist stark und gut aufgestellt. Aber er ist
darauf angewiesen, dass die Politik bzw. die Bundes-
regierung Rahmenbedingungen schafft, vor allen Dingen
im Bereich der Energiepolitik, die Versorgungssicherheit
und Bezahlbarkeit gewährleisten. Hier zeigt sich Ihr Ver-
sagen, Herr Rösler. Davon können Sie nicht ablenken,
indem Sie mit dem Finger auf andere zeigen. Sie haben
ausgespielt, gerade in der Energiepolitik. Wir brauchen
einen Neuanfang.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701600

Herr Minister Rösler, zur Erwiderung.

Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Ich darf zunächst einmal Ihren Parteivorsitzenden,
den Kollegen Sigmar Gabriel, zitieren.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wo ist der eigentlich? – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Warum ist der eigentlich nicht da?)


Er hat in einer Debatte, die schon etwas länger her ist,
gesagt:

Wer die ganze Wahrheit kennt, aber nur die halbe
Wahrheit nennt, ist trotzdem ein ganzer Lügner.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, das betrifft Sie!)


Herr Kollege Heil, Sie haben sehr schön dargelegt,
was Sie alles angeboten haben. Das ist auch alles richtig.
Nur, am Ende haben Sie nichts gemacht.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sind wir an der Regierung? Können wir etwas machen?)


In all den Diskussionen und Verhandlungen, die wir ge-
führt haben, waren Sie dagegen, haben blockiert oder
verhindert. Ich sage Ihnen: Das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben Vorschläge gemacht, um die Förderung der
erneuerbaren Energien effizienter auszugestalten; um
herauszukommen aus dem bisherigen System; um die
Bezahlbarkeit sicherzustellen. Bei all diesen Maßnah-
men waren Sie am Ende dagegen. Deswegen sage ich Ih-
nen nochmals: Sie – SPD, Grüne und Linke – werden für
alle künftigen Strompreissteigerungen allein verantwort-
lich sein.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Denn Sie haben im Bundesrat zusammengearbeitet – so
viel also dazu, dass SPD und Grüne auf Bundesebene
nicht mit den Linken zusammenarbeiten wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Peinlich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701700

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Tiefensee

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Kauder hat keinen bürgerlichen Anstand mehr!)



Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1723701800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Brüderle, Herr Minister Rösler, bei Ihnen
beiden ist im Zusammenhang mit dem Mittelstand das
Wort „Geisteshaltung“ vorgekommen. Ich konstatiere:
Mittelstand ist für Sie etwas, was sich im Geiste abspielt,


(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ja! Stimmt!)


aber nicht etwas, was in konkrete Maßnahmen mündet.
Das ist der große Unterschied zwischen dem, was Sie
dem Mittelstand anbieten, und dem, was der Mittelstand
braucht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine konkrete Politik für den Mittelstand.

Herr Rösler, die Jacke muss ja ganz schön brennen,
wenn Sie hier derartige Pappkameraden aufbauen und
dann beschießen: wenn Sie so tun, als ob die SPD etwas
vorschlüge, was Sie zu bekämpfen hätten. Ich möchte
das im Einzelnen einmal durchdeklinieren.

Erster Punkt. Der Mittelstand braucht eine verläss-
liche Basis, was die Finanzierung anbetrifft. Die SPD ist
angetreten, den Wählerinnen und Wählern deutlich zu
machen, wie wir das Geld, das der Mittelstand braucht
– zum Beispiel für seine wirtschaftsnahe Infrastruktur –,
beschaffen wollen. Wenn die SPD einschließlich ihres
Kanzlerkandidaten deutlich sagt: „Der Mittelstand soll
gestärkt werden, der Mittelstand soll entlastet werden,
der Mittelstand soll auf Verlässlichkeit und Planbarkeit
setzen können“, und wenn wir sagen: „Wir werden den
Mittelstand nicht in seiner Substanz besteuern“, dann
können Sie, Herr Rösler, hier nicht immer wieder diesen
zusammengeleimten Pappkameraden aufstellen und so
tun, als müssten Sie ihn beschießen.


(Beifall bei der SPD)


Das Zweite. Sie behaupten gebetsmühlenartig, dass
wir im Bundesrat etwas verhindern würden, was dem
Mittelstand nützt.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es! – Weiterer Zuruf von der FDP: Das stimmt doch auch!)


Gehen wir das einmal im Einzelnen durch: Der Mittel-
stand braucht die energetische Sanierung der Gebäude.
Am Verhandlungstisch sitzen zwei Parteien: auf der ei-
nen Seite der Bund, auf der anderen Seite die Länder.
Der Bund hat ein Konzept für eine steuerliche Entlas-
tung vorlegt, dessen Umsetzung die Länder Hunderte
von Millionen Euro kosten würde.


(Zuruf von der FDP: Ach was!)


Das können die Länder im Zusammenhang mit der
Schuldenbremse nicht stemmen. Die Bundesregierung
hat die Mittel für das KfW-Programm – die KfW ist die
Hausbank des Mittelstands – zurückgezogen. Dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Länder
gegen Ihre Vorschläge stimmen. Sie sind diejenigen, die
mit ihrem schlechten Programm zur energetischen Ge-
bäudesanierung die Verhinderung im Bundesrat provo-
ziert haben; deswegen wird dem Mittelstand das Geld
nicht zukommen. So wird eine Wahrheit daraus.


(Beifall bei der SPD)


Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der kalten Pro-
gression. Auch da wiederholen Sie gebetsmühlenartig,
der Bundesrat sei schuld, dass die kalte Progression
nicht bekämpft werden könne. Dabei wissen Sie genau,
dass die Gelder, die dafür nötig wären – es geht um
reichlich 1 Milliarde Euro –, nicht vorhanden sind. Die
Länder wissen nicht, woher sie dieses Geld nehmen sol-
len – es sei denn, Sie würden die unsägliche und sinnlose
„Hotelsteuer“ abschaffen und die dadurch zusätzlich ein-
genommenen Gelder dafür einsetzen. Dann hätten Sie
wahrscheinlich den Bundesrat einschließlich der rot-grü-
nen Länder an Ihrer Seite.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man danach fragt, was Sie für den Mittelstand tun,
muss man auch hier wieder sagen: Fehlanzeige. Wir
wollen etwas für den Mittelstand tun, auch bei den Fi-
nanzen.

Gehen wir ein weiteres Feld durch: Herr Brüderle, Sie
haben keinen einzigen Satz zur Fachkräftesituation und
zum demografischen Wandel gesagt. Wenn Sie tatsäch-
lich – so wie wir – in den letzten Wochen und Monaten
mit Mittelständlern geredet hätten, dann wüssten Sie:
Für den Mittelstand ist das ein drängendes Problem. Die-
ses Problem hat drei Facetten.

Erstens. Wir müssen für bessere Bildung sorgen. Wo-
her soll das Geld dafür kommen? Das Kooperationsver-
bot haben Sie nicht angefasst. Wir werden es anfassen.


(Heiner Kamp [FDP]: Fangen Sie doch mal an!)


Wir wollen, dass es eine Ausbildungsgarantie gibt, dass
junge Leute die Schule nicht ohne Abschluss verlassen.

Zweitens. In einer Debatte vor zwei Jahren, als Sie
eine Art Mittelstandspapier eingebracht haben, im Fe-





Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)


bruar 2011, haben Sie gesagt – ich habe es noch einmal
nachgelesen –: Wir wollen mehr Frauen in den Chef-
sesseln. – Das ist interessant im Hinblick auf die Debatte
in der letzten Woche. Was tun Sie eigentlich, um die Ver-
einbarkeit von Beruf und Familie und Freizeit zu erleich-
tern? Sie schaffen ein Betreuungsgeld. Dieses Betreu-
ungsgeld gehört aber abgeschafft, damit wir hier
vorankommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Es stellt sich die Frage, wie wir, wenn das
gesamte Potenzial nicht reicht und wir das Potenzial der
älteren Arbeitnehmer ausgeschöpft haben, auch Men-
schen aus dem europäischen, dem internationalen Raum
zu uns holen können. Was tun Sie? Fehlanzeige! Die
Bluecard ist ein Witz.

Ich habe im Tagesspiegel unlängst von einem jungen
Mann gelesen, Herrn Shaam, einem Harvard-Studenten,
der hierher gekommen ist. Er kann kein Konto eröffnen,
weil er keinen Wohnsitz hat, und weil er kein Konto hat,
bekommt er keine Wohnung. Er dreht sich im Kreise.
Nur weil es Leute gibt, die ihn privat unterstützen,
konnte er hier überhaupt aktiv sein und mittlerweile
14 Arbeitsplätze schaffen. Was tun Sie eigentlich dafür,
dass Deutschland eine Willkommenskultur für diejeni-
gen hat, die wir hier dringend brauchen? Fehlanzeige,
Herr Minister, und Sie müssten das aufgrund Ihrer Vita
eigentlich besser wissen.


(Beifall bei der SPD)


Ein weiteres Thema ist die wirtschaftsnahe Infra-
struktur. Wir verhandeln heute indirekt zum Beispiel
auch über Public-private-Partnership. Was ist aus diesem
Instrument geworden? Schauen Sie sich einmal die
Firma „Partnerschaften Deutschland“ an, die wir ge-
gründet haben. Die Anzahl der Projekte im Bereich PPP
ist nahe null. Das verantworten Sie. Dieses Finanzie-
rungsinstrument, das nicht zuletzt auch für die Kommu-
nen segensreich ist, haben Sie sträflich vernachlässigt.
Wir werden das ändern und dieses Instrument dort, wo
es sinnvoll ist, wieder einsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme nun zum Thema Energie. Herr Brüderle,
wenn Sie zu den Unternehmern gehen – wir haben das in
der letzten Zeit getan –, dann hören Sie dort immer wie-
der die Frage: Wie können wir die Energiepreise bezahl-
bar halten? – Wir haben hier Vorschläge auf den Tisch
gelegt. Was findet man bei Ihnen? In Ihrem Antrag steht
doch tatsächlich:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, die Energiewende mit … Augenmaß um-
zusetzen …

Na, großartig!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Toll!)


Toll! Das spiegelt Ihre Geisteshaltung wider: Man soll es
mit Augenmaß machen.

Wo sind die konkreten Projekte, zum Beispiel dafür,
das EEG so zu reformieren, dass aus dem Markteinfüh-
rungsinstrument ein Marktdurchdringungsinstrument
wird, und dafür, dass die Energienetze genauso wie die
IT und die Infrastruktur im Hinblick auf die Mobilität
vorangetrieben werden? Fehlanzeige! Chaos zwischen
den Ministerien! Keine Abstimmung zwischen Europa,
dem Bund, den Ländern und den Regionen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem
Chaos kann der Mittelstand in Zukunft nicht zum stabi-
len Anker für die Volkswirtschaft werden. Deshalb wen-
den sich immer mehr Mittelständler unserer Politik zu.
Das haben wir in den letzten Monaten erfahren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sieht man an den Meinungsumfragen!)


Wir hoffen, dass wir recht bald all das, was Sie in unse-
ren Anträgen und in unserem Mittelstandspapier lesen,
durchsetzen können.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Deshalb liegt die SPD jetzt bei 14 Prozent!)


Der Mittelstand ist sowohl mit seinen Stärken als
auch mit seinen Sorgen, Nöten und Befürchtungen bei
der SPD besser aufgehoben als bei Schwarz-Gelb.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723701900

Lena Strothmann von der CDU/CSU-Fraktion ist die

nächste Rednerin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Lena Strothmann (CDU):
Rede ID: ID1723702000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen,
Herr Bartsch: Dass wir in Deutschland keinen gesetzli-
chen Mindestlohn brauchen, zeigt doch eigentlich das
Beispiel des Friseurhandwerks sehr deutlich. Die Verant-
wortlichen haben das auch so bestens hinbekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ist das ein Mindestlohn oder nicht? Es ist ja gut, dass es da hingeht! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: In vielen anderen Bereichen bis heute nicht!)


Deutschland geht es gut: Den Menschen in unserem
Land geht es gut, die Betriebe in Mittelstand und Hand-
werk haben volle Auftragsbücher, und sie schauen zu-
versichtlich in die Zukunft. Der gesamte deutsche Mit-
telstand ist seit Jahren stabil. Die mittelständischen
Unternehmen in Deutschland – das sind 99 Prozent aller
Unternehmen – haben ihre Leistungsfähigkeit immer
wieder bewiesen.

Noch nie in der deutschen Geschichte waren so
viele Menschen in Beschäftigung, noch nie wurde
ein höherer Wohlstand erreicht.





Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)


Dass wir solch einen Satz einmal in einen Antrag
schreiben können, hätten wir nie gedacht und macht uns
stolz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind vor allen Dingen stolz auf unseren Mittel-
stand. In Deutschland hat der Mittelstand eine besondere
Ausprägung. Hier liegt ein Unterschied zu unseren euro-
päischen Nachbarn. Auch in anderen Ländern gibt es
viele kleine und mittlere Betriebe; aber bei uns ist die
hohe Qualität der Arbeit der Standard. Die Treue zu den
Mitarbeitern ist fest verankert, und die Ausbildungs-
quote ist hoch, höher als in der Industrie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das unternehmerische Denken ist geprägt von Verant-
wortung, besonders im Handwerk auch von Familien-
strukturen. Rendite um jeden Preis ist nicht das oberste
Ziel.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in der Krise 2008/2009 hat es sich gezeigt: Es
gab wenig Entlassungen. Die Verbraucher waren unbe-
eindruckt und sorgten für eine gute Binnenkonjunktur.
Es gab keine Kreditklemme, und die Betriebe haben re-
lativ schnell wieder investiert. – Das ist die Basis für un-
seren Wohlstand in den letzten Jahren. Wir wollen diese
Basis erhalten und vor allen Dingen stärken. Steuererhö-
hungen, wie SPD und Grüne sie planen, sind schädlich.
Denn Mittelständler können rechnen. Einen Euro kann
man eben nur einmal ausgeben: für Steuern und Abga-
ben oder eben für Arbeitsplätze und Investitionen.

Mittelstand braucht also keine Steuerandrohung, er
braucht Unterstützung, zum Beispiel bei der Fachkräfte-
sicherung. Wir stecken schon mittendrin im Fachkräfte-
mangel. In vielen Branchen werden schon jetzt Mitarbei-
ter gesucht, der Markt ist praktisch leergefegt, und es
wird immer schwieriger, Stellen zu besetzen. Deshalb ist
die Fachkräftesicherung das A und O.

Das setzt aber voraus, dass wir junge Menschen zu
Fachkräften ausbilden. Das Handwerk weiß das und tut
das bereits seit Jahren. Aber im letzten Jahr konnten
15 000 Lehrstellen im Handwerk nicht besetzt werden,
und im gesamten Mittelstand waren es schätzungsweise
60 000. Das finde ich alarmierend.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Deshalb werben wir intensiv um Nachwuchs. Wir brau-
chen die jungen Menschen als Fachkräfte, für Führungs-
positionen, als Betriebsgründer, aber eben auch für
Betriebsübernahmen. Denn jedes Jahr stehen über
20 000 Handwerksbetriebe zur Übergabe an, weil die In-
haber das Rentenalter erreicht haben. Geeignete Nach-
folger zu finden, wird immer schwieriger.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, der Mittelstand, das Handwerk sind bei der
Ausbildung sehr engagiert. Die Ausbildungsquote be-
trägt im Handwerk fast 10 Prozent. Das ist herausra-
gend, und das muss auch so bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir stellen aber auch einen Trend zu mehr Bildung
fest. Immer mehr junge Menschen wollen Abitur ma-
chen. Das ist gut so. Aber Deutschland ist auch ein In-
dustrieland. Wir brauchen mehr gewerblich-technische
Fachkräfte. Jugendliche mit gewerblich-technischen
Ausbildungen haben auf dem Arbeitsmarkt, was den
Mittelstand angeht, die besten Chancen, und sie haben
dort viele individuelle Aufstiegsmöglichkeiten, die vie-
len leider nicht bekannt sind.

Deshalb kommt der Berufsorientierung in den Schu-
len ein wichtiger Part zu.


(Claudia Bögel [FDP]: Sehr richtig!)


Hier kommen Schüler und Lehrer oft zum ersten Mal mit
Mittelstand und Handwerk in Berührung. Allein im
Handwerk gibt es über 130 Ausbildungsberufe. Nach
dem Gesellenbrief gibt es noch viele weitere Weiterbil-
dungs- und Karrieremöglichkeiten und ebenso gute Ver-
dienstmöglichkeiten.

Auch viele Eltern kennen die Chancen des dualen
Systems für ihre Kinder nicht. Deshalb kooperieren viele
Betriebe schon mit regionalen Schulen, zum Teil auch
mit Kindergärten. Ich glaube, das ist der richtige Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen einfach mehr für die duale Ausbildung
bei unseren Jugendlichen werben. Andere Länder mit ei-
nem verschulten Berufsbildungssystem und einer akade-
misierten Bildung haben derzeit eine sehr hohe Zahl
arbeitsloser Jugendlicher. Der Zusammenhang ist offen-
sichtlich: Unser Mittelstand und das duale System ver-
hindern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in unserem
Land. Auch das gehört zum Erfolgsrezept des „German
Mittelstand“.

Obwohl das duale System bereits seit vielen Jahren
als Exportschlager gilt, waren unsere Nachbarn bislang
sehr zögerlich mit der Einführung. Ein Grund dafür war
zum Beispiel, dass es natürlich Geld kostet – für den
Staat, aber vor allen Dingen auch für die Betriebe. Noch
schrecken die Betriebe zurück; sie erkennen aber zuneh-
mend die Chancen. Ich würde es begrüßen, wenn sich
das duale System schneller europaweit durchsetzen
würde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, es gehört aber auch zu einer ehrlichen Debatte
über die Fachkräftesicherung, dass wir sowohl gute Aus-
bilder als auch genügend Ausbilder brauchen. Ausbilder
sind im Handwerk unsere Meister. Das duale System
und der Meisterbrief gehören zusammen, und alle Versu-
che in Brüssel, den Meisterbrief auszuhöhlen, sollten wir
gemeinsam im Keim ersticken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)


Die Meisterfortbildung ist nicht nur eine Ausbilder-
schulung, sondern auch eine Unternehmerschulung. Hier
wird das Rüstzeug für Gründung und Leitung eines Un-
ternehmens erworben. Aber leider gehen die Gründer-
zahlen im Handwerk zurück. Gerade Firmengründungen
sind wichtig, weil damit Wachstum und Beschäftigung
erhalten werden.

Leider ist in Deutschland die Kultur der Selbststän-
digkeit noch nicht so stark ausgeprägt wie in anderen
Ländern. Selbstständigkeit und Unternehmertum erfor-
dern Einsatz und Verantwortung; sie sind aber auch im-
mer ein Risiko. Deshalb verdient jeder, der diesen
Schritt wagt, Unterstützung und Anerkennung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Regierungskoalition und die Bundesregierung ge-
ben diese Unterstützung. Wir fördern Existenzgründer,
Innovationen und neue Ideen, wir geben Entfaltungs-
möglichkeiten und helfen bei der Finanzierung. Wir hel-
fen ausbildungswilligen Betrieben, und wir tragen zur
Fachkräftesicherung bei. Der Mittelstand in Deutschland
wird deswegen auch in Zukunft stark bleiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723702100

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland

Claus nun das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723702200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Bundesminister Rösler, dass Sie nicht lie-
fern im Amte, daran haben wir uns hier leider alle schon
irgendwie gewöhnt. Aber dass Sie jetzt die Folgen Ihres
Lieferstreiks bei der Opposition abladen wollen, das ist
schon ein starkes Stück, das wir so nicht hinnehmen
können. Das müssen wir Ihnen einmal sagen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In schöner Regelmäßigkeit wird vor anstehenden
Wahlen hier im Parlament die Verneigung vor dem Mit-
telstand zelebriert. Der Mittelstand ist da skeptisch ge-
worden. Ich verweise darauf, dass am heutigen Tage die
größte Versammlung der Mittelstandsförderer in Dres-
den stattfindet. Ich meine den Sparkassentag in Dresden.
Von den Sparkassen kann man mit Blick auf den Mittel-
stand durchaus sagen: Sie tun etwas, sie liefern; sie ver-
dienen unsere Anerkennung und Unterstützung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Sparkassen haben zu einem breiten Dialog einge-
laden. Alle Foren, die in diesen Tagen dort stattfinden,
sind per Internet für die Öffentlichkeit zugänglich; es ist
zum Mitmachen eingeladen.

Meine Partei hat in Dresden gestern einen solchen
Beitrag zum Mitmachen geleistet, indem sie ihre Posi-
tion zur Mittelstandsförderung eingebracht hat. Sie hat
gesagt: Internet ist ja nicht schlecht, aber man kann ja
auch einmal persönlich hingehen. – Deshalb haben die
Vertreter der Linken unsere Position dort deutlich ge-
macht und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des
Sparkassentages sehr herzlich begrüßt.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die Linke steht für eine
Wirtschafts- und Mittelstandspolitik, die kleinen und
mittelständischen Unternehmen und Existenzgründern
Chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,
von der Beschäftigte auch sorgenfrei leben können, und
die so zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer
Gerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Kleiner geht es
bei uns nicht.

Ich will, wie auch mein Kollege Dietmar Bartsch, auf
die Situation der ostdeutschen Mittelständler verweisen.
Ich glaube nämlich, dass die kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen im Osten über spezielle Transfor-
mationserfahrungen verfügen, das heißt über spezielle
Erfahrungen im Bewältigen von besonders schwierigen
Umbruchsituationen. Sie mussten ohne große Geldgeber
in die Selbstständigkeit, in die wirtschaftliche Entwick-
lung gehen.

Wir haben im Osten nach wie vor keine einzige große
Firmenzentrale. Wir haben dort im Niedriglohnbereich
einen Anteil von über 40 Prozent, das Doppelte dessen,
was wir im Bundesdurchschnitt haben. Deshalb sind
sehr viele Unternehmen darauf angewiesen, neue Ent-
wicklungspfade beim sozial-ökologischen Umbau zu su-
chen, neue Entwicklungspfade zu finden, von denen wir
bundesweit viel stärker profitieren könnten, wenn wir
diesen Erfahrungsvorsprung denn auch anerkennten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen uns zudem auf ein schwieriges Problem
einstellen: Viele dieser jungen Unternehmen sind in der
Nachwendezeit entstanden, wenn man so will, unter den
Bedingungen einer Nachwendenarkose. Jetzt steht der
Generationswechsel an der Spitze an – die Narkose wirkt
zum Glück nicht mehr –, und es bedarf anderer Rahmen-
bedingungen. Ich wünschte mir, dass wir die Kraft fän-
den, diese gemeinsam zu gestalten. Natürlich könnten
wir solche Erfahrungen wie die Vereinbarkeit von Er-
werbstätigkeit und Kindererziehung aus dem Osten viel
stärker nutzen und sagen: Die Kinderbetreuung im Wes-
ten soll zumindest auf Ostniveau gebracht werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Andrea Wicklein [SPD])


Es ist für die örtlichen Kleinunternehmen natürlich
gut, wenn die Kommunen etwas zu sagen haben, wenn
die Kommunen über Eigentum verfügen, wenn die
Stadtwerke der Stadt gehören und nicht irgendwelchen
fremden Besitzern. Seinem Stadtrat kann der Malermeis-
ter noch auf der Straße begegnen, einem Fondsmanager
aber nicht. Deshalb der Antrag der Fraktion Die Linke,





Roland Claus


(A) (C)



(D)(B)


die Daseinsvorsorge zurück in die öffentliche Hand zu
geben. Rekommunalisierung nennen wir das.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD])


Es gibt da wirklich kuriose Vorgänge. Ich traf letztens
die Bürgermeisterin von Coswig. Sie hat zwei Jahre lang
vergeblich versucht, den Besitzer des Bahnhofs in Cos-
wig ausfindig zu machen. Es ist ihr nicht gelungen. Der
Bahnhof ist an irgendjemanden verscheuert worden, und
den Eigentümer konnte sie nicht in Erfahrung bringen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Dann muss sie ins Grundbuch schauen!)


Noch schlimmer wird es dann, wenn man einem Bürger-
meister die Frage stellt: „Wem gehört eigentlich euer
Rathaus?“, und der Bürgermeister muss daraufhin ant-
worten: Das weiß ich nicht, aber das ist eine gute Frage.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Das steht doch im Grundbuch!)


Deshalb sind wir der Auffassung, dass ÖPP- bzw.
PPP-Konstrukte final gescheitert sind, also die Versuche,
die öffentliche Daseinsvorsorge in die Hände von Fi-
nanzmärkten zu geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Weg aus der Sackgasse beginnt in der Sackgasse,
nämlich mit dem Eingeständnis: Raus komme ich hier
nur, wenn ich zurückgehe.

Die größte Gefahr für den Mittelstand – darauf will
ich auch hinweisen – geht momentan von den internatio-
nalen Finanzmärkten und besonders den Schattenbanken
aus. Deren Philosophie ist es, weltweit aus der Wert-
schöpfung anderer Profit zu ziehen, ohne selbst je den
Anspruch zu erheben, Werte zu schöpfen. Diese Banken
sind natürlich auf das aus, was vom Mittelstand geleistet
wird. Warren Buffett hat deshalb diese Instrumente auch
einmal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ ge-
nannt. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik wird erst dann
wieder möglich sein, wenn diese Übermacht der Finanz-
märkte über die Realwirtschaft gebrochen wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Da versagt diese Bundesregierung natürlich auf der
ganzen Linie. Das ist eigentlich kein Wunder. Wir haben
es hier nämlich mit einem Bundesminister zu tun, der als
Bundeswirtschaftsminister mit der linken Hand Förder-
mittel verteilt und dann als Parteivorsitzender mit der
rechten Hand Spenden einkassiert. Da muss man sich
nicht wundern, wenn dabei eine wirkliche Regulierung
von Finanzmärkten ausbleibt.


(Beifall bei der LINKEN – Rainer Brüderle [FDP]: Sie verwechseln das mit der SED!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723702300

Herr Kollege Claus, würden Sie einmal einen Blick

auf die Uhr werfen?


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723702400

Das tue ich gerne und komme zum Schluss. – Ich

gehe im Moment davon aus, dass ich Sie von unserem
Antrag überzeugen konnte und dass Sie deshalb zustim-
men: für die Stärkung von Mittelstand und Kommunen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723702500

Das Wort erhält nun der Kollege Anton Hofreiter,

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede von Wirtschaftsminister Rösler war
mehr als überraschend; denn der Minister hat dargestellt,
dass für das Handeln der Regierung, was die Energie-
politik angeht, SPD und Grüne verantwortlich sind. Ich
glaube, Herr Minister, Sie haben ein paar ganz grund-
sätzliche Dinge nicht verstanden. Sie sind Minister und
Teil der Regierung und haben deshalb den Auftrag, die
Politik dieses Landes mitzugestalten, statt hier Polemik
zu verbreiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme nun zu dem Punkt, über den heute eigent-
lich debattiert werden sollte, nämlich zum Thema PPP.
Ob eine Regierung mittelstandsfreundlich ist oder nicht,
erkennt man nicht daran, ob ein Herr Brüderle im
Bundestag die heute-show imitiert, sondern eine solche
Regierung erkennt man an ihrem konkreten Handeln.
Wie das ausschaut, können wir am Beispiel PPP wunder-
schön sehen.

Was macht die Regierung? Sie setzt einen ganzen
Haufen PPP-Projekte im Bereich Autobahnen um. Diese
dienen erstens dazu, die Schuldenbremse zu umgehen,
was schon einmal ein Skandal an und für sich ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie dienen zweitens dazu, den Mittelstand aus dem Be-
reich Straßenbau herauszuhalten.


(Zuruf von der FDP: Quatsch!)


Warum? Wie funktionieren diese Modelle? Diese
Modelle funktionieren so, dass sich der Staat nicht mehr
bei den Banken, sondern bei großen Baufirmen bzw.
großen Konsortien verschuldet, damit diese dann für die
öffentliche Hand beispielsweise Autobahnen erweitern
oder ausbauen. Neben der Tatsache, dass PPP als Vorfi-
nanzierung missbraucht wird, um so die Vorgaben der
Schuldenbremse zu umgehen, ist ein weiterer Effekt,
dass sich der Mittelstand nicht mehr direkt beteiligen
kann; denn die Projekte haben in der Regel ein Konzes-
sionsvolumen von 400 Millionen bis 1 Milliarde Euro.
Mittelständler sind damit ausgeschlossen.

Ein weiterer Effekt ist de facto eine Oligopolbildung
in diesem Bereich. Die öffentliche Hand zahlt unglaub-





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)


lich viel für solche Projekte. Die Kosten fallen allerdings
über 30 Jahre verteilt an. Deswegen hat der Bundesrech-
nungshof klar gesagt, dass PPP-Projekte zukünftig nur
noch durchgeführt werden sollten, wenn sie wirtschaft-
lich sind. Was ist daraus zu schlussfolgern? Dass die bis-
herigen PPP-Projekte im Autobahnbereich eben nicht
wirtschaftlich waren. Warum macht man das Ganze
dann? Weil sich so die Vorgaben der Schuldenbremse
umgehen lassen.

Man könnte ehrlicher vorgehen und die entsprechen-
den Projekte in vernünftigen Losgrößen ausschreiben,
sodass sich auch der Mittelstand beteiligen kann. Aber
dann müsste man zum Finanzminister gehen und sagen,
dass man für die entsprechenden Autobahnprojekte Geld
braucht, oder man müsste sich die eine oder andere Um-
gehungsstraße sparen, weil man sie sich dann nicht mehr
leisten kann. Aber nein! Was macht man? Man macht
riesige Projekte, die unglaublich aufwendig sind und nur
noch von den größten Baufirmen zu stemmen sind.

Man umgeht also die Vorgaben der Schuldenbremse,
sorgt für wunderschöne Gelegenheiten, Bändchen bei
Autobahneröffnungen durchzuschneiden, und verschiebt
die Finanzierung in die Zukunft. Das ist nicht mittel-
standsfreundlich, sondern eine finanzpolitische Frech-
heit.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723702600

Für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ernst

Hinsken der nächste Redner.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1723702700

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt, dann gewinnt
man zum Teil den Eindruck: Hier reden welche, die vom
Mittelstand überhaupt nichts verstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht!)


Sie vermitteln den Eindruck, als lebten Sie in einer ande-
ren Welt. Sie sind nicht bereit, anzuerkennen, was Groß-
artiges gerade in den letzten Monaten und Jahren für den
Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland unter
Leitung des tüchtigen Wirtschaftsministers Rösler ge-
leistet worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das, was mein Kollege von Stetten und Frau Kollegin
Strothmann, immerhin Präsidentin einer Handwerks-
kammer, hier ausgeführt haben, hat sich von Ihren
Reden, meine Damen und Herren von der Opposition,
wohltuend abgehoben.

Ich möchte aber nicht alleine Aussagen darüber tref-
fen, wie es um den Mittelstand steht, sondern ich möchte
in diesem Fall andere sprechen lassen. Der BDI-Präsi-
dent Grillo hat am 14. April 2013 gesagt: „,German

Mittelstand‘ ist im Ausland eine echte Marke unseres In-
dustriestandortes.“ BDA-Präsident Dieter Hundt hat aus-
geführt: „Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierung
stehen dabei für eine hervorragende Politik.“ BDI-Präsi-
dent Grillo hat des Weiteren gesagt: „Wir sehen gute
Chancen, dass die deutsche Wirtschaft … deutlich an
Fahrt gewinnt.“ Der Präsident des Zentralverbands des
Deutschen Handwerks, Otto Kentzler, hat ausgeführt:
„Das Handwerk ist zuversichtlich und blickt positiv in
die Zukunft.“ Das sind Aussagen von Verbandsvertre-
tern, die in vorderster Linie stehen und wissen, wo der
Schuh drückt. Sie wissen, was sie sagen. Sie würden uns
ins Gewissen reden, wenn die Lage nicht so wäre, wie
sie sein sollte. Aber tatsächlich ist alles gut. Diese Ver-
bandsvertreter sind bereit, anzuerkennen, was sich getan
hat. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, sind dazu nicht bereit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ja, der Mittelstand ist das Bollwerk der Wirtschaft.
Mithilfe eines leistungsfähigen Mittelstandes haben wir
die Krise mit am besten bewältigt. Insbesondere die klei-
nen und mittleren Unternehmen haben in den vergange-
nen Jahren maßgeblich zur deutschen Erfolgsgeschichte
beigetragen.

Mein Resümee: Es lohnt sich ersichtlich, Politik für
den Mittelstand zu machen; denn dieser ist nirgendwo
stärker ausgeprägt als bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland. Wir werden überall gerade um diesen star-
ken und tüchtigen Mittelstand beneidet. Andere sind da-
bei, einen Mittelstand aufzubauen. Wir haben ihn, wir
setzen auf ihn und geben ihm Freiheit. Wir wollen die
Mittelständler unterstützen, damit sie sich weiterhin
großartig entfalten können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Beweis dafür möchte ich anführen, dass die
Anzahl der kleinen Unternehmen mit weniger als zehn
Beschäftigten und einem Umsatz unter 1 Million Euro
laut Unternehmensregister seit 2006 um 1,6 Prozent und
gleichzeitig die der mittleren Unternehmen mit 10 bis
499 Beschäftigten und einem Umsatz zwischen 1 und
50 Millionen Euro um 4,1 Prozent gestiegen ist. Es ist
wieder in, Mittelständler zu werden, in die Selbststän-
digkeit zu gehen.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Jahrelang haben wir für den Mittelstand gerungen und
gekämpft. Wir haben den Leuten gesagt: Seid wieder
bereit, selbst Aufgaben zu übernehmen, selbst in die
Wirtschaft zu gehen, euch selbst zu entfalten. – Jetzt ist
diese Situation erreicht, und die Zahlen liefern dafür ei-
nen eindeutigen Beweis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Bundesregierung schafft dafür die Rahmen-
bedingungen, natürlich auch unterstützt von unserem
hervorragenden Kammersystem, das keinesfalls negativ
gesehen werden darf. Unsere Kammern sind wichtig.
Gäbe es sie nicht, müssten sie erfunden werden. Sie leis-
ten als Körperschaften des öffentlichen Rechts für uns,





Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)


den Staat, hervorragende Arbeit. Deswegen möchte ich
hier ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum Kam-
mersystem in der Bundesrepublik Deutschland ablegen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mittelständler sind Unternehmer und keine Unterlas-
ser.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Im Gegensatz zur Regierung!)


Sie nehmen die Herausforderungen an. Weil sie die He-
rausforderungen annehmen und weil sie erfolgreich sind
– ich darf dabei auf den Sparkassenverband verweisen –,
ist die Eigenkapitalquote der mittelständischen Unter-
nehmen von 11,5 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell
20,7 Prozent angestiegen. Das ist fast eine Verdopplung.
Die Wertschöpfung und die Erwerbstätigkeit waren in
der deutschen Geschichte noch nie so hoch wie 2012.
Die Zahl der Beschäftigten in kleinen und mittleren Be-
trieben mit weniger als 250 Mitarbeitern liegt um sage
und schreibe 921 000 über dem Stand von 2009. Das war
vor wenigen Jahren.

Besonders erfreulich ist für mich, dass die Beschäfti-
gungsaussichten weiterhin positiv bleiben. So rechnet
der DIHK für das Jahr 2013 mit rund 150 000 zusätz-
lichen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Das Handwerk
rechnet mit einem Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent.
Damit leistet der Mittelstand auch in diesem Jahr auf
herausragende Weise einen namhaften Beitrag zur Stabi-
lisierung der Beschäftigungslage.

Ich könnte hier natürlich noch Verschiedenes ausfüh-
ren, vor allen Dingen was die Investitionen in Forschung
und Entwicklung anbelangt. Auch dort können wir posi-
tive Zahlen vermelden. Das würde aber den zeitlichen
Rahmen sprengen, sodass ich mich auf das beschränken
möchte, was ich Ihnen als Botschaft zurufen möchte.

Wenn ich bei einer Veranstaltung mit einem Mittel-
ständler spreche und frage: „Was bedrückt dich denn?“,
dann antwortet er: Zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie,
zu hohe Sozialkosten, zu wenig Fachkräfte und zu hohe
Energiekosten.

Zu den Steuern. Wir arbeiten am Abbau der kalten
Progression und wollen vor allen Dingen die Umsatz-
grenzen für die Istbesteuerung anheben.

Zur Bürokratie. Seit 2005 wurden in der Bundesrepu-
blik Deutschland 600 Gesetze und Verordnungen weni-
ger registriert. Hier ist also ein Positivum zu verzeich-
nen. Mit den Erleichterungen bei den elektronischen
handelsrechtlichen Bilanzveröffentlichungen und der-
gleichen mehr haben auch wir unseren Beitrag dazu ge-
leistet, dass der bürokratische Unsinn so weit wie ir-
gendwie möglich zurückgedrängt wird.

Zu den Sozialkosten. Bei der Rentenversicherung ha-
ben wir eine Beitragssatzsenkung auf 18,9 Prozent vor-
genommen. Das ist eine Entlastung um 6 Milliarden
Euro: 3 Milliarden Euro bei den Arbeitnehmern, 3 Mil-
liarden Euro bei den Unternehmern. Insbesondere davon
betroffen ist der Mittelstand.

Zum Thema Fachkräfte. Wir erschließen noch mehr
inländische Fachkräfte und erleichtern die Zuwanderung
qualifizierter Fachkräfte.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723702800

Herr Kollege.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1723702900

Auch was die Energiekosten anbelangt – Herr Präsi-

dent, ich bin am Ende –,


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723703000

Oh, das kann ich mir gar nicht vorstellen.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1723703100

– werden wir die Belastung für den Mittelstand auf ei-

nem vertretbaren Niveau halten. Das darf die Bevölke-
rung wissen, das darf der Mittelstand zur Kenntnis neh-
men. Der Mittelstand kann sich auf uns verlassen. Er
muss nur am 22. September richtig wählen, damit es so
bleibt, wie es ist.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723703200

Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter ist die nächste

Rednerin für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1723703300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es für diese Re-
gierung ein Arbeitszeugnis gäbe, dann würde darin ste-
hen: Die Bundesregierung hat sich bemüht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Immerhin!)


– Immerhin, Herr Kauder. – In der Zeugnissprache heißt
dies – Wirtschaftsexperten wissen das –: auf der ganzen
Linie versagt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach was!)


Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große
Anfrage zur Situation des Mittelstandes kann auch nicht
als Werbeblock bewertet werden. Das war auch schon so
bei der Großen Anfrage zur Energiewende: keine Zah-
len, keine Daten. Überhaupt fragt man sich, auf welcher
Basis Sie eigentlich Politik machen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf der Grundlage des richtigen Menschenbildes!)


Den Mittelstand landauf, landab als Rückgrat der
deutschen Wirtschaft zu bezeichnen, sind viele schöne
warme Worte. Aber eigentlich muss man sagen: Es ist
schon interessant, dass unser robuster Mittelstand so er-
folgreich war – trotz dieser Regierung.


(Beifall bei der SPD)






Rita Schwarzelühr-Sutter


(A) (C)



(D)(B)


Der Economist hat die Bedeutung des deutschen Mit-
telstandes ganz gut beschrieben – die haben das erkannt –:
Du musst kein Silicon Valley Nerd in Flip-Flops sein,
um erfolgreich zu sein. Unsere mittelständischen Unter-
nehmen sind gut damit gefahren, dass sie bei ihren Leis-
ten geblieben sind.

Dem Mittelstand geht es bisher zwar gut, aber vor den
Herausforderungen des demografischen Wandels, der
Energiewende, der Finanzierungen und der Existenz-
gründungen verschließen Sie die Augen. Die neuesten
Zahlen sprechen nämlich eine ganz andere Sprache. Der
Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt, dass sich die Stimmung
mehr und mehr eintrübt. Sie verschließen davor die Au-
gen.


(Beifall bei der SPD)


Die Fachkräftesicherung wurde schon mehrfach an-
gesprochen. Sie nehmen das Potenzial von Frauen gar
nicht wahr. Nein, Sie gewähren lieber ein Betreuungs-
geld und finden es dann gut, wenn die Frauen zu Hause
bleiben, und beklagen sich dann auch noch. Da brauchen
wir doch gar nicht über die Frauenquote oder gar über
gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu sprechen.

Wenn Sie auf unsere Frage, was Sie denn tun, um
Mädchen und junge Frauen für MINT-Berufe zu begeis-
tern, antworten, dann nennen Sie den Girls’ Day. – Die-
ser Tag ist übrigens heute. Unsere Girls’-Day-Mädchen
sitzen jetzt hier auf der Tribüne und sind begeistert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Weiter verweisen Sie auf „Jugend forscht“. Beides ist
nicht auf Ihrem Mist gewachsen, und Sie haben nichts
Neues hinzugesetzt.

Sicherlich wurden viele Frauen, die in dieser Sache
auf die Kanzlerin gesetzt haben, herb enttäuscht, weil da
nicht mehr Schwung in die Frauenpolitik und die Ar-
beitspolitik gekommen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die setzen jetzt auf Steinbrück! Ha, ha, ha!)


Herr Kauder, heute schreibt das Handelsblatt zur
Energiewende – das ist mein nächster Punkt –:

Energiewende ist aus Sicht der Industrie größter
Minuspunkt der Kanzlerin.

Wie wahr!

Das Auf und Ab dieser Bundesregierung in der Ener-
giepolitik ist ein gewichtiger Risikofaktor für mittelstän-
dische Unternehmen geworden. Sie sind zur Investi-
tionsbremse in dieser Branche geworden und schaden
Deutschland. Das ist ein energiepolitisches Versagen
dieser Regierung auf ganzer Linie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Umweltver-
träglichkeit beschwören Sie zwar; aber Sie machen keine
Politik, die auch zukunftsfähig ist. Es mangelt an Ko-

ordination zwischen Bund und Ländern und auch mit der
europäischen Ebene. Ein Schelm, wer denkt, das sei
Taktik. Strategie ist es sicherlich nicht. Langfristiges
Denken ist für Sie ein Fremdwort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aus Nischen heraus sind unsere mittelständischen
Unternehmen oftmals erfolgreich, nicht nur hier im In-
land, sondern auch im Ausland. An dieser Stelle komme
ich zur europäischen Rechtssetzung. Wenn Sie diesen
Mittelstand immer so beschwören, dann hätten Sie sich
auch einmal dafür einsetzen können, dass die Gesetzge-
bung in Brüssel etwas mittelstandsfreundlicher wird.
Aber nichts dergleichen! Auch einen europäischen Nor-
menkontrollrat – das zum Thema Bürokratieaufbau; Ent-
schuldigung: Bürokratieabbau –


(Jörg van Essen [FDP]: Aufbau! Das war ein Freud’scher Versprecher!)


haben Sie nicht erreicht. Sie bauen dagegen Bürokratie
auf.

Die Lage hochqualifizierter Arbeitskräfte wurde
schon mehrfach angesprochen. Die steuerliche For-
schungsförderung steht bei Ihnen im Koalitionsvertrag.
Sie haben vier Jahre Zeit gehabt. Daraus ist nichts ge-
worden. Erster Klasse beerdigt!


(Beifall bei der SPD)


Wir fordern eine steuerliche Forschungsförderung,
und zwar für kleine und mittlere Unternehmen – es soll
keine Mitnahmeeffekte durch die großen geben –, mit ei-
nem wachstumsorientierten Personalkostenzuschuss.
Damit leisten wir konkret Unterstützung für junge Un-
ternehmen. Die können wirklich etwas damit anfangen.
Sie können Personal für Forschung und Entwicklung
einstellen und so innovativ unterwegs sein.

Das ZIM wollen wir über 2013 hinaus fördern,
ebenso Existenzgründungen. Wir sind wirklich fast
Schlusslicht bei den Existenzgründungen; das hat sich
massiv verschlechtert. Auch da haben Sie sich nicht mit
Ruhm bekleckert.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir bekleckern uns gar nicht!)


Als Letztes möchte ich noch ein Wort zur europäi-
schen Gesetzgebung sagen. Was den Mittelstand, kleine
und mittlere Unternehmen sowie insbesondere das
Handwerk, richtig trifft, ist die Umsetzung der Zah-
lungsverzugsrichtlinie. Zahlungsmoral fordern Sie ein.
Das funktioniert bei uns in Deutschland, und Sie öffnen
jetzt das Tor dafür, dass dieses Leitbild quasi fällt.
Kleine Unternehmen kommen in Liquiditätsprobleme,
weil Sie diese Richtlinie nicht richtig umsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie werden die Rechtsposition der Handwerksbetriebe
als Gläubiger total schwächen. Da geht es wirklich rich-
tig ums Eingemachte, richtig ums Geld und nicht nur um
schöne Worte.





Rita Schwarzelühr-Sutter


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Alles in allem: Mittelstandspolitik der schwarz-gel-
ben Koalition bedeutet: viel in der Auslage, wenig gelie-
fert und nichts auf Lager. Diese Mittelstandspolitik muss
ein Ende haben. Am 22. September gehen wir da mit
neuem Schwung heran und machen eine neue Reform-
politik mit Mut und auch für die Realwirtschaft.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Wunschgedanke, Frau SchwarzelührSutter!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723703400

Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Jasper, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dieter Jasper (CDU):
Rede ID: ID1723703500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Schwarzelühr-Sutter, viele Länder in der Welt hätten
gerne die Probleme, die wir in Deutschland haben. Statt
in Ihr Wehklagen einzustimmen, möchte ich lieber damit
beginnen, die Aussage der Kollegin Lena Strothmann zu
unterstützen: Der deutschen Wirtschaft geht es gut, und
den Menschen in Deutschland geht es ebenfalls gut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Rita Schwarzelühr-Sutter [SPD]: Sie ruhen sich darauf aus! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dafür können Sie aber nichts!)


Noch nie in der Geschichte unseres Landes waren so
viele Menschen in Beschäftigung, und noch nie ist ein
größerer Wohlstand erreicht worden. Grundlage dieser
außerordentlichen Stabilität und Wachstumsstärke der
deutschen Wirtschaft ist die dynamische mittelständi-
sche Unternehmenslandschaft. Es sind insbesondere die
inhabergeführten Familienbetriebe, die nicht nur quanti-
tativ, sondern auch qualitativ das Rückgrat unserer Wirt-
schaft bilden. Man kann es gar nicht oft genug sagen:
Die Arbeitslosigkeit in unserem Land ist in den letzten
Jahren von über 5 Millionen auf heute unter 3 Millionen
gesunken. Hieran haben die mittelständischen Unterneh-
men einen erheblichen Anteil.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!)


In den letzten fünf Jahren wurden über 1,8 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen. Auch in diesem Jahr rechnet
man mit über 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen.
Handwerk und Mittelstand leisten somit erneut einen er-
heblichen Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungs-
lage. Wichtige Eckpfeiler sind hierbei die Sozialpartner-
schaft, aber natürlich auch die Tarifautonomie.

Investitionen in Forschung und Entwicklung sind ein
Indikator für die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftssys-
tems. Diese Investitionen sind auf 2,9 Prozent des BIP
gestiegen. Unser Ziel von 3 Prozent ist nahezu erreicht.

Investitionen und Initiativen im Rahmen der High-
tech-Strategie der Bundesregierung haben die Innova-
tionskraft und auch die Wettbewerbsfähigkeit in
Deutschland gestärkt. Viele weitere Beispiele lassen sich
nennen.

Doch das allein reicht nicht aus. Es ist erst die Risiko-
und Leistungsbereitschaft des innovativen Mittelstands,
die Wachstum, Wohlstand und Innovation in unserem
Land sichert. Die kleinen und mittelständischen Unter-
nehmen sind die Treiber des Strukturwandels und des
Fortschritts. Der gute und robuste Zustand des Mittel-
stands darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es
in der Zukunft weitere und neue Herausforderungen
gibt, die es zu meistern gilt.

Wenn ich mich mit meinen Unternehmerkollegen un-
terhalte und sie frage, welche drei zentralen Probleme in
der Zukunft gesehen werden, dann werden in der Regel
drei genannt: Ganz oben steht der Fachkräfte- und Nach-
wuchsmangel. Es folgen steigende Energiekosten und
der Rohstoffmangel. Und genau da gilt es dann anzuset-
zen. Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen und
Unterstützungen generiert werden, damit die Unterneh-
men Mittel und Wege finden, diese Probleme zu lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sollten über die Stärke dieser Unternehmen froh
sein und alles tun, damit das so bleibt. Wenn ich sehe,
was vonseiten der Linken, der SPD und der Grünen in
diesem Bereich hauptsächlich gefordert wird, nämlich
Steuererhöhungen, wirkt das genau in die entgegenge-
setzte Richtung.

Was will Rot-Grün? Die Wiederbelebung der Vermö-
gensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe, die
Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die An-
hebung des Spitzensteuersatzes und viele Dinge mehr.
Statt die Schaffung von Vermögen und Eigentum zu för-
dern, ist das linke Bedürfnis nach Umverteilung größer
denn je.


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Die propagierten Steuererhöhungen in den unter-
schiedlichsten Bereichen gehen insbesondere zulasten
des Mittelstandes. Die Investitions- und Innovationsfä-
higkeit wird entscheidend eingeschränkt. Es wird
verhindert, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch Unter-
nehmensgründungen werden erschwert. Wenn der Frak-
tionsvorsitzende der Grünen in der gestrigen Aktuellen
Stunde darüber schwadroniert, dass Deutschland eine
Steueroase sei, weil es hier noch keine Vermögensab-
gabe oder keine Vermögensteuer gibt, dann hat er nichts
verstanden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Aufwand zur Ermittlung der Bemessungsgrund-
lage der Vermögensteuer und der daraus resultierende
Ertrag stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu-
einander. Ein Großteil des in Deutschland vorhandenen
Vermögens ist in Unternehmen gebunden. Somit sind es
genau die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
die am stärksten von der Vermögensteuer betroffen sind.





Dieter Jasper


(A) (C)



(D)(B)


Im Kern findet eine Substanzbesteuerung statt. Es wird
Vermögen vernichtet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch die schnell aufgestellte Forderung nach einer
Erhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Pro-
zent auf dann 49 Prozent trifft in erster Linie die Leis-
tungsträger unserer Gesellschaft.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Details! Nicht in die Tiefe gehen!)


Neben den Facharbeitern ist das die große Zahl der klei-
nen und mittelständischen Unternehmen, die in der Re-
gel als Personengesellschaften organisiert sind. Bei die-
sen führt die geplante Steuererhöhung zu erheblichen
Problemen. Anders als große Kapitalgesellschaften kön-
nen sie beispielsweise nicht ins Ausland ausweichen und
müssen die volle Steuerlast tragen.

Gleiches gilt für den Bereich der Erbschaft- und
Schenkungsteuer. Für viele Handwerker und Unterneh-
mer wird es ohnehin immer schwieriger, einen Nachfol-
ger zu finden. Hohe Zahlungen durch eine Erbschaft-
und Schenkungsteuer erschweren das zusätzlich und be-
deuten auch manchmal das Aus für die Betriebe.

Die von der linken Seite immer wieder geforderten
Erhöhungen von Steuern und Abgaben sind eindeutig
der falsche Weg. Der deutsche Staat verfügt über Steuer-
einnahmen in nie dagewesener Höhe. Hiermit gilt es
hauszuhalten. Ein ausgeglichener Staatsaushalt bietet
auch für die Unternehmen in Deutschland die beste Ge-
währ und eine gute Voraussetzung für ein nachhaltiges
und stetiges Wachstum.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieses Wachstum schafft nicht nur neue Arbeitsplätze,
sondern entlastet auch die Sozialkassen. Nur so ist es
letztendlich zu erklären, dass die Leistungsträger durch
eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um mehr
als 6,3 Milliarden Euro entlastet werden konnten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das fehlt später den Rentnern in der Kasse!)


Der richtige Weg ist: Haushalt konsolidieren, sparsam
haushalten, Erleichterungen an die Bürger weitergeben,
Erhöhungen von Steuern und Abgaben nur dann, wenn
es zwingend erforderlich ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Und das zum Schluss: Viele kleine und mittelständische
Unternehmen zahlen ihre Steuern in Deutschland und tun
das auch mit großer Überzeugung. Die Einstellung, dass
starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, ist bei
vielen Unternehmern durchaus vorhanden. Dazu braucht
es nicht immer die Begründung, dass durch Umverteilung
sozialer Frieden begründet werden kann.

Es gibt auch pragmatische Gründe, die hier bereits
dargestellt wurden: eine funktionierende Infrastruktur,
eine gute Aus- und Weiterbildung junger und älterer

Menschen, eine gute Verwaltung und viele Dinge mehr.
Das schafft eine solide Basis für nachhaltiges Wirtschaf-
ten und ist ein Wettbewerbsvorteil für die deutschen Un-
ternehmen im internationalen Wettbewerb.

Dennoch ist die Summe aus Steuern und Abgaben
enorm hoch. Eine leichtfertige Erhöhung vorhandener
und die Einführung neuer Steuern unter dem Stichwort
„Reichensteuer“ ist diffamierend und schadet dem
Standort Deutschland. Es werden gerade nicht die von
Rot-Rot-Grün verfolgten Millionäre getroffen. Diese
sind jederzeit in der Lage, ihre Vermögen im Ausland
anzulegen.


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Weil Sie es ihnen erlauben!)


Getroffen werden vor allem die kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen, die in Deutschland gebunden sind
und ihre Steuern auch hier zahlen müssen. Rot-Grün
zielt auf eine Handvoll Millionäre, trifft aber die ge-
samte Breite des Mittelstandes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Bei allem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und so-
zialem Frieden darf nicht vergessen werden, dass vor
dem Verteilen das Erwirtschaften steht. Dieses Erwirt-
schaften erfolgt hauptsächlich in den kleinen und mittel-
ständischen Betrieben unseres Landes. Diesen darf nicht
die Luft zum Atmen genommen werden.

Es gibt viele Möglichkeiten, den deutschen Mittel-
stand weiter zukunftsfest zu machen, sei es in den Berei-
chen Fachkräftesicherung, Sicherstellung der Energie-
versorgung, Förderung von Innovationen und vielen
Bereichen mehr, die bereits angeführt wurden. Die Bun-
desregierung hat hier in den letzten Jahren viel erreicht.
Nicht durch das Erhöhen und Schaffen neuer Steuern
sind wir so erfolgreich gewesen, sondern durch nachhal-
tiges und effizientes Haushalten. Die ganze Wettbe-
werbsfähigkeit der deutschen Unternehmen konnte sich
so voll entfalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deutschland kann sich im europäischen und auch im
internationalen Vergleich mehr als sehen lassen. Der
Dank hierfür gilt in erster Linie den Arbeitnehmern und
Arbeitgebern in Deutschland, aber natürlich auch der
unionsgeführten Bundesregierung, die eine eindrucks-
volle Bewerbung für eine neue Legislaturperiode abge-
geben hat.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723703600

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Reinhold Sendker, ebenso für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Reinhold Sendker (CDU):
Rede ID: ID1723703700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Tiefensee, von Stillstand bei den ÖPP, den öffent-
lich-privaten Partnerschaften, kann überhaupt keine
Rede sein. ÖPP-Projekte machen im Bereich des Hoch-
baus 60 Prozent aus. Die Möglichkeiten sind hier noch
lange nicht ausgeschöpft. Ferner gibt es ÖPP-Projekte
im Dienstleistungs- und IT-Bereich, denen Experten ein
enormes Wachstum voraussagen. Im Bereich des Fern-
straßenausbaus bilanzieren wir ein Ausbauvolumen von
300 Kilometern und einen privaten Kapitaleinsatz von
1,5 Milliarden Euro. Dafür, dass der Fernstraßenausbau
derzeit aufgehalten wird, sind letztendlich rot-grüne
Landesregierungen, zum Beispiel in Baden-Württem-
berg und Nordrhein-Westfalen, verantwortlich.

Schauen wir auf weitere positive Botschaften bei den
öffentlich-privaten Partnerschaften: auf die Qualität der
Bauausführung, auf einen hochwertigen Betriebsdienst
und auf einen schnellen und zeitnahen Ausbau der Bun-
desfernstraßen. Ich nenne außerdem ausdrücklich die
Effizienzvorteile, wobei wir sagen müssen, dass die
Wirtschaftlichkeit den gesamten Lebenszyklus „Planen,
Bauen, Betreiben“ betrifft.

Die ÖPP bieten bemerkenswerte Optionen. Es ist des-
halb völlig richtig, alle Beschaffungsvarianten unvorein-
genommen zu beurteilen und ihnen die gleichen Chan-
cen einzuräumen. Ideologische Vorbehalte gehören hier
nicht hin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wo besteht noch Handlungsbedarf? Dass die ÖPP
mittelstandsfreundlich weiterentwickelt werden, ist für
uns ein ganz zentraler Punkt. Mittelständische Unterneh-
men sollen sich mit einem höheren Investitionsvolumen an
ÖPP-Projekten, sprich am Fernstraßenausbau, beteiligen
können. Folglich bitten wir darum, geeignete Rahmenbe-
dingungen zu schaffen, um eine verstärkte Beteiligung des
Mittelstandes am Fernstraßenausbau zu erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Richtigkeit der These „Mehr Transparenz schafft
Akzeptanz“ hat die christlich-liberale Bundesregierung
schon bei der Realisierung des Finanzkreislaufs Straße
nachgewiesen. Bei den ÖPP wollen wir nicht nur ein
bisschen, sondern deutlich mehr Transparenz. Wir schla-
gen Ihnen daher vor, bei ÖPP-Projekten eine frühzeitige
Information und Beteiligung der Öffentlichkeit und eine
weitreichende Transparenz, auch in der Betriebsphase,
durch regelmäßige Berichte an den Deutschen Bundes-
tag sicherzustellen, mit der steten Nachfrage: Ist das,
was zugesagt wurde, auch erreicht worden?

Es ist erfreulich, dass die deutsche Bauwirtschaft im
Herbst letzten Jahres zu mehr Transparenz bei ÖPP auf-
gerufen hat. Den wilden Spekulationen über Vergabe
und Vertragsinhalte wird damit der Wind aus den Segeln
genommen. Deutlich mehr Transparenz und die Effi-
zienznachweise führen zu mehr Vertrauen; hiermit kann
ideologischen Vorbehalten entgegengetreten werden.
Das ist Zielführung. Dafür treten wir ein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Transparenz endet aber dort – das ist ein Stück Wahr-
heit –, wo es um schützenswerte Interessen der Projekt-
beteiligten und um die wirtschaftlichen Interessen des
Staates geht. Dahin gehend darf sie das Erfolgsmodell
ÖPP nicht seiner Vorteile berauben.

Schauen wir schließlich auf die Vergleichbarkeit im
Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Die Rechnungshöfe
führen an: ÖPP-Projekte basieren auf konkreten Aus-
schreibungs- und Verhandlungsergebnissen. Bei der kon-
ventionellen Methode hingegen seien es überwiegend
Kostenschätzungen und Erfahrungswerte. Folglich wird
eine bessere Vergleichbarkeit gefordert.

Ferner kann mit der obligatorischen Eignungsprü-
fung, die ich hier ausdrücklich nennen möchte, bereits in
einem frühen Stadium die grundsätzliche Eignung eines
ÖPP-Projekts geprüft werden. Daher fordern wir, dieses
Instrument der Projektsteuerung künftig zu standardisie-
ren und zu verbreiten.

Ja, wir wollen eine bereits erfolgreiche Beschaffungs-
variante ausdrücklich stärken, eine Variante mit mehr
Mittelstand, vor allem beim Fernstraßenausbau, mit
deutlich mehr Transparenz und Kommunikation und mit
vergleichbaren Wirtschaftlichkeitsnachweisen.

Leider – auch das ist ein Stück Wahrheit – erleben wir
bei ÖPP-Projekten unter rot-grünen Landesregierungen
zurzeit den großen Verschiebebahnhof: Es soll überprüft
und nochmals geprüft werden. Ich sage Ihnen: Wenn in
einem konkreten Einzelfall längst feststeht, dass ÖPP
besser sind, dann sollten ÖPP hier auch den Zuschlag
bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Was die Oppositionsanträge angeht, kann ich nur fest-
stellen: Die Sozialdemokraten zögern und zaudern. Bei
den Grünen stehen wieder einmal ideologische Vorbe-
halte gegen Zukunftsoptionen.

Herr Dr. Hofreiter, dadurch, dass Sie die Vorwürfe ei-
nes Schattenhaushalts und eines Verstoßes gegen die
Schuldenobergrenze wiederholen, werden diese Vor-
würfe nicht besser.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wahr ist, ist wahr!)


Die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts an den Auf-
tragnehmer stellt keine Kreditaufnahme im Sinne des
Art. 115 Grundgesetz dar. Es ist also keine Umgehung
der Schuldengrenze. Das bestätigt uns der Bund-Länder-
Ausschuss. Ähnlich hat sich der Bundesrechnungshof
geäußert. Ich bitte, das bei Gelegenheit doch einmal zur
Kenntnis zu nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der gegenwärtigen Haushaltssituation können wir
es uns gar nicht leisten, ideologische Vorbehalte gegen
ÖPP aufrechtzuerhalten. Wir möchten diese Variante
stärken. Es ist eine Beschaffungsvariante, die es zu prü-





Reinhold Sendker


(A) (C)



(D)(B)


fen gilt. Wir wollen ihre Anwendung unterstützen – mit-
telstandsfreundlich, wirtschaftlich und transparent.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1723703800

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache
17/12700 mit dem Titel „Stabilität, Wachstum, Fort-
schritt – Den starken deutschen Mittelstand weiter zu-
kunftsfest machen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag
ist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.

Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b wird interfraktio-
nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache
17/12771 an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 3 d. Hier geht es um die Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Druck-
sache 17/13155. Hierzu liegt mir eine schriftliche Erklä-
rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung des Kollegen Groß vor.1)

Ich lasse zunächst über die Beschlussempfehlung un-
ter Buchstabe a abstimmen. Da empfiehlt der Ausschuss
die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf der Drucksache 17/12696 mit dem Titel
„Öffentlich-Private Partnerschaften – Potentiale richtig
nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transpa-
renz erhöhen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung
zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den vorhin genannten
Mehrheiten angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksa-
che 17/9726 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastruktur-
konsens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses
angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/5258 mit dem Titel „Transparenz in Public Pri-
vate Partnerships im Verkehrswesen“. Wer stimmt der
Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.

Unter dem Tagesordnungspunkt 3 e geht es um die
Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rekom-
munalisierung beschleunigen – Öffentlich-Private Part-
nerschaften stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner

Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/6515, den
Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmt
dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Hier geht es
um die Abstimmung über den Antrag der SPD-Fraktion
auf der Drucksache 17/13224 mit dem Titel „Bessere
Politik für einen starken Mittelstand – Fachkräfte si-
chern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen ver-
bessern“. Wer stimmt für diesen Antrag der SPD-Frak-
tion? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, Elke Ferner, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Deutschland 2020 – Gerecht und solidarisch

– Drucksache 17/13226 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes über die Festset-

(Mindestlohngesetz – MinLohnG)


– Drucksache 17/12857 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tabea
Rößner, Memet Kilic, Dr. Tobias Lindner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Mit einem Nationalen Aktionsplan die Chan-
cen des demografischen Wandels ergreifen

– Drucksache 17/13246 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-1) Anlage 2






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Mehrheitswillen respektieren – Gesetzlicher
Mindestlohn jetzt

– Drucksachen 17/8026, 17/9613 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftli-
cher Spaltung – Bilanz nach 10 Jahren Agenda
2010

– Drucksachen 17/12683, 17/13182 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1723703900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Was hat Deutschland stark ge-
macht? Ganz unzweifelhaft die industriellen Fertigkeiten
und unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit, unzwei-
felhaft unser sehr starker Mittelstand mit einem besonde-
ren unternehmerischen Ethos, unzweifelhaft eine sehr
gute Forschungslandschaft, universitär und außeruni-
versitär, die duale Ausbildung – das konnte ich gerade
am Sonntag wieder feststellen, als ich erlebte, wie
1 110 Jungmeisterinnen und Jungmeister von der Hand-
werkskammer in Düsseldorf ihre Urkunden erhalten ha-
ben – und die soziale Partnerschaft.

Aber Deutschland hat noch mehr stark gemacht, zum
Beispiel das Aufstiegsversprechen für alle tüchtigen und
fleißigen Bürgerinnen und Bürger oder die Chance auf
einen besseren Bildungsabschluss, als ihn die Eltern hat-
ten, oder die faire Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg
oder intakte Kommunen, die Leistungen für diejenigen
bereitstellen, die sich Bildung, Sport, Kultur, Sicherheit
und Kinderbetreuung nicht privat leisten können, oder
auch der Sinn für Maß und Mitte, für Anstand und Fair-
ness oder ein, wenn man so will, rheinischer Kapitalis-
mus, also eine soziale Marktwirtschaft, die genau er-
kannt hat, dass der soziale Ausgleich die wesentliche
Voraussetzung ihrer Existenzberechtigung ist.

Was ist nun der Befund heute? Deutschland ist zwei-
fellos nach wie vor ein starkes Land, aber nicht alle ha-
ben Zugang zu Teilhabe. Viele sehen ihre Leistung eben

nicht anerkannt, geschweige denn angemessen belohnt.
6,8 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn
von weniger als 8,50 Euro, 1,4 Millionen sogar für weni-
ger als 5 Euro. Fast 1,5 Millionen Menschen zwischen
25 und 35 Jahren haben keinen Schul- und keinen Be-
rufsabschluss. 71 von 100 Akademikerkindern gehen an
die Hochschule, aber nur 24 von 100 Kindern aus Arbei-
terfamilien. Frauen verdienen im Durchschnitt 22 Pro-
zent weniger als Männer. Staat und Politik befinden sich
in einem Schraubstock, ausgelöst durch die Finanz-
marktkrise, in der Gewinne privatisiert und Verluste so-
zialisiert werden. Sie sind erpressbar geworden. Der
Steuerzahler ist zum Garanten in letzter Instanz gewor-
den. Bezahlbares Wohnen wird inzwischen nicht nur in
Ballungsräumen zu einem Problem.

Wir haben es deshalb inzwischen in meinen Augen
nicht nur mit Parallelgesellschaften in den oberen Etagen
bis hin zum Penthouse unseres gesellschaftlichen Ge-
bäudes zu tun, sondern auch mit Parallelgesellschaften
unten, mit Menschen, die sich deklassiert und ausge-
grenzt fühlen, die sich nicht mehr zugehörig fühlen. Wir
haben es nicht nur mit einem Unverständnis vieler Bür-
gerinnen und Bürger zu tun, dass die persönliche Leis-
tung immer weniger wichtig und immer weniger wert
ist. Wir haben es mit Engpässen dahin gehend zu tun, öf-
fentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge für den
überwiegenden Teil unserer Bürgerinnen und Bürger zu
finanzieren.

Aber es ist mehr als das. Wir haben es mit unverhält-
nismäßigen Boni zu tun, die in keinem Verhältnis zur
Leistung stehen, mit gefälschten Doktorarbeiten, mit
Lobbygesetzen und auch dem lässigen Umgang mit
Steuerbetrug. All dies tritt Werte wie Anstand, Ehrlich-
keit und Fairness mit Füßen. So empfinden das viele
Menschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, wir laufen Gefahr, dass Teile der deut-
schen Eliten und auch politische Beliebigkeit das bürger-
liche Wertefundament unterminieren könnten. Ehrliche
Bankkaufleute sind inzwischen Zocker, und Geiz wird
als „geil“ dargestellt und verkauft. Während eine Kassie-
rerin wegen einer Wertmarke für 50 Cent ihren Job ver-
lieren kann, bleiben millionenschwere Steuerbetrüger
entweder in der Anonymität oder werden gar nicht erst
erkannt, oder sie kommen mit einer Nachzahlung davon.
Wie wirkt das auf den überwiegenden Teil der Bürgerin-
nen und Bürger?


(Beifall bei der SPD)


Aus aktuellem Anlass sage ich: Nicht der Fall Hoeneß
ist das eigentliche Problem,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der Fall Steinbrück ist das Problem!)


sondern die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrug
sind das eigentliche Problem, bei dessen Bekämpfung
Sie nicht besonders hilfreich gewesen sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)






Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


Nicht nur die vielen unentdeckten Fälle von Steuer-
betrug sind das Problem, sondern auch die legale Steuer-
vermeidung von Konzernen, die die nationalen Steuer-
systeme gegeneinander ausspielen. Nicht der Fall
Hoeneß allein ist das Problem, sondern es sind die
Steueroasen, die Briefkastenfirmen zulassen. Es sind
Banken, die Geschäftsmodelle und Dienstleistungen an-
bieten, mit denen man Steuerhinterziehung und Steuer-
betrug betreiben kann. Es sind vor allen Dingen auch die
Länder, die sich nach wie vor einem automatischen In-
formationsaustausch verweigern.

Noch einmal klar festgestellt: Die Bundesregierung
hat den Elan, den wir 2009 mit Frankreich und mit der
OECD entfacht haben, um Steuerbetrug und Steuerhin-
terziehung auf internationaler Ebene zu bekämpfen,
nicht genutzt. Sie haben eingeschlafene Füße gehabt!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wollten uns ein Steuerabkommen mit der Schweiz
präsentieren, das die Steuerbetrüger in der Anonymität
belassen hätte und mit einem Ablass hätte davonkom-
men lassen. Das ist das, was Sie uns nach wie vor als
vorbildlich verkaufen wollen. Sie sind nicht einmal in
der Lage gewesen, für Deutschland denselben Informa-
tionsaustausch herauszuverhandeln, den die USA bezo-
gen auf ihre Steuerbürger in der Schweiz bekommen ha-
ben. Sie versuchen, uns diesen Entwurf, der vonseiten
der SPD und von den Grünen abgelehnt worden ist, bis
heute mit kranken Argumenten schönzureden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir die Auflösung und Relativierung von Wer-
ten wie Anstand, Fairness, Ehrlichkeit und soziale Ba-
lance weiter dulden, dann sage ich voraus, dass unsere
gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung über die
Schnödigkeit im Umgang mit diesen Fragen – um einen
Begriff von Theo Sommer, dem früheren Herausgeber
der Zeit, aufzugreifen – in eine Krise geraten wird, weil
die Menschen den Eindruck haben, dass bestimmte Re-
geln wie Anstand, Fairness und Ausgleich nicht mehr
gelten.

Dann hilft es nicht, im Einzelfall bloß enttäuscht zu
sein, wie wir das gerade bei Frau Merkel erlebt haben,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE] – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist so was von banal!)


sondern man muss sich als Regierungschef oder Regie-
rungschefin gefordert sehen, das Wertefundament von
Politik und Wirtschaft zu erneuern. Das vermisse ich bei
dieser Bundeskanzlerin.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir bei Ihnen auch!)


Es geht der SPD in diesem Zusammenhang nicht um
irgendeine Sozialromantik, und es geht auch nicht da-
rum, im 150. Jahr unseres Bestehens die nostalgische

Beschwörung von Werten zu betreiben. Ich bin vielmehr
davon überzeugt, dass nur eine gerechte Gesellschaft
auch eine starke Gesellschaft ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin davon überzeugt, dass Gerechtigkeit und ein
sozialer Ausgleich eine der wesentlichen Voraussetzun-
gen für wirtschaftlichen Erfolg sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Ich bin überzeugt, dass umgekehrt auch gilt, dass der
wirtschaftliche Erfolg eine Voraussetzung ist, um sozia-
len Ausgleich zu betreiben. Ich bin davon überzeugt,
dass sich eine ungerechte Gesellschaft am Ende für nie-
manden rechnet, auch nicht für die Wohlhabenden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist kein Geringerer als der amerikanische Ökono-
mienobelpreisträger Joseph Stiglitz gewesen, der ein
Buch mit dem Titel Der Preis der Ungleichheit geschrie-
ben hat, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Er
macht deutlich, dass der Preis der Ungleichheit nicht nur
in einem Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhaltes
besteht, sondern dass die Ungleichheit auch einen öko-
nomischen Preis hat. Deshalb scheue ich mich nicht, von
einer Ökonomie der Gerechtigkeit zu sprechen. Ich bin
überzeugt, dass Gerechtigkeit nicht nur für den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist,
sondern sich auch für alle rechnet und für alle rechnen
muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will das an einigen wenigen Beispielen deutlich
machen. Die Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeits-
markt, wenn sie Kinder haben wollen, ist nicht nur indi-
viduell ungerecht, sondern sie ist auch volkswirtschaftli-
cher Unsinn, insbesondere wenn man sich die
Demografie unseres Landes anschaut und weiß, dass
junge Frauen inzwischen bessere schulische, berufliche
und akademische Abschlüsse machen als Männer.

Dumpinglöhne vernichten Arbeitsplätze bei den ver-
antwortungsbewussten Unternehmen, die sich anständig
verhalten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und dann sind wir auch noch in der Verlegenheit, den
Menschen, die Dumpinglöhne bekommen, mit Auf-
stockerbeträgen zulasten der Steuerzahler helfen zu müs-
sen, was an die 10 Milliarden Euro kosten dürfte.

Ein Bildungssystem, in dem nicht Anstrengung und
Leistung, sondern das Einkommen oder die Beziehun-
gen der Eltern für den Aufstieg sorgen, ist für die ge-
samte Gesellschaft und für den Erfolg unserer Volkswirt-
schaft schädlich.





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gerade wegen der demografischen Entwicklung gilt:
Wir dürfen kein Kind zurücklassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Schule muss ebenso wie im Berufsleben und in
Bezug auf Existenzgründungen gelten: Wir brauchen
eine zweite Chance.

Finanziell marode Kommunen und verwahrloste
Städte produzieren auch verwahrloste Seelen und Köpfe.
Sie integrieren sich nicht mehr sozial und kulturell,
sondern sie fühlen sich ausgeschlossen. Sie sind desinte-
griert, und das verursacht Folgekosten. Das läuft darauf
hinaus, dass wir es anschließend mit sozialen Folge-
kosten zu tun haben, im Zweifelsfall bis hin zu Verwahr-
losung und Kriminalität, weil wir unsere Kommunen
nicht in den Stand versetzt haben, soziale Brennpunkte
zu vermeiden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine ungerechte Gesellschaft verursacht Sozial-
kosten: Immer mehr Menschen werden von einer Auf-
stiegschance ausgeschlossen. In der Folge werden sie
zwangsläufig resignieren und zu reinen Beziehern von
Sozialleistungen. Das ist der Grund, warum wir in einen
vorsorgenden Sozialstaat statt in einen reparierenden So-
zialstaat investieren müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein höherer Beitrag derjenigen, die stärkere Schultern
haben, zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, die Ein-
führung eines gesetzlichen Mindestlohns, die gleiche
Bezahlung von Frauen und Männern, die angemessene
finanzielle Ausstattung von Kommunen oder auch der
Ausbau der Kinderbetreuung anstelle des Betreuungs-
geldes sind daher nicht bloß Einzelentscheidungen, die
hier im Berliner Politikbetrieb quasi aus wahl- und
machtarithmetischen Überlegungen getroffen werden
sollten. All das sind vielmehr Entscheidungen, denen aus
meiner und aus SPD-Sicht eine klare Idee zugrunde lie-
gen muss, wie das Miteinander in unserer Gesellschaft
organisiert werden soll, wie wir gesellschaftliche Teil-
habe organisieren, wie wir in einem modernen Deutsch-
land für Gleichberechtigung sorgen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der die Bür-
ger sich belohnt fühlen. Es ist die Idee von einer Gesell-
schaft, in der Bürger morgens aufstehen und antreten. Es
ist die Idee von einer Gesellschaft, in der man bereit ist,
sich anzustrengen und gegebenenfalls auch Opfer in
Kauf zu nehmen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft,
die Leistung honoriert, die gegen die großen Lebens-
risiken wie Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeit
absichert, die aber auch allen Menschen eine zweite, ge-
gebenenfalls sogar eine dritte Chance gibt. Es ist die

Idee von einer Gesellschaft, in der Reichtum nicht
verteufelt wird, in der Armut aber auch nicht der Caritas
zugeführt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Es ist die Idee von einer Gesellschaft, die individuelle
Lebensentwürfe ermöglicht und sich gleichzeitig dem
Gemeinwohl verpflichtet sieht.

Es geht nicht nur um den Preis für eine solidarische
Gesellschaft, sondern es geht in meinen Augen vor allen
Dingen um den Wert einer solidarischen Gesellschaft.
Deshalb will ich sagen: Wettbewerbsfähigkeit und Wert-
bindung gehören in einem modernen Deutschland nach
Auffassung der SPD zusammen. Genau das ist der
Grund für Deutschlands Erfolgsgeschichte. Genau das
macht die Stärke Deutschlands aus, und genau darum
wird es am 22. September dieses Jahres gehen.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704000

Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die

Bundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Ursula von
der Leyen. – Bitte schön, Frau Bundesministerin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Steinbrück, so jämmerlich, wie Sie Deutschland sehen,
ist es nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)


„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“
Das ist ein Wort, das Kurt Schumacher der SPD schon
vor Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben hat. Be-
trachten wir einmal die Wirklichkeit von heute:

Noch nie hatten wir so viel Arbeit in Deutschland.


(Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben heute 29 Millionen sozialversicherungs-
pflichtig Beschäftigte; das sind 2,6 Millionen mehr, seit-
dem Angela Merkel Kanzlerin ist.


(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Der beste Schutz vor Armut!)


Es ist gute Arbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhält-
nisse ist seit 2005 stärker gestiegen als die Zahl der
atypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der
älteren Erwerbstätigen über 55 ist um 1,8 Millionen ge-
stiegen, seit Angela Merkel Kanzlerin ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es gibt ja auch mehr Ältere!)






Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)


Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in ganz
Europa. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit 2007 um
40 Prozent gesunken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute sind eine viertel Million Kinder weniger in
Hartz IV. Das ist die Wirklichkeit in dem Land, in dem
Angela Merkel seit sieben Jahren regiert. Die Erfolge am
Arbeitsmarkt kommen bei den Menschen an.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und wie viele Kinder leben in Kinderarmut?)


Ja, Herr Steinbrück, ich habe den Antrag, zu dem Sie
hier heute eigentlich reden sollten, im Gegensatz zu Ih-
nen gelesen. Von Steuerpolitik steht in dem Antrag der
SPD nichts.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch! Abschaffung Ehegattensplitting!)


Aber in dem Antrag steht, dass die Einkommensschere
in Deutschland auseinandergegangen ist.


(Elke Ferner [SPD]: Das stand auch im Armutsund Reichtumsbericht!)


Ja, das stimmt. Die Einkommensschere ist durch die
Agenda 2010 auseinandergegangen. Aber seit den letz-
ten drei Jahren schließt sie sich wieder, und zwar dank
der guten Wirtschaftslage und dank der guten Tarifab-
schlüsse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist richtig, dass der Arbeitsmarkt durch die Agenda
2010 geprägt ist; auch das gehört mit zum Betrachten der
Wirklichkeit.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Mit Ihrer Beteiligung!)


Sie von der SPD schaffen es, hier einen Antrag einzu-
bringen – über diesen debattieren wir hier –, in dem Sie
auf 14 Seiten wortreich eine Agenda für 2020 darlegen,
ohne auch nur mit einem einzigen Wort die Agenda 2010
zu erwähnen, geschweige denn, dass Sie die Urheber-
schaft dafür haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wo sie recht hat, hat sie recht! – Zurufe von der SPD)


Was ist eigentlich mit Ihnen los? Schämen Sie sich da-
für, oder was ist mit Ihnen passiert?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt fle-
xibler zu machen und Menschen in Beschäftigung zu
bringen, die vorher keine Chance hatten. Das wurde er-
reicht.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ha, ha!)


Aber die rot-grüne Agenda war handwerklich so lausig
gemacht, dass sie schwere Gerechtigkeitslücken gerissen
hat, die wir hinterher alle flicken mussten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat der Bundesrat damals festgesetzt! Das waren Sie!)


Wir mussten die Konstruktionsfehler der Agenda
2010 beheben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen
die Jobcenterreform um die Ohren gehauen. Wir muss-
ten die Jobcenter auf feste Füße stellen. Hätten wir das
nicht getan, gäbe es heute in Deutschland keine Job-
center.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was? Sie? Das ist ja lächerlich, was Sie erzählen!)


Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen Ihre Hartz-IV-
Reform um die Ohren gehauen. Rot-Grün hat die Hartz-
IV-Regelsätze teilweise geschätzt. Wir haben sie berech-
net und verfassungsfest gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Du sollst nicht lügen!“)


Am schlimmsten ist, dass Rot-Grün die Kinder in
Hartz IV vollständig vergessen hat.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 4-MilliardenEuro-Ganztagsschulprogramm! Das haben wir gemacht, nicht Sie!)


Keinen einzigen Cent für den Zugang zu Teilhabe und
Bildung der Kinder haben Sie bei der Berechnung von
Hartz IV hineingerechnet. Das hat Ihnen das Verfas-
sungsgericht ins Stammbuch geschrieben. Wir haben das
Bildungspaket eingeführt, weil uns die Chancengerech-
tigkeit der Kinder am Herzen liegt. Sie reden, wir han-
deln. So sieht das aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Rot-Grün hat die Zeitarbeit vollständig dereguliert.
Wir halten Zeitarbeit für richtig, aber es muss dabei fair
zugehen. Deshalb haben wir den Mindestlohn in der
Zeitarbeit eingeführt. Wir haben die Drehtürklausel zum
Schutz der Beschäftigten eingeführt. Rot-Grün redet von
Gerechtigkeit, wir handeln, wir setzen sie durch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch unglaublich! Wir mussten Ihnen das aufdrücken in den Hartz-IV-Verhandlungen!)


Herr Steinbrück, ich habe zwei Forderungen heraus-
gehört, die Sie in Ihrem 14-seitigen Antrag, den Sie eben
debattieren sollten, erheben. Die eine Forderung lautet:
Steuern rauf! Die andere Forderung lautet: Wir wollen
den Mindestlohn im Parlament diktieren und die Tarif-
autonomie nicht mehr respektieren!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So ein Quatsch! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völliger Quatsch! Man muss nur mal in den Antrag schauen! – Ingo Egloff [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf zur Tarifeinheit?)


Wir gehen einen anderen Weg. Die Zeit der Massen-
arbeitslosigkeit ist Gott sei Dank vorbei. Fachkräfte-





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)


sicherung, das ist das große Thema in Deutschland. Wir
wollen benachteiligte Jugendliche in Ausbildung brin-
gen, und zwar jetzt, da sich die Situation auf dem Ar-
beitsmarkt dreht. Auf dem Ausbildungsmarkt ist das An-
gebot an Ausbildungsplätzen derzeit größer als die
Nachfrage. Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. Der Aus-
bildungspakt ist auf genau diese Jugendlichen konzen-
triert worden; denn sie brauchen jetzt eine Chance.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir kümmern uns auch um die 25- bis 35-Jährigen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die in der Regierungs-
zeit von Rot-Grün nicht nur die Schule geschmissen,
sondern auch ihre Ausbildung abgebrochen haben.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist ja wie bei Münchhausen!)


Diese Menschen sind jetzt ohne Abschluss in Hartz IV,
und sie brauchen eine zweite und eine dritte Chance.
Diese geben wir ihnen, und zwar mit unserer Initiative
„AusBILDUNG wird was – Spätstarter gesucht“. In den
nächsten drei Jahren wollen wir 100 000 dieser jungen
Menschen zwischen 25 und 35 Jahren zu einem Ab-
schluss führen. Ich freue mich, dass die SPD diese Initia-
tive, die wir auf den Weg gebracht haben, so gut findet,
dass sie sie, nur unter einem anderen Namen, selbst in
ihr Programm schreibt. Sie reden, wir handeln. Hier
sieht man es wieder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das setzt sich bei den Frauen fort. Sie haben eben das
Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ angedeu-
tet. Wie war denn die Geschichte der besseren Verein-
barkeit von Beruf und Familie?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind letzte Woche eingeknickt, Frau von der Leyen!)


Wer hat denn 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kin-
dergartenplatz eingeführt?


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das waren nicht die Roten!)


Es ist die Union gewesen.


(Widerspruch bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war das Bundesverfassungsgericht! – Thomas Oppermann [SPD]: Soll das ein Witz sein?)


Wer hat denn dafür gesorgt, dass es ab 2013 den Rechts-
anspruch auf einen Krippenplatz gibt? Es ist die Union
gewesen. Sie reden, wir handeln. Wir sorgen für eine
gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Oh! Sogar die FDP klatscht!)


Wer hat denn den Mindestlohn in der Pflege einge-
führt? Es ist diese Regierung gewesen. Vom Mindest-
lohn in der Pflege profitieren insbesondere Frauen,
meine Damen und Herren. Sie reden, wir handeln. Das
ist das, was sich hier und heute herauskristallisiert.


(Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Und Sie lügen!)


Ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Äl-
teren am Arbeitsmarkt. Ich habe vermisst, dass Sie zu
diesem Thema etwas sagen. In Ihrem Antrag steht dazu
etwas, wenn auch in verklausulierter Form. Warum ha-
ben Sie darüber nicht gesprochen? Wir debattieren heute
schließlich Ihren Antrag.

Es haben noch nie so viele Ältere über 55 Jahre Ar-
beit in Deutschland gehabt wie heute.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und bei den 64-Jährigen sinkt die Quote der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung! Bei den 64-Jährigen klappt es nicht!)


Rot-Grün sieht die Älteren immer nur vom Defizit her;
Sie sehen nur, was sie nicht können, und sagen nur, was
Sie ihnen nicht zutrauen.

Wir machen das anders. Wir sind der Meinung, dass
ältere Menschen Lebenserfahrung und Stärken haben.
Wir brauchen sie am Arbeitsmarkt. Deshalb ist uns daran
gelegen, nicht nur dafür zu sorgen, dass sie länger in den
Betrieben bleiben, sondern jetzt auch dafür zu sorgen,
dass gerade die arbeitslosen Älteren bessere Chancen be-
kommen, eingestellt zu werden. Wir begleiten die älte-
ren Menschen bis in die Betriebe hinein, um ihnen eine
Perspektive zu geben, aus der Arbeitslosigkeit herauszu-
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viele 61-jährige Arbeitslose haben denn voriges Jahr einen neuen Job bekommen?)


Auch schwerbehinderte Menschen haben aufgrund
der guten Arbeitsmarktsituation eine große Chance
– auch dazu habe ich von Ihnen nichts gehört; auch was
dieses Thema angeht, haben Sie zu Ihrem Antrag nichts
gesagt –, aber sie profitieren nicht so stark wie alle an-
deren Gruppen. Deshalb müssen wir noch mehr An-
strengungen unternehmen, um dafür zu sorgen, dass
Menschen mit Behinderung besser in den ersten Arbeits-
markt integriert werden.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, hoffentlich!)


Die Bundesagentur für Arbeit nimmt gezielt 2,5 Milliar-
den Euro pro Jahr in die Hand, um diesen Menschen den
Schritt ins Arbeitsleben zu erleichtern. Im Rahmen der
„Initiative Inklusion“ haben wir weitere 100 Millio-
nen Euro alloziert, um dazu beizutragen, dass gerade
junge Menschen mit Behinderung den Weg in die Aus-
bildung und den ersten Arbeitsmarkt schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, entlarvend ist, dass die
SPD


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die redet ja nur über uns!)






Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)


in ihrem 14-seitigen Papier über Deutschland 2020 kein
einziges Wort über Zuwanderung oder Integration ver-
liert. Das ist nicht unser Zukunftsbild von Deutschland!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sollten mal einen eigenen Antrag einbringen! Das sind doch alles Taschenspielertricks!)


Wir brauchen die Gruppe der Zuwanderer und der Mi-
granten am Arbeitsmarkt, und wir schätzen sie, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb haben wir die Anwerbestoppausnahmeverord-
nung, dieses aufgeblähte Monster, ersatzlos gestrichen.
Wir haben stattdessen die Bluecard eingeführt und die
Beschäftigungsverordnung im Hinblick auf Facharbeiter
neu geordnet. Für uns zählt nicht, woher jemand kommt,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja ganz neu!)


sondern für uns zählt, ob er oder sie gemeinsam mit uns
dieses Land voranbringen wird. Das ist unsere Haltung
im Hinblick auf Deutschland 2020.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, das SPD-Papier – über das
der Kandidat hier leider nicht debattiert hat, das aber auf
der Tagesordnung steht – zeigt, dass die SPD nach der
vollständigen Deregulierung im Rahmen der Agenda
2010


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Redezeit um 40 Prozent überzogen!)


mit ihrer Agenda 2020 jetzt eine maximale Regulierung
erwartet und anstrebt. Und wie wir eben gehört haben:
Sie reden das Land schlecht. Sie gehen von einem Ex-
trem ins andere.

Wir gehen den Weg der Fairness und der wirtschaft-
lichen Vernunft,


(Elke Ferner [SPD]: Ha, ha! Sie wissen ja noch nicht einmal, wie Fairness geschrieben wird! – Christel Humme [SPD]: Das ist ja gut!)


wir gehen den Weg der Mitte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer so einknickt wie Sie in der letzten Woche, der muss so laut sein, zur Kompensation!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704100

Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser

Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Klaus Ernst.


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723704200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist schon bemerkenswert, wie sich hier zwei
Parteien, die sich eigentlich – wie ich in den letzten acht

Jahren im Bundestag erlebt habe – bei sehr vielen Aktio-
nen im Prinzip einig waren, jetzt darüber streiten, wer
von ihnen eigentlich der Schlimmere war.

Ich möchte noch einmal feststellen, Frau von der
Leyen: Das, was Sie eigentlich erreichen wollten – mehr
Beschäftigung in Deutschland –, haben Sie nicht er-
reicht. Ausschlaggebend ist nämlich nicht, ob mehr
Leute im Niedriglohnbereich beschäftigt sind – da gibt
es natürlich einen Zuwachs – oder ob mehr Leute in be-
fristeter Beschäftigung sind – da gibt es auch einen Zu-
wachs –, sondern das wirkliche Maß kann nur die Zahl
der geleisteten Arbeitsstunden sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hat in der Bun-
desrepublik Deutschland trotz der Deregulierung am Ar-
beitsmarkt nicht zugenommen. Das müssen Sie einmal
nüchtern zur Kenntnis nehmen, Frau von der Leyen!


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. HansMichael Goldmann [FDP])


Die Arbeit ist billiger geworden, die Arbeit ist un-
sicherer geworden, und die Arbeitsverhältnisse haben
sich für viele Menschen dramatisch verschlechtert.

Ich möchte heute vor allen Dingen etwas zu dem An-
trag der Linken zum Mindestlohn sagen. Wir hätten
heute die Chance, gemeinsam – mit Ihnen von den Re-
gierungsfraktionen – eine riesige Ungerechtigkeit in die-
sem Lande zu beseitigen. Um was geht es? Es geht um
nicht weniger als die Einhaltung unserer Verfassung. In
Art. 1 des Grundgesetzes steht:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-
lichen Gewalt.

Es gehört zur Würde, meine Damen und Herren, dass
Menschen, die vollzeitbeschäftigt sind, von ihrer Arbeit
leben können und nicht hinterher zum Amt gehen müs-
sen, weil das Geld nicht reicht. So etwas entspricht nicht
unserer Verfassung.


(Beifall bei der LINKEN)


Diejenigen, die 3 oder 4 oder 5 Euro die Stunde ver-
dienen, sind insbesondere Frauen. Mich freut ja Ihr En-
gagement, Frau von der Leyen – wir haben Sie dabei ja
unterstützt, auch wenn Ihnen Ihre eigene Partei von der
Fahne gegangen ist –, für mehr Frauen in Führungsposi-
tionen. Aber wo bleibt Ihr Engagement für die vielen
Frauen in diesem Land – es betrifft überwiegend
Frauen –, die zu niedrigsten Löhnen arbeiten müssen? In
dieser Frage, Frau von der Leyen, haben Sie völlig ver-
sagt, da haben Sie null Engagement gezeigt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen noch einmal in aller
Klarheit sagen: Sie haben einen Eid auf die Verfassung ge-
leistet – und nicht auf das Programm der Arbeitgeberver-
bände, die die Mindestlöhne eigentlich verhindern wollen.


(Beifall bei der LINKEN)






Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)


Sie regieren mit Ihrer Haltung gegen Mindestlöhne
gegen das Volk. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-
ger will Mindestlöhne: Laut Emnid sind es 86 Prozent
der Bürgerinnen und Bürger. Übrigens ist auch eine
Mehrheit in Ihrer Partei für Mindestlöhne. Auch die
Mehrheit der SPD-Wähler ist für einen Mindestlohn. Ich
garantiere Ihnen: Sie werden in dieser Frage schneller
rückwärts laufen, als Sie nach rückwärts gucken können.
Sie werden noch merken – auch bei den Wahlen; das
hoffe ich sehr –, dass Sie eine Mehrheit in diesem Lande
gegen sich haben. Übrigens sind auch die Selbstständi-
gen, Herr Brüderle, für die Einführung eines Mindest-
lohns. Sie sehen: Auch Ihre Klientel ist in dieser Frage
weiter als Sie selbst.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Koalition hat sich auf die Fahne geschrieben:
Leistung soll sich lohnen. – Ich frage: Lohnt sich denn
tatsächlich eine Leistung bei einem Stundenlohn von
3 oder 4 Euro?


(Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Wenn man zum Aufstocken zum Amt gehen muss, lohnt
sich diese Leistung nicht. Ein Viertel der Beschäftigten
sind Niedriglöhner. 1,4 Millionen Menschen verdienen
weniger als 5 Euro die Stunde; die Zahlen haben wir hier
des Öfteren diskutiert. Lohnt es sich denn tatsächlich für
einen Rettungssanitäter – das sind die, die uns von der
Straße auflesen, wenn uns etwas passiert ist –,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wenn man Porsche fährt! – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Wenn du mit dem Porsche zu schnell unterwegs bist, Ernst!)


etwas zu leisten, wenn er dafür weniger als 9 Euro die
Stunde bekommt? Ist das tatsächlich eine Entlohnung,
die dem angemessen ist, was dieser Mensch leistet? Ich
sage: Die Mehrheit der Menschen ist für einen vernünfti-
gen Mindestlohn, weil ein Mindestlohn etwas mit Ge-
rechtigkeit zu tun hat. Mit aller Klarheit: Wer einen Min-
destlohn ablehnt, wie Sie das tun, der hat mit der
Mehrheitsmeinung in diesem Land und dem Gerechtig-
keitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger nichts mehr
am Hut.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie werden nicht müde, negative Beschäftigungswir-
kungen bei der Einführung eines Mindestlohns zu kon-
statieren. Es gibt weltweit keine einzige Studie – keine
einzige! –,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)


die Ihnen mit Ihrer Position recht gibt. Ich möchte bitte
schön gerne einmal wissen, wo Sie diesen Unfug eigent-
lich herhaben. Die Realität ist ganz anders. Selbst in
England, wo der Mindestlohn schon seit Jahren gilt, sagen
die Unternehmerverbände: keine negativen Auswirkungen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil er so niedrig ist!)


Daneben führen Sie gerne das Argument Frankreich
an und sagen: Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit so
hoch, weil es dort einen Mindestlohn gibt. – Wissen Sie,
was das Problem ist? Durch das Lohndumping in der
Bundesrepublik, dadurch, dass wir keine Mindestlöhne
haben und die Löhne sinken, sind wir Mitverursacher
der Arbeitslosigkeit in Frankreich und bei anderen euro-
päischen Nachbarn. Deshalb müssen wir vor dem Hin-
tergrund der internationalen Lage auch bei uns einen
Mindestlohn einführen.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe der Abg. Max Straubinger [CDU/CSU] und HansMichael Goldmann [FDP])


– Weil ich mich immer freue, wenn Sie sich so aufregen,
will ich natürlich auch noch etwas zur Tarifautonomie
sagen:

Dass Sie sich zum Schutzpatron der Tarifautonomie
machen, ist wirklich interessant. Ich kann mich noch an
Ihre Vorschläge erinnern, das Streikrecht einzuschrän-
ken. Hat das die Tarifautonomie gefördert oder eher be-
hindert? Ich kann mich auch noch an Rogowski erin-
nern, den Arbeitgeberpräsidenten. Der war Ihrem Lager
eh bei weitem näher als jedem anderen hier im Haus. Er
wollte Tarifverträge verbrennen. Und Sie machen sich
zum Schutzpatron von Tarifverträgen! Darüber kann ich
nicht einmal mehr lachen. Das glaubt Ihnen doch kein
Mensch.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie argumentieren, dass die Tarifautonomie letztend-
lich eingeschränkt werden würde, wenn wir einen Min-
destlohn auf einem unteren Level festlegen würden.
Merkwürdigerweise sind die Gewerkschaften, also die
Träger dieser Tarifautonomie, selber dafür, dass Min-
destlöhne eingeführt werden. Diese sehen darin also kei-
nen Versuch, die Tarifautonomie einzuschränken. Sie tun
das aber.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat damit zu tun, dass die Arbeitgeber das anders sehen!)


Glauben Sie nicht, dass die Gewerkschaften selber
wissen, was für ihren Job wichtiger ist? Glauben Sie
wirklich, sie brauchen Sie dazu? Glauben Sie wirklich,
die Gewerkschaften brauchen den Rat der FDP dafür,
wie die Tarifautonomie zu verteidigen ist? Das wäre ge-
nauso, als wenn der FC Bayern Ihren Rat dafür brauchen
würde, wie man besser Tore schießt.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh!)


Die braucht er überhaupt nicht.

Genauso wenig brauchen die Gewerkschaften Ihren
Rat dafür, wie man Tarifverträge verteidigt; denn ich
sage Ihnen: Sie haben mit Tarifautonomie eigentlich
nichts am Hut. Wenn Sie im Kern Ihrer Gedanken wirk-
lich für Tarifautonomie wären, dann würden Sie dazu
beitragen, dass die Tarifautonomie gestärkt wird.

Was müssten Sie dann machen? Sie müssten dann da-
für sorgen, dass wir starke Gewerkschaften haben, die





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)


sich für höhere Löhne einsetzen. Ist das Ihre Position?
Das würde mich wundern. Seit wann ist die FDP für
starke Gewerkschaften? Sie müssten dann auch für eine
Ausweitung des Streikrechts eintreten, weil ein starkes
Streikrecht die Voraussetzung dafür ist, dass die Ge-
werkschaften im Rahmen der Tarifautonomie auch tätig
sein können. Sie sind mit Ihrer Politik doch mitverant-
wortlich dafür, dass es in der westlichen Welt nur noch
zwei Länder gibt, in denen weniger gestreikt wird als in
der Bundesrepublik, nämlich die Schweiz und den Vatikan-
staat. Darauf können Sie stolz sein.

Darum sage ich: Wenn Sie sich um die Tarifautono-
mie kümmern, dann habe ich immer leichte Bedenken.


(Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Schwere Bedenken!)


Durch die Politik, die wir hier heute auch diskutieren,
sind die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt worden:

Dafür war natürlich die Einführung von Hartz IV ver-
antwortlich, weil die Leute dadurch Angst vor Arbeits-
losigkeit haben, was die Kampfkraft der Gewerkschaften
natürlich nicht stärkt. Daneben nenne ich die Deregulie-
rung der Arbeit, die Tatsache, dass Beschäftigte befristet
eingestellt werden, die Leiharbeit und die Werkverträge,
Frau von der Leyen.

Sie nehmen die Gewerkschaften hier immer in die
Pflicht, das vernünftig zu regeln. Gleichzeitig tun Sie
aber nichts dafür, dass die Leiharbeit wieder beschränkt
wird, dass die befristete Beschäftigung eingedämmt wird
und dass der Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen,
egal wie sie bezahlt wird, beseitigt wird. Wenn das so
bleibt, dann schwächen Sie die Gewerkschaften. Des-
halb traue ich Ihnen beiden nicht über den Weg, wenn
Sie die Tarifautonomie verteidigen. Sie werden es mir
nachsehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann Ihnen auch sagen, dass trotz der Tarifver-
träge niedrige Löhne gezahlt werden: im Fleischerhand-
werk 6,19 Euro pro Stunde, in der Floristik 5,26 Euro
pro Stunde, im Garten- und Landschaftsbau – im
Westen – 6,25 Euro pro Stunde. Trotz der Tarifverträge!

Warum – Sie können hier auf die bösen Gewerkschaf-
ten schimpfen; die haben das abgeschlossen – ist das so?
Es ist so, weil die Voraussetzung für die Durchsetzung
eines vernünftigen Tarifvertrags ist, dass man stark ist
und streiken kann. Sonst sind Tarifverhandlungen nichts
als kollektives Betteln. Ich habe das oft erlebt. Ich sagen
Ihnen: Wir müssen, wenn wir Tarifautonomie und
Streikrecht verteidigen wollen, alles tun, um die entspre-
chenden Gesetze zu ändern – und das tun wir leider
nicht.

Ihre Politik ging in die Richtung: Gewerkschaften
schwächen, Löhne senken, und dann sollen es die Ge-
werkschaften über die Tarifautonomie wieder richten. –
Das haut nicht hin. Meine Damen und Herren, das, was
Sie eigentlich tun, ist die Verteidigung von Niedriglöh-
nen. Damit ist die seit Jahren praktizierte Haltung der
Parteien CDU, CSU und FDP mitverantwortlich für

Löhne, von denen Menschen nicht mehr leben können.
Heute hätten wir die Möglichkeit, das zu korrigieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ich komme aber nicht um-
hin, noch einmal anzusprechen, warum dieses Problem
überhaupt vorhanden ist. Kanzler Schröder hat explizit
gesagt, er möchte die Einführung eines Niedriglohnsek-
tors, und hat sich dafür selber gelobt. Dafür wird er von
der SPD auch heute noch auf den Sockel gestellt.

Es wird immer wieder behauptet, die SPD habe da-
mals den Mindestlohn nicht eingeführt, weil die Ge-
werkschaften dagegen gewesen seien. Das ist eine inte-
ressante Argumentation. Die Gewerkschaften waren ja
auch gegen die Agenda 2010, und trotzdem hat die SPD
sie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren auch gegen
die Rente mit 67, und trotzdem hat die SPD sie durchge-
setzt. Die Gewerkschaften waren gegen die Deregulie-
rung des Arbeitsmarktes, und trotzdem hat die SPD sie
durchgesetzt. Zu sagen „Die Gewerkschaften waren
schuld, dass wir den Mindestlohn nicht eingeführt ha-
ben“, das ist wirklich pure Heuchelei.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin trotzdem froh, dass Sie zumindest in dieser
Frage auf den Pfad der Tugend zurückgekommen sind.
Deshalb werden wir dem Entwurf eines Gesetzes über
die Festsetzung eines Mindestlohns zustimmen, obwohl
ich der geplanten Mindestlohnhöhe eigentlich nicht zu-
stimme; 8,50 Euro sind zu wenig. Das wäre ein Lohn zu-
lasten Dritter. Jeder, der einen solchen Lohn sein ganzes
Leben bekommt, ist später auf Grundsicherung im Alter
angewiesen. Das wollen wir nicht. Deshalb sind wir für
einen Mindestlohn von 10 Euro.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704300

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1723704400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine große Inszenierung war geplant. Die SPD-Fraktion
verfasst, wie ich jetzt feststellen muss, mit heißer Feder
einen Antrag „Deutschland 2020 – Gerecht und solida-
risch“. Der Kanzlerkandidat gibt den Arbeiterführer.
Wenn das, was Sie, lieber Peer Steinbrück, heute Mor-
gen hier abgeliefert haben, Ihr Ziel ist, dann muss ich sa-
gen: Das war einfach blamabel.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist deutlich geworden, warum Sie bei den Menschen
in diesem Lande nicht ankommen: weil das, was Sie sa-
gen, abgehoben wirkt. Sie stehen nicht für das, was Sie
sagen. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern.





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Sie reden viel über Chancengerechtigkeit; aber als
Kanzlerkandidat stehen Sie für eine Politik der Umver-
teilung. Das ist ein Widerspruch. Das passt nicht zusam-
men. Das muss man hier sehr deutlich feststellen. – Um-
verteilung, das ist die Sozialpolitik der Gleichheit. Das
mag für Sie noch gelten. Aber Chancengerechtigkeit, das
ist die Sozialpolitik der Freiheit, lieber Peer Steinbrück,
und damit hat die SPD und damit haben Sie persönlich
nichts am Hut. Das will ich hier einmal sehr deutlich sa-
gen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Wer’s nicht schafft, ist selber schuld! Das ist Ihr Credo!)


Immerhin hat er es geschafft – das muss ich einräu-
men –, zu dieser Debatte zu kommen. Als wir heute
Morgen über den Mittelstand gesprochen haben, den Sie,
lieber Peer Steinbrück, in Ihrer Rede ja so hoch gelobt
hatten, da konnten Sie Ihre Anwesenheit offensichtlich
nicht einrichten. Ich weiß nicht, ob Sie keine Lust oder
keine Zeit hatten oder ob einfach das schlechte Gewissen
Grund für Ihre Abwesenheit gewesen ist. Schließlich
wissen Sie natürlich, was Sie dem Mittelstand mit ihren
steuerpolitischen Vorhaben zumuten. Das geht an die
Wurzel unserer Volkswirtschaft. Den kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen, den Handwerksbetrieben, den
kleinen Einzelhändlern, den Freiberuflern wollen Sie ans
Zeug,


(Elke Ferner [SPD]: So ein Unsinn!)


und damit werden Sie eine erfolgreiche Wirtschaft nicht
auf- und ausbauen können.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Peer Steinbrück [SPD]: Ist doch alles Quatsch, was Sie sagen! Stimmt doch gar nicht! Unsinn!)


Wer die Wörter „Bildung“ und „Bildungsgerechtig-
keit“ in den Mund nimmt – nichts „hätte, hätte, hätte“,
lieber Peer Steinbrück –, der muss sich auch fragen las-
sen, wie es er bzw. die Parteifreunde, die Genossinnen
und Genossen, dort halten, wo sie die Mehrheit haben.
Bildung findet dadurch statt, dass Unterricht in Schulen
gegeben wird. Wie sieht es denn in einem Land wie Hes-
sen, schwarz-gelb regiert, aus? Da werden in diesem
Schuljahr 2 000 Lehrer neu eingestellt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Hat das was mit der Wahl zu tun, Herr Kolb?)


In Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün vor kurzem die
Macht übernommen hat, werden 7 000 Lehrerstellen ab-
gebaut.


(Guntram Schneider, Minister [NordrheinWestfalen]: Was?)


– Sie können gleich etwas dazu sagen, Guntram
Schneider. – Das ist das Gegenteil von Bildungsgerech-
tigkeit und Bildungschancen. Das hilft jungen Menschen
nicht weiter.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde führt, der
muss sich auch fragen lassen, wie er es mit der Leis-
tungsgerechtigkeit hält. Da ist das Thema „kalte Pro-
gression“ eines, das wir hier auf den Tisch bringen müs-
sen, und wir tun das auch heute; denn die SPD war es,


(Elke Ferner [SPD]: Was haben Sie selbst getan?)


die im Bundesrat verhindert hat, dass die Vorschläge
zum Abbau der kalten Progression Gesetz werden. Sie
haben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – der
Krankenschwester, dem Handwerker, dem Facharbeiter –
nicht gegönnt, dass sie, wenn sie eine Lohnerhöhung
oder Gehaltserhöhung erhalten, von dieser auch wirklich
profitieren. 3,5 Milliarden Euro wären das für die Men-
schen in diesem Lande gewesen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: So ein Unsinn!)


Die SPD, die einmal von sich behauptet hat, sie sei
die Partei der kleinen Leute,


(Elke Ferner [SPD]: Die kleinen Leute bezahlen überhaupt keine Steuern in diesem Land!)


hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss gegen
diese Vorhaben votiert.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist nicht wahr!)


– Das ist wahr, liebe Kollegin Ferner. Da können Sie hier
gestikulieren, wie Sie wollen. Das wird mit Ihnen am
Ende dieser Legislaturperiode nach Hause gehen.


(Elke Ferner [SPD]: Das werden wir ja sehen!)


Wir wollen die Menschen entlasten, wir wollen, dass
sie mehr Netto vom Brutto haben. Da, wo wir es konn-
ten, haben wir es getan: Durch die Senkung der Renten-
versicherungsbeiträge haben wir eine Entlastung um
10 Milliarden Euro realisiert. Da, wo wir Sie brauchten,
haben Sie die Hand verweigert.


(Elke Ferner [SPD]: Ich sage nur Mövenpick!)


Sie wollten die Menschen in diesem Lande nicht entlas-
ten,


(Elke Ferner [SPD]: Mövenpick!)


und es ist schändlich, dass Sie sich so verhalten haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das, was Sie sagten, lieber Peer Steinbrück, hat des-
wegen nicht verfangen, weil schon Ihr Ansatz der fal-
sche ist. Sie mussten ja selbst einräumen: Deutschland
ist ein starkes Land. – Ja, und auch die letzten vier Jahre
sind gute Jahre für Deutschland und für die Menschen in
Deutschland gewesen,


(Elke Ferner [SPD]: Trotz dieser Regierung, nicht wegen ihr!)


mit guten Arbeitsplatzchancen, mit guten Lohn- und Ge-
haltssteigerungen. Deswegen können Sie hier dann nicht





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


den Miesmacher geben, was Ihnen offensichtlich Ihre
Partei so aufgeschrieben hat. Wenn Sie also noch einmal
den Arbeiterführer versuchen, sollten Sie dies unbedingt
auch mit einem neuen Redenschreiber angehen.


(Zurufe von der SPD)


Das ist mein Rat, den ich Ihnen hier noch einmal sehr
deutlich mitgeben will.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nein, das, was die SPD hier präsentiert, ist politische
Beliebigkeit. Ich habe Ihren Antrag gelesen und sehe es
so ähnlich wie die Ministerin. Ich habe gedacht: Nach
der Agenda 2010 kommt jetzt ein großer Wurf, Deutsch-
land 2020. – Aber es ist wirklich viel heiße Luft. Ich
sage es Ihnen noch einmal: Bei einem zweiten Aufguss
kommt, wenn Sie sich einen Kaffee kochen, nur noch
eine dünne Brühe heraus. Genau das ist der Antrag der
SPD, der heute hier in Rede steht.


(Elke Ferner [SPD]: Die FDP brüht leider sehr dünn mit Ihrer Rede!)


Damit können Sie nicht erfolgreich sein.

Vier gute Jahre haben verdient, in die Verlängerung
zu gehen. Deswegen werden wir bis zum 22. September
dafür kämpfen und auch gewinnen. Deutschland hat vier
weitere gute Jahre verdient.


(Elke Ferner [SPD]: Am 22. September werden Sie abgewählt!)


Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704500

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen ist unsere Kollegin Frau Katrin Göring-Eckardt.
Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Frau von der Leyen, letzte Woche haben alle darauf
gewartet, dass Sie hier etwas sagen würden. Diese Wo-
che haben Sie geredet – um Ihr politisches Überleben.
Sie hatten nichts zu sagen, die eigenen Leute sind nicht
dagewesen, und Beifall haben Sie höchstens dünnen be-
kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das muss man vielleicht einmal klar und deutlich sa-
gen: Das, was Sie denjenigen vorwerfen, die die Agenda
2010 mit dem klaren Ziel auf den Weg gebracht haben,
zu fördern und zu fordern, haben Ihre Leute im Bundes-
rat gemacht,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


egal ob es um die Leiharbeit ging, egal ob es um das im-
mer weitere Herunterschrauben der Regelsätze ging. Das

waren Sie, das waren nicht SPD und Grüne. Sie sind die-
jenigen gewesen, die das verschlimmbessert haben,


(Elke Ferner [SPD]: Niedersachsen!)


gerade für die Arbeitslosen, gerade für die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer. Aber dann behaupten Sie
hier, Sie handelten.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Jetzt stehen Sie mal zu Ihren Fehlern!)


Frau von der Leyen, letzte Woche haben Sie weder
geredet noch gehandelt; aber das sei einmal dahinge-
stellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ansonsten sind Sie nichts weiter als eine große Ankün-
digungsministerin, auch heute wieder. Sie haben die Le-
bensleistungsrente angekündigt. Wo ist sie denn? Sie ha-
ben die Bekämpfung der Altersarmut angekündigt.
Nichts ist passiert. Sie haben angekündigt, als alle davon
redeten, dass der Stress am Arbeitsplatz zunimmt, Sie
machten eine Antistressverordnung. Nichts! Sie haben
Verbesserungen der Werkverträge angekündigt. Nichts!
Sie haben sich für den Mindestlohn eingesetzt. Nichts ist
passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihnen hat man eine komische Rede aufgeschrieben!)


Entgeltgleichheit, Quote – wir könnten jetzt eine Stunde
lang darüber reden, was Sie nicht gemacht haben. Das ist
peinlich, und das ist nicht im Sinne der Menschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Reden wir über die Realität. Herr Rösler hat diese
Woche seiner Partei gesagt, sie möge doch bitte einmal
beim Thema Mindestlohn die Lebensrealität der Men-
schen in den Blick nehmen. – Wir stellen fest: Die FDP
regiert seit vier Jahren, und zwar nach eigenen Angaben
seit vier Jahren an der Lebensrealität vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was ist die Realität?


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704600

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Kolb?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704700

Bitte schön.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1723704800

Liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, wären Sie be-

reit, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute in Deutschland
– Stichtag 25. April 2013 – für rund 4 Millionen Men-
schen Mindestlöhne gelten


(Elke Ferner [SPD]: Trotz der Regierung!)


und dass diese branchenbezogenen Mindestlöhne auf der
Basis von Tarifverträgen eingeführt wurden?

Wären Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
der weit überwiegende Teil dieser Mindestlöhne, näm-
lich für 3,8 von 4 Millionen Menschen, unter schwarz-
gelben Regierungen eingeführt wurde,


(Elke Ferner [SPD]: Aber doch nicht, weil Sie sie gemacht haben, sondern weil wir sie im Vermittlungsausschuss durchgesetzt haben!)


1996 im Baubereich beginnend und in dieser Legislatur-
periode für 2,1 Millionen Menschen fortgesetzt? Das
zeigt, dass wir die Realität der Menschen längst im Blick
haben und dass wir da, wo es erforderlich ist, entspre-
chend reagieren.

Was uns von Ihnen unterscheidet, ist, dass Sie glau-
ben, mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohn die Menschen glücklich machen zu können. Ich
sage Ihnen – ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen –:
Es ist eben nicht vorstellbar, dass ein gleiches Lohnni-
veau in der Oberlausitz, im Bayrischen Wald, in Ost-
friesland genauso Gültigkeit haben kann,


(Zurufe von der SPD: Frage!)


wie das beispielsweise im Rhein-Main- oder im Rhein-
Neckar-Raum, in Hamburg, Düsseldorf oder München
der Fall ist.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frage!)


Das geht nicht. Aber wir haben immer gesagt: Branchen-
bezogene Mindestlöhne gehen. Das ist der Weg, den wir
in Nürnberg weiter ins Auge fassen wollen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723704900

Das ist Ihre Frage.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kolb, ich meine, Sie müssen mit Ihrem Partei-
vorsitzenden darüber reden, warum er jetzt sagt, die FDP
müsse einmal die Lebensrealität zur Kenntnis nehmen.
Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich kann Ihnen aber sagen, wie die Situation tatsäch-
lich ist: 6,8 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten
für einen Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das sind diejeni-
gen, die arbeiten und dann aufstocken müssen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Aufstocken haben Sie eingeführt!)


Das sind diejenigen, bei denen nicht mehr von Leis-
tungsgerechtigkeit die Rede ist, sondern die zu echten
Hungerlöhnen in Deutschland arbeiten. Das sind zum
Teil übrigens auch diejenigen, die in Branchen mit bran-
chenspezifischen Mindestlöhnen arbeiten. Wissen Sie,
was passiert? Sie bekommen Löhne von zum Teil unter
5 Euro.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Was?)


Davon kann man nicht leben. Da kann man auch nicht
mehr davon reden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber
auf Augenhöhe miteinander verhandeln.

Diese Woche, sehr geehrter Herr Kolb, haben wir das
gesehen, von dem Sie behaupten, dass es nicht funktio-
niert: Diese Woche hat das Friseurhandwerk einen Min-
destlohn von 8,50 Euro verabredet.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es geht doch! Die Tarifpartner können es doch offensichtlich!)


Sie behaupten immer: In einem solchen Fall gehen die
Arbeitsplätze flöten. – Sie sind auf dem völlig falschen
Dampfer, Herr Kolb. Sie haben nicht in den Blick ge-
nommen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn für alle Ge-
rechtigkeit bedeutet.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie wollen gesetzlich da handeln, wo die Tarifpartner zu Ergebnissen kommen!)


Mit einem Mindestlohn bekommt man Fachkräfte und
vermeidet einen Flickenteppich in Deutschland nach
dem Motto: Die einen so, die anderen so. Wir sorgen da-
für, dass es eine gesetzliche Untergrenze gibt. Das hat
mit Gerechtigkeit zu tun. Das hat mit Leistungsgerech-
tigkeit zu tun. Das hat damit zu tun, dass man endlich
anerkennt, was die Leistung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer wert ist, Herr Kolb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will gerne bei der Lebensrealität bleiben. Drei
Viertel der über 7 Millionen Minijobberinnen und Mini-
jobber in Deutschland arbeiten für einen Stundenlohn
von weniger als 8,50 Euro. Das hat mit Leistungsgerech-
tigkeit nichts zu tun. Ein Viertel der Erwerbstätigen sind
inzwischen atypisch beschäftigt. Sie können mir doch
nicht sagen, dass Leiharbeit, dass befristete Beschäfti-
gung, dass geringfügige Beschäftigung, wie sie im Ar-
muts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufge-
listet werden, jedenfalls in dem Teil, den Sie mit
unterschrieben haben, irgendetwas mit einer Verbesse-
rung der Situation am Arbeitsmarkt zu tun haben. Das
Gegenteil ist der Fall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insbesondere die Situation der Frauen – da muss man
wieder Frau von der Leyen in den Blick nehmen – ist ein
Desaster. Fast jede dritte Frau in Deutschland arbeitet für
einen Niedriglohn. Die Zahl der Frauen, die von ihrer
Arbeit nicht leben können, hat sich seit 2005 verdoppelt.
Das ist doch keine Erfolgsbilanz, Frau von der Leyen.
Das ist definitiv das Gegenteil.





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Lebensrea-
lität in Deutschland, was Leiharbeit, Mindestlöhne, die
es nicht gibt oder die viel zu gering sind, und die Situa-
tion gerade der Minijobberinnen angeht, hat mit dem,
was Sie behaupten, nichts zu tun. Minijobberinnen be-
kommen in der Regel keinen Einstieg in eine reguläre
Beschäftigung. Sie, meine Damen und Herren von den
Koalitionsfraktionen, behaupten zwar ständig, Minijobs
seien eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Aber die
Frauen, die heutzutage Minijobs haben, kommen zum
allergrößten Teil nicht in reguläre Beschäftigung. Sie
landen entweder wieder zu Hause, in einer kleinen Teil-
zeitstelle oder in irgendwelchen Überbrückungsmaßnah-
men. Sie sind außerdem nicht abgesichert. Deswegen
brauchen wir zuallererst eine Gleichbehandlung der
Minijobs, wenn es beispielsweise um Arbeitslosigkeit,
Pflegebedürftigkeit und Urlaubsansprüche geht.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist gesetzlich geregelt!)


Entsprechende Sofortmaßnahmen würden den Mini-
jobberinnen und Minijobbern helfen und sie nicht länger
als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse
erscheinen lassen. Das sind sie heute tatsächlich. Die
meisten haben nur einen Minijob und nichts anderes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was mich am meisten aufregt, ist, dass Sie gerade die
Arbeitslosen in Deutschland, diejenigen, die arbeiten
wollen, zunehmend so behandeln, als ob diese nicht
mehr in Ihrem Fokus stünden. Sie haben beim Eingliede-
rungstitel immer weiter gekürzt. Nun wird wieder die
Diskussion aufkommen, ob pro Kopf gekürzt wurde
oder nicht. Ich sage Ihnen: Ja, Sie haben etwa ein Viertel
des Geldes für jede und jeden, die bzw. der in Deutsch-
land leistungsberechtigt ist, gekürzt. Das hat nichts mehr
mit Fördern zu tun. Gleichzeitig werden so viele Sank-
tionen ausgesprochen wie nie zuvor. Sie gängeln die
Arbeitslosen, anstatt ihnen zu helfen, wieder auf dem
ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Eine Alleinerzie-
hende, die Kinder unter drei Jahre aufzieht, braucht
natürlich Unterstützung und Hilfe. Deswegen sage ich
Ihnen ganz klar: Ihre Kürzungen gehen zulasten der
Leistungsberechtigten und der Arbeitslosen. Dabei
brauchen wir diese Menschen dringend als Fachkräfte in
unserem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damit sind wir beim Fachkräftemangel. Eric
Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelskammertags, hat gesagt, wir müssten jeden Mo-
nat 10 000 Einwanderer in Deutschland aufnehmen, um
dem Fachkräftemangel zu begegnen. Wir brauchen drin-
gend eine vernünftige Einwanderungspolitik, die das an-
geht. Ja, wir brauchen mehr Frauenerwerbstätigkeit. Ja,
wir brauchen mehr und besser ausgebildete Jugendliche.

Ja, wir brauchen eine Kultur gegen Altersarbeit. All das
brauchen wir.

Ich will abschließend sagen: Es geht nicht nur darum,
dass wir endlich dafür sorgen müssen, dass Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber wieder auf Augenhöhe sind,
sondern auch darum, ob Deutschland wettbewerbsfähig
ist, ob Fachkräfte hierherkommen und hierbleiben. Die
soziale Frage ist in ökonomischer Hinsicht mindestens
genauso entscheidend wie alles andere. Da haben Sie
versagt. Das müssen Sie sich in das Stammbuch schrei-
ben lassen. Auch darüber wird am 22. September ent-
schieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705000

Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist

Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl
Schiewerling.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1723705100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man reibt

sich verwundert die Augen und fragt sich: Schauen wir
auf die Realität, oder stehen wir mitten in einer Nebel-
wolke? Was Sie bislang hier abgeliefert haben, ist nichts
anderes als Nebelkerzen, die dazu dienen, den Blick auf
die Realität völlig zu verstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Bundesarbeitsministerin hat vorhin in aller Deut-
lichkeit dargelegt, wie sich die Arbeitsmarktsituation
entwickelt hat. Es gibt mehr sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigte. Wollen Sie uns eigentlich ankreiden,
dass 29,8 Millionen Menschen sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt sind? Wollen Sie uns wirklich an-
kreiden, dass nun insgesamt fast 42 Millionen Menschen
in Beschäftigung sind? Wollen Sie uns Rekordüber-
schüsse in den sozialen Sicherungssystemen ankreiden?
Wollen Sie uns eigentlich dafür ausschimpfen, dass es
den Menschen in unserem Land besser geht? Was ist das
denn für eine Mentalität, wie Sie über Deutschland
reden? Nutzen Sie den 1. Mai als Gelegenheit, um den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen: Noch
nie in den vergangenen Jahren haben die Menschen laut
Umfragen so wenig Angst um ihren Arbeitsplatz gehabt
wie heute. – Das ist die Realität, in der wir leben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


All dies haben wir übrigens erreicht, obwohl uns zu
Beginn dieser Koalition vorgeworfen wurde, wir würden
massiv in Rechte der Arbeitnehmer eingreifen wollen.
Nichts ist passiert. Der Kündigungsschutz wurde nicht
gelockert. Es hat keine Benachteiligung oder Hintanstel-
lung der Gewerkschaften gegeben. Trotzdem oder ge-
rade deswegen haben wir eine hervorragende Entwick-
lung auf dem Arbeitsmarkt und in unserer Wirtschaft.
Ich denke, das sind die Botschaften, die wir hier auszu-
senden haben.





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)


Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit unserer
Bundesarbeitsministerin ein Dankeschön dafür, dass sie
es ist, die immer wieder auf die Situation der Kinder und
Jugendlichen hinweist,


(Elke Ferner [SPD]: Schleim, Schleim, Schleim!)


dass sie es ist, die immer wieder das Urteil des Bundes-
verfassungsgerichtes zur Frage der Teilhabe von Kin-
dern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben auf-
greift und umsetzt.


(Widerspruch bei der SPD)


Ich verschweige auch nicht, Herr Kollege Heil und
alle anderen, dass wir diese Dinge im Vermittlungsaus-
schuss, in der gemeinsamen Runde zwischen Bundestag
und Bundesrat, verhandelt haben. Es war ein mühsames
Ringen. Aber die Initiative, den richtigen Weg einzu-
schlagen, hat die Bundesarbeitsministerin ergriffen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Abg. Elke Ferner [SPD]: Ich sage nur Chipkarte, Herr Schiewerling!)


Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt än-
dert nichts daran, dass es in Deutschland Branchen gibt,
in denen es der einen oder anderen Firma schlecht geht,
zum Beispiel Opel in Bochum, wo die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz bangen.
Heute diskutiert der Landtag in Nordrhein-Westfalen in
einer Aktuellen Stunde über die Situation von Opel in
Bochum. Ich habe mich doch sehr gewundert, dass der
zuständige Landesarbeitsminister nicht an seinem Ar-
beitsplatz in Düsseldorf ist, sondern sich hier befindet.


(Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein, das gibt es ja nicht! – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Der hat wohl nichts zu tun!)


Kommen wir zum Inhalt Ihres Antrages. Dort heißt
es: „Die Gesellschaft driftet auseinander.“ Hätten Sie
den viel zitierten Armuts- und Reichtumsbericht gele-
sen, dann hätten Sie gesehen, dass die verfügbaren
Einkommen steigen. Unter Rot-Grün ist die Einkom-
mensschere auseinandergegangen. Seit 2005 geht die
Einkommensspreizung zurück, und gerade die realen
Haushaltseinkommen der unteren 40 Prozent der Ein-
kommensbezieher sind stärker als beim Rest der Bevöl-
kerung gestiegen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Das ist die Wahrheit. Auch wenn das, was Sie verkün-
den, etwas anderes aussagt: Es stimmt nicht. Vor diesem
Hintergrund stellen Sie sich jetzt hin und sagen: Wir
machen alles noch gerechter, wir ändern dieses und jenes
und machen es solidarischer. Dabei gerät bei Ihnen im-
mer wieder die Zeitarbeit in den Mittelpunkt.

Ich kann es nur wiederholen: Die Änderungen in der
Zeitarbeit sind ohne den Bundesrat und ohne die Beteili-
gung der Union passiert. Rot-Grün hat in den Hartz-
Gesetzen die Zeitarbeit so flexibilisiert, dass sie diese
Entwicklung genommen hat.


(Anette Kramme [SPD]: Sie haben in der letzten Legislaturperiode den Mindestlohn für die Leiharbeiter verhindert!)


Ich kann nur sagen: Wir haben die Schlecker-Drehtür-
klausel eingeführt, um die Dinge gerechter zu machen.
Wir haben die Tarifpartner dazu gebracht, einen Min-
destlohn zu vereinbaren.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren doch dafür!)


Wir sind diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass die
Menschen in diesem Bereich nach und nach Equal Pay
bekommen, was übrigens den Gewerkschaften sehr ge-
nutzt hat. Vor kurzem haben uns noch Gewerkschafts-
vertreter gesagt, dass sie gerade aus der Zeitarbeit viele
neue Mitglieder gewinnen konnten,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine Strategie: Verelendungsstrategie!)


weil die Menschen gemerkt haben, dass die Gewerk-
schaften für sie vieles erreicht haben. Herzlichen
Glückwunsch! Wir freuen uns darüber. Das ist der rich-
tige Weg und eine gute Botschaft zum 1. Mai.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt wollen Sie doch wohl bei 29,8 Millionen sozial-
versicherungspflichtig Beschäftigten, von denen gerade
einmal 800 000 als Zeitarbeiter arbeiten, nicht das
blanke Elend Deutschlands beschwören. Sie wollen
doch wohl nicht die blanke Verelendung Deutschlands
an diesen 800 000 Menschen festmachen, die auch noch
Löhne erhalten, die die Gewerkschaften ausgehandelt
haben,


(Elke Ferner [SPD]: Jetzt sind die Gewerkschaften schuld!)


und zudem noch sukzessive Equal Pay bekommen. Ich
halte das für ein starkes Stück, was Sie den Deutschen
hier vorführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Ihre Rede ist ein starkes Stück!)


Lassen Sie mich einen Satz zu den Minijobs sagen,
weil Frau Göring-Eckardt gerade darauf eingegangen ist.
Auch dieses Thema ist dazu geeignet, riesige Nebel-
wolken zu erzeugen. 6,9 Millionen Menschen arbeiten in
Minijobs.


(Elke Ferner [SPD]: Mehr als 7 Millionen!)


Davon sind fast 20 Prozent Jugendliche bzw. Schüler
und Studenten. Dazu kommen 20 bis 25 Prozent Rentne-
rinnen und Rentner. Die Aufstockungsmöglichkeiten
und die Minijobs, die sich dann ausgeweitet haben
– auch das will ich Ihnen klar sagen, Frau Göring-
Eckardt –, sind ohne Zutun der CDU/CSU und der FDP
2003/2004 in den Hartz-Gesetzen verankert worden.





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)



(Anette Kramme [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Sie haben doch die Grenze im Vermittlungsausschuss nach oben getrieben!)


Sie haben die Möglichkeit eröffnet, dass man nicht
nur ein normales sozialversicherungspflichtiges Be-
schäftigungsverhältnis haben kann, sondern darüber
hinaus auch einen Minijob, der dann steuerlich nicht an-
gerechnet wird. Das haben nicht wir gemacht, sondern
Sie. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Minijobs
explosionsartig um 2,3 Millionen angestiegen. Auch das
gehört zur Wahrheit. Stellen Sie es hier nicht anders dar!


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben die Opt-out-Regelung eingeführt,


(Zuruf von der SPD)


sodass die Menschen, die jetzt einen Minijob haben,
rentenversicherungspflichtig arbeiten, es sei denn, sie er-
klären sich gegen die Versicherungspflicht. Das hat dazu
geführt, dass wir mittlerweile einen deutlichen Anstieg
der Zahl der rentenversicherungspflichtigen Minijobber
verzeichnen können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch kurz einen Satz zum Mindestlohn sagen.


(Zuruf von der SPD: Nein!)


Auch hier ist wirklich eine Nebelkerze geworfen wor-
den. Wir wollen den tariflichen Mindestlohn. Wir wollen
einen Mindestlohn, den Arbeitgeber und Gewerkschaf-
ten gefunden haben. Wir wollen den Mindestlohn, der
vor allen Dingen dort eingeführt wird, wo keine ordentli-
chen Tarifverträge bestehen.


(Elke Ferner [SPD]: Welchen denn?)


Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von Arbeitgebern
und Gewerkschaften erarbeitet wird. Das ist etwas völlig
anderes als ein hier im Parlament kurz vor den nächsten
Bundestagswahlen im Wettbewerb zwischen SPD, Lin-
ken und den Grünen nach oben getriebener Mindestlohn,
der jetzt bei der SPD bei 8,50 Euro liegt und bei den Lin-
ken bei 10 Euro. Ich bin gespannt, womit andere noch
kommen werden, ob er weiter nach oben getrieben wird.

Das ist keine ordentliche Arbeitsmarkt- und Sozialpoli-
tik. Diese Politik würde zu einer Zunahme der Jugend-
arbeitslosigkeit führen; denn es ist eine Politik der Ar-
beitsplatzvernichtung, wie wir in einigen Ländern
Europas beobachten können.


(Widerspruch bei der SPD)


Aber ein Mindestlohn, den die Tarifpartner finden, ist
vernünftig, ist sachgerecht und orientiert sich an der
Lebenswirklichkeit der Menschen.

Meine Damen und Herren, für diese ordentliche,
sachgerechte Politik werden wir uns weiter einsetzen.
Dafür werden wir kämpfen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ist das eine Drohung?)


Das ist Politik der Union. Wir verstehen unter sozialer
Gerechtigkeit, Menschen auch teilhaben zu lassen. –

Achten Sie darauf, dass Sie die Welt nicht so schwarz
malen, dass Sie hinterher selbst nicht mehr durchbli-
cken!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705200

Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minis-

ter für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nord-
rhein-Westfalen. – Bitte schön, Herr Guntram Schneider.


(Beifall bei der SPD)



(Nordrhein-Westfalen)


Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Kollege Schiewerling, eine Bemerkung: In
Nordrhein-Westfalen gibt es einen Arbeitsminister, der
auch etwas von Wirtschaft versteht,


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)


und es gibt einen Wirtschaftsminister, der auch etwas
von Arbeit versteht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir arbeiten da im Team, und machen Sie sich keine
Sorgen über die Präsenz des Wirtschafts- und des
Arbeitsministers bei der heutigen Plenardebatte in Düs-
seldorf zum Thema Opel.


(Zuruf von der CDU/CSU: Waren Sie schon bei Opel?)


Im Übrigen hat ja Ministerpräsident Rüttgers schon ein-
mal durch persönliche Anwesenheit


(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Schneider, waren Sie schon da?)


in Detroit Opel in Bochum gerettet. Ich habe mir sagen
lassen, er ist kaum über das Pförtnerhäuschen hinausge-
kommen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Auch dies gehört zu den Realitäten.

Verehrte Frau Bundesministerin, Sie haben den Bei-
trag von Herrn Steinbrück als jämmerlich bezeichnet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von CDU/CSU und FDP: Zu Recht!)


Ich muss Ihnen eines sagen: Es ist jämmerlich, wie Sie,
obwohl noch im Amt, mit der Sozialgeschichte um-
gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es waren doch nicht Sie, die den Mindestlohn in der
Zeitarbeit eingeführt haben. Dieses Thema ist im Rah-
men der Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabe-
paket verhandelt worden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Minister Guntram Schneider (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


und wir haben Ihnen dies abgerungen. Da waren Sie
noch gar nicht so weit,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und die Herren Schiewerling und Kolb waren auch intel-
lektuell noch nicht so weit,


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU: Oje, oje!)


um zu verstehen, dass dies notwendig ist.

Ähnlich war es auch mit der Schulsozialarbeit. Auch
da haben wir einen großen Wurf gelandet. Jetzt geht es
darum, hier Anschlussregelungen zu finden, weil sich
herausgestellt hat: Die Benachteiligung von armen Kin-
dern kann man nicht nur mit Geld ausgleichen, sondern
man muss vor allem die Strukturen verbessern. Dabei
spielt die Schulsozialarbeit eine herausragende Rolle.

Meine Damen und Herren, natürlich gibt es in unserer
Gesellschaft nicht nur Armut. Auch der nordrhein-west-
fälische Armuts- und Reichtumsbericht – wir waren da
schneller als die Bundesebene; wir brauchten nicht so
viel nachzuarbeiten –


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Ihr Land ist auch kleiner!)


zeigt auf: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehr
Menschen, denen es gut bis sehr gut geht; andererseits
gibt es immer mehr Menschen, denen es schlecht geht,
die arm sind. – Wir verkleistern da nichts; das überlassen
wir anderen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das merkt man!)


700 000 arme Kinder in Nordrhein-Westfalen, das ist
skandalös.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zustimmung des Abg. Karl Schiewerling [CDU/CSU])


Wir halten uns an die alte Maxime: Politik beginnt da-
mit, dass man sagt, was Sache ist,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Das haben Sie schon ein paarmal gesagt! Man muss aber nicht nur sagen, was Sache ist! Man muss auch was verändern! Man muss mal handeln!)


und nicht mit schöngeistigen Verkleisterungen, die dafür
sorgen, dass die Realitäten nicht zum Vorschein kom-
men.

Es gibt also immer mehr Armut. Natürlich haben wir
auch mehr versicherungspflichtige Beschäftigung. Aber
ich sage Ihnen nochmals: Sozial ist nicht, was Arbeit
schafft


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Was?)


– Sie haben es immer noch nicht begriffen! –, sondern
sozial ist, was gute Arbeit schafft.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Horst Schlämmer!)


Zur guten Arbeit gehört, dass man mit dem Einkommen
sein Auskommen hat. Weil das in immer weniger Berei-
chen der Fall ist, brauchen wir einen allgemeinen gesetz-
lichen Mindestlohn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Sie wollen im Grunde genommen das Gegenteil. Sie
wollen eine Regelung, die zu einem Flickenteppich füh-
ren würde.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist doch Unfug! Das ist geistige Armut!)


Sie reden immer noch davon, dass die Höhe der Ein-
kommen entscheidend dafür ist, welche Qualität und
Güte Arbeitsplätze haben. Nach dieser Logik müsste
Mecklenburg-Vorpommern eine blühende Wirtschafts-
landschaft sein und München das Armenhaus der Repu-
blik. Bekannterweise ist das nicht so. Natürlich spielt die
Höhe der Einkommen eine Rolle; aber das ist nicht ent-
scheidend.

Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, einem Indus-
trieland; da funktioniert die Tarifautonomie noch.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aber sonst nichts!)


Aber wir haben auch Unternehmen, in denen der Kran-
kenstand höher ist als der gewerkschaftliche Organisa-
tionsgrad. Da können Sie nicht erwarten, dass es über die
Tarifvertragsparteien zu ordentlichen Mindestlöhnen
kommt. Deshalb brauchen wir gesetzliche Regelungen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Misstrauen gegen die Gewerkschaften!)


Wir beginnen hier mit 8,50 Euro.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beginnen! Und wo geht die Reise hin?)


Wir wollen keine parteipolitische Auseinandersetzung
um die Höhe des Mindestlohns.


(Lachen bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der war gut! – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Da sind wir schon! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das dümmliche Gelächter zeigt die intellektuelle Überforderung!)


Wir wollen ein Modell in Anlehnung an das, was in
Großbritannien praktiziert wird. Da gibt es eine Kom-
mission, die unter Einbeziehung der Preissteigerungs-
rate, der Lohnentwicklung und der allgemeinen Produk-
tivitätsentwicklung – das ist das Entscheidende –
Vorschläge für die Fortentwicklung des allgemeinen ge-





Minister Guntram Schneider (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


setzlichen Mindestlohns macht. Auf diesem Wege sind
keine Arbeitsplätze gefährdet worden.

Natürlich kann man Mindestlöhne nicht nach Gutdün-
ken festsetzen.


(Heiner Kamp [FDP]: Das machen Sie doch!)


Mindestlöhne müssen auch durch wirtschaftliche Leis-
tung untersetzt werden.


(Heiner Kamp [FDP]: Das ist ein Widerspruch in sich!)


– Das ist kein Widerspruch in sich. Wenn das ein Wider-
spruch in sich wäre, dann hätten wir in 21 Ländern in der
Europäischen Union wirtschaftliche Hasardeure.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In jedem Fall haben wir da hohe Arbeitslosigkeit, hohe Jugendarbeitslosigkeit!)


– Die haben doch keine hohe Arbeitslosigkeit wegen der
Mindestlöhne.


(Widerspruch bei der FDP)


Vereinfachen Sie doch nicht das Problem!


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie nicht gesagt, der Sozialminister habe Ahnung von Wirtschaft? Sie beweisen gerade das Gegenteil!)


Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:
Über 80 Prozent der Menschen wollen einen allgemei-
nen gesetzlichen Mindestlohn. Sie sollen nicht die Letz-
ten sein, die ihn bekommen; ich stelle dies so fest. Wenn
Sie weiter argumentieren wie bisher, dann werden Sie zu
den letzten ökonomischen Exoten in diesem Land gehö-
ren. Deshalb noch einmal: Passen Sie auf! Sie werden
nicht darum herumkommen, hier zu handeln.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Waren Sie da oder nicht? Sie haben die Frage nicht beantwortet!)


Die Frau Bundesministerin hat ein wichtiges Stich-
wort genannt: Einwanderungspolitik. Sehr richtig. Auch
ich bin davon überzeugt, dass wir eine organisierte Ein-
wanderung brauchen. Aber wenn Sie dies durchsetzen
wollen, Frau von der Leyen, dann haben Sie in Ihrer ei-
genen Partei noch viel Aufräumarbeit zu leisten. Ich er-
lebe das in NRW jeden Tag.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Konservativen haben immer noch nicht verstanden,
dass wir ein Einwanderungsland sind. Ich warne davor,
mit stumpfen Ablehnungen gegenüber allem, was
fremdartig ist, unsere Möglichkeiten für eine organi-
sierte Einwanderung zunichtezumachen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das passt nicht zusammen. Ich erlebe das beim Thema
Roma. Der nordrhein-westfälische Oppositionsführer
will sie ausweisen, obwohl das nach der EU-Gesetzge-

bung gar nicht geht. Die Einwanderungspolitik der CDU
ist: Raus, raus, raus! – Dies muss ich leider sehr oft zur
Kenntnis nehmen.


(Zuruf von der FDP: Reden Sie einmal zum Thema!)


Meine Damen und Herren, ich sprach von der guten
Arbeit. Dazu gehört die Zurückdrängung befristeter Ar-
beitsverhältnisse. Es ist skandalös, wenn unter 25-Jäh-
rige kaum mehr die Möglichkeit haben, ein unbefristetes
Arbeitsverhältnis einzugehen. Das geht nicht so weiter.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine neue Regulierung der Leiharbeit. Wir
wollen sie nicht abschaffen. Wir wollen sie zurückführen
auf ihren eigentlichen Sinn. Wir brauchen generell eine
Offensive für bessere, auch gesunderhaltende Arbeit.
Wenn die Menschen länger im Erwerbsprozess bleiben
sollen und müssen, dann müssten wir eine breite Offen-
sive zur Humanisierung der Arbeit starten, wie sie Hans
Matthöfer, der ehemalige Leiter der Bildungsabteilung
der IG Metall, ins Leben gerufen hat.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705300

Herr Landesminister, –


(Nordrhein-Westfalen)


Ich bin gleich fertig.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705400

– ich möchte nur sagen: Wenn Sie Abgeordneter wä-

ren, würde ich Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Aber Sie sind Landesminister und haben hier Rederecht.


(Nordrhein-Westfalen)


Vielen Dank dafür.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Gut, dass der Föderalismus dies vorsieht.

Die Menschen müssen länger gesund im Erwerbspro-
zess verbleiben können. Dies wird eine große Aufgabe
für die nächste Wahlperiode sein.

Herr Kolb, Sie sprachen von Arbeiterführern. Arbei-
terführer haben, soweit es sie noch gibt, im Allgemeinen
keine Redenschreiber.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Steinbrück schon!)


Sie sagen, was in der Gesellschaft passiert.


(Zuruf von der FDP)


– Ja, das ist die liberale Abart von Arbeiterführern. Da-
rüber kann man reden. Das ist aber nicht unser Vorge-
hen; das wollen wir nicht. Seien Sie sich, was die Mehr-
heiten in diesem Lande angeht, nicht so sicher. Am
13. Mai letzten Jahres war die Landtagswahl in NRW.





Minister Guntram Schneider (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da war die FDP gar nicht so schlecht!)


Am 1. Mai schien noch alles verloren. Passen Sie auf!
Seien Sie nicht so selbstzufrieden! Wir werden schon die
richtigen Mehrheitsverhältnisse für eine soziale und de-
mokratische Zukunft herbeiführen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir arbeiten daran!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705500

Vielen Dank, Herr Landesminister. – Nächster Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Johannes
Vogel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1723705600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte mit einem Zitat von Ihnen, Herr Steinbrück, be-
ginnen. Sie haben vor einiger Zeit in der Zeit geschrie-
ben:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber da war er noch nicht Kandidat!)


Wenn die SPD unter dem Druck von Identitätspro-
blemen … diesen Reformprozess

– Sie meinten die Agenda 2010 –

abbrechen oder bis zur Unkenntlichkeit – und damit
Unwirksamkeit – verdünnen sollte, dann verlöre sie
nach meiner Überzeugung mehr als die Regierungs-
fähigkeit. Sie verlöre ihren … Anspruch, … eine
Partei der Veränderung im Sinn ihrer Grundwerte
gewesen zu sein.

Herr Steinbrück, kann es sein, dass Sie heute hier so lust-
los gesprochen haben, weil im Wahlprogramm der SPD
genau das steht, was Sie beklagt haben?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Kann es sein, dass das Ihr Motivationsproblem ist?

Frau Göring-Eckardt, Sie haben uns eben fachpoli-
tisch mit dem Thema Minijobs beglückt. Ich will nur da-
rauf hinweisen, dass die Minijobs kein gutes Beispiel
sind, um die angebliche Verderbtheit am Arbeitsmarkt
darzustellen. Drei Viertel aller Minijobber wollen genau
das, nämlich einen Minijob. Sie bekommen im Übrigen
netto alles andere als einen Niedriglohn. Das zeigt in
meinen Augen vor allem, dass Sie mit fachpolitischen
Arbeitsmarktdebatten sonst nicht viel zu tun haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kann es sein, dass Sie hier davon ablenken wollen, dass
vonseiten Ihrer eigenen Partei bemerkenswerte Sätze
kommen? Ich habe hier ein Zitat von Herrn Palmer, der
sich vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonn-

tagszeitung mit Blick auf Ihr Wahlprogramm folgender-
maßen äußerte:

In der Summe machen wir damit die Flexibilisie-
rung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es!)


auf die wir früher zu Recht stolz gewesen sind –
weil sie vielen Menschen einen Job verschafft hat.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Recht hat er! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird nicht besser, wenn Sie das vorlesen!)


Kann es sein, dass Sie deshalb hier so lustlos gesprochen
haben, weil Sie wissen, dass das, was in Ihrem Wahlpro-
gramm steht, und die Realität in Deutschland – gute
Arbeitsmarktlage und gute Perspektiven für die Men-
schen – nicht zusammenpassen?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Peer Steinbrück [SPD]: Ich finde Sie ziemlich lustlos! Das ist eine sehr lustlose Rede, die Sie da halten! Werden Sie mal ein bisschen leidenschaftlicher!)


Wir, die Kollegen und die Ministerin – das wurde
schon dargestellt –, haben für bessere Perspektiven für
die Menschen in Deutschland gesorgt. Es waren vier
gute Jahre für die Menschen in Deutschland. Deswegen
werben wir dafür, dass diese vier guten Jahre um vier
weitere gute Jahre unter schwarz-gelber Verantwortung
verlängert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte auch ein bisschen auf Nordrhein-Westfa-
len eingehen, weil ich selber von dort komme und weil
ein nordrhein-westfälischer Landesminister hier gespro-
chen hat. Herr Steinbrück, Sie sprachen gerade von der
vorsorgenden Sozialpolitik – das ist die große Über-
schrift, unter die die Ministerpräsidentin Nordrhein-
Westfalens von der SPD ihre Politik stellt – und haben
Ihren Antrag damit begründet. Die Ministerin hat eben
zu Recht darauf hingewiesen, dass sich diese Koalition
sehr wohl Gedanken darüber macht, was jetzt kommen
muss und wie eine Agenda 2020 für Deutschland aus-
sieht. Ein wesentlicher Bestandteil muss natürlich – Herr
Steinbrück, da gebe ich Ihnen recht – der Punkt „Auf-
stiegschancen durch Bildung“ sein. Schauen wir uns
doch einmal an, was Nordrhein-Westfalen in diesem Be-
reich tut! Herr Schneider, Sie haben eben von Gerechtig-
keit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen leben 22 Pro-
zent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.
Die Neuverschuldung Ihrer Landesregierung macht aber
60 Prozent aller Neuverschuldungen der Bundesländer
aus.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist es!)


Das kann vieles sein; aber mit Generationengerech-
tigkeit hat das nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte noch etwas ausführlicher auf dieses
Thema eingehen, da es etwas über Ihre Politik aussagt
und zeigt, was unter Ihrer Verantwortung im größten
Bundesland passiert: Obwohl Sie in Nordrhein-Westfa-
len so viele Schulden machen, wurde die Anzahl der
Stellen aller Landesministerien um 70 erhöht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)


Das geschah übrigens nicht nach Bedarf, sondern ein-
fach per Quorum, auf alle Landesministerien verteilt.


(Elke Ferner [SPD]: Soll ich Ihnen mal vorrechnen, was Ihre Partei im Saarland, als Sie an die Regierung gekommen sind, an neuen Stellen geschaffen hat?)


Anstatt zu sparen und den Staat effizienter zu machen,
geben Sie Geld aus, das Sie sich zulasten der jungen Ge-
neration gepumpt haben, Herr Minister.


(Elke Ferner [SPD]: Gucken Sie doch mal ins Gesundheitsministerium! Das ist sensationell!)


Wenn es allerdings darauf ankommt, dann kürzen Sie.
Gerade erst haben Sie wieder einen Kürzungsvorschlag
gemacht. Die Schulministerin in Nordrhein-Westfalen
hat kürzlich angekündigt, beim Vertretungsunterricht zu
kürzen, Herr Minister.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)


Der Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-West-
falen sagt, das entspreche einer Kürzung von
500 Lehrerstellen. Herr Minister Schneider, lieber Herr
Steinbrück, so stellen wir uns vorsorgende Sozialpolitik
nicht vor – ganz sicher nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Bildungsgerechtigkeit hat das gar nichts zu tun!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705700

Haben Sie Ihre Redezeit im Auge?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1723705800

Ich komme zum letzten Satz. – Dem steht eine

schwarz-gelbe Bundesregierung gegenüber,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vier gute Jahre!)


die 1 Milliarde Euro mehr für Bildung und Weiterbil-
dung in der Arbeitsmarktpolitik ausgibt, obwohl es
1 Million weniger Arbeitslose gibt als zu Ihrer Zeit, und
die auch sonst sehr erfolgreich für Einstiegs- und Auf-
stiegschancen auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Wir können
darüber in den nächsten Monaten gerne diskutieren und
die Bevölkerung bei der Bundestagswahl darüber ent-
scheiden lassen. Ich bin mir sicher: Die Wählerinnen
und Wähler werden entscheiden, dass es vier weitere
gute Jahre mit einer schwarz-gelben Bundesregierung
geben wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Ohne Sie, Herr Vogel!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723705900

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion von CDU und CSU der Kollege Peter Weiß.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723706000

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Im Matthäus-Evangelium heißt es: „An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen.“ Wohlgemerkt: Nicht an ihren
wohlklingenden Reden und nicht an ihren wohlformu-
lierten Anträgen im Bundestag, an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie sich das mal zu Herzen! – Elke Ferner [SPD]: Ist das jetzt Kritik an Frau von der Leyen?)


Insofern muss man in einer solchen Debatte, wenn
man sie ehrlich führt, auf die rot-grüne Regierungszeit
unter Gerhard Schröder zurückkommen. Gerhard
Schröder hat am 28. Januar 2005 vor dem Weltwirt-
schaftsforum in Davos Folgendes gesagt:

Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren
aufgebaut, den es in Europa gibt.

Das war die große Botschaft von Rot-Grün: Wir haben
den größten Niedriglohnsektor, den es je in Deutschland
gegeben hat, aufgebaut. – Alle Probleme, die Herr
Steinbrück, Herr Schneider und Frau Göring-Eckardt
hier angesprochen haben, alle Probleme, die in den An-
trägen, die hier vorliegen, beschrieben werden, sind
Früchte rot-grüner Politik. „An ihren Früchten sollt ihr
sie erkennen.“


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist in der Tat beschämend, dass keiner der Redne-
rinnen und Redner zu dieser Verantwortung gestanden
hat. Ihre Glaubwürdigkeit ist Ihr größtes Problem. Der
Unterschied zwischen Reden und Handeln ist bei Rot-
Grün so groß, dass ich allen Wählerinnen und Wählern
in Deutschland nur zurufen kann: Traut denen nicht, die
nicht zu ihren Taten stehen, die heute anders reden!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das ist ein Misstrauensvotum an Frau von der Leyen!)


Es ist eben so: Sie haben für eine Deregulierung der
Zeitarbeit gesorgt. Wir haben erste Regulierungen wie-
der eingeführt. Die Einkommensspreizung – schauen Sie
im Armuts- und Reichtumsbericht nach! – hat ausge-
rechnet in der rot-grünen Regierungszeit massiv zuge-
nommen. Jetzt wird dies langsam wieder korrigiert. Un-
ter Rot-Grün gab es Massenarbeitslosigkeit; heute haben
wir die geringste Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der
Wiedervereinigung. Ich könnte weitere Punkte aufzäh-
len, auch was das Thema Lohn anbelangt. Heute gibt es
zwölf branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland.
Nur ein einziger davon wurde in der rot-grünen Regie-
rungszeit in Kraft gesetzt, elf unter der Verantwortung
einer christdemokratischen Kanzlerin. „An ihren Früch-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


ten sollt ihr sie erkennen“, nicht an dem hohlen Gerede,
dem keine Taten folgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch uns reichen zwölf branchenbezogene Mindest-
löhne nicht aus. Deswegen haben wir von der Union vor-
geschlagen, einen allgemeinen tariflichen Mindestlohn
in Deutschland einzuführen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Mogelpackung!)


Aber es gibt einen Unterschied zu den Vorschlägen der
Sozialdemokraten und der Grünen und zum hier vorlie-
genden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wir wollen,
dass die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervertreter, die
Gewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen, den
Mindestlohn in einer Kommission miteinander aushan-
deln


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch!)


und die Bundesarbeitsministerin anschließend dieses
Verhandlungsergebnis für allgemeinverbindlich erklärt,
sodass es in ganz Deutschland zwingend durchzusetzen
ist.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie doch mal was vor, Herr Weiß!)


Auch im Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine Kom-
mission vorgesehen. Aber diese Kommission soll erst ta-
gen dürfen, wenn der Bundestag einen Beschluss gefasst
hat, dass der Mindestlohn zum Beispiel 8,50 Euro betra-
gen muss. Dann darf diese Kommission über die Weiter-
entwicklung des Mindestlohnes beraten. Wenn das Bera-
tungsergebnis dem Bundesarbeitsminister nicht passt,
darf er dieses Beratungsergebnis in den Papierkorb
schmeißen und machen, was er machen will. – Es ist
doch eine Verhöhnung der Gewerkschaften und der Ar-
beitgeberverbände, sie einzuladen, in einer Kommission
einen Mindestlohn auszuhandeln, und anschließend das
Verhandlungsergebnis in den Papierkorb zu schmeißen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag
ist in Wahrheit ein Vorschlag zur Stärkung der Tarifauto-
nomie. Herr Steinbrück hat die Frage aufgeworfen: Was
hat Deutschland stark gemacht? Ich sage: Deutschland
hat stark gemacht, dass starke Gewerkschaften und
starke Arbeitgeberverbände gute Tariflöhne für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land ver-
einbart haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Warum folgen die Gewerkschaften Ihrem Vorschlag nicht, Herr Weiß, wenn er doch so gut ist?)


Es ist doch für einen Arbeitnehmer nur dann interessant,
in eine Gewerkschaft einzutreten, wenn er weiß: Diese
Gewerkschaft handelt tatsächlich einen Lohn aus.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723706100

Herr Kollege Weiß, Sie haben es gesehen: Es gibt

eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus Ernst.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723706200

Ja, gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723706300

Bitte schön, Herr Kollege.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723706400

Herr Weiß, Sie haben gerade die Gewerkschaften an-

gesprochen. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass sich
die Gewerkschaften, die Sie in ihrer Tarifautonomie stär-
ken wollen, explizit für den Mindestlohn aussprechen?
Glauben Sie, dass die nicht wissen, was sie tun? Oder
könnte es nicht sein, dass sie vielleicht besser wissen,
was ihnen guttut?

Zweitens. Wenn in einer Kommission nur dann ein
Ergebnis zustande kommt, wenn sich beide, also Arbeit-
geber und Arbeitnehmer, einig sind, eine Seite aber er-
klärterweise kein Interesse an der Einführung eines Min-
destlohnes hat, wie man es bei der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände erkennen kann, be-
deutet das dann nicht, dass die eine Seite der Kommis-
sion ein Vetorecht in Bezug auf die Einführung des Min-
destlohns hat? Ist dann nicht das Ergebnis, dass kein
Mindestlohn zustande kommt bzw. einer, der so niedrig
ist, dass man darauf auch verzichten könnte?

Drittens. Sind Sie nicht auch der Auffassung, Herr
Weiß, dass die Voraussetzung dafür, dass die Gewerk-
schaften ihre Tarifautonomie ausüben können, ein star-
ker gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist? Wir haben
aber eine abnehmende Tarifbindung und abnehmende
Organisationsgrade zu verzeichnen und müssen konsta-
tieren, dass immer schlechtere Tarifverträge bei den Ver-
handlungen herauskommen. Es gibt Tarifverträge, in de-
nen eine Bezahlung von weit unter 8,50 Euro vereinbart
wurde. Müssen wir als Bundestag nicht eingreifen, um
die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu sichern?

Fazit: Ist es nicht besser, die Tarifautonomie dadurch
zu stärken, dass man einen Mindestlohn einführt, auf
dessen Grundlage die Gewerkschaften über vernünftige
Löhne verhandeln können? Dadurch würden die Ge-
werkschaften gestärkt. Das wäre besser, als den Gewerk-
schaften den Mindestlohn zu verweigern.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war jetzt die Intervention eines Gewerkschaftsführers!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723706500

Herr Kollege Ernst, ich nehme Ihre Frage gerne zum

Anlass, Ihnen unser Konzept noch einmal zu erläutern.

Erstens. Der Vorschlag der Unionsfraktion sieht vor,
dass man sich einigen muss, notfalls durch Schlichtung;
sprich: Die Mindestlohnkommission muss zu einem Er-
gebnis kommen.





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)



(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lotto ist das!)


Sie kann eine Einigung nicht auf ewig vertagen.
Zweitens. Wenn für die Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer klar ist, dass der Mindestlohn durch das
Parlament festgesetzt wird und nicht durch die Gewerk-
schaften, warum sollen sie dann noch in eine Gewerk-
schaft eintreten?


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Damit sie noch höhere Löhne bekommen!)


Wenn klar ist, dass der Mindestlohn durch den Bundes-
tag festgesetzt wird und nicht durch die Arbeitgeber-
organisationen, die mit den Gewerkschaften verhandeln,
warum sollen die Unternehmer dann in einen Arbeitgeber-
verband eintreten? Die Erosion der letzten Jahre in den
Bereichen Gewerkschaftsmitgliedschaft und Tarifbindung
der Unternehmen würde weiter zunehmen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Liegt das an zu hohen Löhnen?)


Unser Vorschlag ist: Gewerkschaften und Arbeitgeber-
verbände verhandeln den Mindestlohn. Er wird später
von der Regierung in Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass
ich als Arbeitnehmer in die Gewerkschaft eintreten
muss, um sie für die Verhandlungen stark zu machen. Ich
muss als Unternehmer in den Arbeitgeberverband eintre-
ten, um die Interessen meines Unternehmens bei den
Verhandlungen geltend zu machen. – Unser Vorschlag
führt im Gegensatz zu dem, was der Bundesrat vor-
schlägt, tatsächlich dazu, dass die Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände wieder stark werden, wodurch die
Tarifautonomie in Deutschland insgesamt gestärkt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum wollen das die Gewerkschaften nicht? Meine Frage haben Sie nicht beantwortet! In keiner Weise!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um es noch ein-
mal klar zu sagen: Wir wollen einen allgemeinen tarif-
lichen Mindestlohn und damit die Tarifautonomie stärken.
Das ist die Botschaft, mit der wir in den Bundestags-
wahlkampf gehen. Wir wollen aber noch mehr. Wir wol-
len, dass der Respekt vor geleisteter Arbeit durch eine
Erneuerung des Aufstiegsversprechens aus der Wirt-
schaftswunderzeit gestärkt wird. Wer arbeitet, wer sich
qualifiziert, muss im Normalfall ein existenzsicherndes
Einkommen erwarten dürfen. Das ist ein breiter Wohl-
standsbegriff im Sinne Ludwig Erhards. Voraussetzung
dafür ist vor allem eine wettbewerbsfähige Wirtschaft.
Diese entwickelt sich natürlich nicht mit Dumping-
löhnen, sondern mit hervorragend qualifizierten Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen noch mehr
als bisher eine Gesellschaft, in der alle entsprechend ih-
ren Fähigkeiten und Neigungen – ungeachtet ihrer Her-
kunft – gute Bildungschancen und damit Möglichkeiten
zu persönlicher Entfaltung und sozialem Aufstieg haben.
Sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit, das ist un-
sere Agenda, auf die wir setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind es, die zum Beispiel den Bildungsetat dieses
Bundeshaushaltes – beim Abtritt von Schröder 2005 wa-
ren es rund 9 Milliarden Euro – auf über 13 Milliarden
Euro gesteigert haben. „An ihren Früchten sollt ihr sie
erkennen.“


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind diejenigen, die die Arbeitslosigkeit massiv ab-
gebaut haben, die dafür gesorgt haben, dass seit 2007
40 Prozent der Langzeitarbeitslosen, die es besonders
schwer haben, wieder in Arbeit gekommen sind.

Wir wollen nach der Bundestagswahl unsere erfolg-
reiche Arbeit für mehr Aufstiegschancen für alle in
Deutschland durch Bildung und Arbeit fortsetzen. „An
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723706600

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen ist unsere Kollegin Brigitte Pothmer. – Bitte
schön, Frau Kollegin.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723706700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Weiß, habe ich Sie richtig verstanden: Sie unterstützen
diese niedrigen Löhne, um auf diese Weise die Gewerk-
schaften zu stärken?


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Nein, Sie haben es nicht verstanden!)


Das ist eine Verelendungsstrategie, die mir noch aus
meiner Studierendenzeit vom KBW bekannt ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass Sie diese jetzt verfolgen, ist allerdings neu.

Es wurde gerade sehr viel über Gerechtigkeit geredet.
Das zentrale arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitskonzept
ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Er steht
nicht nur symbolisch für Wert und Würde der Arbeit. Zu
dieser Frage müssen Sie von der Regierungskoalition
sich verhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. René Röspel [SPD])


Nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen
Jahren haben Sie nichts weiter gemacht, als die immer
gleiche Behauptung zu wiederholen, flächendeckende
Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten. Frau
Merkel hat sich in einem Bild-Interview sogar zu der
These verstiegen, die Arbeitslosigkeit in vielen europäi-
schen Ländern sei deswegen so hoch, weil es zu hohe
Mindestlöhne gebe. Ich frage mich, anhand welcher
Länder sie diese These verifizieren will.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Frankreich zum Beispiel! – Pascal Kober [FDP]: Frankreich! – Brigitte Pothmer Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Frankreich: 25 Prozent Arbeitslosigkeit!)





(A) (C)


(D)(B)


Meint sie vielleicht Großbritannien? Es hat seit 1999
Mindestlöhne, und es gibt keinerlei negative Beschäfti-
gungseffekte. Oder meint sie vielleicht die Niederlande?
Sie haben einen Mindestlohn von 9,18 Euro und eine Ar-
beitslosenquote von 6,4 Prozent.


(Pascal Kober [FDP]: Jetzt sagen Sie mal was zu Frankreich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und Frankreich?)


Nein, die höchste Arbeitslosigkeit in Europa haben wir
derzeit in den Ländern, in denen der Mindestlohn am
niedrigsten ist.


(Zuruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/ CSU])


– Sie haben doch inzwischen selbst erkannt, dass es
beim Mindestlohn Handlungsbedarf gibt. Sie nennen das
Projekt verschämt „Lohnuntergrenze“. Ich finde dieses
Konzept falsch; denn mit diesem Konzept würden Sie
weiterhin Ausbeutung mit Tarifvertrag zulassen. Das
wollen wir nicht.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: „Ausbeutung mit Tarifvertrag“?)


Aber Sie sollten hier im Bundestag überhaupt einmal
etwas vorlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sind die Regierung, Sie müssen handeln. Sie reden,
wir handeln!


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Frau Höhn: 4 Euro! Was sagen Sie dazu?)


Von Ihnen kommt nichts. Wenn überhaupt etwas kommt,
dann wird das in Ihr Wahlprogramm entsorgt. Sie haben
hier noch keinen einzigen Vorschlag vorgelegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal was dazu, dass Frau Höhn 4 Euro zahlt!)


Sie wollen weiterhin zulassen, dass wir in Deutsch-
land 1,4 Millionen Menschen haben, die mit Löhnen von
unter 5 Euro pro Stunde brutto abgespeist werden. Sie
wollen, dass Betriebe weiterhin das ALG II in ihre
Lohnkalkulation einbeziehen und damit den Wettbewerb
über Lohndumping verzerren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das korrigieren wollen, dann braucht es jetzt
keine halsstarrig geführte ordnungspolitische Debatte,
sondern dann braucht es einen vernünftigen Gesetzent-
wurf, und zwar jetzt. Dieser liegt heute hier vor, und zu
diesem müssen Sie sich verhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD] und Klaus Ernst [DIE LINKE])


Jetzt noch ein paar Sätze zur FDP.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn man nur vier Minuten Redezeit hat!)


Es ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


wenn ausgerechnet Sie hier das Hohelied der Tarifauto-
nomie singen. Es ist noch nicht lange her, dass Sie die
Gewerkschaften mit allen Ihnen zur Verfügung stehen-
den Mitteln bekämpft haben.


(Pascal Kober [FDP]: Das ist doch albern! Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Ich erinnere Sie nur an eine Aussage Ihres ehemaligen
Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle. Er hat gesagt
– ich zitiere –:

Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
in Deutschland…

Er hat behauptet – ich zitiere weiter –:

Die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre kostet
mehr Jobs, als die Deutsche Bank je abbauen
könnte.

Finden Sie, dass Sie sich mit diesen Aussagen wirklich
als Freunde der Gewerkschaften bezeichnen können?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Herr Rösler hat verstanden und Ihnen empfohlen, den
Blick auch einmal auf die Lebenswirklichkeit der Men-
schen zu richten. Was hat er gesehen, als er seinen Blick
auf die Lebenswirklichkeit der Menschen gerichtet hat?
Er hat gesehen, dass Löhne von 3 Euro die Stunde nichts
mit Leistungsgerechtigkeit zu tun haben.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wow! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und die Tarifpartner haben das auch gesehen und einen höheren abgeschlossen!)


In einer Partei der Blinden ist der Einäugige König! Sie
haben in Ihrer Partei sehr viele Blinde, zum Beispiel
Herrn Brüderle. Er empfiehlt den Niedriglöhnern, die
mehr verdienen wollen, tatsächlich, sich einfach einen
neuen Arbeitgeber zu suchen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723706800

Sie kennen Ihre Redezeit, Frau Kollegin.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723706900

Ich weiß nicht, in welcher Parallelwelt Herr Brüderle

unterwegs ist. Eines weiß ich aber genau: dass Gerech-
tigkeit ohne Mindestlohn nicht zu haben ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723707000

Nächster Redner für die Fraktion der FDP: Kollege

Pascal Kober.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1723707100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Pothmer, Heuchelei ist das, was Sie tun.
Heuchelei ist auch das, was Sie vonseiten der SPD tun.
Ich denke an Guntram Schneider. Herr Schneider, Sie
geißeln in Ihrer Rede hier befristete Beschäftigungsver-
hältnisse – Sie waren, wenn ich richtig informiert bin,
DGB-Landesvorsitzender –, und seit 2004 gibt es eine
Direktive des DGB-Bundesvorstands, in der eigenen
Zentrale nur noch befristete Beschäftigungsverhältnisse
zu vereinbaren.


(Zurufe von der FDP und der CDU/CSU: Ah!)


Im aktuellen Jahresbericht des DGB-Bundesvorstands
zeigt sich, dass das kein Versehen war und auch nicht
korrigiert worden ist. Da heißt es auf Seite 145: Der An-
teil der befristeten Arbeitsverträge betrug zum Jahres-
ende 13 Prozent. Das waren 108 Beschäftigte.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist seine Bilanz!)


Lieber Herr Schneider, es ist Heuchelei, wenn Sie sich
hier hinstellen und etwas sagen, was Ihr eigener Verband
nicht durchzusetzen vermag.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und der ist Pfarrer! Der kann das beurteilen!)


Der Kanzlerkandidat der SPD, der leider schon auf-
brechen musste,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Er muss eine Rede halten!)


stellte sich hierhin und sang das Hohelied der dualen Be-
rufsausbildung, weiß aber offensichtlich nicht, dass die
grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg in
dieser Woche, am Montag, den 22. April 2013, von der
Vorsitzenden des Berufsschullehrerverbandes ein ganz
schlechtes Zeugnis ausgestellt bekommen hat. Sie sagte
wörtlich, die grün-rote Landesregierung würde in Ba-
den-Württemberg die Berufsschulen aushungern lassen,
weil sie es versäumt, insgesamt 600 Stellen zu besetzen,
die für die Berufsschulen dringend nötig wären.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja unerhört!)


Sich trotzdem hier hinzustellen und das Hohelied der du-
alen Berufsausbildung zu singen, ist Heuchelei.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, hat der Kol-
lege Weiß völlig zu Recht aus der Bibel zitiert. Wir wer-
den Sie mit Ihrer Regierungsleistung in den Ländern
stellen.

Frau Göring-Eckardt, Sie sprechen von Gerechtigkeit.
Was ist denn das für eine Gerechtigkeit, wenn man im-
mer mehr Schulden auftürmt,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen die Richtigen! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So wie der Autobahnbau durch Ramsauer!)


wenn man künftige Generationen belastet, anstatt sie zu
entlasten? Das ist das, was Sie in Baden-Württemberg
tun. Die Bayerische Staatsregierung hält sich trotz eines
Höchststandes an Steuereinnahmen zurück und zahlt
über 1 Milliarde Euro Schulden zurück. In Baden-Würt-
temberg hat es die christlich-liberale Landesregierung
geschafft, in den Jahren 2008, 2009 und 2011 schulden-
freie Haushalte vorzulegen. Im vergangenen Jahr ver-
zeichnete Baden-Württemberg die höchsten Steuerein-
nahmen in der Geschichte des Landes, aber die grün-rote
Landesregierung hat trotzdem zusätzliche Schulden in
Höhe von 3,3 Milliarden Euro gemacht. Das ist wirklich
eine Versündigung an der künftigen Generation. Das ist
eine unverantwortliche Politik und hat mit Gerechtigkeit
und Chancengerechtigkeit nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Stefan Rebmann [SPD])


Sie reden von Chancengerechtigkeit. Schauen wir uns
einmal an, wie es damit in Baden-Württemberg aussieht:
Die Landesvorsitzende der GEW – das ist auch nicht
gerade eine Vorfeldorganisation der FDP – wirft der
Landesregierung von Baden-Württemberg vor – Zitat –,


(Stefan Rebmann [SPD]: Wir sind im Deutschen Bundestag!)


dass sie auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen
spare und ohne klares Konzept bildungspolitisches
Stückwerk produziere. – Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, es ist Heuchelei, sich hier hinzustellen und von Ge-
rechtigkeit zu reden, aber gerechte Chancen für Kinder
in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, zu
verhindern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir hingegen haben in dieser Bundesregierung ge-
rade an Kinder, die es schwer haben, gedacht. Wir haben
ein Paket auf den Weg gebracht, die Offensive „Frühe
Chancen“, mit der wir gerade Kinder aus benachteiligten
Milieus mit insgesamt 400 Millionen Euro fördern, da-
mit Spracherwerb schon vor Eintritt in die Schule gelin-
gen kann, damit dort die Chancen wirklich wahrgenom-
men werden können und sich Bildungserfolg einstellt.

Diese letzten Jahre waren vier sehr gute Jahre für
Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden unsere Politik als christlich-liberale Regie-
rung weiter fortsetzen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“, steht geschrieben!)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Wir werben dafür, und wir werden am Wahltag – ich er-
innere noch einmal an das, was Peter Weiß gesagt hat:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ – ein entspre-
chendes Wahlergebnis von den Wählern zugesprochen
bekommen. Denn diese Jahre waren gut für Deutsch-
land, und Deutschland hat die Fortsetzung dieser Koali-
tion verdient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Herr Kober, es heißt doch: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723707200

Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU

Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege
Dr. Zimmer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1723707300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass der

Kollege Steinbrück bereits die Debatte verlassen hat,
nehme ich ihm nicht übel. Sofern er zur Vermessung
neuer Fettnäpfchen unterwegs ist, hat er unseren Segen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat sich entschuldigt! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist aller Anstand verloren bei der CDU!)


Aber dass, wenn wir hier an zentraler Stelle über
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik diskutieren, vom zu-
ständigen Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ der ein-
bringenden Fraktion der SPD nur wieder eine ganz
kleine illustre Schar da ist, finde ich bezeichnend – nach
dem Motto: Den Quatsch, den der uns erzählt, brauchen
wir uns nicht noch einmal im Plenum anzuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie von den Sozialdemokraten haben den Entwurf ei-
nes Mindestlohngesetzes in die heutige Beratung einge-
bracht. Also lassen Sie uns über dieses Mindestlohnge-
setz sprechen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre mal nett!)


In § 1 Ihres Entwurfes wird der Geltungsbereich be-
schrieben, und dort ist vorgesehen, dass das Gesetz nur
für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer gelten soll. Damit das deutlich wird: Für Teil-
zeitbeschäftigte soll der Mindestlohn, den Sie vorschla-
gen, nicht gelten. Ich kann überhaupt nicht erkennen,
warum das der Fall sein soll, warum Sie teilzeitbeschäf-
tigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so benach-
teiligen, zumal wir ja in der letzten Woche einen Gesetz-
entwurf von Ihnen beraten haben, der positiv zur Teilzeit
steht.

Eines müsste Ihnen doch klar sein: Im Niedriglohnbe-
reich setzen Sie mit einer solchen Maßnahme geradezu

Anreize, Vollzeitstellen in Teilzeitstellen umzuwandeln,
weil für diese der Mindestlohn ja nicht gelten soll. Das
ist nicht nur handwerklich schlecht gemacht, sondern Sie
versündigen sich hier auch an Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern.

Dann wird es richtig spannend, wenn man in Ihren
Gesetzentwurf schaut. Peter Weiß hat das eine oder
andere bereits dazu gesagt. Wenn sich die Mindestlohn-
kommission, die Sie einrichten wollen, nicht einigt, ent-
scheidet das Ministerium. Ich kann mir Fälle vorstellen,
in denen es sich lohnt, eine Entscheidung der Mindest-
lohnkommission zu sabotieren. Mit anderen Worten: Die
Möglichkeit des Missbrauchs ist da bereits angelegt.

Nehmen wir einmal den wirklich unwahrscheinlichen
Fall an, dass ein Vertreter der Linken das Arbeitsministe-
rium führt.


(Zuruf von der LINKEN: Gute Idee!)


Herr Ernst lächelt schon – es ist wirklich sehr unwahr-
scheinlich –, also nehmen wir einmal an, dass Herr Ernst
Arbeitsminister ist.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Keine Science-Fiction!)


Gibt es dann irgendeinen Grund, warum die gewerk-
schaftliche Seite in einer Mindestlohnkommission bei
9 Euro zustimmen sollte, wenn im Parteiprogramm der
Linken 10 Euro steht? Dann würden die doch sagen:
Prima, wir brauchen die Arbeit überhaupt nicht zu ma-
chen, das Ministerium soll gleich entscheiden.

Wenn sich die Kommission einigt, unterbreitet sie
dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen
Vorschlag. Wenn das Ministerium zustimmt, setzt es den
Mindestlohn durch Rechtsverordnung um. So weit, so
gut. Aber stimmt das Ministerium nicht zu, bestimmt am
Ende das Ministerium den Mindestlohn. So steht es in
Ihrem Entwurf. Nun würde ich, solange das Ministerium
durch uns geführt würde, da keine Probleme sehen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Völlig zu Recht!)


Aber Sie von der SPD haben ja gewiss im Hinterkopf,
vielleicht selbst einmal wieder das Ministerium zu füh-
ren; so viel sportlichen Ehrgeiz traue ich Ihnen durchaus
zu. Natürlich würde ein SPD-Arbeitsminister oder eine
SPD-Arbeitsministerin nach gründlicher Rückkopplung
mit den Parteigremien entscheiden. Dann würde also
letztlich der SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne in
Deutschland entscheiden.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was soll das? Das ist doch absurd!)


Damit ist klar, was mit dem Slogan „Das Wir entschei-
det“ gemeint ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht doch die CDU so! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Absurdes Zeugs! Das kann niemand ernst nehmen!)






Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


Ich meine allerdings: Den SPD-Parteivorstand über Min-
destlöhne in Deutschland entscheiden zu lassen, ist in
etwa so klug wie die Ernennung von Dieter Bohlen zum
Generalinspekteur für alle deutschen Mädchenpensio-
nate.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dummes Zeug! Es ist nicht zu fassen! Jetzt sind wir in Absurdistan angekommen!)


Meine Damen und Herren, was mich ärgert, ist Fol-
gendes: Über den Gesetzentwurf, über den wir heute dis-
kutieren, haben wir bereits vor einem Jahr diskutiert.
Schon damals sind Sie auf den Unfug, den Sie damit an-
richten würden, hingewiesen worden. Ich meine, einmal
einen Fehler zu machen, ist menschlich. Es hätte Ihnen
gut angestanden, noch einmal gründlich darüber nachzu-
denken. Aber Sie legen diesen Gesetzentwurf wortgleich
noch einmal vor. Sie haben also nichts gelernt. Dass Sie
mit einer gewissen Starrköpfigkeit auf der Durchführung
Ihrer Fehler bestehen, das kann ich nur noch psycholo-
gisch erklären.

Gerade diese Unbeirrbarkeit im Angesicht Ihrer Feh-
ler ist es doch, die Zweifel daran aufkommen lässt, dass
Sie regierungsfähig sind.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Angesichts welcher Fehler eigentlich? Was ist das eigentlich für eine Rede?)


Die handwerklichen Fehler vertreten Sie mit unbeirrba-
rer Hartnäckigkeit. Aber was die guten und richtungs-
weisenden Entscheidungen, die auch Sie einmal getrof-
fen haben, angeht – ich denke da an die Reformen des
Arbeitsmarktes und die Rente mit 67 –, suchen Sie an-
dauernd nach einem Notausgang für Helden.

So eiern Sie auch in der Arbeitsmarktpolitik herum:
Mal sind Sie gegen Teilzeit, mal dafür. Mal sind Lohn-
kostenzuschüsse gut, mal sind sie schlecht. Vor einigen
Jahren hat Gerhard Schröder die neue Mitte entdeckt,
jetzt wird der Mittelstand belastet. Die Abschaffung der
kalten Progression haben Sie verhindert, und heute mel-
den die Zeitungen, Ihre Kindergeldpläne führten gerade
für Familien der Mittelschicht zu deutlichen monatlichen
Belastungen.


(Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Hört! Hört!)


Konsistent, meine Damen und Herren, ist das alles nicht.
Der Bürger hat ohnehin längst den Eindruck, dass der
SPD-Slogan in Wahrheit heißt: Das Wir entscheidet, das
Du bezahlt. – Aber wenigstens darin sind Sie sich treu
geblieben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan Rebmann [SPD]: Bei euch heißt es: Ich entscheide!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723707400

Nächster Redner für die CDU/CSU: Kollege Max

Straubinger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1723707500

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren heute über verschiedene Vorlagen, zu-
vörderst aber natürlich über den Antrag der SPD mit
dem etwas aufgeblasenen Titel „Deutschland 2020 – Ge-
recht und solidarisch“. Ich möchte dem Kollegen Kolb
beipflichten bzw. seine Bemerkung etwas abschwächen.
Kollege Kolb hat ja bereits dargelegt, dass in Ihrem An-
trag nur heiße Luft ist. Ich möchte das abschwächen: ein
laues Lüftchen; mehr ist da nicht drin.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das, was hier niedergeschrieben worden ist, ist letzt-
endlich ein Horrorprogramm für die Menschen in unse-
rem Land. Es beginnt mit einer falschen Analyse. Wenn
man eine falsche Analyse macht, kann man daraus natür-
lich auch keine richtigen Schlussfolgerungen ziehen;
auch das muss dargelegt werden. In Ihrem Antrag wird
ein Zerrbild von unserer Gesellschaft gezeichnet: als
gäbe es in Deutschland nur noch Niedriglöhner und
Niedrigstverdiener, kaum soziale Absicherung und vor
allen Dingen keine Bildungsgerechtigkeit, keine Bil-
dungschancen und keine Chancengerechtigkeit.

Ich bin der Meinung, das ist letztendlich im Hinblick
auf die vielen Institutionen, die wir alle in der Politik ge-
meinsam geschaffen haben, nicht würdig. Wir haben
eine großartige Schulbildung. Vor allen Dingen in Bay-
ern gibt es ein Schulsystem, das für die Kinder die
Grundlagen schafft, um später eine gute berufliche Aus-
bildung zu erhalten und großartige Zukunftschancen zu
haben. Dass dies in SPD-regierten Ländern nicht der Fall
ist, sehen wir. Manche Kollegen haben bereits gesagt:
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Es ist eben
eine Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen und in Ba-
den-Württemberg Lehrerstellen abgebaut werden. In
Bayern und anderen unionsregierten Ländern werden
– das ist zukunftsträchtig – Lehrerstellen geschaffen. In
Bayern werden jedes Jahr 1 000 neue Lehrerstellen ge-
schaffen, obwohl es weniger Kinder gibt. Damit schaf-
fen wir mehr Chancengerechtigkeit und mehr Bildungs-
gerechtigkeit für die jungen Menschen in unserem Land,
verehrte Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Sie betreiben Selektion!)


Dies ist etwas, womit der Kanzlerkandidat der SPD
nicht so viel am Hut hat. Darum hat er die meiste Zeit
seiner Rede über Steuern und Steuergerechtigkeit ge-
sprochen, vor allen Dingen über das Steuerabkommen
mit der Schweiz. Natürlich wäre ein Steuerabkommen
mit der Schweiz wesentlich erfolgreicher und ertragrei-
cher gewesen, weil dann alle ihre Steuern bezahlt hätten.
Ihnen geht es letztendlich ja nur darum, hier Symbol-
politik zu betreiben, weil Sie glauben, daraus im anste-
henden Wahlkampf Honig saugen zu können. Ich erin-
nere in diesem Zusammenhang an Herrn Zumwinkel.
Wir können manche Namen austauschen, wenn Sie so
wollen; aber ich glaube nicht, dass wir eine Debatte über
Steuergerechtigkeit damit voranbringen. Dass auch der
Kollege Steinbrück nachbessern musste – bei den Anga-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


ben zu seinen Reden –, ist ja bekannt. Die Wahrhaftig-
keit beginnt meistens bei einem selbst. Da sollte man zu-
erst tätig werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Wo ist Ihr Spiegel?)


Ich kann verstehen, warum der Kollege Steinbrück
nicht auf das SPD-Papier eingegangen ist. Das liegt da-
ran, dass er dieses Papier innerlich eigentlich gar nicht
vertreten kann. Er hat in der Vergangenheit letztendlich
alle diese Maßnahmen – sei es ein gesetzlicher Mindest-
lohn, seien es andere Maßnahmen – abgelehnt, aus fach-
lichen und sachlichen Überlegungen. Ich denke, er steht
– auch wenn er das jetzt nicht mehr sagen darf – für die
Rente mit 67. Unter demografischen Gesichtspunkten ist
die Rente mit 67 aber richtig, und ich bin Franz
Müntefering ausdrücklich dankbar, dass er diese Reform
hier durchgesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dass die Grundlagen dafür unter dem seinerzeitigen
Bundesminister Franz Müntefering geschaffen worden
sind, ist letztendlich im Sinne einer großartigen Genera-
tionenpolitik in der Rente.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gut, dass die Menschen das nicht merken!)


Wir wollen daran weiterarbeiten, verehrte Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723707600

Herr Kollege Straubinger, ich habe eine Zwischen-

frage aus der Fraktion der FDP.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1723707700

Gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723707800

Bitte schön, Kollege Kurth.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1723707900

Herr Kollege Straubinger, wo Sie die Rede von Herrn

Steinbrück analysieren: Hat Herr Steinbrück eigentlich
auch Zugang gefunden zu der berühmten „Thüringer
Friseurin“, von der ich als Thüringer mir hier ständig
erzählen lassen muss? Hat irgendjemand von der Oppo-
sition heute, wie es sonst immer der Fall ist, von den
Löhnen der „Thüringer Friseurin“ gesprochen? Hat ir-
gendjemand von der Opposition gewürdigt, dass Ge-
werkschaften und Arbeitgeber diese Woche für die
„Thüringer Friseurin“ wie überhaupt für das gesamte
Thüringer Handwerk einen Tarifvertrag mit einem Stun-
denlohn von 8,50 Euro abgeschlossen haben? Hat ir-
gendjemand von der Opposition zur Kenntnis genom-
men, dass hier eine Tariflösung gefunden wurde, ohne
dass die gesetzliche Keule nötig geworden wäre?


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Was sagt die Friseurin in Sachsen dazu?)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1723708000

Leider nein, Herr Kollege.


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Falsch! – Weitere Zurufe von der LINKEN: Falsch!)


Aber das ist ja auch verständlich: Sie wollen ja nicht den
Erfolg der Tarifparteien. Sie wollen grundsätzlich eine
staatliche Lohnfestsetzung betreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb haben Sie diesen Erfolg nicht gewürdigt.

Wahrscheinlich geht es auch darum – wie es die Kol-
legin Göring-Eckardt getan hat –, in die eigenen Reihen
hinein zu predigen. Liebe Kollegin Göring-Eckardt, pre-
digen Sie an Ihre Kollegin Bärbel Höhn gerichtet, dass
sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht länger für
4,60 Euro beschäftigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Opposition will einen Erfolg der Tarifparteien gar
nicht herausstellen; doch das zeigt nur die Richtigkeit
unserer Politik.


(Mechthild Rawert [SPD]: Sie sind Schmarotzer!)


In den Anträgen geht es viel darum, dass Familienpolitik
verbessert werden solle. An dieser Stelle kann ich nur
sagen: Die Union, besonders die CSU, ist die Familien-
partei, die sich dafür einsetzt, dass Familien in Deutsch-
land gleiche Chancen bekommen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Betreuungsgeld!)


Dazu gehören ausreichende Kinderbetreuungsmöglich-
keiten: mit Kindertagesstätten, mit Krippenplätzen, aber
auch mit dem Betreuungsgeld.


(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Es ist bemerkenswert, wenn im Antrag der SPD dar-
gelegt wird, die Kommunen brauchten mehr finanzielle
Unterstützung. In Bayern gibt es derzeit ein Kitaplatz-
angebot für 43 Prozent der Kinder. Zum 1. August dieses
Jahres werden 50 Prozent erreicht werden. Doch die
schöne Stadt München, eine der reichsten Städte in ganz
Deutschland, rot-grün regiert – von Herrn Ude –, schafft
es nicht einmal, genügend Kindergartenplätze bereitzu-
stellen, auf die es bereits jetzt einen Rechtsanspruch gibt.
Noch immer fehlen 5 000 Kindergartenplätze und ab
Sommer zusätzlich 7 000 Kitaplätze.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann aber nicht so bleiben!)


Das zeigt sehr deutlich: Es ist wichtig, dass auch etwas
umgesetzt wird.

Wir sind in Bayern stolz auf unsere Bürgermeisterin-
nen und Bürgermeister, die sich tatkräftig für die Schaf-
fung von Kitaplätzen einsetzen. Leider Gottes geht das
aber an der Landeshauptstadt München vorbei. Das zeigt
auch sehr deutlich: Selbst wenn es ausreichende Finanz-
zusagen gibt – der Freistaat Bayern garantiert ja, dass je-
der Kinderkrippenplatz gefördert wird –, ist Rot-Grün





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


nicht in der Lage, das umzusetzen. Das zeigt sehr deut-
lich, dass Sie von SPD und Grünen beim Fordern immer
großartig sind, aber beim Handeln versagen.

Das wollen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland in den nächsten vier Jahren ersparen. Des-
halb bin ich überzeugt, dass wir wiederum die Mehrheit
erringen werden.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1723708100

Kollege Max Straubinger war der letzte Redner in un-

serer Aussprache, die ich deshalb jetzt schließe.
Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c. Interfraktionell

wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/13226, 17/12857 und 17/13246 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Mehrheitswillen respektieren – Gesetzlicher Min-
destlohn jetzt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9613, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8026 abzu-
lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Fraktion
Die Linke. Enthaltungen? – Fraktionen SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 4 e. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für
soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung –
Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/13182, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12683 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Gegen-
probe! – Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 f sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
45 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2011/95/EU
– Drucksache 17/13063 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-

(Gesetz zur Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz)

– Drucksache 17/13223 –

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Sicherungslücke im Übergang von Arbeitslo-
sengeld in eine Erwerbsminderungsrente
schließen
– Drucksache 17/13113 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-
Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Versorgungsqualität und Therapiefreiheit in
der Substitutionsbehandlung stärken
– Drucksache 17/13230 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht der Bundesregierung zur Bildung für

(Ergänzender Bericht)

– Drucksache 17/8099 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

f) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung

Bericht des Parlamentarischen Beirats für

(Arbeitsbericht der 17. Wahlperiode)

– Drucksache 17/13064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung 
Ausschuss für Tourismus

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Griese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nationales Reformprogramm 2013 und Natio-
naler Sozialbericht 2013

– Drucksache 17/13195 –





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Neuorientierung im Umgang mit Ge-
walt und Organisierter Kriminalität in Mexiko
und Zentralamerika – Sicherheitsabkommen
unter dem Primat der Menschenrechte gestal-
ten

– Drucksache 17/13237 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss 
Innenausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/13195 – Zu-
satzpunkt 3 a – soll federführend im Ausschuss für
Arbeit und Soziales beraten werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 k auf.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 46 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012
über die abschließende Aufteilung des Finanz-
vermögens gemäß Artikel 22 des Einigungs-
vertrages zwischen dem Bund, den neuen

(Finanzvermögen-Staatsvertrag)

haltsordnung

– Drucksache 17/12639 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 17/13256 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Johannes Kahrs
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/13256, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12639 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,

die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Das sind alle Frak-
tionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand.
Enthaltungen? – Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Vorsichtshal-
ber: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? –
Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Wir kommen nun – Tagesordnungspunkte 46 b bis
46 k – zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
schusses.

Tagesordnungspunkt 46 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 572 zu Petitionen

– Drucksache 17/13117 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand.
Die Sammelübersicht 572 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 573 zu Petitionen

– Drucksache 17/13118 –

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Vorsichtshalber
frage ich: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
gen? – Niemand. Sammelübersicht 573 ist angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 46 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 574 zu Petitionen

– Drucksache 17/13119 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und sozial-
demokratische Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Links-
fraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen. Sammelübersicht 574 ist damit angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 575 zu Petitionen

– Drucksache 17/13120 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
gen? – Niemand. Sammelübersicht 575 ist angenom-
men.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 46 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 576 zu Petitionen

– Drucksache 17/13121 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Stimmenthaltungen? –
Linksfraktion. Sammelübersicht 576 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 577 zu Petitionen

– Drucksache 17/13122 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-
mokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? –
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Nie-
mand. Sammelübersicht 577 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 578 zu Petitionen

– Drucksache 17/13123 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-
mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-
gegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Die
Sammelübersicht 578 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 579 zu Petitionen

– Drucksache 17/13124 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Bünd-
nis 90/Die Grünen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? –
Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Nie-
mand. Sammelübersicht 579 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 580 zu Petitionen

– Drucksache 17/13125 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand.
Sammelübersicht 580 ist damit angenommen.

Tagesordnungspunkt 46 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 581 zu Petitionen

– Drucksache 17/13126 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-
haltungen? – Niemand. Sammelübersicht 581 ist ange-
nommen.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatz-
punkt 4 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-
zes

– Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,
17/13190 –

Berichterstattung: 
Abgeordneter Jörg van Essen

Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –
Das ist nicht der Fall.

Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. Der
Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei-
ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim-
men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 17/13190? –
Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! –
Niemand. Enthaltungen? – Niemand. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 5 a sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:

5 a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bun-
destages über die Einleitung eines Verfahrens
zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit
der „Nationaldemokratischen Partei Deutsch-
lands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes

– Drucksache 17/13227 –

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen

– Drucksache 17/13225 –

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE

NPD verbieten

– Drucksache 17/13231 –

1) Erklärungen nach § 31 GO Anlage 3





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Rechtsextremismus umfassend bekämpfen

– Drucksache 17/13240 –

Über den Antrag der Fraktion der SPD sowie über
den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP wer-
den wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind alle da-
mit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokra-
ten unser Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön, Kol-
lege Thomas Oppermann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1723708200

Danke schön, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Seit anderthalb Jahren diskutieren wir über ein
neues Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bun-
desverfassungsgericht. Vor vier Monaten hat nach sorg-
fältiger Vorbereitung durch die Innenminister von Bund
und Ländern der Bundesrat entschieden, einen Verbots-
antrag zu stellen. Deshalb ist es heute an der Zeit, dass
auch der Bundestag eine Entscheidung trifft.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen, dass auch der Bundestag einen Antrag
stellt, damit die NPD verboten werden kann. Das Grund-
gesetz sieht in Art. 21 vor, dass Parteien, die darauf aus-
gerichtet sind, „die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, …
verfassungswidrig“ sind. Die Väter und Mütter des
Grundgesetzes haben diese Bestimmung über das Partei-
enverbot in das Grundgesetz aufgenommen, weil sie
sichern wollten, dass nie wieder die parlamentarische
Demokratie in Deutschland durch Nationalsozialisten
zerstört oder durch eine Gewaltherrschaft abgelöst
werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sollte die Demokratie des Grundgesetzes als
eine wehrhafte Demokratie ausgestaltet sein. Ich zitiere
dazu Carlo Schmid aus den Beratungen des Parlamenta-
rischen Rates:

Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nicht
zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selbst
die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.


(Beifall bei der SPD)


Mit anderen Worten: Gegen ihre Feinde dürfen sich
Demokraten nicht neutral verhalten, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb bin ich einigermaßen froh, dass wir alle uns
in einer Frage wenigstens einig sind: Die NPD ist eine
verfassungsfeindliche Partei. Diese Partei ist antidemo-
kratisch, sie ist antisemitisch, sie ist ausländerfeindlich,
sie ist in Teilen gewaltbereit. Die NPD steht in der Tradi-
tion der nationalsozialistischen Ideologie, und die NPD
bekämpft unsere freiheitlich-demokratische Grundord-
nung.

Ein Kernelement dieser freiheitlich-demokratischen
Grundordnung, die universelle Geltung der Grund- und
Menschenrechte, ist das, was der SPD als ganz besonde-
rer Angriffspunkt vor Augen steht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre
geht die NPD davon aus, dass es minderwertige Men-
schen in Deutschland gibt, Menschen, die wegen ihrer
Herkunft oder ihrer Hautfarbe aus Deutschland vertrie-
ben werden sollen, die kein Recht haben, hier zu leben.
Die NPD will diese Menschen aus Deutschland vertrei-
ben. Da, wo sie sich stark fühlt, errichtet sie sogenannte
national befreite Zonen und organisiert zusammen mit
rechtsextremen neonazistischen Kameradschaften rassis-
tische Gewaltakte gegen unschuldige Opfer. Ich muss
Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Ich empfinde es
als unerträglich, dass solche Parteiaktivitäten immer
noch mit Steuergeldern finanziert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Demokratie in Deutschland mag stark genug sein,
eine verfassungsfeindliche NPD auszuhalten; die Opfer
der NPD sind es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zu der Aussage von Herrn Rösler, der heute nicht da
ist, in diesem Zusammenhang, Dummheit könne man
nicht verbieten,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er auf die FDP bezogen!)


kann ich nur feststellen: Es geht hier nicht darum, ein
paar dumme Gedanken zu verbieten, sondern darum,
eine Organisation, eine Partei zu zerschlagen, die darauf
ausgerichtet ist und die dazu beiträgt, dass Menschen in
Deutschland angegriffen werden.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Dafür gibt es die Strafverfolgungsbehörden!)


Trotz allem habe ich Respekt für diejenigen, die heute
unserem Antrag nicht folgen und dafür Argumente nen-
nen. Ich kenne diese Argumente; ich teile sie nicht, aber
ich respektiere sie. Aber ich halte es für nicht in
Ordnung, dass monatelang versucht worden ist, dieser
Entscheidung auszuweichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt werden wir auch noch dafür kritisiert, dass wir
diese Debatte erzwungen haben. Jetzt sollen wir auch
noch dafür verantwortlich gemacht werden, dass heute
möglicherweise bei der Abstimmung über unseren An-
trag ein uneinheitliches Abstimmungsbild entsteht, das
für den Antrag des Bundesrates nicht vorteilhaft wäre.
Meine Damen und Herren, was ist das für eine verquere
Logik?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn unser Antrag heute keine Mehrheit findet, dann
liegt das doch nicht an denjenigen, die den Antrag
gestellt haben, sondern an denjenigen, die den Antrag
ablehnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Bundesverfassungsgericht im Zweifel!)


Liebe Renate Künast, Sie haben gesagt, dies sei ein
Showantrag.


(Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723708300

Herr Kollege Oppermann!


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1723708400

Danke, ich habe zu wenig Redezeit. – Ich muss Ihnen

ganz ernsthaft sagen – –


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wird doch angerechnet!)


– Dann bitte sehr.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723708500

Sie möchten die Zwischenfrage von Herrn Montag

zulassen?


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1723708600

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723708700

Bitte schön.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723708800

Herr Kollege Oppermann, danke, dass Sie die Frage

zulassen. Ich verlängere damit Ihre Redezeit; seien Sie
also dankbar.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1723708900

Das habe ich noch rechtzeitig gemerkt.


(Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723709000

Gut, das stimmt. – Zu meiner Frage. Sie haben, Herr

Kollege Oppermann – jetzt komme ich zum Ernst der

Sache zurück, was angemessen ist –, Ihren Antrag aus-
führlich begründet. Ich stimme jedem Satz von Ihnen zu:
Die NPD ist eine rassistische, eine verfassungswidrige
Partei.

Das Problem, vor dem wir stehen, ist: Der Deutsche
Bundestag hat nach der Verfassung nicht das Recht, Par-
teien zu verbieten. Wenn wir das Verbot aussprechen
könnten, hätten wir eine andere Situation. Wir diskutie-
ren ausschließlich über die Frage: Sollen wir einen ent-
sprechenden Antrag an ein Gericht stellen oder nicht?
Dabei müssen wir uns, ob wir wollen oder nicht, zu der
Frage verhalten: Halten wir den Antrag für aussichts-
reich oder für nicht aussichtsreich? Es braucht ja eine
rationale, vernünftige Begründung, wenn man vor Ge-
richt ein Risiko eingeht.

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, was
Sie eigentlich veranlasst, heute namentlich über Ihren
Antrag abstimmen zu lassen, statt ihn in die Ausschüsse
zu geben. Viele Kollegen – dazu gehöre auch ich – sind
in der Sache ganz nahe bei Ihnen, können Ihnen aber
nicht folgen, da Sie heute eine Stellungnahme von uns
verlangen. Ich persönlich möchte gerne als Mitglied des
Rechtsausschusses im Rechtsausschuss eine Sachdebatte
auch mit Sachverständigen darüber führen können,
welche Erfolgsaussichten – rechtlich und faktisch – ein
solches Verbotsverfahren hätte. Da können wir Argu-
mente austauschen.

Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Der Bundesrat wird
erst im Juni oder im Juli entscheiden. Warum verlangen
Sie von uns heute eine Stellungnahme in Form einer
namentlichen Abstimmung zu der Frage: „Welche
Aussichten hat der SPD-Antrag beim Bundesverfas-
sungsgericht?“, ohne dass wir Gelegenheit hatten, da-
rüber in den Ausschüssen zu reden?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1723709100

Lieber Kollege Montag, was die Erfolgsaussichten

dieses Verfahrens betrifft, gehen wir davon aus, dass die
Innenminister von Bund und Ländern sie sehr sorgfältig
geprüft haben. Wir setzen auf die Fakten und auf die
Kraft der Argumente. Die Fakten besagen, dass die NPD
in aggressiv-kämpferischer Weise Menschenrechtsver-
letzungen in Deutschland organisiert und betreibt.

Es ist in der Tat nicht erwiesen, dass die NPD bei der
Vorbereitung und Durchführung der schweren Terror-
straftaten durch den „Nationalsozialistischen Unter-
grund“ eine Rolle gespielt hat. Aber es ist doch bei allen
Beteiligten völlig unstreitig, dass die NPD den geistigen
Nährboden dafür geschaffen hat, dass solche schlimmen
Taten in Deutschland geschehen konnten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben im Januar einen Antrag in den Bundestag
eingebracht, in dem wir darum gebeten haben, dass der
Innenausschuss eine Empfehlung für das Plenum erar-
beitet. Das, finde ich, war ein seriöses Vorgehen. Das





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


war kein Showantrag. Allerdings ist dieser Antrag kom-
plett ignoriert worden. Es hat im Innenausschuss nicht
die Arbeit stattgefunden, die wir wollten.


(Widerspruch des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU])


Wir wollten auch nicht so lange warten, bis das Verfah-
ren vor dem Bundesverfassungsgericht auf Antrag des
Bundesrates beginnt, sodass wir dann hinterherlaufen.
Jetzt ist die Zeit, über diesen Antrag zu entscheiden.
Deshalb haben wir ihn heute eingebracht.


(Beifall bei der SPD)


Es mag unangenehm sein, jetzt Farbe bekennen und
sich entscheiden zu müssen. Aber diese Unannehmlich-
keit kann ich Ihnen nicht ersparen. Nachdem Ihre Kolle-
gin, Frau Künast, in diesem Zusammenhang gesagt hat,
das sei ein Showantrag,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Richtig! – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Recht hat sie!)


muss ich Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Dieser Antrag
ist vor dem Hintergrund des historischen, des politischen
und des demokratischen Selbstverständnisses der Sozial-
demokratischen Partei


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schweres Zerwürfnis zwischen Rot-Grün!)


für uns eine Angelegenheit von ganz großer Ernsthaftig-
keit. Davon können Sie ausgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Für sein Abstimmungsverhalten muss jeder selbst die
Verantwortung tragen.

Immer wieder wird behauptet, eine Partei dürfe nur
verboten werden, wenn sie unmittelbar vor der Macht-
übernahme stehe. Das ist eindeutig unzutreffend; denn
ein solches Kriterium hat weder das Bundesverfassungs-
gericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte formuliert. Und die Lehre aus der Geschichte
zeigt doch, dass man solchen Parteien frühzeitig entge-
gentreten muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Schließlich ist ein NPD-Verbot leider auch nicht des-
halb überflüssig geworden, weil diese Partei durch Mit-
gliederschwund, Finanzdebakel und schlechte Wahler-
gebnisse schwächer geworden ist. Das ist doch nicht von
selbst gekommen. Das ist doch ganz klar eine Folge des-
sen, dass wir mit der Verbotsdebatte den Druck auf diese
Partei systematisch erhöht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der permanente Beobachtungs- und Fahndungsdruck
seit Aufdeckung der NSU-Morde hat die rechtsextreme
Szene in Deutschland erkennbar verunsichert. Diesen
Druck, meine Damen und Herren, dürfen wir jetzt nicht

zurücknehmen. Deshalb bitten wir Sie, unserem Antrag
zuzustimmen.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723709200

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege

Dr. Günter Krings.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Günter Krings (CDU):
Rede ID: ID1723709300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Für die heutige Debatte halte ich es in der Tat
für besonders wichtig, gleich zu Anfang sehr klar zu un-
terscheiden zwischen der Einigkeit über das Ziel der Be-
kämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland und
den offensichtlichen Meinungsunterschieden über die
dazu richtigen und notwendigen Mittel.

Meine Damen und Herren, einig sind wir uns im gan-
zen Hause auch darin, dass die NPD eine verabscheu-
ungswürdige Partei ist, die nie in dieses Parlament ein-
ziehen darf und die auch aus allen Landtagen
verschwinden sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Aussagen führender Politiker dieser Partei gegen
Ausländer sowie der Rassismus und die Fremdenfeind-
lichkeit, die daraus sprechen, widersprechen den Grund-
werten unseres Landes massiv. Geradezu unerträglich
wird es dann, wenn der Holocaust geleugnet oder relati-
viert werden soll. Wir treten einer solchen Verhöhnung
der Opfer bei jeder Gelegenheit mit aller Entschieden-
heit entgegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe aus diesen Gründen keine Zweifel, dass die
NPD eine menschenfeindliche und demokratiefeindliche
Partei ist. Ich stimme in großen Teilen Ihrer Rede, insbe-
sondere dem Analyseteil, zu, Herr Oppermann. Diese
Feststellung sagt aber noch nichts darüber aus, ob diese
Partei auch aggressiv-kämpferisch im Sinne der Krite-
rien des Bundesverfassungsgerichts agiert, und sagt vor
allem nichts darüber aus, ob ein Verbotsverfahren gegen
diese Partei politisch klug ist. Ich stimme dem renom-
mierten Düsseldorfer Parteienrechtler Martin Morlok,
den Sie sicherlich mindestens genauso schätzen wie ich,
zu, wenn er sagt: „Ein Parteiverbot löst das Extremis-
musproblem nicht.“ Meine Damen und Herren, man
kann eine Partei verbieten. Aber man kann weder eine
rechtsextreme Gesinnung noch rechtsradikale Menschen
per Hoheitsakt verbieten. Da braucht es eben mehr En-
gagement.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das eine tun und das andere nicht lassen!)






Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


Dieses Engagement bei der Bekämpfung des Rechts-
extremismus und der NPD beschreiben und fordern wir
als Koalitionsfraktionen mit unserem Antrag. Wir wol-
len den Rechtsextremismus vor allem politisch ent-
schlossen bekämpfen. Unser Kampf gründet auf fünf
Schwerpunktbereiche. Ich will nur zwei, drei Beispiele
herausgreifen.

Wir wollen mit der Fortführung bestehender und der
Auflage neuer Programme das zivilgesellschaftliche
Engagement fördern. Ich betone allerdings: Dabei muss
der Kampf gegen den Rechtsextremismus aus der gesell-
schaftlichen Mitte und nicht von ihren politischen
Rändern her aufgenommen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir brauchen attraktive Programme zum Ausstieg aus
der rechtsextremen Szene, sowohl staatliche wie private
Programme wie das Projekt EXIT, das wir jetzt allein
mit Bundesmitteln weiter fördern.

Wichtig ist des Weiteren eine effektive Arbeit unserer
Sicherheitsbehörden für erfolgreiche Prävention, aber
eben auch für die notwendige konsequente Strafverfol-
gung. Hier braucht es vor allem eine gute und in Teilen
noch bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Län-
dern bei Polizei und Verfassungsschutz. Ich bedanke
mich ausdrücklich bei unserem Innenminister Friedrich
für viele Verbesserungen, die er angestoßen und erreicht
hat. Aber es bleibt auch noch das eine oder andere zu
tun. Für das Erreichte aber erst einmal herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist jedenfalls gut, dass zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus im Bundeshaushalt – das reicht vom
Bundeskriminalamt bis zur Bundeszentrale für politische
Bildung – insgesamt dieses Jahr etwa 25 Millionen Euro
mehr investiert werden.

Meine Damen und Herren, das alles sind Maßnahmen
und Programme, die natürlich weniger spektakulär als
ein Verbotsantrag gegen die NPD sind. Aber sie sind
eben auch viel erfolgversprechender im Kampf gegen
den Rechtsextremismus.

Die Bundesregierung hat sich nach intensiver Prüfung
gegen einen Antrag auf ein Parteiverbot entschieden. Ich
bin der festen Überzeugung, dass sich die Bundesregie-
rung diese Entscheidung mindestens ebenso schwer ge-
macht hat wie der Bundesrat seine Entscheidung. Natür-
lich kann sich der Deutsche Bundestag grundsätzlich
anders entscheiden. Es gibt keinen Automatismus, dass
wir entweder dem Bundesrat oder der Bundesregierung
folgen. Aber ich weise auch darauf hin: Der Deutsche
Bundestag ist der einzige von drei im Grundgesetz vor-
gesehenen Antragstellern, der nicht über eigene nach-
richtendienstliche Erkenntnisse verfügt und deshalb auf
Informationen insbesondere aus dem Bereich der Bun-
desregierung angewiesen ist. Wenn sich der Bundestag
anders entscheidet als die Bundesregierung, dann muss
er dafür schon besonders gute Gründe und besondere ei-
gene Erkenntnisse haben, die in eine andere Richtung
weisen. Die FDP, meine Fraktion und auch große Teile
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen sehen diese be-

sonderen abweichenden Erkenntnisse und Gründe nicht.
Die SPD-Fraktion hat diese, mit Verlaub, in der Sache
auch nicht vorgetragen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann natürlich, wie die SPD es heute tut, einen
Verbotsantrag auch um seiner politischen Wirkung wil-
len stellen. Aber auf eines sollten Sie achten: Sie sollten
bei diesem Verbotsantrag nicht Opfer Ihrer eigenen Rhe-
torik werden. Man kann den Verbotsantrag aus politi-
schen Gründen stellen. Entschieden wird über den An-
trag aber nach streng juristischen Kriterien. Ich finde es
schon ein wenig fahrlässig, wenn die SPD die hohen
Hürden für ein Parteiverbot ganz aus ihrem Bewusstsein
verdrängt.


(Thomas Oppermann [SPD]: Ihre Ministerpräsidenten aber auch!)


Der Kollege Oppermann hat nämlich leider recht, als
er in der letzten Debatte zu diesem Thema am 1. Februar
2013 gesagt hat:

Die Rechtsprechung zu den Parteienverboten ist
60 Jahre alt. Ich bin sicher: Das Gericht wird dieses
Verfahren nutzen, um zeitgemäße Verbotskriterien
zu entwickeln.

Herr Oppermann, genau das fürchte ich auch. Ich darf
hierzu nochmals den Parteienrechtler Morlok zitieren:

In den 1950er Jahren war die bundesrepublikani-
sche Demokratie in einer ganz anderen Bedro-
hungssituation: Es gab noch Millionen ehemaliger
NSDAP-Mitglieder …

Fazit: Die Anforderungen an ein Parteienverbot werden
heute eben nicht einfacher, sondern strenger zu bewerten
sein.

Selbst die Richter, die 2003 das damalige NPD-Ver-
fahren gerne fortgeführt hätten, haben in einem Sonder-
votum klar zu erkennen gegeben, dass in einem solchen
Verfahren dann natürlich auch die strengeren Kriterien
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur
Anwendung kommen und leider für höhere Hürden sor-
gen. Das heißt insbesondere, dass die zu verbietende
Partei eine hinreichend bedrohliche, unmittelbar bevor-
stehende Gefahr für die Demokratie darstellen muss.
Das ist einmal bejaht worden für eine Partei, die 25 Pro-
zent der Stimmen bei den Wahlen erreicht hatte und
38 Prozent in Umfragen. Bei Wahlergebnissen von
glücklicherweise unter 2 Prozent für die NPD sieht die
Lage ganz anders aus. Offenbar glauben Sie von der
SPD selbst nicht so recht daran, dass diese Mindestan-
forderungen für das Verbot erfüllbar sind; denn nur so
kann ich Ihre Einlassung in der letzten Parlamentsde-
batte, Herr Oppermann, verstehen. Wörtlich sagten Sie:

Dass die NPD … nicht in der Lage ist, den Bestand
der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, liegt
auf der Hand.


(Thomas Oppermann [SPD]: Muss sie auch nicht!)






Dr. Günter Krings


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, wer ernsthaft und effektiv
die NPD und ihr unsägliches Gedankengut ausmerzen
will, muss klug vorgehen und vor allem politische Mittel
wählen. Es kommt ja nicht häufig vor, dass ich mich ei-
ner Formulierung des Kollegen Beck bediene, aber ich
finde es sehr treffend, dass Sie, Herr Beck, gesagt haben,
es gehe bei einem Verbotsantrag nicht um eine verfas-
sungspolitische Mutprobe. Damit ist es eben nicht getan.
Wir brauchen vielmehr Mut für den gesellschaftlichen
und politischen Kampf gegen die NPD, hier im Bundes-
tag vielleicht etwas weniger als in vielen Kommunen,
gerade in den neuen Ländern, wo diese Partei ihr Unwe-
sen treibt. Diesen Mut müssen wir aufbringen. Wir soll-
ten daher nicht zu viel Energie auf Antragsverfahren in
Karlsruhe verwenden, sondern uns umso intensiver ge-
meinsam an die politische Arbeit zur Verteidigung unse-
rer Demokratie machen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723709400

Die Kollegin Ulla Jelpke hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723709500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege

Krings, man muss sich ja fragen, was Ihre Kollegen im
Bundesrat, die ja dem Antrag zugestimmt haben bzw.
das Verbotsverfahren einbringen wollen, dazu sagen,
dass Sie sie hier ganz offensichtlich für unqualifiziert
und nicht durchblickend erklären. Das ist schon sehr be-
zeichnend, finde ich.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Das hat er gar nicht!)


Meine Damen und Herren, wir sind uns offensichtlich
einig, dass die NPD eine zutiefst verfassungswidrige
Partei ist, die für demokratische Werte nur Verachtung
übrig hat. Wir konnten in den Materialsammlungen zum
Beispiel Folgendes lesen: Die NPD nennt sich selbst
„völkisch-national“, sie gibt Parolen aus wie „Ja zu
Deutschland! Ja zum Reich!“, sie will Menschenrechte
nur jenen zugestehen, die die „richtigen“ biologischen
Anlagen haben, und die NPD lässt keinen Zweifel daran,
dass sie Verhältnisse wiederherstellen will, wie wir sie
im Faschismus hatten. Es ist die Aufgabe aller Demokra-
tinnen und Demokraten, dafür Sorge zu tragen, dass
diese Partei oder so eine Partei in Deutschland keinen
Platz hat und niemals Fuß fasst.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wie streiten ja heute in der Tat über die Mittel der
Wahl. Als Argument gegen ein Verbotsverfahren wird
von den Regierungspolitikern und von den Grünen im-
mer wieder vorgebracht, die NPD schwächele, sie sei na-
hezu pleite, ein Verbot sei ohnehin nicht ausreichend be-
gründet usw. Das ist – mit Verlaub gesagt – eine banale
Argumentation. Die Linke hat hier im Bundestag Dut-

zende von Anträgen eingebracht, um die Bekämpfung
des Rechtsextremismus zu befördern. Ein NPD-Partei-
verbot war immer nur eines von mehreren Mitteln. Es
gibt aber keinen Grund, auf dieses Mittel, also das Ver-
bot, zu verzichten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn, meine Damen und Herren, die NPD ist eben keine
beliebige Partei. Sie ist vielmehr die einzige bundes-
weite und damit wichtigste rechtsextreme Kraft in
Deutschland; ihre Bedeutung geht weit über ihre Wahl-
ergebnisse hinaus. Ich will dafür einige Beispiele nen-
nen.

Die NPD fungiert als Rückgrat für militante Nazi-
kameradschaften. Die versammeln sich beispielsweise in
ihren Parteilokalen, nutzen Parteiinfrastruktur, können
ihre Nazikonzerte auf Grundstücken der NPD machen.
Wenn sie ihre rechten Aufmärsche anmelden, stehen sie
unter dem besonderen Schutz des Parteienprivilegs. Die
enge Verflechtung der NPD mit den gewalttätigen Ka-
meradschaften zeigte sich erst im letzten Jahr wieder. In
Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise der Innenminis-
ter drei Kameradschaften verboten. Was passierte? – Der
NPD-Vorsitzende Holger Apfel reiste sofort ins Ruhrge-
biet, um seine Solidarität mit diesen Nazischlägern zu
bekunden. Man muss ganz klar sagen: Die Kamerad-
schaften sind diejenigen, die Gewalt ausüben und Men-
schen terrorisieren, die anders denken, wie beispiels-
weise Migrantinnen und Migranten. Sie stehen mit ihren
Knüppeln vor deren Haustüren und Ähnliches mehr. Im
Kreis Unna wurde beispielsweise eine Hausdurchsu-
chung bei den Kameradschaften durchgeführt. Und was
fand man? – NPD-Plakate, Materialien ohne Ende. Hier
muss man ganz deutlich sagen, dass die Kameradschaf-
ten so organisiert sind, dass sie im Grunde genommen
versuchen, über die NPD auch den Schutz des Parteien-
privilegs in Anspruch zu nehmen. Dass die NPD dafür
auch noch Steuergelder bekommt, ist wirklich ein Skan-
dal.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen sage ich: Wir können das nicht hinnehmen.

Ein weiteres Beispiel: In vielen Regionen Ostdeutsch-
lands fordert die NPD ihre Mitglieder auf, die Zivilge-
sellschaft zu unterwandern. Sie gehen in die Freiwilligen
Feuerwehren, in Sportvereine, in Musikvereine, in
Schulbeiräte, um dort ihr braunes Gift zu verbreiten.

Aus all diesen Gründen träfe ein Verbot der NPD na-
hezu die gesamten rechtsextremen Strukturen in
Deutschland. Ohne die NPD wären die Kameradschaften
nur halb so gut organisiert.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja, das glaube ich nicht!)


Angesichts der Gefahren, die von diesen Kameradschaf-
ten und Schlägertruppen ausgehen – nicht nur abstrakt
für die Demokratie, sondern auch sehr konkret für An-
dersdenkende, Obdachlose und Migranten, die angegrif-
fen werden –, dürfen wir nicht zögern, die NPD zu





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


verbieten; denn damit würden wir auch die Kamerad-
schaften treffen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir verbieten sie doch gar nicht! Das macht das Gericht!)


Nahezu jede Umfrage zeigt uns: In der deutschen Be-
völkerung haben Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeind-
lichkeit und Antisemitismus leider hohe Zustimmungs-
werte; denn die sogenannte Mitte der Gesellschaft ist
nicht immun gegen diesen Ungeist. Auch ein Thilo
Sarrazin beispielsweise schwadronierte über den Zusam-
menhang von Erbanlagen und dem gesellschaftlichen
Wert eines Menschen. Es ist völlig unverständlich, dass
so ein Mensch noch in den Reihen der SPD verbleiben
darf,


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD] und Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


wo doch gerade die Vereinten Nationen seine Äußerun-
gen als rassistisch verurteilt haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sind Brandstifter aus der Mitte dieser Gesellschaft.
Ich sage Ihnen: Es ist unglaubwürdig, wenn man solche
Leute in seinen Reihen lässt.

Nicht zuletzt hat auch der Asylkompromiss vor
20 Jahren gezeigt, wie mit Menschenrechten und Men-
schenwürde umgegangen wurde – das war zu einer Zeit,
als Asylbewerberheime in Deutschland brannten.

Ich betone das, weil es eines klarmacht: Der Kampf
gegen Rechtsextremismus hört nicht beim Kampf gegen
die NPD auf. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und An-
tisemitismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem,
und deswegen müssen wir es auch aus der Mitte heraus
bekämpfen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das sind Sie aber nicht!)


Rechtsextremisten müssen geächtet werden. Um den
Nazis das Wasser abzugraben, wäre die Unterstützung
eines Verbotsantrags hier von immenser Bedeutung,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In der Tat, es bleiben noch einige Fragen offen. Die
Linke hat das Material gesichtet und immer wieder klipp
und klar gesagt, dass die Innenminister unbedingt eine
verbindliche schriftliche Erklärung abgeben müssen,
dass das Material nicht wieder V-Leute-verseucht ist, da-
mit das Verbot nicht deswegen wieder scheitert. Zudem
fordern wir die Bundesregierung auf, Informationen
über die Verflechtungen von NPD und Kameradschaf-
ten, über ihre Gewaltbereitschaft bzw. ihre Gewalttaten
zusammenzustellen und ebenfalls an die Gerichte zu ge-
ben, damit diese entsprechendes Material haben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723709600

Frau Kollegin!


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723709700

Nicht zuletzt treibt uns die Sorge, dass das Verfahren

gegen die NPD als Alibi missbraucht wird; denn man
muss sagen: Es könnte damit auch sehr leicht abgelenkt
werden von den enormen Skandalen, die wir im NSU-
Verfahren aufgedeckt haben, was die Sicherheitsbehör-
den und den Verfassungsschutz angeht.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723709800

Frau Kollegin!


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723709900

Ich komme zum letzten Satz. – Ich kann jetzt nur

noch sagen, dass wir dem Antrag der Koalitionsfraktio-
nen nicht zustimmen werden, weil er vor lauter Eitelkeit
wirklich überhaupt nichts mehr zum NPD-Verbot sagt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710000

Frau Kollegin!


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723710100

Die Linke will dieses NPD-Verbotsverfahren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schluss jetzt!)


Wir müssen endlich Nägel mit Köpfen machen. Ich sage
zum Schluss nur noch: Auschwitz gedenken heißt NPD
verbieten.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710200

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Stefan

Ruppert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1723710300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen.
Ich empfand Ihren letzten Satz, Frau Jelpke, offen ge-
sagt, als etwas schlicht in der Argumentationsführung.
Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen – das sollten
wir uns hier nicht absprechen – machen sich die Ent-
scheidung heute nicht leicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Vielleicht ist es sogar die wirksamste Form der Verteidi-
gung der Demokratie, wenn wir in einer solchen De-
batte, statt uns abzusprechen, dass wir in diesen Punkten
auf demselben Fundament stehen, gerade die Gemein-
samkeit aller Demokraten in den Vordergrund stellen
und betonen.





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind nach reiflicher Abwägung aller Argumente
der Auffassung: Der Bundestag sollte keinen eigenen
NPD-Verbotsantrag stellen. Die Risiken sind hoch. Der
Ausgang ist ungewiss. Auch das Problem des Rechts-
extremismus wird durch ein NPD-Verbotsverfahren
nicht gelöst. Aufgrund dieses Dreiklangs wollen wir kei-
nen eigenen Verbotsantrag stellen.

Die NPD – ich habe das selbst als wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim letzten NPD-Verbotsverfahren erlebt –
ist eine zutiefst widerliche rechtsradikale Partei. Sie wi-
derspricht all dem, was mir als Demokrat, aber auch als
Christ wichtig ist. Sie spricht Menschen ihre Würde ab.
Von daher sollten wir der NPD überall entschlossen ent-
gegentreten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für mich als Liberaler ist das zuallererst die Aufgabe
der Gesellschaft. Ein wirksames Präventionsprogramm
gegen Rechtsextremismus ist, wenn wir in Vereinen, in
Feuerwehren, in kulturellen Einrichtungen, im Freundes-
und Gesprächskreis, in unserem unmittelbaren Umfeld
keinerlei Toleranz für Intoleranz zeigen,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


sondern dem rechtsextremen Gedankengut überall dort,
wo es auftritt, wirksam entgegentreten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heute steht eine politische Entscheidung an. Wir wol-
len und müssen politisch entscheiden, ob wir einen eige-
nen Antrag stellen. Herr Oppermann hat gesagt, wir hät-
ten uns damit zu viel Zeit gelassen. Die Grünen werfen
uns vor, wir würden überhastet handeln, was dieses Ver-
botsverfahren angeht. Ich finde schon – ich respektiere
die Haltung der SPD –, es stünde den Grünen gut an,
heute eine Entscheidung in der Sache zu treffen und ihre
Haltung, sei es dafür oder dagegen, zum Ausdruck zu
bringen. Bei der politischen Bewertung einer solchen
Frage ist Enthaltung nicht das adäquate Mittel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir Liberale singen gerne das seit dem Vormärz und
den Zeiten der Französischen Revolution in Deutschland
gesungene Lied: Die Gedanken sind frei. Wir hoffen da-
rauf, dass es demokratische, gute, idealistische Gedan-
ken sind, die frei sind. Wenn wir über diesen Satz nach-
denken, müssen wir aber auch feststellen, dass staatliche
Mittel gegenüber rechtsextremem Gedankengut, gegen-
über der Überzeugung von Rechtsextremen leider relativ
wirkungslos sind. Was nicht wirkungslos ist, sind die
Mittel der Strafverfolgung. Darin sind wir uns alle einig.
Dort, wo Rechtsextreme Straftaten begehen, wo sie den
Boden des Strafgesetzbuches und die Werte unserer Ge-
sellschaft verlassen, wo sie andere Menschen missach-
ten, sie gegebenenfalls sogar verletzen oder töten, muss
mit aller Härte dieses Rechtsstaates dem Rechtsextre-

mismus entgegengetreten werden. Deswegen ist es
wichtig, dass wir in solchen Fällen immer unsere Solida-
rität zeigen.

Am Anfang habe ich gesagt, die Risiken sind hoch,
die Erfolgschancen ungewiss und die zu erzielenden Er-
folge relativ klein. Das sage ich auch in dem Wissen,
dass wir im damaligen NPD-Verbotsverfahren dazu bei-
getragen haben, dass die NPD im Zusammenhang mit
dem Scheitern durchaus neue Mitglieder gewonnen hat,
weil wir sie zu Märtyrern gemacht haben. Wir sollten die
Mitglieder dieser Partei nicht zu Märtyrern machen. Wir
sollten ihnen dort entgegentreten, wo wir ihnen begeg-
nen: jeder in seinem Alltag und gemeinsam als Demo-
kraten. Ich glaube, damit erreichen wir mehr als mit ei-
nem NPD-Verbotsverfahren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710400

Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Wir sind uns im Deutschen Bundestag einig:
Die NPD ist eine menschenverachtende, rechtsextremis-
tische und verfassungsfeindliche Partei, die auf die Ab-
schaffung der freiheitlich-demokratischen Grundord-
nung ausgerichtet ist. Aus der Materialsammlung des
Bundes und der Länder geht das zweifelsfrei hervor. Die
NPD ist antisemitisch, rassistisch, islam- und menschen-
feindlich. Sie lehnt das demokratische System der Bun-
desrepublik Deutschland ab und will es beseitigen. Sie
will ihre Rolle als Partei nutzen, um Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit – im NPD-Jargon heißt das: das Sys-
tem – zu überwinden. Alle Mitglieder unserer Fraktion
würden es lieber heute als morgen sehen, dass es die
NPD nicht mehr gibt, weil sie verboten ist oder weil sie
politisch oder finanziell Bankrott anmelden muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Udo Voigt, der ehemalige Vorsitzende der NPD,
sagte: „BRD heißt das System – morgen soll es unterge-
hen!“ Die NPD lehnt die Werte des Grundgesetzes
– Gleichheit und Freiheit – grundsätzlich ab. Karl
Richter, ein NPD-Funktionär und Stadtrat aus München,
formuliert ganz rassenbiologisch:

Toleranz ist Manipulation des Natürlichen … Tole-
ranz wird eingefordert für Fremde, Homosexuelle,
Aidskranke … wo die Toleranz gegenüber Abwei-
chendem, Lebens-Unrichtigem überhand nimmt auf
Kosten der normalgebliebenen Mitglieder des Ge-
meinwesens, nimmt die Überlebensfähigkeit des
Ganzen Schaden … weil der Patient …

– die weiße Menschheit –

vor dem Exitus steht.


(Stephan Thomae [FDP]: Eklig!)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Hier wird gegen Minderheiten gehetzt. Deshalb muss
man sich der NPD mit allen demokratisch legitimen Mit-
teln überall entgegenstellen.


(Beifall im ganzen Hause)


Es gibt Verbindungen der NPD zu verbotenen rechts-
extremistischen Organisationen und neonazistischen
Straf- und Gewalttätern. Es gibt eine perfide Koopera-
tion mit den Freien Kameradschaften, den sogenannten
Freien Kräften. Diese Freien Kräfte bieten dem rechts-
extremen Spektrum Flexibilität, Mobilisierungsfähig-
keit und Aktionsorientierung. Die NPD versucht wäh-
renddessen, den Schutz durch das Parteienprivileg für
sich zu reklamieren. Karl Richter hat dazu gesagt, dass
das zwei Herangehensweisen, zwei Seiten der gleichen
Münze, zwei Scheiden der gleichen Klinge sind. Aber
unter dem Strich zählt, dass der Hieb, der mit dieser
Klinge geführt wird, auch sitzt.

Was die NPD will, ist ganz klar. Deshalb ist sich un-
sere Fraktion einig: Wenn ein Verfahren zum Verbot der
NPD große Chancen hätte, würden wir mit fliegenden
Fahnen sofort alle gemeinsam Ja sagen. Es gibt aller-
dings noch einige Fragen. Ich finde es wirklich bedauer-
lich, Kollege Oppermann, dass wir diese Fragen nicht in
einem ordentlichen Verfahren in den Ausschüssen, auch
mithilfe von Sachverständigen, klären können. Das ist
zum Beispiel die Frage nach den V-Leuten. Ich habe ges-
tern zum zweiten Mal das Innenministerium gefragt,
welche Innenminister denn das Testat, dass das Material
V-Mann-frei ist, wieder zurückgezogen haben. Die Re-
gierung antwortet einfach nicht


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie weigert sich!)


und verweist auf einen IMK-Beschluss. Hinzu kommt:
10 Prozent des Materials wurden entfernt, weil es quel-
lenbelastet war. Was das für das Verfahren heißt, kann
niemand hier im Hohen Hause aus eigenem Wissen als
Bundestagsabgeordneter letztgültig beurteilen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Und was bedeutet das jetzt?)


In meiner Fraktion gibt es viele, die darauf setzen,
dass die offensichtliche Nähe der NPD zum National-
sozialismus und zu den gewalttätigen Kameradschaften
sowie ihre Entschlossenheit, Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit – die Grundsätze der Bundesrepublik Deutsch-
land – abzuschaffen, ausreichen, um das Bundes-
verfassungsgericht und europäische Gerichte von der
Möglichkeit eines Parteiverbots zu überzeugen. Es gibt
andere, die fragen: Kann man mit diesem Material tat-
sächlich nachweisen, dass die NPD für den Bestand von
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepu-
blik Deutschland eine ernsthafte Gefährdung darstellt?


(Stephan Thomae [FDP]: Wohl kaum!)


Das sind keine trivialen Überlegungen, sondern sie
verdienen eine ernsthafte Erörterung. Deshalb sage ich:
Wenn wir als Deutscher Bundestag – ein Verfassungs-
organ, das weder der Bundesregierung noch dem Bun-
desrat zu folgen hat, sondern aus eigener Erkenntnis und
Einschätzung sein Urteil zu fällen hat – einen Verbots-

antrag stellen, bedarf das einer seriösen und sorgfältigen
Herangehensweise.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das sehe ich in dem heutigen Verfahren in der Tat nicht.
Ich verstehe nicht den Sinn darin, dass man hier einen

Antrag auf das Stellen eines Verbotsantrages stellt, von
dem man – schon aufgrund der Koalitionsmehrheit –
weiß, dass er keine Mehrheit findet.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Dann muss man ja nie wieder Anträge stellen! – Christine Lambrecht [SPD]: Dann können wir ja hier aufhören ohne Mehrheit! – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Dann gehen wir nach Hause! – Thomas Oppermann [SPD]: Ist das eine ernsthafte Argumentation? Nur Anträge, die eine Mehrheit haben?)


Ich muss Ihnen sagen: Ich möchte dem Bundesrat bei
seinem Versuch, die NPD zu verbieten, keine Knüppel
zwischen die Beine werfen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Wie bitte? Was war das?)


Für mich macht es einen Unterschied, ob der Bundestag
einfach nicht von seinem Recht auf das Stellen eines An-
trags Gebrauch macht oder ob er hier gezwungen wird,
den Antrag auf das Stellen eines Antrages mit Mehrheit
abzulehnen. Das halte ich für keine kluge Entscheidung,
für kein hilfreiches Signal im Hinblick auf das vom Bun-
desrat beantragte Verbotsverfahren, und es wird der
Ernsthaftigkeit des Sachverhaltes nicht gerecht.


(Widerspruch bei der SPD)

Wir sollten die Frage „Kann man die NPD verbieten
oder nicht?“ – nicht die Frage „Will man sie verbieten?“ –
nicht parteipolitisch instrumentalisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Mich erinnert das alles ein bisschen an 2003. Es wirkt
wie ein Wettbewerb: Wer kommt bei der Meisterschaft
gegen die NPD am höchsten aufs antifaschistische
Treppchen?


(Zurufe von der SPD)

Das ist aber nicht das, was wir brauchen. Wir brauchen
eine seriöse Diskussion und eine verantwortliche Ent-
scheidung in der Sache. Ich habe von dir, Thomas, kein
Argument dazu gehört, wie du die entsprechenden Hür-
den der Rechtsprechung überwinden willst. Aber das ist
die Frage, auf die man vor Gericht antworten muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Aber dem Bundestag willst du keine Knüppel zwischen die Beine werfen!)


Wir werden uns bei der Abstimmung über die An-
träge von SPD und Linken enthalten, weil wir nicht se-
hen, dass das entsprechend seriös diskutiert wurde.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wie mutig!)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Kurz zu unserem Antrag. Wir stellen fest: Unabhän-
gig vom Ausgang des NPD-Verbotsverfahrens, das es
aufgrund des Antrags des Bundesrates auf jeden Fall ge-
ben wird, gibt es Aufgaben im Kampf gegen den Rechts-
extremismus. Das staatliche Versagen bei der Aufklä-
rung der NSU-Morde darf nicht folgenlos bleiben. Die
zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremis-
mus darf man nicht länger in ihrer Arbeit behindern, und
sie müssen auf eine dauerhafte finanzielle Grundlage ge-
stellt werden. Denn der Kampf gegen den Rechtsextre-
mismus wird nicht an einem Tag gewonnen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP])


Ich komme zum Schluss. Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, Sie beweihräuchern
sich in Ihrem Antrag angesichts dessen, was Sie alles
Tolles gemacht haben, unter anderem, dass Sie die Kür-
zungen, die Sie bereits beschlossen hatten, auf Druck der
Opposition zurückgenommen haben. Aber Sie sagen
kein Wort zu dem, was wir im Bundestag schon be-
schlossen haben: dass wir die Hürden beseitigen, dass
wir von der kurzatmigen Projektförderung über nur drei
Jahre wegkommen und die Extremismusklausel endlich
zurücknehmen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710600

Herr Kollege.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710700

Da würde sich zeigen, ob Sie es ernst meinen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich erwarte von allen – ob Sie jetzt mit Ja, Nein oder
Enthaltung stimmen –, dass wir uns am 1. Mai in Dort-
mund und Berlin sehen, wenn die NPD und Die Rechte
auf die Straße gehen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710800

Herr Kollege.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723710900

Da ist jeder Demokrat auf der Straße gefordert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711000

Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Dr. Hans-

Peter Uhl das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1723711100

Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und

Kollegen! Bei der Frage, ob der Bundestag beim Verfas-
sungsgericht einen Verbotsantrag stellen soll, sind wir
alle in einer schwierigen Situation. Das ist, glaube ich,
jedem in der Debatte deutlich geworden. Es gibt be-
stimmte Sprecher einer Fraktion, die es bei der Debatte

besonders schwer haben; Sie haben es gerade in Gestalt
von Herrn Beck gehört.

Ich meine, wir alle miteinander – jeder Redner für
sich – sollten zunächst einmal gemeinsam feststellen,
dass das Gedankengut, das die Vertreter der NPD vortra-
gen, materiell verfassungsfeindlich ist. Der Antisemitis-
mus, den sie vortragen, ist für uns alle unerträglich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Der Antisemitismus und Rassismus in seiner widerwärti-
gen Form, der Ausländerhass, sind das Gegenteil dessen,
was wir alle mit unserer Politik verfolgen: eine Integra-
tion der Menschen, die zu uns kommen, und der Erhalt
des sozialen Friedens. Mit diesem Gedankengut kann
man niemals sozialen Frieden erreichen; er wird dadurch
zerstört.

Der primitive Führerkult, den NPD-Vertreter vortra-
gen, ist das Gegenteil einer pluralen, freiheitlichen De-
mokratie. Da sind wir alle uns einig. Lassen Sie uns
doch bitte immer wieder festhalten, dass es diese Einig-
keit gibt: Es gibt keinen Dissens, wohin ich auch schaue,
von links bis rechts. Das ist das große Verdienst aller
hier vertretenen Parteien in den vergangenen Jahrzehn-
ten. Wir sollten gemeinsam darauf stolz sein, dass es uns
gelungen ist, dieses Gedankengut in unserer Demokratie
zu ächten. 99 Prozent der Deutschen wollen mit diesem
Gedankengut nichts zu tun haben. Darauf sollten wir
stolz sein, und das müssen wir erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt sind wir beim Kern des Themas. Das Thema lau-
tet: Kann oder darf der Staat eine Partei verbieten, die
der Wähler bereits mit überwältigender Mehrheit ächtet,
was er an jedem Wahlsonntag wieder unter Beweis
stellt? 99 Prozent der Wähler ächten dieses Gedanken-
gut. Kann der Staat diese Partei dennoch verbieten?


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: 72 Prozent sind für ein Verbot!)


Der Blick ins Grundgesetz lehrt uns: Die Gedanken
sind frei, die Gründung einer Partei ist frei, sie unterliegt
keiner staatlichen Aufsicht, sofern nicht gegen Gesetze
verstoßen wird.


(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Es wird doch gegen Gesetze verstoßen! – Christine Lambrecht [SPD]: Das Verbot einer Partei ist aber auch frei!)


Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der tragende Ge-
danke des Rechtsstaates. Alles, was der Staat tut, muss
dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Die-
sen Gedanken auf die NPD angewandt, kommt man zu
folgenden Erkenntnissen: Wir haben leider Gottes etwa
23 000 Rechtsextreme in unserem Land, nur 5 000 da-
von sind in der NPD.


(Christine Lambrecht [SPD]: Jetzt rechnen wir uns das schön, oder was?)






Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)


Die NPD ist glücklicherweise eine sterbende Partei.
Selbst unter Rechtsextremen ist sie nicht attraktiv und
nicht anerkannt. Darüber sind wir froh. Es ist auch un-
sere Leistung, unser Erfolg, dass das so ist. Das heißt,
diese Partei ist für die freiheitlich-demokratische Grund-
ordnung ohne Bedeutung. Sie ist widerwärtig, sie ist
unangenehm, sie muss bekämpft werden, aber für die
politische Entwicklung in unserem Land ist sie ohne Be-
deutung. Sie hat keinen Einfluss bei der Willensbildung
des Volkes.

Diese Erkenntnis auf den Verhältnismäßigkeitsgrund-
satz angewendet, wird es für das Gericht schwer sein, ein
Verbot dieser Partei von Staats wegen zu begründen.
Aber gerade weil es schwierig bis unmöglich ist, dass
der Staat diese Partei verbietet, ist es umso mehr die
Aufgabe der gesamten Gesellschaft, das Gedankengut zu
bekämpfen. Eine Partei nicht zu verbieten, heißt doch
nicht, dass man das Gedankengut nicht bekämpft, son-
dern gerade deswegen muss es von uns allen bekämpft
werden. Dem dient unser Antrag.

Wenn Sie unseren Antrag lesen – er hat übrigens über
lange Strecken verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was
die Fraktion der Grünen jetzt noch nachgeschoben hat –,
werden Sie feststellen, dass er dem Kampf der gesamten
Gesellschaft gegen dieses Gedankengut dient; und das
ist gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das heißt, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird
sein, weiterhin, wo immer wir sind, Gedanken des Anti-
semitismus zu bekämpfen, Gedanken des Rassismus zu
bekämpfen, Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen und
den Führerkult zu ächten. Das ist die Aufgabe von uns
allen. Wir haben uns ihr verschrieben, und wir sind ihr
bisher mit großem Erfolg nachgekommen.

Ich hoffe, dass es bei der Bundestagswahl im kom-
menden September wieder dazu kommt, dass nur null
Komma irgendwas Prozent der deutschen Wähler einer
Partei mit diesem Gedankengut ihre Stimme geben und
99 Prozent der Wähler dieses Gedankengut durch ihre
Stimme ächten. Ein solches Votum der Wähler ist sehr
viel edler: ganz frei, geheim, jeder für sich. Es ist sehr
viel wertvoller als ein obrigkeitsstaatliches Verdikt von
einem Gericht, beantragt von Verfassungsorganen. Der
Wähler soll sagen: Wir wollen damit nichts zu tun ha-
ben; wir haben aus der Geschichte gelernt. – Der Wähler
hat es bisher getan, er wird es auch weiter tun.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711200

Für den Bundesrat erteile ich jetzt dem Landesminis-

ter Boris Pistorius das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1723711300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Ich darf vorwegschicken: Ich bin
der SPD-Bundestagsfraktion sehr dankbar für die Mög-
lichkeit, diese Debatte heute hier zu führen. Nach den
Diskussionen der letzten Monate ist sie zum jetzigen
Zeitpunkt notwendig.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Es stimmt: Die NPD hat in den letzten Jahren Mitglie-
der verloren. Es trifft zu: Die NPD befindet sich in finan-
ziellen Schwierigkeiten. Sie hat ihre Vorstandsmitarbei-
ter entlassen. Diese Entwicklung ist überaus erfreulich.

Aber ist deswegen ein NPD-Verbot überflüssig?


(Mechthild Rawert [SPD]: Nein!)


Sollen wir darauf hoffen, dass sich das Problem NPD
von alleine erledigt? Sollen wir bis dahin einfach die
Hände in den Schoß legen? Wäre das etwa ein Zeichen
demokratischer Geschlossenheit?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die Antwort kann mit Blick auf die Opfer der NPD-
Propaganda in Deutschland nur heißen: Nein, wir dürfen
nicht einfach nur abwarten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Einlei-
tung eines Verbotsverfahrens zusammengestellte Mate-
rialkonvolut, das übrigens zu drei Vierteln aus Materia-
lien des Bundes besteht, belegt es eindeutig: Die NPD ist
eine neonazistische, eine antisemitische und eine rassis-
tische Partei.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Dissens!)


Ich habe in den letzten Wochen und Monaten und
auch heute viel über das Risiko eines solchen Antrags
und die Ungewissheit des Ausgangs eines Verbotsver-
fahrens gehört. Aber ich frage Sie: Vor welchem Gericht
in Deutschland gibt es hundertprozentige Gewissheit im
Hinblick auf das, was ich mit meinem Antrag, meiner
Klage bewegen will?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hielte es für einen Ausdruck demokratischer Ge-
schlossenheit und Entschlossenheit, diesen Antrag auch
dann zu stellen, wenn man, wie im Regelfall, nicht hun-
dertprozentig sicher sein kann, Erfolg damit zu haben.
Wir alle kennen das Sprichwort über Gerichtsentschei-
dungen.

Es ist schwer zu ertragen, wenn von der NPD als einer
Dummheit gesprochen wird, die man nicht verbieten
könne.





Minister Boris Pistorius (Niedersachsen)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch schwerer ist es nachzuvollziehen, dass die Bundes-
regierung sich dieser Auffassung anschließt. Menschen
mit Migrationshintergrund, Angehörige anderer Reli-
gionsgemeinschaften – insbesondere Juden und Muslime –,
Wohnungslose, Menschen mit Behinderung, Homo-
sexuelle: Sie alle werden von der NPD systematisch dif-
famiert. Diesen Menschen muss es doch wie Hohn vor-
kommen, dass diese widerwärtige Propaganda der NPD
zu einem großen Teil mit staatlichen Mitteln finanziert
wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Allein im Jahre 2011 machten sie 42 Prozent der Ge-
samteinnahmen der NPD aus.

Als Innenminister eines Flächenlandes, das rechts-
extremen Tendenzen sehr kritisch und sehr aufmerksam
begegnet, sage ich: Erstens verharmlost es die NPD,
wenn man sie einfach nur als Dummheit bezeichnet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens muss man gegen Dummheit angehen,


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau das machen wir!)


und zwar mit Aufklärung, mit Sensibilisierung, mit Aus-
steigerprogrammen und, ja, auch mit einem Parteiver-
botsantrag.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es stimmt ja: Dummheit kann man nicht verbieten.
Wohl aber diese Partei. Wenn die Klügeren immer nur
nachgeben, dann gewinnen am Ende die Dummen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die Demokraten im Bund und in den Ländern müssen
geschlossen zusammenstehen. Wir dürfen nicht zulas-
sen, dass die Rechten auch nur einen Quadratmeter Bo-
den in den Köpfen der Menschen dazugewinnen. Es
steht außer Frage, dass die NPD eine verfassungsfeindli-
che Partei ist. Für mich steht auch außer Frage: Wir kön-
nen und werden das Bundesverfassungsgericht davon
überzeugen, dass die NPD in aggressiv-kämpferischer
Art und Weise unsere freiheitlich-demokratische Grund-
ordnung beseitigen will.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen für den Nachweis auch keine plakativen
Aufrufe der NPD zu Gewalt oder lange Straftatenregis-
ter. Ein planvolles politisches Vorgehen wird ausrei-
chend deutlich anhand einer Vielzahl von Materialien,
die auch im Internet einsehbar sind. Auch wenn es mir
schwerfällt, zitiere ich aus dem Internetauftritt der NPD:

Ein Afrikaner, Asiate oder Orientale wird nie Deut-
scher werden können, weil die Verleihung gedruck-
ten Papiers (eines BRD-Passes) ja nicht die biologi-
schen Erbanlagen verändert, die für die Ausprägung
körperlicher, geistiger und seelischer Merkmale
von Einzelmenschen und Völkern verantwortlich
sind.

Welchen Beweises braucht es noch?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ein Verbot der NPD ist nicht gleichbedeutend mit ei-
nem Sieg über den Rechtsextremismus. Diese Illusion
hat niemand. Aber ein Verbot der NPD würde den
Rechtsextremismus dort, wo er immer noch starke
Strukturen hat – zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpom-
mern und Sachsen –, ins Mark treffen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem aber sendet eine gemeinsame Erklärung zu ei-
nem NPD-Verbotsverfahren ein starkes moralisches und
politisches Signal aus. Deswegen, meine Damen und
Herren von der CDU, von der CSU, von der FDP und
auch von den Grünen, fordere ich Sie als niedersächsi-
scher Innenminister und Vorsitzender der Innenminister-
konferenz auf – ich bitte Sie herzlich –: Schließen Sie
sich dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und dem
Antrag des Bundesrates an. Wir schulden es den Opfern
rechtsextremistischer Gewalt.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711400

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hartfrid Wolff

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Minister Pistorius, wir schulden es den Opfern rechts-
extremistischer Gewalt, dass wir wirkungsvoll gegen
Rechtsextremismus vorgehen und hier keine Ablen-
kungsdebatten über das NPD-Verbotsverfahren führen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für die FDP besteht kein Zweifel: Die NPD ist eine
rechtsextremistische Partei mit menschenverachtenden
Inhalten. Natürlich gehört zur wehrhaften Demokratie
auch das Parteiverbot. Man muss sich aber die Frage
stellen, ob durch ein Verbot nicht einfach nur eine Hülle
beseitigt wird, das Grundproblem aber bestehen bleibt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


Gerade für die FDP hat ein wirkungsvolles Vorgehen
gegen politischen Extremismus höchste Priorität. Auch
die übelste Gesinnung kann man nicht einfach verbieten,
und Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Jedenfalls ist
ein NPD-Verbot kein Patentrezept, auch wenn die SPD
das hier suggerieren möchte. Selbst wenn die rechts-
extremistische Szene durch ein Verbot vorübergehend
geschwächt würde, sind größere Anstrengungen notwen-
dig, auch der Länder, Herr Pistorius, und zwar insbeson-
dere im Polizeibereich, um den Druck auf diese Szene
massiv zu erhöhen.

Auch juristisch ist Vorsicht geboten. Das lehren allein
schon das gescheiterte Verfahren 2003 und die bisherige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zu anderen Parteiverbotsverfahren.

Aber nicht nur juristisch gilt es, das Für und Wider
abzuwägen. Wir haben vielfach die Erfahrung gemacht:
Wenn eine rechtsextreme Organisation verboten wird,
gründet sie sich unter anderem Namen neu. Wie oft soll
das Spiel denn immer wieder neu beginnen? Verschafft
ein Verbotsverfahren nicht unnötigerweise einer Partei
Aufmerksamkeit, die angesichts ihrer Mitgliederent-
wicklung und ihrer Finanzen ohnehin am Boden liegt?

Die Länder erwecken mit einem monatelang andau-
ernden Verbotsverfahren den Eindruck besonderen
Engagements. Tatsächlich haben die Länder aber über
viele Jahre hinweg bei der Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus versagt. Die NSU-Mordserie hat dies sehr deut-
lich gezeigt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711500

Herr Wolff, der Kollege Gysi hat eine Zwischenfrage

an Sie. Möchten Sie sie zulassen?

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Nein. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der

SPD, offenbar wollen Sie auch mit Ihrem Antrag hier im
Bundestag den Eindruck eines besonderen Engagements
erwecken. Wir stehen aber vor anderen Herausforderun-
gen; denn die Morde der Zwickauer Terrorzelle sind die
schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten
Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland
bisher erlebt hat. Das ist eine Krise in Bezug auf die Si-
cherheitsarchitektur und die -organe.


(Mechthild Rawert [SPD]: Eine Schande für unseren Rechtsstaat!)


Es fehlt allerdings nach wie vor der Nachweis eines
unmittelbaren Zusammenhangs mit der NPD als Partei.
Generalbundesanwalt Range sprach davon – angesichts
unserer Ermittlungen im Untersuchungsausschuss wis-
sen wir, dass das sehr plausibel ist –, dass es keinerlei
Anhaltspunkte dafür gebe, dass der NSU quasi als ver-
längerter Arm der NPD angesehen werden könne. Das in
diesem Zusammenhang permanent öffentlich vorgetra-
gene Ansinnen der SPD zum NPD-Verbotsverfahren soll
offenbar einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Doch
mit einem NPD-Verbot wäre in Sachen NSU nichts ge-
wonnen. Durch ein Verbotsverfahren gegen die NPD

darf das öffentliche Interesse nicht von der Aufklärung
der NSU-Verbrechen abgelenkt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Diskussion über den dringenden Reformbedarf
unserer Sicherheitsarchitektur darf nicht durch diese
symbolhafte NPD-Verbotsdebatte verdeckt werden. Die
Neuaufstellung der Behörden ist nötig. Hier ist das Boh-
ren dicker Bretter gefragt – und eben keine Ablenkungs-
debatte.

Mit einem schlichten Verbot einer Partei ist es für uns
nicht getan. Die FDP besteht nach wie vor auf der wir-
kungsvollen Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Extremismus insgesamt und einer lückenlosen Aufklä-
rung der NSU-Mordserie. Die FDP wird sich weiterhin
kompromisslos gegen extremistische Ideologien in unse-
rer Gesellschaft, egal wo sie auftreten, einsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711600

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem

Kollegen Dr. Gregor Gysi.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723711700

Herr Wolff – dasselbe könnte ich zum Vertreter der

Grünen sagen –, mir fallen zwei Dinge auf.

Erstens. Sie tun immer so, als würden wir hier ent-
scheiden, ob es ein Verfahren geben wird oder nicht, und
dies juristisch abwägen. Es wird ein Verfahren geben,
weil der Bundesrat dies entschieden hat. Es geht doch
nur um die Frage, ob der Bundestag den Bundesrat un-
terstützt oder alleinelässt. Das ist die Frage, die wir hier
zu beantworten haben.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens. Mich stört, dass Sie sagen, ein Verbot nutze
in bestimmten Bereichen nichts. Dass das nicht aus-
reicht, wissen wir alle. Aber glauben Sie nicht, dass ein
Verbot der NPD eine wichtige Hemmschwelle in unserer
Gesellschaft setzt und zugleich dem Ausland signali-
siert, dass wir in Deutschland das Überschreiten einer
bestimmten Grenze bei Rassismus, Antisemitismus und
Ausländerfeindlichkeit nicht zulassen? Wäre es nicht
wichtig, dieses Signal zu setzen?


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711800

Herr Wolff zur Antwort bitte.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Kollege Gysi, zunächst einmal ist die Frage, ob

man hinter einem Antrag steht oder nicht, schon bedeu-





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


tend. Wenn ich daran denke, wie 2003 das NPD-Verbots-
verfahren ausgegangen ist, kann ich Ihnen nur sagen: Es
ist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Zeichen, dass der
Deutsche Bundestag klar erklärt, dass er Rechtsextre-
mismus politisch bekämpfen möchte


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


und von der juristischen Art und Weise, ihn zu bekämp-
fen, wie sie auch von Ihnen unterstützt wird, nicht wirk-
lich überzeugt ist.


(Zurufe von der SPD)


Sie sagen, dass es bei einem NPD-Verbotsverfahren
darum geht, ein Zeichen zu setzen. Aber wenn diese Par-
tei tatsächlich verboten werden würde, hätten wir doch
nach kürzester Zeit eine andere Partei – solche Parteien
gibt es schon in der Parteienlandschaft –, die dann in den
Genuss von finanzieller Unterstützung durch Parteien-
finanzierung und Ähnlichem käme, falls sie genügend
Wähler gewinnt.

Ich sage Ihnen ganz offen: Das beste Signal gegen die
NPD haben die Wähler in Niedersachsen und auch bei
der letzten Bundestagswahl gesetzt, indem sie die NPD
nur sehr wenig unterstützt haben. Die NPD hatte bei die-
sen Wahlen keinen Erfolg. Um wirkungsvoll gegen Ex-
tremismus vorzugehen, muss es dieses Wahlverhalten
auf allen Ebenen, auf Kommunal-, Landes- und Bundes-
ebene, geben. Die Programme, die die Bundesregierung
vorgelegt hat, sind gute Schritte in die richtige Richtung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723711900

Der Kollege Dr. Franz Josef Jung hat jetzt das Wort

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1723712000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich denke, alle Demokraten sollten sich einig
sein, dass Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradika-
lismus in Deutschland keine Chance haben dürfen


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und dass wir alles tun, um das sowohl politisch als auch
gesellschaftlich zu bekämpfen.

Die menschenverachtende Gesinnung von Rechts-
extremisten steht in einem deutlichen Widerspruch zu
den Werten unserer Verfassung. Insofern ist es eindeutig
– wir haben das, denke ich, auch betont –: Die NPD ver-
folgt verfassungsfeindliche Ziele. Wer sich die Nazi-
diktatur zum Vorbild nimmt, steht in einem eindeutigen
Widerspruch zu den Werten unserer Verfassung und hat
unseren Widerstand verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb sind, denke ich, sowohl Politik als auch
Gesellschaft gefordert, alle Erscheinungsformen des

Rechtsextremismus zu bekämpfen. Hierbei geht es uns
um einen umfassenden und nicht um einen einseitigen
Ansatz.

In unserem Antrag haben wir die einzelnen Positio-
nen dargestellt. Es geht um Bildung als Beitrag zur Sen-
sibilisierung gegen Rechtsextremismus, um die Unter-
stützung des zivilgesellschaftlichen Engagements, zum
Beispiel durch die Bundesprogramme „Zusammenhalt
durch Teilhabe“ und „Toleranz fördern – Kompetenz
stärken“. Es geht aber auch um den Vereinsbereich. Im
Bereich des Sports beispielsweise gibt es das Programm
„Verein(t) gegen Rechtsextremismus“. Außerdem müs-
sen wir die Aussteigerprogramme unterstützen und Hilfe
zur Selbsthilfe geben; immerhin sind in diesem Rahmen
schon 100 Personen aus dem rechtsextremistischen Mi-
lieu ausgestiegen. Ich glaube, es ist ein wichtiger Punkt,
auch in dieser Richtung alles Notwendige zu tun. Wir
müssen die verschiedensten Facetten nutzen, um den
Rechtsextremismus zu bekämpfen, sowohl politisch als
auch gesellschaftlich, und dies nicht nur mit einem ein-
seitigen Verbotsantrag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu gehören auch die effektive Prävention und die
strenge Repression durch staatliche Stellen: durch Polizei,
Justiz, Bundeskriminalamt und die Verfassungsschutz-
behörden.

Ich will hervorheben: Dort, wo wir die Kompetenz
haben, zu entscheiden, haben wir entschieden. So wur-
den in Deutschland beispielsweise zehn extremistische
Vereine verboten, wir haben die Verbunddatei gegen
Rechtsextremismus auf den Weg gebracht und die Zu-
sammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden verbes-
sert. Das alles sind Punkte, die aus unserer Sicht dazuge-
hören.

Kollege Gysi, wir haben in unserem Antrag ausdrück-
lich formuliert, dass wir es begrüßen, dass das von den
Ländern in Gang gesetzte Verfahren von der Bundes-
regierung unterstützt wird. Aber wir haben Zweifel im
Hinblick auf die angemessene Berücksichtigung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes; das ist
ein Aspekt, den man in dieser Debatte nicht verkennen
darf. Die NPD nutzt ein solches Verfahren nämlich, um
sich ein Stück weit zu profilieren; das haben wir an eini-
gen Anträgen vonseiten der NPD gesehen.

Ich glaube, das Kriterium, das wir an den SPD-Antrag
anlegen müssen, ist die Frage nach der Verhältnismäßig-
keit eines Parteienverbotes. Der Europäische Gerichts-
hof hat festgestellt: Ein Parteienverbot ist nur dann mög-
lich, wenn die Gefahr besteht, dass die Existenz der
Demokratie durch die betreffende Partei unmittelbar ge-
fährdet ist. – Wir haben angesichts eines Bundestags-
wahlergebnisses von 1,5 Prozent Zweifel, dass dieses
Vorgehen gerechtfertigt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, bundespolitisch steht diese
Partei dort, wo sie hingehört, nämlich im Abseits. Das





Dr. Franz Josef Jung


(A) (C)



(D)(B)


wollen wir auch bei den kommenden Wahlen erreichen.
Deshalb wollen wir den politischen Kampf gegen den
Rechtsextremismus nicht einseitig, sondern umfassend
führen. Der beim Bundesverfassungsgericht eingereichte
Antrag auf Verbot dieser Partei ist lediglich ein Baustein
im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Im Falle des
Scheiterns kann er aber zu einer großen Baustelle wer-
den. Wir haben ja gesehen: Als das Verbotsverfahren
2003 gescheitert ist, sind die Stimmanteile der NPD ge-
stiegen; das muss in dieser Debatte mitberücksichtigt
werden. Genau das wollen wir verhindern. Wir wollen
diese Partei bekämpfen, ihr aber nicht die Chance geben,
sich zusätzlich zu profilieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, ich denke, unser Antrag ist
der weitergehende und effektivere Antrag zur Bekämp-
fung des Rechtsextremismus. Deshalb bitte ich Sie um
Unterstützung unseres Antrags.

Besten Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723712100

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael

Hartmann das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1723712200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! In der Tat: Jeder, der zu dem scharfen Schwert
eines Parteienverbots greift, muss sich sehr genau über-
legen: Ist das gerechtfertigt, und ist das maßvoll? Ist es
das, was wir in einer entwickelten liberalen Demokratie
tatsächlich wollen? Um darauf Antworten zu finden, will
ich in aller Kürze ein paar Zitate verlesen.

Im Grundsatzprogramm der NPD gibt es ein Kapitel
mit der Überschrift „Integration ist Völkermord“. In
diesem Kapitel wird gefordert, dass die deutsche Volks-
substanz zu erhalten ist. So lautet der Text.

Nun zum gesprochenen Wort; bei der Gesamtabwä-
gung geht es ja auch um die aggressiv-kämpferische
Grundhaltung. Da sagt ein hoher Funktionär der NPD
bei einer öffentlichen Veranstaltung in Gera in Richtung
Gegendemonstranten:

Wir sagen: Tod, Vernichtung diesem roten Mob.
Nicht unser Volk darf sterben, sondern dieser volks-
feindliche Pöbel.

Dann gibt es eine weitere Veröffentlichung eines NPD-
Kandidaten, der auf seiner Homepage die Frage stellt:

Sind die „Dönermörder“ verfassungsgemäße Wi-
derständler?

Was brauchen Sie noch, um zu sagen: „Diese Partei
muss verboten werden!“?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir leben in einem Land, das aufgebaut ist auf einem
Nie-wieder zu nationalsozialistischer Tyrannei. Insofern
ist es ein Gebot der Staatsräson, diese Partei durch das
Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Bundesrat hat abgewogen – übrigens in engster
Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium und
mit den Sicherheitsbehörden des Bundes; man war also
immer dabei – und ist zu dem Ergebnis gekommen: Ja-
wohl, wir wollen es noch einmal wagen und ein Verfah-
ren anstrengen.

Entgegen dem, was zum Beispiel der Kollege Wolff
vorhin in der Entgegnung auf die Kurzintervention
sagte, ist es nicht wahr, dass das Bundesverfassungs-
gericht der NPD jemals attestiert hätte, dass sie verfas-
sungsgemäß sei – das Verfahren wurde überhaupt nicht
zugelassen.

Das neue Verfahren ist gründlich und durchdacht vor-
bereitet. Mit dem Antrag der SPD wollen wir die Gele-
genheit bieten, dass wenigstens dieses Verfassungsorgan
den Bundesrat nicht im Regen stehen lässt, wie es die
Bundesregierung – mehr aus koalitionärer Rücksicht-
nahme denn aus ernsthafter Abwägung – getan hat.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


In diesem Sinne muss man sehr genau überlegen, wie
man nun weiter argumentiert, auch seitens des Bundes-
innenministers, der an dieser Debatte anscheinend gar
nicht teilnimmt.

Vor gut einem Jahr hat der Minister dankenswerter-
weise die „Hilfsorganisation für nationale politische Ge-
fangene und deren Angehörige“ verboten. Er hat eine
Organisation verboten, keine Gesinnung. Sie haben da-
mals völlig richtig gesagt: Hier zeigt die wehrhafte De-
mokratie ihre Zähne. Wir werden solche Organisationen
nicht dulden. – Was bei einer Organisation mit 600 Mit-
gliedern recht ist, kann bei einer Partei wie der NPD mit
6 000 Mitgliedern nur recht und billig sein.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Natürlich ist es mit einem Parteiverbot nicht getan.
Aber es ist ein Gebot unseres Selbstverständnisses, ein
Verbot dieser Partei anzustreben. Hinzu kommen müs-
sen Förderung und Unterstützung der Zivilgesellschaft.
Es muss Schluss sein damit, dass diejenigen, die gegen
rechts kämpfen, sich am Schluss mit einer Extremismus-
klausel herumschlagen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es muss auch Schluss sein damit, dass die Bekämpfung
des Rechtsextremismus vermischt wird mit der Bekämp-
fung des Linksextremismus und mit der Bekämpfung
des Salafismus. Nein, Rechtsextreme sind ein besonde-
res Übel und müssen von unseren Sicherheitsbehörden
mit eigenständigen Ansätzen verfolgt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723712300

Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.


Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1723712400

Wenn das Demokratieverständnis durch diese Debatte

tatsächlich gestärkt wird, ist immerhin etwas erreicht.

Als letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Die SPD
geht nicht taktisch mit dieser Frage um. Die SPD hat in
der Zeit des Widerstands gegen die Hitlerei einen hohen
Blutzoll geleistet. Es ist Teil unseres Selbstverständ-
nisses, dass die Rechten – auch als Partei – nie mehr in
Deutschland Fuß fassen.


(Anhaltender Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723712500

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Helmut Brandt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1723712600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die heutige Debatte über den richtigen Um-
gang mit dem in Deutschland zweifellos vorhandenen
Rechtsextremismus ist schwierig: Obwohl – darüber bin
ich sehr froh – alle in diesem Hause die Notwendigkeit
sehen, gegen diese Bestrebungen wirksam vorzugehen,
besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Wahl der Mittel.

Ausgangspunkt für unsere heutige Debatte ist unter
anderem die schreckliche Erkenntnis, dass eine rechte
Terrorzelle, die sich selbst den Namen „Nationalsozialis-
tischer Untergrund“ gab, Menschen mit ausländischen
Wurzeln getötet hat, sowie der Beschluss des Bundes-
rates, beim Bundesverfassungsgericht ein erneutes Ver-
botsverfahren gegen die NPD einzuleiten.

Seit der erste Verbotsantrag im Jahre 2003 vor dem
Bundesverfassungsgericht scheiterte, haben sich alle
– sowohl der Bund als auch die Länder – bemüht, die
Ursachen für dieses Scheitern zu beseitigen, um so bei
einem möglichen zweiten Anlauf aufgrund des V-Leute-
Problems nicht ein neues Fiasko zu riskieren. Die Frage
stellt sich mithin, ob wir heute einen Punkt erreicht ha-
ben, der ein neues Verfahren notwendig und erfolgver-
sprechend macht.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723712700

Herr Kollege, der Kollege Ströbele möchte Ihnen eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1723712800

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723712900

Bitte schön, Herr Ströbele.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1723713000

Wenn er sonst nicht reden darf.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das war gut!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil Sie jetzt
auch zu dem Punkt Stellung nehmen, zu dem der Kol-
lege Gysi, der im Augenblick nicht da ist, vorhin schon
geredet hat.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Da kommt er! Unter der Radarschwelle!)


Geben Sie mir recht, dass der Deutsche Bundestag in
den Jahren 2001 bis 2003 – der Antrag war 2001 gestellt
worden – schon einmal versucht hat, durch einen Ver-
botsantrag gegen die NPD ein Signal gegen die NPD zu
setzen, dass dies aber total schiefgegangen ist, weil es
eher ein Signal in die falsche Richtung gewesen ist und
auch für die Bevölkerung im Inland ein falsches Signal
war? Geben Sie mir weiter recht, dass der Deutsche Bun-
destag heute – das haben Sie ja bereits angesprochen – ge-
nauso wenig wie in dem früheren NPD-Verbotsverfahren
in der Lage ist, die Validität des vorgelegten Materials zu
überprüfen und die V-Mann-Freiheit zu garantieren, und
dass es deshalb mit diesem Signal des Deutschen Bun-
destages diesmal wieder genauso schiefgehen könnte
wie beim letzten Mal?


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1723713100

Herr Ströbele, es ist selten der Fall, aber ich muss sa-

gen: Ich kann Ihren Ausführungen im vollen Umfang zu-
stimmen. Ich möchte aber hinzufügen – auch im Hin-
blick auf das, was Herr Gysi eben gesagt hat –: Es darf
und kann bei dieser Frage keinen Automatismus geben,
wonach der Bundestag, wenn eines der beiden Verfas-
sungsorgane Bundesrat und Bundesregierung einen sol-
chen Antrag stellt, diesem dann zwangsläufig auch fol-
gen muss.

Gerade das Scheitern 2002/2003 – da gebe ich Ihnen
ausdrücklich recht – zeigt doch – das haben auch meine
Vorredner deutlich gemacht –, dass mit einem solchen
Antrag, den wir als Abgeordnete nicht hundertprozentig
auf Validität überprüfen können, das hohe Risiko einge-
gangen wird, dass damit das Gegenteil von dem bewirkt
wird, was wir alle wollen. Deshalb werden wir ihn ab-
lehnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Länder sind bei der Beratung zu der Überzeugung
gelangt, dass die Voraussetzungen für ein solches Ver-
fahren beim Bundesverfassungsgericht vorliegen.
Ebenso wie die Bundesregierung werden auch wir die
Länder bei ihrer Antragstellung nach besten Kräften un-
terstützen. Dennoch haben wir als Bundestag das Recht
und auch die Pflicht, uns zu fragen, ob wir selbst ein sol-
ches Verbotsverfahren als erfolgversprechend einschät-
zen und ob wir diesem Verfahren beitreten wollen.

Die Verfassungswidrigkeit der NPD ist zwischen al-
len Fraktionen unstreitig. Wir alle wissen jedoch mit





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)


Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte, dass ein Antrag nur erfolgreich sein wird, wenn
die Antragsteller nachweisen können, dass die NPD eine
konkrete Gefahr für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung darstellt. Selbst angesichts der Verflech-
tungen zwischen der NPD und anderen rechtsextremisti-
schen Gruppierungen wird es schon im Hinblick auf die
abnehmende Mitgliederzahl der NPD und auf ihren
sonstigen Zustand augenscheinlich schwer werden, eine
solche konkrete Gefahr nachzuweisen.

Seit 2003 hat die NPD kontinuierlich an Mitgliedern
und an Bedeutung verloren. Immer mehr rechtsextremis-
tisch Gesinnte haben sich anderen Gruppierungen zuge-
wandt – bis hin zu der neu gegründeten Partei Die
Rechte. In meinen Augen zeigt das, dass rechtsextremis-
tische Strömungen und Verbrechen mit einem Verbots-
verfahren gegen die NPD nicht wirksam zu bekämpfen
sind. Als Jurist teile ich die Zweifel all derer, darunter
auch namhafter Verfassungsrechtler, die sich gegen ei-
nen Verbotsantrag ausgesprochen haben. Mehr noch
fürchte ich sogar, dass wir mit dem angestrebten Verfah-
ren dem rechten Spektrum mehr nutzen als schaden.

Meinungsfreiheit ist in Deutschland zu Recht ein sehr
hohes Gut. Eine Demokratie muss – das wissen wir alle –
falsche Lehren, gerade auch grobe Dummheiten aushal-
ten können. Die Auseinandersetzung mit unterschiedli-
chen Meinungen und die Gleichwertigkeit von Meinun-
gen sind das Wesensmerkmal einer Demokratie. Aus
gutem Grund stellt deshalb in einer wehrhaften Demo-
kratie ein Parteiverbot die Ultima Ratio dar.

Ich sage sehr deutlich –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723713200

Herr Kollege.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1723713300

– ich komme gleich zum Schluss –: Unser System

muss sich permanent mit dem Thema Rechtsextremis-
mus beschäftigen. Auch deshalb ist der Antrag, den wir
hier eingebracht haben, dazu dienlich, genau diesen Auf-
trag überall zu erfüllen.

Letzter Gedanke. Ich komme aus Nordrhein-Westfa-
len. Da gibt es sehr viele Städte, die mit dem Rechts-
extremismus zu kämpfen haben. Überall dort, wo Bürge-
rinnen und Bürger sich dagegen aufgelehnt haben, ist
dieser Rechtsextremismus zurückgegangen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723713400

Herr Kollege.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1723713500

Diesen Menschen danke ich, und sie möchte ich wei-

ter unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723713600

Es liegen eine ganze Reihe Erklärungen nach § 31 un-

serer Geschäftsordnung vor.1)

Das Wort zu einer mündlichen Erklärung gebe ich
jetzt der Kollegin Sevim Dağdelen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723713700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich stimme heute für den Antrag, ein NPD-Verbotsver-
fahren einzuleiten, weil auch ich es unerträglich finde,
dass die NPD weiterhin über 300 000 Euro pro Quartal
an Steuergeldern bekommt – Gelder, die unter anderem
von Migrantinnen und Migranten gezahlt werden, von
Menschen, gegen die diese menschenverachtende Partei
Hetze und Propaganda betreibt,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Erklären Sie doch mal Ihr Verhalten!)


Gelder, die für den Unterhalt der NPD-Schlägertruppen
verwendet werden, deren Opfer vor allem Migrantinnen
und Migranten sind.

Ich stimme heute für die Einleitung eines NPD-Ver-
botsverfahrens, weil die NPD mit ihrer staatlichen För-
derung auch den Boden für rassistische Gewalt an Mi-
grantinnen und Migranten bereitet.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sollen eine Erklärung zur Abstimmung abgeben!)


Letztes Jahr wurden 521 rechtsextreme und fremden-
feindliche Gewalttaten verübt, davon allein 121 in mei-
nem Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo viele Men-
schen mit Migrationshintergrund leben.

Ich stimme für die Einleitung eines NPD-Verbotsver-
fahrens, weil Faschismus, Rassismus und Antisemitis-
mus keine Meinung sind, sondern ein Verbrechen,


(Beifall bei der LINKEN)


ein Verbrechen, dem nicht nur Millionen in der Zeit der
Nazidiktatur zum Opfer gefallen sind, sondern das bis
heute vielen Menschen, vielen Migrantinnen und Mi-
granten das Leben gekostet hat. Deshalb stimme ich
heute für den Antrag, die NPD zu verbieten, und stelle
mich damit solidarisch an die Seite aller Selbstorganisa-
tionen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland,
die diese Forderung schon seit langem erheben.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723713800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13227 mit dem
Titel „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundes-
tages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststel-
lung der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokrati-
schen Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2

1) Anlagen 4 bis 9





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes“.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist das ein SPD-Antrag? – Weiterer Zuruf: Haben Sie nicht „FDP“ gesagt?)


– Es handelt sich um einen Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/13227.

Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion der SPD
über den Antrag namentlich ab. Ich weise darauf hin,
dass im Anschluss noch eine weitere namentliche Ab-
stimmung folgen wird.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ih-
ren Platz einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Das
ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.1)

Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/13225
mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen be-
kämpfen“. Auch hierzu ist namentliche Abstimmung
verlangt. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Sind Mitglieder des Hauses anwesend, die ihre
Stimmkarte noch nicht abgeben konnten? – Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
wiederum die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen.2)

Ich komme jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13231 mit
dem Titel „NPD verbieten“. Ich frage: Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Dieser Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmung
durch die Fraktion Die Linke und die Fraktion der SPD.
Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Bünd-
nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13240
mit dem Titel „Rechtsextremismus umfassend bekämp-
fen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Antrag ebenfalls abge-
lehnt, bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dagegen
haben CDU/CSU, FDP und SPD gestimmt. Die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen hat für ihren Antrag ge-
stimmt.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleuni-
gung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze

– Drucksache 17/12638 –

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Energiewirtschaftsgesetzes

– Drucksache 17/11369 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/13258 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutsch-
land erhalten und stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Den Netzausbau bürgerfreundlich und zu-
kunftssicher gestalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ausbau der Übertragungsnetze durch Deut-
sche Netzgesellschaft und finanzielle Bürge-
rinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen

– Drucksachen 17/12214, 17/12681, 17/12518,
17/13258 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, ein ge-
meinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
battieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1723713900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!

Meine Herren! Mit der heutigen zweiten und dritten
Lesung des Entwurfs eines Bundesbedarfsplangesetzes
geben wir den Startschuss für das größte Infrastruktur-

1) Ergebnis Seite 29723 D
2) Ergebnis Seite 29726 C





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


projekt seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir set-
zen damit den entscheidenden Baustein für das Gelingen
unserer Energiewende; denn die Energiewende ist mehr
als nur der Aufbau von Solarenergieanlagen und Wind-
energieanlagen, mehr als Energieeffizienz – diese ist uns
sicherlich enorm wichtig – sowie Forschung und Ent-
wicklung im Speicherbereich. Die Infrastruktur wird der
entscheidende Baustein sein, der die Energiewende zum
Gelingen bringt. Diesen bringen wir heute entscheidend
voran.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir brauchen diesen Baustein deshalb, weil wir in
den nächsten Jahren die Erzeugerkapazitäten komplett
neu gestalten. Allein in den nächsten sieben Jahren wer-
den in Schleswig-Holstein neue Windkraftanlagen mit
einem Leistungsvermögen von 9 Gigawatt aufgebaut.
Die Leistung der Offshorewindenergieanlagen wird sich
von null auf 3 Gigawatt erhöhen. Wir werden eine Ver-
dreifachung der Onshorewindleistung erleben. In Nie-
dersachsen wird sich die Onshorewindleistung auf
14 Gigawatt verdoppeln. Dort werden wir offshore von
null auf 8 Gigawatt zubauen. In den norddeutschen Län-
dern werden in den nächsten sieben Jahren neue Kapazi-
täten im Umfang von 27 Gigawatt auf dem Strommarkt
entstehen. Das ist ein Fünftel der bisherigen Stromkapa-
zitätsleistungen. Das heißt, hier wird in den nächsten
Jahren eine enorme Integrationsleistung zu erbringen
sein. Wir werden aber gleichzeitig in den starken Last-
zentren im Süden unseres Landes 10 Gigawatt verlieren,
die wir Stück für Stück durch Windenergie ersetzen
müssen.

Die Stromnetze werden also zukünftig im Infrastruk-
turbereich eine enorm wichtige Rolle spielen. In den
letzten Jahren lag die Distanz zwischen Erzeuger und
Verbraucher bei durchschnittlich 40 Kilometer. In den
nächsten Jahren wird sich diese Distanz Stück für Stück
erhöhen. Wir werden sicherlich in 10, 15 Jahren erleben,
dass die Distanz zwischen Erzeuger und Verbraucher
200 oder sogar 300 Kilometer betragen wird. Das heißt,
wenn wir nicht entsprechende Netze aufbauen, wird die
Energiewende nicht gelingen. Deshalb ist ein Netzaus-
bau dringend notwendig.

Die Herausforderungen sind groß. Wir brauchen Än-
derungen und Beschleunigungen im Planungsrecht. Wir
brauchen auch neue Technologien. Wir brauchen aber
vor allen Dingen Akzeptanz für neue Leitungen und eine
geschlossene Zustimmung zu unserem Projekt, zum
Bundesbedarfsplangesetz. Deshalb bin ich etwas ent-
täuscht – das muss ich offen sagen –, dass sich die
Grünen schon wieder ein Stück weit von unserem Ziel
verabschieden. Im Entschließungsantrag der Grünen ist
zu lesen:

Es entsteht der Eindruck, viele der im Bundesbe-
darfsplangesetz vorgesehenen Leitungen dienten
nicht der Energiewende, sondern allein dem Export
von Strom aus Braunkohlekraftwerken …


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist so!)


Wenn Sie so argumentieren und vor Ort den Eindruck
erwecken, wir brauchten neue Leitungen gar nicht, dann
werden wir keine Akzeptanz vor Ort finden. Dann wer-
den wir für alle Projekte ein Türchen offenhalten. So
wird die Energiewende nicht gelingen. Deshalb fordere
ich Sie auf, gemeinsam mit uns dem Entwurf eines Bun-
desbedarfsplangesetzes zuzustimmen, die Bedarfe, die
wir zusammen mit den Ländern definiert haben, zu ak-
zeptieren, gemeinsam mit uns vor Ort für die Energie-
wende zu kämpfen und den Bau der Leitungen Stück für
Stück zu ermöglichen. Das ist ein ganz wichtiger Bau-
stein. Das sollten Sie akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was machen wir? Wir werden in den nächsten Jahren
über 2 800 Kilometer neue Stromtrassen in Deutschland
bauen. Wir werden über 2 900 Kilometer Leitungen er-
tüchtigen und ausbauen. Wir werden insgesamt 36 Aus-
bauvorhaben in Deutschland vorantreiben. Wir haben
dazu umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Die Übertra-
gungsnetzbetreiber haben in den letzten Monaten einen
Netzentwicklungsplan vorgelegt und haben diesen mit
den Beteiligten vor Ort abgestimmt. Die Bundesnetz-
agentur hat den Bedarf geprüft. Die Bundesregierung hat
nun den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vor-
gelegt, den wir heute in letzter Lesung verabschieden
werden.

Wir werden die 36 Ausbauvorhaben zügig vorantrei-
ben. Dabei werden neue Technologien zum Einsatz
kommen. Acht Hochspannungs-Gleichstrom-Übertra-
gungsnetze, sogenannte HGÜ-Leitungen, sind geplant,
mit denen sich der Strom verlustarm und schnell vom
Norden in den Süden transportieren lässt. Es sind zwei
Erdverkabelungen vorgesehen; auch das ist eine neue
Technologie, die dafür sorgen soll, dass wir vor Ort die
nötige Akzeptanz finden.

Eines der geplanten Vorhaben ist das Hochtempera-
turseil, mit dem wir Strom verlustarm in den Süden
transportieren können. Dadurch wird die Energiewende
ein Technologieprojekt. Damit schaffen wir es auch,
Produkte und Innovationen zu entwickeln, die letztend-
lich nicht nur in Deutschland die Energiewende voran-
bringen, sondern darüber hinaus auch in andere Länder
verkauft werden können und hoffentlich zu Exportschla-
gern werden.

Mit diesem Bundesbedarfsplan betreten wir pla-
nungsrechtliches Neuland. 15 länderübergreifende Pro-
jekte wurden definiert. Die Planungshoheit dafür haben
wir der Bundesnetzagentur zugewiesen, um auch über
Ländergrenzen hinweg voranzukommen. Ich sage hier
auch ein klares Dankeschön an die Länder; Vertreter der
Länder sind leider nicht im Saal. Sie haben ebenfalls
dazu beigetragen, dass wir die Planung vereinfachen
können, Dinge schneller vorangehen und wir nicht etwa
Fehler machen, wie beispielsweise zwischen Schwerin
und Hamburg, wo wir über ein Jahr lang keine Genehmi-
gung für eine dringend notwendige Leitung bekommen
haben.

Wir wollen Verfahren beschleunigen. Wir verkürzen
den Rechtsweg auf eine Instanz. Das heißt, es gibt nicht





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


weniger Bürgerbeteiligung, sondern schnellere Entschei-
dungen und damit auch eine schnellere Lösung der
Frage, ob wir beim Leitungsausbau vorankommen.
Wenn wir alle diese Vorhaben voranbringen und an ei-
nem Strang ziehen, werden wir es schaffen, die Zeit für
die Planung und Realisierung dieser Trassen von zehn
auf vier Jahre zu reduzieren. Damit schaffen wir es, die
Kapazitäten, die in den nächsten Jahren im Norden auf-
gebaut werden, in unser Stromnetz zu integrieren und
die Leistungen, die im Süden in den Kernkraftwerken
Philippsburg, Grafenrheinfeld, Gundremmingen, Neckar-
westheim und Isar 2 wegfallen, Stück für Stück zu erset-
zen. Wir sorgen dafür, dass auch der Süden weiterhin
Strom aus Deutschland bekommt, der regenerativ und
somit zukunftssicher ist.

Dies wird nur dann gelingen, wenn alle mitmachen.
Es wird kein Selbstläufer sein. Das sieht man bei dem
EnLAG-Projekt, bei dem wir bestehende Trassen nicht
so schnell voranbringen, wie es gewünscht wird. Allein
die EnLAG-Projekte sind zwischenzeitlich vier bis fünf
Jahre im Verzug. Das darf kein Beispiel für das Bundes-
bedarfsplangesetz sein. Wir haben – auch das ist mir zu
Beginn der Debatte wichtig – bestehende Ängste und
Sorgen ebenfalls aufgenommen. Wir haben im parla-
mentarischen Verfahren Veränderungen in das Gesetz
bzw. in die Begründung mit aufgenommen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur in die Begründung! Nicht in das Gesetz!)


Wir haben keine Flexibilisierung der Netzverknüp-
fungspunkte vorgenommen. Wir haben uns in Bezug auf
die Nebenanlagen, die notwendig sind und die vor Ort
für Furore sorgen, für eine weitestgehende Flexibilisie-
rung ausgesprochen, um vor Ort Akzeptanz zu erreichen
und die beste Lösung für die Menschen vor Ort zu fin-
den.


(Beifall des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


Auch das war, glaube ich, notwendig und wird uns hel-
fen, die Leitungen zu realisieren.

Zusammenfassend: Wir haben die Anfangs- und End-
punkte definiert. Wir haben die Verfahren verkürzt und
die Zahl der Instanzen reduziert. Wir haben neue Tech-
nologien eingebaut. Das heißt, wir werden in den nächs-
ten Jahren den Leitungsausbau wesentlich beschleunigen
und werden damit die Energiewende zu einem Gewin-
nerprojekt machen. Die Ideen, die von der Opposition in
Bezug auf die Deutsche Netzgesellschaft kommen, se-
hen wir mit Interesse. Sie wissen, dass wir dazu eben-
falls schon Überlegungen angestellt haben. Ich glaube,
dass diese Punkte zwar überlegenswert sind, uns aber
nicht bei der Beschleunigung helfen werden. Insofern
sind die von uns getroffenen Maßnahmen die richtigen,
um uns voranzubringen.

Das ist für uns der Einstieg in die Energiewende. Ich
kann Sie nur auffordern, bei diesem Projekt mitzuma-
chen und heute diesem Gesetz zuzustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723714000

Ich gebe Ihnen zwischendurch die von den Schrift-

führerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse
der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt, zu-
nächst zum Antrag der Fraktion der SPD – es geht um
den „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundesta-
ges über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung
der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen
Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des
Grundgesetzes“ auf Drucksache 17/13227 –: abgege-
bene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 211, mit Nein
haben gestimmt 326. Es gab 40 Enthaltungen. Damit ist
der Antrag abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon

ja: 211
nein: 326
enthalten: 40

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Brandner

Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster

Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz (Essen)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs

Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge

Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Harald Ebner
Bettina Herlitzius
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Sylvia Kotting-Uhl
Nicole Maisch
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Elisabeth Scharfenberg

Dorothea Steiner
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland

fraktionsloser
Abgeordneter

Wolfgang Nešković

Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold

Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker

Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt

Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein

Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


DIE LINKE

Raju Sharma

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Viola von Cramon-Taubadel
Ute Koczy
Stephan Kühn
Monika Lazar
Jerzy Montag
Hans-Christian Ströbele
Arfst Wagner (Schleswig)

Dr. Valerie Wilms

Enthalten

CDU/CSU

Günter Lach

DIE LINKE

Halina Wawzyniak

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Renate Künast
Markus Kurth
Dr. Tobias Lindner
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Dann komme ich zum Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/
CSU und der FDP mit dem Titel „Rechtsextremismus
entschlossen bekämpfen“ auf Drucksache 17/13225:

Hier wurden ebenfalls 577 Stimmen abgegeben.
Mit Ja haben gestimmt 318. Mit Nein haben ge-
stimmt 259. Es gab keine Enthaltung. Dieser Antrag
ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon

ja: 318
nein: 259

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig

Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach

Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)


Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


FDP

Jens Ackermann
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz

Jörg von Polheim
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Martin Gerster

Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz (Essen)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich

Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter

Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Susanne Kieckbusch
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott

Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

fraktionsloser
Abgeordneter

Wolfgang Nešković

Jetzt kommen wir zu unserer Debatte zurück. Ich
gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1723714100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Zwei Jahre nach dem Netzausbaubeschleunigungs-
gesetz haben wir jetzt ein Bundesbedarfsplangesetz vor-
liegen. Immerhin! Es war viel Arbeit, vor allen Dingen
für die Übertragungsnetzbetreiber und die Bundesnetz-
agentur. Nach allem, was man über die Plattform „Zu-
kunftsfähige Energienetze“, in die wir ja eingebunden
waren, und über Gespräche zum Beispiel mit Nichtregie-
rungsorganisationen mitbekommen konnte, war das Ver-
fahren insgesamt vergleichsweise transparent und die
Beteiligung angemessen – jedenfalls in weiten Teilen
des Verfahrens. Das ist gut so, und das kann man heute
in der Tat auch loben.

Auch die Länder haben sich in diese Verfahren kon-
struktiv eingebracht. Ich glaube, dass es zumindest eine
Bemerkung verdient, dass das mittlerweile im Wesentli-
chen rot-grün regierte Länder sind. Hier ist also eine
hohe Bereitschaft zur Kooperation selbst mit dieser Bun-
desregierung.

Gerade ist gesagt worden, dies sei ein wichtiger
Schritt zum Ausbau der Infrastruktur. Ja, in der Tat, es ist
ein Schritt; aber wir müssen uns auch klarmachen, dass
noch vieles fehlt. In diesem Falle beschränken wir uns
auf die Übertragungsnetze, wohl wissend, dass wir er-
hebliche Bedarfe auch im Bereich der Verteilnetze ha-
ben, zum Beispiel wenn ich an den qualitativen Ausbau
der Verteilnetze denke, den wir gerade auch im Hinblick

auf die intelligenten Netze brauchen angesichts dessen,
dass die Nachfrageseite flexibler werden soll.

Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zu-
stimmen.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Bravo!)


Wir werden das aus einem ganz einfachen Grund ma-
chen – nicht weil dieses Gesetz in allen Teilen perfekt
wäre; es ist verbesserungsbedürftig; wir werden diesbe-
züglich Anträge vorlegen –: Es wäre für die Investoren,
für die Übertragungsnetzbetreiber, für die finanzieren-
den Banken ein schlechtes Signal, wenn wir sie kurz vor
einer Wahl im Zweifel lassen würden, ob denn die SPD
nach der Bundestagswahl möglicherweise eine 180-Grad-
Wende in Sachen Netzausbau plant. Das planen wir
nicht. Wir wollen, dass für den gesamten Sektor Pla-
nungssicherheit besteht, und deswegen senden wir das
Signal: Ja, wir unterstützen dieses Gesetz prinzipiell und
in den meisten Teilen. – Deswegen, wie gesagt, stimmen
wir zu.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das klingt vernünftig!)


Im Übrigen unterscheiden wir uns dadurch ganz er-
heblich von der Regierungskoalition,


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die stimmt auch zu!)


die zurzeit am Ruder ist. Denn Sie haben im Jahr 2000
genau das Gegenteil gemacht.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ja!)


Sie haben, als Rot-Grün ein Atomausstiegsgesetz vorge-
legt hat und darüber mit den Marktakteuren verhandelt





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


hat, angekündigt: Wenn Sie einmal an die Regierung
kommen, werden Sie das komplette Gegenteil tun.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sie auch getan haben!)


Damit haben Sie in den gesamten Sektor Planungsunsi-
cherheit gebracht und gerade beim Netzausbau, aber
auch ansonsten im gesamten Energiesystemumbau
Attentismus verursacht. Genau das machen wir nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Gerd Müller [CDU/ CSU]: Die Rede hatte so gut begonnen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird sie noch besser!)


Die Anträge die wir gestellt haben, will ich kurz im
Einzelnen begründen. Der erste Antrag – gemeinsam mit
Bündnis 90/Die Grünen – zielt darauf ab, dass wir eine
Deutsche Netzgesellschaft einrichten wollen. Im Übri-
gen haben Sie das in Ihrem eigenen Koalitionsvertrag
vor nur drei Jahren auch gesagt. Offensichtlich haben
Sie sich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist sozusa-
gen eine weitere 180-Grad-Wende nach der, die Sie zwi-
schenzeitlich auch vorgenommen haben: erst die Verlän-
gerung der Laufzeiten, anschließend das Sich-Einfügen
in das Konzert derjenigen,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das haben Sie hier noch nie angesprochen!)


die den Atomausstieg wollen.

2009: Ja, wir wollen eine Deutsche Netzgesellschaft.
2013: Nein, wollen wir eigentlich lieber nicht. – Ihre
Verbraucherschutzministerin Aigner hat vor wenigen
Monaten gesagt, dass sie eine solche Deutsche Netzge-
sellschaft unterstützt. Sie hat auch den Zusammenhang
erkannt, nämlich dass man auf diese Art und Weise das
verhindern kann, was Sie vor wenigen Monaten verur-
sacht haben, dass nämlich immer dann, wenn etwas
schiefgeht, immer dann, wenn Regressforderungen kom-
men,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ist die SPD schuld!)


die Haftung verschoben wird: weg von den Marktakteu-
ren und hin zu den Endkunden. Das genau wollen wir
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen hat Frau Aigner recht. Wörtlich sagte sie:
Die Wähler verstehen nicht, warum sie über höhere
Strompreise für die Risiken der Energiewende haften
sollen, während die Netzbetreiber eine hohe garantierte
Rendite auf ihr Eigenkapital einstreichen.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ja, das muss gesagt werden!)


Dem ist nichts hinzuzufügen.

Das Zweite, was wir wollen, sind Bürgernetze. Wir
wollen den Bürgern die Möglichkeit geben, sich an der
Finanzierung der Netze zu beteiligen. Beteiligte haben

kein Problem mehr mit der Akzeptanz von Energieinfra-
strukturen. Deswegen ist das der beste Weg.

Wir machen uns aber Sorgen bei dem, was zurzeit im
Kapitalanlagegesetzbuch geplant ist. Dadurch werden
Genossenschaften nicht mehr in der Lage sein, genau
solche Infrastrukturen mitzufinanzieren. Wir begrüßen
es daher, dass es mittlerweile einen Antrag der Fraktio-
nen von Schwarz-Gelb gibt, dies jedenfalls bei der Aus-
gestaltung des Kapitalanlagegesetzbuchs zu verhindern.
Wir werden das unterstützen.

Drittens geht es um die Netzverknüpfungspunkte
– Herr Bareiß hat das gerade angesprochen – und in der
Tat nicht um die Positionierung der Verknüpfungs-
punkte, sondern um die der sogenannten Nebenanlagen.
Dieser Begriff ist vielleicht etwas irreführend. Man stellt
sich dabei etwas Kleineres, zum Beispiel ein Toiletten-
häuschen, vor; es geht aber zum Teil um riesige Anla-
gen, große Konverter, Doppelkonverter möglicherweise.
Das kann in der Nähe von Wohnbebauung schon etwas
sein, was die Bürger auf die Palme bringt, was zum Wi-
derstand gegen solche Infrastrukturen geradezu anreizt.
Deswegen begrüßen wir, dass Sie aufgrund der Anhö-
rung, die wir gemeinsam durchgeführt haben, jetzt sa-
gen: Wir wollen genau diese Konflikte verhindern, und
deswegen wollen wir mehr Flexibilität bei der Alloka-
tion dieser sogenannten Nebenanlagen.

Nur, die Art und Weise, wie Sie das sicherstellen wol-
len, läuft ins Leere. Sie wollen das in die Begründung
des Gesetzes schreiben. Die Fachjuristen sagen: Das
wird nicht reichen; Sie müssen es ins Gesetz schreiben. –
Wenn man Ihnen abnehmen soll, dass die Absicht ehr-
lich ist, dann folgen Sie bitte unserem Petitum und
schreiben Sie das ins Gesetz!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Vierte ist der Gesetzentwurf des Bundesrates, der
darauf abzielt, dass wir das erreichen, was wir eigentlich
schon vor Jahren wollten, unter anderem auch in der
Großen Koalition, nämlich dass die 110-kV-Erdverkabe-
lung zur Regel wird. Wir unterstützen auch diesen Ge-
setzentwurf.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist aber ein ganz schön teures Unterfangen!)


Er ist im Bundesrat im Übrigen mit sehr großer Mehrheit
verabschiedet worden, und auch Schwarz-Gelb war da-
bei nicht ganz unbeteiligt. Insofern: Vielleicht hören Sie
noch einmal in Ihre Länder hinein und folgen uns auch
bei diesem Vorhaben!

Meine Damen und Herren, ich habe es gerade ange-
deutet: Das Bundesbedarfsplangesetz ist ein Schritt zum
Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen aber auch erheb-
liche Fortschritte im Bereich der Verteilnetze, im Be-
reich der intelligenten Netze. Da geht es auch um intelli-
gente Tarife, um eine flexible Nachfrage anreizen zu
können. Es geht um mehr Flexibilisierung auch auf der
industriellen Nachfrageseite. Da haben Sie einen ersten
Schritt mit der Abschaltverordnung gemacht. Aber man
kann da sehr viel kreativer sein und weitere Schritte un-





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


ternehmen, um sozusagen eine Batteriefunktion, in Tei-
len jedenfalls, für die energieintensiven Industrien si-
cherzustellen. Wir brauchen mehr Speicherforschung,
damit wir die Speicher wenigstens dann, wenn wir sie
brauchen, zur Verfügung haben. Sie haben die Mittel in
diesen Bereichen reduziert.

Dann brauchen wir etwas, was noch ein bisschen
komplizierter ist. Deswegen haben Sie sich mit dieser
Frage, jedenfalls öffentlich, überhaupt noch nicht be-
fasst. Sie kündigen immer etwas an, nämlich auf der ei-
nen Seite eine Reformierung des EEG, auch eine andere
Vermarktung von erneuerbaren Energien, und auf der an-
deren Seite einen neuen Marktrahmen für die Erzeugung
von Strom aus konventionellen Energieträgern. Wir hät-
ten es begrüßt, wenn Sie sich mit dieser komplexen Ma-
terie, Herr Minister, befasst hätten und verhindert hätten,
dass stattdessen Ihr Kollege aus dem Umweltministe-
rium zur Ablenkung eine oberflächliche Debatte über die
Strompreisbremse initiiert. Stellen Sie sich den eigentli-
chen Herausforderungen! Die sind komplex. Aber wir
sind bereit, Ihnen dabei die entsprechende Hilfestellung
zu geben.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen die Systemintegration der erneuerbaren
Energien. Wir brauchen aber auch den Systemumbau,
damit das System aufnahmefähiger für volatilen Strom
wird. Wir brauchen einen Marktrahmen für beide Ener-
gien, für erneuerbare wie konventionelle, der gleichzei-
tig für Versorgungssicherheit, für das Erreichen der Aus-
bauziele bei den erneuerbaren Energien, aber auch für
Bezahlbarkeit sorgt. Das ist möglich. Man muss nur be-
ginnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Judith Skudelny [FDP]: Aber nicht mit Ihren Vorschlägen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723714200

Für die Bundesregierung hat das Wort der Bundes-

minister Dr. Philipp Rösler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Wir alle wissen, leistungsfähige
Netze sind entscheidend für die Versorgungssicherheit
im Rahmen der Energieversorgung in Deutschland. Wir
brauchen zur Netzstabilisierung bei einem zunehmenden
Beitrag der erneuerbaren Energien zur Stromversorgung
ein leistungsfähiges Netz im Bereich der Verteilnetze ge-
nauso wie im Bereich der Fernübertragung. Wir werden
aber auch weiterhin in der Umstellungsphase neue Netze
für die Energieerzeugung durch konventionelle Energie-
träger und die Integration der erneuerbaren Energien
brauchen.

Deswegen ist es gut, dass wir heute über das Bundes-
bedarfsplangesetz diskutieren und Sie es hoffentlich
nach der zweiten und dritten Lesung auch beschließen.

Damit kommen wir beim Netzausbau ein gutes Stück
voran. Wir zeigen: Wir sind im Plan. Es ist ein wesentli-
cher Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der Energie-
wende in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich finde es gut, dass auch die Sozialdemokraten be-
reit sind, diesem Gesetz zuzustimmen. Ich glaube, bei
den Grünen ist das nicht der Fall. Das bedauere ich sehr;
denn sie könnten ein Versäumnis wiedergutmachen, das
ihnen unterlaufen ist, als sie damals den Ausstieg aus der
Kernenergie beschlossen haben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn gemacht?)


Sie haben sich nämlich nur mit dem Ausstiegsbeschluss
zufriedengegeben, aber in der weiteren Umsetzung
nichts, aber auch gar nichts für einen beschleunigten
Netzausbau in Deutschland getan. Das zeigt, dass Sie es
mit dem Umbau der Energieversorgung in Deutschland
nie ernst gemeint haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch drei Jahre auch nichts gemacht! Sie sind nicht schneller als eine Schnecke!)


In kürzester Zeit sind wir gut vorangekommen. Es hat
mit dem sogenannten Netzentwicklungsplan angefan-
gen. Hier wurden die ersten Strukturen aufgezeigt. Es
ging nicht nur um das grobe Aufzeigen, sondern es ging
im ersten, frühen Stadium darum, mit den betroffenen
Bürgerinnen und Bürgern vor Ort über den konkreten
Ausbaubedarf zu diskutieren. Dieses Beteiligungsver-
fahren ist beispielhaft für viele Infrastrukturmaßnahmen.
Denn es hat sehr frühzeitig begonnen, und zwar schon
auf der Ebene der Übertragungsnetzbetreiber, in der
Folge auch bei der Bundesnetzagentur.

Ich habe den Beitrag von Herrn Hempelmann so ver-
standen, dass mit dem Lob an die Übertragungsnetz-
betreiber und an die Bundesnetzagentur vor allem die
Beschäftigten gemeint waren; denn sie haben bei der
Aufstellung des Netzentwicklungsplans in kürzester Zeit
Enormes geleistet. Er ist die Grundlage für das Bundes-
bedarfsplangesetz. Wir alle sollten uns, denke ich, bei
den Kolleginnen und Kollegen bedanken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Vor allem aber ging es darum, sich mit den Menschen
über die künftigen Netzausbauvorhaben zu unterhalten
und zu erklären, warum wir diese neuen Strukturen brau-
chen und warum wir nur in wenigen Fällen die finanziel-
len Möglichkeiten für Erdverkabelungen haben. Wer et-
was anderes verspricht oder fordert, der schummelt. Dies
wäre heute weder Stand der Technik, noch wäre es seriös
zu finanzieren. Deswegen ist es richtig, dass man mit den
betroffenen Menschen – es gab über 3 000 Eingaben – ge-
sprochen hat. Man hat versucht, die Dinge auf den Weg
zu bringen, indem man sie ihnen erklärt hat, um von
vornherein Akzeptanz zu erreichen und Widerstände zu
vermeiden.





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Es ist gelungen, den Zeitplan einzuhalten, um das
Bundesbedarfsplangesetz auf den Weg zu bringen. Ich
möchte mich bei Herrn Abgeordneten Bareiß bedanken,
der darauf hingewiesen hat, dass das Bundeskabinett
gestern die dazu passende Planfeststellungszuweisungs-
verordnung beschlossen hat.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sehr gut!)


Hinter diesem etwas komplexen Begriff verbirgt sich die
Bereitschaft der Länder – ich möchte mich bei allen Län-
dern ausdrücklich dafür bedanken –, dem Bund die Zu-
ständigkeit nicht nur für die Fachplanung, sondern auch
für die konkrete Planfeststellung einzelner großer Tras-
senvorhaben zu übertragen. Bisher kam es beim Strom-
netzausbau über Ländergrenzen hinweg zu erheblichen
Verzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass die großen
raumbedeutsamen Trassen, auch die grenzüberschreiten-
den Trassen, künftig in die Zuständigkeit der Bundes-
netzagentur, also in die Zuständigkeit des Bundes, fallen.

Das hat einen erheblichen Beschleunigungseffekt zur
Folge. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit nur noch bei
einem Gericht, nämlich beim Bundesverwaltungsge-
richt. Auf diese Weise kommen wir unserem gemeinsa-
men Ziel, den Netzausbau in Deutschland deutlich zu
beschleunigen, näher.

Wir haben bisher Planungs- und Bauzeiträume von
zehn Jahren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das klappt aber überhaupt nicht!)


Mit diesem Gesetz und der dazu passenden Verord-
nung wird es gelingen, die Bauzeiträume von derzeit
zehn Jahren auf vier Jahre zu reduzieren. Das ist das er-
klärte Ziel dieser Regierungskoalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber so nicht! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht! Dann sind Sie ja nicht mehr in Verantwortung!)


Ich verstehe Ihre Einlassung so, dass Sie nicht nur
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden, sondern
dass Sie vor Ort Widerstand gegen den notwendigen
Netzausbau zum Ausstieg aus der Kernenergie leisten
wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie leisten doch Widerstand! Reden Sie doch mal mit Ihrer eigenen Partei!)


Das ist Ihre „Glaubwürdigkeit“: Zwar fordern Sie den
Ausstieg aus der Kernenergie. Aber wenn es soweit ist,
kneifen Sie und zeigen Widerstand beim Netzausbau für
Deutschland.


(Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Kollege Krischer, Sie haben doch nachher das Wort!)


Eines ist klar; das haben die Diskussionen gezeigt:
Nur gemeinsam – gemeinsam mit allen 16 Bundeslän-
dern, dem Bund und Europa – wird es gelingen, den
Netzausbau in Deutschland voranzutreiben. Das ist jetzt
in Form des Bundesbedarfsplangesetzes für die Übertra-
gungsnetze gelungen. Das muss im Hinblick auf die Ver-
teilnetze genauso gelingen. Das wird der nächste Schritt
sein.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hallo? Frau Präsidentin?)


Lassen Sie uns Folgendes festhalten: Wir liegen ak-
tuell im Zeitplan, so wie sich das für diese Regierungs-
koalition gehört. Das ist ein guter Tag für die Energie-
wende. Das ist ein guter Tag für den Netzausbau in
Deutschland.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie ja toll gemacht! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Super!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723714300

Liebe Kollegen, ich konnte nicht absehen, dass der

Herr Minister seine Redezeit nicht ausschöpft. Ich ver-
suchte gerade, ihn auf Ihre Zwischenfrage oder Bemer-
kung aufmerksam zu machen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das Wesentliche war ja auch gesagt! Es war alles gesagt! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kollege daneben hatte die Augen zu! – Gegenruf von der FDP: Anzicken auch noch hier! Das gibt es ja gar nicht!)


– Wir debattieren aber jetzt nicht hier im Plenum da-
rüber, wie sich das Präsidium verhält. Dafür haben wir
Regeln.

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-
tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723714400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Heute geht es um den Netzausbau beim
Strom.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Hast du das auch schon festgestellt? Sehr gut! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist ja hier wie in der Sendung mit der Maus!)


Großkonzerne erwarten fette Profite, und die Stromkun-
den befürchten steigende Preise. Ständig tönt es von
CDU, CSU, SPD und Grünen: Der Netzausbau ist alter-
nativlos. Denn im Norden weht der Wind, und der Wind-
strom muss nach Süden. Dafür braucht es zusätzliche
Leitungen. Dann klappt es aus deren Sicht mit der Energie-
wende. Wirklich?





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


Bei der Stromeinspeisung in die Netze gibt es eine
Reihenfolge: Zuerst dürfen die Erneuerbaren ran. Da-
nach gilt: Je teurer ein Kraftwerk Strom produziert,
desto eher wird es abgeschaltet. Im Norden und Osten
gibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant:
Moorburg, Jänschwalde, Profen und andere. Derzeit
können diese Kohlekraftwerke Strom für 3 Cent je Kilo-
wattstunde anbieten. Im Süden gibt es Strombedarf.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach was!)


Dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke; zum
Beispiel in Irsching. Dort kostet der Strom 5 Cent je Kilo-
wattstunde. Aber: Netzausbau und Stromtransport quer
durchs Land wären zu vermeiden.

Wie sieht die Realität heute aus? Wir haben einen
Engpass im Stromtransport zwischen Nord und Süd.
Weht viel Wind im Norden, geht der Windstrom übers
Netz. Für den Kohlestrom fehlt der Platz, und Irsching
kann umweltfreundlichen Strom liefern. Klimafeindlicher
Kohlestrom wird abgeschaltet.

Wenn die neuen Stromtrassen von der Küste bis zu
den Alpen reichen, ist Folgendes zu befürchten: Wind-
kraftanlagen speisen weiterhin ihren Strom ins Netz ein;
sie haben Vorrang. Für den Restbedarf an Strom brum-
men die Kohlekraftwerke. Das Kraftwerk Irsching wird
abgeschaltet, es geht pleite. Dann fehlt aber nachts bei
Windstille der Gasstrom. Deshalb bekommt Irsching
Geld, damit es in Bereitschaft bleibt, und die Stromkun-
den zahlen doppelt. Irsching wird dann über Netzent-
gelte bezahlt. Von Netzentgelten sind Großkunden be-
freit. Sie profitieren damit vom Netzausbau. Alle
anderen bezahlen.

Fließt Strom von der Nordsee nach München, gibt es
bei 700 Kilometern Weg 20 Prozent Übertragungsver-
luste. Auch das wird über Netzentgelte bezahlt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir sollten München nach Norden verlegen! – Gegenruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nee, nee! Da wollen wir nicht hin!)


Wer macht bei diesem Netzausbau Kasse? Finanzinves-
toren. Sie erhalten 9 Prozent Rendite für jede Investition
in Netze. Wo findet man so etwas heute noch, bei dieser
garantierten Sicherheit? Natürlich machen auch die Bau-
firmen und die Kohlekraftwerke Kasse. Und wer zahlt?
Handwerkerinnen und Handwerker, kleine und mittlere
Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So einfach ist die Welt!)


Deshalb lehnt die Linke diesen Netzentwicklungsplan
ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bedarf, der diesem Netzausbauplan zugrunde
liegt, wurde wie folgt ermittelt: Die maximal erzeugbare
Menge an Strom aus Windenergie wird mit der maximal
möglichen Einspeisung von Strom aus Photovoltaik, der
kompletten Menge an Strom aus Biomasse und der kom-
pletten Menge an Strom aus konventioneller Erzeugung

addiert, sodass auch die letzte Kilowattstunde abtrans-
portiert werden könnte. Diese Rechnung dient nur dem
maximalen Netzausbau.

In eine realistische Netzplanung müssen für die Linke
folgende Punkte einfließen: Die künftige Stilllegung von
Atom- und konventionellen Kraftwerken wird einge-
rechnet. Die Erzeugung von Strom aus Biomasse wird
umgestellt, sodass sie nur erfolgt, wenn Wind und Sonne
nicht genug Energie liefern. Stromsteuerungsmaßnah-
men wie beispielsweise die Verknüpfung von Fern-
wärme- mit Stromnetzen müssen vorgenommen werden.
Ein öffentlicher Hochspannungsnetzbetreiber ohne Inte-
resse an Profit aus dem Leitungsbau ersetzt die jetzigen
vier Profitgesellschaften.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau! VEB! Das hat sich bewährt!)


Die Technologie, Strom über Gas zu speichern und zu
transportieren, wird genutzt. Die Beteiligung großer
Stromerzeuger an den Netzkosten ist umzusetzen. Die
maximal mögliche Einspeisung von Strom aus Wind-
energieanlagen ist auf 80 Prozent der theoretisch mög-
lichen Strommenge zu reduzieren. Dabei verliert man
nur 0,4 Prozent der jährlichen Windenergiemenge, spart
aber 20 Prozent Anschlussleistung. Bei Berücksichti-
gung dieser Punkte erhält man einen realistischen Bedarf
für den Netzausbau. Aber der Gesetzentwurf, den Sie
vorlegen, gefährdet die Energiewende, weil Kohlekraft-
werke gefördert werden, umweltfreundlicher Gasstrom
verliert und regionale, verbrauchsnahe Stromerzeugung
vor Ort unterbleibt.

Die Bürgerinnen und Bürger haben sowohl in Meer-
busch-Osterath als auch in Hessen und Thüringen mit ih-
rer Ablehnung der Ausbaupläne recht. Sie täten gut da-
ran, die entsprechenden Initiativen ernst zu nehmen.
Bürgerinitiativen erkannten als Erste die Gefahren der
Asse. Bürgerinitiativen korrigierten über Volksbegehren
Fehler, etwa bei Kitas in Thüringen oder bei der Wasser-
versorgung in Berlin.

Bürgerinnen und Bürger werden notwendige Netzaus-
bauten nur dann akzeptieren, wenn der entsprechende
Bedarf transparent und nachvollziehbar ermittelt wird
und die Belastungen gerecht verteilt werden. Anderen-
falls wehren sie sich. Ohne einen nachvollziehbaren Be-
darfsplan wird die Linke Netzausbauten ablehnen, sei es
der Konverter in Meerbusch-Osterath oder die 380-kV-
Leitungen in Hessen, im Thüringer Wald oder in der
Uckermark. Wir wollen die Energiewende – preiswert
für die Menschen, mit Gewinnen für die Umwelt statt für
Konzerne.


(Beifall bei der LINKEN – Birgit Homburger [FDP]: Dann sagen Sie doch mal, wie Sie es machen wollen! – Gegenruf des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Wir haben mehr Ideen als Sie!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723714500

Nun hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.






(A) (C)



(D)(B)



Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723714600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Rösler, ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hö-
ren: Bei jeder Energiedebatte erzählen Sie uns hier, wir
wären verantwortlich dafür, dass es mit dem Netzausbau
nicht vorangeht, weil wir bis 2005, als hier Grüne Regie-
rungsverantwortung getragen haben, nicht dafür Sorge
getragen hätten.


(Birgit Homburger [FDP]: Genau so ist es!)


Meine Damen und Herren, ich sagen Ihnen eines: Seit
acht Jahren tragen Wirtschaftsminister von der Union
und der FDP in der Bundesregierung die Verantwortung.
In acht Jahren kann man alles bewegen, kann man alles
voranbringen. Dass beim Netzausbau im Rahmen der
EnLAG-Projekte heute nur 268 Kilometer von 2 000 Kilo-
metern verwirklicht sind, das ist Ihre katastrophale Bi-
lanz beim Netzausbau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, zu schauen,
was Sie denn in den Jahren 2000 bis 2005 hier zum
Thema Netzausbau vorgelegt haben, wenn Sie doch da-
mals angeblich schon so weit voraus waren. Es gibt
nichts, keinen einzigen Antrag von Union und FDP zum
Thema Netzausbau. Sie singen nur Lobeshymnen auf die
Atomkraft, schwadronieren über Windindustriemonster
und bekämpfen den Ausbau erneuerbarer Energien. Das
war Ihre Energiepolitik in dieser Zeit. Darüber sollte
man reden, wenn Sie schon auf die Vergangenheit ver-
weisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eines ist völlig klar: Gerade für eine Energiewende
mit dezentralen Strukturen und einem Weg weg von
Kohle und Atom braucht man Netzausbau und Netzopti-
mierung auf allen Spannungsebenen. Deshalb haben wir
2009 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem
wir gefordert haben, dass man einen Bedarfsplan ausar-
beitet und dass anhand des Energieszenarios ermittelt
wird, wie das Netz weiterentwickelt werden muss. Aber
Sie haben sich zwei Jahre lang nicht mit diesen Fragen
beschäftigt. Wir haben von Ihnen nur ein Schwadronie-
ren über Laufzeitverlängerungen gehört. Erst als Sie da-
mit nicht weiterkamen, haben Sie sich dem Thema Energie-
wende gewidmet.


(Zuruf der Abg. Birgit Homburger [FDP])


– Frau Homburger, das waren zwei verlorene Jahre, in
denen wir hätten weiterkommen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gute Jahre für Deutschland!)


Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, legen Sie einen
Plan vor. Das führt zu der Erkenntnis: Wir sind erst am
Anfang des Weges.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist richtig!)


Es ist noch kein Kilometer Netz ausgebaut worden. Es
gibt zunächst nur einen Plan. Die Arbeit fängt gerade
erst an. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund zur
Selbstbeweihräucherung, Herr Bareiß und Herr Rösler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Bundesbedarfsplangesetz, das vom Grundsatz
her richtig ist,


(Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Ah!)


soll Legitimität und Akzeptanz für den Netzausbau
schaffen. Der Bundesrat hat Ihnen dazu etwas ins
Stammbuch geschrieben. Er hat Beschlüsse gefasst,
durch die genau diese Akzeptanz erhöht werden soll;
denn Sie haben in dem Gesetz eine Reihe von Maßnah-
men verankert, die die Akzeptanz und damit das Kern-
element des Gesetzes untergraben.

Zum Beispiel das Thema Erdkabel. Sie beschränken
den Erdkabelausbau auf zwei Pilotprojekte. Das ist auf-
grund der Erfahrungen mit dem EnLAG-Projekt nicht
verantwortbar, weil nicht zu vermitteln ist, warum man-
che Menschen Erdkabel bekommen und manche nicht.
Damit untergraben Sie die Akzeptanz und provozieren
den Widerstand der Menschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum schönen Thema Meerbusch-Osterath. Aus dem
dortigen Planungsdesaster haben Sie überhaupt nichts
gelernt. Es grenzt an Volksverdummung – ich kann Ih-
nen das nicht anders sagen –,


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige! – Weiterer Zuruf von der FDP: Die betreiben Sie!)


wenn Sie jetzt nicht den Beschluss des Bundesrates
– den haben wir im Wirtschaftsausschuss zur Abstim-
mung gestellt – statt nur in die Gesetzesbegründung in
den Gesetzestext aufnehmen, der vorsieht – das ist das,
was Sie wollen; zumindest reden Sie davon –, dass es
Alternativenprüfungen für Nebenanlagen geben soll.
Auch das untergräbt die Akzeptanz des Themas Netz-
ausbau.

Als dritter Punkt ist die Verkürzung des Klageweges
zu nennen. Sie glauben doch selbst nicht, dass die Redu-
zierung auf eine Instanz wirklich dazu führt, dass das
Ganze schneller geht. Die eine Instanz ist dann überlas-
teter, die Verfahren dauern länger, und das genau ist die
Erfahrung aus dem EnLAG-Projekt. Das ist eine Schein-
verkürzung. Das führt nur dazu, dass sich die Menschen
wieder übergangen fühlen und dass wir am Ende wieder
Akzeptanz verlieren. Dazu darf es aus unserer Sicht
nicht kommen. Sie machen hier einen Fehler. Nehmen
Sie die Bürger ernst, und kommen Sie nicht mit Rechts-
wegverkürzungen, die die Akzeptanz am Ende wieder
nur zerstören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben gemeinsam mit den Kollegen der SPD ei-
nen Antrag vorgelegt, mit dem wir eigentlich Punkte aus
dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umsetzen wollen,
nämlich eine Deutsche Netz AG zu gründen. Wir haben





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


dazu konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben vier Jahre
lang überhaupt nichts getan. Sie haben sich von diesem
Ziel verabschiedet.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das kann man so nicht sagen!)


Wir schlagen vor, dass wir die Probleme lösen, die
wir beim Netzausbau mit einzelnen Übertragungsnetzbe-
treibern haben. Von Ihnen kommt an der Stelle gar
nichts.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach, Krischer!)


Sie sind einfach nur dagegen und kommen deshalb bei
dem Thema überhaupt nicht weiter.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: In den nächsten acht Jahren brauchen wir ja auch noch was zu tun!)


Wir brauchen den Netzausbau. Das Bundesbedarfs-
plangesetz verfolgt einen richtigen Ansatz, den wir aus-
drücklich unterstützen, ich möchte das hier noch einmal
betonen. Doch leider schaffen das diese Bundesregie-
rung und diese Koalition trotz klarer Hinweise aus dem
Bundesrat nicht. Sie bräuchten nur das aufzugreifen, was
der Bundesrat beschlossen hat, um glaubwürdig zu wer-
den und Akzeptanz zu erreichen. Aber am Ende wird die
Glaubwürdigkeit wieder untergraben.

Wenn Sie die Beschlüsse des Bundesrates aufgegrif-
fen hätten, hätten wir diesem Gesetz gerne zugestimmt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Hätte, hätte – Fahrradkette! Das ist der Steinbrück!)


Aber so bleibt uns am Ende nur, uns zu enthalten.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wäre, wäre – Heckenschere! Das ist das Nächste!)


Sie haben eine Chance verpasst.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723714700

Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723714800

Sie erweisen dem Netzausbau einen Bärendienst, und

damit untergraben Sie die Akzeptanz der Energiewende
und der Ziele, die Sie damit verfolgen. Am Ende können
und wollen Sie die Energiewende nicht erfolgreich vo-
ranbringen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723714900

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1723715000

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Da-

mit die Zuhörer auf den Tribünen die letzten beiden Re-
den verstehen können, muss man einmal generell erklä-
ren, was hier los ist:


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Wir haben noch vier Sitzungswochen bis zur Bundes-
tagswahl, und hier läuft nichts anderes als Wahlkampf.

Ihre Schuldzuweisungen von vorhin, Herr Krischer,
sind nichts anderes als platter, plumper Wahlkampf. Das
wird dem Thema aus meiner Sicht deshalb nicht gerecht,
weil ich der Auffassung bin, dass wir hier an einem ge-
meinsamen Projekt arbeiten, nämlich an der Energie-
wende.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, das ist Wahlkampf, was Sie hier eingebracht haben?)


Man sollte sich klarmachen, dass diese Schuldzuwei-
sungen und das Schlechtreden nicht nur bei einer Seite in
der Politik hängenbleiben, sondern die Menschen da
draußen allgemein irritieren.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn damit angefangen? Das waren doch Ihre Redner!)


Sie stellen jede Lösung, die angeboten wird, sofort in-
frage und können nicht auch einmal über den eigenen
parteipolitischen Schatten springen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal dem Minister Rösler! Der hat doch damit angefangen!)


Sie sind nicht in der Lage, zu sagen: Im Grundsatz ist
das, was uns hier vorgelegt wird, ein gutes Gesetz, weil
es zeigt, wie man den Netzausbau in Deutschland voran-
treiben kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum greifen Sie dann die Vorschläge des Bundesrates nicht auf?)


Ich hätte erwartet, dass Sie an dieser Stelle Folgendes
würdigen: die Planung.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Planung?)


– Es ist ein Plan. Was Sie vorgetragen haben, war eher
ein bisschen wie Die Sendung mit der Maus.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Na, na, na! Kein Wahlkampf!)


– Zumindest auf den Zwischenruf des Kollegen muss ich
reagieren. – Das ist ein intensiv, auf Basis mehrerer Sze-
narien ausgearbeiteter Entwicklungsplan für die Netze,
die wir brauchen. Ich hatte gehofft – das wäre richtungs-
weisend gewesen –, dass zumindest die Grünen sagen,
dass wir diese Netze brauchen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich das infrage gestellt?)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Denn ein System der Energieversorgung, bei dem, wie
Sie es wollen, die Erneuerbaren im Zentrum stehen, wird
immer Überkapazitäten haben müssen. Wenn man das
weiß und die Energieversorgung in diese Richtung aus-
baut, muss man doch auch einmal ganz klar formulieren,
dass wir in größerem Umfang Netze bauen müssen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann brauchen Sie auch Akzeptanz! Dann sorgen Sie in Ihrem Gesetzentwurf dafür, dass Akzeptanz hergestellt wird!)


– Ich sage gleich etwas zur Akzeptanz. Warten Sie es
doch ab, Frau Höhn. Seien Sie nicht immer so nervös.

Es hat doch keinen Sinn, Erneuerbare-Energien-Anla-
gen mangels Netzkapazitäten abzuschalten. Es müsste
doch Ihr Anliegen sein, die Netze möglichst zügig aus-
zubauen, weil es keinen Sinn hat, Anlagen auszuschalten
und den theoretisch produzierten Strom zu vergüten, ihn
aber nicht zur Verfügung zu haben. Deshalb muss man
dieses Thema doch unterstützen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen den Netzausbau! Sie machen ihn nur nicht!)


Dieser Plan ist deshalb nicht trivial, weil er nicht
statisch, sondern dynamisch sein muss. Denn es geht
letztendlich darum, die derzeit ungesteuerte und vom
Verbrauch unabhängige Stromproduktion bei den Erneu-
erbaren zu integrieren. Außerdem müssen wir mit tech-
nischen Innovationen rechnen, die heute noch nicht im
Detail planbar sind.

Dazu gibt es die angesprochenen Pilotprojekte. Herr
Krischer, wenn Sie schon sagen, es gebe zu wenig Pilot-
projekte, hätten Sie wenigstens dazusagen können, dass
uns diese Pilotprojekte immerhin im Bereich Forschung
und Entwicklung voranbringen können. Es sind deshalb
Pilotprojekte, weil sie nicht Stand der Technik sind. Bei
den Pilotprojekten kann man deshalb nicht sehr viel
mehr fordern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bringen ja noch nicht mal die EnLAG-Pilotprojekte voran!)


Dieses Thema ist deshalb dynamisch, weil wir noch
nicht kalkulieren können, welche Rolle die Speicherung
letztendlich spielt.

Beim Netzausbau geht es natürlich zunächst einmal
um die Frage der Akzeptanz. Ich habe gerade gesagt,
dass die Parteien einen Beitrag zur Erhöhung der Akzep-
tanz leisten können, indem sie sagen, dass das alles not-
wendig ist. Ich glaube, dass wir die Akzeptanz auch da-
durch erhöhen können, dass wir mehr Transparenz
schaffen; das tun wir. Ich glaube, dass wir auch dadurch
mehr Akzeptanz geschaffen haben, dass wir klar gesagt
haben, dass die Bestandsertüchtigung oberste Priorität
hat. Wenn der Netzausbau trotzdem nicht akzeptiert
wird, dann ist die Rechtswegverkürzung eine Möglich-
keit, um schnell Rechtssicherheit zu schaffen. Das ist
nun einmal so. Es geht darum, schnell Rechtssicherheit
zu schaffen, und nicht darum, irgendjemandem Rechte
zu nehmen.

Jetzt sage ich etwas, was Sie überraschen wird: Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir über das Thema
Erdverkabelung noch einmal diskutieren müssen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


und zwar bezogen auf die 110-Kilovolt-Leitungen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum lehnen Sie denn dann den Antrag des Bundesrates ab?)


– Erstens stehen in dem Antrag des Bundesrates noch
mehr Dinge. Zweitens besitzt diese Koalition selbst ge-
nügend Weisheit, um im richtigen Moment die richtigen
Dinge zu entscheiden. Wir müssen nicht darauf warten,
dass uns der Bundesrat irgendetwas vorlegt. Das ist voll-
kommen unnötig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, Sie lehnen etwas Richtiges ab, nur weil es vom Bundesrat kommt! Das ist doch unglaublich! – Rolf Hempelmann [SPD]: Guter Witz!)


Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Bezug auf
die 110-Kilovolt-Leitung eine Abwägungsentscheidung
treffen müssen. Wir müssen uns die Kosten, die Akzep-
tanz und den Nutzen anschauen, aber auch genau prüfen,
was das bezogen auf die Kilowattstunde kostet; denn
letztendlich kommt es darauf an. Damit will ich nicht ir-
gendjemandem in die Parade fahren. Ich meine nur, dass
dies ein ganz wesentliches Thema ist, um die Akzeptanz
zu erhöhen.

Wir haben jetzt die Grundlage dafür geschaffen, dass
die Planungen in unserem föderalen Staat etwas einfa-
cher laufen können. Bei länderübergreifenden Vorhaben
tritt eine Zentralisierung der Zuständigkeiten an die
Stelle paralleler Raumordnungsverfahren. Auch das wird
uns erheblich nutzen und die Realisierung der Maßnah-
men erleichtern, die immerhin – ohne Erdverkabelung –
10 Milliarden Euro kosten werden. Das ist ein stattlicher
Betrag. Er ist aber zu stemmen. Dieser Betrag ist finan-
zierbar, und die Maßnahmen sind somit letztendlich
auch umsetzbar. Damit die Leute sicher sind, dass die
Energiewende funktioniert – das ist unser Anliegen –,
muss man das immer wieder betonen. Wenn man immer
alles infrage stellt, sogar das, was man selbst vorgeschla-
gen hat, wird das natürlich nichts, Herr Krischer.

Nichtsdestotrotz müssen wir als Koalition unser Au-
genmerk stärker auf Themen jenseits des Netzausbaus
richten. Es ist klar, dass das EEG Teil eines Markteinfüh-
rungskonzeptes ist und nur dann Teil eines Marktdurch-
dringungskonzeptes werden kann, wenn man es fortent-
wickelt. Auch das muss man gemeinsam machen. Ich
hoffe, dass wir diesbezüglich weniger Blockade als Un-
terstützung seitens des Bundesrates erfahren. Es kommt
hierbei auch auf den Bundesrat an. Auch er muss ein In-
teresse daran haben, dieses Thema voranzubringen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayern vor allen Dingen!)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Letztlich wird es darauf ankommen – das ist entschei-
dend –, dass wir ein neues Marktdesign entwickeln.
Hierzu hat die Koalition gute Vorarbeit geleistet. Letzt-
endlich wird es darum gehen, die Fixkosten zu finanzie-
ren, und zwar sowohl die Fixkosten, die im konventio-
nellen Bereich entstehen, als auch die Fixkosten, die im
Bereich der erneuerbaren Energien entstehen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Nüßlein, wollen Sie Ihre Oma nicht noch grüßen?)


Dafür braucht man neben dem Markt für elektrische Ar-
beit einen Leistungsmarkt. Einen solchen Leistungs-
markt schnell einzuführen, ist genauso wichtig wie das
Voranbringen des Netzausbaus. Das sage ich aber nur
am Rande.

Ich bin der Überzeugung, dass der heutige Tag einen
Meilenstein in Sachen Netzausbau und damit einen Mei-
lenstein in Sachen Energiewende darstellt. Ich hätte mir
gewünscht, dass das aufseiten der Opposition nicht nur
die SPD erkennt.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir hätten uns gewünscht, dass Sie unsere Vorschläge aufgreifen! – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723715100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen. Mir liegt eine
Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Heveling vor. Die nehmen
wir zu Protokoll.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Geset-
zes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzaus-
baus Elektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/12638 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion ge-
gen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und des Kollegen Heveling in
zweiter Beratung angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei

Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des
Kollegen Heveling angenommen.

Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 6 a
und kommen zur Abstimmung über die Entschließungs-
anträge.

Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/13276. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13277. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13278. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Auch dieser Entschließungsantrag ist
mit dem gleichen Abstimmungsverhalten wie die beiden
vorherigen abgelehnt.

Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 a.

Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundes-
rates zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt un-
ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/13258, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 17/11369 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 6 b. Wir setzen die Abstimmun-
gen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie auf Drucksache 17/13258 fort.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12214 mit dem Ti-
tel „Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschland
erhalten und stärken“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktion
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.

Darf ich einen Hinweis Richtung Regierungsbank ge-
ben? Im Moment habe überwiegend ich das Wort. Wenn
Sie mit den Dingen, die Sie zu besprechen haben, nicht
ins Protokoll kommen wollen, wäre es sicherlich sinn-
voll, die Lautstärke einzuschränken.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Philipp Rösler stört! – Iris Gleicke 1)






Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 b.

Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/12681 mit dem Titel „Den Netzausbau bürger-
freundlich und zukunftssicher gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Linken und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/12518 mit dem Titel „Ausbau der Übertra-
gungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finan-
zielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion und der Linken angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Lohndumping im Einzelhandel stoppen – Ta-
rifverträge stärken, Entgelte und Arbeitsbe-
dingungen verbessern

– Drucksache 17/13104 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Markus
Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-
zes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlas-
sung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz)


– Drucksache 17/13106 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Kramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen –
Sicherung der Allgemeinverbindlichkeits-
regelung von Tarifverträgen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Tarifsystem stabilisieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Tarifvertragssystem stärken – Allgemein-
verbindliche Tariflöhne und branchenspezi-
fische Mindestlöhne erleichtern

– Drucksachen 17/8459, 17/8148, 17/4437,
17/10220 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723715200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die meisten von uns kennen sie doch, die net-
ten, freundlichen und zuvorkommenden Frauen und
Männer, die auch nach 20 Uhr ganz selbstverständlich
gute Miene zum bösen Spiel machen, etwa wenn ge-
nervte und gestresste Abgeordnete auf dem Weg nach
Hause vielleicht noch schnell einige Besorgungen erledi-
gen wollen.

Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sich
anfühlt, auch um 22 Uhr noch dort sitzen zu müssen,
selbst am Samstag oder, je nach Bundesland, an vier bis
acht Sonntagen im Jahr? Haben Sie sich schon einmal
für die Arbeitsbedingungen dieser Kolleginnen und Kol-
legen interessiert? Was wissen Sie alle eigentlich über
Niedriglöhne und das Lohndumping in dieser Branche,
in der fast 3 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen,
arbeiten? Wir, die Linke, haben uns das gefragt. Wir ha-
ben mit Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaf-
ten gesprochen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag
gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifver-
träge.

Nur falls es noch nicht jeder in diesem Saal weiß: Zu
Beginn dieses Jahres haben die Arbeitgeber des Einzel-
handels in fast allen Bundesländern die Manteltarifver-
träge gekündigt. Sie wissen: Die Manteltarifverträge re-
geln die wesentlichen Arbeitsbedingungen für diese
Branche. Sie regeln auch die Eingruppierung und die
Höhe der Zuschläge für besonders ungünstige Arbeits-
zeiten. Kurz gesagt: Sie regeln den Wert einer Arbeit,
den wir alle schätzen sollten, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gabriele Lösekrug-Möller [SPD])






Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


Aber all das stellen die Arbeitgeber nun auf den Prüf-
stand. Diesen Generalangriff, wie ihn die Gewerkschaft
Verdi zu Recht nennt, können und dürfen wir in diesem
Haus nicht schweigend hinnehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen Sie sich die Lage der Beschäftigten im Han-
del an: Die Ladenöffnungszeiten wurden massiv ausge-
dehnt. Viele Verkäuferinnen arbeiten inzwischen rund
um die Uhr. Es gibt immer mehr unsichere Jobs. Die Be-
schäftigten arbeiten teilweise auf Abruf. Wissen Sie ei-
gentlich, was es heißt, auf Abruf zu arbeiten? Das heißt
nichts anderes als weitgehenden Verzicht auf eigene Le-
bensgestaltung. Die Betroffenen können nicht einmal
mehr einen Kinobesuch einplanen; denn der Arbeitgeber
könnte sie ja zurückrufen.

Wird so viel zusätzliche Flexibilität aufseiten der Be-
schäftigten überhaupt honoriert? Nein, überhaupt nicht.
Im Gegenteil: Während den Beschäftigten immer mehr
abverlangt wird, sind Niedriglöhne auf dem Vormarsch.
Jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnbereich. Versuchen
Sie gar nicht erst, Ihre Hände in Unschuld zu waschen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Sie haben hier in die-
sem Hause die unsägliche Agenda 2010 beschlossen und
eine Lohnspirale nach unten in Gang gesetzt, die aufge-
halten werden muss.


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Na, na, na!)


– Doch, Herr Lehrieder, genau so sieht es in der Arbeits-
welt draußen aus.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ich komme gleich auf diesen Punkt!)


Die Agenda 2010 hat die Löhne massiv gedrückt; das
kann man mit Zahlen belegen.

Die Linke schlägt vor, bestehende Hürden für eine
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abzubauen.
Wir wollen dafür sorgen, dass für alle Beschäftigten und
Arbeitgeber einer Branche verlässliche Regeln geschaf-
fen werden können.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch viele Arbeitgeber müssen nämlich davor geschützt
werden, dass der Wettbewerb in der Arbeitswelt über die
Löhne und über die Arbeitsbedingungen geführt wird.

Die Damen und Herren FDP-Kollegen – der Herr
Vogel telefoniert jetzt – wollen uns wieder glauben ma-
chen, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber würden
das alles auch ohne Einflussnahme von außen mit großer
Vernunft regeln. Ich frage Sie, Herr Vogel: Was ist ver-
nünftig daran, dass die Arbeitgeber vor gut zehn Jahren
ihre Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeit von Ta-
rifverträgen aufgekündigt haben? Was ist vernünftig da-
ran, wenn die Löhne im Handel so niedrig sind, dass der
Staat jährlich 1,5 Milliarden Euro fürs Aufstocken zur
Verfügung stellen muss? Das ist unzumutbar und das
muss abgeschafft werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir schlagen vor, dass alle repräsentativen Tarifver-
träge für allgemeinverbindlich zu erklären sind, auch
wenn sie bisher nicht für die Hälfte der Beschäftigten
gelten. Den Arbeitgebern soll zudem das Vetorecht ent-
zogen werden. Wir wollen, dass ein gesetzlicher Min-
destlohn eingeführt wird, sodass nur die Tarifverträge
wirksam werden, die über diesem gesetzlichen Mindest-
lohn liegen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723715300

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unions-

fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ CSU]: Aber nicht wieder so laut! – Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wer Ohren hat, der höre!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723715400

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Erfolgsmo-

dell soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaft
in Deutschland gründen in der Tat darauf, dass wir ein
hochentwickeltes System von Tarifverträgen haben, die
Arbeitgeber und Gewerkschaften miteinander aushan-
deln und mit denen sie den Lohn und viele andere Dinge
– die Arbeitszeit usw. – regeln und mitgestalten.

Wir Bundestagsabgeordnete sollten tunlichst die Fin-
ger davon lassen, uns da einzumischen; denn – um es
kurz zu sagen – Arbeitgeber und Gewerkschaften regeln
das untereinander besser, als es der Bundestag regeln
könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein bisschen Vertrauen in die Gewerkschaften!)


Bei dem, was die Kollegin Zimmermann vorgetragen
hat, muss man den Eindruck bekommen, dass sie gar
nicht von Tarifautonomie spricht.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein schräges Bild von Gewerkschaften!)


Sie hat davon geredet, dass wir – der Bundestag, die
Politiker – uns einmischen sollten und per Gesetz – statt
durch die Tarifpartner – ein Mindestlohn in Deutschland
festgelegt werden sollte. Mit dem Antrag, der hier ge-
stellt wird, ist offensichtlich nicht das gemeint, um was
es angeblich geht – in Wahrheit ist staatliche Einmi-
schung in die Lohnpolitik gefordert.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sieht es denn mit der Tarifhoheit aus? – Zuruf von der SPD: Herr Rösler sieht das neuerdings anders!)


Staatliche Einmischung in die Lohnpolitik – das zei-
gen sämtliche Beispiele aus Europa – führen in der Re-
gel zu schlechteren Ergebnissen für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer als Tarifverträge, die im Rahmen
der Tarifautonomie frei verhandelt wurden. Deshalb set-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


zen wir uns für eine Stärkung der Tarifautonomie ein. In
der Tat haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten
erlebt, dass Flächentarifverträge infrage gestellt worden
sind. Spätestens die Bewältigung der Finanz- und Wirt-
schaftskrise 2008, 2009, 2010 hat aber gezeigt: Deutsch-
land – die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, die deutschen Betriebe – wäre nicht so schnell und
so gut – besser als alle anderen Industrienationen Euro-
pas – aus dieser Krise herausgekommen, wenn es nicht
die Tarifautonomie gäbe. Wenn Arbeitgeber und Ge-
werkschaften nicht Vereinbarungen über Kurzarbeit ge-
troffen hätten und wenn wir als Staat die Kurzarbeit
nicht massiv unterstützt hätten, wäre uns das nicht ge-
lungen. Gerade die Krisenbewältigung zeigt: Die Tarif-
autonomie ist der beste Weg, um gute Lösungen für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu
schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Jahr
2011 arbeiteten etwa 54 Prozent der westdeutschen und
37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben,
die an einen Tarifvertrag gebunden sind.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723715500

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder

Bemerkung der Kollegin Zimmermann?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723715600

Bitte schön.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723715700

Vielen Dank, Kollege Weiß, dass Sie die Frage zulas-

sen.

Sie kennen ja sicherlich die Callcenterbranche. Darin
arbeiten 500 000 Beschäftigte. Die Gewerkschaft Verdi
will für diese schon lange einen Tarifvertrag aushandeln,
aber auf der anderen Seite gibt es keinen Arbeitgeberver-
band. Ich frage Sie: Was machen wir mit diesen Kolle-
ginnen und Kollegen dort – es sind immerhin 500 000 –,
die unter Lohndumping leiden und schwere Arbeitsbe-
dingungen haben? Sie erhalten teilweise Löhne von 5, 6,
7 Euro in der Stunde.

Meine Frage an Sie: Wie können wir hier die Tarif-
autonomie walten lassen?


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723715800

Frau Kollegin Zimmermann, ich habe mich mehrmals

mit Betriebsräten in der Callcenterbranche unterhalten
und habe große Sympathien dafür, dass wir zu einem Ta-
rifvertrag für diese Branche kommen. Richtig ist: Dazu
muss es auf der anderen Seite einen Verhandlungspartner
geben. Ich gehe aber davon aus, dass die sehr konse-
quenten und, wie ich finde, inhaltlich auch gut vorgetra-
genen Argumente der Betriebsräte irgendwann zu die-
sem Erfolg führen werden.

Solange es den Tarifvertrag noch nicht gibt, bräuchten
wir für die Callcenter eigentlich eine Mindestlohn-
regelung. Sie wissen, dass von einer Arbeitnehmer-
organisation ein solcher Antrag nach dem Mindest-
arbeitsbedingungengesetz gestellt worden ist. Leider ist
dieser Antrag im Hauptausschuss unter Leitung von
Herrn von Dohnanyi abgelehnt worden. Ich habe den
Eindruck, dass er vor allem deshalb abgelehnt wurde,
weil er von der falschen Gewerkschaft gestellt worden
ist,


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Genau!)


was zeigt: Es wäre besser, man würde beim Thema Min-
destlöhne nicht die Organisationsinteressen gegeneinan-
der ausspielen, sondern wirklich in der Sache handeln.
Ich hätte mich gefreut, wenn der Antrag auf eine Min-
destlohnregelung für die Callcenterbranche im Haupt-
ausschuss bewilligt und eine entsprechende Regelung in
Kraft gesetzt worden wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe gerade vorgetragen, wie viele Beschäftigte
in einer Branche arbeiten, die einen Tarifvertrag hat.
Hinzu kommen etwa 7 Prozent der westdeutschen und
rund 12 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die in einem Betrieb arbeiten, der ei-
nen Firmentarifvertrag hat. Das heißt zusammengerech-
net: Für 39 Prozent der Beschäftigten im Westen und für
51 Prozent im Osten gibt es keinen Tarifvertrag. Das ist
in der Tat ein Rückgang gegenüber früher.

Allerdings kommt jetzt etwas anderes hinzu: Für rund
20 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und rund 25 Prozent der ostdeutschen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird im Betrieb ein
Tarifvertrag angewandt, obwohl der Betrieb gar nicht ta-
rifgebunden ist.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau!)


Hier haben die Zahlen zugenommen. Das zeigt doch,
dass in Deutschland nach wie vor die Tarifverträge für
die große Mehrheit der Arbeitgeber die Orientierungs-
punkte bei der Bezahlung sind.

Man kann meines Erachtens in der Tat die Frage stel-
len, ob bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen dafür
gegeben sind, einen Tarifvertrag für allgemeinverbind-
lich zu erklären, ihn also auch auf die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in den Betrieben zu erstrecken,
die gar nicht tarifgebunden sind, auch die faktische An-
wendung eines Tarifvertrags berücksichtigt werden
könnte; denn es ist natürlich gut, wenn man in einem Be-
trieb arbeitet, der tarifgebunden ist, und es ist schön,
wenn man in einem Betrieb arbeitet, der sich wenigstens
an einen Tarifvertrag hält, obwohl er gar nicht tarifge-
bunden ist, da er keiner Arbeitgeberorganisation ange-
hört, aber eigentlich könnte man die faktische Anwen-
dung des Tarifs hier mitzählen. Natürlich wäre es
wünschenswert, dass in mehr Bereichen Tarifverträge
abgeschlossen und für allgemeinverbindlich erklärt wer-
den.





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist heute
Morgen in der Debatte schon vorgetragen worden, aber
ich will es hier wiederholen: Es ist schon ein bemerkens-
werter Fortschritt, dass es die Arbeitgeber und Gewerk-
schaften in einem Bereich, der in fast jeder Bundestags-
debatte für besonders niedrige Löhne an den Pranger
gestellt worden ist, dem Friseurhandwerk, geschafft ha-
ben, eine Verabredung für einen bundesweit gültigen Ta-
rifvertrag zu finden, und dass sie angekündigt haben,
dafür eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu bean-
tragen. Glückwunsch an das Handwerk! Es wäre eine
tolle Sache, wenn weitere Branchen es den Friseuren
nachmachen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt natürlich auch für den Einzelhandel. Frau
Zimmermann hat hier verschwiegen, dass es jetzt über
zwei Jahre intensive Gespräche und Bemühungen gege-
ben hat, auch im Einzelhandel zu einer Vereinbarung zu-
mindest über einen Mindestlohn oder aber über einen
Tarifvertrag zu kommen, für den die Allgemeinverbind-
lichkeit beantragt werden könnte. Es ist schade, dass das
den Tarifpartnern bis zur Stunde nicht gelungen ist. Aber
wir als Bundestagsabgeordnete können den Verhand-
lungspartnern diese Arbeit nicht abnehmen. Ich will
deutlich sagen: Ich wünsche den Verantwortlichen im
Einzelhandel, dass sie diese Gespräche wieder aufneh-
men und versuchen, eine klare, eindeutige und gute tarif-
liche Vereinbarung zu finden; das wäre dringend not-
wendig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin etwas verwundert darüber, dass die Linken
auch noch das Thema Kontrolle ansprechen. Es ist ihnen
entgangen, dass ausgerechnet CDU/CSU und FDP in ih-
rer jetzt bald vierjährigen Regierungszeit jedes Jahr die
Zahl derjenigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle, die für
die Aufdeckung von Schwarzarbeit und für die Kontrolle
von Mindestlöhnen zuständig sind, um 100 Personen
aufgestockt haben.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 500 fehlen! 500 Stellen sind nicht besetzt!)


– Ja. Jedes Jahr ging diese Zahl um 100 nach oben. –
Entgangen ist ihnen auch, dass CDU/CSU und FDP die
Anzahl der Kontrolleure der Bundesagentur für Arbeit
um 30 Prozent aufgestockt haben.

Damit haben wir deutlich gemacht: Wir sind daran in-
teressiert, dass es in der deutschen Wirtschaft für Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer und für Unternehmen
gute vertragliche Regelungen gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind auch bereit, sie zu kontrollieren.

Insofern ist klar und deutlich: Wir sind diejenigen, die
für Tarifautonomie stehen, die die Tarifautonomie stär-
ken. Aber wir sollten bitte nicht per politischer Direkti-
ven in die Tarifautonomie eingreifen. Das führt nur ins
Verderben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723715900

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Josip Juratovic

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1723716000

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Lieber Kollege Peter Weiß, ich möchte Sie da-
ran erinnern, dass auch Aufstockung eine Art von staatli-
cher Einmischung in Lohnpolitik ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es vergeht kein Tag,
an dem wir nicht in der Presse von Menschen erfahren,
die von ihrer Arbeit nicht leben können. Unser Land ist
stolz auf seine soziale Marktwirtschaft. Die Entwicklung
auf dem Arbeitsmarkt mit Niedriglöhnen, Befristungen,
Leiharbeit und Werkverträgen zeigt jedoch, dass die so-
ziale Marktwirtschaft aus dem Gleichgewicht geraten
ist. In unserem Wirtschaftssystem geht es zunehmend
darum, den Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftig-
ten auszutragen. Die Unternehmer konkurrieren immer
mehr darum, den billigsten Preis anzubieten, sei es durch
Niedriglöhne ohne Tarif oder durch schlechte Arbeitsbe-
dingungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Billiglohnkon-
kurrenz ist schlecht für die Arbeitnehmer, und sie ist
auch schlecht für unser Land; denn unsere Wirtschaft
wird sich nicht zukunftsweisend weiterentwickeln, so-
lange es einigen Unternehmern nur um Strategien geht,
wie sie möglichst wenig Lohn zahlen. Wir brauchen da-
gegen einen Wettbewerb um die besten Ideen und Inno-
vationen. Dafür braucht man gute und fair bezahlte Mit-
arbeiter.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Wettbewerb
um Innovationen und nicht die Konkurrenz um Niedrig-
löhne zu fördern, ist ein funktionierendes Tarifvertrags-
system notwendig. Tarifverträge sind ein elementarer
Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Denn dadurch
werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern unter einen Hut gebracht. So kann sich die faire
und soziale Marktwirtschaft in unserem Land weiterent-
wickeln.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur möglich,
wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen stimmen.
Zu diesen Rahmenbedingungen gehört die Tarifautono-
mie. Leider gibt es jedoch immer mehr Unternehmen, in
denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert. Im-
mer mehr Unternehmer sind entweder gar nicht mehr in
Arbeitgeberverbänden, oder sie haben eine OT-Mitglied-
schaft, also eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. In
manchen Branchen wiederum sind die Arbeitnehmerver-
treter und die Gewerkschaften inzwischen nicht mehr
stark genug, um Tarifverhandlungen durchzusetzen und
durchzuführen.





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


Ein Blick nach Europa zeigt, dass die Tarifbindung in
Deutschland deutlich niedriger ist als in den meisten an-
deren Ländern. Deshalb ist die SPD-Forderung nach ei-
nem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mehr
als berechtigt.


(Beifall bei der SPD)


Aber es ist auch die Aufgabe der Politik, die Rahmenbe-
dingungen für eine wirkliche Tarifautonomie mit Ver-
handlungen der Tarifpartner auf Augenhöhe zu schaffen.

Wir müssen das Tarifvertragssystem stärken und zu-
allererst die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Ta-
rifverträgen erleichtern, wie wir Sozialdemokraten in
unserem Antrag fordern. Wir dürfen die Tarifvertrags-
parteien nicht alleine lassen mit ihrer Tarifautonomie,
sondern müssen sie gesetzlich und politisch unterstüt-
zen.

Die Bundesregierung fällt beim Thema Tarifautono-
mie leider in ihre gewohnte Haltung: Sie lobt die Tarif-
partner in Sonntagsreden. Politisch tut die Regierung
aber überhaupt nichts, um die Tarifautonomie tatsächlich
auch zu stärken. Mir ist es unverständlich, dass die CDU
im Ausschuss für Arbeit und Soziales sagt, es müsse
grundsätzlich auch Unternehmen ohne eine sogenannte
Unterwerfung unter einen Tarifvertrag geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, faire Tarife sind die
Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfen
nicht die Unternehmer in unserem Land politisch för-
dern, die sich von der sozialen Marktwirtschaft verab-
schiedet haben, sondern wir müssen die Unternehmer
fördern, die faire tarifliche Löhne zahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifver-
trägen sind auch im europäischen Kontext wichtig; denn
nur allgemeinverbindliche Löhne sind nicht nur für die
deutschen Arbeitnehmer bindend, sondern auch für Ar-
beitnehmer aus Europa, die bei uns arbeiten. So sorgen
wir dafür, dass Menschen – vor allem solche aus Ost-
europa – nicht bei uns ausgebeutet werden, und wir sor-
gen dafür, dass sich die Arbeitnehmer in unserem Land
nicht vor Billigkonkurrenz fürchten müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge-
meinsam dafür sorgen, dass die Gesetze, die in unserem
Land im Tarifvertragssystem gelten, insbesondere das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz, auch wirksam sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Momentan kann dieses Gesetz gar nicht richtig ange-
wandt werden, weil es extrem schwierig ist, Tarifver-
träge für allgemeinverbindlich zu erklären. Bislang müs-
sen 50 Prozent aller unter den Geltungsbereich des
Tarifvertrags fallenden Personen bei tarifgebundenen
Arbeitgebern beschäftigt sein, damit ein Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Dieses Krite-
rium wollen wir ersetzen. In Zukunft soll ein Tarifver-
trag für allgemeinverbindlich erklärt werden können,
wenn er repräsentativ ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist doch nicht sinnvoll, ein Gesetz zu haben, das
kaum angewandt werden kann. Eine Umsetzung des Ge-
setzes muss möglich sein. Auch deshalb ist es dringend
geboten, das Tarifvertragssystem zu reformieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und,
da ich in diesem Bereich aktiv bin, Kolleginnen und
Kollegen der Gewerkschaften und in den Betrieben: Die
SPD setzt sich dafür ein, dass die Tarifautonomie mit
fairen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Ar-
beitnehmern wieder zur Regel in unserem Land wird.

Ich bitte um eure Unterstützung und danke für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723716100

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat nun für die FDP-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1723716200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland hat einen Niedriglohnsektor, ja, und zwar
als Ergebnis einer politischen Entscheidung der rot-grü-
nen Bundesregierung.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne die Rede schon!)


– Ja, das muss aber immer wieder gesagt werden. Ver-
antwortung muss da abgeladen werden, wo Verantwor-
tung auch besteht.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legen Sie mal eine neue Platte auf!)


Die Kehrseite – ich mache das ja sehr fair und vollstän-
dig – dieses Niedriglohnsektors war, dass Rot-Grün ge-
sagt hat: Wenn niedrige Löhne gezahlt werden, die nicht
reichen, um den eigenen Bedarf zu decken, dann soll
aufgestockt werden können. Beides gehört zusammen.
Sie wollten dies damals so; heute bekennen Sie sich
nicht mehr so richtig dazu.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt zum Thema!)


Aber immerhin, es hat gewirkt. Als Sie diese Ent-
scheidung getroffen hatten, hatten wir 5 Millionen Ar-
beitslose in Deutschland. Heute haben wir 3 Millionen
Arbeitslose, und jeder Mensch, der einen neuen Arbeits-
platz gewonnen hat, hat ein Stück Autonomie und auch
die Möglichkeit gewonnen, eigene Chancen zu nutzen.
Oft sind Niedriglöhne ja auch nur eine Durchgangssitua-
tion.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Auch das muss man sehen: Sie bieten die Möglichkeit,
nach dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. Deswegen stehen wir auch heute noch zu den
Entscheidungen, die Sie damals getroffen haben, heute
aber nicht mehr wahrhaben wollen. – Das ist das Erste.

Das Zweite: Tarifautonomie wirkt und Tarifvertrags-
politik funktioniert. Das haben wir bei den Friseuren in
dieser Woche gesehen. Ich gebe zu, es war schwer er-
träglich, im Bereich der Friseure immer wieder auf Ta-
rifverträge verwiesen zu werden, die aus dem Jahr 1998
stammten. Es ist wirklich gut und zu begrüßen, dass die
Branche jetzt auch auf öffentlichen Druck reagiert hat
und einen gestuften Tarifvertrag abgeschlossen hat, be-
ginnend im August dieses Jahres mit 6,50 Euro im Osten
und 7,50 Euro im Westen und einem anschließenden
Steigerungsziel. Das zeigt: Die Branche hat die Signale
verstanden. Es gibt überhaupt keinen Anlass für die Poli-
tik, in ein funktionierendes Tarifvertragsgeschehen ein-
zugreifen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und da, wo es nicht funktioniert?)


Das Dritte, was ich ansprechen will, ist: Wir haben
ein gut funktionierendes und auch ausgereiftes Instru-
mentarium im Bereich der Tarifvertragspolitik. – Sie
schütteln den Kopf, Frau Müller-Gemmeke, aber es ist
doch so. Als Sie regiert haben, haben Sie es auch nicht
verändert. Wir haben bei Branchen mit einer sehr hohen
Tarifbindung, also über 50 Prozent der Beschäftigten,
nach dem Tarifvertragsgesetz die Möglichkeit, nicht nur
untere Lohnlinien, sondern ganze Lohngitter für allge-
meinverbindlich zu erklären.

Wir haben mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz die
Möglichkeit, jedenfalls nach Maßstab unseres Handelns,
mit einer etwas abgesenkten Anforderung, nämlich bei
Repräsentativität der Tarifverträge, eine Lohnunter-
grenze einzuziehen. Wir haben auch die Möglichkeit, in
praktisch nicht organisierten Bereichen mit dem Min-
destarbeitsbedingungengesetz einen von einer Kommis-
sion oder einem Fachausschuss ermittelten Lohn als
Lohnuntergrenze zu benennen. Das muss man beobach-
ten, das funktioniert bisher anscheinend noch nicht so
gut. Das habe ich jedenfalls von Herrn von Dohnanyi ge-
hört. Aber das zeigt insgesamt: Wir haben wirklich für
alle Fälle die Möglichkeit, zu handeln.

Ich bin nicht bereit – das sage ich hier sehr deutlich
für meine Fraktion –, auf das Votum des Tarifausschus-
ses zu verzichten. – Es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage, Frau Präsidentin.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723716300

Völlig überraschend möchte Ihnen die Kollegin

Zimmermann eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen. Sie lassen diese natürlich auch zu. – Bitte, Kol-
legin Zimmermann.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723716400

Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. – Ich schätze Sie sehr.

Aber mich interessiert wirklich: Was wäre bei Ihnen die
Lohnuntergrenze? Wo würde sie liegen? Ich habe es
nicht gelesen und auch noch keine Meinungsäußerung
von der FDP dahin gehend gehört, wo für die FDP die
Lohnuntergrenze liegt.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1723716500

Ja, ich habe es verstanden.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723716600

Sie wissen, die Niedriglohnschwelle liegt bei

10,36 Euro. Das ist keine Zahl der Linken, sondern eine
Zahl vom Statistischen Bundesamt. Mich interessiert
wirklich, wie die FDP das sieht. Das finde ich jetzt rich-
tig spannend.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1723716700

Zunächst – so viel Zeit muss sein, Frau Kollegin

Zimmermann – will ich mich bei Ihnen und auch über-
haupt bei den Kollegen der Linken einmal ausdrücklich
bedanken. Es funktioniert immer sehr gut: Meine Aus-
führungen führen dazu, dass es bei Ihnen Nachfragebe-
darf gibt, Herr Kollege Ernst, Herr Kollege Birkwald,
wer auch immer.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das finde ich sehr erfreulich, weil es zeigt, dass von der
einen Seite des Plenarsaals zur anderen ein kommunika-
tiver Draht besteht. Herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der zweite Punkt – Sie wollen mich natürlich aufs
Glatteis führen; das werde ich nicht zulassen – ist: Wenn
ich Ihnen eine Zahl nennen würde, würde ich genau in
diesen Über- oder Unterbietungswettbewerb einsteigen,
den wir gerade nicht wollen. Tarifautonomie heißt für
uns: Der Staat hält sich raus. Deswegen nennen wir kei-
nen Wert. Es ist auch nach dem Mindestarbeitsbedingun-
gengesetz vorgesehen, dass nicht der Staat eine Lohn-
höhe festsetzt, sondern ein Fachausschuss, der nach der
Feststellung von sozialen Verwerfungen vom Hauptaus-
schuss eingesetzt wird.

Diese Zahl ist der Referenzwert. Er ist nicht politisch
gesetzt, sondern wird der Politik von fachlich Betroffe-
nen nahegelegt. Das ist eben etwas ganz anderes als das,
was in dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines
Mindestlohns des Bundesrates vorgesehen ist. Der Kol-
lege Zimmer hat heute Morgen zu Recht auf die Mecha-
nismen hingewiesen: Wenn nämlich die Tarifpartner
nicht handeln, dann soll der Staat selbst Zahlen nennen.
Wenn innerhalb einer bestimmten Frist kein Vorschlag
erarbeitet wurde, soll der Staat selbst einen Wert festset-
zen. Das ist für uns Liberale absolut inakzeptabel. Wir
wollen keine staatlich festgelegte Lohnhöhe, sondern
wir wollen, dass die fachlich Betroffenen in den Bran-
chen ihre Dinge regeln, weil sie selbst die beste und
nächste Anschauung dessen haben, was in den Betrieben





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


tatsächlich gezahlt werden kann. Vielen Dank für die
Frage.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt ein Instrumentarium. Wir sind nicht bereit, auf
die Mitwirkung des Tarifausschusses im Rahmen der
AVE zu verzichten, weil der Tarifausschuss eben eine
gesamtwirtschaftliche Perspektive herstellt. Die Erfah-
rung aus den letzten dreieinhalb Jahren zeigt: Es ist in je-
dem einzelnen Fall, teilweise mit erheblichen Geburts-
wehen – das gebe ich zu –, gelungen, ein entsprechendes
Votum zu erzielen, mit dem das in der Regel von uns al-
len gewünschte Ziel erreicht werden kann. Daran halten
wir fest. Es sollte zudem immer eine Kabinettsentschei-
dung geben und nicht allein das federführende Ressort
die Möglichkeit haben, per AVE zu handeln. All das ist
sinnvoll und richtig.

Ich finde, wir haben ein gutes Instrumentarium.


(Klaus Barthel [SPD]: Sie nutzen es nur nicht!)


Es ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dass
wir auf unserem Nürnberger Parteitag am übernächsten
Wochenende darüber nachdenken werden, an welchen
Stellschrauben im Rahmen des bestehenden Systems
noch nachjustiert werden muss.


(Klaus Barthel [SPD]: Welche Schrauben sind denn locker, Herr Kolb?)


In der nächsten Sitzungswoche können wir Ihnen wahr-
scheinlich schon sehr viel Konkreteres zu unserer Nach-
justierung berichten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723716800

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! In der Arbeitswelt läuft so einiges
schief. Heute geht es stellvertretend um den Einzelhan-
del. Verkäuferin ist ein Knochenjob, und das bei schlech-
ter Bezahlung. 38 Prozent der fast 3 Millionen Beschäf-
tigten im Einzelhandel arbeiten inzwischen im
Niedriglohnbereich. Das sind zu viele. Bei dieser Ent-
wicklung ist der Verweis von Ihnen, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, auf die Tarifauto-
nomie einfach zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Früher hatten viel mehr Beschäftigte – gerade auch
im Einzelhandel – sozialen Schutz durch allgemeinver-
bindlich erklärte Tarifverträge. Heute aber wechseln zu
viele Arbeitgeber in Mitgliedschaften ohne Tarifbin-

dung. Edeka und Rewe gliedern Filialen aus an selbst-
ständige Kaufleute. Gleichzeitig gibt es immer mehr
zweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. In der Folge
wird der Einzelhandel immer mehr zu einer Branche
ohne Betriebsräte. Vor allem aber funktioniert das wich-
tige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nicht
mehr, weil die Tarifbindung zu gering ist. Durch diese
unterschiedlichen Formen der Tarifflucht wird der jahr-
zehntealte gesellschaftliche Konsens der Sozialpartner-
schaft aufgekündigt. Nehmen Sie das endlich zur Kennt-
nis!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich bin auch überzeugt, dass die Tarifbindung insge-
samt weiter abnehmen wird. Unterstützung bei der Tarif-
flucht gibt es einmal mehr im Internet. So bietet bei-
spielsweise die Haufe-Akademie ein Seminar an unter
dem Titel „Wege aus der Tarifbindung“ – ich zitiere –:

Praxisorientiert … lernen Sie, welche Möglichkei-
ten es gibt, Personalkosten zu sparen, flexibler zu
werden … und den Einfluss von Gewerkschaften
zu reduzieren.

Praktische Handlungsempfehlungen … zeigen Ih-
nen, wie Sie die Lösung aus tariflichen Bindungen
am besten umsetzen.

Die FDP sollte ruhig einmal zuhören. – Dann wird noch
die ganze Palette aufgeführt: OT-Mitgliedschaft, Wech-
sel des Arbeitgeberverbandes, Branchenwechsel, Um-
strukturierung und Gestaltung der Arbeitsverträge. Es ist
unsäglich. Das hat nichts mehr mit Sozialpartnerschaft
zu tun. Hier geht der Anstand verloren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions-
fraktionen, Sie halten immer die Tarifautonomie hoch,
wie wir gerade wieder gehört haben. Sie müssen sich
aber langsam entscheiden, was Sie damit meinen und
was Sie wollen. Wenn es Ihnen nur um die negative Ko-
alitionsfreiheit geht, dann sagen Sie das endlich ehrlich.
Dann wissen die Beschäftigten, was sie von Ihnen zu er-
warten haben, nämlich gar nichts. Oder verstehen Sie
unter Tarifautonomie, dass den Tarifvertragsparteien
eine wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungskompe-
tenz eingeräumt wird? Dann müssen Sie aber auch re-
agieren, wenn sich Arbeitgeber von dieser Verantwor-
tung verabschieden. In der Konsequenz müssten Sie
dann, wenn auch nicht in allen Details, so doch zumin-
dest im Grundsatz die vorliegenden Vorlagen unterstüt-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen erstens einen flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohn, zweitens mehr branchenspezifische
Mindestlöhne, und drittens muss die Allgemeinverbind-
licherklärung von Tarifverträgen erleichtert werden;
denn wenn die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert,





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir Grüne bringen heute noch einen kleinen Entwurf
eines Gesetzes ein, das unserer Meinung nach durchaus
große Wirkung erzielen kann, und zwar gegen zweifel-
hafte Werkvertragskonstruktionen. Wenn ein Schein-
werkvertrag gerichtlich festgestellt wird, dann ist das
verdeckte Leiharbeit – mit allen Konsequenzen: Ein
Bußgeld wird verhängt, die Sozialversicherungsbeiträge
werden nachgefordert, und die Beschäftigten haben au-
tomatisch ein Arbeitsverhältnis mit dem Werkvertrags-
besteller. Eine Erlaubnis für Leiharbeit schützt die
Betriebe aber vor diesen Rechtsfolgen. Diese Gesetzes-
lücke im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wollen wir
schließen; denn manche Betriebe nutzen das schamlos
aus. Sie vergeben ihre dubiosen Werkverträge nur an
Fremdfirmen mit einer Erlaubnis für Leiharbeit. Damit
können sich die Unternehmen absichern und die Rechts-
folgen von Scheinwerkverträgen abmildern. Wir fordern
deshalb, dass die Erlaubnis nur für echte Leiharbeit gilt.
Wer mit Scheinwerkverträgen Löhne absenkt und Tarif-
flucht begeht, der soll künftig immer auch die rechtli-
chen Konsequenzen tragen. Das hat abschreckende Wir-
kung, und vor allem ist das gerecht, Herr Kolb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Genehmigung wird doch regelmäßig überprüft!)


– Sie haben das, glaube ich, einfach nicht verstanden.

Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions-
fraktionen, mit allen Anträgen, die heute vorliegen, soll
die Sozialpartnerschaft zum Schutz der Beschäftigten
gestärkt werden. Aber auch die tariftreuen Betriebe
brauchen diesen Schutz, damit sie von Schmutzkonkur-
renz nicht vom Markt gedrängt werden. Reden Sie also
nicht nur von Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie,
sondern handeln Sie endlich!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723716900

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1723717000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktio-
nen, studiert man die von Ihnen eingebrachten und heute
zur Debatte stehenden Anträge, so könnte man auf die
Idee kommen, dass es um die arbeitsmarkt- und sozial-

politische Lage in Deutschland wirklich schlecht bestellt
ist.


(Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Genau!)


Aber ich kann Sie beruhigen: Dem ist bei weitem nicht
so. Im Gegenteil: Betrachtet man die Entwicklung am
deutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren,
dann sieht man, dass die Lage eigentlich kaum besser
sein könnte.

Im vergangenen Jahr waren mit nahezu 42 Millionen
Beschäftigten so viele Menschen in Deutschland in Be-
schäftigung wie nie zuvor.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt aber auch auf die Arbeitsbedingungen an, Herr Kollege!)


Auch die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen ist mit
2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren
gefallen. 29,8 Millionen Personen, um die Zahl zu lie-
fern, Frau Müller-Gemmeke, waren sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt. Darauf wollen Sie doch hinaus. Ich
kenne Ihre Fragen nach mehrjähriger Tätigkeit im Aus-
schuss.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es kommt auf die Arbeitsbedingungen an!)


In ihrer aktuellen Frühjahrsprognose geht die Bundes-
regierung für das laufende Jahr weiterhin von einem An-
stieg der Beschäftigung um 200 000 sowie einem Rück-
gang der Arbeitslosigkeit auf deutlich unter 3 Millionen
Personen aus. Im europäischen Vergleich steht Deutsch-
land, insbesondere was die geringe Jugendarbeitslosig-
keit anbelangt, mit Abstand am besten da.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das waren vier gute Jahre!)


Die Vermittlung in Arbeit verläuft zügiger, und die
durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist gesun-
ken. Das müssen auch Sie, Frau Kollegin Zimmermann,
bei aller Kritik zur Kenntnis nehmen. Wir werden im ge-
samten europäischen Ausland um unseren soliden und
äußerst robusten Arbeitsmarkt beneidet. Das sind die Er-
träge erfolgreicher christlich-liberaler Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Anton Schaaf [SPD]: Was hat das mit Tarifvertragspolitik zu tun?)


– Ich komme gleich dazu, lieber Toni Schaaf.

Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ent-
nehme ich eine ausgesprochen pessimistische Sicht auf
die Tarifbindung in Deutschland, die ich in keiner Weise
nachvollziehen kann. Auch die Sachverständigen haben
sich im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales am 6. Februar 2012 mit
Ihrer Sicht der Dinge sichtlich schwergetan. Zusätzlich
zur unmittelbaren Bindung der Unternehmen an Flä-
chen- und Branchentarifverträge ist die Zahl der Haus-
und Firmentarifverträge deutlich gestiegen. Hinzu





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


kommt, dass sich ein erheblicher Teil der nicht tarifge-
bundenen Unternehmen an bestehende Flächen- und
Branchentarifverträge anlehnt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Weil die alle so gut sind!)


Darauf wurde von Herrn Kollegen Kolb zutreffender-
weise bereits hingewiesen.

Legt man diese Fakten zugrunde, kommt man entge-
gen Ihrer Ansicht zu dem Ergebnis, dass die Tarifbin-
dung in Deutschland im europäischen Vergleich im obe-
ren Bereich liegt. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung werden die Arbeitsbedingungen
von 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse immer noch
durch Tarifverträge bestimmt. Diese Zahlen belegen,
dass Tarifverträge trotz Ihrer Schwarzmalerei das wich-
tigste Element zur Aushandlung und Festsetzung von
Arbeitsentgelten, Arbeitsbedingungen und weiteren be-
schäftigungsrelevanten Fragen sind.

Mit einem Sammelsurium von Forderungen, angefan-
gen bei einem flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohn, der in jedem Ihrer Anträge steht, über eine Auswei-
tung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bis hin zu
einer Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
von Tariflöhnen, versuchen Sie, einem angeblichen
Missstand entgegenzutreten.

Das Aushandeln von Löhnen muss grundsätzlich
Aufgabe der Sozialpartner sein. – Ich freue mich, dass
Kollege Klaus Ernst wieder unter uns ist, der natürlich
als alter Gewerkschafter hier von mir abermals hören
muss, dass es die christlich-liberale Koalition ist, die der
Tarifautonomie das Wort redet und die Rolle der Ge-
werkschaften würdigt und hochschätzt, anders als früher
Ihre Genossen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hören Sie mal bei der Rente mit 67 auf die Gewerkschaften! Das wäre mal gut! Dann gäbe es die nämlich nicht mehr!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723717100

Lassen Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen

Schaaf zu? –


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Er fordert sie ja geradezu heraus!)


Bitte, Sie haben das Wort.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1723717200

Sie lehnen den gesetzlichen Mindestlohn ja immer ab

mit dem Hinweis darauf, ein gesetzlicher Mindestlohn
sei eine Einmischung in die Tarifautonomie. Wir bzw.
unsere Vorgänger haben in diesem Haus eine Menge Ge-
setze beschlossen, die sich zum Beispiel damit befassen,
wie viel Urlaub mindestens gewährt werden muss, wie
hoch die Arbeitszeit in der Woche höchstens sein darf.
Wir haben die Betriebsverfassung. Sind das alles Einmi-
schungen in die Tarifautonomie, oder sind das Mindest-
standards, die wir in der sozialen Marktwirtschaft für
richtig halten?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1723717300

Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie sind Arbeitnehmer-

schützer, genau wie ich.


(Lachen bei der SPD)


Wir haben die Interessen der Arbeitnehmer im Fokus.
Gerade vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrück-
lich die Regelungen im Bundesurlaubsgesetz und in den
Arbeitszeitverordnungen betreffend die Urlaubsdauer
und die maximalen Wochenarbeitszeiten, quasi als Min-
destlevel zum Schutz der Arbeitnehmer.


(Anton Schaaf [SPD]: Genau!)


Allein der Umstand, dass wir bereits mehrere Grenzen
eingezogen haben, heißt aber doch nicht, dass wir wei-
tere Grenzen einziehen müssen, die nicht zwingend er-
forderlich sind. Hier müssen wir eine weitere Einengung
der Verhandlungspositionen der Tarifvertragsparteien
gerade nicht vornehmen. Die branchenspezifische Lohn-
höhe können sie doch viel besser selbst aushandeln.
Dass die minimale Urlaubsdauer als Arbeitsschutzrecht
vom Bundesgesetzgeber geregelt ist, ist richtig und auch
zutreffend. Das heißt aber nicht, dass das für alle Bran-
chen einheitlich gemacht werden muss.

Frau Kollegin Zimmermann hat ja den netten Kolle-
gen Kolb suggestiv gefragt: Wo würden Sie denn hier
die Lohnuntergrenze sehen? – Das ist doch etwas, was
von Branche zu Branche von den Tarifvertragsparteien
viel besser ausgehandelt werden kann. Wir sehen es
doch: Hier sind es 8,50 Euro, dort 10 Euro. Vielleicht
kommen wir auch irgendwann einmal zu 9 Euro oder
11,50 Euro.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie sind nicht für Löhne, von denen Menschen leben können! – Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Sie verschließen die Augen, Herr Lehrieder! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Es geht darum: Wovon können die Menschen leben?)


Wir würden uns hier vor der Bundestagswahl in einem
Überbietungswettbewerb befinden, wer die besseren
Politiker sind, wer mehr Mindestlohn fordert – unabhän-
gig davon, dass wir den Verlust von Arbeitsplätzen dann
gar nicht selber ausbaden müssten.

Lassen Sie uns den Tarifvertragsparteien etwas Ver-
trauen entgegenbringen und ihnen die Aushandlung der
Lohnhöhen in den einzelnen Branchen zugestehen! Das
können die besser als wir. Lieber Toni Schaaf, du weißt
so gut wie ich, dass wir die Tarifvertragsparteien ihr Ge-
schäft machen lassen sollten.

Frau Präsidentin, da ist noch eine Wortmeldung.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723717400

Ich habe das gesehen, Kollege Lehrieder. Der Kollege

Ernst hat sich ebenfalls zu einer Frage oder Bemerkung
gemeldet. Ich entnehme Ihrem Hinweis, dass Sie diese
auch zulassen.






(A) (C)



(D)(B)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723717500

Herr Kollege Lehrieder, es geht mir um das Problem,

das eben angesprochen wurde. Ihre Argumentation
scheint mir nicht sehr schlüssig zu sein. Urlaubsdauer ist
ja etwas anderes als die Frage der Arbeitszeit. Wir haben
bezogen auf die Urlaubsdauer eine Mindestregelung im
Gesetz – 24 Werktage –; trotzdem haben die Tarifver-
tragsparteien die Freiheit, höhere Urlaubszeiten zu ver-
einbaren, zum Beispiel 30 Tage in der Metall- und Elek-
troindustrie. Inwiefern, glauben Sie, hat die Festlegung
einer Mindesturlaubsdauer die Gewerkschaften behin-
dert, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren? Das ist eine
ganz konkrete Frage.

Zweitens. Wir haben ein Arbeitszeitgesetz. In diesem
Arbeitszeitgesetz haben wir Höchstarbeitszeiten verein-
bart. Trotzdem haben sich die Gewerkschaften mit den
Arbeitgeberverbänden – wahrscheinlich zu Ihrer großen
Freude, weil das in die Tarifautonomie fällt – in ver-
schiedenen Branchen auf die 35-Stunden-Woche ge-
einigt. Glauben Sie, dass die festgelegte Mindestar-
beitszeit die Gewerkschaften behindert hat, als sie die
35-Stunden-Woche durchgesetzt haben? Oder war es
nicht so, dass sie auf Basis bestehender Gesetze eine
Verbesserung durchsetzen konnten?

Wenn Sie mir in diesen Fragen recht geben, Kollege
Lehrieder, ist es dann nicht so, dass selbstverständlich
die Gewerkschaften einen besseren Lohn als den Min-
destlohn vereinbaren können, und zwar in den Berei-
chen, in denen sie selbst dazu nicht mehr in der Lage
sind, eine Basis, einen Mindestlohn zu verhandeln, auf
den sie aufsetzen können? Nur so können sie das in An-
spruch nehmen, was Sie hier propagieren, nämlich eine
Tarifautonomie, die über die gesetzlichen Bestimmun-
gen hinaus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bes-
sere Bedingungen bei Lohn, Urlaub usw. gewährt. Ist es
nicht sinnvoll, diesen Mindestlohn


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Nein!)


zur Geltung der künftigen Tarifautonomie geradezu
zwingend einzuführen?


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1723717600

Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein. Ich be-

gründe das sehr gern. – Lieber Kollege Ernst, bei den an-
gesprochenen Regelungen zur Wochenarbeitszeit – wir
diskutieren auf der Brüsseler Ebene derzeit über
48 Stunden; diese Arbeitszeitobergrenze soll uns von der
Brüsseler Ebene vorgegeben werden – handelt es sich
schlicht um Arbeitnehmerschutzrechte. Gesundheit,
Wohlbefinden, Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers sind
von staatlicher Seite zu schützen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)


Das ist etwas anderes, ein Aliud im Verhältnis zur Lohn-
höhe. Bei der Lohnhöhe geht es nicht um Arbeitnehmer-
schutz.

Beispiel: Urlaubszeit. Jede Mitbürgerin und jeder
Mitbürger braucht bei einer Vollzeitbeschäftigung eine

entsprechende Urlaubszeit, um sich wieder zu erholen
und die körperliche Fitness zu erhalten. Das ist logisch.
Das ist ein Arbeitnehmerschutzrecht. Das ist anders zu
betrachten als die Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht es
darum: Wie ist die Produktivität in der Branche, an dem
Arbeitsplatz, möglicherweise in der Region? Das ist
durchaus differenziert zu betrachten. Da kann es keine
Einheitlichkeit geben.

Zu Ihrer Frage: Können die Gewerkschaften aus den
10 Euro nicht 11 Euro oder 12 Euro machen? Es besteht
das Risiko, lieber Klaus Ernst, dass tarifvertraglich ver-
einbarte höhere Löhne, etwa von 11 Euro oder 12 Euro,
auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden. Sie
geben den Mitbürgerinnen und Mitbürgern unter Um-
ständen Steine statt Brot. Sie dürfen nicht glauben, dass
die Gewerkschaften auf die 10 Euro noch 1 Euro oder
2 Euro drauflegen müssen. Es kann genauso passieren,
dass bestehende tarifvertraglich vereinbarte Löhne in
Höhe von 11 Euro auf den Mindestlohn von 10 Euro ge-
senkt werden.

Von daher: Ihr Optimismus in Ehren – ich glaube Ih-
nen das liebend gern; ich traue den Gewerkschaften
wahrscheinlich mehr zu als Sie –, aber das wird nicht
funktionieren, lieber Klaus Ernst. Die Arbeitszeitrege-
lung auf der einen Seite und die Lohnhöhe auf der ande-
ren Seite, das ist unterschiedlich zu betrachten. Die Ar-
beitszeit und die Lohnhöhe können in Tarifverträgen
zugunsten des Arbeitnehmers verbessert werden – da bin
ich bei Ihnen –; aber der Schutz der körperlichen Unver-
sehrtheit, der körperlichen Integrität des Arbeitnehmers
ist ein bisschen anders zu sehen als die Lohnhöhe. Da
bitte ich um Verständnis. Das wissen Sie als Gewerk-
schafter aber besser als ich.

Dass dies funktionieren kann, lieber Klaus Ernst – Sie
kommen aus Schweinfurt –, wissen Sie. Anfang der
Woche ist über dem Dom von Würzburg weißer Rauch
aufgestiegen. Man hat sich geeinigt. Die sogenannte
Würzburger Einigung der Friseure – unter dem Namen
mittlerweile weltbekannt – zeigt, dass die Tarifvertrags-
parteien hier tatsächlich eine Lösung erreichen können,
die eine Verdopplung von manchen Löhnen zur Folge
haben wird – zugegebenermaßen: erst in eineinhalb Jah-
ren. Aber immerhin gibt es ein Ansteigen der Löhne im
Friseurgewerbe.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber Sie haben behauptet, dass dann die ganzen Arbeitsplätze kaputtgehen!)


– Fragen Sie mich halt was, Frau Kollegin! Schreien Sie
nicht einfach dazwischen! – Ein Anstieg der Lohnhöhe
im Friseurgewerbe von 3,80 Euro oder 4,20 Euro auf zu-
künftig 8,50 Euro wäre, glaube ich, ein Supererfolg. Das
zeigt, was vernünftige Gewerkschaften in vernünftigen
Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite erreichen kön-
nen – auch mit Erstreckung auf noch nicht tarifgebun-
dene Unternehmen. Das Spannende bei den Friseuren ist
im Übrigen, wie das funktionieren wird, wie die sich
freiwillig bereit erklären, diese 8,50 Euro zu bezahlen.


(Zuruf von der SPD: 20 Jahre hat das gedauert!)






Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


– Ja, aber die Christlich-Liberalen haben es erreicht, lie-
ber Herr Kollege.


(Pascal Kober [FDP]: Das waren vier gute Jahre!)


Meine Damen und Herren, der richtige Weg der
Lohnfindung – ich habe bereits darauf hingewiesen –
sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Für den Fall,
dass eine zu geringe Tarifbindung auf Arbeitgeber- oder
auf Arbeitnehmerseite das nicht ermöglicht, hat Kollege
Kolb auf das MiArbG hingewiesen. Das funktioniert
noch nicht. Wir werden genau hinschauen müssen, wie
wir es über das MiArbG möglicherweise erreichen, die
Konditionen in den Branchen, in denen die Tarifbindung
recht schwach ist, zu verbessern.

Ich würde es begrüßen, wenn man im Einzelhandel
ähnlich wie bei den Friseuren mit vernünftigen Tarifver-
tragsparteien zu einer vergleichbaren positiven Lösung
im Interesse der Arbeitnehmer, aber auch im Interesse
der Branche kommen könnte. Lassen Sie uns in diesem
Sinne daran arbeiten!

Die vorgelegten Anträge sind in dieser Hinsicht nicht
zielführend. Deshalb werden wir sie – da bitte ich um
Nachsicht – samt und sonders ablehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josip Juratovic [SPD]: Schade!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723717700

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus

Barthel das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1723717800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese

Debatte ist schon eigenartig. Hier wird zum Beispiel ar-
gumentiert, bei der Arbeitszeit müsse es einen Schutz
geben – das ist auch richtig –, aber es dürfe keinen ge-
setzlichen Schutz gegen Armut geben. Armut ist be-
kanntlich so gesund, und deswegen braucht man keinen
gesetzlichen Mindestlohn.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist Sozialgesetzbuch!)


Dann wird hier allen Ernstes argumentiert, ein Min-
destlohn von 8,50 Euro würde dazu führen, dass Löhne
auf diesen Mindestlohn gedrückt werden. Wir erleben im
Moment, dass durch den fehlenden Mindestlohn Löhne
gegen null gedrückt werden. Es ist also geradezu zwin-
gend notwendig, dass wir hier eine Grenze ziehen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Herr Kollege Weiß, Herr Kollege Lehrieder und die
Kollegen der FDP, ich finde es interessant, dass bei Ih-
nen die Tarifautonomie immer hochlebt, wenn es um den
gesetzlichen Mindestlohn oder gesetzliche Neuregelun-
gen in diesem Bereich geht. Wir sehen doch an den ge-

nannten Beispielen, wie die Tarifautonomie durch den
gesetzlichen Rahmen beeinflusst wird. Man könnte jetzt
ausführen, wie der Druck auf die Arbeitsbedingungen
und die Tarifverträge in den letzten Jahren entstanden
ist, und zwar auch durch gesetzliche Veränderungen. Das
beste Argument haben Sie doch selber geliefert, als Sie
die Friseure nannten. Wie kommen die Friseure darauf,
zu sagen, dass es in anderthalb oder zwei Jahren einen
Mindestlohn von 8,50 Euro gibt? Genau das ist zufällig
die Forderung der SPD, der Grünen und zum Teil der
Linken.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hier sieht man doch, wie Debatten über gesetzliche Re-
gelungen auch Tarifverträge beeinflussen.

Ich wollte aber noch etwas anderes sagen, was in ei-
ner solchen Debatte immer untergeht. Wir alle wissen,
dass es noch anständige Arbeitgeber mit anständiger Be-
zahlung und guten Arbeitsbedingungen gibt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sogar die Mehrzahl!)


Die haben es aber immer schwerer, weil es immer mehr
Betriebe und Branchen gibt, die die Möglichkeiten der
prekären Beschäftigung und der Lohndrückerei nutzen,
zum Beispiel über befristete Verträge, Minijobs, Tarif-
flucht und Outsourcing. Deswegen habe ich vor einigen
Wochen gesagt: Amazon ist fast überall. Bei manchen ist
der Steuervermeidungstrieb stärker ausgeprägt als der
Sexualtrieb.


(Heiterkeit bei der SPD)


Bei manchen ist der Lohn- und Sozialdumpingtrieb stär-
ker ausgeprägt als der Trieb zum Überleben. Der Einzel-
handel ist ein Beispiel dafür. Insofern hat die Linke
recht, wenn sie dieses Thema anspricht.

Man muss auch noch einiges zum Einzelhandel sa-
gen, um die Situation zu beschreiben. Im Einzelhandel
haben wir das Problem: immer mehr Fläche, immer län-
gere Ladenöffnungszeiten, stagnierender privater Kon-
sum aufgrund stagnierender Kaufkraft wegen niedriger
Löhne, ein brutaler Preiskampf und immer weniger
Beschäftigte. Dies kann doch bezogen auf die Arbeits-
bedingungen nicht gut gehen. Was passiert also? Man
zimmert sich schnell einen Arbeitgeberverband, sucht
sich dann eine sogenannte christliche Gewerkschaft, ge-
nannt DHV – ich glaube, das heißt Deutscher Handlan-
gerverband –,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


und schon hat man Leiharbeitslöhne, die um 47 bzw.
44 Prozent unter dem Verdi-Tarif liegen. Gleichzeitig
bastelt man sich Dienst- und Werkverträge, um auch
noch den Mindestlohn in der Leiharbeit zu unterbieten.
Das alles geschieht unter der Überschrift „Tarifautono-
mie“. Oder man macht es wie Edeka und Rewe: Man
gründet immer mehr Filialen mit sogenannter Privatisie-
rung aus. Dann hat man neben dem Tarifvertrag auch
noch den Betriebsrat vom Hals. Was ist das für ein Erfin-





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)


dungsreichtum! Ich wünschte mir, das Gehirnschmalz
würde darauf verwendet, etwas für die Kunden zu tun
oder es den Frauen zu ermöglichen, Erwerbsarbeit und
Familie zu vereinbaren, statt sich solchen Humbug aus-
zudenken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen andere gesetzliche Regelungen, damit so
etwas nicht Schule macht. Wir brauchen Regelungen,
wie sie in den heute vorliegenden Vorschlägen zur Ar-
beitnehmerüberlassung, Arbeitnehmerentsendung und
Allgemeinverbindlichkeit zu finden sind.

Zur Allgemeinverbindlichkeit, zum Thema des An-
trags der SPD, muss man noch einmal deutlich machen:
Wir wollen keine Mindestlohnarbeitswelt, sondern wir
wollen allgemeinverbindliche Tarifverträge, die Leistun-
gen und Erfahrungen honorieren, die Qualifikation und
gute Arbeit honorieren und die Aufstieg ermöglichen.
Wir wollen ein Gitter schaffen. Dieses Gitter kann man
nicht schaffen, indem sich nicht tarifgebundene Unter-
nehmen an bestehende Tarifverträge anlehnen; denn
diese Unternehmen – wir alle wissen das – werden
sich nur die Rosinen herauspicken, also einen Tarifver-
trag à la carte machen. Das kann nicht sein. Wir brau-
chen eine Verbindlichkeit der Tarifverträge. Ein Tarif-
vertrag ist geltendes Recht und muss im Zweifelsfall
auch durchgesetzt werden können.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dann wird ein Schuh daraus; dann wird Missbrauch un-
terbunden, und dann wird es höhere Löhne und Einkom-
men geben. Das führt dann dazu, dass die Menschen,
Mann und Frau, wieder Geld haben, um im Einzelhandel
gute Preise für gute Ware zu bezahlen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723717900

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1723718000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der zweiten sozialpolitischen Debatte des heutigen
Tages reden wir wieder einmal über das Thema Mindest-
löhne.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden hier über etwas anderes! Wir reden über gesetzliche Rahmenbedingungen!)


– Nein, Frau Kollegin, wir haben Ihre Anträge sehr wohl
gelesen. Der Antrag der SPD beschäftigt sich aber eben
nicht nur mit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarif-

verträgen, sondern sieht auch wieder den einheitlichen
gesetzlichen Mindestlohn vor.


(Klaus Barthel [SPD]: Genau! Das ist auch gut so! Das muss man immer wieder sagen, damit Sie das kapieren!)


Ich will es Ihnen noch einmal erklären. Wir können lei-
der in ganz Europa sehen – Guntram Schneider hat heute
Morgen das beste Beispiel dafür gegeben –, dass ein
Einheitsmindestlohn, der am Ende im Deutschen Bun-
destag festgelegt wird, den Einstiegschancen schadet.
Das sehen wir in Frankreich und anderen Ländern.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er soll nicht wie in Frankreich, sondern wie in Großbritannien festgelegt werden! Das ist ein Unterschied!)


Ihr Sozialminister aus NRW hat sich heute Morgen hier
hingestellt und gesagt: Wir wollen eine unabhängige
Kommission; aber es müssen mindestens 8,50 Euro sein,
da fangen wir politisch an.


(Klaus Barthel [SPD]: Irgendwo muss man ja anfangen!)


Das macht doch deutlich, wo Sie hinwollen. Sie wollen
politische Lohnfindung und lassen sich hier im Deut-
schen Bundestag von Klaus Ernst treiben. Das ist aber
falsch.

Wir wollen Tarifautonomie und Lohnfindung durch
die Tarifpartner. Das ist der bessere Weg.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist richtig, dass wir diesen Weg weitergehen, dass wir
sagen: In den Branchen, in denen es Probleme gibt, kann
es Lohnuntergrenzen geben, wenn sich die Tarifpartner
darauf verständigen. Der Mindestlohn im Friseurhand-
werk ist dafür das beste Beispiel.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723718100

Kollege Vogel, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung des Kollegen Ernst?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1723718200

Gern sogar, aber eine Frage.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann er sich aussuchen! – Anton Schaaf [SPD]: Er kann uns auch ein Lied singen, wenn er will!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723718300

Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1723718400

Sofern ich dann in Addition meiner Redezeit kurz re-

agieren darf, gern.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723718500

Die Uhr ist längst angehalten.






(A) (C)



(D)(B)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723718600

Herr Vogel, glauben Sie wirklich, dass die, die hier

für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten, die staatli-
che Festsetzung aller Löhne befürworten?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Natürlich! Bei den Linken glauben wir das auf jeden Fall!)


Wenn Sie behaupten, wir wären für die staatliche Fest-
setzung der Löhne, dann würde ich Sie bitten, dafür ei-
nen Beleg vorzulegen. Es geht nicht um die Festsetzung
staatlicher Löhne. Ich glaube, dass wir mit unserer Posi-
tion die Tarifautonomie bei weitem mehr verteidigen als
Sie. Natürlich sind wir dafür, dass im Spiel der Kräfte, in
der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden – was allerdings starke Gewerk-
schaften voraussetzt, wenn dies Erfolg haben soll –,
Tariflöhne entstehen. Aber das ist doch etwas ganz ande-
res als die Sicherung durch eine Untergrenze. Man muss
doch nicht, wenn man für einen gesetzlichen Mindest-
lohn ist, für festgesetzte Löhne sein. Ich weiß nicht, wo-
her Sie diese Position haben. Ich kann nur für alle, die
ich kenne, die für einen gesetzlichen Mindestlohn sind,
sagen: Wir sind für die Tarifautonomie, aber auch für
Lohnuntergrenzen. Das ist etwas anderes.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Tarifliche Lohnuntergrenzen!)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1723718700

Lieber Kollege Ernst, erstens sehen wir zum Beispiel

in Frankreich, dass der Mindestlohn sehr wohl Einfluss
auf das Tarifgeflecht hat.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Das wollen wir auch!)


– Aber keinen positiven Einfluss, Herr Ernst.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ach so!)


Zweitens. Wir reden hier über Untergrenzen. Die
Frage ist: Wer legt die Untergrenzen fest? Sie wollen ja
den politischen Einheitsmindestlohn


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur ein Mal! Zu Beginn! Danach nicht wieder!)


und leiten auch schon den politischen Überbietungswett-
bewerb ein. Man kann schon erkennen, wie die Kollegen
von SPD und Grünen mit Ihren Forderungen auf das,
was Sie von der Linkspartei als Zahlen vorgeben, reagie-
ren. Die Frage der Lohnuntergrenze ist hochrelevant,
weil sie die Einstiegschancen von Menschen tangiert.
Deshalb sagen wir, wenn es um Lohnuntergrenzen geht:
politischer Einheitsmindestlohn, nein – tarifliche Lohn-
untergrenzen, Branche für Branche differenziert, ja. Die
Friseure sind doch das beste Beispiel dafür, dass reale
Probleme mit diesem Ansatz gelöst werden können.
Das ist der bessere Weg – Kollege Kolb hat das schon
gesagt –; deshalb werden wir ihn weiter verfolgen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Ihren Anträgen kommt als Konglomerat so viel zu-
sammen – leider auch viel Unsinn –, dass wir ihnen nicht
zustimmen können; sie bringen uns in dieser Frage nicht
weiter.

Ich will zum Abschluss meiner Rede – ich habe ja nur
drei Minuten – noch auf einen Punkt eingehen, den der
Kollege Barthel angesprochen hat. Herr Kollege Barthel,
Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass wir auf
den einzelnen Arbeitgeber schauen müssen. Das tun wir
ja auch. Wir reden viel darüber: Sind tarifliche Lohn-
untergrenzen nicht deshalb richtig, weil es natürlich ein-
zelne schwarze Schafe gibt? Wenn unanständig niedrige
Löhne gezahlt werden, dann ist das die richtige Antwort.
Deswegen hat diese Koalition die Festlegung mehrerer ta-
riflicher Lohnuntergrenzen möglich gemacht.

Sie haben so schön gesagt: Wir wollen den anständi-
gen Arbeitgeber, und wir müssen darauf achten, dass
Amazon nicht überall ist. – Das ist ein Anspruch, dem
wahrscheinlich alle hier zustimmen können. Die Frage
aber ist, lieber Kollege Barthel: Sollte man nicht persön-
lich mit bestem Beispiel vorangehen?

Ich fand es verblüffend oder zumindest bemerkens-
wert, was wir in den letzten Tagen lesen konnten, das
war ganz interessant. Uns alle erreichte wahrscheinlich
– so hoffe ich – aus dem hohen Norden die Nachricht,
dass Verdi für die Beschäftigten der SPD in Schleswig-
Holstein Arbeitskampfmaßnahmen angekündigt hat.


(Zurufe von der FDP: Hört! Hört!)


Lassen Sie mich zum Abschluss einige bemerkens-
werte Sätze des Verhandlungsführers von Verdi zitieren.


(Sören Bartol [SPD]: Das ist doch okay! Wir haben es wenigstens!)


„Wer alles gibt, hat mehr verdient!“:


(Klaus Barthel [SPD]: Der Herr Schmid hat seine Frau besser bezahlt! Das stimmt!)


Mit diesem Slogan wirbt die SPD in Schleswig-Holstein
für gute Arbeit und gerechte Löhne. Der Verdi-Verhand-
lungsführer stellt fest:

Im eigenen Hause jedoch herrschen andere Gesetz-
mäßigkeiten.

Das will man sich nicht mehr gefallen lassen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! Das ist ja interessant!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir
alle wollen anständige Arbeitgeber und keine schwarzen
Schafe. Aber wenn man dafür glaubwürdig politisch ein-
treten will, sollte man selber mit gutem Beispiel voran-
gehen, auch die SPD in Schleswig-Holstein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Stimmt, der Herr Schmid hat seine Frau aus Steuergeldern wesentlich besser bezahlt!)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723718800

Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1723718900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Es ist eine durchaus lohnenswerte und auch not-
wendige Debatte, die wir mit Blick auf die Bundestags-
wahl miteinander führen. Es geht um grundsätzliche Fra-
gen, die sich uns Wirtschafts- und Sozialpolitikern in
diesem Land stellen.

Um den Versuch zu unternehmen, neben den vielen
Argumenten, die bereits genannt worden sind, die De-
batte, die wir miteinander betreiben wollen, ein wenig
fortzusetzen: Herr Kollege Schaaf, Sie haben natürlich
völlig recht, wenn Sie sagen, dass es unsere Aufgabe als
Gesetzgeber ist, für die eine oder andere gesetzliche
Schutzfunktion zu sorgen. Das machen wir mit dem
Bundesurlaubsgesetz. Das stellt auch niemand in Frage.
Sie wissen aber genauso gut wie ich und wie wir alle,
dass es einen maßgeblichen Unterschied zwischen den
Urlaubsregelungen und den Entgeltregelungen gibt, die
alljährlich oder auch in einem längeren Zeitraum neu zu
treffen sind. Da gibt es eine ganz andere Dynamik.

Die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes stehen
fest. Es wird sicherlich das eine oder andere Mal eine
Anpassung vorgenommen; der eine oder andere Tarif-
vertrag wird auf den neuesten Stand gebracht, es gibt die
eine oder andere Besserstellung; denn wir müssen ja
auch auf den demografischen Wandel und die längere
Lebensarbeitszeit Rücksicht nehmen.

Bei den Entgeltbedingungen gibt es ständig den Be-
darf, anzupassen: an die Produktivität, an die Inflation
oder an die spezifische Situation einer Branche oder
– wenn es ein Haustarifvertrag ist – innerhalb eines Un-
ternehmens. Das heißt, hier muss – vielleicht nicht all-
jährlich, aber jedenfalls periodisch – in kurzen zeitlichen
Abständen immer wieder überprüft werden: Wie groß ist
der Kuchen, der zu verteilen ist? In welchem Umfang
verteilen wir ihn auf welche Beschäftigtengruppen? Das
findet in Deutschland in einer produktiven und auf eine
ganz tolle Art und Weise funktionierenden sozialpoliti-
schen Auseinandersetzung statt, für die uns viele bewun-
dern.


(Anton Schaaf [SPD]: Das stellt auch niemand in Frage!)


– Doch, das stellen Sie in Frage, wenn Sie den Gewerk-
schaften und den Arbeitgeberverbänden entscheidende
Möglichkeiten der Gestaltung nehmen wollen, indem
Sie per Gesetz regeln.


(Anton Schaaf [SPD]: Die Möglichkeit wollen wir ihnen nicht nehmen! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Anpassung sollen die Tarifpartner machen! Genau das, was Sie sagen!)


Ich will Ihnen etwas sagen: Schon der Begriff „Tarif-
autonomie“ beinhaltet Selbstbestimmung. Wenn Sie die
einschränken wollen, dann sagen Sie das auch offen.
Dann reden Sie aber in der nächsten Woche am 1. Mai
nicht mehr von Tarifautonomie, sondern dann sagen Sie
– die Linken schreibt das in ihren Antrag –: Wir wollen
ein gesetzliches System schaffen.


(Klaus Barthel [SPD]: Das heißt, in den meisten europäischen Ländern gibt es keine Tarifautonomie? Weil sie einen Mindestlohn haben?)


Wir stehen ohne Wenn und Aber dahinter, dass Ge-
werkschaften und Arbeitgeberverbände diese Dinge al-
leine regeln können.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unser Vorschlag!)


Damit ist Deutschland gut gefahren, damit sind Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer gut gefahren, und dabei
sollte es bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723719000

Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung der Kollegin Müller-Gemmeke?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1723719100

Ja.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mich die ganze Zeit zurückgehalten, aber
jetzt muss ich doch noch zwei Fragen stellen. Erstens
– aber das nur am Rande –: Sie haben schon zur Kennt-
nis genommen, dass wir, die Opposition, eine Kommis-
sion aus Vertretern von Arbeitgeberverbänden, der Ar-
beitnehmerseite und der Wissenschaft wollen, die einen
gesetzlichen Mindestlohn festsetzen und dann auch die
Anpassungen nach oben vornehmen soll?

Meine zweite Frage geht in eine andere Richtung: Sie
reden die ganze Zeit davon, dass wir Löhne und Lohn-
grenzen festsetzen wollen. Uns liegen jetzt aber Anträge
vor, bei denen es um etwas anderes geht. Wir haben
Gesetze wie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder das
Tarifvertragsgesetz, die klare Rahmenbedingungen dazu
enthalten, wie entweder Mindestlöhne oder Tarifverträge
allgemeinverbindlich erklärt werden können, sodass alle
unter diesen guten Bedingungen arbeiten können.

Die entsprechenden Rahmenbedingungen verändern
sich. Es gibt Tarifflucht, und wir haben eine niedrigere
Tarifbindung. Es geht jetzt darum, die genannten Ge-
setze und damit die Rahmenbedingungen an die Realität
anzupassen, sodass die Tarifparteien überhaupt wieder
Mindestlöhne und Tarifverträge für allgemeinverbind-
lich erklären lassen können.

Es geht um eine Stärkung der Tarifpartner. Wir wollen
gar nichts festlegen, sondern wir wollen die Tarifpartner





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


stärken, und zwar mit dem Ziel, dass nicht die Arbeitge-
ber Erfolg haben, die Tarifflucht begehen, sondern die
tariftreuen Betriebe und die Gewerkschaften, die Arbeit-
geber, die sich wirklich noch um einheitlich gute Ar-
beitsbedingungen kümmern.

Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1723719200

Herzlichen Dank für die Anregung. Ich will gerne

noch einmal etwas dazu sagen. Indem Sie beginnen, ei-
nen gesetzlichen Mindestlohn festzulegen – und das
wollen Sie ja offenbar,


(Klaus Barthel [SPD]: Genau! Das hat er endlich kapiert!)


das soll wohl nicht infrage gestellt werden, auch wenn
die Grünen vor ihrem Bundesparteitag hier noch so man-
che Springprozession aufführen; wir warten einmal ab,
was sie letzten Endes beschließen –, bekommen Sie au-
tomatisch folgenden Effekt, den auch der Kollege Vogel
schon angesprochen hat: In dem Moment, in dem Sie ein
Minimalniveau festlegen, wird das Auswirkungen auf
das gesamte Tarifgefüge darüber haben. Außerdem wird
es, wenn wir uns auf eine solche Geschichte erst einmal
einlassen, selbstverständlich eine politische Debatte in
Form eines Überbietungswettbewerbes geben.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kommission!)


Den erleben wir bei Ihnen jetzt schon. Die Grünen
waren vor wenigen Wochen noch bei 7,50 Euro. Mittler-
weile haben sie erkannt, dass die Sozialdemokraten bei
8,50 Euro sind, sie also aufholen müssen. Sie erhöhen
ihre Forderung jetzt auch auf 8,50 Euro. Wenn Sie die
Sache konsequent durchdenken, müssten Sie irgend-
wann die Argumentation der Linkspartei übernehmen,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist jetzt tatsächlich richtig, was der Kollege sagt!)


die sagt: Frühestens ab einem Lohn von 10,00 Euro pro
Stunde ist man nicht mehr auf staatliche Ergänzungsleis-
tungen angewiesen.

Wenn Sie ganz konsequent sind, werden Sie wahr-
scheinlich früher oder später diese Position übernehmen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist unser Job!)


– Ich will das schon vor den Wahlen verdeutlichen, bei
denen alle wissen sollen, worum es geht.

Sie werden sich sehr schnell diesem Überbietungs-
wettbewerb anschließen. Der Kollege Barthel hat das
selber sehr deutlich gemacht, indem er in seiner Rede
auf unternehmerische Gestaltungen bei Edeka und an-
derswo eingegangen ist und gesagt hat, er könne beurtei-
len, ob das Humbug ist oder nicht.


(Klaus Barthel [SPD]: 6,50 Euro! Bravo!)


Das ist nicht unsere Aufgabe, Herr Kollege Barthel
und Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Unsere Aufgabe
ist es, soziale Rahmenbedingungen zu schaffen, die Ar-
mut verhindern.


(Zurufe von der SPD: Genau!)


In Deutschland haben wir soziale Rahmenbedingungen,
nach denen sich viele Menschen auf der ganzen Erde alle
zehn Finger lecken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die zweite Frage haben Sie nicht beantwortet!)


Dabei bleibt es auch; die stellen wir nicht infrage.

Außerdem wollen Sie einige Regelungen aufgrund
der von Ihnen behaupteten Tarifflucht und der aus Ihrer
Sicht nicht mehr so starken Wirkung des Tarifvertrags-
systems ausweiten. Anknüpfend an das, was Peter Weiß
schon gesagt hat, will ich Ihnen dazu zwei Dinge sagen:
Erstens ist es überhaupt nicht nachgewiesen, dass die
faktische Wirkung von Tarifverträgen in Deutschland
nachgelassen hat. Das völlig unabhängige IAB, auf das
Sie sich immer beziehen, hat festgestellt, dass für
80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse nach wie vor die
entsprechenden Tarifverträge maßgeblich sind. Dazu
sage ich Ihnen: Das ist gut so. Das sollte man nicht in-
frage stellen. Hören Sie auf, das Tarifvertragssystem in
Deutschland schlechtzureden!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Natürlich gibt es immer mal wieder
schwarze Schafe. Natürlich gibt es Formen von Tarif-
flucht und rechtsmissbräuchliche Gründungen von Ar-
beitgeberverbänden – das haben wir alles erlebt –; aber
wir haben auch eine Reaktion darauf erlebt – das Rechts-
system hat reagiert –: Das Bundesarbeitsgericht hat sol-
che Vereinigungen zum Teil für rechtsunwirksam er-
klärt.


(Klaus Barthel [SPD]: Ja, aber das hat den Betroffenen nicht mehr geholfen!)


Das hatte zur Folge, dass entsprechende Nachzahlungen
an die Sozialkassen usw. vorzunehmen waren.


(Klaus Barthel [SPD]: Wie viele Fälle gibt es denn?)


Das heißt, Sie werden nie ausschließen können, dass der
eine oder der andere eine Regelung missbraucht; aber
wir haben funktionierende Mechanismen, bis hin zum
Bundesarbeitsgericht. Das ist kein Grund, das System
insgesamt zu diskreditieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Damit sind wir bei den Kernfragen: Was wollen wir
im Bereich des Niedriglohnsektors machen, und was ist
der tatsächliche Grund dafür, dass sich der eine oder die
andere dort befindet? Denn das ist in der Tat nicht unbe-
dingt wünschenswert. Wir müssen feststellen: Es verlas-





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


sen mehr Menschen den Niedriglohnsektor, als Sie im-
mer behaupten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


Das IAB hat festgestellt, dass etwa ein Viertel nach ei-
nem Jahr den Niedriglohnsektor, den Sektor des SGB-II-
Bezugs verlässt.


(Klaus Barthel [SPD]: Drei Viertel sind noch drin!)


Das heißt, Wirtschaftswachstum und Stabilität des Ar-
beitsmarktes wirken sich auch auf Menschen in diesem
Sektor aus, und das ist gut so. Das wollen wir so fortset-
zen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Müller-Gemmeke, weil Sie das abschließend
noch einmal angesprochen haben, möchte ich Ihnen vor-
halten, was Ihr Parteikollege, Herr Boris Palmer, kürz-
lich gesagt hat – das sollten Sie sich bei der Formulie-
rung weiterer Anträge vielleicht noch einmal vor Augen
führen; ich zitiere wörtlich –:

In der Summe machen wir damit die Flexibilisie-
rung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig, auf
die wir früher zu Recht stolz gewesen sind.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)


Hört! Hört!


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat nichts mit dem Antrag zu tun, der heute vorliegt!)


Er sagte abschließend – dem kann ich mich auch nur an-
schließen –:

Ein Minijob oder eine Beschäftigung als Leiharbei-
ter bedeuten mehr Teilhabe an der Gesellschaft als
gar kein Job.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Mit unseren Worten: Sozial ist, was Arbeit schafft. Wir
haben für viel Arbeit in Deutschland gesorgt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723719300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/13104 und 17/13106 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 7 c. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/10220.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8459 mit dem Titel

„Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen – Sicherung
der Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträ-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8148 mit dem Titel „Tarifsystem stabilisieren“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/4437 mit dem Titel „Tarifvertragssystem stärken –
Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifi-
sche Mindestlöhne erleichtern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Innenentwicklung in den
Städten und Gemeinden und weiteren Fortent-
wicklung des Städtebaurechts

– Drucksache 17/11468 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/13272 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Götz
Hans-Joachim Hacker

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela
Wagner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Baugesetzbuch wirklich novellieren

– Drucksachen 17/10846, 17/13272 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Götz
Hans-Joachim Hacker

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


und der FDP sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Götz für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1723719400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die heu-
tige Beratung freue ich mich ganz besonders. Die ge-
plante Fortentwicklung des Bau- und Planungsrechts hat
einen längeren Entwicklungsprozess hinter sich. Als
Grundlage für die Beratungen wurden mit sieben Ge-
meinden Planspiele durchgeführt. Dies ist eine Praxis,
die sich in der Vergangenheit, die sich seit Jahrzehnten
beim Städtebaurecht bewährt hat. In den letzten Wochen
und Monaten gab es Zeitpunkte und Wegstrecken, bei
denen Zweifel am möglichen Abschluss dieses Projekts
aufkamen. Nun soll es aber gelingen. Es wäre ein toller
Erfolg für viele, die daran intensiv gearbeitet haben.

Ein gemeinsamer Änderungsantrag der Bundestags-
fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zu einem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung ist nicht alltäglich und
deshalb besonders erwähnenswert.

Beim Baugesetzbuch ist mir persönlich und vielen
meiner Kollegen daran gelegen, notwendige Änderun-
gen auf eine breite politische Basis zu stellen. Denn
diese Rechtsmaterie, über die wir heute abschließend be-
raten, ist die wesentliche Grundlage für die kommunale
Planungshoheit in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


In den Rathäusern arbeiten viele Tausend Menschen
mit dem Baugesetzbuch. Es ist eines der wichtigsten Ge-
setze, das fast alle ehrenamtlichen Gemeinde- oder
Stadträte studieren, wenn sie in ihren kommunalen Gre-
mien über Bauvorhaben befinden. Für Investoren ist es
ebenfalls von großer Bedeutung.

Die beste Grundlage für eine gute Zukunft von Städ-
ten und Gemeinden ist eine nachhaltige Stadtentwick-
lung. Wir wollen dafür noch bessere Voraussetzungen
schaffen und der Innenentwicklung künftig verstärkt den
Vorrang vor der Zersiedelung des Umlandes geben. In-
nenstädte und Ortszentren sollen wieder Kernbereich der
Stadtentwicklung werden. Sie bieten den Menschen Hei-
mat. Urbanität, Attraktivität und Kultur stärken die Iden-
tifikation. Um die Flächeninanspruchnahme im Außen-
bereich zu reduzieren und eine Zersiedelung des
Umlands zu vermeiden, soll die Bebauung von Wiesen,
Äckern oder Waldflächen künftig stichhaltig begründet
werden.

Mit diesem Gesetz sollen neben der Stärkung der
Innenentwicklung kommunale Selbstverwaltung in
Deutschland und kommunale Planungshoheit weiter ge-

festigt und ausgebaut werden. Ich denke, dies ist in viel-
fältiger Form gut gelungen. So können Kommunen wie-
der rechtssicher Erschließungsverträge mit eigenen
Unternehmen abschließen. Ein Investitionsstau in Mil-
lionenhöhe wird damit aufgelöst.

Kindertagesstätten sind künftig in angemessener
Größe in reinen Wohngebieten generell zulässig. Die
Anzahl von Spielhallen und Vergnügungsstätten kann
auch im nicht beplanten Innenbereich besser als bisher
gesteuert werden. Ferner wird – ich nenne zusätzlich nur
eines von vielen Beispielen – die Ausübung des gesetzli-
chen Vorkaufsrechts der Gemeinde gegenüber Dritten
vereinfacht. Dies beschleunigt auch Investitionen in den
Städten und Gemeinden.

Für den schwierigen Komplex der Schrottimmobilien
haben wir für die Kommunen eine bessere verfassungs-
konforme Regelung gefunden. Verwahrloste Gebäude
können jetzt leichter rückgebaut werden. Dabei bekom-
men die Kommunen auch die Möglichkeit, Eigentümer
in begrenztem und vertretbarem Umfang finanziell am
Abriss zu beteiligen. Für viele Städte mit problemati-
schen Gebieten kann diese Neuregelung das hilfreiche
Instrument sein, mit dem eine nachhaltige Aufwertung
ganzer Straßenzüge und Quartiere stattfinden kann. Das
ist auch für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft
von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Für die Aktivitäten einer klimagerechten Stadterneue-
rung werden ebenfalls unterstützende Änderungen vor-
genommen. In einem Entschließungsantrag haben wir
die Anregungen aus dem Lebensmitteleinzelhandel auf-
gegriffen, die Fragen einer qualifizierten Nahversorgung
im Zusammenhang mit der ohnehin anstehenden Diskus-
sion über eine grundsätzliche Neuordnung der Ge-
bietstypologie der Baunutzungsverordnung zu untersu-
chen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen sehr breiten
Raum in der öffentlichen und auch internen Diskussion
nahm die bestehende Privilegierung der Intensivtierhal-
tung im Außenbereich ein. Die vorgenommenen Ände-
rungen im Planungsrecht, bei der gewerblichen Tierhal-
tung, werden zu einer Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung und zu mehr Rechtssicherheit führen.
Ab einer bestimmten Größenordnung entscheidet künf-
tig der Gemeinderat einer Kommune darüber, ob und wo
die Ansiedlung einer großen Tierhaltungsanlage möglich
ist. Uns war es wichtig, bei diesem sensiblen Thema eine
einvernehmliche Lösung zu entwickeln, die unserer hei-
mischen Landwirtschaft den notwendigen Raum für eine
Weiterentwicklung lässt. Wir haben es geschafft, über
Fraktionsgrenzen hinweg in vielen Einzelfragen gute
Kompromisse zu finden. Dieser wichtige Gesetzentwurf
ertrinkt somit nicht im parteipolitischen Kleinkrieg.

Mein Dank geht – bei allen politischen Unterschieden –
an den Kollegen Hans-Joachim Hacker für das in einer
wahrlich nicht einfachen Gemengelage kollegiale und
konstruktive Miteinander.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)






Peter Götz


(A) (C)



(D)(B)


In diesen Dank schließe ich selbstverständlich die vielen
Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ein, die sich
aus unterschiedlichen Bereichen im Rahmen dieses Ge-
setzgebungsverfahrens engagiert und eingebracht haben.
Ich bedanke mich aber auch bei den Kolleginnen der an-
deren Fraktionen: bei Petra Müller, bei Bettina Herlitzius
und bei Heidrun Bluhm. Sie haben maßgeblich dazu bei-
getragen, dass wir heute mit einem überzeugenden Vo-
tum des federführenden Ausschusses die Annahme des
Gesetzentwurfes mit den vereinbarten Veränderungen
empfehlen. Ein besonderes Dankeschön sage ich ab-
schließend Minister Peter Ramsauer und dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Enak Ferlemann für die kon-
struktive Begleitung dieses parlamentarischen
Verfahrens.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte Sie, diesen Dank an die Mitarbeiter Ihres Minis-
teriums weiterzuleiten. Ich weiß sehr wohl: Wir haben es
Ihnen in den letzten Monaten nicht immer leicht ge-
macht.


(Heiterkeit des Abg. Sören Bartol [SPD] – Sören Bartol [SPD]: Stimmt! – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch die Aufgabe des Parlaments!)


Meine Damen und Herren, ein wichtiges innenpoliti-
sches Gesetzgebungsverfahren findet heute einen guten
und erfolgreichen Abschluss. Ich empfehle deshalb un-
eingeschränkte Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heidrun Bluhm [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723719500

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hans-

Joachim Hacker das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723719600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Damen und Herren auf der
Zuschauertribüne! Liebe Kommunalpolitiker in
Deutschland! Das ist heute ein guter Tag. Die heutige
zweite und dritte Lesung der Baurechtsnovelle könnte
die Überschrift tragen: „Ende gut, alles gut“. Die lange
Geschichte der Novelle des Bauplanungsrechts, die uns
die ganze 17. Legislaturperiode begleitet hat, geht heute
dem Ende entgegen.

Herr Götz, ich stimme Ihnen völlig zu: Wir haben
eine gute Tradition fortgesetzt, nämlich die, dass anzu-
streben ist, Änderungen im Bauplanungsrecht fraktions-
übergreifend zu beschließen, wie es in der Vergangenheit
immer dann der Fall war, wenn es vernünftige Kompro-

misse gab. Nur dann ist das möglich. Ich denke, wir ha-
ben in vielen Punkten gute Kompromisse gefunden. Auf
einzelne Beispiele komme ich noch zu sprechen.

Hinter uns liegen 16 Monate eines zähen, harten Rin-
gens. Daher möchte ich als Vertreter der Opposition
noch ein paar kritische Anmerkungen machen – das ist
in diesem Prozess wohl auch berechtigt –, die aber viel-
leicht eher als ein Appell an die Bundesregierung zu ver-
stehen sind. Man hätte die SPD und die Opposition ins-
gesamt bei diesen Themen eher einbinden können.

Einen Streit hätten wir uns ersparen können, Herr
Müller: In der Frage, wie weit wir an § 35 Abs. 1 Nr. 4
BauGB herangehen, gab es im Hause Aigner eine Blo-
ckadehaltung und unnötige Verzögerungen. Man hatte
den Eindruck, dass da andere Interessen als die Interes-
sen der Allgemeinheit im Blick waren. Wie sonst kam
es, dass ein Referentenentwurf, der schon in der Öffent-
lichkeit war – er lag bei uns in den Fraktionen und bei
den Verbänden auf dem Tisch –, innerhalb weniger Stun-
den wieder einkassiert worden ist? Sie schmunzeln, Herr
Müller: Sie wissen, wer da im Hintergrund gewirkt hat.
Das wissen wir alle. Zum Glück kommen wir heute auf
einem guten Weg weiter.

Ich will unterstreichen, was Kollege Götz gesagt hat:
Die sachliche Grundlage für den Gesetzentwurf – des-
wegen ist ein Großteil des Gesetzentwurfs unstreitig ge-
wesen – ist in den sogenannten Berliner Gesprächen zum
Städtebaurecht und in der Beteiligung der kommunalen
Spitzenverbände zu sehen. Das war eine gute Grundlage,
das war der richtige Weg – ein Weg, der sich in den letz-
ten Jahren bewährt hat. Bei der nächsten Novelle – die
sicherlich irgendwann kommen wird – sollte man diese
Praxis wieder betreiben.

Ich will aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion die
Punkte ansprechen, die uns in den Beratungen ganz
wichtig waren: Die Regelung zur Intensivtierhaltung war
in dem Entwurf aus unserer Sicht nicht ausreichend.
Auch bei der Regelung zu den Schrottimmobilien be-
stand dringender Handlungsbedarf; über diese Thematik
waren wir mit den kommunalen Spitzenverbänden und
mit den Ländern intensiv im Gespräch. Auch im Hin-
blick auf Kinderbetreuungseinrichtungen waren Rege-
lungen erforderlich.

Zu Beginn dieser Legislaturperiode, Anfang 2010,
habe ich einen Antrag in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht. Der Titel lautete: „Kinderlärm – Kein Grund
zur Klage“. Die Koalitionsfraktionen haben diesen An-
trag damals erwartungsgemäß abgelehnt. Nachdem wir
eine immissionsschutzrechtliche Regelung schon vor
zwei Jahren getroffen haben, werden wir hierzu heute
auch eine baurechtliche Regelung treffen. Das hätten wir
schon ein bisschen früher machen können.


(Gustav Herzog [SPD]: Die Schwarz-Gelben brauchen immer etwas länger!)


Aber so ist das Spiel hier im Parlament: Das ist ein
Denkprozess. Auch in diesem Punkt sind wir nun auf ei-
nem guten Weg.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


Es gibt noch ein paar kleine Kritikpunkte, auf die ich
aber heute im Sinne der Sache nicht weiter eingehen
möchte.

Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und
Herren, noch einige Punkte ganz konkret anzusprechen.
Das, was wir heute beraten und wo ich empfehle, dass
dem Änderungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDP
alle zustimmen – der Appell richtet sich vor allen Din-
gen an Bündnis 90/Die Grünen und an die Linke –, ist
das Ergebnis intensiver Verhandlungen.

Ganz herzlichen Dank, Peter Götz, für Ihr konstrukti-
ves Mitwirken! Die Zusammenarbeit mit den anderen
Kolleginnen und Kollegen war auch sehr vertrauensvoll.
Ganz herzlichen Dank!


(Heiterkeit bei der SPD)


Herr Ramsauer, Sie haben die SPD in dieser Legisla-
turperiode oft enttäuscht; aber hier haben Sie Stehver-
mögen bewiesen gegen Frau Aigner. Das war gut so.
Nehmen Sie das Lob ruhig an! Sie sehen, der Staatsse-
kretär beglückwünscht Sie auch. Sie haben sich gegen
Frau Aigner und gegen die Agrarlobby durchgesetzt; das
war richtig so. Ihren Mitarbeitern – Ihren Mitarbeiterin-
nen natürlich auch –, die uns begleitet haben, gilt ebenso
ein herzliches Dankeschön. Das war ein kollegiales Ver-
fahren, Herr Ferlemann. Wenn uns das in anderen Ver-
fahren auch so begleiten würde, wäre das ein gutes Aus-
hängeschild für den Parlamentarismus in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Die Problematik des § 35 Abs. 1 Nr. 4 – Anlagen zur
gewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich –
war tatsächlich der Knackpunkt; das weiß jeder, der di-
rekt oder indirekt damit zu tun hatte. Der Entwurf war
aus unserer Sicht, wie gesagt, eingangs nicht ausrei-
chend. Aber der Widerstand von Frau Aigner – wo man
nicht wusste, ob sie sich auf die Seite des Verbraucher-
schutzes oder auf die Seite der Lobbyverbände schlägt –
ist überwunden worden. Im Außenbereich begrenzen
nun bereits die unteren Schwellwerte des UVP-Gesetzes
den weiteren Zubau von Großställen; sie sind Grundlage
für die Entprivilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 4, für die
Durchführung einer UVP-Prüfung – da kann man auch
Beispiele nennen –: Bei Mastgeflügel ist jetzt statt bei
85 000 Stellplätzen bei 30 000 Schluss, bei Puten – um
noch einmal ins Geflügelleben einzusteigen – statt bei
60 000 jetzt bei 15 000. So war das auch ursprünglich
vorgesehen. Wohlgemerkt, meine sehr verehrten Damen
und Herren: Bis heute, nach bisherigem Recht, gab es
überhaupt keine Begrenzung.

Wir haben auch für die Kumulierung eine Regelung
gefunden, indem wir eine Anpassung an das Umweltver-
träglichkeitsgesetz vorgenommen haben. Wir haben da-
mit eine rundum abgestimmte Regelung gefunden, und
es bestehen auch keine Brüche in der Bundesgesetz-
gebung.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Alles gut!)

Es ist richtig, Peter Götz: Die Entscheidungsbefugnis

bezüglich der entsprechenden Anlagen wird jetzt dorthin

delegiert, wo sie hingehört, nämlich vor Ort. Die Kom-
munalpolitiker bekommen jetzt die Entscheidungsbefug-
nis, die ihnen zusteht. Auch deswegen ist das eine gute
Lösung.

Eine gute Lösung haben wir auch bei den sogenann-
ten Schrottimmobilien gefunden. Im Regierungsentwurf
war lediglich eine Ausdehnung auf die Gebiete ohne Be-
bauungsplan und keine Kostentragungsregelung vorge-
sehen. Es gab hier in der Expertenanhörung – es war gut,
dass wir eine solche durchgeführt haben – unterschiedli-
che verfassungsrechtliche Bewertungen dazu, wie wir
die Kostenproblematik in den Griff bekommen können.
Am Ende wird jeder einen noch besseren Vorschlag ha-
ben. Ich glaube aber, wir haben eine verfassungssichere
Lösung gefunden, einen guten Kompromiss: Die Kom-
munen können die Eigentümer bis zur Höhe der durch
die Beseitigung der Immobilie erfolgten Wertsteigerung
heranziehen. Das muss ein Grundstückseigentümer ge-
gen sich gelten lassen, der eine Immobilie verfallen lässt.
Das ist ein guter, verfassungsrechtlich sicherer Kompro-
miss.

Die städtebaulichen Verträge über Erschließungsmaß-
nahmen waren ein ganz wichtiger Punkt für die Fraktio-
nen – ich nenne hier einmal meine eigene, die SPD –,
die ein starkes Herz für Kommunen haben. Viele SPD-
Politiker sind in den Kommunen ehrenamtlich oder in
Funktionen tätig.


(Gustav Herzog [SPD]: So ist es!)

Gerade eine Regelung zu diesem Punkt ist von den
Kommunen und den kommunalen Spitzenverbänden
dringend erwartet worden. Wir alle standen hier unter ei-
nem moralischen Druck, eine Lösung zu finden. Eine
entsprechende Klarstellung ist uns gelungen. Die kom-
munalen Spitzenverbände, die Kommunen selber und
die Politiker haben dringend darauf gewartet. Jetzt kön-
nen auch Kommunen städtebauliche Verträge über Er-
schließungsleistungen mit juristischen Personen ab-
schließen. Das ist eine wichtige Klarstellung, die in der
Vergangenheit durch die Rechtsprechung ein Stück weit
ausgehöhlt worden ist und unsicher war.


(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])

Auch das ist ein gutes Ergebnis.

Ich hatte gesagt, die Summe der erreichten Kompro-
misse lässt es zu, dass heute alle Fraktionen ihre Zustim-
mung geben. Ein gutes Verhandlungsergebnis liegt auf
dem Tisch. Deswegen richte ich meinen Appell noch
einmal insbesondere an Sie, Frau Herlitzius. Sie haben
auch Vorschläge gemacht und Forderungen gestellt, die
im Änderungsantrag ihren Widerhall finden. Ich denke
hier insbesondere an das Problem der gewerblichen In-
tensivtierhaltung im Außenbereich auf Grundlage von
§ 35 Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch. Wenn Sie, wie auch
die Linken, dem Änderungsantrag zustimmen und damit
wichtige Punkte einer Regelung zuführen, dann können
Sie in der Konsequenz dem Gesetzentwurf doch nicht
die Zustimmung versagen.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es fehlen aber ein paar Sachen!)


Gleichwohl wird es keine Gegenstimmen zum Gesetz-
entwurf geben.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


Auch das Medientheater, das von einigen Kollegen in
den letzten Tagen über Agrarzeitungen schon veranstal-
tet worden ist – vor allen Dingen von Kollegen, die am
Diskussionsprozess gar nicht beteiligt waren –, muss uns
nicht irritieren. Es gehört eben auch zum politischen Ge-
schäft, Peter, dass man sich mit Lorbeeren schmückt, die
man selber nicht einmal gepflückt hat.


(Heiterkeit bei der SPD)


Es handelt sich insgesamt um eine gute Regelung.
Der Kompromiss kann sowohl in den Kommunen als
auch bei den Vertretern des Verbraucher- und Tierschut-
zes, aber auch – das sage ich nicht zuletzt, sondern da
gehört es zuallererst hin – vor den Bürgerinnen und Bür-
gern unseres Landes gut vertreten werden.

Ich finde, dass die parlamentarischen Beratungen und
die Ergebnisse, die wir hier heute vorgelegt haben, gute
Beispiele für die parlamentarische Arbeit im Deutschen
Bundestag sind: gegen engstirniges Denken, wo immer
es aufgetreten ist, auch gegen die Interessen von Lobby-
isten, die sich einmischen und versuchen, Parlamentarier
zu vereinnahmen. Wenn dies die parlamentarische Ar-
beit in diesem Hause stärker prägen würde, ohne damit
politische Unterschiede zu verkleistern, dann würden
wir für unsere Arbeit noch ein Stück mehr Akzeptanz in
der Gesellschaft finden.

An die Bundesregierung richtet sich der Appell, Herr
Ramsauer, die Opposition ernst zu nehmen, uns immer
frühzeitig einzubinden und uns auf Fragen, die wir ha-
ben, ordentliche Antworten zu geben.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Tut er auch!)


Diese Antworten sind manchmal kritikwürdig; das
könnte ich Ihnen seitenweise belegen.

Hier geht es um das Bauplanungsrecht. Wir haben
gute Gründe, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Für
meine Fraktion sage ich: Wir sind ein Stück weit stolz
auf das Erreichte, weil wir für bestimmte gesellschaftli-
che Gruppen und für Kommunen ein gutes Ergebnis er-
zielt haben. Noch einmal ganz herzlichen Dank all jenen,
die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben. Dir, Peter
Götz, ganz herzlichen Dank für deine Mitwirkung. Du
hast es in deiner eigenen Fraktion und mit der Landes-
gruppe der CSU nicht einfach gehabt.


(Gustav Herzog [SPD]: Lag aber nicht an uns!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723719700

Herr Kollege.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723719800

Dafür meine Anerkennung und alles Gute!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723719900

Petra Müller hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1723720000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit der heutigen Verabschiedung der zweiten Novelle
des Baugesetzbuchs gehen wir einen großen und bedeu-
tenden Schritt hin zu einem modernen, nachhaltigen und
zukunftsorientierten Stadtbaurecht. Ich glaube, das ist
die wichtige Botschaft des Tages. Ich will mit dieser
Rede aber nicht gleich schon enden, nachdem die Kolle-
gen uns das bereits so ausführlich erklärt haben.

Was ganz wichtig war – das möchte ich auch noch
einmal betonen –: Wir sind diesen Schritt gemeinsam
gegangen. Wir haben Kompromisse geschlossen und Lö-
sungen gefunden, und das nicht nur in diesem Hohen
Hause, in den Ausschüssen, sondern auch in Gesprächen
mit den Fachverbänden – auch das sei noch einmal er-
wähnt –, mit der Wohnungswirtschaft, mit den Kommu-
nalverbänden, mit den Ländern. Wir haben Planspiele in
den Kommunen durchgeführt. Wir haben uns fraktions-
übergreifend verständigt.

Der Dank der FDP-Bundestagsfraktion geht daher
erst einmal an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen hier
in diesem Hohen Hause, an den Minister Dr. Peter
Ramsauer, an die Staatssekretäre, an die Vertreter der
Länder, an die Verbandsvertreter und an die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter im BMVBS. Sie mussten für uns
teilweise über das Wochenende neue Entwürfe erstellen.
Nichtsdestotrotz: Wir haben 16 Monate gebraucht. Vie-
len Dank Ihnen allen!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich denke, wir alle können mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf sehr zufrieden sein. Er stärkt die kommunale
Selbstverwaltung für die Städte und Gemeinden. Er
schafft Rechtssicherheit in vielen Fragen – ich glaube,
das ist ein ganz wichtiger Punkt – und, das freut die FDP
besonders, gibt ein wichtiges Signal an Investoren.

In der Kürze der Zeit möchte ich einige Punkte he-
rausgreifen, die uns besonders wichtig sind, aber zuvor
nicht vergessen, die Inhalte, die dieses Gesetz ausma-
chen, und die damit verbundenen Ziele aufzugreifen: die
Privilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich,
die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen
– auch ein ganz wichtiger Punkt in diesem Gesetz –, die
Regelungen zur besseren Steuerung der Ansiedlung von
Vergnügungsstätten durch die Kommunen – dazu gab es
auch einmal einen Antrag der Grünen, nicht wahr? –, die
Erweiterung der Vorkaufsrechte der Gemeinden zuguns-
ten Dritter.

Erlauben Sie mir, zu zwei Punkten zu kommen, die
ich näher erklären möchte.

Es gibt zum einen die Regelung für die sogenannten
Schrottimmobilien in § 179 Baugesetzbuch. Die Ände-
rung dieser Vorschrift kommt vielen Händlern, Kaufleu-
ten und Besitzern von Immobilien in Innenstädten zu-
gute. Denn diese Schrottimmobilien verpesten ihr
Umfeld. Sie entwerten dieses Umfeld. Der jetzt vorlie-
gende Gesetzentwurf, über den wir nachher abstimmen,
regelt das Rückbaugebot auch außerhalb eines Bebau-
ungsplanes. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Er regelt





Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


aber noch etwas: Er regelt die finanzielle Beteiligung der
Immobilienbesitzer. Denn wenn sie beim Rückbau einer
Schrottimmobilie einen Gewinn machen, dann werden
sie von den Kommunen künftig mit zur Kasse gebeten.
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch im
Hinblick auf die Eigenständigkeit der Städte und Ge-
meinden.

Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Lösung, die
ich Ihnen gerade vorgestellt habe, ausdrücklich, weil sie
im Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates verfas-
sungstreu und gerecht ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber diese Regelung gibt den Kommunen noch mehr:
Sie gibt ihnen Handlungsfähigkeit, sie entlastet sie fi-
nanziell, wie ich eben ausgeführt habe, und sie sichert
sie rechtlich ab. Das Ergebnis wird wachsende Attrakti-
vität von Städten und Gemeinden sein. Das ist doch ge-
nau das, was wir alle wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Punkt:
Mit der Änderung der Erhaltungssatzung in § 172
BauGB stellen wir uns, die FDP-Bundestagsfraktion und
auch die christlich-liberale Koalition, an die Seite der
Wohnungswirtschaft und der Immobilienbesitzer. Hier
geht es um die Erhaltung und die Sanierung von Immo-
bilien. Regelungswut und moralische Entrüstung er-
reichten ja in den letzten Monaten Höchststände; ich
nenne die Stichworte „Luxussanierung“ und „Genehmi-
gungsverbote“ und das Beispiel des Pankower Bürger-
meisters, der eine Milieuschutzsatzung erlassen hat. Was
hat er damit erreicht?


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr guter Mann! – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guter Mann!)


– Das mag sein. – Er hat unter anderem erreicht, dass
nicht energetisch saniert werden kann. Genau um diesen
Punkt haben wir uns gekümmert. Es wurde ein Geneh-
migungsanspruch geschaffen, der dem Vermieter er-
laubt, bauliche Maßnahmen zu ergreifen, die dem Min-
destmaß der EnEV entsprechen.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber reden wir noch einmal!)


Damit wird einem sinnlosen Handeln einiger Bürger-
meister nicht nur im Berliner Bereich der Riegel vorge-
schoben. Ich glaube, auch dies ist eine ganz wichtige
Botschaft dieser Gesetzesnovelle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit der im BauGB getroffenen Regelung haben wir ei-
nem wichtigen Anliegen, der Stärkung der Innenstädte,
Rechnung getragen.

Ziel der schwarz-gelben Koalition war es auch, die
Neuinanspruchnahme von Flächen einzudämmen. Flä-
chenverbrauch auf der grünen Wiese wird jetzt weitest-
gehend vermieden. Auch dies ist ein wichtiger Punkt,
der in diesem Gesetz gelungen ist.


(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Das hilft der Landwirtschaft!)


Ich habe eben schon darauf hingewiesen: 16 Monate
Verhandlungen. Das macht deutlich, dass wir es uns
nicht leicht gemacht haben. Es macht aber auch deutlich,
welch hohen Stellenwert dieses Baugesetzbuch frak-
tionsübergreifend hat. Es ist eine gute Tradition – Peter
Götz und Kollege Hacker haben es eben gesagt –, dass
insbesondere solche Regelungen für Städte und Gemein-
den im Konsens getroffen werden, weil sie von großer
Wichtigkeit sind. Ich hoffe, dass diese Tradition bei der
nächsten Baugesetzbuchnovelle, die natürlich erst in
zehn Jahren kommen wird, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, auch weiterhin in diesem Haus Bestand haben wird.

Ich danke allen Beteiligten und bedanke mich auch
für Ihre Aufmerksamkeit. – Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720100

Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723720200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Baugesetzbuch ist die gesetzliche Grundlage für al-
les, was in Deutschland geplant und gebaut wird. Es ist
nicht nur die Fibel für den planenden und bauenden Be-
rufsstand sowie die Genehmigungsbehörden der Kom-
munen, nein, was wir hier alles zu regeln haben, hat auch
Auswirkungen auf das Leben der Menschen, also auch
auf die Nutzer des Gebauten, sowie auf die Umwelt.

Konkret untersetzt wird das Baugesetzbuch durch
länderspezifische Landesbauordnungen, um den regio-
nalen Besonderheiten an dieser Stelle auch gerecht zu
werden. Somit ist nicht nur der Bund, sondern sind auch
die einzelnen Bundesländer in besonderer Planungsver-
antwortung für ihre Regionen. Die allgemeingültigen
Standards aber für das Bauen werden durch das Bauge-
setzbuch für alle vorgegeben. Diese Standards sind von
Zeit zu Zeit zu überprüfen, sie sind den sich entwickeln-
den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.
Das wollen wir mit der heute hier zu verabschiedenden
Novelle erreichen.

Dabei dürfen wir nicht nur den Wünschen derer nach-
geben, die bauen wollen, sondern müssen auch immer
eine Güterabwägung hinsichtlich der Umwelt und derje-
nigen vornehmen, die mit dem Gebauten täglich leben
sollen und die auch ertragen müssen, was gebaut ist. Vor
allem aber müssen wir die gesamtgesellschaftlichen
Ziele im Auge haben, auf die wir uns alle gemeinsam
mehrheitlich verständigt haben. Aus dieser Betrachtung
heraus sagt auch die Linke: Ja, wir haben mit den vorlie-
genden Änderungen des Baugesetzbuchs den notwendi-
gen Änderungsbedarf erfasst.

Herr Götz hat gestern im Ausschuss gesagt, Qualität
gehe vor Geschwindigkeit. Er hat damit gemeint, dass





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


wir etwas länger gebraucht haben, um zu diesem ge-
meinsamen Kompromiss zu kommen. Auch von mir
deshalb an dieser Stelle ein Lob für das Bemühen, die
Opposition auf den Weg zu dieser Novelle, zu diesem
Entwurf, mitzunehmen. Umfangreicher kann ich wegen
der Redezeit meinen Dank nicht ausfallen lassen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ja, wir haben bei vielen Fragen einen Konsens gefun-
den, so zum Beispiel beim Vorrang der Innenentwick-
lung vor der Bebauung des Außenbereichs.

Wir haben den Kommunen einen Umgang mit soge-
nannten Schrottimmobilien ermöglicht, ihnen die bau-
rechtliche Planungskompetenz erleichtert und vor allem
strittige Paragrafen so konkretisiert, dass sie jetzt nicht
mehr vor Gericht ausgeurteilt werden müssen. Auch die
längst überfällige Klärung zum Bau und zu dem Betrieb
von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten ist hier
schon angesprochen worden. Auch dieser Punkt ist in
der Vorlage aufgegriffen worden; das loben wir.

Was aber eine wirklich revolutionäre Leistung dieser
Novelle des Baugesetzbuches für uns ist, ist, dass wir ex-
plizit die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen
in einer ganz neuen Qualität festgeschrieben haben. Das
ist etwas Neues. Das ist sicherlich für uns alle ein wichti-
ger Moment.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Selbst auf die vieldiskutierte Frage nach Ausmaß und
Größe industrieller Tierhaltung wird mit dieser Novelle
eine Antwort in die richtige Richtung gewiesen, wenn
auch die Massentierhaltung in Deutschland damit noch
nicht vom Tisch ist. Diesem Vorschlag hat sogar der
Landwirtschaftsausschuss zugestimmt.

Noch einmal zu Herrn Götz. Er hat sich bei allen
Fraktionen für den gefundenen Konsens bedankt. Dazu
sage ich: Bitte schön, Herr Götz, das ist gern geschehen.
Ich sage aber auch: Wir haben zu vielen Fragen einen
Konsens gefunden, weil sich alle bewegt haben. Leider
ist Ihnen das in einer für uns sehr wichtigen und wesent-
lichen Frage nicht gelungen. Deshalb können wir uns bei
der heutigen Abstimmung über die Novelle leider nur
der Stimme enthalten.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist aber schade! – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Sie haben am Anfang so nett gekuschelt!)


Mit unserem Antrag „Barrierefreies Bauen im Bauge-
setzbuch verbindlich regeln“ haben wir seinerzeit bean-
tragt, die von Deutschland unterzeichnete UN-Konven-
tion zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen
auch im Baugesetzbuch sicherzustellen. Diesen Antrag
haben Sie abgelehnt; das sind wir allerdings gewohnt.
Aber Sie hätten jetzt bei der vorliegenden Novelle die
Gelegenheit gehabt, diese selbstverpflichtende Konven-
tion aufzunehmen. Mit dem Hinweis, dass das in den
Landesbauordnungen geregelt werden kann, haben Sie

unsere Bitte abgetan. Damit entziehen Sie sich leider der
Verwirklichung des Grundrechts auf Barrierefreiheit auf
Bundesebene und überlassen das dem Ermessen der
Länder.

Sie entziehen sich der Verpflichtung, die Rechte und
Belange älterer Menschen und von Menschen mit Behin-
derung in angemessener Weise zu sichern, und bleiben
ihnen damit gleichberechtigte Teilhabe deutschlandweit
schuldig. Sie entziehen sich der Pflicht, bei Bau- und
Infrastrukturvorhaben deren Barrierefreiheit oder Barrie-
rearmut sicherzustellen, und schließen somit einen
wachsenden Teil unserer Menschen aus. Diese Men-
schen teilhaben zu lassen, ist jedoch grundlegende Auf-
gabe eines Sozialstaates. Das haben Sie verpasst – leider.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Wir haben einen Föderalismus!)


Aber bei der nächsten Novelle – Frau Müller, da wider-
spreche ich Ihnen; sie wird nicht zehn Jahre dauern –
werden wir dieses Ziel weiter verfolgen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720300

Für die Bundesregierung spricht der Bundesminister

Dr. Peter Ramsauer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich persönlich könnte beinahe sagen: Das ist
für mich heute eine wirkliche Wohlfühldebatte,


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das stimmt!)


wie sie selten vorkommt. Ich kann mich kaum an eine sol-
che Debatte in meinen 23 Jahren im Deutschen Bundestag
erinnern. Dazu gehört auch die Feststellung, lieber Herr
Kollege Hacker – das ist quasi eine Selbstverpflichtung
für uns –, dass wir seitens der Bundesregierung natürlich
alle Ihre Fragen immer vollumfänglich beantworten wer-
den,


(Gustav Herzog [SPD]: Das war Märchenstunde!)


sofern Ihre Fragen zur Beantwortung geeignet sind.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, es geht uns im Kern bei
diesem Gesetz, wie es der Titel des Gesetzes auch be-
sagt, um die Stärkung der Innenentwicklung unserer
Städte und Gemeinden. In Anbetracht der kommunalen
Entwicklung in ganz Deutschland – das kann ich aus jah-
relanger Erfahrung in der Kommunalpolitik sagen – so-
wie dessen, was sich in den letzten zehn Jahren im Au-
ßenbereich getan hat, müssen wir alles dafür tun, dass
sich unsere Ortskerne strukturell so entwickeln, dass
auch das soziale Herz, das kulturelle Herz eines Ortes im
innerörtlichen Bereich weiter schlagen kann, sich hier
also das wirkliche Leben eines Ortes abspielen kann;





Bundesminister Dr. Peter Ramsauer


(A) (C)



(D)(B)


denn das soziale und kulturelle Leben sowie Geschäftig-
keit und Lebendigkeit eines Ortes kann man nicht an Au-
tobahnausfahrten oder auf die grüne Wiese verlagern.
Das ist ein wichtiges Kernanliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Kollege Franz-Josef Holzenkamp wird gleich
noch die Punkte im Detail beleuchten, die die Landwirt-
schaft betreffen. Nur so viel: Wir haben auch zwei wich-
tige Anliegen der Landwirtschaft aufgegriffen. So sind
wir der in immer stärkerem Maße erhobenen Forderung
des Deutschen Bauernverbandes nachgekommen, den
zusätzlichen Flächenverbrauch außerhalb der Orte, also
die vielen Hektar, die täglich in unterschiedlicher Weise
in Anspruch genommen werden, zu reduzieren, indem
wir den Kommunen mehr Möglichkeiten der baulichen
Gestaltung der Innenstädte – ich nenne als Stichworte
„Schrottimmobilien“ und „Verdichtung“ – gegeben ha-
ben.

Als ich als 24-Jähriger zum ersten Mal in den Stadtrat
meiner Heimatstadt gewählt wurde, habe ich mir schon
damals gedacht, welch fürchterliche Hürden und Hinder-
nisse beim flexiblen Bauen im Außenbereich das Bau-
recht für die insbesondere für landwirtschaftliche Fami-
lien existenzielle Entwicklung bereithält. Ich war immer
überzeugt: Wenn wir den Strukturwandel in der Land-
wirtschaft zulassen und ihn den landwirtschaftlichen Fa-
milien – so weit gehe ich mit meiner Aussage – zumu-
ten, dann müssen wir diesen Familien aber auch im
landeskulturellen Interesse die baurechtlichen Möglich-
keiten geben, ihre landwirtschaftlichen Anwesen ordent-
lich zu erhalten und ihre familiären Existenzen zu
sichern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das bedeutet oft, eine Umnutzung zur Existenzerhaltung
zu ermöglichen. Genau diesen Weg gehen wir. In
Zukunft werden wir es erleichtern, landwirtschaftliche
Anwesen anders zu nutzen, wenn in etwa die Kubatur
und das Äußere eines Gehöfts erhalten bleiben; denn
landwirtschaftliche Anwesen prägen das Gesicht unseres
Landes und sind identitätsstiftendes Merkmal unserer
deutschen Kulturlandschaften in all ihren Ausprägun-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nachdem der Kollege Peter Götz zu erkennen gege-
ben hat, dass er dem nächsten Deutschen Bundestag
nicht mehr angehören wird, dir, lieber Peter Götz, von
mir persönlich und auch im Namen der Bundesregierung
ein herzliches Dankeschön oder – wie wir im Süden sa-
gen – „Vergelt’s Gott“ für deine großartige Arbeit.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich kann mich gut erinnern: Als wir vor 23 Jahren ge-
meinsam in den Deutschen Bundestag einzogen, warst
du schon das kommunalpolitische und baurechtliche
Herz und Gewissen unserer Fraktion. Dass wir heute in
zweiter und dritter Lesung dieses schwierige Werk über
alle Fraktionsgrenzen hinweg abschließen können, ist
neben dem Verdienst der bereits Genannten vor allen

Dingen dein großartiges Verdienst. Dafür herzlichen
Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720400

Das Wort hat jetzt Bettina Herlitzius für Bündnis 90/

Die Grünen.


Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Sie kennen mich auch schon ein paar Jahre. Inso-
fern erwarten Sie, glaube ich, jetzt von mir nicht, dass
ich in diesen schwarz-rot-gelben Honeymoon ein-
stimme.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Nein! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


Ich muss leider noch einmal ein Jahr zurückblicken. Vor
gut einem Jahr haben Sie uns einen Gesetzentwurf zum
Baugesetzbuch vorgelegt, der wirklich grottenschlecht
war.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Na, na!)


Wir haben damals lange darüber debattiert. Seitdem ist
sehr viel Zeit vergangen. Je näher wir aber der Bundes-
tagswahl kommen, desto mehr wird Ihnen klar, dass Sie
mit einem solch schlechten Gesetzentwurf nicht an die
Öffentlichkeit gehen können.

Auf unser Drängen und unsere guten Anträge hin ha-
ben Sie in einigen Punkten nachgebessert.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Dann könnt ihr ja zustimmen!)


Jetzt gibt es endlich eine Klarstellung zur Zulässigkeit
von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jawohl! Zeit wurde es!)


Auch sollen nun die Besitzer an den Kosten für den Ab-
riss von Schrottimmobilien beteiligt werden. Das war
vor einem halben Jahr für die FDP noch undenkbar.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dringend nötig!)


Zur Massentierhaltung hatte der Kabinettsentwurf
eine reine Augenwischerei vorgesehen. Mit dem aktuel-
len Änderungsantrag wird nun erstmals ein wirkungsvol-
ler Ansatz gewählt. Doch der Durchbruch ist das noch
lange nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Alexander Süßmair [DIE LINKE])


Den Durchbruch würden Sie erreichen, wenn Sie unse-
rem entsprechenden Entschließungsantrag zustimmen
würden. Darin wird deutlich, was wichtig ist und worauf
es ankommt. Unter dem falschen Deckmantel der bäuer-
lichen Landwirtschaft bleiben weiterhin zahlreiche
Riesenställe in Mecklenburg und in Brandenburg privi-





Bettina Herlitzius


(A) (C)



(D)(B)


legiert. Die Haltung von 85 000 Hähnchen in einem Stall
ist nach wie vor möglich. Unter bäuerlicher Landwirt-
schaft verstehen wir Grüne etwas anderes, Herr Minister.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sören Bartol [SPD]: Dann müsst ihr einmal weniger Hähnchen essen!)


Wir haben heute schon viel Lob über das Verfahren
gehört. Sie sind stolz auf die Beteiligung der Kommunen
im Planspiel und die umfangreiche Verbändeanhörung.
Doch echte Beteiligung sieht anders aus, Herr Götz, Frau
Müller.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Echt?)


Beteiligen ist nicht nur einladen. Zum Beteiligen gehört
auch das Zuhören. Haben Sie die Proteste der Verbände
gegen den Ersatzneubau im Außenbereich wahrgenom-
men?


(Zuruf von der FDP: Machen Sie Lobbypolitik oder was?)


Alles das, was der Herr Minister gerade als identitätsstif-
tende Baukultur bezeichnet hat, haben die Verbände ab-
gelehnt.


(Zuruf von der FDP: Klientelpolitik!)


Vom Bundesrat über den Naturschutzbund bis hin zum
Bauernverband – selten waren sich Experten bei einem
Thema im Baugesetzbuch so einig: Der Ersatzneubau im
Außenbereich, den Sie vorschlagen, fördert die Zersied-
lung; der Ersatzneubau im Außenbereich gefährdet er-
haltenswerte Bausubstanz, die identitätsstiftende Bau-
kultur kann zerstört werden; und der Ersatzneubau im
Außenbereich ist ein Privatwunsch des Ministers, ein
Geschenk an seinen Wahlkreis.


(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört! – Zurufe von der CDU/ CSU: Oh!)


Eine solche privat motivierte Gesetzesänderung habe ich
hier in diesem Hause noch nicht erlebt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So etwas hat in der Baugesetzbuchnovelle nichts zu su-
chen. Das sind politische Geschenke, die uns alle in Ver-
ruf bringen. Die Neuregelung zum Ersatzneubau gehört
ersatzlos gestrichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das ist ja nicht zu glauben!)


Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir dem
Gesetz nicht zustimmen. Es bleiben zu viele Punkte of-
fen. Mit der Novelle wird eine große Chance vertan. Die
Gemeinden brauchen dringend Instrumente zur qualitati-
ven Innenentwicklung. Dazu müssen Mietobergrenzen
– ich erinnere an die Debatte hier in Berlin – für Sanie-
rungs- und Milieuschutzgebiete wieder zugelassen wer-
den. Damit können Bewohner vor Verdrängung aus ih-
rem Stadtviertel geschützt werden. Das ist ein richtiger,

ein wichtiger Baustein für eine attraktive Städte- und
Gemeindepolitik.

In der letzten Baugesetzbuchnovelle haben Sie ur-
sprünglich ein bemerkenswertes Instrument vorgeschla-
gen: Sanierungsgebiete für den Klimaschutz. Das ist ein
so grünes Instrument, grüner geht es gar nicht. Damit
könnte man die neuen Instrumente der Bundesförderung
und die bewährten Instrumente der Städtebauförderung
gemeinsam für einen sinnvollen Klimaschutz in den
Kommunen verwenden. Dieser Ansatz war sehr innova-
tiv, aber Sie haben ihn buchstäblich in letzter Minute auf
Drängen der Lobbyisten wieder zurückgezogen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unglaublich! Hört! Hört!)


Wer macht bei Ihnen eigentlich die Politik? Haus &
Grund?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei brauchen die Kommunen bei der energetischen
Neuausrichtung unserer Städte und Gemeinden dringend
unsere Unterstützung. Aber Sie lassen sie im Städtebau-
recht im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen.

Ein weiteres Thema, das Sie in Ihrem Koalitionsver-
trag groß angekündigt haben, ist die Baunutzungsverord-
nung. Aber daraus ist nichts geworden. Papier ist gedul-
dig, auch das Papier von Koalitionsverträgen. Das, was
Sie uns vorlegen, ist Stückwerk. Sie fordern eine Studie
zum Einzelhandel. Dabei wird das der Thematik nicht
gerecht. Damit beruhigen Sie höchstens die Einzelhan-
delslobby. Doch die Debatte zur Baunutzungsverord-
nung darf nicht auf diesen Teilaspekt reduziert werden.
Wir brauchen eine zeitgemäße Baunutzungsverordnung,
die nicht mehr auf den Leitbildern der 60er-Jahre beruht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Petra Müller [Aachen] [FDP]: 1960 ist mein Geburtsjahr! Das ist in jedem Fall ein gutes Jahr!)


Insgesamt sind wir von der Novelle enttäuscht. Bei
der Innenentwicklung der Städte und beim Schutz der
kleinen Städte und Gemeinden vor Agrarfabriken gibt es
noch viel zu tun.

Auch wenn Sie mit Ihrem Änderungsantrag –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720600

Frau Kollegin.


Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720700

– einen Satz noch? –, den wir unterstützen, einiges

korrigiert haben, so haben Sie mit dieser Novelle – wie
bei vielen anderen Novellen, die Sie in letzter Zeit vor-
gelegt haben – eine Chance einfach verstreichen lassen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720800

Frau Kollegin.


Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723720900

Nachhaltige grüne Stadtpolitik sieht anders aus.





Bettina Herlitzius


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das stimmt! Sie sind auch nicht in der Regierung!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723721000

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Franz-Josef Holzenkamp.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Franz-Josef Holzenkamp (CDU):
Rede ID: ID1723721100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch für mich
ist die heutige Debatte ein absolut freudiger Anlass. Es
geht richtig friedlich und sachlich zu. Das ist nicht unbe-
dingt Tagesgeschäft. Ich freue mich insbesondere des-
halb, weil es gelungen ist – trotz Vorwahlkampfzeit,
wenn man das so sagen darf –, die gute Tradition, eine
Novellierung im großen Konsens durchzuführen – die
wir gerade beim Baugesetz immer gepflegt haben –,
fortzusetzen. Das ist gut für unser Land, das ist gut für
die Planungssicherheit vor Ort, sorgt für mehr Gestal-
tungsfreiheit für unsere Kommunen und letztlich auch
für mehr Investitionssicherheit für unsere Wirtschaft.

Auch von mir ein herzliches Dankeschön an alle
Beteiligten, an alle Berichterstatter, an alle, die da mit-
gewirkt haben – insbesondere an das Ministerium, an
Bundesminister Peter Ramsauer, aber auch an Enak
Ferlemann als Staatssekretär. Herr Bundesminister, Sie
sind heute ja fast schon seliggesprochen worden,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


aber in diesem Fall haben Sie es auch wirklich verdient,
oder?


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das meine ich jedenfalls.

Die Landwirtschaft ist von dieser Novelle in besonde-
rem Maße betroffen. Deshalb möchte ich auf ein paar
Punkte eingehen.

Zunächst einmal möchte ich kurz etwas zum Thema
Flächenverbrauch sagen. Peter Ramsauer hat das ange-
sprochen: Wir verbrauchen in Deutschland immer noch
80 bis 90 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche pro
Tag. Unser Ziel ist es, den Flächenverbrauch zu reduzie-
ren.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie machen gar nichts!)


Um dies hinzubekommen, bedarf es vieler Stellschrau-
ben. Eine Stellschraube nutzen wir mit dem Baugesetz-
buch, weil wir die Kommunen verpflichten, genauer zu
prüfen, ob zunächst nicht Flächen innerhalb der Kom-
mune – Stichwort „Innenentwicklung“ – bebaut werden
können, bevor man in den Außenbereich geht.

Des Weiteren müssen die Kommunen künftig die
agrarstrukturellen Belange bei den Kompensationsmaß-
nahmen stärker berücksichtigen.

Zusammenfassend kann man also sagen: Innenent-
wicklung vor Außenentwicklung. Das ist der richtige
Weg, vor allen Dingen angesichts der demografischen
Entwicklung in unserem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Damit ist das Flächenproblem natürlich noch nicht
komplett gelöst – das ist richtig –, aber es ist ein guter
Schritt nach vorn.

Ein Hinweis ist mir noch wichtig, weil ich manchmal
darauf angesprochen werde oder es mir vorgehalten
wird: Dies ist nicht gegen den Naturschutz gerichtet,
sondern wir wollen den Naturschutz qualitativ verbes-
sern. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten – insbeson-
dere mit Geldersatzleistungen.

Ich will auch noch einmal das Thema Umnutzungen
unterstreichen. Peter Ramsauer hat auch das angespro-
chen, und ich bin dem Minister sehr dankbar dafür, dass
er sich hier eingesetzt und engagiert hat. Wir können bei
dem stattfindenden Strukturwandel im ländlichen Raum
mehr machen. Das bedeutet mehr Erhalt von Gebäude-
substanz und mehr Vielfalt im ländlichen Raum. Das ist
gut für den Erhalt unserer Dörfer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Bei den Biogasanlagen haben wir mehr Flexibilisie-
rung ermöglicht. Künftig kann, und zwar ohne Über-
schreitung der zulässigen Jahresmenge, der Strom dann
produziert werden, wenn er tatsächlich gebraucht wird.
Das ist wieder ein kleiner Schritt in Richtung mehr Effi-
zienz, und deshalb ist es ein guter Schritt.

Meine Damen und Herren, ich will auch auf das
Thema Privilegierung eingehen. Um es vorwegzuneh-
men: Ich denke, es ist gelungen, einen vernünftigen
Kompromiss zu finden. Einerseits haben die Kommunen
mehr Steuerungsmöglichkeit. Sie können künftig einfa-
cher entscheiden, ob größere Ställe zu den örtlichen
Strukturen passen oder nicht. Andererseits geht es darum
– das ist uns im Sinne der Landwirtschaft ein besonderes
Anliegen –, dass man kleine, flächenarme Betriebe
schützt.

Jetzt komme ich zu Ihrem Entschließungsantrag. Ich
finde, Sie müssen neu überlegen; da sollten Sie noch ein-
mal tiefer einsteigen.

Voraussetzung für eine Privilegierung soll sein – das
schlagen Sie beispielsweise vor –: 50 Prozent des Futters
muss selbst angebaut worden sein. Das klingt wunder-
bar. Aber ein Landwirt kann das Futter dann beispiels-
weise nicht mehr vom Nachbarn kaufen; er muss es
selbst anbauen.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war mal die Idee der Landwirtschaft!)


Was bedeutet dieser Zwang gerade für kleinere, flä-
chenärmere Betriebe? Sie verlieren ihren Schutz, ihre
Privilegierung. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht
zu Ende gedacht. Wenn man das weiterspinnt, führt das
zum Schluss zurück zum Großgrundbesitzertum. Ich





Franz-Josef Holzenkamp


(A) (C)



(D)(B)


denke, wir alle wollen eine solche Entwicklung in unse-
rem Land nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was passiert, wenn dem kleineren Landwirt eine
Pachtfläche gekündigt wird? Der Pachtanteil in Deutsch-
land beträgt bis zu 70 Prozent; es ist also ein sehr hoher
Pachtanteil. Wenn Pachtflächen gekündigt werden, ver-
liert der Landwirt seine Privilegierung, und dann fällt er
auch als kleinerer Landwirt automatisch in die Gewerb-
lichkeit.

Da wollen wir einen Schutz erreichen. Deshalb haben
wir diesen Kompromiss gemacht. Das war eine lange
Diskussion.

Wir wollen den Strukturwandel nicht zusätzlich an-
feuern. Sie haben die Megaställe insbesondere in Ost-
deutschland angeführt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723721200

Herr Kollege.


Franz-Josef Holzenkamp (CDU):
Rede ID: ID1723721300

Auch heute gibt es da schon Steuerungsmöglichkei-

ten. Ich kenne das aus meiner Region, wo schon seit
über zehn Jahren gesteuert wird. Wenn man will, dann
geht das, meine Damen und Herren. Wir haben ein gutes
Verhandlungsergebnis erzielt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723721400

Herr Kollege.


Franz-Josef Holzenkamp (CDU):
Rede ID: ID1723721500

„Kompromiss“ heißt „Es bewegen sich alle“. Es ha-

ben sich alle bewegt. Vielen Dank dafür! Ich bitte um
breite Zustimmung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723721600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden
und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts.

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/13272, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/11468 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen will, der möge das
mit dem Handzeichen deklarieren. – Die Gegenstim-
men? – Die Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung angenommen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen; alle übrigen haben zugestimmt.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, möge sich bitte erheben. – Die Gegenstim-

men? – Die Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher angenommen.

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.

Zunächst Abstimmung über den Entschließungsan-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/13281. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch CDU/
CSU, FDP und Linke angenommen. Gegenstimmen gab
es keine. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13282. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Die Gegenstimmen? – Die
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linke
haben zugestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.

Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/13272 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10846
mit dem Titel „Baugesetzbuch wirklich novellieren“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Die Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke gestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthal-
ten.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c so-
wie Zusatzpunkt 8 auf:

9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine bewaffneten Drohnen für die Bundes-
wehr – Internationale Rüstungskontrolle von
bewaffneten unbemannten Systemen voran-
bringen

– Drucksache 17/13235 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Brugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Die Beschaffung unbemannter Systeme
überprüfen





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


– zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäfts-

ordnung

Technikfolgenabschätzung (TA)


Stand und Perspektiven der militärischen
Nutzung unbemannter Systeme

– Drucksachen 17/9414, 17/6904, 17/11083 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Reinhard Brandl
Dr. Hans-Peter Bartels
Rainer Erdel
Paul Schäfer (Köln)
Agnes Brugger

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen für
die Bundeswehr

– Drucksachen 17/12437, 17/12725 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)
Rainer Arnold
Rainer Erdel
Paul Schäfer (Köln)
Agnes Brugger

ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Für eine umfassende Debatte zum Thema
Kampfdrohnen

– Drucksache 17/13192 –

Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. –
Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.

Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Brugger für
Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723721700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ver-

teidigungsausschuss hat gemeinsam ein Gutachten zu
„Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung un-
bemannter Systeme“ initiiert. Die Gutachter kamen zu
dem Ergebnis, dass wesentliche ethische, menschen- und
völkerrechtliche Fragen in Bezug auf den Einsatz be-
waffneter unbemannter Systeme zu prüfen und zu disku-
tieren sind. Diese Schlussfolgerungen haben wir in unse-
rem ersten Antrag vom April 2012 aufgegriffen. In den
Ausschussberatungen haben Sie, meine Damen und Her-
ren von der Koalition, sehr deutlich gemacht, dass Sie
diese Prüfung nicht wollen. Das halten wir für falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Aspekt, der bisher in der Diskussion um bewaffnete
Drohnen zu kurz kommt, ist die absehbare technologische
Entwicklung. Viele Experten halten eine zunehmende Au-
tomatisierung dieser Systeme für zwangsläufig. Die De-
batte aus den Militärkreisen in den USA weist auch ge-
nau in diese Richtung. Deshalb müssen wir in weiser
Voraussicht dafür sorgen, dass die Entscheidung über
den Einsatz militärischer Gewalt beim Menschen ver-
bleibt und nicht auf ein autonom agierendes System
übertragen wird. Wir müssen uns auf internationaler
Ebene für die Ächtung autonomer bewaffneter Systeme
einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch im Hinblick auf diese erschreckende Vorstel-
lung, dass bald Programme und nicht Menschen über
den Einsatz von Waffengewalt entscheiden, wäre ein
deutscher Einstieg in die bewaffnete Drohnentechnolo-
gie alles andere als unproblematisch.

Aber auch die jetzt verfügbaren bewaffneten Drohnen
sind nicht einfach eine Variante eines bereits bestehen-
den Systems. Bewaffnete Drohnen stellen eine technolo-
gische Entwicklung dar, die den Einsatz militärischer
Gewalt und die Kriegsführung ganz erheblich verändert.
Das hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die politi-
schen Entscheidungen über ihren Einsatz. Mit der An-
sicht, es würde keine Rolle spielen, ob wir über die Ent-
sendung von Soldaten oder von Maschinen abstimmen,
macht man es sich zu leicht. Dort, wo bewaffnete Droh-
nen heute mehrheitlich eingesetzt werden, nämlich für
die sogenannten gezielten Tötungen durch die USA, er-
leben wir doch gerade eine Aushöhlung des Völker- und
Menschenrechts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


In einer Untersuchung dieser höchstumstrittenen Pra-
xis kommt der UN-Sonderberichterstatter Alston zu dem
Ergebnis, dass zwischen der Technologie und der Ent-
scheidung über die gezielten Tötungen ein Zusammenhang
besteht. Die Möglichkeit des risikoärmeren Tötens verleite
politische Entscheider, die rechtlichen Regelungen über
den Einsatz militärischer Gewalt zu weit auszulegen. Mit
anderen Worten: Die Verfügbarkeit bewaffneter Drohnen
befördert das Risiko, dass die Hemmschwelle zum Ein-
satz von militärischer Gewalt sinkt. Das sollte und darf
man nicht einfach ignorieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Die Behauptung, das könne uns mit unserer Tradition
der demokratischen Kontrolle nicht passieren, ist leicht-
gläubig. Oder wollen Sie behaupten, politische Kontrolle
sei den USA fremd? Natürlich wäre die Beschaffung be-
waffneter Drohnen für die Bundeswehr auch ein Signal
für andere Staaten. Wir müssen doch nicht erst in die Ge-
schichtsbücher schauen, um uns klarzumachen: Wenn
man sich nicht rechtzeitig um Regelungen und Begren-
zungen für eine neue Waffentechnologie bemüht, son-





Agnes Brugger


(A) (C)



(D)(B)


dern dieser blind hinterherrennt, dann feuert man den
gleichen Beschaffungsdrang auch bei anderen an. Die
Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, die Gefahr einer
neuen Aufrüstungsspirale, ist deshalb nicht kleinzure-
den, sondern ernst zu nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Mit diesen und weiteren Fragen haben wir Grüne uns
sehr intensiv auseinandergesetzt. Ein Mitglied der
Unionsfraktion ließ dagegen Ende März verlauten, dass
aus den eigenen Reihen niemand mehr auf eine Ent-
scheidung vor den Wahlen drängen werde. Dieser ano-
nyme Abgeordnete ließ sich bei tagesschau.de mit den
Worten zitieren: „Das würde uns“ – also der Union – „im
Wahlkampf auf die Füße fallen“; das Thema sei wegen
der völkerrechtlichen Diskussion emotional zu stark be-
setzt.

Wenig später erschien die Ankündigung de Maizières
in den Medien, dass eine Entscheidung erst nach der
Bundestagswahl fallen werde. Meine Damen und Her-
ren, das ist doch nichts anderes als ein durchsichtiges
Wahlkampfmanöver.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des
Drohneneinsatzes, nicht zuletzt durch die USA, mit den
Risiken einer neuen Aufrüstungsdynamik, mit dem Risiko
der Automatisierung und der sinkenden Hemmschwelle
bei der Entscheidung über den Einsatz von militärischer
Gewalt lässt für uns Grüne nur einen Schluss zu. Mit un-
serem zweiten Antrag fordern wir deshalb, auf die Be-
schaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr zu
verzichten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723721800

Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der Besuchertribüne)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1723721900

Das ist nicht demokratisch, was Sie hier auf der Besu-

chertribüne tun. Setzen Sie sich bitte hin, und folgen Sie
einfach der Diskussion.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723722000

Ich bitte Sie, die Besuchertribüne zu verlassen.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1723722100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wie bereits vor einigen Wochen diskutieren

wir auch heute das Thema „Kampfdrohnen für die Bun-
deswehr“. Anlass ist übrigens nicht eine konkrete Be-
schaffungsanfrage der Bundeswehr, sondern sind zwei
Anträge, einer von der SPD und einer von den Grünen.
In beiden Anträgen finden Sie die Forderung, dass eine
gesellschaftliche Debatte zum Thema Kampfdrohnen
geführt werden muss. Da kann ich nur sagen: Herzlichen
Glückwunsch! Wie immer radeln Sie der Regierung hin-
terher; denn diese Debatte läuft bereits. Es war der Ver-
teidigungsminister de Maizière, der schon vor Monaten
diese Debatte eröffnet hat. Damals wurde er übrigens
auch von Ihnen kritisiert. Weil inzwischen auch Sie die
Debatte wollen, sollten Sie ihm heute danken, dass er
diese in Gang gebracht hat.

Der Unterschied zwischen den Anträgen ist, dass die
SPD auf der einen Seite tatsächlich ein Für und ein Wi-
der diskutieren möchte, während die Grünen auf der an-
deren Seite eine Debatte führen wollen, in der nur die
Gründe für ein Nein diskutiert werden sollen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt?)


Das sieht man an der Überschrift „Keine bewaffneten
Drohnen für die Bundeswehr“. Das sieht man im Text an
der Formulierung, dass es „eine breite Debatte über die
damit verbundenen Risiken geben“ muss. Typisch für
die Grünen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!)


Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Chancen
und die Möglichkeiten zu beleuchten. Durch ein Auflis-
ten von vermeintlichen Gefahren, von zum Teil konstru-
ierten oder nichtexistenten Risiken versuchen Sie, den
Teufel an die Regierungswand zu malen. „Hauptsache
verhindern“ ist auch bei dieser Debatte einmal mehr Ihr
Motto.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon mal einen Drohneneinsatz miterlebt?)


Natürlich gibt es wie bei jedem Waffensystem Nach-
teile. Die wollen wir auch nicht unter den Teppich keh-
ren.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Zyniker!)


Unter bestimmten Umständen Gewalt gegen andere ein-
setzen zu müssen, muss immer völkerrechtlich legiti-
miert und ethisch abgewogen sein.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie bei Obama! Wie die Killerdrohnen!)


Ich fordere Sie nur auf, Herr Ströbele, diese Debatte
sachlich zu führen. Es geht nicht darum, ob wir in Zu-
kunft an völkerrechtswidrigen Einsätzen teilnehmen
oder nicht. Um Völkerrecht zu brechen, brauchen Sie
keine Drohne. Jedes Waffensystem kann völkerrechts-
widrig eingesetzt werden.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Sehr gut!)






Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Es geht auch nicht um einen Einsatz von vollautoma-
tisierten Systemen, die völlig autonom agieren, bei de-
nen die Software die Entscheidung trifft, wann oder wo
geschossen wird. Unterlassen Sie diese Täuschungsver-
suche! Lassen Sie uns sachlich über dieses Thema disku-
tieren.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, fangt doch mal damit an!)


– Ja, ich beginne damit. – Ein Argument ist Ihr Vorwurf,
mit einer Beschaffung von Kampfdrohnen würde
Deutschland eine Rüstungsspirale lostreten.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist es!)


Da muss ich Ihnen ehrlich sagen: Das ist ein bisschen
naiv;


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


denn die weltweite Entwicklung und Produktion läuft
bereits. Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, ob
wir diese Technologie in Europa selbst beherrschen oder
ob wir uns im Zweifel von anderen abhängig machen
wollen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können auch gleich Atomwaffen einsetzen!)


Ein anderer Vorwurf von Ihnen: Kampfdrohnen sor-
gen dafür, dass die Hemmschwelle zum Einsatz militä-
rischer Gewalt bei unseren Soldaten sinkt. – Schon heute
steht der Soldat meistens nicht mehr Face to Face seinem
Gegner gegenüber. Schon heute ist meistens ein Bild-
schirm dazwischen. Ich sehe nicht, dass dies dazu ge-
führt hat, dass unsere Soldaten verantwortungslos han-
deln. Im Gegenteil: Unsere Soldaten machen in den
Einsätzen einen sehr verantwortungsbewussten Job. Da-
ran wird eine Drohne nichts ändern. Hören Sie auf, un-
sere Soldaten in ein so schlechtes Licht zu stellen! Das
haben sie wirklich nicht verdient.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ihr nächster Vorwurf lautet – auch meine Vorrednerin
hat ihn ins Feld geführt –,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Brugger!)


dass die Zurückhaltung bei politischen Entscheidungen
über Militäreinsätze durch den Einsatz von Drohnen auf-
geweicht werden könnte, sprich: Wir könnten im Bun-
destag leichtfertiger über Mandate entscheiden, weil es
Drohnen gibt. Ich muss ehrlich sagen: Es scheint fast so,
als wollten Sie sich durch ein Beschaffungsverbot in Be-
zug auf Drohnen vor sich selbst schützen, weil dann kein
Soldat mehr da wäre, hinter dem man sich verstecken
kann.

Natürlich ist die Gefährdung der eigenen Truppe ein
wichtiger Faktor, aber genauso wichtig sind die Faktoren
Völkerrecht, Verhältnismäßigkeit, Ethik und andere. Ich
habe großes Vertrauen in die Mehrheit dieses Hauses,

dass wir auch in Zukunft Auslandseinsätze wohlüberlegt
beschließen oder auch nicht beschließen werden.

Lassen Sie mich abschließend festhalten. Erstens.
Auch wenn es nicht um eine eilige Entscheidung geht:
Ich stehe grundsätzlich einer Beschaffung bewaffneter
Kampfdrohnen als zusätzliche Fähigkeit für unsere Bun-
deswehr positiv gegenüber;


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das überrascht uns nicht! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wen wundert das?)


denn sie schützen unsere Soldaten im Einsatz, sie senken
das Risiko für unsere Piloten, und sie ermöglichen in
vielen Situationen einen schnelleren, flexibleren und
präziseren Einsatz.

Zweitens. Es war richtig, dass der Minister das
Thema vor Monaten zur Diskussion gestellt hat und dass
wir diese Debatten führen.

Drittens. Diese Diskussion hat im Übrigen inzwi-
schen dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerung
für eine Beschaffung und einen Einsatz im Notfall ist.
Das zeigt eine aktuelle forsa-Studie, die Sie unter ande-
rem auf Spiegel Online nachlesen können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723722200

Für die SPD-Fraktion gebe ich jetzt dem Kollegen

Dr. Hans-Peter Bartels das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1723722300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister, ich stelle fest: Sie haben aufgrund massi-
ven öffentlichen Drucks, auch von uns Sozialdemokra-
ten, hier in der letzten Plenardebatte, entschieden, jetzt
nicht über eine Beschaffung von Kampfdrohnen zu ent-
scheiden. Sie stellen das zurück. Wir begrüßen das aus-
drücklich.

Wir hatten Sie vor Schnellschüssen gewarnt. Ihr Koali-
tionspartner hat kluge Fragen gestellt, die es zu beant-
worten gilt. Selbst Ihre eigene Unionsfraktion hat nach-
vollziehbar keine Neigung, ein paar Wochen vor der
Bundestagswahl eine umstrittene Eilentscheidung über
die Beschaffung dieser oder jener ausländischen Waffe
zu treffen. Es gibt überhaupt keinen Zeitdruck, eine De-
batte über bewaffnungsfähige, unbemannte Luftfahr-
zeuge zu führen.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt keinen Zeitdruck, weil es keine Fähigkeits-
lücke gibt: nicht in der NATO, nicht in der EU und nicht
in der Bundeswehr. Es gibt keinen Zeitdruck; lassen Sie
sich das auch nicht von der Industrie einreden – nicht
schon wieder über den Tisch ziehen lassen!

Wir haben Zeit für eine vernünftige Debatte, eine De-
batte über ethische Fragen: Sind Kampfdrohnen ethisch
neutral? Sind sie wirklich vergleichbar mit Pfeil und Bo-





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)


gen, wie der Minister gespottet hat? Wie blockiert man
international den technischen Trend hin zu autonomen
Systemen, bei denen kein Mensch mehr entscheidet?


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Sag mal!)


Wie verhindern wir gegebenenfalls eine völkerrechts-
widrige Praxis?


(Uta Zapf [SPD]: Genau!)


Und wie bekommen wir dieses Thema auf die Tagesord-
nung der Rüstungskontrolldiplomatie? Darüber müssen
wir reden, bevor hier Beschaffungsvorlagen geschrieben
werden.


(Beifall bei der SPD)


Das Motto „Dabei sein ist alles“ ist hier als olympi-
sche Weisheit nicht zu gebrauchen. Wir sind auch ge-
spannt auf die Antworten der Regierung auf unsere
Große Anfrage zu Kampfdrohnen, die seit einem halben
Jahr im Verteidigungsministerium liegt.

Eine Frage will ich heute näher betrachten: Was kön-
nen eigentlich bewaffnete Drohnen, was herkömmliche
Waffensysteme nicht können? Keine Sorge, meine Ant-
wort lautet nicht: nichts. Es gibt etwas, was moderne
Kampfdrohnen wie Predator, Reaper und auch Heron TP
besser können als andere Waffen:


(Henning Otte [CDU/CSU]: Er kennt sich aber aus!)


Mit diesen Apparaten kann man zielgenau einzelne Per-
sonen töten, ohne dafür eigenes Personal in die Nähe der
Zielperson bringen zu müssen. Sie können das zu einem
beliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort tun, in ei-
nem beliebigen Land, in einem scheinbar rechtsfreien
Raum.

In einer gewissen Weise ähnelt diese Einsatzart des
Waffensystems dem Einsatz von Sondereinsatzkomman-
dos der Polizei oder militärischen Spezialkommandos
bzw. den Geschichten, die man manchmal von Geheim-
diensten hört, mit dem Unterschied, dass Polizisten,
KSK-Soldaten oder Geheimagenten niemanden, den sie
gefunden haben, gleich einfach töten dürfen. Sie versu-
chen vielmehr, den mutmaßlichen Übeltäter gefangen zu
nehmen. Das kann man mit einer bewaffneten Drohne
natürlich nicht. Man kann nur beobachten und gegebe-
nenfalls zielgenau töten – in der US-Terminologie Tar-
geted Killing genannt.

Aber auch in den USA gelten diese Missionen inzwi-
schen als umstritten. Es darf nämlich nicht darum gehen,
wie es auf den Kaffeebechern im Andenkenshop von
Guantánamo steht, den Bösen Böses zu tun. Es geht da-
rum, das Böse zu stoppen. Dafür dürfen wir die Prinzi-
pien unserer freiheitlichen Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit nicht aufgeben, auch nicht teilweise. Wir leben
nicht im permanenten Notstand.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist doch nicht Ihre Rede!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen uns das
Gesetz des Handelns nicht von Terroristen diktieren las-

sen. Das CIA-Kampfdrohnenszenario kommt für uns in
Deutschland nicht infrage.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das aber der wichtigste Anwendungsfall ist, für
den bewaffnete Drohnen in der Realität heute überwie-
gend gebraucht werden, dann brauchen wir sie nicht –
dafür nicht.


(Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Da wir uns in der Ablehnung der gezielten Tötung
mittels Kampfdrohnen hier im Hause vermutlich partei-
übergreifend vollständig einig sind, bleibt die Frage, für
welchen Anwendungsfall die Bundesregierung dann
glaubt bewaffnete Drohnen anschaffen zu sollen. Minis-
ter de Maizière erwähnte die Möglichkeit des Schutzes
von NATO-Patrouillen mit deutscher Beteiligung in Af-
ghanistan.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Jetzt wird es sachlich!)


Eine Drohne kann den Konvoi lange begleiten, das Um-
feld laufend aufklären und, wenn feindliche Kräfte aus
dem Hinterhalt schießen, diese aus der Luft sofort wirk-
sam bekämpfen.

Das hört sich erst einmal plausibel an. Die Amerika-
ner haben Dutzende von Kampfdrohnen in Afghanistan,
auch im Norden, stationiert. NATO-Konvois sind perma-
nent auf den gefährlichen Straßen dort unterwegs. Ich
habe die Bundesregierung gefragt, wie oft es denn vor-
kommt, dass US-Drohnen eingreifen, wenn deutsche
Kräfte beteiligt sind. Die Antwort, die ich bekam, lautet:
In den zwölf Jahren der deutschen Präsenz in Afghanis-
tan ist das genau zweimal vorgekommen.

Im Übrigen gelten für jedes Wirken aus der Luft im
NATO-Rahmen die NATO-Einsatzregeln, die wir ja
im Kunduz-Untersuchungsausschuss besonders intensiv
kennengelernt haben. Das sind aus guten Gründen für
Drohnen die gleichen restriktiven Regeln wie für Jagd-
bomber oder Kampfhubschrauber, die in Afghanistan zu
dem gleichen Zweck – Aufklärung und Wirken aus der
Luft – auch eingesetzt werden.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Genau!)


Ich will nicht für alle Zeit ausschließen, dass es sinn-
volle Einsatzaufgaben für diese neuen Waffensysteme
geben mag.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Jetzt kommen Sie zum Punkt, Herr Kollege!)


Die beiden eben von mir beschriebenen Anwendungs-
bereiche jedenfalls drängen uns nicht zu einer eiligen
Beschaffung.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Davon spricht ja auch keiner!)


Völlig unbestritten ist dagegen, dass wir unbemannte
Aufklärungssysteme dringend brauchen. Heron 1 in Af-





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)


ghanistan ist sehr nützlich. Eine Verlängerung des Miet-
vertrages werden wir unterstützen.

Eine echte Fähigkeitslücke ist bei der signalerfassen-
den Aufklärung, SIGINT, dringend zu schließen. Seit
Jahren sind die Bréguet-Atlantique-Flugzeuge außer
Dienst gestellt. Der Euro-Hawk sollte mit etwas Zeitver-
zug die Lücke füllen. Jetzt hören wir von der Bundes-
regierung, dass er vielleicht niemals für die Luftwaffe
fliegen wird. Das erste Exemplar steht seit zwei Jahren
in Manching und bereitet Kummer.

Bis zum Ende dieses Haushaltsjahres wird uns das
Euro-Hawk-Abenteuer 688 Millionen Euro gekostet ha-
ben. Es gibt keine Zulassung, keine Dokumentation,
keine Zertifizierung und keinen Flugbetrieb. Außerdem
stellt man in den USA möglicherweise die Produktion
des zugrunde liegenden Global Hawk ein.

Dieses Programm, Herr Minister, ist ein Desaster.
Über eine halbe Milliarde Euro für nichts! Wieso hat bis
heute niemand die Reißleine gezogen?

Herr Minister, ich sage Ihnen: Die Zukunft dieses
Drohnenprojekts ist möglicherweise doch noch einmal
ein bemanntes Flugzeug.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723722400

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Elke Hoff

das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1723722500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde es gut, dass unsere Kollegen von der
Opposition darauf bestehen, dass wir eine Debatte über
die Einführung eines neuen technologischen Systems bei
der Bundeswehr führen.

Nur, ich habe Ihr Debattenverhalten beobachtet: Als
der Kollege Hahn von unserem Koalitionspartner seine
Argumente vorgetragen hat – ganz unstreitig gehört zu
einer Debatte das Vortragen kontroverser Argumente –,
haben einige Kollegen von Ihnen weder die Geduld noch
die Höflichkeit besessen, ihm genau zuzuhören, sondern
sie haben das, was der Kollege Hahn hier vorgetragen
hat, in Bausch und Bogen abgelehnt und als nicht rele-
vant bezeichnet. Wenn Sie hier im Hause über dieses
Thema debattieren wollen, dann gehört eine gewisse
Form der Debattenkultur dazu.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


– Verehrte Frau Kollegin, ich habe hinreichend Redezeit,
um noch das vorzutragen, was ich hier heute zu diesem
Thema sagen möchte. Im Übrigen führen wir diese
Debatte in diesem Hause nicht zum ersten Mal. Wir be-
schäftigen uns schon seit einiger Zeit mit dieser wichti-
gen Thematik.

Erster Punkt. Ich denke, völlig unbestritten ist, dass
der Einsatz von unbemannter Technologie in dem zurzeit
längsten und gefährlichsten Einsatz unserer Soldatinnen
und Soldaten eine notwendige Fähigkeit ist, um den
Schutz unser Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen.

Zweiter Punkt. Sie versuchen seit geraumer Zeit – das
adressiere ich insbesondere an einige Kollegen von der
Fraktion der Grünen –, die Situation in Amerika völlig
undifferenziert eins zu eins auf die Bundesrepublik
Deutschland zu übertragen. Aber das wird Ihnen nicht
gelingen, weil die Bundesregierung a) so etwas nicht
darf und b) dieses Thema nicht ansteht. Hören Sie auf,
die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen, indem Sie
hier sagen, dass wir an der Schwelle zum Targeted
Killing stehen. Sie wissen, dass die Verfassung das ver-
bietet, dass das Gesetz das verbietet und auch der politi-
sche Wille dieses Hauses.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Jetzt komme ich zu einem in diesem Zusammenhang
ganz wichtigen Punkt: Die Entscheidung über die Be-
schaffung – das gilt für alle Beschaffungsvorschläge des
Bundesministeriums der Verteidigung – fällt nicht der
Minister, sondern das Parlament und die dafür zuständi-
gen Ausschüsse.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: So ist es!)


In diesem Rahmen werden alle notwendigen Debatten
geführt.

Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen – das
haben wir oft genug wiederholt –: Wir brauchen eine
saubere sicherheitspolitische Begründung. Wir wollen
wissen, was man mit diesem System in Bezug auf die
Fähigkeit „Close Air Support“, also Luftnahunterstüt-
zung, tun kann, was man mit bereits vorhandenen
Systemen nicht tun kann. Das sind Dinge, die die Bun-
desregierung im Vorfeld einer Entscheidung selbstver-
ständlich darlegen muss.


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Kollege Ströbele, hören Sie doch einfach einmal
zu! Sie können sich zu Wort melden und eine Frage stel-
len. Dann kann man über alles diskutieren.

Eigentlich geht es hier um Folgendes – diesbezüglich
sind wir vielleicht viel näher zusammen, als diese Dis-
kussion den Eindruck erweckt –: Selbstverständlich wer-
den wir uns auf internationaler Ebene darum bemühen
müssen, dass es klare Normen und Regeln für den Ein-
satz von unbemannter Technologie in Kampfzonen gibt.
Ich betone: in Kampfzonen. Hier haben wir zurzeit ein
erhebliches Defizit, weil die Definition nicht klar ist:
Wer ist in asymmetrischen Szenarien Kombattant? Wer
ist Angreifer? Wer ist als legitimes Ziel im Sinne des
Völkerrechts zu identifizieren?

Dazu höre ich von Ihnen keine Vorschläge. Ich sehe
auch nicht, dass Sie versuchen, der Öffentlichkeit auch
die andere Seite der Medaille näherzubringen. Sie sagen
zwar, dass Zivilisten umgebracht werden und dass das
schrecklich ist. Aber ich höre von Ihnen nie, dass al-





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)


Qaida, Taliban, Tahrik-i-Taliban und wie sie alle heißen
genau das Gleiche tun und unschuldige Menschen töten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gleiche! Genau!)


Jetzt kommen wir zu dem Punkt, um den es geht: Was
ist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft? Auf-
gabe der internationalen Gemeinschaft ist es, dafür zu
sorgen – das betrifft auch die Bundesrepublik Deutsch-
land –, dass klar definiert wird, wer Gegner ist; auch un-
sere Soldatinnen und Soldaten müssen das wissen. Denn
auch sie brauchen Klarheit über die Dinge, die von ihnen
in asymmetrischen Konflikten erwartet werden. Hier
gibt es Defizite.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723722600

Frau Hoff?


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1723722700

Ja, bitte?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723722800

Herr Nouripour würde Ihnen gerne eine Zwischen-

frage stellen.


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1723722900

Ja, gerne, Kollege Omid Nouripour. Aber ich würde

den Gedanken gerne erst zu Ende führen.

Wenn wir uns dieses Themas gemeinsam annehmen
– ich glaube, dass die Bundesregierung hier noch mehr
Druck machen kann, als das in der Vergangenheit der
Fall war –, dann haben wir auch die Möglichkeit, uns auf
internationaler Ebene auf Standards zu einigen.

Aber eines ist klar – ich sage es noch einmal –: Jetzt
steht keine Beschaffungsentscheidung für ein bewaffne-
tes unbemanntes System an. Es gibt keine Anfrage an
wen auch immer hinsichtlich der Beschaffung eines be-
waffneten unbemannten Systems.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Stimmt das?)


Wenn eine Entscheidung hier ansteht, wird die Bundes-
regierung erklären müssen, was sie mit diesem System
tun will. Last, but not least wird dieses Parlament dann
darüber entscheiden. – Jetzt möchte ich die Zwischen-
frage des Kollegen Nouripour zulassen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723723000

Herr Nouripour, bitte schön.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723723100

Danke, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin, Sie

haben am Anfang angemahnt, dass wir eine sachliche
Debatte führen sollen. Ich teile diese Auffassung. Aber
Sie haben hier etwas wider besseres Wissen gesagt. Da-
von gehe ich jedenfalls aus.

Es gab hier viele Debatten zum Thema Afghanistan,
und im Ausschuss haben wir Woche für Woche auch
über die Zahl der zivilen Opfer geredet, die natürlich in

der Mehrzahl von Aufständischen verursacht werden;
darüber sprechen wir hier im Plenum, und darüber spre-
chen wir im Ausschuss. 90 Prozent derjenigen, die in
Afghanistan getötet werden, werden von den Aufständi-
schen getötet. Deshalb ist dieser Einsatz ja auch damals
von diesem Hohen Hause beschlossen worden.

Natürlich ist es sinnvoll, dass wir eine ganz andere
Anspruchshaltung gegenüber unseren eigenen Truppen
haben. Wir müssen natürlich versuchen, die Zahl ziviler
Opfer so weit wie möglich zu reduzieren bzw. dafür zu
sorgen, dass es keine gibt. Finden Sie, dass es ein Bei-
trag zur Versachlichung der Debatte ist, wenn Sie uns
vorwerfen, dass wir nur über diese 10 Prozent der zivilen
Opfer reden würden, die nicht von Aufständischen getö-
tet werden?


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1723723200

Herr Kollege Nouripour, wenn Sie sich an meine

Ausführungen erinnern, wissen Sie, dass ich von einigen
Kollegen Ihrer Fraktion gesprochen habe. Ich nehme Sie
ausdrücklich aus.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer denn?)


– Der junge Mann, der vor Ihnen sitzt – Kollege
Ströbele.

Wir haben oft erlebt, dass unseren Streitkräften per-
manent unterstellt wird, dass sie sozusagen in einem ille-
gitimen Kampf Zivilisten töten.


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das entspricht weder der Wahrheit noch wird dadurch
anerkannt, welchen Anteil die Taliban, al-Qaida und an-
dere Kämpfer an dieser Situation haben.

Ich wünsche mir wirklich sehr, an dieser Stelle auch
einmal einen Vorschlag von Ihrer Seite vorgelegt zu be-
kommen, der aufzeigt, wie man mit dem Problem von
asymmetrischer Kriegsführung umgeht. Man kann über
alles diskutieren. Aktuell wird mit dem Finger immer
nur auf die regulären Streitkräfte gezeigt. Dies habe ich
in dieser Debatte häufig genug erlebt. Das ist meine
Meinung. Sie haben eine andere Meinung.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anträge! Nicht Meinungen!)


Ich glaube, ich habe Ihre Frage damit beantwortet.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723723300

Frau Hoff, Sie hätten die Gelegenheit, Ihre Redezeit

weiter zu verlängern, indem Sie die Frage von Frau Zapf
zulassen. Möchten Sie das?


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1723723400

Mit Rücksicht auf die anderen Kollegen, auch auf die

Kollegen, die hier noch zu anderen Tagesordnungspunk-
ten einen Redebeitrag vortragen möchten, möchte ich
die letzten Sekunden meiner Redezeit für ein paar ab-
schließende Sätze nutzen.





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU])


Kollege Nouripour, ich höre gerne, dass Sie zu einer
Versachlichung der Diskussion beitragen wollen. Dies
ist auch dringend geboten. Denn wir müssen unseren
Soldatinnen und Soldaten erklären, warum wir das, was
von dem Minister vorgeschlagen worden ist, nämlich ein
solches System ausschließlich zum Schutz der eigenen
Soldaten zu beschaffen,


(Henning Otte [CDU/CSU]: Genau! Darum geht es!)


jetzt nicht tun. Aber hören Sie doch auf, uns eine
Debatte über die Anwendung dieser Technologie aufzu-
zwingen, die in Deutschland de jure ausgeschlossen ist.
Wenn Sie das tun, dann kann man über alles reden.

Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723723500

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-

legin Zapf.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1723723600

Herzlichen Dank. – Liebe Kollegin Hoff, ich hätte Ih-

nen ja gerne eine Zwischenfrage gestellt. Jetzt frage ich
im Rahmen einer Kurzintervention, ob eine Debatte, die
hier im Deutschen Bundestag schon oft geführt worden
ist, in einer solch merkwürdigen Konstellation stattfin-
den muss.


(Elke Hoff [FDP]: Welche denn?)


Sie müssten genauso wie die CDU/CSU und alle
anderen Fraktionen wissen, dass wir schon zwei Exper-
tenanhörungen zu dem Thema im Unterausschuss „Ab-
rüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
durchgeführt haben und dass es eine Große Anfrage der
SPD zu diesem Thema gibt, die leider noch nicht beant-
wortet wurde. Es gab im Unterausschuss die Verab-
redung, dass wir, wenn diese Anfrage beantwortet ist
– dies ist uns jetzt für Mai signalisiert –, eine öffentliche
Veranstaltung durchführen, bei der wir transparent über
das Für und Gegen solcher Anschaffungen diskutieren.

Ich habe im Moment das Gefühl, dass der völker-
rechtliche Aspekt, obwohl er immer wieder betont wird,
nicht klar ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist
überhaupt nicht klar – das hat der Kollege Bartels gerade
erwähnt –, welche Szenarien notwendig sind, um solches
Gerät anzuschaffen. Frau Kollegin Hoff, eine Antwort
auf die Frage, ob man einer asymmetrischen Bedrohung
ausgerechnet mit unbemannten bewaffneten Drohnen
beikommt, würde ich gerne auch einmal von Experten
hören.

Ich möchte darauf hinweisen, dass sich in Großbritan-
nien gerade verschiedene Initiativen bilden, die sich ins-
besondere für die völkerrechtliche Ächtung automati-
sierter Drohnen einsetzen. Auch diese Unterscheidung
ist wichtig. Darüber sollten wir hier im Deutschen

Bundestag tiefgehend diskutieren. Ich fordere alle auf,
die Anhörung noch in dieser Legislaturperiode durchzu-
führen.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723723700

Bevor sich Frau Hoff entscheidet, ob und wie sie ant-

wortet, gebe ich zu einer zweiten Kurzintervention dem
Kollegen Ströbele das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Kollegin, ich habe mit Interesse zur Kenntnis ge-
nommen, dass Sie dem Gedanken der Anschaffung von
Killerdrohnen – ich nenne sie ganz bewusst so, weil das
auch die Amerikaner tun – das Wort reden, mit der Be-
gründung, es gebe eine asymmetrische Kriegsführung
und wir müssten mit den Aufständischen gleichziehen.
Ich sage Ihnen: Sie haben recht. Damit stellen wir uns
auf eine Stufe mit denen, die die alliierten Soldaten in
Afghanistan mit Bombenanschlägen und aus Hinterhal-
ten bekämpfen.


(Joachim Spatz [FDP]: Ach, das ist doch lächerlich!)


Dann sollten wir darüber auch nicht mehr die Nase
rümpfen und von gemeinen, hinterhältigen Anschlägen
reden. Denn worin besteht der Unterschied zwischen ei-
nem hinterhältigen Anschlag mit einem irgendwo auf
der Straße deponierten Sprengkörper und einer lautlos
operierenden Drohne? Die Folgen für die Menschen sind
identisch.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Nur dann, wenn man keine Killerdrohnen verwendet,
kann man verhindern, dass sie zu solchen Zwecken ge-
braucht oder missbraucht werden, wie es die USA fast
täglich – nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Paki-
stan, im Jemen und in Somalia – tun. Deutschland darf
das auf gar keinen Fall tun.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723723800

Frau Hoff, bitte.


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1723723900

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Ströbele, Sie sind Ju-

rist und wissen, dass es im Kriegsvölkerrecht den Be-
griff des legitimen Ziels gibt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Jemen ist aber kein Krieg!)


– Jetzt bin ich dran, Herr Kollege; ich habe Ihnen doch
auch zugehört.


(Joachim Spatz [FDP]: Ja, genau! Auch wenn es schwerfällt!)






Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)


In dem Moment, in dem erkennbar ein Angriff stattfin-
det, wissen wir also, dass auch unsere Soldatinnen und
Soldaten darauf reagieren dürfen.

Den Begriff „Killerdrohne“ habe ich übrigens nicht
verwendet. Zudem kann ich mich nicht daran erinnern,
mich in dem Zusammenhang, den Sie skizziert haben,
für den Einsatz einer solchen Technologie ausgespro-
chen zu haben. Vielmehr habe ich gesagt: Wenn der
Bundesminister der Verteidigung einen Schutz unserer
Soldatinnen und Soldaten in einem ganz besonderen
Einsatzsegment durch die neue Technologie für notwen-
dig hält, nämlich bei der Luftnahunterstützung – „Close
Air Support“ ist der gängige Begriff –, dann muss er die
Gründe darlegen.

Wir müssen uns dann die Frage stellen: Können wir
unsere Ziele auch durch Verwendung anderer Systeme
erreichen? Wenn diese Frage verneint werden muss, sehe
ich, was dieses Szenario – und nur dieses Szenario –
angeht, keinen Grund, warum nicht auf dieses System
zurückgegriffen werden sollte. Das heißt aber auch, dass
im Rahmen der sicherheitspolitischen Begründung, die
das Plenum des Deutschen Bundestages schon mehrfach
gefordert hat, auch deutlich gemacht werden muss, wo-
für diese Waffensysteme nicht eingesetzt werden sollen.
Auch für uns Parlamentarier, für die politischen Ent-
scheider, muss vollkommen klar sein, um was es geht.
Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bundesminister
der Verteidigung a) dies tun wird und b) selbstverständ-
lich jederzeit in der Lage ist, dies zu begründen.

Frau Kollegin Zapf, eine Anhörung ist sicherlich
sinnvoll; aber das sind Sachen, die entscheiden wir nicht
hier. Sie sagten, Sie wollen, dass im Rahmen einer öf-
fentlichen Veranstaltung darüber diskutiert wird. Deswe-
gen möchte ich die Bemerkung machen: Viel mehr
Öffentlichkeit als im Deutschen Bundestag kann man ei-
gentlich nicht herstellen. Die Debatte, die in diesem Mo-
ment stattfindet, findet in der Öffentlichkeit statt. Das ist
gut so, das ist richtig so, das war explizit auch von der
Bundesregierung so gewollt. Fragen, die aus Ihrer Sicht
möglicherweise unbeantwortet geblieben sind, können
selbstverständlich in einer solchen Anhörung zur Spra-
che kommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die
Diskussion an irgendeiner Stelle verhindert würde; die-
sen Vorwurf kann ich jetzt nicht nachvollziehen.

Noch einmal – ich wiederhole das an dieser Stelle ex-
plizit –: Mir sind wichtig: eine sicherheitspolitische Be-
gründung, eine klare Beschreibung der Fähigkeiten und
des Wofür, eine klare Beschreibung, warum man das
Ziel mit anderen Systemen nicht erreichen kann, und
eine klare Beschreibung dessen, was mit dem System
eben nicht gemacht werden soll. Ich glaube, dass wir un-
ter Beachtung dieser vier Punkte durchaus auch im Sinne
des Schutzes unserer Soldaten dann, wenn es notwendig
ist, darüber entscheiden können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rainer Arnold [SPD]: Was hat die Bundesregierung bisher geliefert?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723724000

Jetzt hat der Kollege Jan van Aken das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723724100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wel-

come to the drone zone! Frau Hoff, Sie haben den Ein-
satz von Kampfdrohnen in Ihrer Rede eben gerechtfer-
tigt mit dem Argument: Wenn die uns umbringen, wie
soll man dann anders reagieren?


(Dr. Florian Toncar [FDP]: Das hat sie gar nicht gemacht!)


Das ist das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ein
Mord für einen Mord. Dafür sollten Sie sich schämen!


(Beifall bei der LINKEN)


Hier sind sehr viele gute Argumente gegen Kampf-
drohnen genannt worden, zum Beispiel dass damit natür-
lich ein neues Wettrüsten ausgelöst wird. Es ist schon
peinlich, Herr Hahn, wenn Sie sagen: „Wieso Wettrüs-
ten? Das beschaffen doch eh schon alle.“


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie sind peinlich!)


Sie haben das Prinzip einer Rüstungskontrolle nicht ver-
standen. Rüstungskontrolle funktioniert nicht so, dass
sich alle eine bestimmte Waffe anschaffen und danach in
Abrüstungsverhandlungen eintreten. Rüstungskontrolle
funktioniert so, dass – um von vornherein zu verhindern,
dass ein Wettrüsten entsteht – diese Waffe gar nicht erst
angeschafft wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört!)


Ein zweites Argument: Es besteht die drängende Ge-
fahr, dass die Entwicklung direkt weitergeht hin zu voll-
autonomen Kampfdrohnen bzw. Kampfrobotern; dass
Maschinen ganz allein über Leben und Tod entscheiden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben das nicht verstanden!)


Ich finde, das ist eine grauenvolle Vorstellung. Das allein
reicht als Ablehnungsgrund.

Drittens. Eine Verletzung des Völkerrechts durch den
Einsatz von Kampfdrohnen findet heute schon jeden Tag
statt: durch die USA. Auch deswegen lehnen wir diese
Kampfdrohnen ab.

Viertens – das ist für mich ein ganz entscheidender
Grund – droht durch diese Kampfdrohnen eine Enthem-
mung und eine Entgrenzung des Krieges.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Einsatz von Kampfdrohnen führt unweigerlich zu
einer Ausweitung von Kriegen und zu einer Enthem-
mung bei der Anwendung von Gewalt. Bei Herrn





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)


de Maizière hört sich das immer einfach an: Wenn ich
ein Kampfflugzeug mit Pilot losschicke, riskiere ich sein
Leben. Wenn ich das gleiche Flugzeug ohne Pilot los-
schicke, schütze ich damit deutsche Soldaten.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das stimmt ja! – Markus Grübel [CDU/CSU]: So einfach ist die Welt!)


Das hört sich zwar ganz simpel an; aber das ist kom-
plett falsch, und Sie wissen, dass es falsch ist und dass es
mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist ja interessant!)


Kampfdrohnen werden doch nicht da eingesetzt, wo be-
waffnete Kampfflugzeuge eingesetzt werden, sondern
sie werden doch für ganz andere Einsätze eingesetzt,


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Woher wollen Sie das wissen? Wir setzen sie noch gar nicht ein!)


für Einsätze, die mit bewaffneten Flugzeugen nie geflo-
gen würden, weil sie zu riskant sind.

Es ist doch ganz eindeutig – Sie müssen das nur ein-
mal an sich heranlassen –: Wer Maschinen für sich
kämpfen lässt, entscheidet schneller, andere Menschen
zu töten. Wer Maschinen für sich kämpfen lässt, ent-
scheidet schneller, Gewalt anzuwenden: weil er das aus
sicherer Entfernung tun kann.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist bei einem Flugzeug genauso!)


Das ist die Realität; da können Sie den Kopf schütteln,
so viel Sie wollen. Das findet heute schon jeden Tag
statt.

Wir brauchen nur nach Amerika zu schauen. Was ist
dort in den letzten Jahren passiert? Mit der Einführung
der Kampfdrohnen hat sich der amerikanische Krieg völ-
lig entgrenzt. Tausende von Menschen sind mit diesen
Kampfdrohnen umgebracht worden, und zwar nicht nur
in Afghanistan, sondern auch in Pakistan, auch im Je-
men, auch in Somalia. All diese Einsätze wären niemals
mit bewaffneten Kampfflugzeugen geflogen worden.
Das wäre für die Piloten viel zu riskant gewesen, und na-
türlich schickt man kein bewaffnetes Kampfflugzeug
nach Somalia, nach Pakistan oder in den Jemen. Mit die-
sen Ländern befinden sich die USA nicht im Krieg.
Diese Länder würden nicht hinnehmen, wenn eine be-
waffnete Flotte vor ihrer Küste auftauchte. Diese tödli-
chen Angriffe sind nur mit Kampfdrohnen möglich, und
das wissen Sie. Das ist für uns ein sehr guter Grund,
diese Drohnen abzulehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr de Maizière hat gesagt, dass er die Entscheidung
im Prinzip schon getroffen hat. Er hat sie jetzt vertagt.
Ich finde die Entscheidung falsch; aber seine Aussage ist
wenigstens ehrlich.

Was mich richtig wütend macht, ist das Herumgeeiere
seitens der SPD. Sagen Sie endlich einmal konkret, was
Sie wollen und was Sie nicht wollen! Alle guten Argu-
mente sind hier genannt worden. Sie haben sie selbst

vorgetragen, aber Sie sagen nicht, dass Sie gegen eine
Einführung von Kampfdrohnen sind. Sie wollen sich bis
zur Bundestagswahl einfach jedes Hintertürchen offen-
halten und hinterher die Dinger dann doch anschaffen.
Das finde ich wirklich unehrlich.


(Beifall bei der LINKEN – Rainer Arnold [SPD]: Wenn Sie das Ergebnis schon kennen, dann brauchen wir auch keine Debatte!)


Das wirklich einzig Konkrete, das ich von den Sozial-
demokraten in den letzten Wochen über Drohnen gehört
habe, hat Herr Arnold von der SPD vor einigen Wochen
hier zu Protokoll gegeben, nämlich: wenn schon Kampf-
drohnen, dann bitte deutsche oder europäische Kampf-
drohnen. Bloß nicht in Amerika kaufen! – Auch Sie,
Herr Bartels, haben heute wieder gesagt: Bloß keine aus-
ländischen Drohnen anschaffen! Glauben Sie denn, für
Menschen, die an einer Hochzeitsfeier in Pakistan teil-
nehmen, macht es einen Unterschied, ob sie von einer
deutschen oder von einer amerikanischen Drohne getötet
werden? Ich finde Sie an dieser Stelle wirklich unsäg-
lich.


(Beifall bei der LINKEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Sie werden nicht von einer deutschen Drohne getötet! Das ist unmöglich!)


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, keine Kampfflug-
zeuge, keine Kampfdrohnen, gar nichts.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723724200

Jetzt hat der Kollege Bernd Siebert für die CDU/CSU

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Bernd Siebert (CDU):
Rede ID: ID1723724300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der Tat: Die heutige Debatte ist die Fortsetzung der
Diskussionen der letzten Monate. Im Januar haben wir
unsere Argumente bereits ausführlich und, ich denke,
zum Teil auch erschöpfend ausgetauscht. Ich muss am
Ende dieser Debatte allerdings feststellen: Neue Argu-
mente habe ich von der Opposition heute nicht zur
Kenntnis nehmen können.

Der Verteidigungsminister hat die Debatte vor einigen
Monaten angestoßen und mittlerweile entschieden, in
dieser Legislaturperiode keinen Beschaffungsbeschluss
für bewaffnete Drohnen mehr herbeizuführen. Ich kann
nach der heutigen Diskussion nur denjenigen zustim-
men, die auf die Frage, warum denn diese Debatte jetzt
geführt wird, antworten: In den Reihen der Opposition
glaubt man, dass hier ein Wahlkampfthema gefunden
werden kann. – Ich denke aber, Sie täuschen sich. Die
Menschen sind weit klüger, als Teile der Opposition mit-
unter glauben.


(Uta Zapf [SPD]: Na, na!)






Bernd Siebert


(A) (C)



(D)(B)


– Ich habe von Teilen der Opposition gesprochen. – Eine
aktuelle Umfrage zeigt, dass nur 27 Prozent der Befrag-
ten bewaffnete Drohnen ablehnen. Über 70 Prozent ste-
hen dieser Technologie eher positiv und offen gegen-
über.

Interessant ist, dass die Stimmen der Vernunft, die bei
den Sozialdemokraten und den Grünen bei dieser The-
matik in der Vergangenheit meiner Ansicht nach durch-
aus zu hören waren, mittlerweile verstummt sind. Selt-
sam, denn die Aussagen von geschätzten Kollegen wie
Rainer Arnold, der noch im Juli vorigen Jahres erklärt
hat, dass „an der Anschaffung von bewaffneten Drohnen
kein Weg“ vorbeiführe, oder von Herrn Nouripour, der
ebenfalls im Juli vorigen Jahres erklärt hat, es gebe eine
„sehr, sehr schmale graue Zone, in der gezielte Tötungen
erlaubt sein können, wenn für eine größere Gruppe von
Menschen unmittelbar Gefahr bevorsteht“,


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Guter Mann, der Nouripour!)


lassen den Schluss zu, dass die Meinungen zu Drohnen
unserer nicht ganz unähnlich sind.


(Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Ich habe das Zitat aus der Frankfurter Rundschau vom
30. Juli 2012 vollständig hier, Herr Nouripour. Ich habe
nicht gelesen, dass Sie sich von diesen Aussagen damals
distanziert haben.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich distanziere mich nicht, ich kritisiere!)


Ich habe den Eindruck, dass es noch immer den einen
oder anderen in der Opposition gibt, die differenziert
über diese Fragen nachdenken. Ich sage ganz offen: Das
hat mich eben etwas überrascht. Kollege Hans-Peter
Bartels hat das Thema an einigen Stellen ja durchaus dif-
ferenziert betrachtet. Deswegen denke ich, dass wir,
nachdem der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogen
ist, auch über diese Frage wieder konstruktiv in den Dia-
log eintreten und dazu beitragen können, dass vernünf-
tige Lösungen für die Bundeswehr und für die Verbesse-
rung der Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz
gefunden werden können.

All das, was Verteidigungsminister de Maizière und
meine Kollegen von den Koalitionsfraktionen bereits im
Januar gesagt haben, besitzt auch heute noch Gültigkeit:
Drohnen, ob groß oder klein, werden längst eingesetzt –
auch bei der Bundeswehr. Ihr Einsatz ist günstiger, si-
cherer und flexibler als die Nutzung bemannter Maschi-
nen. Sie können wesentlich länger über einem Einsatz-
gebiet in der Luft bleiben als ein bemanntes Flugzeug.
Die deutschen Regularien, die für den Waffeneinsatz be-
mannter Systeme gelten, gelten selbstverständlich auch
für Drohnen.

Völkerrechtlich bedenkliche Szenarien wie in Nord-
pakistan oder im Jemen wären für deutsche Streitkräfte
meiner Ansicht nach undenkbar. Die Verantwortung für
die Nutzung unbemannter Systeme obliegt einem Men-
schen. Das Gleiche gilt für die Kontrolle des Fluggerä-

tes, wie bei anderen Systemen übrigens auch. Es gibt bei
uns keinen „Roboterkrieg“ und keine Automatismen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dies heißt, mittelfristig wird auch die Bundeswehr
diese neuartigen Fähigkeiten ausbauen. Das gebietet die
Vernunft; denn es ist umständlich, fehleranfällig und
teuer, eine unbewaffnete Drohne zunächst aufklären zu
lassen und dann ein bemanntes Flugzeug oder ein ande-
res Waffensystem herbeizuholen, um ein Ziel bekämpfen
zu lassen. Diese derzeit in Afghanistan mögliche Option
kann deshalb nur eine Übergangslösung sein, die im Üb-
rigen durch eine Entscheidung der Bundesregierung bis
zum Jahr 2015 gesichert worden ist.

Ich selbst sage daher ganz klar, dass eine übereilte
Beschaffungsentscheidung zum heutigen Zeitpunkt auch
aus dem oben genannten Grund noch nicht notwendig
ist.


(Rainer Arnold [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Dafür gibt es viele Gründe. Bei einer technologisch so
wichtigen Weichenstellung für die Zukunft geht Sorgfalt
eindeutig vor Eile. Auch die Diskussion, die wir hier
heute führen, muss fortgesetzt werden. Auch das wurde
bereits mehrfach gesagt.

Abschließend möchte ich noch einmal meiner Hoff-
nung Ausdruck verleihen, dass wir uns im Herbst wieder
auf eine vernünftige Art und Weise über dieses Thema
unterhalten können. Umso wichtiger ist es, dass wir uns
heute keine Beschränkungen in Form von Anträgen auf-
erlegen. Daher sind die vorliegenden Anträge von uns
abzulehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723724400

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-

legin Heidemarie Wieczorek-Zeul.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1723724500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass unbemannte, unbewaffnete Drohnen nützlich sein
können, ist doch unbestritten. Ich habe in dieser Diskus-
sion eines gehört: Es wird immer wieder der Vorwurf er-
hoben, dass die Opposition Kritik anbringt, ohne dass
dazu eigentlich ein Anlass besteht.

Erster Punkt. Ich weise darauf hin: Die Friedensfor-
schungsinstitute werden über dieses Thema der bewaff-
neten Kampfdrohnen eine öffentliche Diskussion in
Gang setzen, die ich für richtig halte. Die Gefahr, dass
sich solche Waffensysteme sozusagen automatisieren, ist
vorhanden, und zwar international. Daher können wir
doch nicht so tun, als hätten wir damit nichts zu tun. Zu
Recht hat Harald Müller in einer Diskussion mit Herrn
de Maizière vor wenigen Tagen die Frage gestellt: Was
passiert eigentlich, wenn die amerikanische Seite „Das
sind Bündnisverpflichtungen“ sagt? – Die Automatisie-
rung ist eine echte Gefahr, und deshalb muss man recht-
zeitig vor ihr warnen.





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)


Zweiter Punkt. Auch die Proliferation kommt in
Gang. Es gibt Länder, die Millionen und Milliarden auf-
bringen können, um solche Systeme aufzubauen. Was
heißt das, wenn es weltweit Praxis wird, dass entspre-
chende Aktionen gegen andere Länder durchgeführt
werden? Beispielsweise könnte davon die Zivilbevölke-
rung in unserem Land betroffen sein.

Dritter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
sage schon einmal vorbeugend: Auch ich halte die Ent-
wicklung solcher bewaffneten Systeme auf europäischer
Ebene für falsch. Sie kosten Milliarden Euro. Wichtiger
wäre ein Signal der internationalen Abrüstung und der
Ächtung dieser Systeme sowohl durch Deutschland als
auch durch die Europäische Union.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Europa hat den Friedensnobelpreis nicht dafür erhalten,
dass es neue Waffensysteme exportiert, sondern dafür,
dass es soziale und ökologische Entwicklungen in die
Welt exportiert, um zu helfen. Daran sollten wir uns
orientieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723724600

Herr Siebert, möchten Sie entgegnen? – Das ist nicht

der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13235
mit dem Titel „Keine bewaffneten Drohnen für die Bun-
deswehr – Internationale Rüstungskontrolle von bewaff-
neten unbemannten Systemen voranbringen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Zugestimmt haben dem Antrag Bünd-
nis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der SPD-
Fraktion. Gegen den Antrag hat die Koalition gestimmt.
Der überwiegende Teil der SPD-Fraktion hat sich genau
wie die Fraktion Die Linke enthalten. Der Antrag ist da-
mit abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache
17/11083. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9414 mit dem Titel „Die Beschaffung unbe-
mannter Systeme überprüfen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen
waren SPD und Grüne. Die Fraktion Die Linke hat sich
enthalten.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäfts-
ordnung auf Drucksache 17/6904 zu „Stand und Per-
spektiven der militärischen Nutzung unbemannter Sys-
teme“ zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese

Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Das ist einstimmig angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Keine Beschaffung bewaffneter Drohnen
für die Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12725, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12437
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linke
war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-
ten.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13192 mit dem Ti-
tel „Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampf-
drohnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dieser Antrag wurde abgelehnt
bei Zustimmung durch die einbringende SPD-Fraktion.
Dagegen waren CDU/CSU, FDP und Linke, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU, SPD und FDP einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
– Drucksache 17/12678 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend (13. Ausschuss)

– Drucksache 17/13279 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Jarzombek
Christel Humme
Nicole Bracht-Bendt
Dr. Ilja Seifert
Markus Kurth


(8. Ausschuss)

– Drucksache 17/13280 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Rolf Schwanitz
Dr. Florian Toncar
Roland Claus
Sven-Christian Kindler

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Lebenssituation der durch Contergan geschä-
digten Menschen mit einem Dritten Con-
terganstiftungsänderungsgesetz und weiteren
Maßnahmen spürbar verbessern





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


– Drucksachen 17/11041, 17/13279 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Jarzombek
Christel Humme
Nicole Bracht-Bendt
Dr. Ilja Seifert
Markus Kurth

Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Das Wort gebe ich der Kollegin Dorothee Bär für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1723724700

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich
sehr, dass wir nach der ersten Lesung und nach einer
sehr konstruktiven Zusammenarbeit mit fast allen Frak-
tionen hier im Deutschen Bundestag heute die Änderun-
gen zum Conterganstiftungsgesetz mit einer großen
Mehrheit verabschieden werden, weil wir alle – deswe-
gen noch einmal ganz herzlichen Dank besonders an die
Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD – er-
kannt haben,


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


dass die Ergebnisse der Studie des Instituts für Geronto-
logie der Universität Heidelberg eine unmittelbare und
vor allem deutliche Verbesserung der Situation der con-
tergangeschädigten Menschen erforderlich machen. Ich
freue mich wirklich sehr, dass wir nicht nur ab heute,
sondern rückwirkend zum 1. Januar 2013 die Contergan-
renten um jährlich 90 Millionen Euro erhöhen werden.

Wir wollen uns im Namen der Koalition ganz herzlich
bei den Betroffenen bedanken, die in den letzten Wochen
und Monaten ein wirklich konstruktiver Partner waren.
Wir wollen gerade wegen der Gespräche mit den Betrof-
fenen eine noch wesentlich größere Einzelfallgerechtig-
keit gewähren können. Deswegen haben wir auf Wunsch
der Betroffenen in der Rententabelle, die als Anlage zu
den Richtlinien veröffentlicht wird, zusätzliche Scha-
densstufen eingeführt. Wir haben für diejenigen, die
wirklich mit schwersten Behinderungen leben müssen,
die prozentual höchste Anhebung der Renten vorgese-
hen. Das heißt, künftig soll mit einem Betrag von monat-
lich 6 912 Euro dafür gesorgt werden, den Schwerstge-
schädigten ein Stück Unabhängigkeit zurückzugeben,
und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, ohne An-
tragstellung selbst zu entscheiden, welche Leistungen sie
brauchen und was ihrer momentanen Situation am aller-
besten entspricht, beispielsweise der behindertenge-
rechte Umbau des Autos und der Wohnung oder Hilfen
im Alltag.

Wir werden zusätzlich 30 Millionen Euro für die De-
ckung spezifischer Bedarfe in den Haushalt einstellen,
zum Beispiel für Rehabilitationsleistungen, für Heilmit-
tel, für Hilfsmittel und – das ist ganz besonders wichtig;
das habe ich auch in meiner Rede in der ersten Lesung
angesprochen – für zahnärztliche und kieferchirurgische
Behandlungen.

Das ist ein wichtiger Schritt. Das sollten wir positiv
herausstellen. Ich verstehe nicht, Herr Kollege Seifert,
warum Sie die ganze Zeit so destruktiv an die Sache he-
rangehen, wenn sich sogar Betroffene freuen und sich
bedanken.


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Das wird weder unserer Arbeit noch dem Anliegen der
Betroffenen gerecht. Das finde ich sehr schade.

Das von uns gewählte Antrags- und Bewilligungsver-
fahren ist sehr gut und vor allem – das ist für mich das
Entscheidende – sehr bürokratiearm. Wenn die vom Arzt
verordnete Leistung bei den Kassen beantragt wird und
die Erstattung der Leistung abgelehnt wird, dann leiten
diese den Antrag direkt an die Conterganstiftung weiter.
Dann entscheidet die Conterganstiftung auf Grundlage
der Richtlinien des BMFSFJ über den Antrag.

Wir haben über die finanziellen Maßnahmen hinaus
Verbesserungen aufgenommen: zum Beispiel dass unter-
haltspflichtige Angehörige von Conterganopfern, die So-
zialhilfe beziehen, vom Träger der Sozialhilfe nicht in
Anspruch genommen werden können; denn Eltern, Kin-
der und Ehepartner von contergangeschädigten Men-
schen sind durch die mit der Behinderung verbundenen
Anforderungen ohnehin schon belastet. Das ist eine ganz
wichtige Maßnahme, um Sicherheit für die Angehörigen
zu schaffen, die neben der finanziellen Belastung seit
vielen Jahrzehnten eine ganz große physische und psy-
chische Belastung zu schultern haben.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Änderung
konsequent, die wir im Rahmen eines Änderungsantra-
ges vorgenommen haben, nämlich dass das Einkommen
und das Vermögen einerseits der Betroffenen selbst und
andererseits das ihrer Ehepartner bei der Gewährung der
anderen Leistungen des SGB XII, die unmittelbar mit
der Behinderung zusammenhängen, wie beispielsweise
Hilfen zur Gesundheit, Hilfen zur Pflege, Eingliede-
rungshilfe, vollkommen außer Betracht gelassen werden.

Natürlich ist uns bewusst, dass mit den Neuregelun-
gen nicht allen und nicht jedem einzelnen Wunsch ent-
sprochen wird, weil er nicht zu erfüllen war. Das ist
selbstverständlich, weil kein Gesetz der Welt jedem Ein-
zelfall wirklich zu 100 Prozent gerecht werden kann.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Darum geht es doch gar nicht!)


Aber ich bin wirklich zuversichtlich, dass diese Neure-
gelungen den Menschen mit Conterganschäden helfen
werden, im Alltag selbstständiger und eigenbestimmter
zu werden und den Alltag besser zu bewältigen.

Deswegen noch einmal vielen herzlichen Dank an
alle Kolleginnen und Kollegen für die nicht einfache und
auch emotionale Arbeit der letzten Wochen und Monate.
Noch einmal ein ganz großes Dankeschön nicht nur an
die Geschädigten, sondern vor allem auch an deren An-
gehörige für den langen Weg, den sie gemeinsam gegan-
gen sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723724800

Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1723724900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir werden heute am Ende der Debatte den Entwurf ei-
nes Drittes Gesetzes zur Änderung des Conterganstif-
tungsgesetzes mit großer Mehrheit, wie ich denke, hier
im Parlament verabschieden. Man muss sich natürlich
fragen: Was war der Grund für dieses Gesetz? Diese
Frage muss man immer dann stellen, wenn etwas schon
lange zurückliegt; denn dann vergisst man: Warum müs-
sen wir handeln?

In den 50er-Jahren gab es ein Medikament, das allge-
mein unter dem Namen „Contergan“ bekannt war.
Frauen, die es in der Schwangerschaft eingenommen ha-
ben, haben schwer geschädigte Kinder zur Welt ge-
bracht. Etwas über 10 000 Kinder waren es. Von diesen
etwas über 10 000 leben heute noch etwa 2 700 Perso-
nen, etwa 2 450 in Deutschland und etwa 250 im Aus-
land.

Damals gab es noch nicht das, was wir heute unter
dem Stichwort „Arzneimittelhaftung“ kennen. Man hat
eine Lösung gesucht und gefunden. Sie war nicht ein-
fach, weder für die Eltern noch, wie ich denke, für die
Politik, die überhaupt nicht abschätzen konnte, was auf
sie zukam.

Die Firma Grünenthal, die damals das Medikament
auf den Markt gebracht hat, hat 100 Millionen D-Mark
in einen Fonds eingezahlt und Entschädigung geleistet.
Dann wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerk
für behinderte Kinder“ gegründet. Deshalb werden die
Angelegenheiten der contergangeschädigten Menschen
im Familienausschuss und nicht im Ausschuss für Arbeit
und Soziales behandelt, in dem wir uns üblicherweise
mit Angelegenheiten von Menschen mit Behinderung
befassen. Wir sind seither dafür zuständig; denn seit der
Gründung der Stiftung ist die Bundesrepublik Deutsch-
land in die Rechtsnachfolge der Firma getreten. Das darf
man nicht vergessen; sonst weiß man nicht, warum wir
heute solche Gesetze machen.

In all den Jahren hat die genannte Stiftung den betrof-
fenen Menschen Entschädigungszahlungen geleistet.
Heute verabschieden wir hoffentlich mehrheitlich das
Dritte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsge-
setzes.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Einstimmig!)


– Es ist sehr schön, wenn Sie mitstimmen, Herr Seifert.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Die ganze Zeit machen wir das!)


– Wunderbar.

Bislang haben wir ein erstes und ein zweites Ände-
rungsgesetz verabschiedet. Schon beim zweiten haben
wir gedacht, dass wir ganz viel geregelt haben. Aber wir
müssen es erneut revidieren. Es war zwar der richtige

Weg, aber wir sind nicht weit genug gegangen. Wir ha-
ben 2008 die Renten der Betroffenen von 545 Euro auf
1 090 Euro verdoppelt. Wir haben noch etwas anderes
geregelt – das weiß kaum jemand –: Diese Zahlungen
dürfen auf keine anderen Leistungen, auf sogenannte
Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, ange-
rechnet werden. – Das war ein Riesenschritt. Wir haben
des Weiteren eine Regelung zur automatischen Anpas-
sung dieser Renten verabschiedet. Damals betrug die
durchschnittliche Rente etwa 982 Euro.

Ein weiterer Punkt, über den wir sehr lange debattiert
haben, war die Ausschlussfrist. Nach Ablauf dieser Frist
konnte kein Betroffener mehr seine Ansprüche geltend
machen. Diese Ausschlussfrist haben wir aufgehoben.
Diese Änderung war im Hinblick auf die damals noch
gar nicht abzuschätzenden gesundheitlichen Folgen,
zum Beispiel für Gefäße und Nerven, wichtig. So konn-
ten auch diese berücksichtigt werden.

Wir hatten damals zudem jährliche Sonderzahlungen
über 25 Jahre verabredet. Derzeit werden Sonderzahlun-
gen in Höhe von durchschnittlich 2 200 Euro ausgezahlt.
Wir haben damals aber noch mehr getan. Wir haben in
einem Antrag festgehalten: Da wir überhaupt nicht wis-
sen, wie sich die betroffenen Menschen entwickeln wer-
den, wollen wir, dass dazu eine wissenschaftliche Unter-
suchung in Auftrag gegeben wird. Damals haben die
Betroffenen gesagt: Wir wollen nicht vermessen werden. –
Das haben wir gut verstanden. Aber eine solche Untersu-
chung war notwendig; denn erst mit dem Untersu-
chungsbericht ist uns in aller Deutlichkeit klar gewor-
den, dass es sich bei den gravierenden Veränderungen,
die bei den betroffenen Menschen im Laufe der Jahre
eingetreten sind, nicht um Einzelfälle handelt. Diese
Menschen haben große Bedarfe, um am Leben teilzuha-
ben und es zu gestalten.

Der Zwischenbericht, der im Sommer letzten Jahres
vorgestellt und zu Weihnachten eingebracht wurde und
zu dem eine Anhörung mit über 200 Betroffenen im Fe-
bruar dieses Jahres durchgeführt wurde, führt nun zur
Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des
Conterganstiftungsgesetzes. Frau Bär hat schon die we-
sentlichen Punkte genannt. Ich nenne zur Verdeutlichung
noch einmal die alten Rentenwerte: Von etwa 1 100 Euro
gibt es nun eine Steigerung auf bis zu 7 000 Euro monat-
lich. Diesen Höchstbetrag erhalten 119 Betroffene. Die
drei- und vierfach Betroffenen werden am meisten be-
kommen. Aber alle werden mehr bekommen. Nur die
prozentuale Steigerung fällt unterschiedlich hoch aus.

Das alles bringen wir nun auf den Weg. Sollte sich
aber herausstellen, dass wir erneut nachjustieren müssen,
wird sich der nächste Bundestag sicherlich wieder auf
den Weg machen, erneut aus den Erfahrungen und dem
Leben der Betroffenen lernen und gegebenenfalls Kor-
rekturen vornehmen.

Wir haben lange auch darüber diskutiert, wie wir das
abdecken können, was die gesetzlichen Sozialversiche-
rungen nicht bezahlen, weil sie sich weigern. Deshalb
wurde dieser Fonds in Höhe von 30 Millionen Euro jähr-
lich eingerichtet. Diese 30 Millionen Euro sollen – Frau
Bär hat es gesagt – möglichst bürokratiearm in Anspruch





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


genommen werden können. Aber Sie wissen ja – so sagt
man das bei uns –: Das Teufele steckt im Detail. Um zu
verhindern, dass sich einige Sozialversicherungszweige,
die zahlen müssten, weigern und die Anspruchsberech-
tigten gleich an den Fonds verweisen, muss dem Bun-
destag nach zwei Jahren berichtet werden, ob es einen
Verschiebebahnhof gibt oder nicht, damit wir feststellen
können, ob das Geld wirklich den Menschen zugute-
kommt oder ob sich einige der Lasten entledigen, die sie
eigentlich tragen müssten.

Was man gar nicht so sieht – das ist, denke ich, neben
der Rentenerhöhung das Wichtigste –, ist, dass jetzt
jemand zum Beispiel eine persönliche Assistenz in An-
spruch nehmen kann, ohne dass er wie andere Men-
schen, die diese in Anspruch nehmen, mit seinem Ein-
kommen, seinem Vermögen oder dem Einkommen oder
Vermögen seiner Angehörigen herangezogen wird. Das
ist ein enormer Paradigmenwechsel, der zeigt, dass der
Bundestag seine Verantwortung, die er gegenüber den
Menschen hat, die durch Contergan geschädigt sind,
ernst nimmt.

Was ich aber auch gelernt habe – jetzt war ich
17 Jahre für dieses Thema zuständig –: Wir werden nie
aufhören, zu lernen, und wir werden nie aufhören, zu be-
greifen, dass wir eine Verantwortung haben und im Not-
fall nachjustieren müssen. Wenn die 30 Millionen Euro
nicht reichen, dann – das sage ich Ihnen – wird der Bun-
destag darüber noch einmal nachdenken müssen. Das ist
das Leben. Ich wünsche mir, dass heute alle gemeinsam
den Gesetzentwurf verabschieden und damit das Signal
setzen, dass rückwirkend ab 1. Januar alle Betroffenen
mehr Geld bekommen. Das ist das Wichtigste. Die Be-
troffenen stoßen hier im Parlament immer auf offene
Ohren, und zwar bei allen Fraktionen.

Vielen Dank an die Kollegen dafür, dass es geklappt
hat.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723725000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt

für die FDP-Fraktion.


Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1723725100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es
steht außer Frage, dass es die Contergangeschädigten
und deren Eltern waren, die von Anfang an für Gleich-
stellung und Teilhabe eingetreten sind. Der Weg beim
Kampf dieser Eltern für die Rechte ihres Kindes war
steinig. Es war der Kampf gegen den ärztlichen Rat, ge-
gen eine behindertenfeindliche Gesellschaft und gegen
Grünenthal. Den damaligen gesellschaftlichen Umgang
mit Behinderung und Behinderten infrage zu stellen, be-
gründete den Weg, der zur gesellschaftlichen Teilhabe
von Menschen mit Behinderung führen soll.

Diese Teilhabe kostet Geld. Die Rente aus der Con-
terganstiftung wird den heutigen Bedürfnissen der Be-
troffenen nicht mehr gerecht. Die finanziellen Belastun-

gen durch die Folgen der Conterganschädigung nehmen
immer weiter zu, da die körperlichen Einschränkungen
immer größer werden. Mit der Verabschiedung des Drit-
ten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgeset-
zes wollen wir sicherstellen, dass sich die Lebenssitua-
tion der Contergangeschädigten nun endlich ganz
entscheidend verbessert.

Ich darf ganz ehrlich sagen: Ich freue mich sehr, dass
wir bei diesem bewegenden Thema wieder eine sehr
breite Mehrheit im Bundestag erreichen können, über
die Parteigrenzen hinweg. Ich möchte mich hier ganz
ausdrücklich bei den Betroffenen, bei der SPD und beim
Bündnis 90/Die Grünen für die konstruktiven Gespräche
bedanken. Es ist im Sinne der Geschädigten, dass wir ge-
schlossen und schnell handeln.

Vor fast genau vier Jahren, am 22. Januar 2009, hat
der Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und der FDP zugestimmt, der
eine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung
der Conterganopfer zum Ziel hatte. Ich zitiere:

Die Lebensleistung der Contergangeschädigten ver-
langt uns größten Respekt ab. Sie haben sich in be-
wundernswerter Weise ihren Platz in Familie und
Beruf erkämpft, ihre Selbständigkeit mit großem ei-
genen Engagement und Selbstbewusstsein erstrit-
ten. Doch jetzt stoßen sie an schmerzliche Grenzen.

Den Antragstellern war damals bewusst, dass wir ge-
nauere Fakten benötigen, um gegenüber dem Steuerzah-
ler eine Lösung zu rechtfertigen, die über den Beschluss
von 2008 deutlich hinausgeht. Es ging damals um die
Verdopplung der sogenannten Conterganrenten. Bereits
diese Verdopplung war angesichts der eigentlich geplan-
ten Erhöhung um circa 5 Prozent ein enormer Schritt. –
Frau Rupprecht, Sie nicken. Ich war leider nicht dabei,
aber ich weiß es aus Erzählungen.

Trotzdem war den Fachpolitikern bewusst, dass die-
ser Schritt nicht ausreichen würde, da sich der Gesund-
heitszustand der Betroffenen verschlechterte. In diesem
gemeinsamen Antrag haben die Fraktionen von Union,
SPD und FDP den Auftrag an das Familienministerium
formuliert, eine Studie durchzuführen. Ziel war es, den
Gesundheitszustand der circa 2 700 Conterganopfer zu
untersuchen, die in den Geltungsbereich des Contergan-
stiftungsgesetzes fallen. Die drei Fraktionen wollten in
einer umfassenden, lebensbegleitenden und auf Teilhabe
angelegten Längsschnittstudie ein genaues Bild über die
Lebenssituation Contergangeschädigter zeichnen, und
zwar unter Einbeziehung von Folge- und Spätschäden,
mit dem Ziel, geeignete Handlungsempfehlungen für
weitere angemessene Hilfe darzustellen.

Fraktionsübergreifend hatten wir das Ziel, ein weite-
res Gesetz zu verabschieden, um die Spätfolgen der
Conterganschädigung abzumildern. Die Ergebnisse die-
ser Studie sind erschreckend. Die Spätfolgen der Conter-
ganopfer sind gravierender, als Mediziner vorausgesagt
hatten. Überlastete Gelenke, schwere Beeinträchtigun-
gen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerz-
zustände steigern den Hilfe- und Unterstützungsbedarf
erheblich.





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


Die Situation stellt sich weit dramatischer dar, als es
auch den Fachpolitikern bewusst war. Inzwischen leiden
85 Prozent der Conterganopfer an chronischen Schmer-
zen. Die Hälfte von ihnen ist rund um die Uhr pflegebe-
dürftig. Viele haben Depressionen. Damit wird auch die
unabhängige Lebensperspektive derjenigen Menschen
mit Conterganschäden gefährdet, die trotz aller Widrig-
keiten eine stabile Lebenssituation für sich erkämpft ha-
ben.

Ich finde es bei aller Schwere des Conterganskandals
erfreulich, dass wir heute wieder darüber diskutieren, die
Leistungen – sprich: die finanziellen Zuwendungen – an
die Opfer zu verbessern. Es ist gut, dass wir die Zustim-
mung aller Fraktionen hierzu haben. Dies war mir immer
ein persönliches Anliegen.

Bei allem verständlichen Frust, den die Betroffenen
im Hinblick auf die Politik der letzten Jahrzehnte im Be-
reich Contergan haben, halte ich das seit dem letzten
Jahr gemeinsam Erreichte für enorm: Für die Schwerst-
betroffenen hat sich seit 2008 die monatliche Rente fast
verdreizehnfacht. Hinzu kommen Einmalzahlungen, die
auf andere Sozialleistungen nicht angerechnet werden,
und eine bessere medizinische Versorgung.

Dabei ist sich die FDP immer bewusst, dass alle
finanziellen Leistungen den Schaden für die Gesundheit
und die schwere seelische Belastung der Betroffenen
nicht ausgleichen können. Die Koalition – wir alle –
wollen, dass Contergangeschädigte eine gute Lebensper-
spektive haben. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen,
das muss das Ziel sein.

Wir stehen zu unserer Verantwortung. 6 912 Euro
Höchstrente statt bislang 1 152 Euro lindern zumindest
in finanzieller Hinsicht das entstandene Leid. Dieser
Rentenanspruch wird rückwirkend zum 1. Januar 2013
ausgezahlt. Zusätzlich werden anrechnungsfrei andere
notwendige Sozialleistungen gewährt. Im Bereich von
Zahnersatz und Reha bekommen die Geschädigten die
notwendigen Therapien über den Leistungskatalog der
Krankenkassen hinaus.

Trotz der schwierigen Bemühungen, einen strukturell
ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen,
ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen, für die
Conterganopfer die eindrucksvolle Summe von 120 Mil-
lionen Euro jährlich dauerhaft zu verankern. Dafür
möchte ich auch einmal Danke sagen.

Die Koalition hat vier Jahre lang erfolgreiche und
gute Politik für Deutschland gemacht. Auch für die Con-
tergangeschädigten können wir heute dieses wirklich
deutliche Zeichen der Hoffnung und Zuversicht und der
Übernahme der Verantwortung setzen.

Auch ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank al-
len, die wir zusammengearbeitet haben, und ich freue
mich wirklich über das Ergebnis. Ich bedauere, dass die
Fraktion Die Linke da leider nicht mitmachen konnte.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723725200

Der Kollege Dr. Ilja Seifert hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723725300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu sa-

gen, dass wir „leider nicht mitgemacht“ hätten, ist wirk-
lich eine Frechheit. Obwohl Sie uns die ganze Zeit aus
allen Verhandlungen zu diesem Gesetz systematisch aus-
gegrenzt haben, wird die Linke selbstverständlich zu-
stimmen, weil es die Lebensbedingungen für viele Con-
terganopfer und ihre Angehörigen verbessert.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist in erster Linie ein großer Erfolg des jahrzehn-
telangen und sehr engagierten Kampfes der Contergan-
geschädigten selbst und ihrer Familien. Und ich meine,
auch die Unterstützung der Linken trug dazu bei. Dies
begann mit einer Kleinen Anfrage im Juni 2006 und
zieht sich bis zu unserem Antrag durch, der heute eben-
falls zur Abstimmung steht.

Wir feiern heute einen Erfolg! Ja. Auch ich. Und zwar
an der Seite der Betroffenen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dennoch ist Kritik angesagt, und sie muss auch einmal
ausgesprochen werden.

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fünf-
Parteien-Koalition, hatten – genau wie ich – in den letz-
ten Wochen eine Vielzahl von Gesprächen sowie schrift-
lichen Kontakten mit den Conterganopfern. Sie lasen die
Studie und die Handlungsempfehlungen der Uni Heidel-
berg. Sie erlebten die Anhörung am 1. Februar mit mehr
als 200 Teilnehmern. Sie haben die Sachverständigen im
nichtöffentlichen Fachgespräch am 15. April angehört.
Es gab sehr einleuchtende, sehr vernünftige, kluge Vor-
schläge.

Die Linke legte bereits im Oktober 2012 ihren Antrag
vor. Dieser entstand in sehr intensivem Dialog mit den
Betroffenen. Es gibt Stellungnahmen und Vorschläge
von verschiedenen Conterganverbänden sowie von der
Anwaltskanzlei Menschen & Rechte. Und trotzdem: Sie
schusterten – vergleichbar mit dem Gesetzgebungsver-
fahren vor der Bundestagswahl 2009 – in unnötigem Eil-
tempo einen Gesetzentwurf hin, der viele Fragen offen
und viele Probleme ungelöst lässt.

Meinen Sie wirklich, dass eine Entschuldigung sei-
tens des Bundestages, der Bundesregierung, der Justiz
und des Landes NRW für ihren Anteil an dem fortwäh-
renden Conterganskandal nicht nötig wäre?

Meinen Sie wirklich, dass es richtig ist, wenn die
Schadensverursacher – die Firma Grünenthal und die
milliardenschwere Familie Wirtz – nicht angemessen an
den Kosten beteiligt werden?

Meinen Sie wirklich, dass die Conterganrente, vor al-
lem bei wirklich Schwerstgeschädigten mit hohem As-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


sistenzbedarf, reicht, um diese aus der Armutsfalle des
SGB XII herauszuholen?

Meinen Sie wirklich, dass man trotz der Ergebnisse
aus der Studie der Uni Heidelberg die Spät- und Folge-
schäden weiterhin unberücksichtigt lassen kann?

Meinen Sie wirklich, trotz der Deckelung des Fonds
für besondere Bedarfe ein praktikables Verfahren hinzu-
bekommen?

Meinen Sie wirklich, dass die im Fachgespräch vor-
gelegte – nicht erklärbare – Rententabelle gerechter sei
als ein einheitlicher Wert je Schadenspunkt?

Meinen Sie wirklich, dass man ohne strukturelle Än-
derungen in der Stiftung den Rechtsfrieden herstellen
kann?

Meinen Sie etwa, die berechtigten Ansprüche und
Forderungen der Conterganopfer mit weniger als zehn
Schadenspunkten, der von Ausschlussfristen Betroffe-
nen sowie der im Ausland lebenden Opfer mit den Ge-
setzesänderungen wirklich befriedigend berücksichtigt
zu haben?

Nein, Sie meinen das nicht wirklich. Das, was Sie hier
tun, ist vorsätzliche Unterlassung!


(Beifall bei der LINKEN)


Ja, auch ich teile die Freude auf die zu erwartende
Rentenerhöhung. Aber sie wird für rund 20 Prozent der
Opfer nicht reichen, um ihnen ein selbstbestimmtes Le-
ben oberhalb des Existenzminimums zu ermöglichen.
Das betrifft vor allem diejenigen mit hohem Bedarf an
Assistenz und Pflege. Es erfolgt eben kein vollständiger
Schadensausgleich.

Eine Reihe von Fragen wird über Richtlinien geklärt.
Hier ist der Bundestag leider nicht beteiligt. Ich verhehle
nicht, dass ich der Exekutive gegenüber sehr skeptisch
bin.

Aber ich bin sicher: Was wir heute hier beschließen,
darf kein Schlussgesetz sein. Der kommende Bundestag
wird sich sehr bald nach seiner Konstituierung – nicht
erst nach zwei Jahren – erneut mit der Problematik be-
fassen müssen und befriedigende Lösungen für all die
von mir genannten und noch etliche weitere Fragen fin-
den müssen.

Im Zeichen der UN-Behindertenrechtskonvention
wird die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen mit
den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen dazu führen,
dass die Regelungen für die Conterganopfer aufgegriffen
und weiterentwickelt werden.

Einkommens- und vermögensunabhängig. Diskrimi-
nierungsfrei.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723725400

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt

dem Kollegen Markus Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723725500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Lieber Kollege Seifert, ich bin seit gut zehn Jahren
Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich muss sagen:
Die meisten Gesetze haben es so an sich, dass nicht alle
Wünsche und Probleme, die damit verbunden sind, auf
einen Schlag damit gelöst werden, sonst müsste man sie
nicht auch noch manchmal ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Selbstverständlich ist auch uns bewusst, dass noch
eine ganze Reihe von Fragen zu beantworten ist. Ich
werde auf die Details gleich noch näher eingehen. Natür-
lich muss man sehen, wie das Gesetz umgesetzt wird.
Aber das kann doch kein Grund sein, nicht noch in die-
ser Legislaturperiode wirklich einen Durchbruch zu
schaffen und die Situation der Betroffenen ganz erheb-
lich zu verbessern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Wir können wirklich froh sein, dass an dieser Stelle Ei-
nigkeit in diesem Hause herrscht.

Die Beharrlichkeit, die viele Kolleginnen und Kolle-
gen an den Tag gelegt haben, hat sich gelohnt. Ich nenne
hier insbesondere Frau Rupprecht. Vor vier Jahren, als
die Entschädigungszahlungen, gemeinhin auch als Con-
terganrente bekannt, verdoppelt worden sind, haben eine
ganze Reihe von Abgeordneten gesagt: Das ist toll und
reicht jetzt. Diejenigen, die sich mit dem Thema intensiv
beschäftigt hatten, wussten schon damals, dass die Zah-
lungen nicht ausreichen würden. Damals zeichneten sich
schon längst die Folgeschäden ab bzw. waren schon vor-
handen. Der Prozess der sogenannten Dekompensation
hatte eingesetzt. Aufgrund der besonderen Leistungen
mit den verbleibenden Gliedmaßen, dem Mund, mit an-
deren Hilfsmitteln, die die Geschädigten vollbracht hat-
ten, hatte der Verschleiß auch vor vier Jahren schon
längst eingesetzt.

Die Studie der Universität Heidelberg fand dann Ein-
gang in einen Entschließungsantrag. Deren Ergebnisse,
so die Hoffnung vor vier Jahren, würden dazu beitragen,
die Situation in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit unge-
schminkt zu sehen, und das würde zu einer Anpassung
der Entschädigungszahlungen führen. Das ist bis heute
ein gutes Stück weit gelungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Der Änderungsantrag – deswegen stimmt auch meine
Fraktion für den Gesetzentwurf, auch wenn sie nicht auf
dem ursprünglichen Gesetzentwurf stand – enthält we-
sentliche Punkte. Hier sind vor allen Dingen die Nicht-
anrechnung von Leistungen der Behindertenhilfe und
der Hilfe zur Pflege sowie Einkommen und Vermögen
zu nennen. Ich betone ausdrücklich, auch mit Blick auf
Herrn Seifert, dass wir auch Veränderungen bei der Con-
terganstiftung selbst vorgenommen haben.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Zu wenig!)






Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Die Sitzungen der Stiftung sind öffentlich. Die Nicht-
öffentlichkeit muss ausdrücklich erklärt werden. Weiter-
gehende Änderungen, die etwa die Mehrheitsverhält-
nisse betreffen, werden selbstverständlich auch in der
kommenden Legislaturperiode weiter geprüft. Aber so-
lange öffentliche Mittel in diese Stiftung fließen, wird es
kein Finanzminister, egal welcher Partei, zulassen, dass
zum Beispiel der Bund nicht auch die Mehrheit hat. Sol-
che Rechtsverhältnisse muss man berücksichtigen.

Auch die Deckung spezifischer Bedarfe wird hoffent-
lich funktionieren. Dabei muss man natürlich darauf
achten, dass nicht die vorgelagerten Sozialleistungsträ-
ger, insbesondere die Krankenkassen, rundweg alles ab-
lehnen und dass die Stiftung die Widerspruchsverfahren
für die Betroffenen in die Hand nehmen muss. Diesen
Bereich müssen wir uns sehr genau ansehen.

Der Umgang mit den Folgeschäden, die in dem Ge-
setzentwurf nicht enthalten sind, verdient in der kom-
menden Legislaturperiode eine genauere Betrachtung.
Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Firma Grü-
nenthal sich das ebenfalls noch einmal ansieht und klarer
die Verantwortung für das übernimmt, was auf ihr ge-
schäftliches Verhalten zurückgeht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist nicht nur der Bund, der gefragt sein wird. Aus
dem Bundeshaushalt werden künftig jährlich 155 Millio-
nen Euro gezahlt. Wir werden also in einigen Jahren bei
den Kosten für die Folgeschäden die Milliardengrenze
überschreiten. Hinzu kommen die Ausgaben der Sozial-
versicherungsträger.

Die Firma Grünenthal hat 1972 114 Millionen D-Mark
bezahlt, 2009 noch einmal 50 Millionen Euro. Wenn
man sich die Verhältnisse ansieht, ist das geradezu lä-
cherlich. Ich weiß, dass man das rechtlich – es gibt Be-
schlüsse des Bundesverfassungsgerichtes – jetzt natür-
lich nicht mehr revidieren kann. Aber die moralische
Verantwortung der Firma Grünenthal ist unzweifelhaft.
Ich bin schon etwas irritiert, wenn ich sehe, dass die
Firma Grünenthal in den vergangenen drei Jahren für
100 Millionen Euro an ihrem Standort in der Nähe der
Uni Aachen den Grünenthal-Campus gebaut und geför-
dert, aber für die Geschädigten keine finanzielle Verant-
wortung übernommen hat. Uns bleibt hier im Deutschen
Bundestag leider nur der immer wieder neue Appell. Da-
mit, dass wir in diesem Hause gemeinsam Verantwor-
tung übernommen haben, können wir erst einmal eini-
germaßen zufrieden sein.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723725600

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Hubert Hüppe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1723725700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Über Jahrzehnte fühlten sich contergangeschädigte
Menschen verraten und verkauft. Sie fühlten sich von
der Firma Grünenthal ausgetrickst, und sie fühlten sich
auch von diesem Staat im Stich gelassen. Aus der Öf-
fentlichkeit kennen wir Menschen mit Conterganschädi-
gungen. Wir kennen Künstler, Paralympics-Gewinnerin-
nen und -Gewinner, die ihren Sport inzwischen aber
längst nicht mehr ausüben können und Schmerzen ha-
ben. Aber es gibt auch ganz viele Menschen, die wir nie
gesehen haben. Es sind Menschen – durch die Studie
haben wir gelernt, dass es im Alter immer schlimmer
wird –, die jeden Tag, zu jeder Stunde Schmerzen haben
und die sich nur mit Schmerzmitteln am Leben erhalten
können. Es sind Menschen, die organische Schäden ha-
ben, die ohne Assistenz nicht aus dem Haus kommen.

Was viele auch nicht wussten: Es gibt zum Beispiel
auch Menschen, die aufgrund des Contergans gehörlos
sind und die einen besonderen Assistenzbedarf haben.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Arme und wären
gehörlos: Sie könnten noch nicht einmal Gebärdenspra-
che.

Diese Menschen waren immer misstrauisch. Sie wa-
ren übrigens auch misstrauisch, als 2009 die Studie in
Auftrag gegeben wurde, weil sie gedacht haben, dass die
Politik wieder auf Zeit spielt und hinterher doch nichts
dabei herauskommt. Es gab sogar einige, die zum Boy-
kott aufgerufen haben; auch das ist die Wahrheit. Dann
kam diese Studie, die zeigte, wie dramatisch die Schäden
sind, und dass sie zum Teil noch schlimmer sind, als
selbst die Fachleute geglaubt haben.

Als wir mit den Betroffenen gesprochen haben – das
haben ja alle Parteien bzw. Fraktionen getan –, zeigte
sich, dass es drei Punkte gab, die sie sich gewünscht ha-
ben und die ihnen wichtig waren. Das Erste war, dass die
Renten bzw. die Entschädigungsleistungen erhöht wer-
den, damit man, ohne jemals einen Antrag stellen zu
müssen, selbst bestimmen kann, was man mit diesem
Geld macht. Das Zweite war, dass die Sonderbedarfe
schnell eingeführt werden. Das Dritte war – Kollege
Seifert, es ist kein Problem, sondern es war richtig –,
dass diese Leistungen schnell kommen, weil diese Men-
schen sagen: Wir haben nicht mehr viel Zeit, uns läuft
die Lebenszeit weg.


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Deswegen war es richtig, dass, drei Wochen nachdem
dieses Gutachten vorgelegt worden ist, die Koalitions-
parteien sofort gesagt haben: Wir stellen über einen
Haushalt nachträglich – das bitte ich auch einmal anzu-
erkennen – ab dem 1. Januar 2013 zusätzlich 120 Millio-
nen Euro jährlich zur Verfügung. Das heißt, hier hat man
wirklich einmal für die Betroffenen gesorgt, und alle
Parteien haben mitgemacht. Das ist auch gut so. Es ge-
hört sich, das hier noch einmal zu betonen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sicherlich sind nicht alle Forderungen erfüllt worden.
Ich habe mit den betroffenen Menschen gesprochen.





Hubert Hüppe


(A) (C)



(D)(B)


Alle erhalten von uns ein Schreiben, jeder hat seinen An-
sprechpartner, oft sind es dieselben. Die Betroffenen
schreiben, dass sie trotz aller Kritik erst einmal dankbar
sind, dass endlich etwas geschehen und auch nachhaltig
geschehen ist.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na klar!)


Ich weiß noch, dass mich jemand anrief und sagte: Ich
muss protestieren! 120 Millionen für die restliche Le-
benszeit, das ist viel zu wenig. – Da habe ich gesagt:
Nicht für die restliche Lebenszeit, sondern für jedes
Jahr! – Das war zu Beginn der Diskussion. Da kamen
natürlich viele Dinge zusammen. Aber ich denke, dass
die Entschädigungsleistung eine wirklich gute Sache ist;
da sie nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, umso
mehr.

Noch einmal: Die Betroffenen sind dankbar. Ich bin
dankbar, dass alle Beteiligten dafür gesorgt haben, dass
wir zügig handeln konnten. Es ist auch ein Beitrag zur
Verbesserung der Glaubwürdigkeit der Politik,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ja, genau!)


dass wir die Empfehlungen der Studie umgesetzt haben
und nicht noch weiter diskutiert haben, vielleicht sogar
bis in die nächste Legislaturperiode. Der Gesetzentwurf
ist vor allen Dingen ein Fortschritt für die Menschen, die
die Hilfe dringend benötigen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723725800

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

das Wort der Kollege Thomas Jarzombek von der CDU/
CSU-Fraktion.


Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1723725900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Bevor ich im Jahr 2009 in
den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, war mir
natürlich bekannt, dass es Contergangeschädigte gibt,
aber mit den Einzelheiten dieser Schicksale war ich bis
dahin nicht vertraut. Seit ich im Familienausschuss für
meine Fraktion Berichterstatter zu diesem Thema bin,
habe ich von den Schicksalen vieler Betroffener erfah-
ren. Angesichts der Schilderungen muss ich sagen: Ich
bin wirklich betroffen.

Es sind unvorstellbare Schicksale aus der Sicht von
jemandem, der selber so etwas nicht erlebt hat. Ich kann
nur sagen: Ich habe wirklich großen Respekt vor denje-
nigen, die gelernt haben, mit diesen Schädigungen um-
zugehen, die trotzdem ihr Leben gestaltet haben. Diesen
Respekt zolle ich ihnen heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe bereits in der Anhörung gesagt – ich möchte
das heute wiederholen –: Als ob das Schicksal, das durch

dieses Medikament verursacht wurde, nicht schon schlimm
genug wäre, so sind den Opfern, den Betroffenen, im
Laufe der Jahrzehnte verdammt viele Steine in den Weg
gelegt worden. Manche Art und Weise im Umgang war
unwürdig. Ich finde, wir haben die Pflicht, uns bei allen
Betroffenen dafür zu entschuldigen.


(Beifall im ganzen Hause)


An dieser Stelle möchte ich meinen Dank und meine
Anerkennung auch denjenigen Kollegen aussprechen,
die in der letzten Legislaturperiode mit dem Zweiten
Conterganstiftungsänderungsgesetz viel Gutes auf den
Weg gebracht haben. Ich finde es großartig, dass wir es
hinbekommen haben, das heute mit dem Dritten Con-
terganstiftungsänderungsgesetz fortzuführen, dass wir
den Geschädigten, den Opfern, unkompliziert und ohne
lange Antragsverfahren helfen; und das in einer Haus-
haltssituation, in der es in Anbetracht der Schulden-
bremse so gut wie unmöglich ist – das weiß ich aus
meinen anderen Themenbereichen –, auch nur kleine
Summen für neue Projekte zu erhalten. Wir stellen nun
jedes Jahr 120 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
Wir tun hier einen großen Schritt, um für ein weiterhin
selbstbestimmtes bzw. verbessertes Leben der Geschä-
digten zu sorgen, und darauf kommt es an.

Ich kann dem Kollegen Kurth nur zustimmen: Wenn
sich unser Staat eine Entschädigungszahlung von zusätz-
lich 120 Millionen Euro pro Jahr leistet – ausdrücklich
keine Sozialleistung; das ist mir wichtig; das wurde übri-
gens durch die vorgenommenen Änderungen gewähr-
leistet –, die nicht auf andere Sozialleistungen angerech-
net wird, dann fände ich es nur angemessen, wenn auch
die Firma Grünenthal ihren Beitrag zur Entschädigung
leisten würde.


(Beifall im ganzen Hause)


Man kann auch einen großen Dank an diejenigen
richten, die in der Stiftung viel Gutes getan haben, auch
wenn es manchmal sicher schwierige Situationen gewe-
sen sind. Ich bedanke mich an dieser Stelle und wünsche
mir – auch das im Hinblick auf Änderungen, die wir im
Beratungsverfahren erreicht haben und in die ich große
Hoffnungen setze –, dass öfter öffentlich getagt wird.

Am Ende bin ich stolz, an diesem Gesetzentwurf mit-
gearbeitet zu haben. Selten hat man ein so sicheres Ge-
fühl, genau das Richtige zu tun. Wenn man sich das
Schicksal der Betroffenen anschaut, kommen wir hier
wohl allesamt zu der Überzeugung, heute genau das
Richtige zu tun.

Darauf bin ich stolz, und ich danke allen, die das er-
möglicht haben. Ich hoffe, dass die Betroffenen damit
wieder ein bisschen mehr Mut für ihr Leben fassen kön-
nen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726000

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Conterganstiftungsge-
setzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/13279, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf
Drucksache 17/12678 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen.

Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend auf Drucksache 17/13279 fort. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/11041 mit dem Titel „Lebens-
situation der durch Contergan geschädigten Menschen
mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz
und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na-
tionen (VN) von 1982 und der Resolutionen
1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008)
vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober
2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851

(2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009)

vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom
23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. No-
vember 2011, 2077 (2012) vom 21. November
2012 und nachfolgender Resolutionen des
Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union (EU) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012

– Drucksache 17/13111 –

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dieser
Aussprache nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen,
damit die anderen dem Redner folgen können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle, das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Henning Otte [CDU/CSU])


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrte
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Atalanta
ist eine erfolgreiche Mission. Seit Beginn des Einsatzes
konnte sichergestellt werden, dass über 150 im Auftrag
des Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffs-
transporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichten.
Insgesamt konnte 1 Million Tonnen Nahrungsmittel und
Hilfsgüter nach Somalia gebracht werden. Das ist der ei-
gentliche Grund, warum wir diese Mission begonnen ha-
ben. Wir wollen den Menschen helfen.

Es ist auch einen Dank wert, dass die Frauen und
Männer der Bundeswehr so erfolgreich gearbeitet haben.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Als wir hier vor einem Jahr über Atalanta debattier-
ten, waren sieben Schiffe und über 200 Geiseln in den
Händen von Piraten. Heute sind es noch zwei Schiffe
und 60 Geiseln. Die letzte Entführung eines Schiffes
liegt fast ein Jahr zurück. Auch die Zahl der versuchten
Kaperungen ist eindeutig rückläufig. Das heißt nicht,
dass alles gut ist. Wenn sich die Dinge gut entwickeln,
dann sollte man aber einfach einmal einen Augenblick
innehalten und die Geschehnisse Revue passieren lassen.
Dabei stellt man fest, dass die Bedenken, die im letzten
Jahr bezüglich der Anpassung des Atalanta-Mandates
geäußert worden sind, von der Realität augenscheinlich
nicht bestätigt worden sind. Mit anderen Worten: Ich
bitte die Opposition, die dem Mandant damals nicht zu-
gestimmt hat, weil sie Zweifel an der Ausweitung des
Mandats hatte, diesem Mandat heute ihre Unterstützung
zu gewähren. Die Bedenken, die Sie geäußert haben, wa-
ren augenscheinlich nicht zutreffend.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


Das ist eigentlich ein guter Anlass, wieder zu einer ge-
meinsamen Haltung des Deutschen Bundestages zurück-
zukehren.

Das Engagement der Europäischen Union mit deut-
scher Unterstützung war erfolgreich. Die Mandatserwei-
terung, nach der die Europäische Union bzw. unsere Sol-
datinnen und Soldaten jetzt auch Waffen und Ausrüstung
der Piraten am Strand zerstören dürfen, war beim letzten
Mal Gegenstand einer großen Kontroverse. Heute sehen
wir: Das war eine wirksame Mandatserweiterung. Ich
meine, das wäre ein guter Anlass, die Verweigerung der
Zustimmung vom letzten Jahr dieses Mal nicht zu wie-
derholen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Natürlich ist der militärische Einsatz am Horn von
Afrika in einen politischen Gesamteinsatz für Somalia
eingebettet. Bei der Verfolgung der Hintermänner der
Piraterie und der Aufdeckung ihrer Finanzen können wir
Fortschritte verzeichnen. Auf Betreiben der Bundes-
regierung erhält dieses Thema auf internationaler Ebene
nun deutlich mehr Aufmerksamkeit. Wir haben neue
Strukturen geschaffen und die Zusammenarbeit der Poli-
zeibehörden verbessert. Das erhöht den Druck auf die
Hintermänner der Piraten. Es darf auf keinen Fall ver-
gessen werden, dass es nicht ausreicht, die Piraten zu be-
kämpfen, indem man sie von ihren unrechtmäßigen
Handlungen abhält. Es ist auch wichtig, die Hintermän-
ner bei der Ausübung ihres blutigen Handwerks zu stö-
ren. Auch diesbezüglich ist durch die politische Arbeit
einiges vorangekommen.

Die Sicherheitslage in und um Mogadischu und in
Teilen Süd- und Zentralsomalias hat sich deutlich ver-
bessert. AMISOM, also die Mission der Afrikanischen
Union in Somalia, hat bei der Verdrängung Al-Schabab-
Milizen gute Erfolge erzielt. Die jüngsten Anschläge ha-
ben aber auch gezeigt, dass die Lage immer noch fragil
ist. Das heißt, es ist richtig und geboten, dass wir mit un-
serem Engagement zum Beispiel die Schifffahrtsrouten
weiter schützen, dass wir als Handelsnation die See-
fahrtswege verteidigen, dass wir unsere Staatsbürger,
aber auch die Bürger unserer Partner weiter schützen.

Beim Aufbau der staatlichen Strukturen in Somalia
gibt es ebenfalls Fortschritte. Seit September hat Soma-
lia mit Hassan Sheikh Mohamud einen neuen Präsiden-
ten und seit November eine vom Parlament bestätigte
Regierung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
hat bereits am 18. September letzten Jahres einstimmig
das Ende der Übergangsphase anerkannt. In vier Jahren
soll es dann zu allgemeinen Wahlen kommen. Ich darf
Ihnen mitteilen, dass Deutschland seit kurzem wieder
durch eine Botschafterin bei der somalischen Regierung
akkreditiert und Deutschland damit wieder vor Ort ver-
treten ist. Damit konnten wir eine mehr als 20-jährige
Phase ohne förmliche Vertretung beenden. Auch das ist
Ausdruck der Normalisierung der Lage in Somalia.
Abermals will ich aber hinzufügen, dass die Lage unver-
ändert fragil ist.

Es ist also nicht alles gut in Somalia. Es bleibt noch
viel zu tun, bevor wir von einer stabilen Staatlichkeit in

Somalia sprechen können. Aber wir sind auf dem richti-
gen Weg. Wir wollen den eingeschlagenen Weg ent-
schlossen fortsetzen: durch politische Unterstützung,
durch Entwicklungszusammenarbeit – übrigens auch
durch humanitäre Hilfe, wo sie weiterhin nötig ist – und
nicht zuletzt durch unsere Beteiligung an der EU-geführ-
ten Operation Atalanta.

Die völkerrechtlichen Grundlagen dieses Einsatzes
bilden weiterhin die Resolutionen des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen, die Beschlüsse des Rates der
Europäischen Union sowie die Zustimmung der somali-
schen Regierung.

Für die Bundesregierung beantragen der Bundesver-
teidigungsminister und ich hier die Verlängerung des
Mandats ohne inhaltliche Veränderung. Was wir im letz-
ten Jahr beschlossen haben, hatte Hand und Fuß. Es war
erfolgreich. Wir sollten es in diesem Jahr fortsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726100

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Karin Evers-Meyer.


(Beifall bei der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1723726200

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidi-

gungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Bundestagsfraktion ist für eine Fortsetzung der
EU-geführten multinationalen Operation Atalanta auf
See. Ich wiederhole das noch einmal: auf See. Die Ope-
ration ist erfolgreich. Die Bundeswehr hat im Rahmen
von Atalanta mitgeholfen, die Piraten vor der somali-
schen Küste zurückzudrängen. Seit Mai 2012 hat es dort
keine Schiffsentführungen mehr gegeben, immerhin in
einem Seegebiet, das größer als der ganze europäische
Kontinent ist. Die professionelle Einsatzplanung und das
konsequente Vorgehen der beteiligten Truppen haben be-
wirkt, dass sich das Geschäftsmodell Piraterie nicht
mehr lohnt. Die Bundeswehr hat ihren Anteil an diesem
Erfolg, einen großen Anteil.

Als SPD-Fraktion hätten wir daher heute gern für eine
Verlängerung des Mandats gestimmt. Leider macht die
Bundesregierung uns diese Zustimmung erneut unmög-
lich.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Was?)


Wieder verbindet sie in ihrem Antrag die Mandatsver-
längerung mit einer Ausweitung des Einsatzes auf die
Küstengewässer und das Staatsgebiet von Somalia ein-
schließlich des Luftraums. Dem stimmen wir auch heute
nicht zu. Der Auftrag von Atalanta ist der Schutz der
Schiffe, die im Rahmen des UN-Welternährungspro-
gramms mit Hilfsgütern für Somalia unterwegs sind. Die
Erfolgsquote von Atalanta liegt bei 100 Prozent. Wir be-
zweifeln allerdings nach wie vor den militärischen Nut-
zen der Mandatserweiterung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)


Mit dieser Einschätzung sind wir nicht allein. Im ver-
gangenen Jahr wurden nur ein einziges Mal tatsächlich
Ziele an der somalischen Küste angegriffen.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Deshalb haben Sie nicht zugestimmt?)


Über dieses eine Mal hinaus haben die Militärs vor Ort
offensichtlich keine Notwendigkeit für weitere Einsätze
an der Küste gesehen. Atalanta und die Bundeswehr sind
erfolgreich, ohne dass der Operationskorridor auf Küs-
tengewässer hätte ausgedehnt werden müssen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Aber noch erfolgreicher mit!)


Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines erweiterten Mandats
für die Bundeswehr haben daher nicht zuletzt auch Fach-
leute aus den Reihen der Bundeswehr selbst.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nein! Nein! – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wo ist das Problem?)


Noch etwas, verehrte Kolleginnen und Kollegen
– seien Sie sich dessen bitte bewusst –: Jede Erweiterung
des Mandats erhöht auch die Risiken für die Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz. Wollen Sie die Bundeswehr an
Somalias Stränden dem Risiko aussetzen, in unüber-
sichtliche Gefechtssituationen zu geraten, obwohl sie da-
für gar nicht ausgerüstet ist?


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ist eine Binsenweisheit!)


Wollen Sie das Risiko eingehen, dass Unbeteiligte von
der Bundeswehr in Kampfhandlungen verwickelt wer-
den?


(Rainer Erdel [FDP]: Völlig absurd! Dramatisierung!)


Es ist auch unsere Aufgabe, die Truppe und Zivilisten
vor unnötigen Risiken zu schützen. Genau das tun wir
als SPD-Fraktion. Wir sind unverändert gegen diese
Mandatserweiterung. Wir brauchen sie nicht, um erfolg-
reich zu sein. Deswegen werden wir unsere Soldatinnen
und Soldaten keinem zusätzlichen Risiko aussetzen.

Wir unterstützen ausdrücklich das deutsche Engage-
ment am Horn von Afrika, wir unterstützen die Opera-
tion Atalanta, aber der Ausweitung des Mandats auf die
Strandgebiete und küstennahe Gewässer haben wir nicht
zugestimmt, und wir werden dies auch heute nicht tun.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Es wäre aber ein gutes Signal an die Soldatinnen und Soldaten, wenn Sie zustimmen würden!)


Wir brauchen die Mandatsverlängerung – die brauchen
wir wirklich –, aber wir brauchen keine Mandatserweite-
rung.

Sehr geehrte Damen und Herren aus den Regierungs-
fraktionen, ich werde Sie trotz guter Argumente heute si-
cherlich nicht von Ihrer Überzeugung abbringen, dass
die Bundeswehr auch an der somalischen Küste aktiv
werden muss. Wenn aber schon das nicht geht, dann er-
lauben Sie mir die Frage: Warum stimmen wir über die

Mandatserweiterung nicht getrennt von der Mandatsver-
längerung ab? Wir haben Ihnen mehr als einmal vorge-
schlagen, dies getrennt zu behandeln: eine Abstimmung
über die Ausweitung des deutschen Einsatzes am Horn
von Afrika,


(Henning Otte [CDU/CSU]: Ein Auftrag! Das ist ein Auftrag!)


eine Abstimmung über die Verlängerung des Mandats
für Atalanta.


(Zuruf von der FDP: Wir wollen, dass Sie sich dazu bekennen!)


Sie haben das ohne Angabe von Gründen abgelehnt.


(Zuruf von der FDP: Wir wollen, dass Sie sich dazu bekennen, Frau Evers-Meyer! Auch für unsere Soldaten!)


– Das tun wir; das habe ich ja eben gesagt. – Stattdessen
legt uns die Bundesregierung heute einen Antrag vor, der
die Verlängerung des Mandates inklusive der von uns
schon beim letzten Mal abgelehnten Ausweitung vor-
sieht.

Kolleginnen und Kollegen, damit haben Sie keine
Größe bewiesen.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Nein, Sie beweisen keine Größe! Sonst würden Sie Ihren Fehler vom letzten Mal einsehen!)


Ihre Spielchen gehen doch zulasten der Soldatinnen und
Soldaten. Diese haben ein Recht darauf, dass sich aus
den Ergebnissen der Abstimmungen des Bundestages
über die Einsätze der Bundeswehr ein differenziertes
Bild ergibt.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Was haben Sie denn beim letzten Mal gesagt, was alles passieren würde? Und was war? Nichts ist passiert!)


Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir hier im
Hause größtmöglichen Rückhalt für ihre Einsätze orga-
nisieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Ja, genau! Das ist das, was wir sagen!)


Mit zwei getrennten Anträgen wären Sie diesen Erwar-
tungen gerecht geworden.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wegen dieser kleinen Mandatserweiterung stimmen Sie nicht zu? Sie verweigern den Soldaten den Rückhalt!)


Aber das wollten Sie nicht. Das Ergebnis lautet: Mit der
Verquickung von Mandatsverlängerung und -erweite-
rung haben Sie die berechtigten Erwartungen der Solda-
tinnen und Soldaten in Sachen Atalanta enttäuscht.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Sie haben sie enttäuscht!)


Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie ha-
ben auch viele Mitglieder dieses Hauses vor den Kopf





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)


gestoßen. Denn Sie wissen: Jede Entscheidung über ei-
nen Einsatz der Bundeswehr ist für viele Kolleginnen
und Kollegen eine schwerwiegende Gewissensentschei-
dung.


(Zuruf von der FDP: Für uns auch!)


Meine Fraktion und ich hätten uns gewünscht, dass Sie
den Kolleginnen und Kollegen den gebotenen Respekt
zollen


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Und das müssen wir uns ausgerechnet von Ihnen sagen lassen?)


und ihnen die Möglichkeit geben, das Gute und Richtige
vom Unnötigen zu trennen. Einsatzverlängerung und
-ausweitung sind zwei Paar Schuhe und nicht zwei Sei-
ten derselben Medaille.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wir haben abgewogen und entschieden!)


Lassen Sie mich nach der Feststellung dieses Ergeb-
nisses noch etwas zur Situation in Somalia sagen. Wir
sind uns darin einig, dass es in der Region weiter darum
gehen muss, Ursachen zu bekämpfen. Symptome zu be-
handeln, reicht auf Dauer nicht aus. Die wesentlichen
Impulse, durch die die bewaffneten Kämpfer auf See ge-
stoppt werden können, müssen aus Somalia selbst kom-
men, und da gibt es noch ganz viel zu tun.

Seit 1991 versinkt Somalia im Strudel aus Gewalt und
Chaos. Nicht nur Piraten bereiten Sorge, sondern auch
Islamisten der Terrorgruppe al-Schabab, die mit al-Qaida
kooperieren. Vornehmlich sind es bisher Soldaten aus
Uganda und Kenia, die sich den Al-Schabab-Milizen
entgegenstellen, sie zurückdrängen und aus den Städten
vertreiben. Eine dauerhafte Stabilisierung der Lage kann
nur die somalische Regierung in Mogadischu selbst her-
beiführen.

Wir können allerdings helfen: bei der Herstellung ei-
ner verlässlichen Gerichtsbarkeit, der Errichtung rechts-
staatlicher Strukturen und der Eindämmung der Korrup-
tion.


(Zuruf von der FDP: Das machen wir ja auch alles! Gott sei Dank!)


Es gibt vieles, bei dem wir mithelfen können, um den
Piraten und den Al-Schabab-Milizen das Wasser abzu-
graben. Es gibt genug Möglichkeiten, Atalanta durch
durchdachte Maßnahmen an Land zu flankieren. Die
Ausbildung somalischer Rekruten im Rahmen der Euro-
pean Union Training Mission in Uganda ist ein gutes
Beispiel dafür. Hier zeigt die Bundeswehr ihre Leis-
tungsfähigkeit, unter zum Teil schwierigsten Bedingun-
gen. Seit April 2010 haben Soldaten der EU, auch der
Bundeswehr, etwa 3 000 somalische Soldaten ausgebil-
det. Sie sollen helfen, Somalia von innen zu stabilisie-
ren.

Diesen Weg wollen wir als SPD-Fraktion weiterge-
hen. Dafür haben Sie unsere Unterstützung. Wir fordern
Sie auf, hier endlich entschlossener zu Werke zu gehen,
anstatt die Glaubwürdigkeit eines guten und richtigen

Mandates durch eine nach wie vor fragwürdige Erweite-
rung aufs Spiel zu setzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der FDP: Ach, Frau EversMeyer, hören Sie doch auf! Das war doch Quatsch! – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das war schade! Chance verpasst!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726300

Das Wort hat jetzt der Bundesverteidigungsminister

Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in den letzten Wochen und Monaten viel über die
Rolle der Europäischen Union im Bereich der Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik diskutiert. Wir stehen
mitten in der Vorbereitung eines Gipfels, auf dem wir
uns im Dezember dieses Jahres erstmalig mit der Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik beschäftigen werden.
Wir können in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
gemeinsam mehr machen; wie viel mehr, darüber disku-
tieren wir. Wir sollten mehr tun. Deswegen fange ich
meine Rede in dieser Debatte über die EU-geführte Ope-
ration Atalanta so an.

Somalia ist, jedenfalls seit einiger Zeit, ein gutes Bei-
spiel dafür, dass der Mehrwert der europäischen Ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht
darin besteht, dass man nur auf die Soldaten, das Zivile,
die Polizei oder das Ökonomische blickt, sondern darin,
dass man im Rahmen eines vernetzten Ansatzes wirkt.

Ich sage das deswegen, weil ich – gerade als Verteidi-
gungsminister – zu denen gehört habe, die kritisiert ha-
ben, dass die ganze Last dessen, was in Somalia zu leis-
ten war, auf den Soldaten lag, die Piraten bekämpft
haben, und der Kampf gegen die Hintermänner, das Wir-
ken am Strand – dazu komme ich gleich –, die Stabilisie-
rung der Regierung, all das vernachlässigt worden war.
Seit einiger Zeit ist vieles besser geworden. Darüber
freuen wir uns, und deswegen geht es in Somalia – der
Außenminister hat das vorgetragen – auch voran.

Das Mandat, über das wir heute diskutieren – Ata-
lanta –, ist ein EU-Mandat. Für die gleichen Gewässer
gibt es aber auch ein NATO-Mandat, in diesen Gewäs-
sern agieren auch andere Staaten – ich weiß nicht, ob das
bekannt ist; ich nenne einmal einige dieser Staaten – die
Vereinigten Arabischen Emirate, China, Thailand, sogar
der Iran, Indien, Malaysia, Russland, Saudi-Arabien,
Singapur und Japan. Sie alle versuchen teils mit eigenen,
unabhängig operierenden Schiffen Piraten zu bekämpfen
und sind erfolgreich dabei.

Interessanterweise wird das alles von einer Stelle aus
koordiniert. Ich erwähne das nicht nur deswegen, weil es
eine gute Zusammenarbeit zwischen EU und NATO





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


gibt, die einen leise fragen lassen kann, ob die Mandate
nicht auf Dauer – in welcher Weise auch immer – zu ei-
nem Mandat zusammengelegt werden könnten, ich er-
wähne das auch deswegen, weil wir es schaffen, mit ein-
zelnen Staaten, die sich einem gemeinsamen Anliegen
verbunden fühlen, so zusammenzuarbeiten, dass ein gu-
tes Ganzes dabei herauskommt.

Die Dinge sind nicht nur durch den Einsatz der Solda-
ten besser geworden, sondern auch durch eine Verbesse-
rung der Ausrüstung der Schiffe und durch – natürlich
haben wir darüber diskutiert, und das ist durchaus zu
problematisieren – die Entsendung privater Escort
Teams, die Schutz bieten sollen. Wir haben in der letzten
Woche ein entsprechendes Gesetz für deutsche Zertifi-
zierungen verabschiedet. Das alles sind Beiträge, die die
Situation verbessert haben, und die zeigen: So ein Ein-
satz geht nur gemeinsam.

Die nötige Gemeinsamkeit hatten wir auch in diesem
Parlament. Liebe SPD, als ich Frau Evers-Meyer gehört
habe, musste ich an einen alten Spruch von Konrad
Adenauer denken: Geht es nicht eine Nummer kleiner?
Sie haben behauptet, wir würden das Leben der Soldaten
gefährden, wenn es um das Wirken am Strand geht, und
wir sollten Sie in Ihrer Gewissensnot nicht überfordern
mit all dem.

Ich will Ihnen einmal sagen: Wir reden über einen
Wunsch der Soldaten. Es war ein einstimmiger Be-
schluss aller EU-Staaten – egal wer dort regiert hat –,
den Einsatz so durchzuführen. Wir haben von Anfang an
gesagt: Das ist keine große qualitative Veränderung, son-
dern nicht mehr und nicht weniger als eine nützliche
kleine zusätzliche Option.

Sie haben da eine riesige Eskalationsgefahr gesehen
und haben danach gefragt, ob man Zivilpersonen wie
Fischer überhaupt von Piraten unterscheiden könne. Es
hat einen Vorfall gegeben; Sie haben zu Recht darauf
hingewiesen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 2012
führte ein solcher Einsatz von Hubschraubern auf dem
Land zur Zerstörung mehrerer Piratenskiffs und mehre-
rer Außenbordmotoren. Es gab keine zivilen Verletzten,
aber der Einsatz hatte eine ziemlich abschreckende Wir-
kung. Wir wissen ja ganz genau, wo sich die Infrastruk-
tur der Piraten befindet, und wir haben beim letzten Mal
im Ausschuss die Bilder alle gezeigt. Wir können Ihnen
jetzt auch Bilder zeigen: Es gibt diese Infrastruktur nicht
mehr am Strand; daher muss man sie auch nicht mehr
bekämpfen. Deswegen sollten wir aber dieses Mandat
– so wie es ist – fortsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn wir haben gezeigt, dass unsere Soldaten mit sol-
chen Optionen maßvoll, vernünftig, deeskalierend und
im Ergebnis effektiv umgehen. Deswegen wiederhole
ich: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?

Ich verstehe, dass Sie Schwierigkeiten damit haben,
so kurz vor der Bundestagswahl aus einer Ablehnung
eine Zustimmung zu machen. Das kann ich politisch ver-
stehen. In der Sache ist es jedoch nicht richtig. Bitte ma-
chen Sie Ihre Kritik eine Nummer kleiner; das ist auch
eine Ermunterung an den nächsten Redner von den Grü-

nen, der vielleicht Ähnliches vortragen wollte. Ich bitte
Sie also für die Bundesregierung – gemeinsam mit mei-
nem Kollegen Westerwelle – um die Verlängerung die-
ses Mandats.

Wir sind uns einig: Das kann nur in einem gemeinsa-
men, vernetzten Ansatz funktionieren. Wir alle sollten
unsere Soldaten in der ganzen Breite des Mandats unter-
stützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726400

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-

legin Kathrin Vogler.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723726500

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Vor beinahe genau 20 Jahren, am
21. April 1993, befahl der damalige Verteidigungsminis-
ter Rühe von der CDU den Bundeswehreinsatz im Rah-
men der Mission UNOSOM II. Ich erinnere mich noch,
dass ich damals bei einer Protestaktion vor dem Kanzler-
amt in Bonn eine Salami zerschnibbelt habe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Daran erinnern wir uns auch noch!)


Damit wollte ich darauf hinweisen, dass dieser Einsatz
Bestandteil einer Salamitaktik ist, um die deutsche Öf-
fentlichkeit daran zu gewöhnen, dass deutsche Soldaten
wieder in Kriege ziehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese damalige Salamitaktik ist leider aufgegangen,
und auch Sie, Herr Minister, praktizieren sie weiter;
denn durch die schrittweise Ausweitung


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wir weiten doch gar nichts aus!)


wollen Sie sozusagen immer weitere Kreise für diese
Militäreinsätze ziehen.

Heute wird die Bundeswehr in aller Welt eingesetzt,
als ob das selbstverständlich wäre. Die Kollegin Evers-
Meyer hat eine vorsichtige Anfrage zu einem ganz kon-
kreten Mandat gestellt und ist hier mit der geballten
Macht der Ministerreden abgestraft worden. Das kann
doch wohl so nicht sein!


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Mensch!)


Wir müssen heute wieder über die Verlängerung des
Atalanta-Militäreinsatzes sprechen, und zwar auch des-
halb, weil alle Bundesregierungen seit 1990 immer wie-
der auf militärische Lösungen für die Probleme dieser
Welt gesetzt haben. Wir müssen uns aber 20 Jahre später
fragen: Welches dieser Probleme ist wirklich gelöst wor-
den?


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Bosnien! Gut, oder? Kosovo! Gut, oder?)






Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ich
als Geschäftsführerin einer Friedensorganisation gear-
beitet. Dabei habe ich gelernt: Wenn ich staatliche Mittel
für Friedensprojekte haben möchte, dann muss ich sehr
überzeugende Anträge stellen und vor allem begründen,
dass die Projekte innovativ und nachhaltig sind. Das
Ganze muss man evaluieren, um die Wirksamkeit zu be-
legen. Sonst gibt es kein Geld.

Großzügig sind Sie immer nur dann, wenn es um Mi-
litäreinsätze geht. Die Bundesregierung lässt sich diesen
Einsatz von 340 Soldaten jedes Jahr mehr als 100 Mil-
lionen Euro kosten. Das ist mehr als dreimal so viel, wie
Sie für alle 300 Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes,
die in 40 Ländern der Welt für Frieden und Versöhnung
arbeiten, insgesamt ausgeben.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Und wie viele Salamis kann man damit kaufen?)


Ihre militärfixierte Politik verschleudert aber nicht
nur Geld. Das Schlimme ist: Sie kostet auch Menschen-
leben. – Das ist wirklich ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Innovation und Nachhaltigkeit: Wo sind sie in diesem
Konzept? Sie greifen immer wieder zum gleichen un-
tauglichen Mittel, und wenn dieses Mittel keinen Erfolg
bringt, dann erhöhen Sie einfach die Dosis oder definie-
ren die Ziele so um, dass es nach Erfolg aussieht.

Ich habe im Antrag der Bundesregierung einen ganz
richtigen Satz gelesen. Er lautet:

Die nachhaltige Lösung des Piraterieproblems liegt
… in der nur langfristig zu erreichenden Stabilisie-
rung der Verhältnisse an Land.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich muss Sie wirklich fragen: Wie nachhaltig ist das,
was wir hier tun? Wie nachhaltig ist es, wenn Sie diesen
Einsatz Mal um Mal verlängern? Wir alle wissen näm-
lich: Es müsste eigentlich eine politische Lösung geben,
die nicht nur auf eine Bürgerkriegspartei setzt, sondern
alle Konfliktparteien, die lokalen Autoritäten und die Zi-
vilgesellschaft auch in politische Prozesse einbindet.


(Joachim Spatz [FDP]: Daran arbeiten wir ja!)


Tun Sie doch ein einziges Mal das, was Sie von jeder
kleinen Entwicklungsorganisation verlangen: Evaluieren
Sie diesen Einsatz!

Ich habe hier nur davon gehört, dass alles erfolgreich
ist. Natürlich ist die Zahl der Piratenangriffe zurückge-
gangen, aber auf die Frage, was die konkreten Ursachen
dafür sind, haben ja selbst die Minister zugegeben, dass
sie sich nicht sicher sind, woher das kommt.


(Zuruf von der FDP: Die Schiffe kommen durch, ohne dass sie angegriffen werden! Wenn das kein Erfolg ist! Unglaublich!)


Ist das wirklich eine Folge von Atalanta, oder hat das
vielleicht mit der veränderten Situation an Land oder mit
dem veränderten Umgang der Reedereien mit den Risi-
ken zu tun? Das müsste man doch durch unabhängige

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einmal or-
dentlich evaluieren, bevor man diesen Einsatz hier wie-
der verlängert.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
von den Grünen, Sie haben sich letztes Jahr mit teilweise
guten Argumenten gegen die Ausweitung des Mandates
auf das Festland gewandt. Ich hoffe, das haben Sie noch
nicht vergessen.

Die Linke war jedenfalls von Anfang an gegen diesen
Militäreinsatz,


(Zuruf von der FDP: Ihr seid gegen alles!)


und so wird es auch bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726600

Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von

Bündnis 90/Die Grünen.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ja! Alle meine Hoffnungen! Jetzt zieht wieder etwas Vernunft ein!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion hat dem Atalanta-Einsatz bis zum letzten
Jahr immer zugestimmt. Im Auftrag der UNO werden
die Schiffe des Welternährungsprogramms zur Versor-
gung der Bevölkerung gegen Piraten geschützt, und der
freie Zugang zur hohen See für die zivile Schifffahrt in
der Region wird gesichert. Das ist richtig. Das unterstüt-
zen wir ausdrücklich.

Aber letztes Jahr hat die Bundesregierung gravie-
rende Änderungen am Mandat vorgenommen.


(Zuruf von der FDP: „Gravierend“, so ein Quatsch“!)


Es war und ist hoch riskant, das Mandat auf Luft-Boden-
Operationen über dem Land auszuweiten, und zwar
2 Kilometer tief ins Landesinnere auf 3 000 Kilometer
Küstenlänge.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Geben Sie mal ein Beispiel!)


Das sei unbedingt notwendig, um die Piraterie erfolg-
reich zu bekämpfen, wurde gesagt. Da habe ich gedacht,
Herr Minister: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?

Wir alle wissen: Gerade bei Angriffen aus der Luft
drohen zivile Opfer. Das ist eine bittere Lehre der ver-
gangenen Jahre. Das muss nicht, aber könnte die Ge-
waltspirale weiter antreiben und eine politische Lösung
des Somalia-Konflikts erschweren.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist Spekulation!)


Solche Einsätze gehen natürlich einher mit zusätzlichen
Risiken für die Soldaten.





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)


Das Argument „Es ist bisher nicht passiert, es hat nur
einen Einsatz gegeben, und es wird auch weiter nichts
passieren“ überzeugt uns in doppelter Hinsicht leider
nicht.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Trotzdem spekulieren Sie!)


Dass es elf Monate keine entsprechenden Operationen
gab, heißt ja nicht, dass es sie in den nächsten Monaten
nicht geben wird oder nicht geben muss.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Könnte!)


Und umgekehrt: Die Tatsache, dass es kaum entspre-
chende Operationen gab, entkräftet ja Ihr Argument, die
Mandatsveränderung sei für eine erfolgreiche Bekämp-
fung der Piraterie unbedingt erforderlich gewesen. Das
ist ja dann offenkundig nicht so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen werde ich meiner Fraktion empfehlen, sich
bei der Abstimmung über die Verlängerung dieses Man-
dats wie letztes Jahr zu enthalten.


(Zuruf von der FDP: Eine kraftvolle Entscheidung!)


In den vergangenen Monaten haben wir eine zuneh-
mende Stabilisierung in Somalia erlebt. Die Piraterie ist
weiter zurückgegangen. Die Al-Schabab-Milizen wur-
den durch den Einsatz der Afrikanischen Union und ins-
besondere durch Kenia zurückgedrängt. Der politische
Prozess macht Fortschritte, wenn auch sehr kleine. Doch
es bleibt unklar, welche weiteren Schritte die Bundes-
regierung unternehmen will.

Wir haben im letzten Jahr einen Evaluierungsbericht
zum bisherigen Einsatz gefordert. Ein solcher Bericht
liegt wieder nicht vor. Dabei wäre das notwendig, um zu
sehen, welche Fortschritte oder auch Rückschritte es
gibt. Damit meine ich insbesondere den zivilen Bereich.
Wir brauchen eine intensive zivile Aufbauarbeit. Wir
brauchen einen Versöhnungsprozess, der lokale Füh-
rungseliten aus allen Landesteilen und die Zivilgesell-
schaft umfasst. Dazu gehört auch, die neue Regierung
unter Scheich Mahmud viel gezielter beim Wiederauf-
bau zu unterstützen. Die Weltbank macht es, der Interna-
tionale Währungsfonds auch, die Bundesregierung aber
leider nicht. Deswegen fordern wir von Ihnen: Füllen Sie
endlich Ihr eigenes Somalia-Konzept mit Leben, damit
die Menschen dort die Friedensdividende mehr spüren.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726700

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Herr Mißfelder, auf der Sachebene bleiben!)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1723726800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Als Herr Schmidt ans Rednerpult getreten
ist, habe ich zunächst einmal die Hoffnung gehabt, dass
er den eigenen Argumentationen im Ausschuss und an
anderer Stelle, etwa dort, wo sich die Grünen öffentlich
zu diesem Thema äußern, folgt und dann zu dem Schluss
kommt, diesem Mandat zustimmen zu können. All das,
was Sie als Konditionalität hier genannt haben, ist genau
das, worüber vorhin beide Minister gesprochen haben.
Nichts anderes hat die Bundesregierung hier getan, als
die Fortschritte im Rahmen dieser Mission zu beleuch-
ten.

Ich wiederhole, worum wir gemeinsam mit unserer
Regierung bei jeder Mandatsverlängerung bitten: Wir er-
klären, dass wir davon überzeugt sind, dass eine rein mi-
litärische Lösung nie von Dauer sein kann. Vielmehr
sind wir davon überzeugt, dass militärische Komponen-
ten Teil einer Lösung sind. Auch deshalb widerspreche
ich der Linkspartei, die hier sehr engagiert eine Totalab-
lehnung vorgetragen hat. Gerade das Beispiel Atalanta
zeigt doch, wie hoch die Akzeptanz innerhalb der deut-
schen Bevölkerung ist, wenn eine Mission nachhaltig er-
folgreich ist


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und wenn sie in einen größeren politischen Rahmen ein-
gebettet ist, wie ihn Herr Schmidt von uns hier so enga-
giert eingefordert hat. Es ist doch in der Tat so, dass wir
– nicht nur, was den bemerkenswerten Einsatz der Sol-
datinnen und Soldaten angeht, sondern auch, was die Ent-
wicklungshelfer und das diplomatische Korps angeht –
alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen,
um Somalia in dieser schwierigen Phase zu unterstützen.

Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie, Herr
Schmidt – Sie haben am Ende gar keine Meinung geäu-
ßert; denn Enthaltung ist gar keine Meinung –: Geben
Sie bitte im Verlauf der Ausschussberatungen Ihrem
Herzen noch einmal einen Ruck und folgen Sie unserer
Argumentation. Wir sind ja auch gerne bereit, noch wei-
ter mit Ihnen zu diskutieren und dies auch öffentlich zu
tun; das machen wir ja bei vielen Gelegenheiten. Aber
Ihre Enthaltung an dieser Stelle kann ich nicht nachvoll-
ziehen. Da empfinde ich es fast schon als konsequenter,
was die Fraktion die Linke macht, die sich hier wie bei
allen Mandaten verantwortungslos zeigt und sich dabei
in ideologischen Widersprüchen verheddert.

Was ich allerdings am wenigsten verstehe, Frau
Evers-Meyer, ist Folgendes: Sie hatten ja hier sehr groß
vorgetragen, dass Sie von uns die Trennung der Mandate
einfordern.


(Karin Evers-Meyer [SPD]: Ja!)


Es ist zu offensichtlich – Minister de Maizière hat es ja
auch angesprochen –, dass Ihr jetziges Verhalten mit
dem Wahltermin zusammenhängt;


(Rainer Arnold [SPD]: Na, na, na!)


denn Sie verabschieden sich hier aus einem Mandat, das
wir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben


(Karin Evers-Meyer [SPD]: Um drei Schiffe zu zerstören, brauchen Sie ein Mandat?)






Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


und das aus Ihren eigenen Reihen – leider sehe ich Herrn
Kollegen Bartels gerade nicht – ja sogar gelobt wird.
Kollege Bartels lobt nicht das Mandat der Vergangen-
heit, vielmehr fand ich als aufmerksamer Leser der
Kieler Nachrichten vom 16. Januar dieses Jahres Fol-
gendes – ich lese Ihnen das vor; ich kann Ihnen das nicht
ersparen –: Für besonders erfolgreich hält Bartels auch
die laufenden Marine-Missionen. Der Anti-Piraten-
Einsatz „Atalanta“ vor der somalischen Küste sei zu Be-
ginn belächelt worden. Doch nach und nach sei es gelun-
gen, den Piraten das Kaper-Geschäft deutlich zu er-
schweren: durch gesicherte Korridore für Handelsschiffe
und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen der Reeder. In
der Folge sind die Angriffe drastisch zurückgegangen.
2012 konnten die Piraten nur noch fünf Schiffe in ihre
Gewalt bringen – nach 25 im Vorjahr.

Wenn das Ihre Expertise dazu ist, dann verstehe ich
nicht, warum die SPD hier dem Mandat nicht zustimmen
will;


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


denn Herr Bartels hat recht mit dem, was er gesagt hat,
und er spricht hier deutlich von dem aktuellen Mandat
und von nichts anderem.


(Abg. Rainer Arnold [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Ich lasse die Zwischenfrage von Herrn Arnold natür-
lich gern zu; darauf freue ich mich.


(Rainer Arnold [SPD]: Das kann nur der Herr Präsident erlauben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723726900

Ja, bitte schön.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1723727000

Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie

unsere Kollegen immer so gerne zitieren.

Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass all das, was Sie vor-
gelesen haben, ausschließlich mit der Aufgabe der Bun-
deswehr auf See zu tun hat? All das, was Sie vorgelesen
haben, hat die Bundeswehr auf See erledigt.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1723727100

Nein, stimmt ja gar nicht!


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1723727200

Zweitens. Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass der

entscheidende Faktor für den Erfolg der Mission neben
dem großen Engagement der Streitkräfte – das ist wirk-
lich wichtig – die Sicherheitsmaßnahmen der Reeder an
Bord sind? Ist Ihnen bekannt, dass kein einziges Schiff
mehr gekapert wurde, auf dem bewaffnete Sicherheits-
kräfte waren? Deshalb müssen wir auch darüber reden.

Ich stelle eine dritte Frage, Herr Kollege. Man kann ja
darüber reden, was an Land Sinn macht oder nicht. Aber
wenn wir etwas mandatieren, dann muss es doch Sinn
machen.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Macht es ja auch!)


Ist Ihnen bekannt, dass es in der ganzen Zeit nur ein er-
kanntes sogenanntes Piratencamp am Strand gab? Ist es
Ihnen ein Mandat wert, drei kleine Boote und eine Hand-
voll Außenborder zu zerstören?


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Deshalb wollten wir es ja nicht trennen!)


Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass überhaupt kein
Piratengerödel am Strand liegt, weder vorher noch nach-
her, das bekämpft werden konnte und bekämpft werden
kann, sondern dass die Piraten vor und nach Ihrer
Mandatserweiterung immer alles aus den Dörfern heran-
geschleppt und sofort auf die größeren Schiffe hinausge-
bracht haben?

Das heißt, Herr Kollege: Müssen wir etwas mandatie-
ren, was so marginal ist? Ich glaube, dazu sind unsere
Mandate zu ernsthaft. Darum geht es uns im Kern,


(Zurufe von der CDU/CSU)


um genau das, was Ihr Minister gesagt hat.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723727300

Herr Kollege Arnold!


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1723727400

Ich bin fertig. – Das ist also genau das, was Ihr Minis-

ter gesagt hat: eine Nummer kleiner bei Ihrer Erweite-
rung.


(Karin Evers-Meyer [SPD]: Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723727500

Bleiben Sie bitte stehen, Herr Arnold?


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1723727600

Das Adenauer-Zitat muss Sie sehr getroffen haben,

Frau Evers-Meyer, nicht wahr? Aber Adenauer kann
man immer gut zitieren. Wir präsentieren Ihnen bei einer
der nächsten Debatten noch ein paar Zitate.

Ich habe Ihnen dazu nur Folgendes zu sagen, Herr
Arnold: Wir glauben und sind der festen Überzeugung
– ansonsten hätten wir es ja hier gar nicht so eingebracht –,
dass beide Komponenten zusammengehören. Wir sind
davon überzeugt – Sie können das gerne anders sehen –,
dass die Erweiterung des Mandats dazu beigetragen hat,
dass sich die Piraten um ihrer eigenen Sicherheit willen
defensiver verhalten. Wir würden es bedauern – das fän-
den wir nicht gut –, wenn die Zahl der Zwischenfälle ge-
stiegen wäre. Wir sagen: Die Wirksamkeit eines Man-
dats macht sich auch daran fest – das haben wir übrigens
auch bei anderen Missionen schon diskutiert –, dass die
Zahl der Zwischenfälle sinkt. Dies darf unter militäri-
schen Gesichtspunkten nicht außer Acht gelassen wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


Wie gesagt, ich habe Herrn Bartels deshalb zitiert, weil
er sich auf das Mandat als Ganzes bezieht und hier keine
Differenzierung macht. Das gibt das Zitat eindeutig her,
und auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.

Wir werben dafür – damit beantworte ich Ihre Frage
ganz klar –, im Rahmen dieses Mandats die Piraten an
diesem Küstenstreifen auch logistisch zu bekämpfen.

Ein Detail: Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir
die Erweiterung des Mandats in unserer eigenen Frak-
tion kritisch begleitet haben. Ich habe damals an einer
Unterrichtung teilgenommen, die inhaltlich nicht dem
entspricht, was Sie in Ihrer Frage 2 oder 3 an mich be-
hauptet haben. Vielleicht haben wir an unterschiedlichen
Unterrichtungen teilgenommen. Aber ich habe das an-
ders in Erinnerung und widerspreche Ihnen deshalb in
diesem Punkt.

Ich bin der Meinung, dass wir das politische Engage-
ment für Somalia bzw. für ganz Afrika – das soll mein
abschließender Punkt sein – fortsetzen sollten. Wenn
hier im Plenum nur schlaglichtartig über einzelne Man-
date oder einzelne Aktivitäten in Afrika diskutiert wird,
dann ist das bedauerlich. Dass ausgerechnet heute
Abend so viele Kolleginnen und Kollegen da sind, finde
ich eine erfreuliche Tatsache.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Vor allem bei der Union!)


Sie zeigt aber auch, dass wir unser Engagement in
Afrika auch dann, wenn es um nichtmilitärische Maß-
nahmen geht, genauso eifrig angehen müssen.

Ich bin deshalb der Meinung, dass die Afrika-Politik
insgesamt einen größeren Stellenwert verdient hat. Un-
ser Kollege Hartwig Fischer, der sich auf diesem Gebiet
in den vergangenen Jahren sehr viel Ruhm erarbeitet hat,
macht immer wieder deutlich, dass wir uns dann, wenn
wir in Afrika nachhaltig erfolgreich sein wollen, dauer-
haft verpflichten müssen. Deshalb ist ein militärischer
Beitrag, der zeitlich begrenzt ist und der mit einem dau-
erhaften Engagement im Idealfall wenig zu tun hat, nur
eine Komponente.

Ich bin Minister Westerwelle außerordentlich dank-
bar, dass er in die Debatte die politische Dimension
eingebracht hat, um so unser großes außenpolitisches
Engagement für Somalia zu begleiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723727700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13111 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Michael Groß, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Konsens für eine moderne Infrastruktur – Die
Bundesverkehrswege solide finanzieren

– Drucksache 17/13191 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1723727800

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Infra-
struktur verfällt. Die Industriebosse in Deutschland ha-
ben Angst davor, den großen Standortvorteil, den wir
hatten, zu verspielen. Ich glaube, das ist nach vier Jahren
kein gutes Zeugnis für die schwarz-gelbe Regierung,
ausgestellt von einer Gruppe, die eher Ihnen zugerechnet
wird.

In dem Bericht der Kommission „Zukunft der Ver-
kehrsinfrastrukturfinanzierung“ wird ebenso die Sorge
um den Wirtschaftsstandort Deutschland zum Ausdruck
gebracht. Es ist genau diese Daehre-Kommission, die ei-
nen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von jährlich
7,2 Milliarden Euro für die Straße, die Schiene und die
Wasserstraßen sieht. Auch das ist nach vier Jahren kein
gutes Fazit für die Regierung. Es geht aber nicht nur um
Arbeitsplätze, Güterverkehre und Logistik, sondern auch
um die Lebensqualität in Deutschland, bezahlbare Mobi-
lität, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Die Akzeptanz
von Infrastrukturvorhaben wird letztendlich vom Nutzen
und von der Belastung der Menschen in diesem Land ab-
hängen. Der Schutz vor Verkehrslärm beispielsweise ist
enorm relevant, wenn es darum geht, ob wir die Infra-
struktur wie das Straßen- und das Schienennetz weiter
ausbauen können. Sie haben aber weder beim Klima-
schutz noch beim Verkehrslärm noch bei der Barriere-
freiheit etwas erreicht. Wir sehen hier eher Rückschritte
statt Fortschritte.


(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!)


Sie werden mir recht geben, dass NRW eine große
Verkehrsdrehscheibe in Deutschland ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)


Aus gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Gründen brauchen wir gerade in Nordrhein-Westfalen
eine funktions- und leistungsfähige Infrastruktur aus
Straßen und Brücken; sonst sind Auswirkungen auf die
gesamte Bundesrepublik und die angrenzenden Länder
zu spüren. NRW darf nicht zum Nadelöhr der Bundesre-
publik werden. Sonst muss demnächst bei den Progno-
sen ein Elefant durch das Nadelöhr. Das gilt es zu ver-
hindern.

Von den 8,6 Milliarden Euro im Investitionsrahmen-
plan der Bundesregierung für den Neu- und Ausbau von
Schienenwegen soll NRW bis 2015 sage und schreibe
2 Prozent erhalten. Das sind circa 170 Millionen Euro.
So wenig wie noch nie! Das wird dem Bedarf nicht ge-
recht. Von den bundesweit rund 7 Milliarden Euro Bun-
desregionalisierungsmitteln erhält NRW etwa 16 Pro-
zent. Das ist viel zu wenig.

Die SPD-Fraktion hat seit drei Jahren Dialoge geführt
und einen Infrastrukturkonsens erarbeitet. Die Ergeb-
nisse dieses Konsenses sind in unserem Antrag zusam-
mengefasst, der Ihnen heute vorliegt. Wir wollen we-
sentlich mehr Geld in die Infrastruktur stecken, und zwar
zusätzlich circa 2 Milliarden Euro jährlich. Wir brau-
chen ein Programm zur Sanierung der Bundesautobah-
nen mit dem Schwerpunkt Autobahnbrücken. Wir for-
dern ein nationales Verkehrswegeprogramm mit einer
klaren Priorisierung und der Beseitigung von Engpässen,
Knoten und Staus.


(Beifall bei der SPD)


Die Finanzierung muss überjährig für fünf Jahre fixiert
werden, um Planungssicherheit herzustellen. Außerdem
brauchen wir eine verkehrsträgerübergreifende Netzpla-
nung.

Wir brauchen einen verkehrsträgerübergreifenden
Finanzierungskreislauf und dürfen die Kommunen nicht
alleinlassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt Städte, die im nächsten Jahr nur zwei Straßen sa-
nieren können, obwohl sie 21 sanieren müssten. Die
Bürger müssen in ihren Autos mit 10 Kilometern pro
Stunde über die Straßen fahren, weil Sie die Kommunen
alleinlassen, sie nicht unterstützen. Sie sorgen letztend-
lich dafür, dass die Menschen keine Lebensqualität mehr
in den Städten haben.

Herzlichen Dank. Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723727900

Das Wort hat der Kollege Reinhold Sendker von der

CDU/CSU-Fraktion.


Reinhold Sendker (CDU):
Rede ID: ID1723728000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

vorliegende SPD-Antrag proklamiert nicht wirklich viel
Neues. In der Forderungsliste befinden sich Positionen,

die schon vorher bekannt waren. Etliches ist durch die
Koalition längst auf den Weg gebracht worden.


(Gustav Herzog [SPD]: Bei Ihnen dauert alles so lange!)


Im Blickpunkt des Antrags Ihrer Fraktion, Herr Kol-
lege Groß, steht die Forderung nach zusätzlich 2 Milliar-
den Euro für die Verkehrsinfrastruktur.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ihr Minister doch auch! Der ist gar nicht da!)


Ja, wir benötigen dringend mehr Mittel für den Erhalt
sowie für den Aus- und Neubau der Verkehrsanlagen.
2012 und 2013 haben die Koalitionsfraktionen mit den
Investitionsbeschleunigungsprogrammen I und II fast
2 Milliarden Euro zusätzlich erreichen können. Ich füge
dem hinzu: Vor dem Hintergrund und den Ansprüchen
einer erfolgreichen Haushaltskonsolidierung ist dies ein
klarer Erfolg der Koalition und des Ministers, der dafür
sehr erfolgreich gestritten hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Mäßiger Beifall bei der Koalition!)


Sie sprechen den Substanzerhalt an und fordern Prio-
rität für den Erhalt vor Aus- und Neubau mit Blick auf
Brückenbauwerke und insbesondere mit Blick auf Auto-
bahnbrücken. In dieser Legislaturperiode hat die christ-
lich-liberale Koalition dem Erhalt in der Infrastruktur-
finanzierung ganz klar Vorrang eingeräumt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das glauben Sie doch nicht einmal selber!)


Der Löwenanteil der Haushaltsmittel – hören Sie gut
zu! – wird mittlerweile für die Erhaltungsinvestitionen
verwandt;


(Johannes Kahrs [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)


bei den Bundesfernstraßen sind es in 2013 2,5 Milliar-
den Euro. Darunter ist aktuell bei Brücken und Tunneln
ein Bedarf von 830 Millionen Euro angezeigt, in den
nächsten Jahren von 1 Milliarde Euro. Allein diese Zah-
len unterstreichen: Die Grunderneuerungen sind unaus-
weichlich; Erhalt hat Priorität vor Neubau. Da sind wir
uns einig, und da werden wir auch Kurs halten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Mäßiger Beifall!)


Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,
LuFV, hat unser Minister gestern im Verkehrsausschuss
im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Brücken,
Tunneln und Bahnhöfen klar Stellung bezogen. Auch die
Instandsetzung von Schleusen steht längst auf der
Agenda.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber Sie wollten es nicht! Wir haben Sie genötigt! Sie konnten es nicht! Sie können es bis heute nicht!)


Allein die Finanzmittel, die im Investitionsbeschleuni-
gungsprogramm II für die Bundeswasserstraßen vor-





Reinhold Sendker


(A) (C)



(D)(B)


gesehen sind, fließen zu 54 Prozent – das sollten Sie
festhalten – in dringende Erhaltungsmaßnahmen, zu
16 Prozent in die Verstärkung laufender Ausbau- und
Neubaumaßnahmen und zu 30 Prozent in wichtige Neu-
beginne. Aber gerade die Erhaltungsinvestitionen – das
lassen Sie mich hier bemerken –


(Johannes Kahrs [SPD]: Kürzen Sie an jeder Kurve!)


setzen Bestandsaufnahme und teils zeitaufwendige tech-
nische Untersuchungen voraus. Insofern sind zeitliche
Verzögerungen nicht unbedingt kritikwürdig.

Kritikfähig hingegen ist, dass in früheren Wahlperio-
den – lassen Sie uns auch davon einmal sprechen –


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


unter den SPD-Verkehrsministern eindeutig zu wenig im
Bereich der Instandhaltung investiert worden ist. Hier
liegen die Versäumnisse.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die SPD fordert in ihrem Antrag ferner, die infra-
strukturellen Voraussetzungen für den Deutschland-Takt
auf der Schiene zu schaffen. Auch dieser Ansatz befin-
det sich bereits in der gutachterlichen Prüfung, wenn-
gleich er nach dem Schweizer Modell wohl kaum in
Deutschland umsetzbar ist.

Die Kapazität des Schienennetzes für den Güterver-
kehr wollen Sie bis 2030 verdoppeln. Einerseits, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, fordern Sie
Vorrang für die Erhaltungsinvestitionen und viel Geld,
was aber den Spielraum für die Neu- und Ausbauinvesti-
tionen weiter deutlich verringert, andererseits wollen Sie
hier verdoppeln. Wie Sie das machen wollen, bleibt
wohl Ihr Geheimnis. Ich stelle fest: Wirklich seriös ist
das nicht.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das glaubt hier offensichtlich keiner!)


Wenn Sie schließlich das Instrument des Finanzie-
rungskreislaufs ansprechen, dann verweise ich auch bei
diesem Punkt darauf, dass wir es längst geschaffen ha-
ben. Besonders der Finanzierungskreislauf Straße hat zu
Recht viel Lob erfahren. Im Gegensatz zu dem von Ih-
nen geforderten verkehrsträgerübergreifenden Finanzie-
rungskreislauf leisten die Kreisläufe Schiene und Straße
mehr Transparenz und verdeutlichen vor allem den Be-
darf des einzelnen Verkehrsträgers. Transparenz in der
Mittelverwendung und Transparenz beim Mittelbedarf –
das ist zielführend, und dieser Weg ist richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Groß [SPD]: Wie sollen denn die Wasserwege finanziert werden?)


In Ihrem Antrag geben Sie an, auch die Erschließung
der Fläche nicht zu vernachlässigen. Das beantragen Sie
hier in Berlin. Lassen Sie mich, Herr Kollege Groß, ein-
mal vom Landtag von Nordrhein-Westfalen reden. Dort,
wo Sie regieren, erhalten wichtige Umgehungsstraßen-
projekte in ländlicher Region keine Planungspriorisie-

rung. Das passt nun gar nicht zusammen; da sind Sie
schlicht unglaubwürdig. Ich darf feststellen, dass auch in
dieser Beziehung der Antrag nicht gelungen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Dann sollten Sie den Antrag mal lesen! Lesen bildet! Denken hilft!)


Also: alles in allem wenig Neues im Antrag der SPD.
Er gibt uns aber Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass
die Koalition in der Schaffung moderner Infrastruktur in
dieser Wahlperiode


(Johannes Kahrs [SPD]: Versagt hat!)


auf gutem Wege ist. Wir werden in Deutschland – lassen
Sie mich das abschließend feststellen –


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist schon mal gut!)


als starkem Logistikstandort, als Transitland und als
Wachstumslokomotive in Europa dank der christlich-li-
beralen Koalition vor allem bei den Güterverkehren
noch enorme Zuwächse zu verkraften haben. Dazu müs-
sen wir das Verkehrsnetz insgesamt ertüchtigen. Diese
Herausforderung – eine große Herausforderung – ist
auch in der nächsten Wahlperiode bei der christlich-libe-
ralen Koalition in guten Händen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723728100

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine

Leidig das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723728200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,

insbesondere von der SPD, wir Linke haben zu Beginn
und nicht zum Ende dieser Wahlperiode bereits einen
umfassenden Antrag eingebracht und die grundlegende
Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik verlangt,
und zwar für Klima- und Umweltschutz, für Barriere-
freiheit, für soziale Gerechtigkeit und für neue Arbeits-
plätze.

Es gibt tatsächlich einige Parallelen zu dem, was die
SPD-Kollegen hier fordern. Vor allem der Ausbau der
Schiene und das Ziel, die Bahn in der Fläche so zu ent-
wickeln, dass Deutschland-Takt funktioniert, gehören
dazu.


(Beifall bei der LINKEN)


Dies gilt auch für den Vorschlag, die Lkw-Maut auszu-
weiten. Wir haben vor zwei Jahren beantragt, dass sie
auf das gesamte Straßennetz ausgedehnt und in der Höhe
angehoben wird, wie in der Schweiz. Also: Einverstan-
den!

Sie wollen den Schutz vor Verkehrslärm deutlich ver-
bessern. Das wollen wir auch. Deshalb hatten wir im No-
vember letzten Jahres in einem Antrag gefordert, dass





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


alle Menschen gleichermaßen vor Verkehrslärm ge-
schützt werden müssen - egal ob sie an Straßen, an Gü-
terzugtrassen oder unterhalb der Einflugschneisen von
Flughäfen wohnen. Das soll nicht nur gelten, wenn Stre-
cken neu gebaut werden. Es geht um die Gesundheit und
das Wohlbefinden von Hunderttausenden, die schon
heute unter Verkehrslärm leiden. Wir verlangen, dass in
zehn Jahren an allen bestehenden Strecken Lärmschutz
verwirklicht ist und die lautesten Abschnitte in den
nächsten fünf Jahren saniert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die SPD hat übrigens mit den Koalitionsfraktionen ge-
gen diesen Antrag gestimmt. Das finde ich sehr schade.
Aber das ist nicht der einzige Punkt, den ich hier kritisch
anmerken will.

Klar, was Sie hier vorstellen, ist mit Abstand sinnvol-
ler als die Verkehrspolitik aus dem Hause Ramsauer.
Aber das ist auch nicht schwer.


(Beifall des Abg. Johannes Kahrs [SPD] – Johannes Kahrs [SPD]: Das stimmt!)


Es gibt allerdings berechtigte Zweifel an der Glaubwür-
digkeit. Immerhin – darauf wurde gerade verwiesen –
hat die SPD elf Jahre lang die Verkehrsminister gestellt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Genau! Gute Politik!)


Die A-Modelle, also die Privatisierung von Autobahnen,
sind zum Beispiel auf Ihrem Mist gewachsen.

Sie fordern in Ihrem Antrag den Vorrang für die
Schiene. Fehlanzeige! 2001 hat Ihr Verkehrsminister
Bodewig stolz verkündet, dass die Bundesregierung die
Ausgaben für den Straßenbau auf Rekordniveau erhöht
hat. Das war übrigens unmittelbar nach dem Klimagip-
fel. In der mittelfristigen Finanzplanung der zweiten
Schröder-Regierung sind die Straßenbaumittel gegen-
über 2003 auf 4,9 Milliarden Euro erhöht, die Investitio-
nen in die Schiene dagegen um 10 Prozent auf 4 Milliar-
den Euro gekürzt worden. Das ist wirklich skandalös.

In einem Kabinettsbeschluss vom August 2000 hat
sich die damalige Regierung aus SPD und Grünen übri-
gens für einen massiven Ausbau der deutschen Flughä-
fen ausgesprochen, um eine Verdopplung des Flugver-
kehrs bis 2015 zu ermöglichen. Tatsächlich ist diese
hoch subventionierte und umweltschädlichste Verkehrs-
art seither um über 50 Prozent gewachsen. Dazu schrei-
ben Sie kein einziges Wort. Aber wir brauchen eine
Wende auch in der Flugverkehrspolitik. Rund ein Viertel
aller Flüge könnte relativ zügig auf die Bahn verlagert
werden. Genau das fordern wir mit unserem Konzept,
dazu ein ausreichendes Nachtflugverbot von 22 bis
6 Uhr mindestens und die Deckelung der Zahl der Flug-
bewegungen. Außerdem müssen endlich die direkten
und indirekten Subventionen abgeschafft werden. Dann
wäre auch mehr Geld da, zum Beispiel für ordentliche
Fahrradwege. Auch dazu, werte Kollegen von der SPD,
schreiben Sie kein Wort. Wer mit dem Fahrrad oder gar
zu Fuß unterwegs ist, kommt in Ihrem Verkehrsinvesti-
tionskonzept gar nicht vor. Dabei werden die meisten al-
ler Wege nicht motorisiert zurückgelegt.

Wie der Teufel das Weihwasser scheuen Sie den Be-
griff der Verkehrsvermeidung. Damit sind Sie ganz beim
Bundesverband der Deutschen Industrie. Der will näm-
lich mehr öffentliche Mittel für Lärmschutz – das hat der
Kollege Sendker gerade ausgeführt –, damit die Akzep-
tanz für noch mehr Lkws und noch mehr Flugzeuge
steigt. Aber auf keinen Fall soll darüber geredet werden,
wie man Wohlstand mit weniger Güterverkehr organisie-
ren kann. Genau das aber ist unser Ansatz.


(Gustav Herzog [SPD]: Sie wollen weniger Wohlstand organisieren!)


Verkehr ist keine Leistung, auf die man stolz sein sollte;
Verkehr ist Aufwand, den man möglichst gering halten
sollte, und vor allem ist er eine zunehmend unverant-
wortliche Last für Menschen und Natur. Davon ist in Ih-
rem Antrag leider nichts zu erkennen. Ich sage Ihnen:
Hier ist die Linke weiter. Wir wollen Mobilität für alle
mit weniger Verkehr.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wie soll das gehen?)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723728300

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Oliver

Luksic das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1723728400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mobilität ist Ausdruck von Lebensqualität und wichtiger
Baustein für Wirtschaftswachstum. Ja, trotz vielfältiger
Bemühungen haben wir in der Tat Bedarf, hier noch ein
Stück mehr zu tun. Kollege Groß, Sie haben ein Zerrbild
der Realität dargestellt, beispielsweise in den Ländern,
in denen Sie mit den Grünen regieren, etwa in Rhein-
land-Pfalz. Was passiert denn da bei der Infrastruktur?
Die A 1 – der Kollege Schnieder hat mehrfach darauf
hingewiesen – soll nicht ausgebaut werden.


(Gustav Herzog [SPD]: Der erzählt doch dummes Zeug!)


Die SPD hat ein bisschen Asphaltallergie. Insofern: Hal-
ten Sie sich mit Ihrer Kritik da mal ein bisschen zurück!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben in der Tat mehr Bedarf. Deswegen werden
wir in der nächsten Wahlperiode mit dieser Koalition zu-
sätzliche Anstrengungen unternehmen müssen. Wir
brauchen geschlossene Finanzierungskreisläufe für
Straße und Schiene.

Bei der Schiene – Kollege Groß hat es angesprochen –
haben wir die Leistungs- und Finanzierungsvereinba-
rung, die wir in dieser Woche diskutiert haben. Es ist so,
dass nicht alle Gelder, die vorgesehen sind, von der Bahn
auch verbaut werden. Insofern gibt es hier ein Stück weit
Nachholbedarf.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723728500

Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischen-

frage? – Bitte schön.


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1723728600

Herr Kollege Luksic, nachdem Sie Rheinland-Pfalz

erwähnt haben und Ihrem CDU-Generalsekretär in
Rheinland-Pfalz offenbar auf den Leim gegangen sind,
frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Koalition in Rheinland-Pfalz klar politisch be-
schlossen hat, dass der Lückenschluss der A 1 zum Bun-
desverkehrswegeplan angemeldet wird?


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das ist Konjunktiv!)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1723728700

Lieber Kollege Herzog, ich glaube, die Kollegen der

Grünen in Rheinland-Pfalz sehen das massiv anders.


(Gustav Herzog [SPD]: Der Beschluss der Regierung ist klar!)


Alle Verlautbarungen dort besagen doch, dass das für die
Landesregierung keine Priorität hat. So ist es auch in
zahlreichen anderen Bundesländern: in Baden-Württem-
berg das Gleiche, in NRW auch.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht! In Baden-Württemberg ist alles angemeldet! Wie kommen Sie denn auf eine solche Idee? Erzählen Sie nicht solche Geschichten! Nur weil Sie kein Geld zur Verfügung stellen! Das ist die Wahrheit! Das ist doch unglaublich!)


Dort, wo Sie mit den Grünen zusammen regieren – der
Kollege Kühn wird es Ihnen nachher noch einmal sagen –,
wollen Sie die Infrastruktur nicht ausbauen. Deswegen
ist das, was die CDU in Rheinland-Pfalz gesagt hat, ab-
solut richtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


– Die Aufregung zeigt, dass da offenbar ein wunder
Punkt getroffen wurde.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wenn Sie hier ein solches Zeug erzählen, lade ich Sie mal ein! Dann können Sie das erzählen! Das ist unglaublich!)


Zum Thema Schiene. Nehmen Sie einmal zur Kennt-
nis, dass die Bahn nicht alle vorhandenen Mittel ausge-
nutzt hat! Deswegen ist es gut und richtig, dass die Bun-
desregierung jetzt vorschlägt, 500 Millionen Euro
zusätzlich für Bahnhöfe und Brücken auszugeben.


(René Röspel [SPD]: Zusätzlich?)


Es ist ein gutes Programm, das wir jetzt auf den Weg
bringen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir sehen es anders als Sie, was das Thema der zu-
sätzlichen Belastung angeht. Sie wollen in Ihrem Antrag

unter die 12-Tonnen-Grenze gehen. Sie wollen die Aus-
dehnung der Maut auf Landes- und Kommunalstraßen.
Unsere Befürchtung ist, dass das, was Sie vorschlagen,
insbesondere das Handwerk und den Mittelstand trifft.


(Johannes Kahrs [SPD]: Stimmt, Sie waren ja für die Pkw-Maut! Ich erinnere mich! Ihr seid doch alle für die Pkw-Maut!)


Deswegen sind wir dagegen, da bis auf 3,5 Tonnen he-
runterzugehen. Das ist der falsche Ansatz.

Die Daehre-Kommission hat die Daten vorgelegt; das
ist gut und richtig. Das ist eine wichtige Handreichung
für die Kollegen in Bund und Land. Wir, die Verkehrs-
politiker aller Fraktionen, sind uns völlig einig, dass wir
stärker dafür werben müssen, dass die Infrastruktur als
Standortfaktor wahrgenommen wird.


(Johannes Kahrs [SPD]: Warum machen Sie das dann nicht?)


Die Bodewig-Kommission wird hier mit Sicherheit wei-
ter in die richtige Richtung arbeiten.


(Michael Groß [SPD]: Bodewig ist SPD!)


Entscheidend ist die Planungssicherheit. Herr Groß,
Sie sagen, dass wir mehr Geld für die Infrastruktur brau-
chen; das teilen wir. Kollege Sendker hat aber absolut zu
Recht darauf hingewiesen, dass in der mittelfristigen
Planung von Herrn Steinbrück die Mittel für die Ver-
kehrsinvestitionen noch niedriger waren.


(Gustav Herzog [SPD]: Beschimpfen Sie nicht Ihren Koalitionspartner!)


9,4 Milliarden Euro waren damals vorgesehen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Die Große Koalition hat auch ungefähr in dem Rahmen
geplant.


(Johannes Kahrs [SPD]: Jetzt seien Sie mal nett zur CDU!)


Wir haben das Ganze jetzt auf 10 Milliarden Euro er-
höht, zusätzlich 1 Milliarde Euro und 750 Millionen
Euro in diesem Jahr sozusagen auf den Tisch gelegt.
Klar ist: Immer dann, wenn Sie in der Verantwortung
waren, haben Sie durch Steuererhöhungen belastet, aber
die Verkehrsinvestitionen zurückgefahren. Das gehört
zur Wahrheit dazu.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Bei Ihrer Rede ist noch nicht mal der Minister da! So schlecht ist die!)


Sie planen in der Tat eine Reihe von Steuererhöhun-
gen. Ob davon etwas bei der Infrastruktur ankommt, da
haben wir wirklich große Fragezeichen zu setzen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das merkt man! Ihre Rede ist ein einziges Fragezeichen!)


Völlig klar ist, Kollege Kahrs, dass das, was Sie uns vor-
schlagen, wirklich wenig Substanz hat.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ich würde das mal lesen! Lesen bildet! Denken hilft!)






Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)


Sie haben während Ihrer eigenen Verantwortung weniger
Geld ausgegeben. Insofern sind Sie da leider wenig
glaubwürdig. Ich erinnere beispielsweise an die Maut-
lüge. Insofern hat die SPD während ihrer Verantwortung
den Stau, den sie jetzt beklagt, mit verursacht.

Es ist festzuhalten, dass diese Koalition in dieser Le-
gislatur einiges vorangebracht hat: lärmabhängige Tras-
senpreise, Schienenbonus, Eisenbahnregulierungsgesetz,
VZR-Reform, NABEG, Reform der WSV,


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Reform der WSV ist misslungen!)


BF17, Liberalisierung des Fernbusverkehrs, Planungs-
vereinfachung. Das ist wirklich eine beachtliche Bilanz,
die wir vorlegen können.

Der Investitionshaushalt ist gestiegen. Wir haben zu-
sammen mit dem Bundesverkehrsministerium zusätzli-
che Gelder erstritten, trotz der Sparbeschlüsse.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Worüber reden Sie eigentlich?)


Wir haben auf der einen Seite konsolidiert, und auf der
anderen Seite wurden die Investitionen angehoben. Wir
können sagen, dass wir in Deutschland vier gute Jahre in
der Verkehrspolitik hatten und weitere vier gute Jahre
haben werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723728800

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege

Stephan Kühn das Wort.


(Zuruf von der FDP: Jetzt kommen vier schlechte Minuten für Deutschland! – Gegenruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Hochmut kommt vor dem Fall!)



Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723728900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Als Industrieland sind wir auf hochwertige
Verkehrsnetze angewiesen. Angesichts knapper Staats-
finanzen müssen wir aber klug investieren und die Infra-
struktur klug anpassen und ausbauen. Deshalb ist es
wichtig und richtig, dass wir heute hier zusammensitzen.
Allerdings stelle ich fest, dass hier fast nur Verkehrspoli-
tiker sind und wenige Haushaltspolitiker; die sollten aber
eigentlich auch an der Debatte beteiligt sein.

Der Abschlussbericht der Daehre-Kommission zeigt
die Baustellen in der Infrastrukturpolitik, die wir in der
nächsten Legislaturperiode anpacken müssen. Auch die
Erhaltungsbedarfsprognose für das Bundesfernstraßen-
netz offenbart einen stark ansteigenden Bedarf für den
Erhalt in Höhe von jährlich 3,7 Milliarden Euro. Derzeit
werden jährlich nur 2,5 Milliarden Euro für den Erhalt
aufgebracht. Die Ursache für den Nachholbedarf ist die
sträfliche Vernachlässigung des Substanzerhalts durch
eine auf Neubau fixierte Politik der Spatenstiche gerade
dieser Bundesregierung. Das sogenannte Infrastruktur-

beschleunigungsprogramm von Verkehrsminister Peter
Ramsauer, die sogenannte Zusatzdreiviertelmilliarde im
Haushalt, ist genau das: ein Spatenstichprogramm. Der
Straßenneubau geht zulasten des Substanzerhalts. Be-
reits jetzt fehlen für die laufenden Projekte über 2 Mil-
liarden Euro. Sie beginnen neue Projekte, obwohl Ihnen
das Geld fehlt und die Finanzierung der Projekte nicht
gesichert ist. „Erhalt vor Neubau“ bleibt oft ein Lippen-
bekenntnis. Jedes Jahr findet eine Zweckentfremdung
von Bundesmitteln statt, die eigentlich für den Erhalt
vorgesehen sind, aber in Neubauprojekte gesteckt wer-
den, gerade vor Wahlen. Das führt zum Substanzverzehr.

Nach der Grundkonzeption für den nächsten Bundes-
verkehrswegeplan soll Investitionen in den Erhalt der In-
frastruktur Vorrang vor Neu- und Ausbau eingeräumt
werden. Ohne eine längst überfällige verkehrspolitische
Neuausrichtung der Infrastrukturpolitik bleibt der Ruf
nach neuen Finanzierungsinstrumenten wirkungslos. Zu-
erst brauchen wir eine verbindliche Prioritätensetzung
über Verkehrsprojekte, dann können wir über mehr Geld
reden, nicht andersherum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es schadet auch der Glaubwürdigkeit von Politik,
wenn die Länder immer längere Wunschlisten mit neuen
Vorhaben einreichen, obwohl jedem klar sein müsste,
dass die Kluft zwischen verfügbaren Mitteln und Pro-
jektwünschen unüberbrückbar ist. Ich nenne eine Zahl:
Das Restvolumen des sogenannten vordringlichen Be-
darfs bei der Straße im Bundesverkehrswegeplan beträgt
42 Milliarden Euro. Das heißt, der aktuelle Bundesver-
kehrswegeplan ist hoffnungslos überzeichnet.


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wer hat den gemacht?)


Es besteht keine Chance, all diese Projekte zu realisie-
ren. Das gehört zur Ehrlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine Reform der Bundesverkehrswege-
planung, damit der verkehrsträgerübergreifende Ausbau
des Kernnetzes, also die Engpassbeseitigung auf den
Hauptachsen des Autobahn- und Schienennetzes, end-
lich im Vordergrund steht.

Nach so viel Übereinstimmung mit dem Antrag der
SPD zum Abschluss ein kritischer Hinweis zu Ihrer For-
derung, die Erschließung der Fläche nicht zu vernachläs-
sigen. Wir haben in dieser Woche die Ergebnisse einer
von der grünen Bundestagsfraktion beauftragten Studie
zu den regionalwirtschaftlichen Effekten von Straßenbau
erhalten. Ergebnis: Es gibt keinen signifikanten Zusam-
menhang zwischen neuen Autobahnen und überdurch-
schnittlicher regionalwirtschaftlicher Entwicklung. Durch
den Bau weiterer Autobahnen lassen sich weder Erreich-
barkeitsdefizite mindern noch die daraus resultierenden
Wachstumsschwächen beseitigen. – Als Instrument zur
Förderung der regionalen Wirtschaft taugt Autobahnbau
also leider nicht.


(Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Das haben Sie aber sonst anders gesehen!)






Stephan Kühn


(A) (C)



(D)(B)


Trotzdem sollen weitere 1 000 Kilometer Asphaltschnei-
sen durch die Republik gezogen werden. Milliardenteure
Autobahnprojekte wie die Nordverlängerung der A 14,
die Westverlängerung der A 20 oder die A 39 müssen
bei der Aufstellung des neuen Bundesverkehrswege-
plans infrage gestellt werden.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723729000

Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Karl

Holmeier das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1723729100

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem uns heute vorliegenden Antrag stellt die SPD-
Fraktion ihren Ministern für die elf Jahre von 1998 bis
2009, in denen sie das Ministerium geführt haben, ein
miserables Zeugnis aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Michael Groß [SPD]: Sie haben es jetzt vier Jahre!)


Im Antrag werden die Defizite in der Verkehrsinfrastruk-
tur unseres Landes, die die SPD-Verkehrsminister verur-
sacht haben, zutreffend beschrieben. Ich darf der Voll-
ständigkeit halber ergänzen, dass wir dies schon zu
Beginn der Legislaturperiode erkannt haben. So heißt es
in unserem Koalitionsvertrag:

Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfra-
struktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblie-
ben.

Die Schlussfolgerung der SPD ist insofern nicht ganz
korrekt. Es war ihre Politik, die die heutigen Engpässe
verursacht hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsmi-
nister Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und
Tiefensee. Sie haben es über elf Jahre hinweg versäumt,
sich um den Erhalt der Bundesstraßen, der Autobahnen
und zahlreicher Brücken zu kümmern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Groß [SPD]: Was hat denn Herr Wissmann dazu beigetragen?)


Die Straßen und Brücken sind doch nicht in den letzten
drei Jahren so schlecht geworden. Die Versäumnisse ha-
ben schon viel früher begonnen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Unter Helmut Kohl!)


Der CSU-Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer muss
nun die Suppe auslöffeln, die ihm die SPD eingebrockt
hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Alles begann mit Herrn Wissmann und Helmut Kohl!)


Doch anstatt sich in Demut zu üben, schieben Sie die
Schuld auf die jetzige Bundesregierung. So geht es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich das korrekt darstellen: Die SPD war
es, die über Jahre hinweg zu wenig Geld in den Ver-
kehrshaushalt gesteckt hat. Wir hingegen haben im
Jahr 2012 1 Milliarde Euro erkämpft und 2013 750 Mil-
lionen Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Geld wurde aber nie in den Erhalt gesteckt!)


Die SPD war es, die die Einführung der Lkw-Maut
verstolpert hat. Ihr Minister hat uns eine Verurteilung
durch das Oberverwaltungsgericht Münster beschert.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind Sie eigentlich für die Pkw-Maut?)


Wir müssen das nun mit einem Maut-Änderungs-Gesetz
ausbügeln. Ihr Minister Stolpe hat uns ein Schiedsver-
fahren beschert, weil er dilettantisch verhandelt und
keine klaren vertraglichen Regelungen für den Fall der
verspäteten Mauteinführung getroffen hat. Er hat sich
von Toll Collect über den Tisch ziehen lassen. Das müs-
sen wir heute ausbügeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die SPD war es, die nach der Einführung der Maut
die Mittel im allgemeinen Haushalt abgesenkt hat. Wir
hingegen haben mit dem neuen Finanzierungskreislauf
Straße einen historisch wichtigen Schritt für mehr Unab-
hängigkeit vom Verkehrsetat getan.


(Beifall des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723729200

Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischen-

frage von Frau Dr. Wilms?


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1723729300

Gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723729400

Bitte schön.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723729500

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie handhaben ja hier

mit allen möglichen Zahlen. Ist Ihnen eigentlich be-
kannt, dass wir als Ergebnis der Daehre-Kommission
zwar ein Vermögen in Form der Infrastruktur in Höhe
von 1,1 Billionen Euro haben, aber auch einen täglichen
Vermögensverzehr von 13 Millionen Euro durch unter-
lassene Instandhaltung? Wir beschäftigen uns nämlich
nur mit Kosmetik. Ich hätte von Ihnen gerne einmal ge-
hört, wie Ihr Verkehrsminister damit umgeht. Er macht
nämlich nur Spatenstiche und kümmert sich nicht um die
Substanz.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!)







(A) (C)



(D)(B)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1723729600

Wir haben den Etat im Jahr 2012 um 1 Milliarde Euro

und 2013 um über 700 Millionen Euro aufgestockt, und
ein großer Teil dessen wurde für Unterhalt und Sanie-
rung verwendet. Aber das, was Sie sagen, reicht ja in die
Zeit der SPD zurück. Nicht die letzten drei Jahre sind am
Zustand der Straßen schuld.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die SPD war es, die in den elf Jahren, in denen sie an
der Regierung war, den Bestand sträflich vernachlässigt
hat und sich stattdessen lieber auf dem internationalen
Parkett gesonnt und Verträge für grenzüberschreitende
Projekte mit teuren Verpflichtungen unterschrieben hat.
Wir hingegen legen einen klaren Schwerpunkt auf die
Sanierung des Bestandes der Straßen und sehen dabei ei-
nen erheblichen Nachholbedarf in Westdeutschland.

Ich könnte meine Auflistung beliebig fortführen. Wer
hat denn eigentlich den Verkehrswegeplan 2003 konzi-
piert mit all den falschen Prioritäten, den unzähligen
Projekte, die überhaupt nicht realisiert werden können?
Andere wichtige Projekten wurden nicht aufgenommen.
Ich könnte Bahnlinien usw. aufzählen.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole,
muss ich noch einmal klarstellen: Schuld an der aktuel-
len Misere


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ist Herr Wissmann!)


ist nicht die christlich-liberale Bundesregierung, schuld
ist die SPD.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt wollen Sie uns gute Ratschläge geben. Vielen
Dank, auf die können wir verzichten. Wir von der christ-
lich-liberalen Koalition sind auf einem guten, auf einem
sehr guten Weg.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ihr seid auf dem Holzweg!)


Wir werden es auch nach dem September 2013 sein.

Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
die Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf Plus“
schaffen, durch die gewährleistet wird, dass besonders
dringliche Projekte ganz vorne angestellt werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bravo!)


Wir werden in der nächsten Legislaturperiode die
Einführung einer Pkw-Maut auf Autobahnen und ausge-
wählten Bundesstraßen angehen, um den Finanzierungs-
kreislauf Straße zu stärken.


(Zurufe von der SPD)


– Jawohl. Als ich hingegen den Vorschlag der SPD zum
Thema Maut gelesen habe, wäre ich fast vom Stuhl ge-
fallen. Sie sollten über dieses Thema mit Ihren Mittel-
standspolitikern sprechen. Heute Vormittag haben diese
erklärt, sie wollen den Mittelstand in Deutschland stär-
ken. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen das gründlich
misslingen wird, wenn Sie auf allen Bundes-, Landes-
und Kommunalstraßen eine Lkw-Maut einführen. Die

kleinen und mittleren Handwerksbetriebe werden Ihnen
dann aufs Dach steigen.


(Michael Groß [SPD]: Genau, lieber den Facharbeiter belasten!)


Was Sie heute vorschlagen, ist ein Existenzvernich-
tungsprogramm. Ungeachtet der negativen Auswirkun-
gen wird Ihnen jeder, der etwas von diesem Thema ver-
steht, erklären, dass sich der technische Aufwand und
vor allen Dingen der Kontrollaufwand im Zuge der
Mauterhebung auf allen Straßen nicht im Ansatz rech-
net.

Meine Ausführungen zeigen, dass unser Land alles
andere braucht als ein SPD-geführtes Verkehrsministe-
rium und die Ratschläge der SPD.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die grünen Ratschläge, die brauchen wir!)


Daher kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass wir den
vorliegenden Antrag der SPD ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723729700

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Johannes Kahrs.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1723729800

Sehr geehrter Herr Präsident! An dieser Stelle würde

man normalerweise sagen: Sehr geehrter Herr Minister;
aber er ist ja nicht da. Wenn wir über den Haushalt dis-
kutieren, dann ist er mit seinen fünf Staatssekretären im-
mer anwesend. Daran merkt man, welchen Stellenwert
man Fachpolitikern in diesem Hause beimisst. Statt fünf
Staatssekretären und einem Minister sitzt immerhin der
Kollege Scheuer hier, den ich sehr schätze.


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Bei einem Minister und fünf Staatssekretären ist das al-
lerdings ein bisschen ärmlich.

Wenn Sie die heutige Debatte verfolgt haben, werden
Sie festgestellt haben, dass CDU/CSU und FDP behaup-
ten: Wir brauchen mehr Geld, sie hätten mehr Geld he-
rangeschafft.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Und schuld ist die SPD, hat einer gesagt!)


Als Haushälter kann ich nur sagen: Manchmal dient der
Wahrheitsfindung ein Blick in den Haushalt; denn dann
würden Sie merken, dass der Eckwertebeschluss zu Ih-
rem Haushalt – das sollten Sie sich als Fachpolitiker ein-
mal näher betrachten – jährlich um 1 Milliarde Euro ab-
gesenkt worden ist. In den nächsten vier Jahren werden
Sie jedes Jahr 1 Milliarde Euro weniger bekommen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Unglaublich!)






Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


Das steht in dem Eckwertebeschluss. Lesen Sie das ein-
mal nach. All das, was Sie hier erzählt haben, ist in der
Sache falsch. Ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern,
dass Sie noch keinen Blick in den Haushalt geworfen ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der Tatsache, dass alle von Ihnen getroffe-
nen Feststellungen auf der Sachebene falsch sind, sollten
Sie nachlesen, was in unserem Antrag steht. Wir fordern,
dass der Verkehrsetat um 2 Milliarden Euro erhöht wer-
den soll, und das gegenfinanziert. Das sagen wir nicht
deswegen, weil die Straßen in einem guten Zustand sind,
sondern weil wir alle wissen, in welchem beklagenswer-
ten Zustand die Straßen, die Verkehrswege und – auch
darauf muss man hinweisen – die Kanäle, zum Beispiel
der Nord-Ostsee-Kanal, in Deutschland sind. Wir hatten
das Geld zur Verfügung gestellt, wir haben für die Pla-
nungsreife gesorgt. Sie haben nichts gemacht, außer das
Geld aus diesem Bereich abzuziehen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt doch nicht, was Sie sagen!)


In der Sache wissen wir, dass Sie versagt haben. Hätte
es die Wahl in Schleswig-Holstein nicht gegeben und
hätte das Parlament keinen Druck ausgeübt, dann hätten
Sie kein Geld für den Nord-Ostsee-Kanal zur Verfügung
gestellt. Allein dem Druck der Opposition, unserem
Druck, ist es zu verdanken, dass wir jetzt ein Gesamt-
konzept hinbekommen.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ CSU und der FDP)


Ihr Minister ändert alle zwei Wochen seine Meinung. Ihr
Minister hat im Hinblick auf die Sanierung von einer
Perlenkette geredet: eine Maßnahme nach der anderen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Kahrs Märchen!)


– Es ist ja schön, dass Sie hier herumbrüllen. Trotzdem
haben Sie Ihren Haushalt pro Jahr um 1 Milliarde Euro
abgesenkt.

Wenn man feststellt, wie Sie bei der Verkehrspolitik
versagt haben, dann fragt man sich natürlich, warum Sie
hier so laut herumhupen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie können die Wahrheit nicht vertragen!)


Ich glaube, dass liegt daran, dass Sie das Versagen der
– wie Sie immer so schön sagen – christlich-liberalen
Koalition in den letzten dreieinhalb Jahren hier verber-
gen wollen.

Wir wissen doch, dass wir für die Bundesfernstraßen
800 Millionen Euro mehr brauchen. Für die Brücken
brauchen wir 1 Milliarde Euro. Für die Schienenwege
brauchen wir 1 Milliarde Euro. Und bei den Bundeswas-
serstraßen brauchen wir sogar 1,5 Milliarden Euro.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sollen die herkommen, werter Kollege? Aus der Druckpresse hier im Reichstag? – Zuruf von der CDU/CSU: So sehr können Sie die Steuern gar nicht erhöhen!)


Was Sie dem Industriestandort Deutschland bieten,
ist, dass Sie pro Jahr 1 Milliarde Euro aus dem Etat strei-
chen, und sich dann hier hinstellen und herumhupen.
Das ist doch peinlich. Das kann doch gar nicht wahr
sein. CDU/CSU haben mit ihrer Politik in diesem Lande
versagt.

Dass Ihr Minister heute nicht hier ist, kann ich gut
nachvollziehen. Ich würde mich an seiner Stelle bei der
Leistungsbilanz, die ich hier vorlege, auch schämen.


(Beifall bei der SPD)

Weil das so ist, sitzt auf der Regierungsbank nur der
arme Kollege Scheuer. Mit ihm kann man es ja machen.
Er muss es stellvertretend für all die anderen aushalten.


(Zurufe von der CDU/CSU)

– Er ist ein feiner Kerl, aber in der Sache wissen wir,
dass die Regierung nichts gerissen hat.

Wenn man über Haushaltsklarheit und -wahrheit re-
det, dann muss man diese Blackbox Verkehrsetat viel-
leicht einmal aufbrechen. Vielleicht müsste jede neue
Maßnahme über 25 Millionen Euro durch den Fachaus-
schuss und den Haushaltsausschuss gehen und einzeln
beschlossen werden, damit nicht die Mitarbeiter im
Ministerium, in den Landesministerien entscheiden, was
gebaut wird, sondern eine parlamentarische Kontrolle
stattfindet. Dann müsste jedes große Projekt individuell
im Haushalt abgebildet werden. Dann könnte man jähr-
lich den Baufortschritt nachvollziehen. Dann kämen nur
noch Großprojekte in den Haushalt, die durchfinanziert
sind. Dann hätte man nicht dieses Elend, das Sie in den
letzten drei Jahren verbockt haben.

Von der SPD lernen heißt: Alles wird besser.

(Beifall bei der SPD)


Senken Sie den Etat nicht um 1 Milliarde Euro pro
Jahr ab, sondern lesen Sie unseren Antrag. Lesen bildet,
und Denken hilft.

Glück auf!

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Eine Büttenrede! Mit dieser Rede werden Sie Kölner ehrenhalber!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723729900

Das war angesichts der späten Stunde eine muntere

Debatte. Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/13191 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-

nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Auf-
bewahrungsfristen sowie zur Änderung
weiterer steuerlicher Vorschriften
– Drucksache 17/13082 –





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/13259 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Lothar Binding (Heidelberg)
Dr. Barbara Höll

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/13268 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Merkel (Berlin)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1723730000

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Ge-
setz, dessen wesentliche Maßnahmen wir bereits vor
knapp sechs Monaten in diesem Haus beschlossen haben
und das dann an der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat
gescheitert ist. Deshalb wende ich mich heute ganz be-
sonders an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-
Grün. Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen wirklich
ernst mit dem Schließen sogenannter Steuerschlupflö-
cher ist.

Es besteht in diesem Haus in weiten Teilen Einigkeit,
dass es bei der Erbschaftsteuer im Hinblick auf die soge-
nannten Cash-GmbHs einen Missbrauchstatbestand gibt.
Es gibt deshalb auch eine Vorlage des BFH an das Bun-
desverfassungsgericht. Heute können wir eine Regelung
beschließen, die jenen Missbrauch und jene Gestaltungs-
möglichkeit ganz massiv einschränkt. Nur zur Steuerver-
kürzung gegründete bzw. konstruierte Unternehmen
können auf Basis unseres Vorschlags, den wir heute be-
schließen, nicht mehr als Vehikel zur Vermögensver-
schiebung genutzt werden.

Es gibt auch einen Vorschlag des Bundesrats, den Sie
favorisieren; aber dieser Vorschlag ist hochgradig ge-
fährlich. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Verwal-
tungsvermögenstest wäre für die Unternehmen ein An-
reiz, jegliche Liquidität im Unternehmen zu vermeiden.
Das wäre eine dahin gehende Steuerung, dass man Li-
quidität aus dem Unternehmen heraushält. Was das für
den betrieblichen Alltag bedeutet, was das gerade in Zei-
ten der Krise bedeutet, ist klar: Verlust von Arbeitsplät-
zen und Gefährdung des ganzen Unternehmens.

Unser Vorschlag, den wir heute hier vorlegen, ist er-
heblich besser. Er ist vor allem praxistauglich. Die ver-
fassungsrechtlich gebotene Zielgenauigkeit der Vergüns-
tigungsregelungen wird mit unserem Vorschlag deutlich
erhöht. Indem wir die Zielgenauigkeit deutlich erhöhen,
schaffen wir auch die Missbrauchs- und Gestaltungsan-
fälligkeit ab. Wenn es Ihnen also ernst ist mit Ihrem An-
liegen, Steuergestaltungsmodelle zu verhindern, dann
stimmen Sie heute zu.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie können heute auch beweisen, ob es Ihnen mit dem
Anliegen, den Mittelstand von Bürokratie zu entlasten,
wirklich ernst ist. Sie werden erklären müssen, warum
Sie sich hier gegen die Verkürzung der Fristen zur Auf-
bewahrung von Unterlagen bei Mittelständlern wenden,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das haben wir doch schon! Haben Sie es noch nicht verstanden?)


obwohl das einer Entlastung beim Bürokratieaufwand in
Höhe von über 2 Milliarden Euro entspricht. Sie wenden
sich dagegen,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wir haben das Geld nicht! – Manfred Zöllmer [SPD]: Wir haben es Ihnen erklärt!)


und das, obwohl Ihr Kanzlerkandidat, Peer Steinbrück
– ich muss es noch einmal sagen, auch wenn ich weiß,
dass das wehtut –, erst vor wenigen Wochen auf einer
Mittelstandstagung gesagt hat, dass man den Mittelstand
von unnötigen kostenträchtigen Regelungen befreien
muss.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Da hat er ja recht!)

Er hat dabei explizit die Verkürzung der Aufbewah-
rungsfristen angesprochen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen ernst ist mit
dem Wunsch, dass man rechtliche Betreuer und Leistun-
gen von Bühnenregisseuren und Choreografen von der
Umsatzsteuer befreit.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da sind wir dafür! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Die müssen dafür herhalten!)


Wenn Sie wie wir den besonderen Gewerbesteuerzer-
legungsmaßstab bei Photovoltaikanlagen tatsächlich
wollen, dann stimmen Sie heute zu. Sie werden den
Menschen erklären müssen, warum Sie diesen Gesetz-
entwurf aufhalten. Sie werden ihnen erklären müssen,
warum Sie dadurch die längere Geltungsdauer bei Frei-
beträgen im Lohnsteuerabzugsverfahren verhindern, ob-
wohl das nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern gerade
auch für die Steuerverwaltungen in den Ländern eine
Vereinfachung bedeuten würde. Sie werden erklären
müssen, warum Sie das nicht möchten.

Eine Frage, die ich Ihnen hier letzte Woche schon ein-
mal gestellt habe, muss ich wiederholen:


(Manfred Zöllmer [SPD]: Haben Sie denn die Antwort nicht verstanden?)






Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


Glauben Sie, dass zum Beispiel die zivilen Freiwilligen-
dienstleistenden Verständnis dafür haben, dass Rot-Grün
die von uns gewollte Steuerbefreiung ihres Taschengel-
des aufhält, dass Rot-Grün das im Bundesrat weiterhin
blockiert? Ich glaube nicht, dass sie dafür Verständnis
haben.

Nehmen Sie die im Bundesrat aufgehaltenen Steuer-
befreiungsvorschriften für die freiwillig Wehrdienstleis-
tenden und die Reservisten. Wir wollen sie entlasten.
Wir wollen sie steuerlich gerecht behandeln. Hier liegt
der Gesetzentwurf. Stimmen Sie zu!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Opposition und damit auch die rot-grün regierten
Bundesländer müssen sich jetzt ihrer Verantwortung
stellen. Sie müssen ihre Blockadehaltung aufgeben, und
sie müssen aufhören, für dieses Land wichtige Maßnah-
men immer nur mit Blick auf die Bundestagswahl im
Bundesrat zu blockieren und zu verhindern.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist Ihnen ja wesensfremd!)


Sie von der Opposition waren es, die im Vermittlungs-
verfahren, das die meisten der heutigen Punkte enthielt,
den Stock in das laufende Rad gesteckt haben.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das waren Sie! Das verwechseln Sie!)


Damit haben Sie für den Crash dieses Gesetzentwurfs
gesorgt. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass dieser
Gesetzentwurf nicht noch einmal im Bundesrat scheitert.
Stimmen Sie zu, und sorgen Sie dafür, dass die Blockade
im Bundesrat endlich aufhört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723730100

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin

Ingrid Arndt-Brauer.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1723730200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gutting,
ich weiß nicht so recht, ob mir bei Ihrer Rede die Tränen
kommen sollten oder welchen Effekt Sie hier produzie-
ren wollten.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Zustimmen sollen Sie!)


– Ja, Sie hätten schon beim Jahressteuergesetz im
Vermittlungsausschuss zusammen mit dem Bundesrat
zustimmen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle Maßnahmen, über die wir heute reden, waren da-
bei: die Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer,
Bühnenbildner, Regisseure und Choreografen, die Steu-

erbefreiung des Taschengeldes beim zivilen Freiwilli-
gendienst,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die waren Ihnen alle egal!)


die Steuerbefreiung für Reservisten und Wehrdienstleis-
tende. All diese Personengruppen hätten Sie schon vor
sechs Monaten beglücken können.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wenn Sie es nicht verhindert hätten im Bundesrat!)


Sie haben von einem Stock zwischen den Speichen ge-
sprochen. Was war das denn? Sie hätten auch noch die
Lebenspartnerschaften beglücken können. Sie hätten das
ganze Land mit einem Schlag glücklich machen können.
Das ging aus irgendwelchen ideologischen Gründen
nicht.

Jetzt werfen Sie uns vor, dass wir Ihr Gesetz verhin-
dern. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen, den Sie hier einbringen, ist ledig-
lich eine Krücke. Was bedeutet das im Ergebnis?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das hat doch ihr Kanzlerkandidat gewollt!)


– Unser Kanzlerkandidat hat das bei einer Konferenz an-
gedeutet.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Der weiß nicht, was er will! Mal hier, mal da!)


Unser Kanzlerkandidat hat aber nicht angedeutet, dass
wir 2,5 Milliarden Euro übrig haben, um diese als Beglü-
ckung über die Welt zu schütten. So viel würde dieses
Gesetz kosten. Dieses Geld haben wir nicht.


(Beifall bei der SPD)


Es kommt noch etwas dazu. Welche Konsequenzen
hat es, wenn wir die Aufbewahrungsfristen nur verkür-
zen, so wie Sie das möchten?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Steinbrück macht nichts! Er deutet nur an!)


Sie springen nur ein kleines Stück. Sie wollen Bürokra-
tieabbau, verzichten aber auf Steuereinnahmen, weil Sie
die Maßnahmen, die wir bräuchten, nicht vollziehen. Sie
wollen nicht mehr Steuerbeamte einstellen. Sie wollen
nicht mehr Betriebsprüfer einstellen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das machen ja die Bundesländer!)


– Moment, diese Forderung erheben Sie nicht gleichzei-
tig mit diesem Gesetzentwurf. Das müssten Sie aber ehr-
licherweise tun. – Sie produzieren hier Steuerausfälle,
die nicht zu verantworten sind. Deswegen können wir
Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt schieben Sie da unseren Kanzlerkandidaten vor
nach dem Motto: Der hat das mal angesprochen. – Wenn
Sie all das umsetzen würden, was er angesprochen hat,
wären wir in dieser Republik schon ein Stück weiter.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das haben wir heute Morgen gehört!)


Noch einmal. Ich finde das, was Sie hier tun, sehr
scheinheilig.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein! Nein!)


Sie hätten all die Maßnahmen, die Sie angesprochen ha-
ben und die wir bis auf die Verkürzung auch für sinnvoll
halten,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Steinbrück sieht das anders!)


schon vor einem halben Jahr umsetzen können. Das ha-
ben Sie nicht getan, obwohl Sie im Koalitionsvertrag
auch Lösungen für die gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften angekündigt haben.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)


Sie haben im Vermittlungsausschuss die ganze Sache
platzen lassen. Deswegen sitzen wir hier heute Abend
noch einmal. Für uns ist das kein Problem; denn wir sind
Arbeit am Abend gewohnt.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Wir auch! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber nur ein kleiner Teil Ihrer Fraktion!)


Aber Sie blockieren hier heute Abend den ganzen Appa-
rat. Sie bekommen von uns natürlich keine Zustimmung.
Sie glauben, Sie könnten uns hier vorführen, aber jeder,
der das verfolgt hat, sieht, wie durchsichtig das ganze
Verfahren ist. Ich finde es schade, dass wir uns allen das
hier zumuten.

Ich möchte Sie noch einmal ermutigen: Gehen Sie mit
vernünftigen Zielsetzungen in den Vermittlungs-
ausschuss, dann bekommen Sie auch vernünftige Ergeb-
nisse.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wollen Sie doch gar nicht!)


Der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ohne mehr
Steuerbeamte, ohne mehr Betriebsprüfer und ohne ange-
passtes Verhalten können wir nicht zustimmen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da sind die Länder zuständig! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist alles Ländersache!)


Ich möchte die Debatte hier nicht unnötig verlängern.
Ich denke, ich habe alles dazu gesagt. Ich finde es
schade, dass Sie so uneinsichtig sind; auch ein Tenor in
Richtung Mitleid wird Ihnen nicht helfen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist eine Pirouette ohne Anhalten!)


Wir können leider nicht zustimmen. Es wäre schön ge-
wesen, wenn Sie in den letzten vier Wochen eine gute
Politik gemacht hätten. Leider haben Sie das nicht ge-
schafft. Das ist eine Sache mehr, die wir machen müs-
sen. Wir werden es im September angehen. Einige von

Ihnen werden wir dann ja wiedersehen, alle wahrschein-
lich nicht. Ich wünsche uns allen einen schönen Sommer.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723730300

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1723730400

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD! Liebe
Frau Arndt-Brauer, wir legen heute den Entwurf eines
Gesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen vor
und beziehen uns damit ausdrücklich auch auf die Aus-
sage Ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ach, das machen Sie doch sonst auch nicht, Herr Volk! Mein Gott! – Manfred Zöllmer [SPD]: Das haben wir doch schon vorhin gehört! Erzähl doch nicht so einen Blödsinn!)


Es ist erstaunlich, wie viel Beinfreiheit Sie Ihrem Kanz-
lerkandidaten zugestehen, wenn Sie sich hier hinstellen
und sagen, er habe das nur angedeutet.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ja, er macht ja noch keine Gesetze! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist keine Beinfreiheit! Das ist ein Maulkorb!)


– Sie können unserem Gesetzentwurf heute zustimmen.

Ich möchte nur kurz darauf hinweisen: Ihrem Kanz-
lerkandidaten scheint die Verkürzung der Aufbewah-
rungsfristen ja nicht so wahnsinnig wichtig zu sein;


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau! Sonst wäre er heute hier! – Manfred Zöllmer [SPD]: Ihnen auch nicht!)


denn er nimmt an dieser Debatte noch nicht einmal teil.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Von Ihnen sind aber auch nur zwei Kollegen da! An der FDP scheint das Thema also total vorbeizugehen! – Manfred Zöllmer [SPD]: Zählen Sie doch mal in Ihren Reihen! Angeblich ist das ja so ein wichtiges Thema!)


Insofern muss man feststellen: Vielleicht haben Sie gar
nicht so unrecht, dass Ihr Kanzlerkandidat wolkige An-
deutungen macht. Aber wenn es wirklich zum Schwur
kommt, dann ist er ganz schnell weg. Er macht also
keine vernünftige Politik für den Mittelstand in Deutsch-
land und keine vernünftige Steuerpolitik. Aber das ken-
nen wir ja schon aus seiner Amtszeit als Finanzminister.
Insofern sind wir auch nicht besonders überrascht.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Genau!)






Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, um ein weite-
res Thema aufzugreifen:


(Manfred Zöllmer [SPD]: Warum verwässern Sie Ihren Gesetzentwurf?)


Eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen führt in den
Unternehmen, insbesondere in den mittelständischen
Unternehmen, zu einer Einsparung von Bürokratiekos-
ten im Milliardenbereich.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das bringt uns aber auch Steuerausfälle!)


Das kostet keinen einzigen Euro Steuergeld. Es sind
wirklich überflüssige Bürokratiekosten, die wir damit
einsparen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, eben nicht überflüssig! – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Es kommt aber zu Steuerausfällen! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein! Wieso kommt es denn zu Steuerausfällen? – Gegenruf der Abg. Ingrid ArndtBrauer [SPD]: Natürlich kommt es dazu! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: So ein Quatsch!)


Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist, die Bundesregie-
rung aufzufordern, mehr Finanzbeamte und mehr
Betriebsprüfer einzustellen. Darf ich Sie von der SPD
einmal fragen: Was machen Sie denn in den Bundeslän-
dern, in denen Sie dafür verantwortlich sind, dass mehr
Finanzbeamte eingestellt werden?


(Manfred Zöllmer [SPD]: Ja, was machen Sie denn mit dem Jahressteuergesetz?)


Dazu höre ich von Ihnen nämlich gar nichts.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Genau das machen sie ja auch: gar nichts!)


In Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in Baden-
Württemberg höre ich dazu gar nichts von Ihnen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die machen nur immer mehr Schulden! Frau Kraft, die Schuldenkönigin!)


Insofern: Kommen Sie doch bitte nicht mit diesem Argu-
ment! Führen Sie nicht das, was in der Verantwortung
der Bundesländer liegt, hier auf Bundesebene als Argu-
ment gegen diesen Gesetzentwurf an!

Sie sagen natürlich zu Recht, dass wir uns mit den
Themen, um die es in unserem Gesetzentwurf geht,
schon einmal befasst haben, nicht nur mit der Verkür-
zung der Aufbewahrungsfristen, sondern zum Beispiel
auch mit der Umsatzsteuerbefreiung für Bühnenregis-
seure und der Steuerfreiheit des Taschengeldes für die
Jugendfreiwilligendienste. Übrigens, dadurch würden
80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende entlastet und
unterstützt werden.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Seit einem halben Jahr! – Manfred Zöllmer [SPD]: Warum stehen Sie denn nicht zu Ihrem Jahressteuergesetz?)


80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende, das ist, denke
ich, eine beachtliche Zahl. Die jungen Menschen, die
diesen Dienst leisten, müssen wir unterstützen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Aber Sie verlassen sie doch! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Quatsch! Macht doch mit!)


Deswegen sollten Sie diesem Gesetzentwurf hier im
Bundestag zustimmen.

Aber Sie haben natürlich vollkommen recht: Diese
Themen wurden, wie gesagt, schon im Bundesrat und im
Vermittlungsausschuss behandelt.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Ja, genau! So ist es!)


Aus dem Vermittlungsausschuss kam ein Vorschlag zur
Erbschaftsteuer. Dabei geht es um die sogenannten
Cash-GmbHs.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Genau! Das haben Sie jetzt wieder aufgeweicht! Neue Steuerschlupflöcher durch die FDP!)


Mit dem Vorschlag, den der Vermittlungsausschuss ge-
macht hat – man muss Vorschläge ja auch einmal in
Ruhe bewerten –, hätte man deutlich über das Ziel hi-
nausgeschossen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Manfred Zöllmer [SPD]: Ah, so ist das! So geht die FDP also mit Steuerhinterziehern um!)


Das wäre wirklich ein Angriff auf die Finanz- und Kapi-
talausstattung insbesondere von Familienunternehmen
gewesen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Ja, ja!)


Deswegen haben wir die Regelung zu den Cash-GmbHs
eindeutiger, detaillierter, treffsicherer gemacht, und zwar
wirklich nur im Hinblick auf missbräuchliche Gestaltun-
gen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Neue Schlupflöcher haben Sie geschaffen! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das glaubst du doch selbst nicht, was du da erzählst! – Gegenruf der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Doch! Neue Löcher haben Sie aufgemacht!)


Dass Sie an Themen wie der Kapitalausstattung, dem
Betriebsvermögen und der Bedeutung der Finanzausstat-
tung insbesondere für mittelständische Unternehmen
überhaupt kein Interesse haben, sieht man daran, dass
Sie planen, eine Vermögensteuer einzuführen, die zwin-
gend dazu führen würde, dass die Betriebsvermögen und
damit auch die Eigenkapitalausstattung der Unterneh-
men reduziert würden.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Nein! Sie hätten dem Kandidaten mal zuhören müssen! Dazu hat der Kandidat ja etwas gesagt!)


Sie haben die Bedeutung von Eigenkapital in Unterneh-
men offenbar noch immer nicht verstanden.





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Doch, wir verstehen!)


Wenn Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gesagt hat,
dass eine Vermögensteuer Betriebsvermögen auf jeden Fall
nicht treffen würde – oder hat er das nur angedeutet? –,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das hat er gesagt! – Gegenruf des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Herr Gabriel sagt etwas ganz anderes!)


muss man deutlich darauf hinweisen: Er kann das nicht
verhindern, Sie können das auch in Ihrer vollen Pracht
und Schönheit als SPD-Fraktion


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Danke schön!)


nicht verhindern: weil eine Unterscheidung zwischen
Privatvermögen einerseits und Betriebsvermögen ande-
rerseits nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht möglich ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dementsprechend muss man deutlich sagen: Die Steuer-
politik, die Sie vorschlagen und die Sie über Ihre
Blockademehrheit im Bundesrat vertreten, ist ein Fron-
talangriff auf die mittelständischen Unternehmen in
Deutschland.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Blödsinn!)


Wir haben in den letzten vier Jahren genau den umge-
kehrten Kurs eingeschlagen: Wir haben dafür gesorgt,
dass insbesondere die mittelständischen Unternehmen
gut arbeiten können, dass es genügend Arbeitsplätze
gibt. Das waren vier gute Jahre für Deutschland,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wurde aber auch Zeit!)


und das werden wir fortsetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723730500

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Dr. Axel Troost.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723730600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

meinen fast acht Jahren Bundestag habe ich in diesem
Parlament einiges an Mätzchen und Spielchen erlebt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Meinen Sie Herrn Steinbrück?)


Die Abläufe im Zusammenhang mit dem Jahressteuerge-
setz 2013 bekommen in einer Liste der Absurditäten auf
jeden Fall einen Spitzenplatz: Der Bundestag hat gegen
die Opposition ein Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetz
ging an den Bundesrat. Im Vermittlungsausschuss war
im Prinzip Konsens hergestellt; doch dann ist alles an ei-

nem Punkt gescheitert. Anstatt dass man versuchte, we-
nigstens die restlichen Punkte vernünftig abzuarbeiten,
wurde ein neuer Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlag
wurde vom Bundestag verabschiedet, ging wieder an
den Bundesrat und lag wieder im Vermittlungsaus-
schuss. Jetzt sollen in einem dritten Anlauf noch einmal
Veränderungen vorgenommen werden.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie müssen nur zustimmen; dann wäre das kein Problem! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie hätten zustimmen können!)


Meine Redezeit ist leider begrenzt; aber ich will noch
einmal auf die geplante Verkürzung der Aufbewahrungs-
zeiten eingehen. Zurzeit müssen Unternehmen Unter-
lagen zehn Jahre aufbewahren. Jetzt wird vorgeschlagen,
diese Frist auf fünf Jahre zu verkürzen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Falsch gelesen! Es sind acht Jahre!)


– Es sind je nachdem zehn Jahre oder acht Jahre; es geht
ja um unterschiedliche Unterlagen.


(Zuruf von der FDP: Nein, nein, nein!)


Für die Unternehmen ist eine Verkürzung der Aufbewah-
rungsfristen natürlich angenehm. Ich habe selbst ein
Unternehmen und weiß, was für Aktenberge man da auf-
bewahren muss.

Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf ge-
schätzt, dass die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
für den Staat Kosten von 1 Milliarde Euro verursacht.
Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie kommt
diese Milliarde zustande? Die Antwort war: Ursächlich
ist, dass die Auswertung von Steuerunterlagen für Be-
triebsprüfungen und Steuerfahndung zeitlich nur einge-
schränkt möglich ist.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Es geht um den Zeitraum!)


Zu deutsch: Wenn die Aufbewahrungsfristen verkürzt
werden, sind die Steuerprüfer nicht mehr in der Lage, so
zu prüfen, wie sie das eigentlich machen müssten, und
dadurch entstehen Steuerausfälle von – geschätzt; es
sind möglicherweise viel mehr – 1 Milliarde Euro. Das
ist doch absurd. Haben Sie denn aus dem Fall Hoeneß
und aus anderen Fällen überhaupt nichts gelernt?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Was hat denn die Aufbewahrungsfrist damit zu tun?)


Sie marschieren genau in diese Richtung weiter.

Jetzt sagen Sie: Da müssen die Länder ran, das ist
doch deren Problem. Nehmen wir einmal das Land Bay-
ern. In Bayern wird ein mittelgroßes Unternehmen im
Durchschnitt nur alle 20 Jahre geprüft, ein Kleinunter-
nehmen sogar nur alle 40 Jahre.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Das sind alles ehrliche Leute in Bayern! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das sind alles ehrliche Steuerzahler!)






Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


– Alles ordentliche Steuerzahler, und es gibt keinerlei
Rückstände. Aber warum sollen dann die Aufbewah-
rungsfristen verkürzt werden mit dem Argument, dass
die Unternehmen entlastet werden sollen? Ich muss Ih-
nen ehrlich sagen: Es geht nicht nur um die Einnahmen,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die Prüfquote wird nicht besser!)


es geht in dieser Republik auch um Steuergerechtigkeit.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was Sie hier machen, hat damit überhaupt nichts zu tun,
sondern ist das genaue Gegenteil.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist in guter Tradition!)


Das Gleiche gilt für die Cash-GmbH im Bereich der
Erbschaftsteuer. Sie haben sich sozusagen durchgesetzt
damit, dass bei der Vererbung von Betriebsvermögen ein
Sonderweg gewählt werden kann.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja! Vernünftig!)


Jetzt ist aber klar: Der wird, wie immer, bis zum Geht-
nichtmehr missbraucht.

Sie haben jetzt einen Kompromiss aufgelegt, der aber
kein wirklicher Kompromiss ist, weil er das Ganze nur
eingeschränkt verändert. Der ursprüngliche Vorschlag
vom Bundesrat und vom Vermittlungsausschuss hätte
wesentlich mehr Ergebnisse gebracht. Insofern ist auch
dieser Weg für uns nicht akzeptabel.

Wegen dieses ganzen Kuddelmuddels werden wir die-
sem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wohl wissend, dass
darin zum Beispiel Regelungen für Bühnenregisseure
und andere enthalten sind, denen wir gerne helfen wür-
den.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Dann stimmen Sie zu!)


Wir können aber nicht zustimmen, wenn das mit solchen
Kröten verbunden ist.

Insofern wird das Gesetz noch einmal in den Vermitt-
lungsausschuss gehen, und wir werden dann mit Rot-
Rot-Grün und nach Diskussionen mit Ihnen hoffentlich
zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723730700

Das Wort hat nun Thomas Gambke für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorlage dieses Ge-
setzentwurfs hatte ich eigentlich denselben Eindruck wie

heute Morgen, als der Herr Minister Rösler hier gespro-
chen und sich mit dem Thema Energiewende beschäftigt
hat.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Guter Mann! – Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wer sagt das?)


Er hat gesagt: Wir sind in der Regierung, aber Sie von
der Opposition tragen die Verantwortung dafür, dass wir
das nicht hinkriegen.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja, weil Sie in den Bundesländern blockieren!)


Der Satz, Herr Volk, beinhaltet zwei richtige Aussagen.
Es ist erstens in der Tat richtig: Schwarz-Gelb stellt die
Regierung.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch!)


Die zweite richtige Aussage ist: Sie kriegen das nicht
hin. – Genau das trifft auch auf den vorgelegten Gesetz-
entwurf zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist durchgehend den ganzen Tag schon so! – Bernd Scheelen [SPD]: Seit vier Jahren!)


Das ist doch kein Gesetzentwurf; das sind Bruchstü-
cke eines Jahressteuergesetzes. Wir hatten doch einen
fertigen Gesetzentwurf. Den haben Sie gekippt. Jetzt ha-
ben wir ein paar Einzelregelungen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Herr Kollege, Sie wissen doch, dass das nicht so ist!)


Herr Gutting, als Berichterstatter haben Sie das ja in be-
merkenswerter Offenheit geschrieben. Sie haben ge-
schrieben – ich darf das zitieren –:

Allen sei aber klar, dass dann sicherlich noch an der
einen oder anderen Stelle nachgebessert werden
müsse.

Und das legen Sie uns heute hier vor, einen Gesetzent-
wurf, zu dem Sie selber sagen: „Da muss man nachbes-
sern“? Das ist doch unmöglich. Das können Sie uns hier
doch nicht vorlegen.

Dabei gibt es ein fertiges Vermittlungsergebnis. Dem
könnten wir sofort zustimmen. Wir haben den Antrag
gestellt. Sie haben ihn abgelehnt, nicht wir.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist ein unechtes Vermittlungsergebnis! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: War doch gar kein Vermittlungsergebnis!)


Das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik – Sie haben das sehr
schön beschrieben – ist ein Flickenteppich, genauso wie
Ihr Gesetzentwurf. Sie sagen das ja selber. Er hat Män-
gel; das räumen Sie selber ein.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Nein!)






Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)


Oder, schlicht und einfach: Sie machen Steuerpolitik, in-
dem Sie gar nichts tun. Gucken Sie sich doch einmal die
Umsatzsteuerreform an! Da haben Sie versagt. Sie haben
sie einfach zurückgezogen. Ich kann nur sagen: Erbärm-
lich.


(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will Ihnen ein paar Beispiele aus dem vorliegen-
den Gesetzentwurf nennen:

Erstes Beispiel: Cash-GmbH. Das, was Sie hier vorle-
gen – das ist schon angesprochen worden –, durchlöchert
das Vermittlungsergebnis. Sie nehmen nach unserer Auf-
fassung im Prinzip billigend in Kauf, dass das Bundes-
verfassungsgericht das wieder kippen wird, und das Ge-
meine ist: Sie legen etwas vor, was die Länder am Ende
ausbaden müssen; denn ihnen steht die Erbschaftsteuer
zu. Deshalb wird das wieder im Vermittlungsausschuss
landen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber stimmen Sie doch wenigstens bei dieser Regelung zu!)


Zweites Beispiel: RETT-Blocker. Wo ist hier die Re-
gelung? Das ist ein Steuersparmodell für die Konzerne.
Das wollten wir beenden; das war ein Vermittlungser-
gebnis. Wo ist die Regelung geblieben? Das ist einfach
nicht akzeptabel und geht wieder zulasten der Länder.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wenn das Gesetz nicht kommt, ist es ja noch schlimmer!)


Drittes Beispiel: Aufbewahrungsfristen. Wir Grüne
sind auch sehr für Bürokratieabbau, aber


(Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Aber nicht wirklich! – Olav Gutting [CDU/ CSU]: Nicht in Deutschland!)


nicht zulasten des Staates. Sie schreiben hier – ich zitiere
wieder aus der Beschlussempfehlung –, dass man

zu dem Ergebnis kommen könne, dass erhebliche
Steuerausfälle entstehen würden.

Das wird darin dann auch noch vorgerechnet und bezif-
fert: 1,05 Milliarden Euro pro Jahr. Und das legen Sie
uns hier vor!


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Darauf sind die auch noch stolz! – Bernd Scheelen [SPD]: Mövenpick II! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Sie machen in diesem Fall den zweiten Schritt vor dem
ersten. Das ist wirklich toll.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Sie müssen doch selber lachen!)


Der erste Schritt wäre doch, dass die Finanzämter so
ausgestattet werden, dass sie wirklich Betriebsprüfungen
durchführen können.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warum beschimpfen Sie denn die Beamten? Sie machen doch eine gute Arbeit! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Dann tun Sie es doch in den Bundesländern!)


Sie gehen davon aus – Herr Volk hat das sehr schön ge-
sagt –, dass alle steuerehrlich sind. Ja, dann schaffen Sie
doch die Aufbewahrungsfristen gleich ganz ab, wenn Sie
der Auffassung sind: Wir brauchen die nicht,


(Zurufe von der SPD)


wir machen sowieso keine Betriebsprüfungen, wir haben
keine Leute, die das regelmäßig prüfen können, sondern
sie prüfen nur alle 20 bis 40 Jahre.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Machen Sie das doch in den Bundesländern!)


– Sie kommen doch aus Bayern, Herr Volk. Ihre Partei
regiert dort doch noch mit.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir stellen auch mehr Steuerbeamte ein in Bayern im Vergleich zu anderen Bundesländern!)


Wenn ich mich richtig erinnere, gehört die FDP dort der
Regierung an. Dann tun Sie doch endlich etwas!


(Widerspruch bei der FDP)


– Nein, Sie tun es nicht.

Meine Damen und Herren, das ist eine Regierung, die
manchmal offensichtlich ins Stolpern gerät; sie macht
den zweiten Schritt vor dem ersten. Das kann nicht funk-
tionieren.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eben sind Sie aber gestolpert, als Sie alles abschaffen wollten!)


Greifen Sie auf das Vermittlungsergebnis zurück!


(Manfred Zöllmer [SPD]: Zurück auf Los!)


Wenn Sie uns hier das Vermittlungsergebnis vorlegen,
dann stimmen wir sofort zu. Dann brauchen wir keine
Zeit mehr zu verschwenden, Zeit, die im Übrigen weder
die Bürger noch die Unternehmen haben. Dann wäre
auch die Verunsicherung der Finanzbeamtinnen und -be-
amten beendet, und dann hätten wir ein gutes Ergebnis.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723730800

Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1723730900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf in die-
sem Haus seit über zehn Jahren Kulturpolitik machen.
Bislang war es in der Kulturpolitik so, dass es einen brei-
ten Konsens in allen Fraktionen gab, dass wir Kultur
nicht nur als etwas sehen, was uns besonders lieb ist,





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)


sondern auch als etwas, was uns besonders teuer ist. Wir
waren uns immer einig, dass wir gemeinsam für unsere
kulturellen Schätze kämpfen. Wir haben den Rohstoff
Geist.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Aber wir sind der Finanzausschuss!)


Wir sind diejenigen, die immer, auch parteiübergreifend,
versucht haben, zu guten Lösungen zu kommen, das eh-
renamtliche, aber eben auch das oft sehr gering bezahlte
Engagement zu unterstützen. Das macht unsere gesell-
schaftliche Identität in Deutschland aus. Wir konnten ge-
rade für den Haushalt des Kulturbereichs – das war in
unserem Haushalt nicht immer üblich – in den letzten
Jahren bei unseren Haushaltspolitikern immer wieder ei-
nen Aufwuchs durchsetzen.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Bravo!)


Das macht deutlich, dass es dieser Bundesregierung
ganz besonders wichtig ist, die Kultur zu fördern.

Insofern wundert es mich schon – deswegen darf ich
für meine Fraktion heute hier sprechen –, dass die SPD
nun versucht, ganz billig auf Kosten von Kulturschaffen-
den Wahlkampf zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist doch Blödsinn! Was hat denn die Aufbewahrungsfrist mit Kultur zu tun?)


– Hören Sie mir zu! Schreien Sie nicht herein! Sie ver-
stehen es hoffentlich dann, wenn ich es Ihnen jetzt er-
kläre.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Nein! Sie haben es nicht verstanden!)


Sie machen Wahlkampf auf Kosten von Theaterregisseu-
ren in unserem Land, und Sie machen Wahlkampf auf
Kosten derjenigen, die sich im FSJ Kultur engagieren.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Genau so ist es! – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was haben die denn mit den Aufbewahrungsfristen zu tun?)


Alle Obleute aller Fraktionen im Ausschuss für Kul-
tur und Medien waren sich nach dem Urteil des Bundes-
finanzhofs einig,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Haben Sie sich in Ihrer Fraktion nicht durchgesetzt?)


dass das geltende Recht im Ergebnis nicht entgegen dem
Willen des Gesetzgebers ausgelegt werden sollte. Des-
halb – jetzt hören Sie gut zu; dann können Sie etwas ler-
nen – sollte die Umsatzbesteuerung für Theaterregis-
seure gesetzlich geregelt werden. Um hier zu einer
klaren Regelung zu kommen, sollten sowohl die Steuer-
befreiung für Theaterregisseure als auch die Steuerbe-
freiung für das Taschengeld – das Taschengeld! – im
Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur in das Jahressteuerge-
setz 2013 aufgenommen werden.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Ihre Fraktion legt doch das Jahressteuergesetz jetzt nicht vor!)


Mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat haben Sie dafür gesorgt
– das ist schofel, und deswegen muss man das hier auch
ansprechen –, dass das Jahressteuergesetz nicht umge-
setzt werden konnte. Das war ein Tritt in den Hintern für
alle Theaterregisseure in unserem Land und für alle, die
sich im FSJ Kultur befinden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ihr tretet ihnen in den Hintern, nicht wir!)


Sie wussten ganz genau, dass das ein wichtiger Erfolg
für alle Kulturschaffenden in unserem Land war. Gerade
für Mitglieder Ihrer Fraktion ist es immer besonders
chic, sich wie Buddies bzw. Spezis neben Künstler zu
stellen und wichtigtuerisch Fotos zu machen.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Klar!)


Ihr Altkanzler Schröder war Meister darin, immer so zu
tun, als ob er mit Künstlern auf Du und Du ist, ließ sie
immer Wahlkampf für sich machen. Das ist ein uralter
Trick der SPD – und jetzt fallen Sie den Künstlern so in
den Rücken. Das ist wirklich eine absolute Unver-
schämtheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Seehofer lässt sich mit Hoeneß blicken!)


Nicht genug damit, dass Sie die bisherige Regelung
gekippt haben und allen Theaterregisseuren den besag-
ten Tritt in den Hintern gegeben haben: Jetzt besitzen Sie
auch noch die Unverfrorenheit, von der Bundesregie-
rung – ich zitiere – eine „Klarstellung der Umsatzbesteu-
erung freier Regisseure“ zu fordern, obwohl Sie diejeni-
gen waren, die diese Klarstellung verhindert haben.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja!)


Folglich sind Sie dafür verantwortlich, dass die Frage
der Umsatzsteuerbefreiung für Theaterregisseure noch
immer nicht geklärt ist und Kulturschaffende immer
noch um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was hat das denn mit den Aufbewahrungsfristen zu tun?)


Da muss ich einmal ganz ehrlich sagen: Entweder ha-
ben die Kulturpolitiker in Ihrer Partei keine Lobby und
können sich in Ihrer eigenen Partei auch nicht durchset-
zen, wenn es darum geht, Regisseure und vor allem
Menschen im FSJ besserzustellen. Oder Sie haben ein
sehr kurzes und noch kürzeres Kurzzeitgedächtnis, weil
Sie von Steuererhöhungen für Reiche reden, aber Steuer-
freiheit für Taschengelder verhindert haben. Das ist
wirklich ein starkes Stück, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Kulturbanausen! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da habt ihr euch wirklich Verstärkung aus dem Kulturbereich geholt! – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist wirklich dreist! – Ingrid Arndt-Brauer dass das keiner im Fernsehen sieht!)






Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)


Da wir aber als christlich-liberale Koalition weiterhin
an sachorientierter Politik interessiert sind, gehen wir
heute einen ganz neuen Weg, um Theaterregisseure und
Menschen im FSJ zu entlasten. Deswegen haben wir un-
ser Vorhaben erneut in den Bundestag eingebracht, dies-
mal im Rahmen des Gesetzes für die Verkürzung von
Aufbewahrungsfristen.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Hätten Sie es mal beim Verkehrswegeplan mit eingebracht!)


Deswegen heißt es im Gesetzentwurf schlicht und ein-
fach:

Zu den weiteren entlastenden Maßnahmen gehören
z. B. die Umsatzsteuerbefreiungen für rechtliche
Betreuer, Bühnenregisseure und -choreographen
sowie die Steuerbefreiung des Taschengeldes bei zi-
vilen Freiwilligendiensten.

Lassen Sie uns also gemeinsam für die Kulturschaf-
fenden und die im Kulturbereich Engagierten heute ein-
mal ein Zeichen setzen, indem wir gemeinsam für den
Gesetzentwurf stimmen. Sollten Sie das nicht tun, weiß
ich genau, was auf den Bühnen dieser Welt los sein wird.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist ja toll! Wenigstens einer, der das weiß!)


Dann wird nämlich jedem klar, das Sie hier auch nur
Theater machen. Schade!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723731000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung
auf Drucksache 17/13259, den Gesetzentwurf der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/13082 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der
zweiten Lesung angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der
Fehmarnbelt-Querung sicherstellen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüf-
stand – Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
dem Königreich Dänemark verhandeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewer-
ten – Verhandlungen mit dem Königreich
Dänemark über den Ausstieg aus dem
Staatsvertrag über den Bau einer Festen
Fehmarnbeltquerung aufnehmen

– Drucksachen 17/11365, 17/8912, 17/9407,
17/13154 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1723731100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die feste Feh-
marnbelt-Querung ist wieder einmal Gegenstand einer
hochspannenden Debatte; darüber freuen wir uns alle.

Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der im Wesentli-
chen darauf abzielt, eine Reihe von Sicherheitsmaßnah-
men im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs im Um-
feld der zukünftigen Baustelle auf See zu veranlassen.
Die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass viele
Forderungen der SPD sich bereits in der Umsetzung be-
finden und die Seesicherheit bei den Bauarbeiten ge-
währleistet ist. Die Betonung liegt auf: Bauarbeiten. Ich
freue mich, dass die SPD weiterhin zu diesem Projekt
steht.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist doch kein Wunder!)


– Herr Hacker, Sie kennen doch die Vorgeschichte. Es
war nicht einfach, Minister Tiefensee überhaupt dazu zu
bewegen, diese Nummer mitzumachen,


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die CDU-Abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern haben nicht zugestimmt!)


die für uns im Norden sehr wichtig ist.





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zu den beiden Anträgen der Linken und
der Grünen und möchte betonen, dass es im Bundestag
eine breite Mehrheit für die Realisierung des Projektes
„feste Fehmarnbelt-Querung“ gibt. Das hat bereits die
Debatte zu den Anträgen gezeigt. Ich halte es auch nicht
für hilfreich, diese Ausstiegsforderung immer wieder zu
erheben. Deutschland und Dänemark wollen die feste
Fehmarnbelt-Querung realisieren, und die Bundesrepu-
blik Deutschland wird sich auch an die eingegangene
Verpflichtung halten, die deutsche Hinterlandanbindung
zeitgerecht fertigzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Hinweise von Linken und Grünen auf Art. 22 des
2008 abgeschlossenen Staatsvertrages über eine feste
Fehmarnbelt-Querung laufen ins Leere. Es ist auf däni-
scher Seite kein Wille erkennbar, nicht einmal ansatz-
weise, auf dieses Bauvorhaben zu verzichten. Nur bei
übereinstimmender Willenserklärung auf dänischer und
deutscher Seite wäre über einen Ausstieg zu verhandeln;
das ist unter angesehenen Juristen völlig unstreitig.

Was mir bei Ihrer Betrachtungsweise fehlt, ist der Er-
trag, der Mehrwert dieser Baumaßnahme. Das meine ich
sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehr Ausgaben!)


Es geht beim Bau des Absenktunnels um ein großes eu-
ropäisches Projekt, das wir von der Union ausdrücklich
begrüßen. Mit der Fehmarnbelt-Querung schaffen wir
eine feste Direktverbindung zwischen Skandinavien und
Kontinentaleuropa,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben wir doch jetzt schon durch die Jütland-Route! Das haben wir alles schon!)


und zwar als Straßen- und Schienenverbindung.

Die Zukunft wird von der Elektromobilität bestimmt
sein. Eine neue Schienenverbindung zwischen Däne-
mark und Deutschland ist somit nur zu begrüßen. Die
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen
Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.


(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/CSU])


Der 17,6 Kilometer lange Absenktunnel durch den Feh-
marnbelt wird Nordeuropa und Zentraleuropa enger zu-
sammenwachsen lassen. Das ist auch ein großer Wunsch
unserer Nachbarn aus Schweden und aus Dänemark.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Linken und die Grünen stellen sich gegen dieses
Projekt, ein Projekt mit europäischen Dimensionen. Sie
präsentieren uns Anträge, in denen sie uns auffordern,
aus dem Staatsvertrag quasi auszusteigen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Richtig!)


Aber wie weit sind wir denn jetzt schon?


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch ist gar nichts gebaut!)


Die Beratungen haben Folgendes ergeben: Die techni-
schen Planungen sind praktisch abgeschlossen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind noch mittendrin, Herr Kollege!)


Die Umweltuntersuchungen sind abgeschlossen. 2015
ist mit dem Baubeginn beim Tunnel zu rechnen. Für die
CDU/CSU-Fraktion bestätige ich Ihnen gerne: Wir ste-
hen uneingeschränkt zu diesem Projekt.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Vorwärts immer, rückwärts nimmer!)


Deshalb können Sie sich schon ausmalen, was mit Ihren
Anträgen passieren wird.

Wir wollen dieses Projekt. Wir wollen die 4 000 Ar-
beitsplätze, mit denen bei diesem Projekt Jahr für Jahr zu
rechnen ist, generieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Torsten Staffeldt [FDP])


500 dieser Arbeitsplätze werden auf deutscher Seite in
der Region von Puttgarden entstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Donnerwetter! Für 2 Milliarden kann man schon etwas verlangen!)


Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für
die Menschen im Großraum Hamburg und Ostholstein.
Die Dänen haben ihre Tunnelprojekte in Krisenzeiten
konzipiert und waren nachher, als die Wirtschaft
boomte, rechtzeitig mit den Projekten fertig. Das war ge-
nau die richtige Entscheidung für das dänische Staatswe-
sen. Das ist ein Vorbild, wie man Geld sinnvoll einsetzen
kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Linke und Grüne wollen jetzigen und zukünftigen
Generationen diese großartigen Chancen verwehren. Sie
verweigern sich der Zukunftsgestaltung. Das machen
wir nicht mit. Wir sind inzwischen so weit, dass wir über
die konkrete Ausgestaltung der Hinterlandanbindung
auch auf deutscher Seite des Tunnels sprechen. Wir
nehmen die Anregungen der Menschen vor Ort auf.
Deshalb wird aktuell über den Bau einer sogenannten
2 + 1-Trasse im Schienenverkehr diskutiert. Sie könnte
festgeschrieben werden, sobald ein entsprechendes
Raumordnungsverfahren abgeschlossen wird. 2 + 1 be-
deutet: Der Nahverkehr würde weiter über die Bäderorte
an der Ostsee verlaufen. Zwei neue Trassen würden pa-
rallel zur A 1 für den Fern- und Güterverkehr gebaut
werden.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Und Kostenpunkt?)


Diese neue Trasse muss natürlich noch im Bundesver-
kehrswegeplan berücksichtigt werden und muss dazu





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)


von Schleswig-Holstein angemeldet werden. Das ist
aber schon angegangen worden. Insofern können wir
sehr zuversichtlich sein, dass die Landesregierung das
mitmacht.

Ein wesentlicher Kritikpunkt ist der Schienenlärm
durch die Zunahme des Güter- und Fernverkehrs. Hier
haben wir uns in der Koalition und auch parteiübergrei-
fend geeinigt, den Schienenbonus ab 2015 abzuschaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Torsten Staffeldt [FDP]: Das haben wir gemacht!)


So. Das ist ein gutes Signal für Schleswig-Holstein,
auch, Ingo Gädechens, für Ostholstein. Es muss jetzt ein
bisschen neu geplant werden. Aber das macht, wie ich
glaube, die Sache ein bisschen einfacher.

Meine Damen und Herren, das, was die Grünen und
die Linken hier vorgelegt haben, ist ein Armutszeugnis.
Wir werden der Beschlussempfehlung des Ausschusses
unsere Zustimmung geben und damit die Anträge ver-
senken.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sören Bartol [SPD]: Und unser Antrag? Was ist mit unserem Antrag?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723731200

Das Wort hat Hans-Joachim Hacker für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723731300

Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Einen herzlichen, schönen Abend zu spä-
ter Stunde! Die späte Stunde ist wohl auch der Grund da-
für, Herr Kollege Storjohann, dass Sie sich mit dem
SPD-Antrag überhaupt nicht auseinandergesetzt haben.


(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Das kommt gleich noch!)


Der SPD-Antrag geht nämlich auf ganz wichtige Fragen
ein, über die wir bereits in Verbindung mit der Ratifi-
zierung des Vertrags zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Dänemark vom
3. September 2008 hier in diesem Hause am 18. Juni
2009 diskutiert haben. Ich will in Erinnerung rufen: Herr
Storjohann, damals waren Abgeordnete der CDU aus
Mecklenburg-Vorpommern dabei, die gegen den Staats-
vertrag gestimmt haben. Nicht, dass Sie versuchen, hier
ein falsches Bild zu malen. So verlief die damalige Ab-
stimmung.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Hört! Hört!)


Heute sind wir einen Schritt weiter. Die SPD hat mit
ihrem Verkehrsminister Tiefensee den Vertrag vom Er-
gebnis her gut ausverhandelt. Ob man für das Projekt ist
oder nicht, darüber kann man lange diskutieren; diese
Debatten führen wir auch. Aber der Vertrag ist hinsicht-
lich der finanziellen Belastung für Deutschland vorteil-

haft. Deshalb hat am Ende der Deutsche Bundestag die-
sen Vertrag ratifiziert.

Wir waren uns aber schon vor der Debatte am 18. Juni
einig, dass die Planungsphase mit gründlichen Unter-
suchungen verbunden werden muss. Ich nenne als Bei-
spiele nur Fragen der Schiffssicherheit, Fragen nach
Auswirkungen auf Flora und Fauna – in dem infrage ste-
henden Bereich der Ostsee gibt es Schweinswale –


(Zuruf von der LINKEN: Noch!)


sowie die Fragen nach Auswirkungen auf Wirtschaft und
Tourismus. All diese Fragen werden im Moment von der
Planungsgesellschaft Femern A/S untersucht. Damit
wird im Grunde genommen ein Auftrag erfüllt, den der
Deutsche Bundestag mit der Ratifizierung des Vertrags
verbunden hatte.

Genau hier, meine sehr verehrten Damen und Herren,
setzt der SPD-Antrag an. Wir wollen, dass der Schutz
vor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung
sichergestellt wird. Dazu hat die SPD-Bundestagsfrak-
tion einen ganzen Katalog vorgelegt, der den Inhalt der
damaligen Debatte sinngemäß aufgreift. In diesem Zu-
sammenhang soll sich die Bundesregierung für verschie-
dene Maßnahmen der IMO, der EU, der Ostseeanrainer
und der zuständigen Bundesländer einsetzen. Am Ende
geht es der SPD-Bundestagsfraktion darum, mit diesem
Antrag die Akzeptanz des Staatsvertrags in der Region
zu erhöhen. Wir möchten, dass Unsicherheiten, die in ei-
nigen Teilen der Bevölkerung noch vorhanden sind, aus-
geräumt werden. Wir möchten Fragen der Sicherheit im
Bereich der Baustelle nicht nur stellen, sondern auch von
der Bundesregierung ganz klare Antworten darauf ha-
ben.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde, das liegt nicht nur im legitimen Interesse der
Bürgerinnen und Bürger in Ostholstein. Vielmehr kom-
men wir damit auch einer Verantwortung nach, die wir
als Bundestagsabgeordnete, insbesondere als Verkehrs-
politiker, tragen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das verstehe ich nicht! Das ist doch Bestandteil des Verfahrens!)


Die Planungsfirma Femern A/S hat im Januar dieses
Jahres berichtet, dass sie selber einen Vertrag mit den
Organisationen RINA und SINTEF geschlossen hat, der
die Beurteilung der Sicherheit der Eisenbahnverbindung
zum Gegenstand hat und die Konformität mit EU-Vor-
schriften prüfen soll. Ich finde, das ist genau der richtige
Weg, den auch die Bundesregierung gehen muss. Die
Bundesregierung hat Verantwortung dafür, dass die
Sicherheitsbelange geprüft und dass die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Prüfungsprozess mitgenommen
werden. Die Menschen in Schleswig-Holstein dürfen
nicht den Eindruck gewinnen, dass in Berlin Politik über
ihre Köpfe hinweg gemacht wird.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Schleswig-
Holstein hat zu Beginn des Jahres 2013 das Raumord-
nungsverfahren eingeleitet. Hier werden die notwendi-
gen Untersuchungen vor Ort angestellt. Herr Ferlemann,





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


noch ein Appell an Sie: Herr Storjohann hat ja die rück-
wärtigen Bahnverbindungen angesprochen. Es ist ja jetzt
nicht mehr klar, was aus der Sundbrücke werden soll.
Die Frage, die ich Ihnen dazu gestellt habe, hat zwar Ihr
Haus beantwortet. Aber auch Fragestellungen wie Aus-
lastung der Sundbrücke und Sanierungsmaßnahmen
müssen in die weiteren Untersuchungen einbezogen
werden. Diese werden wir in den nächsten Jahren noch
zu behandeln haben.

Kollege Storjohann, vor diesem Hintergrund ist nicht
nachvollziehbar, dass Sie sich der Beschäftigung mit ei-
ner Thematik widersetzen, über die wir hier bereits 2009
diskutiert haben. Dass man sich damit beschäftigt, dass
umfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden,
und zwar auch im Sicherheitsbereich, war jedenfalls für
die zustimmenden Fraktionen essenziell für ihr Abstim-
mungsverhalten. Das erinnert mich ein wenig daran,
dass Sie bestimmte Verkehrssicherheitsfragen nicht ernst
nehmen. Das hier ist in etwa vergleichbar mit den Si-
cherheitsfragen betreffend die Kabinenluft in Flugzeu-
gen, Herr Staffeldt. Dafür sind Sie als Freizeitpilot ja
Spezialist. Sie gehen mit diesem Thema, mit dem sich ja
unser Antrag beschäftigt, ähnlich oberflächlich um wie
mit dem Thema der – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723731400

Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723731500

Ja.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723731600

Bitte schön.


Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1723731700

Herr Kollege Hacker, ich habe den Antrag der SPD

sehr genau gelesen.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723731800

Das ist schön.


Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1723731900

Er stammt vom November. Wenn man ihn liest,

könnte man meinen, die SPD glaube immer noch, dass
die feste Fehmarnbelt-Querung in Form einer Brücke
ausgeführt werden soll; nur dann spielt das große Thema
der Schiffskollisionen und der Schiffssicherheit im Feh-
marnbelt eine Rolle. Nun soll es aber ein Tunnel werden.
Gleichwohl ist uns die Schiffssicherheit in der Ostsee
genauso wichtig wie in der Deutschen Bucht oder in der
Nordsee.

An dieser Stelle möchte ich gerne einhaken, weil Sie
gerade den Staatssekretär Ferlemann erwähnt und be-
hauptet haben, dass die Regierung die Schiffssicherheit
nicht ernst nehme. Ist Ihnen bekannt, dass so wie auf
Helgoland bereits ein Radar installiert wurde, um die
Deutsche Bucht zu überwachen, die Regierung mittler-
weile veranlasst hat, dass auch ein Radar auf Fehmarn
installiert wird, um nicht nur den Fehmarnbelt, sondern
auch die Kadetrinne zu überwachen und damit eine er-

höhte Schiffssicherheit zu gewährleisten? Das alles ge-
schah im Vorgriff auf die beginnenden Bautätigkeiten.
Deshalb ist Ihr Antrag, Kollege Hacker, eigentlich obso-
let, aber vielleicht wissen Sie nicht, was ich eben er-
wähnt habe.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723732000

Herr Gädechens, diese Maßnahme der Bundesregie-

rung ist nur zu unterstützen. Ich habe die Bundesregie-
rung doch nicht dafür kritisiert, dass sie die Verkehrs-
und Bausicherheit nicht gewährleisten würde. Dieser
Antrag richtet sich doch zuerst einmal an die Fraktionen
im Deutschen Bundestag, die gemeinsam die Bundesre-
gierung auffordern sollen, etwas zu unternehmen.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Brauchen sie nicht!)


Das ist doch die Zielrichtung.

Wenn Sie der Auffassung sind, die Bundesregierung
sei schon auf einem guten Weg, dann stimmen Sie doch
unserem Antrag zu. Wir können die Bundesregierung
anregen, noch mehr Verkehrssicherheit zu schaffen, und
zwar im Bereich der Baustelle, nicht im Bereich der Brü-
cke. Da haben Sie völlig recht. Über die Brücke disku-
tiert heute keiner.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, das machen wir nachher!)


Wir sprechen über die Baustelle für den Absenktunnel.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Über sieben Brücken musst du gehen!)


Da gibt es genug zu tun. Sie, Herr Gädechens, haben die
Chance, in einer halben Stunde unserem Antrag zuzu-
stimmen. Für Ihre Frage bedanke ich mich. Ich hoffe,
Sie haben ein bisschen was mitgenommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt
komme ich aber doch zu den beiden Anträgen vom
Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Darauf ist
an dieser Stelle schon mehrfach eingegangen worden.
Sie, Herr Storjohann, haben mit Ihrem Einwand aus-
drücklich recht. Das will ich Ihnen attestieren. Sie haben
hier Art. 22 zitiert. Jeder, der sich mit der Evaluierung
des Vertrages und dem Ausstieg aus dem Vertrag be-
schäftigt, sollte einen Blick in den Vertragstext werfen.
In Art. 22 steht ganz klar:

Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einverneh-
men zwischen den Vertragsstaaten geändert, er-
gänzt oder aufgehoben werden.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist klar!)


Das ist unbestritten. Dann verpflichten sich die Vertrags-
partner im Weiteren, alles in ihrer Macht Stehende zu
unternehmen, um das Projekt gemäß den Annahmen zu
verwirklichen.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Gemäß den Annahmen!)


Mir ist nicht bekannt, dass bei unserem Vertragspart-
ner, der Regierung des Königreichs Dänemark, oder im
dänischen Parlament Überlegungen angestellt werden,
diesen Vertrag zu ändern oder aufzuheben. Die dänische





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


Seite tut alles, um den Gegenstand des Vertrages, näm-
lich die Herstellung einer festen Fehmarnbelt-Querung,
umzusetzen. Demzufolge sage ich: Das ständige Wieder-
holen, dass eine Ausstiegsmöglichkeit und Nachver-
handlungsmöglichkeit gemäß Art. 22 bestehe, führt
nicht zum Ziel. Das streut den Menschen in Ostholstein
Sand in die Augen, weckt bei den Bürgerinnen und Bür-
gern dort, die den Vertrag nicht gelesen haben – es muss
nicht jeder Bürger jeden Vertrag lesen, den wir hier im
Deutschen Bundestag verabschieden –, möglicherweise
Hoffnung. Es gibt diese Möglichkeit im Moment nicht.

Was wir zu tun haben, ist, die Verpflichtungen aus
dem Vertrag für die nächsten Jahre zu prüfen. Hierbei
geht es zum Beispiel darum, die rückwärtigen Anbin-
dungen zu ertüchtigen. Genau dort setzt das an, was ich
angesprochen habe: Die Bundesregierung hat noch eine
Bringschuld.

Ich bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren,
deshalb darum, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion
zu unterstützen – es gibt gute Gründe dafür; das hat ja
auch die Frage von Herr Gädechens jetzt noch einmal
deutlich gemacht –, weil wir genau das aufgreifen und
umsetzen, was ein wesentlicher Begleitbestandteil der
Ratifizierung des Vertrages war.

Zu den beiden Anträgen vom Bündnis 90/Die Grünen
und von der Linken – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723732100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Wilms?


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723732200

Aber gerne.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723732300

Herr Kollege, herzlichen Dank.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723732400

Bitte schön.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723732500

Herr Kollege, wenn Sie schon auf Art. 22 des Vertra-

ges Bezug nehmen, dann sollten Sie sich diesen Artikel
vielleicht einmal genau anschauen. Da steht nämlich
durchaus noch etwas mehr drin.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723732600

Ja.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723732700

Ich zitiere einmal:

Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln
als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt
des Abschlusses des Vertrags bekannt ist, werden
die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern.
Dies gilt unter anderem für wesentliche Kostenstei-
gerungen im Zusammenhang mit dem Projekt.

Insofern wundert es mich, wie Sie zu Ihrer Aussage
kommen. Wie können Sie sich das erklären? Also, in
dem Vertrag ist – gerade über den Art. 22 – eine eindeu-
tige Möglichkeit vorgesehen, zumindest in Verhandlun-
gen über einen Ausstieg einzusteigen.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1723732800

Liebe Frau Wilms, Sie suggerieren erneut, dass es

hier Verhandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten
gibt. Die dänische Seite hat eindeutig die Kostenlast für
die Errichtung des Bauwerkes übernommen. Wenn sich
dort Kostenentwicklungen ergeben, die für die dänische
Seite nicht Verhandlungsgegenstand sind, dann wird
Dänemark mit uns keine Verhandlungen aufnehmen,
weil Dänemark dann in eigener Verantwortung eine Kos-
tenentwicklung bewertet und darüber entscheidet.

Wir sind jetzt genau an dem Punkt, dass in Dänemark
– in der Regierung und im Parlament – nicht von einer
Fraktion und nicht von einem Regierungsmitglied über-
haupt eine Diskussion zu Nachverhandlungen geführt
wird.

Wir erwecken hier mit diesen beiden Anträgen offen-
bar den Eindruck, als stünde es kurz vor Nachverhand-
lungen. Es gibt diese Grundlage nicht.


(Dr. Valerie Wilms NEN)


doch!)

Ich bleibe noch einmal dabei – unter Hinweis auf Art. 22
Abs. 1 –:

Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einverneh-
men zwischen den Vertragsstaaten geändert, er-
gänzt oder aufgehoben werden.

Dafür gibt es im Moment, soweit ich das beurteilen
kann, keine Grundlage. Im Gegenteil,


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der will es nicht verstehen!)


die bauvorbereitenden Maßnahmen, die Planungsmaß-
nahmen, laufen auf Hochtouren. Einiges befindet sich im
Zeitverzug – darüber haben wir hier vor einem Jahr
schon einmal diskutiert –; das ist offenkundig.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ums Geld geht es auch!)


Es gibt auch hinsichtlich der Kosten keine Grundlage für
Nachverhandlungen.

Deswegen, liebe Frau Wilms, haben Sie die Chance,
Ihren Antrag zurückzuziehen. Wir können ihm jedenfalls
nicht zustimmen, genauso wenig wie dem Antrag der
Linken.

An die Koalition der Appell: Sie können aus gutem
Grund zustimmen, auch wenn Herr Storjohann das an
dieser Stelle noch nicht erklärt hat. Sie haben jetzt noch
die Chance, das nachzuschieben oder das nachher im
Abstimmungsverhalten deutlich zu machen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723732900

Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1723733000

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was wir

gerade hier erlebt haben, war ein wenig das Abbild des-
sen, wie es in Schleswig-Holstein in Kiel im Moment
zugeht. Dort sagt die Landesregierung: Ja, das Projekt ist
gut. – Ich zitiere beispielsweise den Ministerpräsidenten
Torsten Albig: Ich bin überzeugt, die Feste Fehmarnbelt-
Querung bietet neue Perspektiven und große Entwick-
lungschancen, besonders für Lübeck und Ostholstein. –


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die fahren daran vorbei!)


Die Grünen hingegen, die grüne Fraktion im Landtag
von Schleswig-Holstein, versuchen nach wie vor, dieses
Projekt zu torpedieren. Das ist doch interessant. Darauf
sollte man an der einen oder anderen Stelle immer wie-
der hinweisen. Die streiten sich immer noch, obwohl sie
eigentlich zu dem Projekt stehen müssten.

Die SPD vertritt da klar die Position – wie wir auch –:
Die Fehmarnbelt-Querung muss kommen, soll kommen,
wird kommen.

Die Grünen sind wie immer, wie auch der heute vor-
liegende Antrag ausweist, der Meinung: Das soll alles
tatsächlich – aktualisiert mit Daten, Informationen, zu-
sätzlichen Prozessen – zu einem Ausstieg führen. So
kann man den Antrag der Grünen, der recht voluminös
ist, zusammenfassen. Er sagt im Endeffekt aber nur ei-
nes: Alle unsere Ziele machen deutlich, dass wir nicht
aussteigen wollen; es soll alles so bleiben, wie es ist.

Ähnlich ist es mit dem Antrag der Linken, der einige
Punkte anspricht. Da soll das Dialogforum gestärkt wer-
den, da soll der Staatsvertrag neu verhandelt werden.
Aber am Ende soll als Ergebnis der Ausstieg stehen, und
der Güterverkehr soll nach wie vor über die Jütland-
Route rollen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, funktioniert auch gut, Herr Kollege! Funktioniert sehr gut!)


Der einzige vielleicht halbwegs konstruktive Hinweis
bei den Linken ist, dass die Bauarbeiten außerhalb der
Saison stattfinden sollen.

Der Antrag der SPD, dem ich mich jetzt ein wenig in-
tensiver widmen werde – da haben Sie Glück, Herr
Hacker; ich habe das genauso gelesen wie mein Kollege
Kammer, der gleich noch an der Reihe sein wird –, ist ei-
gentlich ein Sammelsurium von „Wünsch dir was“, nach
der Devise „Jeder darf schreiben, was ihm dazu einfällt“.
Er glänzt – das muss ich als jemand, der sich mit Schiff-
fahrt, Häfen und insbesondere Schiffssicherheit ein biss-
chen auskennt, ganz klar und eindeutig sagen – durch
völlige Ahnungslosigkeit. Das ist so. Da redet der Blinde
von der Farbe.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie sind doch Flieger!)


– Ich bin auch Seemann; da haben Sie Pech gehabt. Ich
kann beides.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie können doch nicht alles sein! Wer alles macht, macht nichts richtig!)


– Nein, ich bin nicht alles, aber ich bin gelernter See-
mann, Herr Hacker. Im Gegensatz zu Ihnen und zur SPD
weiß ich, dass AIS zum Beispiel längst Standard ist. Da
gibt es eine Vorschrift. Gemäß SOLAS – Safety of Life
at Sea – sind alle Schiffe ab einer Größenordnung von
500 Bruttoregistertonnen heutzutage ohnehin verpflich-
tet, diese AIS, diese Automatic Identification Systems,
an Bord zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ CSU]: Endlich hat mal einer Ahnung!)


Wenn Sie so etwas noch fordern, kann ich nur sagen –
tut mir leid –: Da besteht völlige Unkenntnis. Sie haben
keine Ahnung von dem, was Sie da schreiben.

Auch die Überwachung, die Sicherheit auf den 19 Ki-
lometern zwischen Puttgarden und Rodbyhavn gibt es
schon längst. Es wurden eben schon die Radarketten an-
gesprochen. Wir haben in dem Fall sogar noch eine
schwierigere Situation, weil wir eine Staatsgrenze da-
zwischen haben. Aber das funktioniert seit Jahren und
Jahrzehnten glücklicherweise sehr gut, sowohl auf deut-
scher als auch auf dänischer Seite.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Es geht doch nicht um den Fährverkehr, es geht um den Ostseeverkehr!)


Denn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dort
ist gewährleistet.

In Ihrem Antrag finde ich, dass insbesondere die Bau-
phase unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Geltung
zusätzlicher Sicherheitskriterien erfolgen soll. Da fallen
Ihnen solch geniale Ideen ein wie: Jedes Schiff soll von
einem Escort-Schlepper begleitet werden. Hallo?! Wis-
sen Sie, was das bedeutet? Ob man da über 66 000 oder
35 000 Schiffsbewegungen redet: Wenn Sie jedem
Schiff, das durch den Bereich fährt, einen Escort-Schlep-
per zur Seite stellen wollen, brauchen Sie da keine
Schifffahrt mehr.

Die Bergungsschlepper gibt es schon jetzt,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!)


und die werden während der Bauphase – da bin ich si-
cher – auch garantiert da sein. Es gibt da Verantwortli-
che. Zum Beispiel die deutsch-dänische maritime Koor-
dinierungsgruppe kümmert sich schon jetzt darum, Herr
Hacker. Die Bergungsschlepper werden also da sein. Die
werden Stand-by sein, wie sich das gehört, wie das ganz
normal ist.

Insofern sind Ihre Forderungen – so kann ich nur sa-
gen – völlig absurd. Sie gehen ja noch weiter. Sie schrei-
ben, dass die Havariekommission mit mehr Personal





Torsten Staffeldt


(A) (C)



(D)(B)


ausgestattet werden soll, dass die Berufsfeuerwehren an
Land speziell für den Fall ausgebildet werden sollen,
dass auf der Baustelle einmal etwas passiert. Herr
Hacker, grundsätzlich ist es erst einmal die Verantwor-
tung des bauenden Unternehmens, für Sicherheit zu sor-
gen, und nicht unsere Verantwortung als Staat, zumal wir
nur bis zur Hälfte der Strecke zuständig sind. Nicht wir
als Staat haben dort einen Sicherheits- und Rettungs-
apparat aufzubauen, den wir an anderer Stelle auch nicht
haben.

Wir haben jetzt eine ähnliche Diskussion bei den Off-
shoreanlagen in der Nordsee und in der Ostsee. Da wird
auch immer verlangt, der Staat müsse alles machen. Es
ist aber die originäre Aufgabe der Unternehmen, sich da-
rum zu kümmern, dass es funktioniert und dass entspre-
chende Rettungsketten vorhanden sind. Ich gehe auch
fest davon aus, dass es funktioniert, dass es so gemacht
wird wie an anderer Stelle auch.


(Beifall der Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] und Hans-Werner Kammer [CDU/ CSU])


Dann haben Sie noch darauf hingewiesen, Herr
Hacker, dass angeblich der Vertrag mit Dänemark von
Tiefensee so gut verhandelt worden sei. Ich habe durch-
aus auch andere Meinungen dazu gehört. Man kann auch
in den Anträgen lesen, dass es dazu eine unterschiedli-
che Wahrnehmung gibt. Sei es drum!

Ich bin sicher, dass Ihr Antrag so überflüssig ist wie
ein Kropf, weil wir die notwendigen Sicherungssysteme
längst haben. Ich habe das an einigen Beispielen be-
leuchtet.

Ich bin sicher, dass die Fehmarnbelt-Querung kommt.
Ich bin genauso sicher, dass wir unseren Part leisten,
dass wir die Hinterlandanbindungen, die natürlich not-
wendig sind, zeitgerecht, elektrifiziert, zweigleisig, idea-
lerweise, wie vom Kollegen Storjohann schon dargestellt
wurde, parallel zur Autobahn realisieren, um die Belas-
tung der Bürgerinnen und Bürger durch Schienenlärm zu
reduzieren.

Ich bin froh und dankbar, dass wir es in dieser Koali-
tion geschafft haben – das wurde schon gesagt –, den
Schienenbonus abzuschaffen. Das heißt, solche Neubau-
projekte müssen im Endeffekt leise sein.

Insofern ist alles auf dem richtigen Weg. Weil alles
auf dem richtigen Weg ist und weil die beiden Ausstiegs-
varianten der Grünen und der Linken für uns keine Al-
ternative darstellen, werden wir Ihre Anträge ablehnen.
Ich bin froh, dass wir in den vier Jahren hier Gutes für
Deutschland leisten konnten; wir werden das auch wei-
terhin so machen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aber nicht im Sicherheitsbereich!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723733100

Das Wort hat Herbert Behrens für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723733200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Viele Arbeitnehmer und auch Unternehmer in Osthol-
stein bangen um ihre berufliche Existenz. Sie leben näm-
lich davon, dass über 1 Million Touristen die landschaft-
liche Schönheit und das gute Klima an Schleswig-
Holsteins Ostseeküste schätzen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das ist es!)


Kommt die Feste Fehmarnbelt-Querung, droht ihnen
Tag und Nacht der Lärm von 80 Güterzügen, und zwar
jeden Tag und jede Nacht, entlang der Ostseeküste über
die Insel Fehmarn und durch die Tourismusregionen hi-
nauf nach Dänemark. Und diese Lärmbelästigung kostet
auch noch unendlich viel Geld. Über 10 Milliarden Euro
für ein Tunnelprojekt mit Hinterlandanbindung, das den
Lärm überhaupt erst nach Ostholstein bringen soll. Wir
wollen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in
Ostholstein mit guten touristischen Angeboten und einer
guten Verkehrsinfrastruktur. Das geht nicht mit einem
Milliardenprojekt, das diesen Teil des Landes zu einer
reinen Transitstrecke für Gütertransporte zwischen
Schweden und Kontinentaleuropa macht.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die fahren nämlich in Ostholstein alle durch!)


Fast 2 Milliarden Euro kostet allein Deutschland der
Bau der Hinterlandanbindung. Bei diesen Riesenbeträ-
gen könnte man denken, in der Region gäbe es keine
Verkehrswege. Das stimmt aber nicht. Die Fährverbin-
dung als schwimmende Brücke zwischen Lolland und
Fehmarn bringt schon heute viele Güter und viele Men-
schen sicher und schnell über den Belt, egal ob mit dem
Auto, dem Lkw, dem Personenzug oder dem Güterzug
transportiert wird.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Personenzug funktioniert hervorragend!)


Die Verkehrspolitik der Mammutprojekte vernichtet
das Geld, das wir für Instandhaltung, Lärmschutz und
gute Eisenbahnverbindungen zu den Ostseebädern brau-
chen. Darum fordern wir den Ausstieg aus dem Projekt,
bevor Fakten geschaffen werden.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das geht doch gar nicht!)


Das fordern auch viele Betroffene vor Ort.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das geht doch gar nicht!)


Bereits vor 15 Jahren gab es große Zweifel, ob die
Fehmarnbelt-Querung überhaupt sinnvoll ist. Die Bürge-
rinnen und Bürger hatten gute Argumente, um die Pla-





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


nungen schon damals zu stoppen. Da ist zum Beispiel
das Nutzen-Kosten-Verhältnis. Das bedeutet, jeder in-
vestierte Euro muss mindestens das wieder hereinbrin-
gen, was investiert worden ist. Aber von vielen anderen
Großprojekten wissen wir, dass schöngerechnet wird,
dass zweifelhafte Annahmen von Planern dafür sorgen,
dass diese Bauprojekte überhaupt durchgedrückt werden
können. So ist es auch bei der Fehmarnbelt-Querung.

Die Bürgerinitiativen sind beharrlich geblieben. Der
Bund und das Land Schleswig-Holstein sahen sich ge-
zwungen, das Dialogforum einzurichten. Aber sie woll-
ten die Bürgerinnen und Bürger damit eigentlich dazu
bringen, endlich einzulenken. Das ist nicht gelungen. Ihr
Verständnis von Bürgerbeteiligung ist, dass Bürgerinnen
und Bürger ihren Widerstand aufgeben sollen. Dieses
Konzept von nachgelagerter Bürgerbeteiligung ist ein-
deutig gescheitert.

Die Bundesregierung steckt natürlich in der Klemme.
Sie hat ein Projekt der letzten Bundesregierung geerbt.
Aber heute haben wir die Große Koalition wieder auf-
erstehen sehen. Beteiligt waren alle, die dafür sprechen.
Heute behaupten Sie immer wieder, der Staatsvertrag sei
nicht veränderbar. Auch das stimmt nicht. Es gibt eine
Verständigungsklausel in dem Vertrag, die schon ange-
sprochen wurde, nach der die Vertragspartner Deutsch-
land und Dänemark bei gravierenden Veränderungen neu
verhandeln können. Es gibt sogar einen gemeinsamen
Ausschuss, der regelmäßig tagt und in dem solche Fra-
gen verhandelt werden können. Da muss nichts aufge-
kündigt werden.

Es ist nicht hinnehmbar, dass Sie sehenden Auges
Milliarden Euro versenken und zusätzlich auch noch die
Wirtschaftskraft Schleswig-Holsteins nachhaltig schwä-
chen. Schluss damit!


(Beifall bei der LINKEN)


Nach gravierenden Planungsänderungen – von der
Brücke zum Tunnel –, der Halbierung der Verkehrspro-
gnosen, einer gravierenden Kostenexplosion, tausend-
fachen Einwendungen, großen Bürgerprotesten ist die
Zeit reif, den Sinn oder den Unsinn dieses Projektes fest-
zustellen. Eine ergebnisoffene Neubewertung des Pro-
jektes muss her. Noch ließe sich das Projekt stoppen.
Noch sind keine Baufahrzeuge angerollt. Die Linke for-
dert Neuverhandlungen, nicht gegen den Staatsvertrag,
sondern mit den Mitteln, die dieser Staatsvertrag bietet.
Sollten Sie heute dazu nicht den Mut aufbringen – das ist
zu erwarten –, muss die neue Bundesregierung ran. Die-
jenigen, die sich schon heute als Regierungsalternative
anbieten, sollten wissen: Die Bürger sind beharrlich.
Aber auch die Linke wird den Auftrag, Verkehrspolitik
für die Bürger und mit den Bürgern zu machen, in die
neue Fraktion mitnehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Sören Bartol [SPD]: Ihr habt in Schleswig-Holstein etwas über 1 Prozent!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723733300

Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723733400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zu

dieser späten Stunde: Schön, dass noch Besucher anwe-
send sind. Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist
eine erstaunliche Debatte. Manche lernen aus Fehlern,
manche nicht. Zu Letzteren gehören leider


(Torsten Staffeldt [FDP]: Die Grünen!)


diese Bundesregierung und scheinbar auch einige aus
der Fraktion der SPD.

Seit Jahren diskutieren wir über die Risiken von
Großprojekten.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Lesen!)


Wir streiten über Stuttgart 21. Wir erleben im ganzen
Land, dass Bürger mehr Mitsprache verlangen. Die
Menschen wollen umfassend eingebunden werden,
wenn die Politik ihr Lebensumfeld umgestalten will.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das passiert doch vor Ort!)


– Herr Hacker, genau das ist entscheidend. Das tun wir
so nicht.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was erzählen Sie denn für einen Unsinn?)


Große Verkehrsprojekte greifen oft massiv in das Le-
ben der Menschen vor Ort ein. Deswegen müssen wir
die Menschen beteiligen und es ihnen erklären. Aber das
reicht nicht. Es muss auch echte Möglichkeiten zur Än-
derung der Pläne geben,


(Sören Bartol [SPD]: Aber man muss Entscheidungen auch mal akzeptieren!)


sonst fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen.
Pseudobeteiligung ist schlimmer als gar keine Beteili-
gung; denn da weiß man von Anfang an, dass man nichts
ändern kann.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Stuttgart 21!)


So etwas möchte ja scheinbar eine große Koalition
hier in diesem Hause. Durch den Staatsvertrag hat man
all die Erfahrungen mit Großprojekten in den letzten
Jahren offensichtlich wieder komplett vergessen. Der
Vertrag wurde geschlossen, das Projekt festgelegt. Erst
dann wurden die Bürgerinnen und Bürger als Alibi betei-
ligt. Deswegen ist unsere Forderung eine tatsächliche
Abwägung des Nutzens und der Risiken. Wir brauchen
endlich einmal einen wirklich ergebnisoffenen Dialog.
Ergebnisoffen bedeutet auch die Möglichkeit, aus dem
Projekt auszusteigen.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Bei euch ist ergebnisoffen nur, dass ein Ergebnis dabei herauskommt!)


Nur wenn wir diese Möglichkeit schaffen und in den
Prozess ernsthaft einbeziehen, können wir auch die
Menschen vor Ort endlich einbinden. Andernfalls kön-
nen wir es bleiben lassen.





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Staffeldt [FDP]: Sie wollen sie einwickeln, nicht einbinden!)


Denn, werter Herr Storjohann, das ist unser Weg: mit
den Menschen, für die Menschen und nicht nur für die
hauptamtlichen Politikerinnen und Politiker.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Oh! – Sören Bartol [SPD]: Politikverdrossenheit mitten im Parlament! Hervorragend! Jeder kann sein Mandat niederlegen, jederzeit!)


Wir dürfen aber nicht nur über einzelne Projekte dis-
kutieren. Das haben wir viel zu lange getan. Die Zukunft
der Mobilität muss im Gesamtzusammenhang gedacht
werden. Wir müssen erst festlegen, was wir mit unserer
Mobilität wirklich erreichen wollen. Wir müssen uns
Ziele setzen, was unser Verkehrsnetz zukünftig leisten
muss und wie wir das so günstig und umweltschonend
wie möglich schaffen. Erst dann dürfen wir uns um die
einzelnen Projekte und deren Verbindung kümmern.
Derzeit machen wir es genau umgekehrt. In der nächsten
Legislatur läuft der jetzige, völlig überholte Bundesver-
kehrswegeplan aus. Diesen müssen wir endlich zu einem
Bundesmobilitätsplan weiterentwickeln,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und zwar mit klaren Zielen und eindeutigen Prioritäten.
Wenn wir dazu ein Grundkonzept haben, können wir
auch wieder darüber reden, auf welchen Wegen wir zu-
künftig nach Dänemark kommen.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Wenn das 30 Jahre dauert, gibt es dazwischen Stillstand in der Infrastruktur!)


Die Bundesregierung hat das leider überhaupt nicht
verstanden. Stattdessen wurstelt sie weiter herum und
benutzt die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
mit der Deutschen Bahn, um Gelder für die Hinter-
landanbindung der Fehmarnbelt-Querung zu parken.

Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen. Es gibt kein vernünftiges Gesamtkonzept für un-
seren Verkehr. Es gibt auch keine klaren Vorgaben für
die Deutsche Bahn, wie sie das Netz mit Steuergeldern
erhalten soll. Stattdessen werden ein unfertiges Ver-
kehrsprojekt, Fehmarnbelt-Querung genannt, und eine
halbgare Vereinbarung mit der Bahn zusammengewor-
fen. Es geht zu wie auf dem Jahrmarkt. Das versteht kein
Mensch mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Staffeldt [FDP]: Auf dem Jahrmarkt ist mehr los als in Ihrer Rede!)


Dieser Regierung fehlt eine Grundrichtung. Sie kön-
nen nicht einfach alles so zusammenwerfen, wie es
gerade auf Ihrem Schreibtisch landet. Die Leute in unse-
rem Land wollen endlich einmal wissen, ob die Regie-
rung weiß, wo sie hinwill. Aber das ist von dieser Bun-
desregierung ganz offensichtlich nicht mehr zu erwarten.
Abgewirtschaftet hat sie.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Staffeldt [FDP]: Das war jetzt Valeries Sandmännchenstunde!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723733500

Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1723733600

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der

Kollege Gero Storjohann hat vor knapp einem Jahr und
auch heute wieder zu den Anträgen der Linken und der
Grünen ausführlich Stellung genommen. Insofern, Herr
Kollege Hacker, werde ich mich im Wesentlichen mit Ih-
rem Antrag beschäftigen, weil er ja doch einige interes-
sante Perspektiven aufweist.

Herr Behrens, vorab noch einige Worte. Sie sprechen
von einer nachhaltigen Entwicklung, die in Schleswig-
Holstein einsetzen muss, und von der Wirtschaftskraft,
die dahinterstehen muss. Ich habe Ihren Antrag von vor
zwei Jahren bezüglich der Weser-Vertiefung gelesen.
Wirtschaftskraft besteht bei Ihnen offenbar darin, dass
Sie Container mit Kajaks befördern wollen. Das ist das
Verständnis der Linken von Wirtschaftspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ihnen, Frau Dr. Wilms, muss ich eines sagen. Sie ha-
ben hier ja vehement für Bürgerbeteiligung geworben
und dafür, dass wir das einfordern müssen, dass wir mit
den Bürgern etwas machen.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zwar nicht nur anhören, sondern mitmachen!)


Das finde ich prima. Aber wenn die Ergebnisse nicht so
sind, wie Sie das erwartet haben, Beispiel Stuttgart 21,
dann zählt für Sie der Bürgerentscheid auf einmal nicht
mehr. Da müssten Sie dann konsequent sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Torsten Staffeldt [FDP]: Dann muss das Thema offen diskutiert werden! So sieht es aus!)


Nun zum Antrag der SPD-Fraktion, der zwei gute An-
sätze enthält. Erstens haben Sie erkannt, dass diese Bun-
desregierung auch nach dem Wahltag an der Entwick-
lung weiterarbeiten wird. Sie haben richtig erkannt, dass
diese Bundesregierung weitermachen wird.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Überhaupt nicht!)


Zweitens enthält Ihr Antrag ausnahmsweise einmal ei-
nen wahren Satz, nämlich dass die Feste Fehmarnbelt-
Querung eine große Herausforderung darstellt. Das ha-
ben Sie richtig erkannt.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Natürlich! Da gibt es doch keinen Zweifel!)






Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte in diesem Zusammenhang lobend erwäh-
nen, dass die Sozialdemokraten sehr verlässlich sind.
Man kann sich darauf verlassen, dass sie auf Verände-
rungen reagieren, und zwar mit Angstmacherei. Sie wol-
len Angst schüren, Angst verbreiten. Genau so ist das
hier.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Lächerlich!)


Der Staatsvertrag über den Bau der Fehmarnbelt-Que-
rung wurde am 3. September 2008 unter Mitwirkung ei-
nes sozialdemokratischen Ministers geschlossen, der
– das habe ich hier noch stehen – wie kaum einer für
Pleiten, Pech und Pannen steht; aber das verkneife ich
mir jetzt einmal. Er hat den Vertrag damals geschlossen.
Da konnte einem schon angst und bange werden.


(Sören Bartol [SPD]: Wer war denn der Koalitionspartner? Das ist die Frage!)


– Sie hatten den schwachen Minister zu verantworten.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Kammer, ein bisschen mehr Niveau!)


Gott sei Dank tragen jetzt Bundeskanzlerin Merkel
und Peter Ramsauer die Verantwortung für dieses Pro-
jekt, sodass Ihre Angst, meine Damen und Herren von
der Opposition, völlig unbegründet ist. Die Fehmarnbelt-
Querung ist nicht der BER; das muss man deutlich sa-
gen.

Diese Bundesregierung wird alles dafür tun, die Be-
einträchtigungen für den Schiffsverkehr so gering wie
möglich zu halten.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Da wollen wir helfen!)


Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion werden
sie dabei unterstützen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ja, wir wollen doch dabei helfen!)


Diese Bundesregierung wird alles tun, um Gefahr für
Leib und Leben der Menschen und für die Natur abzu-
wenden. Die Regierungskoalition wird dabei helfen. Wir
brauchen keine Nachhilfe von den Sozialdemokraten.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Doch! Dringend, Herr Kammer!)


Das können wir auch so. Wir können es sogar besser.

Muss man Angst vor der Fehmarnbelt-Querung ha-
ben? Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Ja, wenn man
ein roter Berufspessimist ist.


(Lachen des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD])


Für normal denkende Menschen sieht die Sache ganz an-
ders aus. Diese Menschen sehen die Chance, die dieses
Projekt mit sich bringt. Bei der Planung des Tunnels
zwischen Lolland und Fehmarn ist nichts von Dilettan-
tismus, Gigantonomie oder möglichen Luxustrends zu
verspüren. Das ist übrigens keine Einschätzung der

CDU-Pressestelle, sondern dem Hamburger Abendblatt
vom 20. April dieses Jahres entnommen. Die Zeitung hat
recht: Hier geht es nicht um Prunk und Prestige, sondern
um dringend benötigte Infrastruktur, Herr Behrens: In-
frastruktur gegen Stau und Stillstand, Infrastruktur für
Handel und Wandel in Europa, Infrastruktur für den
Fortschritt.

Uns ist auch klar, Herr Behrens und Frau Wilms, dass
es den Fortschritt nur mit den Anwohnern geben darf,
nicht gegen sie. Es ist nachvollziehbar, dass sich die
Menschen auf Fehmarn Gedanken über die Auswirkun-
gen der Fehmarnbelt-Querung auf ihre Insel, ihr Umfeld
und ihre berufliche Existenz machen. Das sind berech-
tigte Fragen. Das verstehen wir. Diesen Fragen haben
wir uns gestellt und werden wir uns auch weiterhin stel-
len.


(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann handeln Sie endlich!)


Ich glaube, dass gewisse Bedenken ausgeräumt sind. Die
guten Gespräche im Dialogforum Feste Fehmarnbelt-
querung haben sicherlich einen Teil dazu beigetragen.
Ein sachlicher Dialog kann einiges bewegen.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer wird sich für
eine zweite Bahntrasse an der Autobahn A 1 abseits der
Ferienorte einsetzen, damit die schweren Güterzüge
nicht durch die Zentren der Ortschaften auf der Insel rol-
len müssen. Die neue Trasse nimmt den Güterverkehr
auf, die alte Trasse bleibt zum Wohle der Anwohner und
Touristen erhalten. Das ist ein vernünftiger Kompromiss.
Das ist die Politik der Union. Das ist Verantwortung für
die Menschen. So müssen die großen Herausforderun-
gen dieses Jahrhundertprojekts gemeistert werden: mit
den Menschen für die Menschen. Seien Sie mit uns opti-
mistisch: Wir werden das gemeinsam hinbekommen.
Ihre Anträge werden wir selbstverständlich ablehnen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie haben zur Sicherheit nichts gesagt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1723733700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/13154. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Empfehlung
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/11365 mit dem Titel „Schutz vor Schiffs-
unfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstel-
len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung von
Linken und Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8912 mit dem Titel „Feste Fehmarnbeltquerung
auf den Prüfstand – Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


dem Königreich Dänemark verhandeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPD
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9407
mit dem Titel „Chancen und Risiken ergebnisoffen be-
werten – Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark
über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau
einer Festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen der Linken und Grünen ange-
nommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-

gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. November 2011 zur Änderung der Richt-
linie 98/78/EG, 2002/87/EG, 2006/48/EG und
2009/138/EG hinsichtlich der zusätzlichen Be-
aufsichtigung der Finanzunternehmen eines
Finanzkonglomerats
– Drucksachen 17/12602, 17/12997 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 17/13245 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Björn Sänger

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung und Regulierung einer Hono-

(Honoraranlageberatungsgesetz)

– Drucksache 17/12295 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 17/13131 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Carsten Sieling
Björn Sänger

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,
Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Verbraucherschutz stärken – Honorarbera-
tung etablieren
– Drucksachen 17/8182, 17/13131 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Carsten Sieling
Björn Sänger

Zum Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzes
liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Patricia Lips (CDU):
Rede ID: ID1723733800

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir dis-

kutieren in der aktuellen Debatte unter den Stichworten
„Honoraranlageberatung“ sowie „Finanzkonglomerate“
und im weiteren Sinne dann auch hinsichtlich der Be-
steuerung von Erlöspools in der deutschen Seeschifffahrt
gleich mehrere Maßnahmen. Lassen Sie mich zu zwei
Punkten Stellung nehmen.

Mit dem Gesetz zur Anlageberatung schaffen wir
Rahmenbedingungen und stärken damit die Finanzbera-
tung auf Honorarbasis. Zu oft war im Zuge der Finanz-
krise zu beobachten, dass Menschen in diesem Land
einen Schaden davongetragen haben, weil sie unzurei-
chend – im schlimmsten Falle sogar falsch – beraten
wurden, wenn das Provisionsinteresse des Beraters stär-
ker war als das eigentliche Anliegen des Kunden. Aus
den genannten Gründen haben wir die provisionsge-
stützte Beratung bereits reguliert, unter anderem im An-
legerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz sowie
im Finanzanlagenvermittlergesetz.

Nun wollen wir zusätzlich die Honorarberatung aus
ihrem Nischendasein herauslösen, um den Kunden eine
transparentere Wahlfreiheit als bisher zu geben. Hierfür
gehen wir heute einen ersten Schritt. Es ist ein erster
Schritt, weil wir uns, erstens, auf den auch für die Krise
maßgeblichen Finanzbereich konzentrieren. Der Versi-
cherungsbereich bleibt in der Tat ausgeklammert. Das
hat neben den erforderlichen sehr umfangreichen Vorar-
beiten auch einen anderen sehr guten Grund: Denn,
zweitens, wir nehmen bei diesem Gesetz erneut parallele
Verhandlungen auf europäischer Ebene zu einem ver-
gleichbaren Thema vorweg. Bis zum Ende dieser Ver-
handlungen dauert es uns nicht zum ersten Mal zu lange.

Deshalb lösen wir einen Bereich heraus, bei dem be-
stimmte Inhalte absehbar sind, um wenigstens an einer
sehr wichtigen Stelle bereits den sprichwörtlichen Fuß in
die Tür zu bekommen. Wir schaffen damit eine gute
Grundlage. Diese Regulierung ist uns wichtig. Wir wol-
len damit ein weiteres Signal setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Absehbar ist bereits, dass es am Ende keine komplette
Abschaffung der provisionsgestützten Beratung geben





Patricia Lips


(A) (C)



(D)(B)


kann. Sie ist und bleibt Bestandteil des Angebots. Beide
Varianten, die honorar- und die provisionsgestützte Be-
ratung, haben Vor- und Nachteile. Keines der Modelle ist
frei von Interessenskonflikten. Viele Menschen haben
einen guten Kontakt zu ihren Vermittlern und Beratern,
oft über viele Jahre hinweg. Sie vertrauen ihnen, zumeist
auch zu Recht. Es ist deshalb nicht an uns, eine ganze
Branche unter Generalverdacht zu stellen. Unser Ziel ist
es auch nicht, die Kunden zu bevormunden. Der Berater
auf Honorarbasis soll jedoch in der Wahrnehmung der
Verbraucher gestärkt werden. Der Verbraucher soll er-
kennen, dass es mehr als eine Form der Anlageberatung
gibt.

Was sind die wichtigsten Eckpunkte? Die Honoraran-
lageberatung wird zu einem Berufsbild mit geschütztem
Begriff. Nur wer bestimmte Kriterien erfüllt, darf sich
künftig entsprechend bezeichnen. Das Regulierungsni-
veau inklusive der Qualifizierung wird darüber hinaus
angepasst. Das reicht von der Registrierung über die
Aufsicht und die Wohlverhaltenspflichten bis hin zur
Sachkunde und vielem anderen mehr.

Im Gegensatz zur Opposition wollen wir aber nicht,
dass dabei einseitig sogenannte Nettofinanzprodukte in
die Beratung einfließen. Das würde bedeuten, dass der
Berater rundweg gar keine Produkte einbeziehen dürfte,
die über einen Emittenten eigentlich mit einer Provisi-
onsvergütung versehen sind. Die Nettoprodukte sollen
natürlich in erster Linie empfohlen werden. Auch von
uns wird dieser Weg verfolgt. Nur wenn das empfohlene
Finanzinstrument nicht provisionsfrei erhältlich ist, darf
dieser Weg eingeschlagen werden.

Doch auch dann gelten Regeln: Fällt eine Provision
an, darf diese nicht beim Berater verbleiben. Er hat also
keinen Vorteil davon. Er muss die Provision unverzüg-
lich an den Kunden weiterleiten. Es gilt: Am Ende darf
ein Produkt dem Kunden auf keinen Fall zum Schaden
gereichen, aber auch nicht zu einem Mehraufwand füh-
ren. Für uns gilt aber auch: Nicht das Verfahren und
nicht Prinzipienreiterei, die zum Ausschluss von Dingen
führen könnten, die für den Kunden vielleicht sogar von
Vorteil wären, dürfen am Ende im Mittelpunkt stehen,
sondern das beste Produkt für den Kunden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte etwas zitieren:

Eine Honorarberaterin bzw. ein Honorarberater
muss aus dem gesamten Bereich von Finanz- und
Versicherungsinstrumenten optimale individuelle
Lösungen für seine Kundinnen und Kunden bereit-
stellen können.

Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dies ist ein
Zitat aus Ihrem Antrag. Ich hätte es nicht besser formu-
lieren können.


(Harald Koch [DIE LINKE]: Schön!)


Abschließend sage ich: Der vorliegende Gesetzent-
wurf steht in einer Reihe mit den Gesetzen aus den letz-
ten Jahren, mit denen diese Koalition nicht nur die Fi-
nanzbranche stärker reguliert hat, sondern vor allem

auch für den Verbraucher ein hohes Maß an Sicherheit
und Transparenz schaffen konnte. Er bildet eine Basis
für weitere Schritte. Damit können wir in einem wichti-
gen Bereich kurzfristig für mehr Sicherheit und Transpa-
renz sorgen.

Lassen Sie mich in einem weiteren Teil meiner Aus-
führungen ein anderes Thema ansprechen. Es geht um
die sogenannten Schiffserlöspools im Bereich der deut-
schen Seeschifffahrt. Diese Pools sind ein Instrument zur
gemeinsamen flexiblen Vermarktung der in einem Pool
vereinten Schiffe, also im Prinzip eine gute Sache.

Die Frage, inwieweit eine Versicherungsteuer für
diese zur Anwendung kommen soll, ist kürzlich aufge-
worfen worden. Das führt zur Verunsicherung. Wir wol-
len heute klarstellen, dass für diese Pools weder rückwir-
kend noch bis Ende 2015 eine Pflicht zur Zahlung einer
Versicherungsteuer entsteht. Damit wird Planungssicher-
heit gegeben. In der Folge soll es zu einer umfassenden
Neuregelung der Versicherungsteuerpflicht kommen.
Letztendlich ergibt sich diese Maßnahme aus den Leh-
ren, die wir aus der Finanzkrise seit 2008 gezogen ha-
ben. Gerade auf den Schifffahrtsmärkten gab und gibt es
langanhaltende Verwerfungen. Wir wollen unsere mari-
time Wirtschaft damit unterstützen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723733900

Carsten Sieling hat für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1723734000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der
Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf mit dem
wunderschönen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur För-
derung und Regulierung einer Honorarberatung über Fi-
nanzinstrumente“ ist leider ein weiterer Beleg dafür,
dass Sie zwar schöne Überschriften formulieren, der In-
halt aber selten hält, was die Überschrift verspricht.

Weil wir hier schon mehrfach darüber diskutiert ha-
ben und die Zeit schon fortgeschritten ist, möchte ich di-
rekt sagen, dass es so leider nicht gelingen wird, eine
vernünftige und nachvollziehbare Alternative zu einer
standardisierten provisionsbezogenen Beratung und zu
einem provisionsbezogenen Vertrieb für die Menschen
zu schaffen.

Ich glaube, man hat bei meiner Vorrednerin sehr deut-
lich gemerkt, wie kompliziert und verworren das Kon-
strukt ist, das produziert worden ist. Dies hat ja viel mit
Konflikten in Ihren Reihen zu tun.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wo?)


Bundesverbraucherministerin Aigner, die Sie ja jetzt
wieder zurück nach Bayern schicken, weil Sie dort eine
Reihe von Ersatzpersonal brauchen – auch gerade nach
dem heutigen Tag –,


(Otto Fricke [FDP]: Witzig, witzig!)






Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


hat einen umfangreichen Vorschlag gemacht, der in vie-
lerlei Hinsicht vernünftige Elemente beinhaltet hat. Das
ist dann leider vom Bundesfinanzminister mit tätiger
Hilfe der FDP zersägt worden.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Könnten Sie einmal erläutern, was da zersägt worden ist, Herr Sieling?)


– Ich bedanke mich für diese Frage. Sie zeigt, man
konnte mir bislang gut folgen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nein! Eigentlich nicht! – Otto Fricke [FDP]: Ja, die Frage ist nur, wohin!)


Ich will Ihnen meine Kritik kurz erläutern.

Erstens. Sie ermöglichen eben nicht eine durchgrei-
fende und umfassende Beratung. Die Menschen brau-
chen Sicherheit, sie brauchen ein breit strukturiertes An-
gebot zu unterschiedlichen Produkten.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das wird schon längst angeboten! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das gibt es doch schon!)


Darum ist es falsch, dass Sie kein umfängliches Berufs-
bild für Honorarberater vorsehen und auch keine pro-
duktübergreifenden Anlageberatungen ermöglichen.

Zweitens. Sie trennen nicht deutlich zwischen den
Vertriebskosten und den Produktkosten. Das ist der ent-
scheidende Punkt. Die verpflichtende Ausweisung von
Nettotarifen wäre ein wichtiges Element. Sie sehen nur
vor – das ist der dritte Kritikpunkt –, denen, die etwas
verkaufen, die Möglichkeit zu geben, die Provision an
die Kunden weiterzuleiten. Damit geben Sie ein völlig
falsches Signal und irritieren an einer wichtigen Stelle.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Letztlich schaffen Sie es nicht, die Aufsicht in diesem
Bereich endlich einmal zu ordnen. Ich finde nach wie
vor, dass es ein Skandal ist, dass die Industrie- und Han-
delskammern und die Gewerbeaufsichtsämter, die in der
Gastronomie die Bedingungen kontrollieren, sich um
diesen schwierigen Bereich kümmern müssen. Wir ha-
ben von Beginn an gesagt, dass das alles von der BaFin
kontrolliert werden soll, aber Sie sehen dies wieder nicht
vor.

Im Ergebnis wird der Beratungssektor weiterhin eine
Subkultur bilden. Das ist schade. Das ist wirklich ein
Verlust für die Sicherheit und für die Perspektiven. Des-
halb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab und haben einen
eigenen Antrag vorgelegt. Wir bitten um Zustimmung
für diesen Antrag.

Ich darf, weil dies eine Debatte ist, in der verschie-
dene Punkte thematisiert werden, auch das Thema der
Schiffspools und der Versicherungsteuer ansprechen.
Frau Kollegin Lips, eines will ich ausdrücklich sagen.
Sie haben hier so schön formuliert: Und dann kam da
plötzlich irgendwoher der Vorschlag, diese Dinge einer
Versicherungsteuer zu unterwerfen. – Nennen Sie doch

bitte Ross und Reiter. Dieser Vorschlag ist von Bundes-
finanzminister Schäuble gemacht worden, er hat weder
Hand noch Fuß und ist von Grund auf falsch und auch
nicht sachgemäß.


(Beifall bei der SPD)


Das hat die Anhörung im Finanzausschuss sehr deutlich
gezeigt.

Sie haben jetzt versucht, zu reparieren. Ich hatte bis
vorgestern noch geglaubt, dass Sie richtig reparieren und
einsichtig geworden sind. Aber nein, Sie trauen sich
nicht. Sie machen eine befristete Regelung bis Ende
2015.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir schaffen Rechtssicherheit! – Gegenruf des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]: Sie schaffen gar nichts!)


Damit schaffen Sie nur eine vorübergehende Rechtssi-
cherheit. Ich habe heute eine Presseerklärung dazu gele-
sen, in der es hieß: „Das Damoklesschwert … ist an die
Seite gelegt worden.“ Richtig, es wird bis Ende 2015 an
die Seite gelegt, aber es liegt noch da, um dann wieder
aufgehängt zu werden.

Meine Damen und Herren, entweder sind diese Pools
versicherungsteuerpflichtig oder nicht. Ein bisschen
schwanger geht nicht. Sie legen hier einen solchen Un-
sinn vor. Gut, es gibt einen positiven Aspekt dabei: Wir
haben nach dem 22. September, wenn wir regieren, die
Aufgabe, daraus etwas Konsistentes zu machen und da-
für zu sorgen, dass die Versicherungsteuer an der Stelle
wirklich der Vergangenheit angehören wird.

Angesichts dieser späten Stunde habe ich etwas Rede-
zeit eingespart.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723734100

Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1723734200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Im Zuge der Finanzkrise gab es bei den Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern, bei den Anlegerinnen und An-
legern eine große Verunsicherung. Sie wussten nicht,
wie sie mit der Situation umgehen sollten. Misstrauen ist
entstanden. Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU
und FDP hat reagiert. Rückblickend kann man mit Fug
und Recht feststellen: Es waren vier gute Jahre für
Deutschland im Bereich des Anlegerschutzes.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben Sicherheit und Vertrauen geschaffen,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Mit dieser Meinung stehen Sie aber ziemlich alleine da!)


indem wir beispielsweise das Anlegerschutzgesetz ver-
abschiedet haben. Wir haben die Beratungsprotokolle
eingeführt. Wir haben die Produktinformationsblätter





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


eingeführt, die wir zukünftig reformieren werden; wir
wollen versuchen, sie zu vereinheitlichen. Wir haben un-
gedeckte Leerverkäufe verboten und die Kreditverbrie-
fungen geregelt. Wir haben eine Initiative zu den Eigen-
kapitalquoten im Zuge des Basel-III-Prozesses gestartet.
Wir haben den Hochfrequenzhandel und den Deriva-
tehandel reguliert.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ja, das war hart!)


Jüngst haben wir uns im Ausschuss mit dem AIFM-
Umsetzungsgesetz beschäftigt und den grauen Kapital-
markt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Insgesamt
kann man wirklich mit Fug und Recht feststellen: Bis-
lang waren es vier gute Jahre für Deutschland. Wir ma-
chen sie aber noch besser,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Oh, noch besser?)


und zwar durch das Honoraranlageberatungsgesetz, das
wir vorgelegt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Manfred Zöllmer [SPD]: Die Begeisterung in Ihren eigenen Reihen hält sich aber sehr in Grenzen!)


Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen und
Herren, schaffen wir Wahlfreiheit. Auf die Wahlfreiheit
kommt es uns nämlich an. Die Kundinnen und Kunden,
die Anlegerinnen und Anleger sollen die Wahl haben, zu
entscheiden, wie sie sich in ihren privaten Geldangele-
genheiten beraten lassen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nein! Sie sollen weiter auf die schwarzen Schafe hören!)


Das ist eben der Unterschied zwischen uns und Ihnen:
Bei uns entscheidet der Kunde, bei Ihnen entscheidet das
Wir. Wir sind der Meinung, es ist besser, wenn der
Kunde entscheidet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Bei Ihnen entscheidet das Ich! Ich, ich, ich! Das ist mir klar!)


Aus diesem Grund haben wir das Berufsbild des
Honoraranlageberaters geschaffen. Wir haben klar fest-
gelegt, welche Voraussetzungen er erfüllen muss, was er
machen darf und was er nicht machen darf. Vermutlich
wird es auch bei der Honorarberatung schwarze Schafe
geben. Davor ist man allerdings nie gefeit; auch die pro-
visionsgestützte Beratung hat Vor- und Nachteile. Aber
jetzt kann der Kunde selbst entscheiden,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und sich ein schwarzes Schaf aussuchen!)


und ein Markt kann sich entwickeln.

In der Tat ist die Honorarberatung, Kollege Sieling,
noch nicht ganz so umfassend geregelt, wie wir es uns
wünschen würden. Allerdings muss man berücksichti-
gen: Im Rahmen der MiFID ist eine europäische Regu-
lierung zu erwarten. In etwa zwei Jahren wird es so weit
sein, dass sie auch bei uns landet.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dann muss Ihr Gesetz wieder geändert werden!)


Damit wir dieses Gesetz dann nicht werden ändern müs-
sen, sondern weiterhin Rechtssicherheit haben, haben
wir aus dieser europäischen Regulierungsrichtlinie das
herausgegriffen, was man schon jetzt umsetzen kann.
Dabei geht es im Wesentlichen um Wertpapiere, bedau-
erlicherweise nicht um Versicherungen. Weil es noch
keinen vernünftigen Markt für sogenannte Nettopro-
dukte gibt, also für Produkte, die keinen Provisionsanteil
enthalten, haben wir die Vorschrift eingeführt, dass der
Berater, wenn das für den Kunden beste Produkte eine
Provision beinhaltet, diese Provision an den Kunden
weiterleiten muss.

Insofern haben wir einen Ordnungsrahmen geschaf-
fen, der für mehr Wettbewerb zwischen den Beratungs-
formen und für mehr Wettbewerb zwischen den Beratern
führen wird. Anbieter, die sagen: „Ich möchte meinen
Kunden zukünftig Honorarberatung anbieten“, können
dies tun, ohne in zwei Jahren möglicherweise mit einer
weiteren Gesetzesänderung rechnen zu müssen. Ich
finde, in Anbetracht sich ständig ändernder Rahmenbe-
dingungen ist das eine gute Lösung.

Ich fasse zusammen: Der Kunde entscheidet, und wir
haben Wettbewerb geschaffen. Es waren in der Tat vier
gute Jahre für Deutschland.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723734300

Das Wort hat Harald Koch für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723734400

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Verbraucherinnen und Verbrauchern entsteht jedes
Jahr durch falsche Anlageberatung und schlechte Fi-
nanzinstrumente ein Schaden von über 50 Milliar-
den Euro.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wo kommt diese Zahl eigentlich her, Herr Kollege Koch? – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Erzählen Sie doch mal, wie Sie darauf kommen!)


– Stellen Sie die Frage; dann sage ich Ihnen das.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das haben wir doch gerade gefragt!)


Mit dem Honoraranlageberatungsgesetz will die Bun-
desregierung die Beratung auf Honorarbasis stärken, um
wenigstens ein klein wenig für bessere Finanzberatung
zu sorgen. Doch das gelingt ihr leider nicht. Das liegt
zum einen daran, dass sie zwei entscheidende Gründe
für massenhafte Falschberatung im Finanzbereich völlig
ignoriert: die provisionsgestützte Beratung und Vermitt-
lung sowie den Vertriebs- bzw. Verkaufsdruck, der oft
auf Vermittlern und Beratern lastet. Zum anderen liegt es
daran, dass sie, um die manipulative Finanzlobby nicht
zu vergrätzen, nicht den Blick über den Tellerrand wagt.





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)


Aus diesem Grund lehnt die Linke diesen Gesetzent-
wurf ab. Wir haben aber zugleich einen Entschließungs-
antrag eingebracht, den ich Ihnen allen dringend zur
Lektüre empfehlen möchte.

Es reicht nicht aus, wenn man sich, wie es die SPD
und die Grünen mit ihren Anträgen tun, stur auf die Ho-
norarberatung stürzt. Ihre Forderungen zur Stärkung der
Honorarberatung teilen wir aber weitestgehend.

Wir wollen unter anderem, dass der Begriff „Berater“
unter Bezeichnungsschutz gestellt wird. Es müssen na-
türlich auch Nettotarife für alle Finanzmarktinstrumente
eingeführt werden. Eine bundeseinheitliche Aufsicht für
alle Honoraranlageberater hat durch die BaFin zu erfol-
gen. Die Vergütung der Beratenden muss zum Schutz
einkommensschwacher Menschen besser geregelt wer-
den. Honorarberatung darf auch nicht zum Privileg der
Reichen werden. Schließlich sollte die Beratung finanz-
instrumenteübergreifend erfolgen und zum Beispiel Ver-
sicherungen mit einschließen.


(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen habe ich Ihre Aussage, Frau Lips, wohlwol-
lend zur Kenntnis genommen.

Doch nun muss der Blick weiter reichen als von der
Tapete bis zur Wand: Wir brauchen eine wirklich unab-
hängige und flächendeckende verbrauchergerechte
Finanz- und Anlageberatung auf einer viel breiteren Ba-
sis. Daher müssen neben der Honorarberatung vor allem
die Beratungsangebote der Verbraucherzentralen und der
Schuldnerberatungsstellen gestärkt werden, aber auch
die öffentliche Rechtsberatung zum Anlegerschutzrecht.
Die Verbraucherzentralen müssen personell, strukturell,
rechtlich und finanziell in die Lage versetzt werden, ihr
Beratungsangebot und ihre Marktwächterfunktion aus-
bauen zu können.

Im Gegensatz zu SPD und Grünen will die Linke das
System der provisionsgestützten Finanzberatung und -ver-
mittlung überwinden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Linke wollte auch einmal den Kapitalismus überwinden!)


An dieser Stelle merkt man ganz deutlich, dass auch
SPD und Grüne das Problem der Falschberatung nicht
ernst genug nehmen


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Jetzt wird das Eis aber dünn!)


und der Finanzlobby nicht an den Karren fahren wollen.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Unglaublich!)

Solange es eine provisionsgestützte Finanzberatung gibt,
hat die Honorarberatung wenige Chancen.

Produktbezogene Verkaufsvorgaben der Kredit- und
Finanzinstitute, der Versicherungen und Finanzvertriebe
sind ebenso gesetzlich zu verbieten. Schließlich brau-
chen wir neben einer Verbraucherschutzbehörde für
Finanzmärkte einen Finanz-TÜV, der allen Finanz-
marktakteuren, -instrumenten und -praktiken nur bei Un-
bedenklichkeit eine Zulassung erteilt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ohne Zulassung kein Geschäft, nur so vermeidet man et-
liche weitere Verlustgeschäfte für die Bürgerinnen und
Bürger, die sich in der Folge auch in steigender Alters-
armut bemerkbar machen.

Alles in allem getraut sich nur die Linke, das Goldene
Kalb der Provision zu schlachten. Die Finanzberatung
muss endlich von den Bedürfnissen, Lebensumständen
und Anlagezielen der Verbraucherinnen und Verbraucher
ausgehen, und zwar nur davon. Es bestehen also
noch große Probleme im finanziellen Verbraucherschutz.
Eine deutliche Stärkung der Verbraucherinteressen und
-rechte ist dringend notwendig. Nur die Linke ist hier
Anwältin der Bürgerinnen und Bürger.

Die Zahlen, Herr Brinkhaus, habe ich von Professor
Dr. Andreas Oehler von der Universität Bamberg, nach-
zulesen im Handelsblatt vom 27. Dezember 2012.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Der hat sie wahrscheinlich auch abgeschrieben von irgendjemandem!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723734500

Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723734600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Das Ziel des Gesetzentwurfes, die Honorarbera-
tung in Deutschland zu fördern und zu regulieren – Frau
Lips hat dieses Ziel schön vorgetragen –, unterstützen
wir aus vollem Herzen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Leider wird dieses Ziel mit dem Gesetzentwurf der Bun-
desregierung nicht erreicht. Anstelle eines umfassenden,
an den Kundenbedürfnissen orientierten Berufsbildes
zur Honorarberatung, das alle Finanzprodukte ein-
schließt – Sie haben da aus dem Entschließungsantrag
der Linken zitiert –, produzieren Sie weiteres Chaos auf
dem Markt.

Mit Begriffen wie „Honoraranlagenberater“ und „Ho-
norarfinanzanlagenberater“, die mitnichten über alle für
die Verbraucher relevanten Produkte beraten können,
schaffen Sie bei den Verbrauchern Verwirrung. Stellen
Sie sich die Situation vor: Sie gehen zu einem Honorar-
finanzanlagenberater. Der darf Sie aber nicht dahin ge-
hend beraten, dass Sie zum Beispiel erst einmal eine
private Haftpflichtversicherung oder eine Berufsunfä-
higkeitsversicherung abschließen sollten, bevor Sie sich
Gedanken über Aktien, Sparpläne und geschlossene
Fonds machen. Wir finden: Das hat nichts mit umfassen-
der Finanzberatung zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich denke, es ist keine Kaffeesatzleserei, wenn ich pro-
gnostiziere, dass nur ein kleiner Kundenkreis bereit sein





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


wird, für eine derart eingeschränkte Form der Beratung
überhaupt Honorare zu zahlen.

Die Bundesregierung und die Fraktionen von Union
und FDP vergeben die Chance auf einen Paradigmen-
wechsel im Markt für Finanzberatung in Deutschland.
Wenn Sie einen wirklichen Paradigmenwechsel, einen
echten Wettbewerb zwischen Honorar und Provision, ge-
wollt hätten, dann wären Sie mutige Schritte gegangen,
zum Beispiel mit der Pflicht zur Einführung von Netto-
tarifen und der steuerlichen Gleichstellung von Provi-
sion und Honorar.


(Harald Koch [DIE LINKE]: So ist es!)


Frau Lips, Sie haben gesagt, die Durchleitung von
Provisionen sei eine Alternative zu den Nettotarifen.
Mitnichten! Die Provisionsdurchleitung kann nur ein
Modell für einen Übergang sein. Danach brauchen wir
die Pflicht zur Einführung von Nettotarifen, damit die
Verbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich ver-
ständliche Alternativen am Markt haben, die sie ohne ein
Ökonomiestudium miteinander vergleichen können.

Das Instrument der Provisionsdurchleitung wurde in
der Anhörung hart kritisiert. Damit öffnen Sie neuen
Fehlanreizen Tür und Tor. Sie erlauben damit eine ver-
meintliche Schnäppchenjagd für die Verbraucherinnen
und Verbraucher und verlagern Fehlanreize vonseiten
der Anbieter und Vermittler zu den Verbrauchern. Hier
kann man sich nur fragen: Halten Sie das wirklich für
sinnvoll?

Meine Damen und Herren, die Kritik aus dem Bun-
desrat, aus der Anhörung und vonseiten der Opposition
haben Sie mit wenigen Ausnahmen ignoriert.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Weil sie schlecht war!)


Von Ilse Aigners großen Ankündigungen, die sie 2011 in
Form eines durchaus brauchbaren Eckpunktepapiers
vorgelegt hat, ist nur wenig übrig geblieben.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wie immer!)


Herausgekommen ist dieser Gesetzentwurf, den man,
denke ich, mit Fug und Recht als Entwurf eines Hono-
rarberatungsverhinderungsgesetzes bezeichnen kann,
und so etwas lehnen wir ab.

Ich bedanke mich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723734700

Das Wort hat nun Ralph Brinkhaus für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Jetzt aber nicht die Sänger-Rede!)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1723734800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-

legin Maisch, ich glaube, das, was Frau Aigner in ihr

Eckpunktepapier geschrieben hat, ist schon zu großen
Teilen umgesetzt worden.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Da sind Sie aber der Einzige, der das glaubt!)


Man muss auch einfach einmal eines sagen: Das, was
davon in dieser Legislaturperiode umzusetzen war, ist
auch umgesetzt worden. Wir müssen hier einfach auch
einmal realistisch bleiben.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Ministerin ist eine Träumerin, eine Fantastin!)


Die Honoraranlageberatung ist von dieser Bundes-
regierung und von dieser Regierungskoalition das erste
Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzlich
verankert worden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Honoraranlageberatungsgesetz steht als ein Element
in einer ganz langen Reihe von vielen Verbraucher-
schutzmaßnahmen, die diese Bundesregierung auf den
Weg gebracht hat.


(Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Sänger schon vorgetragen! Nicht noch einmal! Das hat der Kollege schon gesagt!)


Diese Bundesregierung hat so viel für den Verbraucher-
schutz im Bereich der Finanzen getan wie keine Bundes-
regierung zuvor. Auch das gehört zur Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Um Ihnen das nur noch einmal in Erinnerung zu ru-
fen, nenne ich: das Anlegerschutz- und Funktionsverbes-
serungsgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, die
Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie, die Verbesserun-
gen der Aufsichtsstrukturen, das AIFM-Umsetzungsge-
setz, das gestern durch den Ausschuss gegangen ist, die
Deckelung der Provisionen bei der privaten Krankenver-
sicherung und bei der Lebensversicherung, unsere Mit-
wirkung an MiFID II – daran wirken wir noch immer
mit – und Maßnahmen in Bezug auf die Geldautomaten
und Verjährungsfristen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ein Fehler nach dem anderen!)


Ich glaube, wenn Sie in der Zeit, in der Sie Verant-
wortung getragen haben, so viel vorzuweisen gehabt hät-
ten, dann könnten Sie stolz sein. Das haben Sie aber
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Harald Koch [DIE LINKE]: Wir hätten noch die Vermögensteuer eingeführt!)


Kommen wir zum zweiten Gesetzentwurf, den wir
heute hier verabschieden werden. Es geht dort um Fi-
nanzkonglomerate. Dazu hat sich noch keiner geäußert.
Ich glaube, der Kollege Zöllmer wird sich dieser Auf-
gabe gleich annehmen.

Ich mache es einmal ganz kurz und bündig: Was ist
ein Finanzkonglomerat? Das ist ein Konzern, in dem





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


– ganz grob vereinfachend gesagt – sowohl ein Versiche-
rungsunternehmen als auch eine Bank ist. Das bedeutet,
dass es da durchaus Probleme geben kann, weil Banken
und Versicherungen getrennt beaufsichtigt werden. Des-
wegen ist es notwendig, dass die gemeinsame Aufsicht
koordiniert wird. Deswegen ist es notwendig, dass man
bei Organisation und Eigenmitteln besondere Anforde-
rungen beachtet.

Das Ganze war im deutschen Recht bisher in einigen
Gesetzen geregelt, aber noch nicht europarechtskon-
form. Das wird jetzt nachgeholt. Wir werden europäi-
sche Vorgaben umsetzen, und wir werden aus verschie-
denen Gesetzen ein neues Gesetz machen: ein
Finanzkonglomerate-Aufsichtsgesetz, in dem verschie-
dene Paragrafen vereint sind. Wir werden auch diesen
Bereich vernünftig überwachen lassen. Ich glaube, das
ist im Wesentlichen unstrittig. Wir haben darauf verzich-
tet, in größerem Umfang etwas hinzuzufügen. Dement-
sprechend war es in den Ausschussberatungen eigentlich
einhellige Meinung, dass dieses Gesetz ein gutes Gesetz
ist. Ich bedanke mich bei den Koberichterstattern für die
vertrauensvolle Zusammenarbeit.

„Was machen eigentlich zwei Gesetze wie das Hono-
raranlageberatungsgesetz, also ein Gesetz zum Verbrau-
cherschutz, und ein Gesetz zu Finanzkonglomeraten in
ein und derselben Debatte?“, könnte man sich fragen.
Die erste Antwort darauf ist: Wir verabschieden so un-
glaublich viele Gesetze im Bereich der Finanzmarktre-
gulierung und des finanziellen Verbraucherschutzes,
dass wir von unseren Parlamentarischen Geschäftsfüh-
rern immer weniger Debattenzeiten für Themen dieser
Art bekommen. Dementsprechend müssen wir diese bei-
den Gesetzentwürfe an dieser Stelle zusammen beraten.

Die zweite Antwort darauf ist: Zwischen diesen bei-
den Bereichen gibt es doch eine Verbindung. Wir haben
gerade sehr viel über den finanziellen Verbraucherschutz
gesprochen, über Transparenz, über Informationen, über
Beratungen, über Vertrieb, über Provisionen und ähn-
liche Dinge. Aber eigentlich ist es so, dass der beste fi-
nanzielle Verbraucherschutz stabile Finanzmärkte sind.
Genau das hat diese Bundesregierung mit auf den Weg
gebracht, und zwar durch über 25 Initiativen, Gesetzge-
bungsverfahren, Umsetzungen von europäischen Nor-
men. Das haben wir eigentlich richtig gut gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nicht nur eigentlich!)


Wir haben dabei ein System gehabt: Wir haben dafür
gesorgt, dass bei Finanzinstituten, Banken und Versiche-
rungen weniger Fehler gemacht werden. Wir haben
Fehlanreize bei den Vergütungsstrukturen beseitigt. Wir
haben den Unsinn, der bezüglich Ratingagenturen ge-
macht worden ist, abgestellt. Wir haben Verbriefungen
und Großkredite reguliert.

Wir haben in einem zweiten Schritt dafür gesorgt,
dass die Fehlertragfähigkeit dieser Institute größer wird.
Das heißt, wir haben Eigenkapital- und Liquiditätsregeln
geschaffen. Bestimmte Sachverhalte, bestimmte Ge-

schäfte, wie Leerverkäufe, haben wir aus dem Gesetz he-
rausgenommen.

Wir haben in einem dritten Schritt die Aufsicht ge-
stärkt und haben erst einmal Transparenz geschaffen.
Bestimmte Informationen sind für die Aufsicht das erste
Mal überhaupt sichtbar. Wir haben europäische Auf-
sichtsstrukturen verändert, wir haben deutsche Auf-
sichtsstrukturen verändert, und – was ganz wichtig ist –
wir haben ganz viele Bereiche, die nie reguliert waren,
das erste Mal überhaupt in die Aufsicht hineingenom-
men: den grauen Kapitalmarkt, Hedgefonds. Das ist et-
was, wofür diese Bundesregierung verantwortlich ist.
Diese Punkte werden deswegen ein wesentlicher Be-
standteil in der Bilanz dieser Bundesregierung und die-
ser Koalition nach vier Jahren Regierungszeit sein.

Wir haben darüber hinaus Neues auf den Weg ge-
bracht, nämlich ein Restrukturierungsregime für Ban-
ken. Das ist erstmals in Europa geschehen. Es ist sehr
schade, dass es ein solches Restrukturierungsregime
noch nicht auf europäischer, sondern nur auf deutscher
Ebene gibt. Wir werden in der nächsten Legislatur-
periode daran arbeiten, dass sich das ändert.

Der letzte Punkt, den wir im Bereich „sichere Finanz-
märkte“ umgesetzt haben: Wir waren die Ersten, die da-
für gesorgt haben, dass diejenigen, die die Krise verur-
sacht haben, sich auch an den Kosten beteiligen.


(Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Björn Sänger [FDP]: Richtig!)


Wir haben die Bankenabgabe auf den Weg gebracht. Es
war diese Bundesregierung, die es geschafft hat, das In-
strument der Finanztransaktionsteuer in den europäi-
schen Verhandlungsprozess einzubringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich schließe meinen Redebeitrag zu dieser nächt-
lichen Zeit. Man kann eines sagen: Wir haben eine ziem-
lich gute Bilanz im Bereich des finanziellen Verbrau-
cherschutzes. Wir haben eine super Bilanz im Bereich
der Finanzmarktregulierung. Das Ganze werden wir in
der nächsten Legislaturperiode fortsetzen, und darauf
freuen wir uns schon.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723734900

Letzter Redner in dieser Debatte ist Manfred Zöllmer

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1723735000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Brinkhaus, hat die merkwürdige Zusam-
menlegung der Beratung dieser beiden Gesetzentwürfe
vielleicht etwas damit zu tun, dass Sie verschleiern wol-
len, dass Sie etwa im Bereich des finanziellen Verbrau-
cherschutzes und der Honorarberatung inhaltlich gar





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


nichts vorzuweisen haben? Kann das nicht der Grund
sein? Ich glaube, das ist er.


(Beifall bei der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Ach! Sie haben jetzt noch 90 Sekunden für die Finanzkonglomerate! – Heiterkeit bei Abgeordneten aller Fraktionen)


– Nein, ich habe jetzt noch eine Minute und 36 Sekun-
den Redezeit.


(Heiterkeit bei Abgeordneten aller Fraktionen)


Eine Erkenntnis der Finanzkrise war, dass die Auf-
sicht über Finanzinstitute verbessert werden muss. Der
Kollege Brinkhaus hat eben definiert, worum es bei die-
sen Finanzkonglomeraten geht. Wir halten es für richtig,
dass deren Beaufsichtigung in Deutschland verbessert
wird. Wir haben zwar nur relativ wenige solcher Unter-
nehmen hier in Deutschland; aber trotzdem können sie
im Fall einer Krise systemische Wirkungen entfalten.

Sie setzen dabei die europäische Finanzkonglomera-
terichtlinie um. Es ist im Wesentlichen eine Eins-zu-
eins-Umsetzung europäischer Vorgaben. Ich darf daran
erinnern: Sie loben sich hier immer für Gesetzentwürfe,
die im Wesentlichen nur Umsetzungen europäischer
Vorgaben sind.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Alles abgeschrieben! Das kennen wir!)


Das muss man, glaube ich, auch einmal sagen.

Sie haben auf der Ebene der Finanzkonglomerate nur
einen Stresstest neu eingeführt. Das halten wir in diesem
Zusammenhang für richtig.


(Zuruf von der FDP: Oh!)


In einem Fachgespräch ist deutlich geworden, dass
dieser Gesetzentwurf auch von den Experten insgesamt
begrüßt wird. Es gab Fragen, wie Bundesbank und
BaFin bei der Aufsicht eigentlich zusammenarbeiten sol-
len, und es gab den Wunsch der Versicherungen, deut-
lich zu machen, dass es hier schlanke Strukturen geben
solle und es nicht sinnvoll sei, dass zweimal berichtet
wird. Wir hoffen, dass das insgesamt dann auch umge-
setzt wird. Doppelte Berichtswege sollten hier vermie-
den werden. Wir müssen hier etwas mit weniger Büro-
kratie schaffen. Wir werden diesem Gesetzentwurf
zustimmen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723735100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-
zung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 16. November 2011 zur
Änderung verschiedener EG-Richtlinien hinsichtlich der
zusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen ei-
nes Finanzkonglomerats. Der Finanzausschuss empfiehlt
in seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13245, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/12602
und 17/12997 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich

bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Lin-
ken und Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.

Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Förderung und Regulie-
rung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13131, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/12295 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dieser Empfehlung folgen wol-
len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13247. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ab-
gelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/13248. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der
Linken mit den Stimmen des Hauses abgelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13249. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von Grünen und SPD bei Enthaltung der Linken abge-
lehnt.

Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksa-
che 17/13131 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Empfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8182 mit
dem Titel „Verbraucherschutz stärken – Honorarbera-
tung etablieren“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen
bei Enthaltung der Linken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, Beate
Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz bei Steinkohleimporten

– Drucksachen 17/10845, 17/12228 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas G. Lämmel

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil für
die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1723735200

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Heute fand in Karlsruhe die Hauptversammlung der
Energie Baden-Württemberg AG statt; die von RWE
fand vor einer Woche in Essen statt. Beide Veranstaltun-
gen haben eines gemein: Sowohl in Karlsruhe als auch in
Essen wurde ein kunterbuntes Schauspiel vorgeführt,
und zwar von Aktivisten, denen Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, mit Ihrem Antrag hier
und heute das Wort reden. Ein paar Kollegen von der
SPD machen munter mit.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Na, na, na!)


Dazu bedarf es einer Erklärung. Umwelt-NGOs fah-
ren den Häuptling eines indigenen Volkes aus dem Nor-
den Kolumbiens, wo Steinkohle abgebaut wird, von
Hauptversammlung zu Hauptversammlung der großen
Energieversorger in Deutschland. Dabei inszenieren sie
dessen Auftritt zur Verfolgung ihrer eigenen Zwecke wie
eine Zirkusvorführung mit Trommeln und Federn.

Ich finde das aus zwei Gründen unter aller Kritik:
Erstens haben wir die Zeiten, in denen es solche plakati-
ven Vorführungen aus einer anderen Welt gegeben hat,
hinter uns gelassen – Gott sei Dank! Zweitens ziehen
diese Organisationen mit solchen Kampagnen im Aus-
land das Ansehen deutscher Unternehmen durch den
Dreck, und damit auch das von Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Auch wenn Sie in Ihrem Antrag etwas anderes be-
haupten: Der Handel mit fungiblen Commodities – dazu
zählt die Steinkohle – wird über organisierte Warenter-
minbörsen abgewickelt. Das bedeutet: Einzelnen Rech-

nungsposten einen Fußabdruck oder Footprint anzuhef-
ten, ist schlichtweg unmöglich. Aber das ist auch gar
nicht nötig. Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Fi-
nanzierung rohstofffördernder Unternehmen berichten.

Die deutschen EVU beziehen ihre Kohle von welt-
weit aktiven Unternehmen aus der Rohstoffförderung.
Diese Unternehmen sind schon durch ihre Eigentümer-
strukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten Stan-
dards einzuhalten. Lassen Sie mich das erklären: Kapi-
talsammelstellen, wie zum Beispiel das California
Public Employees’ Retirement System, auch als Calpers
bekannt, aber auch andere bekennen sich zu strengen so-
zialen und ökologischen Selbstverpflichtungen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fahren Sie mal nach Kolumbien und gucken Sie sich das an!)


Gemäß dieser Selbstverpflichtungen entscheiden sie
über Veräußerung oder Akquise von Beteiligungen an
Unternehmen in Milliardenhöhe.

Es ist nicht schwierig, nachzuvollziehen, dass Auf-
tritte wie der heutige oder der der vergangenen Woche
auch für deutsche Unternehmen nicht unbedingt hilf-
reich sind; denn auch hier achten Investoren mehr und
mehr auf ethisch-ökologische Anlagekriterien. Was hilft
es zum Beispiel unserem gemeinsamen Projekt, der
Energiewende, wenn wir in der ohnehin schon stark be-
lasteten Energiebranche auch noch die Anleger verschre-
cken?


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit machen wir es ihnen doch noch schwerer, in drin-
gend benötigte Gaskraftwerke – hören Sie zu, Herr Kol-
lege Krischer – oder den Zubau erneuerbarer Energien
zu investieren. Das wollen Sie doch.

Nachhaltigkeit kann und darf für diese Unternehmen
schon aufgrund ihrer Eigentümerstrukturen nicht nur
eine Worthülse im CSR-Bericht sein. Also müssen viele
Aktiengesellschaften nachhaltig wirtschaften, soziale
und ökologische Standards einhalten, allein schon des-
halb, um ihre Kapitalgeber bei der Stange zu halten. Ein
Schelm, wer Böses dabei denkt. Vielleicht ist das aber
auch gerade das Ziel dieser NGOs oder Ihres Antrages.

Ich sehe zusätzlich einen betriebswirtschaftlichen
Punkt, weshalb diese Unternehmen soziale und ökologi-
sche Standards einhalten. Sie führen nämlich zu Nach-
haltigkeit und damit über sozialen Frieden und wachsen-
den Wohlstand in den Förderregionen zu Produktivität
und Verlässlichkeit. Diese Produktivität und Verlässlich-
keit liegen doch im Interesse aller.

Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben zur Flan-
kierung dieser Handelsaktivitäten gemacht. Es gibt welt-
weit Initiativen und Abkommen, die der Verbesserung
der Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstan-
dards dienen. Wir sind in vielen Fällen aktiv eingebun-
den. Wir unterstützen die Initiative zur Verbesserung der
Transparenz in der Rohstoffindustrie politisch und finan-
ziell. Wir sind derzeit Mitglied im internationalen Auf-
sichtsgremium. Zahlreiche Staaten haben die formulier-





Klaus Breil


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ten Standards anerkannt, ebenso eine Reihe von
Unternehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWE
und die KfW dazu – eigeninitiativ und ohne Zwang. Das
im Antrag genannte Lieferland Kolumbien ist Mitglied
der International Labour Organization, und es hat die
ILO-Konvention 169 ratifiziert. Die Überwachung ob-
liegt alleine der ILO. Damit sind die im Antrag erhobe-
nen Forderungen entweder unnötig oder bereits erfüllt.

Wir unterstützen die betreffenden Länder mit unserer
Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Gerade
erst haben wir hier über ein Rohstoffabkommen mit Peru
und Kolumbien debattiert. Auch damit wirken wir auf
die Anerkennung und Einhaltung von Umwelt- und So-
zialstandards hin. Alles, was darüber hinausgeht, wider-
spricht jedenfalls meinem Verständnis von der nationa-
len Souveränität einzelner Staaten. Aber diese Bedenken
blenden Sie einfach aus.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723735300

Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1723735400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Zuerst einmal ein Kompliment, Klaus Breil: Sie haben
gerade in Ihrer Rede einen sehr langen englischen Be-
griff verwendet und haben ihn fehlerfrei vorgetragen.
Das war ganz hervorragend.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich fange deshalb auch mit zwei englischen Begriffen
an. Liebe Freunde von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ih-
rem Antrag, in dem es letztlich um Transparenz im Roh-
stoffsektor geht, sind Sie nicht First Movers, sondern
Late Followers; denn die SPD hat bereits im Januar 2013
zwei Anträge zu diesem Thema eingebracht: erstens den
Antrag „Transparenz in den Zahlungsflüssen im Roh-
stoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien“
und zweitens den Antrag „Transparenz für soziale und
ökologische Unternehmensverantwortung herstellen –
Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Ar-
beits- und Umweltbedingungen europäisch einführen“.

Im ersten Antrag zur Transparenz der Zahlungsflüsse
im Rohstoffbereich geht es vor allem um die Bekämp-
fung von Korruption und Misswirtschaft in solchen roh-
stoffreichen Ländern, die Gewinne aus dem Bergbau in
erster Linie in die Taschen korrupter Eliten lenken und
dadurch eine Wohlstandsentwicklung bei den zumeist
völlig verarmten Bevölkerungen gar nicht erst zulassen.
Außerdem soll durch Zertifizierung von Minen sicherge-
stellt werden, dass Rohstoffe aus Konfliktregionen nicht
auf die Weltmärkte gelangen und auf diese Weise zur

weiteren Finanzierung bewaffneter regionaler Konflikte
beitragen.

Im zweiten Antrag zur Transparenz von Arbeits- und
Umweltbedingungen finden sich ähnliche Ansätze wie
im heute zu diskutierenden Antrag der Grünen. Aller-
dings beschränkt sich unser Antrag nicht auf einen einzi-
gen Rohstoff, die Steinkohle, sondern adressiert den
gesamten Bereich der energetischen und nicht energeti-
schen Rohstoffe. Das ist uns wichtig, Herr Krischer, weil
erst gar nicht der Eindruck entstehen soll, es gehe uns in
Wahrheit nicht um die Arbeitsbedingungen der Beschäf-
tigten im Minensektor oder die Umweltbedingungen bei
der Förderung, sondern um die Diskriminierung eines
bestimmten Rohstoffes.


(Beifall bei der SPD)


Wir fordern in unserem Antrag, die Unternehmen ge-
mäß der OECD-Leitsätze zu verpflichten, vollständige
Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten
ihrer Geschäftstätigkeit entlang der gesamten Lieferkette
abzugeben. Wir verlangen außerdem, dass die Informa-
tionen durch unabhängige Prüfgesellschaften geprüft
und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Aspekte öf-
fentlich verfügbar gemacht werden.

Wir fordern des Weiteren ein europäisches bzw. mög-
lichst internationales Akkreditierungs- und Zertifizie-
rungssystem sowie die gesetzliche Verankerung eines
Indikatorensystems für die verpflichtende Unterneh-
mensberichterstattung. Dieses Indikatorensystem soll
sich an den OECD-Leitlinien, den ILO-Kernarbeitsnor-
men, der ILO-Erklärung für grundlegende Prinzipien
und Rechte bei der Arbeit sowie an der Global Reporting
Initiative – auch das ist englisch – und der ISO 26 000
orientieren.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Jetzt fehlt nur noch das Parteiprogramm der SPD!)


Der Antrag der Grünen berücksichtigt in Punkt 13 le-
diglich die ILO-Konvention 169 über indigene Völker,
nicht aber die ILO-Konventionen 176 und 182 zum Ar-
beitsschutz in Bergwerken und zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Das ist uns, ehr-
lich gesagt, zu wenig.


(Beifall bei der SPD)


Unsere Anträge sind also in jeder Hinsicht umfassen-
der, weshalb wir uns bei dem Antrag der geschätzten
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
heute leider enthalten müssen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber schade!)


Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723735500

Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







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Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1723735600

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen

und Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dass
die Kohle, die Braunkohle und die Steinkohle, im deut-
schen Energiemix im Moment eine ganz entscheidende
Rolle spielt; denn ansonsten, liebe Freunde von der grü-
nen Partei, könnten Sie heute diese Debatte gar nicht
führen, weil wir keine Grundlast hätten. Denn die Sonne
scheint nicht, auch ist es draußen windstill.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hilfe!)


Ohne den Strom aus Kohlekraftwerken und Atomkraft-
werken könnten Sie heute diese Debatte überhaupt nicht
führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind im Jahr 1950 angekommen! Sie bewegen sich zurück!)


Ich danke Ihnen für Ihren Antrag ganz herzlich.
Schon auf der ersten Seite kann man eine wichtige Er-
kenntnis lesen. Das ist interessant. Da steht der Satz,
dass „Deutschland noch für eine längere Zeit weiterhin
Steinkohle importieren“ wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sehr gut! Sie haben gelernt, dass wir in Deutschland ei-
nen guten Energiemix aus verschiedenen Energieträgern
brauchen. Es hat sich offensichtlich nun auch bei Ihnen
festgesetzt, dass die Steinkohle wie auch die Braunkohle
im Energiemix in Deutschland eine sehr wichtige Rolle
spielen. Das werde ich mir für andere Debatten merken.
Wir werden ja gelegentlich wieder darauf zurückkom-
men.

Dann hört es aber auf, was Erkenntnisse in Ihrem An-
trag betrifft. Gefordert wird, wie oft in Ihren Anträgen,
die Einführung einer Reihe zusätzlicher Berichtspflich-
ten für deutsche Unternehmen. Sie richten die weitere
Forderung an die Bundesregierung, dass sie sich auf EU-
Ebene für noch mehr Bürokratie engagieren soll. Aber
Sie wissen auch ganz genau, dass die deutsche Wirt-
schaft nicht mehr Bürokratie braucht, sondern mehr Zeit,
um unternehmerisch tätig zu sein.

Für uns als christlich-liberale Koalition ist der Büro-
kratieabbau Politikziel. Wir haben uns zu Beginn der Le-
gislaturperiode das Ziel gesetzt, 25 Prozent Bürokratie
abzubauen. Wir stehen kurz davor.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben haben Sie Gesetze beschlossen, wo es Bürokratieaufbau gibt!)


Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, bei
dem es wieder um mehr Bürokratie geht. Außerdem
muss man auch deutlich sagen: Nicht jedes Problem auf
der Welt kann mit deutschen Gesetzen und deutschen
Verordnungen gelöst werden. Das wissen auch Sie ei-
gentlich ganz genau; denn bei den Förderländern, die Sie
in Ihrem Antrag aufgeführt haben, handelt es sich um
souveräne Staaten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben aber eine Verantwortung! Sie vielleicht nicht!)


Wir sind keine Kolonialmacht, die ihre Verordnungen
diesen Ländern aufzwingen kann, um dort für Ordnung
zu sorgen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben eine Verantwortung, Herr Lämmel!)


So etwas würden Sie sich vielleicht wünschen, aber das
geht eben nicht, Herr Krischer.

Bei den aufgezählten Forderungen geht aus meiner
Sicht jedes Maß verloren. Die Privatautonomie und die
Organisationshoheit privater Unternehmen haben in Ih-
rem Gedankengut keinerlei Bedeutung. Ich will auf all
Ihre Forderungen gar nicht eingehen; mein Kollege Breil
hat dazu schon einiges gesagt.

Auf eine Unklarheit Ihres Antrages muss man aber
schon hinweisen: Sie wollen die Verpflichtung von Un-
ternehmen einführen, „innerhalb ihrer Einflusssphäre“
auf Standards zu achten, die sie nicht unmittelbar beein-
flussen können. Das ist doch sehr fraglich. Das müssen
Sie mir einmal erklären. Wie wollen Sie das denn defi-
nieren? Wie soll das abgegrenzt werden?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Soll ich eine Zwischenfrage stellen? Dann erkläre ich Ihnen das!)


Das ist im Prinzip außerhalb der internationalen Stan-
dards, die schon existieren. Sie werden uns sicherlich sa-
gen, was Sie damit meinen. Denn Sie wissen ja auch ge-
nau, dass es beim internationalen Rohstoffabbau eine
Unzahl von NGOs gibt. Die Medien werfen einen sehr
genauen Blick auf die Abbaubedingungen vor Ort –
nicht bloß bei der Kohle, sondern auch bei anderen Roh-
stoffen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau deshalb führen wir die Debatte!)


Insofern ist Öffentlichkeit in großem Umfang herge-
stellt. Ich verweise hierzu auch auf den Artikel zum
Kohleabbau in Kolumbien vom 18. April 2013 in einer
großen Wochenzeitung.

Sie versäumen, in Ihrem Antrag zumindest einmal zu
erwähnen, was die christlich-liberale Koalition in die-
sem Bereich schon geleistet hat.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die leistet gar nichts!)


Deshalb will ich Ihnen das gern noch einmal kurz sagen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie ja selber lachen!)


Die Bundesregierung setzt sich bereits im Rahmen
der G-8- und auch der G-20-Verhandlungen für eine
breite internationale Unterstützung der EITI-Initiative
ein – das hat ja selbst Kollege Hempelmann schon er-





Andreas G. Lämmel


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wähnt –, und wir ermuntern Unternehmen ganz intensiv,
sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Schwerpunkte sind schon in der Rohstoffstrategie
der Bundesregierung von 2010 festgelegt. Hätten Sie
einmal einen Blick hineingeworfen, hätten Sie uns diese
Debatte heute ersparen können. Dann hätten Sie eine
Menge Energie gespart und wären auch eher zu Hause
gewesen.

Ich will nicht noch einmal auf das Thema Rohstoff-
partnerschaften eingehen. Denn genau diese Rohstoff-
partnerschaften erfüllen ja das, was Sie in Ihrem Antrag
fordern. Hier geht Deutschland also ganz neue Wege,
und es ist, so glaube ich, international auch sehr aner-
kannt, dass diese Rohstoffpartnerschaften in den Bezie-
hungen zwischen einzelnen Staaten ein völlig neues Ni-
veau herstellen.

Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh-
stoffe – auch das ist nicht unbekannt – führt bereits ein
Pilotprojekt im Rahmen der G 8 zur Zertifizierung von
Handelsketten – in diesem Fall für mineralische Roh-
stoffe – durch. Aber Kollege Hempelmann hat ja schon
darauf hingewiesen, welche schmale Spur Ihr Antrag
fährt. Es geht eben nur um die Kohle. Das ist ja sozusa-
gen Ihr Hauptangriffspunkt.

Ich will damit schließen, dass an Ihrem Antrag auch
interessant ist, dass Sie indirekt beschreiben, dass das
deutsche Bergrecht und die deutschen Gesetzlichkeiten
für die Rohstoffgewinnung eigentlich hervorragend sind,
dass sie das Vorbild sein sollen für die Rohstoffgewin-
nung in der Welt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das? Wo?)


Dafür bedanken wir uns natürlich sehr; denn Sie ha-
ben ja schon in mehreren Anträgen versucht, gegen das
aktuelle Bergrecht und für ein modernes Bergrecht zu ar-
gumentieren. Jetzt wollen Sie das in die Welt tragen.
Also, Sie müssen sich einmal für irgendeine Variante
entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie merken, Ihr Antrag ist voller Widersprüche, ist
sehr schmalspurig, und deswegen können wir ihm heute
leider auch nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Antrag war aber noch schmalspuriger! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Aber die Welt ist nicht schwarz-weiß!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723735700

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723735800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sind immer noch mitten im fossil-atomaren Zeitalter ge-
fangen.


(Zuruf von der FDP: Was denn: fossil oder atomar?)


Obwohl wir in Deutschland aus der Atomkraft und aus
der Steinkohleförderung ausgestiegen sind, werden im-
mer noch 20 Prozent des deutschen Stroms aus Stein-
kohle gewonnen. Die Tendenz ist steigend, und Planun-
gen für den Bau neuer Steinkohlekraftwerke werden
vorangetrieben.


(Zuruf von der FDP: Wunderbar!)


Zwei Studien haben uns in der letzten Zeit gezeigt,
warum eine echte Energiewende mit den großen Ener-
giekonzernen nicht zu machen ist. Das Schwarzbuch
Kohlepolitik von Greenpeace hat die Verfilzung von
Politik und Kohlewirtschaft aufgedeckt, die den sozial-
ökologischen Umbau blockiert.


(Zuruf von der CDU/CSU)


– Dass Sie das ärgert, glaube ich.

Das beste Beispiel dafür ist die STEAG. Für die sechs
NRW-Stadtwerke war die Übernahme durch die STEAG
ein einträgliches Geschäft. Sie werden dieses Jahr mit ei-
ner Gewinnausschüttung von 25 Millionen Euro rechnen
können.

Aber mit der öffentlich-rechtlichen Kontrolle waren
auch Hoffnungen auf einen sozial-ökologischen Umbau
verbunden. Die wurden bisher enttäuscht. Statt ausrei-
chend in die Erzeugung erneuerbarer Energien zu inves-
tieren, setzt die STEAG auf fragwürdige Geschäfte im
Ausland. Vorschläge der Linken vor Ort, über einen Bei-
rat aus Kommunalvertretern, Gewerkschaften und Um-
weltverbänden mehr Transparenz und mehr Druck für
einen Umbau zu erreichen, werden blockiert.

Dabei wäre der Ausstieg aus der Kohleverstromung,
wie ihn die Linke fordert, auch wirtschaftlich geboten.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Dann wäre es hier drin aber dunkel!)


Denn Kohlekraftwerke lassen sich nicht mehr rentabel
betreiben. Selbst für das hochmoderne Kraftwerk Lünen
– Herr Kollege, hören Sie zu! –, das diesen Herbst ans
Netz gehen soll, lässt sich das nachweisen. Um aber an
der Kohleverstromung festhalten zu können, steigt nun
der Druck der Lobby auf die FDP – oder die FDP ist
selbst die Lobby, wie wir gehört haben –, die Energie-
wende zu blockieren.

Die Konzerne setzen derweil auf den Import von Bil-
ligkohle. Das ist Gegenstand der zweiten Studie: Die
beiden NGOs FIAN und urgewald haben recherchiert,
woher RWE und andere die Steinkohle für deutsche
Kraftwerke beziehen, und haben in ihrer Studie „Bitter
Coal“ Erschreckendes festgestellt: In Kolumbien soll für
einen neuen Tagebau der Ranchería-Fluss umgeleitet
werden, die Lebensader für die dort lebenden Indigenen
und für die Landwirtschaft in dieser Region. In den USA





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



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werden in den Appalachen die Bergspitzen wegge-
sprengt. Im russischen Kusbass hat die Kohleförderung
Luft, Böden und Trinkwasser enorm belastet. Im trocke-
nen Südafrika bedroht der hohe Wasserverbrauch der
Kohleminen die Trinkwasserversorgung. Der RWE-Lie-
ferant Drummond aus den USA steht in Verdacht, für die
Ermordung von zwei kolumbianischen Gewerkschaftern
verantwortlich zu sein.

Der Antrag der Grünen will in einem ersten Schritt
Transparenz bei Handelswegen, Zahlungen, Krediten
und den sozialen und ökologischen Standards in den Lie-
ferbeziehungen erreichen. Das ist gut so, aber es ist nicht
ausreichend.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der erste Schritt!)


Es geht dabei auch darum, dass über multilaterale und
bilaterale Verträge Spielräume wieder eingeschränkt
werden. Das wollen wir alle nicht. Deshalb müssen
künftig Menschenrechte, Sozialstandards und Umwelt-
schutz Vorrang bei allen Handels- und Rohstoffabkom-
men bekommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir aber mit der umweltzerstörenden und sozial
verheerenden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss ma-
chen wollen, müssen wir in den Industrieländern begin-
nen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas,
Kohle und Metallen zu entkoppeln.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Klaus Barthel [SPD]: Wo baut man denn Windräder ohne Metall?)


An einem Kohleausstieg, der absoluten Senkung des
Rohstoffverbrauchs und einer fairen Welthandelsord-
nung kommen wir deshalb nicht vorbei.

Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723735900

Und nun hat Oliver Krischer für die Grünen das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723736000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

bin froh, dass wir diese Debatte heute hier führen, wenn
auch zu später Stunde, und darf ganz herzlich Gäste aus
Kolumbien auf der Tribüne begrüßen; Herr Breil hat
eben schon auf Kolumbien hingewiesen.

Ich muss schon sagen, dass Sie, Herr Breil und Herr
Lämmel, mit Ihren Beiträgen hier ein Bild abgegeben
haben,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Peinlich war das!)


das irgendwo zwischen Kabarett und Sarkasmus anzu-
siedeln ist.


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Das machen Sie!)


Wenn Sie sich mit der Situation vor Ort auseinanderset-
zen würden – ich möchte am Beispiel Kolumbien deut-
lich machen, was die Menschen dort erleben, die vom
Kohlebergbau betroffen sind –, dann würden Sie, glaube
ich, hier anders sprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Kolumbien ist für Deutschland inzwischen zum wich-
tigsten Lieferland für Steinkohle geworden. Dort betra-
gen die Förderkosten unter 20 Euro die Tonne. Das ge-
ben die Unternehmen jedenfalls hinter vorgehaltener
Hand zu. Der Weltmarktpreis liegt bei 80 bis 100 Euro
die Tonne. Selbst wenn man Förderzins und Transport-
kosten abzieht, ist das ein absolutes Riesengeschäft.

Wenn Sie nach Nordkolumbien kommen und sich die
Gegend angucken, in der die Kohle abgebaut wird, wer-
den Sie feststellen: Das ist das Armenhaus des Landes.
Bei den Menschen, die dort in der Region leben, kommt
überhaupt nichts an. Dass Rohstoffsegen in Wahrheit ein
Fluch ist, das können Sie dort besichtigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Die Menschen, die das Pech haben, dass sie gerade
auf der Kohle leben, die von internationalen Konzernen
wie Cerrejón, Glencore, Xstrata, Prodeco und anderen
– Drummond, ein amerikanischer Konzern, ist eben
schon erwähnt worden – abgebaut werden soll, trifft es
ganz besonders hart. Sie müssen erleben, dass sie von ih-
rem Land vertrieben werden, dass sie vielfach nicht ent-
schädigt werden, weil es in Kolumbien oft keinen Nach-
weis gibt, dass man Land besitzt. Wenn sie vielleicht
doch entschädigt werden, bekommen sie ein Haus, aber
ihre Existenzgrundlage ist weg. Das Ganze endet in den
Slums von Städten. Das ist das Ergebnis der Politik des
Rohstoffabbaus ohne Rücksicht auf Verluste. Das kann
uns an dieser Stelle nicht egal sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Rolf Hempelmann [SPD]: Das gilt aber für andere Rohstoffe auch!)


Ich will hier gar nicht über die Naturzerstörung reden.
Ich will nicht über die Umweltverschmutzung reden. Ich
will nicht über den Wasserverbrauch reden. Das Aller-
schlimmste, das man zur Kenntnis nehmen muss, ist,
dass die Verantwortlichen vor Ort, die Unternehmen und
die Regierungsstellen, das alles gar nicht abstreiten. Die
sagen: Wir haben ein Riesenproblem. Das findet alles so
statt, wie ich es eben beschrieben habe. – Es gibt dort
eine organisierte Verantwortungslosigkeit. Einer schiebt
die Verantwortung auf den anderen. Am Ende gucken
alle weg, und das alles nur, um den Gewinn zu maximie-
ren auf Kosten von ein paar Tausend betroffenen Men-
schen, denen man mit einem verschwindend geringen
Betrag zu einer vernünftige Existenz verhelfen könnte.





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Dass Sie dies nicht ernst nehmen und hier nicht einmal
darüber reden wollen, finde ich beschämend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben den Antrag eingebracht, damit endlich et-
was passiert – Herr Kollege Hempelmann, es ist richtig,
dass man das alles viel umfassender machen kann; inso-
weit haben wir Ihrem Antrag zugestimmt –: Man kann
im Kohlebergbau die Verbindung vom Abbau, also dem
Bagger, bis zum Kessel, in dem die Kohle verbrannt
wird, herstellen. Damit ist auch klar, wer die Verantwor-
tung trägt, nämlich dass Unternehmen wie RWE, Eon,
STEAG, EnBW und andere, die die Kohle beziehen,
Verantwortung für das tragen, was dort passiert. Dort
muss sich etwas ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir sind der festen Überzeugung – die Europäische
Kommission ist mit ihrem Richtlinienentwurf schon viel
weiter; er wird leider von der Bundesregierung blockiert –,
dass nur durch diese Transparenz, dass die Menschen se-
hen, woher die Kohle kommt, die im Kraftwerk vor Ort
verbrannt wird, erreicht werden kann, dass sich hier tat-
sächlich etwas ändert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723736100

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723736200

Ich komme zum Schluss. – Ich glaube und gebe auch

die Hoffnung nicht auf – auch wenn Sie heute den An-
trag wieder ablehnen –, dass wir erreichen, dass die Un-
ternehmen in diesem Land die Verantwortung dafür
übernehmen werden, was dort passiert. Dies kann uns
nicht egal sein. Es zerstört die Existenzgrundlage von
vielen Menschen, die an den Rohstoffen überhaupt nicht
partizipieren. Das müssen wir ändern.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723736300

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Transparenz bei Steinkohle-
importen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12228, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/10845 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenom-
men.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Bundesarchiv-
gesetzes

– Drucksache 17/12012 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)


– Drucksache 17/13219 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Claudia Winterstein
Kathrin Senger-Schäfer
Claudia Roth (Augsburg)


Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/13219, den Gesetzentwurf auf Druck-
sache 17/12012 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmen
will, den bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
29. Juni 2012 zur Gründung einer Assoziation
zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika
andererseits

– Drucksache 17/12355 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)


– Drucksache 17/13176 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Klaus Barthel
Hans-Werner Ehrenberg
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


1) Anlage 13





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hans-Werner Ehrenberg (FDP):
Rede ID: ID1723736400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Wir sprechen heute zu später Stunde
über das Assoziationsabkommen der Europäischen
Gemeinschaft mit Zentralamerika, ein Abkommen, das
seinesgleichen sucht. Wir reden heute nicht über irgend-
einen bilateralen Vertrag oder eine x-beliebige Freihan-
delszone. Wir reden über ein Assoziationsabkommen,
wie es umfassender nicht sein könnte. Ich meine damit
wirklich alle Aspekte.

Gestatten Sie mir, Ihnen diese Bedeutung ein wenig
zu veranschaulichen. Es geht hier nämlich nicht vorran-
gig um den wirtschaftlichen Aspekt und um bestimmte
Zollquotenregelungen, wie das von meinen Kollegen
von der Opposition und von einigen wenigen deutschen
Hilfswerken behauptet wird.


(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenige? Über 40!)


Jene haben das Abkommen einfach nicht verstanden.
Nochmals: Es geht bei dem Assoziationsabkommen vor
allem um die Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union in den Bereichen Demokratie, Stärkung der Zivil-
gesellschaft, Umweltschutz, Achtung der Menschen-
rechte, Schaffung von nachhaltigem Wohlstand, Integra-
tion und Frieden.

Was ist daran eigentlich auszusetzen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Opposition? Welche Geistes-
haltung steckt dahinter, dass Sie dieses Abkommen im
Ausschuss rundweg abgelehnt haben? Dass hierbei auch
die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Herab-
setzung von Handelsbarrieren nicht ausgeklammert wer-
den dürfen, versteht sich von selbst. Wirtschaftliche
Freiheit und der bessere Zugang zu einem breiten Wa-
renangebot und freien Märkten schaffen Wohlstand und
Arbeitsplätze. Das sind Dinge, die die Länder Latein-
amerikas dringend benötigen. Ich finde es geradezu lä-
cherlich, wenn bestimmte Hilfswerke und meine Kolle-
gen von der Opposition in diesem Zusammenhang
behaupten, durch dieses Abkommen würden Arbeits-
plätze in Zentralamerika zerstört.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU])


Ich habe sehr ausführlich mit allen Botschaftern der
zentralamerikanischen Länder in Berlin über den Inhalt
und die Auswirkungen dieses Abkommens gesprochen.
Ich habe vor kurzem Guatemala und Nicaragua besucht

und dort mit Regierungsvertretern diskutiert. Stellen Sie
sich vor: Die Rückmeldungen waren von allen Seiten
positiv.


(Klaus Barthel [SPD]: Na klar!)


Dass die Europäische Union mit Zentralamerika ein
solch umfassendes Abkommen nicht nur auf Augen-
höhe, fair und ohne Druck verhandelt hat, sondern in
vielen Punkten sogar in Vorleistung geht, ist für alle
Zentralamerikaner hochattraktiv.

Es ist nicht nur immer wieder zur Sprache gekom-
men, dass die EU als Vorbild für Zentralamerika in Sa-
chen Integration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
betrachtet wird, sondern man ist vor allem stolz darauf,
dass es ein Abkommen zwischen zwei Regionen ist;
denn das existiert in dieser Form bis dato nur einmal auf
der Welt. Darauf sind die Zentralamerikaner stolz. Man
spricht sogar von einem Modellcharakter dieses Abkom-
mens für andere Regionen.


(Klaus Barthel [SPD]: Grausam!)


Die Attraktivität des Abkommens ist de facto so hoch,
dass auch die Regierung von Panama die EU gebeten
hat, ihm beitreten zu dürfen.

Nun hatte ich vor meinem Besuch in Nicaragua ver-
mutet, dass speziell die linksorientierte sandinistische
Regierung von Daniel Ortega das Abkommen ablehnen
würde, wie es ja auch von den Linken und anderen abge-
lehnt wird. Weit gefehlt. Man versicherte mir nicht nur,
dass man Vorteile im Abkommen erkennen könne, son-
dern auch, dass man es sogar als erstes Land ratifiziert
habe.

Auch wenn ich mich wahrlich nicht als Freund sandi-
nistischer Politik bezeichnen möchte, frage ich mich,
warum meine Kollegen von den Linken eine andere
Position als Ortega vertreten. Sie sollten sich einmal vor
Ort mit Ihren Freunden genauer darüber informieren; das
hilft.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wir sind nicht so Ortega-hörig wie Sie!)


Wir verpflichten die Länder Zentralamerikas durch
dieses umfangreiche Vertragswerk vor allem dazu, einen
gemeinsamen Wertekonsens zu achten und ihn in Zu-
sammenarbeit mit uns weiterzuentwickeln. Deshalb ver-
dient Zentralamerika auch in Zukunft unsere Partner-
schaft auf Augenhöhe. Jetzt gilt es, von unserer Seite
Druck aufzubauen, damit auch alle anderen EU-
Mitgliedstaaten das Abkommen zügig ratifizieren. Hier
sehe ich die Bundesregierung auf europäischer Ebene in
der Pflicht. Lassen wir die Länder Zentralamerikas, die
die Ratifizierung dieses Abkommens von europäischer
Seite dringend wünschen und benötigen, jetzt nicht im
Stich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Reine Märchenstunde mit der FDP!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723736500

Das Wort hat nun Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1723736600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kollege Ehrenberg, in Ehren:


(Heiterkeit des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])


Was Sie eben über das Abkommen gesagt haben, hat
sich unheimlich schön angehört: Frieden, Freiheit, De-
mokratie und Rechtsstaat usw.


(Hans-Werner Ehrenberg [FDP]: Das steht im Text!)


Sie haben gesagt, es wäre ein umfassendes Abkommen,
aber das können Sie nur Menschen erzählen, die dieses
Abkommen nicht gelesen haben.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Papier ist geduldig!)


Deswegen will ich vor allen Dingen darauf eingehen,
was in diesem Abkommen wirklich steht.

Zunächst einmal wollen wir festhalten, was Assoziie-
rung im eigentlichen Wortsinn bedeutet, nämlich Zusam-
menschluss, Vereinigung. Assoziierung meint etwas im
umfassenden Sinn. Im Handlexikon der Europäischen
Union von Bergmann, aus dem ich hoffentlich mit Zu-
stimmung des Präsidenten zitieren darf, steht dazu:

Die Assoziierungsabkommen haben völkerrechts-
verbindliche Wirkung, beruhen auf einem System
wechselseitiger Rechte und Pflichten und sehen ge-
meinsame paritätisch besetzte Ausführungsorgane
vor. … Assoziationsräte, -ausschüsse und Parla-
mentarische Assoziationsausschüsse.

Assoziierungsabkommen sind also damit eine besondere
Form mit politischen, gesellschaftspolitischen und wirt-
schaftlichen Dimensionen.

Wir müssen uns aber fragen: Genügt dieses Abkom-
men den hehren Ansprüchen, die an das Abkommen ge-
stellt werden? Um das herauszufinden, müssen wir uns
erst einmal die Situation in den Partnerländern an-
schauen. Ich glaube, dazu wird noch einiges gesagt wer-
den.

Die zentralamerikanischen Länder haben Diktaturen
und Bürgerkriege erlebt, sie sind enorm gewaltintensiv,
sie haben hohe Mordraten zu verzeichnen, und als De-
mokratien sind sie sehr labil. Honduras, zum Beispiel,
hat vor nicht allzu langer Zeit einen Putsch hinter sich
gebracht. Das haben Sie von der FDP zwar richtig ge-
funden, aber mit Demokratie hatte das wenig zu tun.


(Bijan Djir-Sarai [FDP]: Fangen Sie jetzt schon wieder damit an? Es reicht! Das ist doch albern!)


Minimalste Menschenrechtsstandards werden in vielen
dieser Länder überhaupt nicht erfüllt. Man darf nicht nur
mit Regierungen reden, sondern man muss sich selbst
ein Bild von der Lage des Landes machen.


(Bijan Djir-Sarai [FDP]: Das ist Halbwissen, was Sie hier haben!)


Es ist allgemein bekannt, dass Honduras nach Kolum-
bien die höchste Mordrate an Gewerkschafterinnen und
Gewerkschaftern hat, es ist eine Hochburg von Drogen-
handel, Menschenhandel und Geldwäsche. Das alles
kann man überall nachlesen, aber auch an Ort und Stelle
beobachten.

Das Abkommen selber verrät alles. Ja, es ist ein sehr
detailliertes Freihandels- und Marktöffnungsabkom-
men, aber die Erwähnung von Menschenrechten, Demo-
kratie usw. – Herr Ehrenberg hat das eben beschworen –
ist reine Dekoration.

Das fängt beim Volumen an. Ein Fünftel dieses Ab-
kommens beschäftigt sich mit den hehren Zielen der
Einhaltung der Menschenrechte und der Förderung der
Demokratie, auch mit Arbeitsrecht, vier Fünftel beschäf-
tigen sich mit dem Freihandel und der Wirtschaft.

Schauen wir uns die Sprache an. Sie ist verräterisch,
wenn es darum geht, zu klären, wie belastbar die Ankün-
digungen, für mehr Demokratie zu sorgen, sind. Da heißt
es so schön – wer solche Abkommen kennt, der kennt
auch die Sprache –, dass man für die Grundsätze der
Rechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführung
eintreten will, dass man die Grundsätze der Demokratie,
der Menschenrechte und der Grundfreiheiten achten
will, dass man zusagt, bei der Armutsbekämpfung zu-
sammenzuarbeiten, dass es ein Bewusstsein gibt der
Notwendigkeit eines umfassenden Dialogs über Migra-
tion, dass es Ziele gibt wie die privilegierte politische
Partnerschaft. Und – das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen – es geht zumindest um die – ich zitiere
wörtlich –:

… Aufrechterhaltung und vorzugsweise Weiterent-
wicklung des Niveaus der guten Regierungsführung
und der Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen, dass
durch die wirksame Anwendung der internationalen
Übereinkünfte erreicht wird, die zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens dieses Abkommens für die Vertrags-
parteien gelten …

Das bedeutet zunächst: Künftige Abkommen werden
nicht eingehalten. Das heißt auch: Wir verpflichten uns,
etwas einzuhalten, wozu wir ohnehin schon verpflichtet
sind. Das ist ja sensationell. Dann geht es weiter mit dem
institutionellen Rahmen. Der Assoziationsrat empfiehlt
und braucht Konsens. Der Assoziationsausschuss unter-
stützt, gibt sich eine Geschäftsordnung und beschließt.
Dann gibt es noch einen Unterausschuss, der sich auch
eine Geschäftsordnung gibt und beschließt. Der Parla-
mentarische Assoziationsausschuss erarbeitet Empfeh-
lungen.

Das kann man alles nachlesen – alles, bloß nichts Ver-
bindliches: keine Kontrolle, keine Umsetzung, keine
Sanktionen. Und das bei der Situation in diesen Ländern.
Das geht so bis zu dem Passus im Hinblick auf die „Ach-
tung der wesentlichen Grundsätze und Rechte am Ar-
beitsplatz, die in den Übereinkommen der Internationa-
len Arbeitsorganisation festgelegt sind“.





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)


Dann war da noch etwas, was man bei der Debatte
dieser Tage hervorheben muss – ich zitiere wörtlich –:

… erkennen die Vertragsparteien die gemeinsamen
und international vereinbarten Grundsätze der gu-
ten Regierungsführung im Steuerbereich an und be-
kennen sich zu ihnen.

Sensationell – bei dem, was wir über die Steueroase
Panama gehört haben! Zum Glück für alle Adams und
Evas im Steuerparadies Panama sucht man im Abkom-
men vergebens nach einer Umsetzung oder gar Kontrolle
dieses Bekenntnisses.

So geht es im ersten Fünftel bis auf Seite 25 weiter.
Man könnte sagen: So ist das nun einmal in internationa-
len Verträgen – da bekommt man nichts Verbindlicheres
hin, wenn die Bedingungen so unterschiedlich sind.

Aber dann – auf den restlichen rund 70 Seiten –
kommt es: Da geht es um Wirtschaft und Handel, und da
ändern sich Inhalt und Sprache dieses Abkommens
plötzlich. Das muss man sich einmal durchlesen. Plötz-
lich ist die Rede von Rechten und von Pflichten. Zum
Beispiel ist die Rede von der „Schaffung eines wirksa-
men, fairen und berechenbaren Streitbeilegungsmecha-
nismus“. Einen solchen gibt es im Hinblick auf Men-
schenrechte und Demokratie nicht.

Anders als bei den Menschenrechten gibt es klare De-
finitionen, zum Beispiel dazu, was unter „Tage“ zu ver-
stehen ist. Es wird nicht aufgeführt, was unter Demokra-
tie und Menschenrechten zu verstehen ist, aber was unter
„Tage“ zu verstehen ist, nämlich Werktage. Es wird bis
ins letzte Detail beschrieben, was unter „Person“ oder
unter „Maßnahme“ zu verstehen ist. Da geht es um
Rechtssicherheit, um Maßnahmen und Verwaltungsver-
fahren.

Plötzlich lauten die Verben nicht mehr „sollen“ und
„streben wir an“, sondern „muss“, „wir verpflichten uns“
usw. Da wird es dann plötzlich verbindlich.

Da werden branchenweite Marktzugänge und Nieder-
lassungsfreiheit, Liberalisierung im elektronischen Ge-
schäftsverkehr, bei Dienstleistungen, bei verpflichtenden
Überprüfungen zum Investitionsschutz, bei Kurierdiens-
ten, Post, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen,
im öffentlichen Beschaffungswesen, Urheberrecht usw.
bis ins letzte Detail geregelt.

Dann kommen zum Schluss noch einmal die Gremien
zum Tragen. Die haben bei allen Handelsfragen – bei al-
len Handelsfragen! – umfassende Kompetenzen, Kon-
trollrechte und Sanktionsmöglichkeiten.

Also: Wir gestalten intensiv die Wirtschaft. Regelun-
gen zum Alltagsleben, zur Umwelt der Menschen blei-
ben im Handelsteil. Da soll die Welt am europäischen
Wesen genesen. Aber bei den Menschenrechten, der Ar-
beit, der Umwelt und den Steuern, da sind wir unheim-
lich flexibel, tolerant und geduldig.

Deswegen genügt ein solches Abkommen, das sich
auch noch Assoziationsabkommen nennt, unseren An-
sprüchen nicht. Das hat einfach etwas damit zu tun, dass

wir Politik für die Menschen und nicht für die Märkte
machen wollen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723736700

Das Wort hat nun Egon Jüttner für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1723736800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Seit dem in den 1980er-Jahren begründeten Dialog
von San José haben sich die Beziehungen zwischen den
Ländern der Europäischen Union und den Ländern Zen-
tralamerikas stetig intensiviert. Auf dem EU-Lateiname-
rika-Gipfel in Guadalajara bekräftigten beide Regionen
ihren Entschluss, diesen Prozess weiter voranzutreiben
und die Beziehungen weiter auszubauen. Die Verhand-
lungen zu dem jetzt vorliegenden Abkommen begannen
unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im Oktober
2007. Mit dem Assoziationsabkommen stellen die bei-
den Regionen ihre langjährigen politischen, wirtschaftli-
chen und kulturellen Beziehungen auf eine neue und in-
tensivere Grundlage.

Durch den Handelsteil des Abkommens werden neue
Geschäftsmöglichkeiten geschaffen, die zusätzliche Ar-
beitsplätze in Zentralamerika und in der Europäischen
Union nach sich ziehen. Der Zugang für Produkte aus
Zentralamerika zum europäischen Markt wird deutlich
verbessert. Europa bietet den zentralamerikanischen
Staaten einen Absatzmarkt mit rund 500 Millionen Ver-
braucherinnen und Verbrauchern. Natürlich spielen hier
auch andere Faktoren wie die Wettbewerbsfähigkeit der
Preise sowie die Qualität der Produkte eine Rolle. Den-
noch stellt das Handelsabkommen einen wichtigen
Schritt für die Exportausweitung der zentralamerikani-
schen Länder auf den europäischen Markt dar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Rate der Exporte aus der Europäischen Union in
die zentralamerikanischen Staaten ist mit rund 0,2 Pro-
zent bislang sehr niedrig. Auf der anderen Seite gehen
rund 12,3 Prozent der zentralamerikanischen Exporte in
die Europäische Union, wobei zwei Drittel davon aus
Costa Rica kommen. Die zentralamerikanischen Staaten
kommen durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Er-
höhung der Importquoten in den Genuss weitreichender
neuer Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Markt.
In Studien, die für die EU-Kommission durchgeführt
wurden, wird der positive wirtschaftliche Effekt für Zen-
tralamerika auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt. Insbeson-
dere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Ausfuhr-
erzeugnissen wirken sich die Senkung der Einfuhrzölle
und die Erhöhung der Importquoten aus, beispielsweise
bei Bananen, Zucker, Rindfleisch, Fisch und Rum.





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)


Darüber hinaus gewährt die Europäische Union mit
dem Inkrafttreten des Abkommens volle Zollfreiheit für
gewerbliche Erzeugnisse zentralamerikanischen Ur-
sprungs. Umgekehrt werden auch die europäischen Ex-
porteure, die gewerbliche Erzeugnisse und Fischerei-
erzeugnisse nach Zentralamerika ausführen, vollständig
von der Pflicht zur Entrichtung von Zöllen befreit. Euro-
päischen Investoren bietet das Abkommen auf dem zen-
tralamerikanischen Markt ein stabiles Wirtschafts- und
Investitionsumfeld. So werden für Investoren Anreize
geschaffen, vermehrt in den zentralamerikanischen Län-
dern zu investieren.

Weiter verpflichten sich die Vertragspartner mit dem
Abkommen, im Rahmen ihrer Handelsvereinbarungen
Nachhaltigkeits- und Umweltschutzstandards einzuhalten.
Damit wird deutlich, dass dieses Assoziationsabkommen
weit über ein herkömmliches Freihandelsabkommen hi-
nausgeht. Zentrales Anliegen der Europäischen Union
ist dabei auch die Stabilisierung und Demokratisierung
Zentralamerikas. So bilden die Achtung der Menschen-
rechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einen wichti-
gen Teil des Abkommens. Weiter thematisiert das Ab-
kommen die Zusammenarbeit auf konkreten Gebieten,
so etwa beim Kampf gegen Terrorismus, Drogen, Geld-
wäsche und organisierte Kriminalität.


(Klaus Barthel [SPD]: Was steht denn da konkret drin?)


Gegner des Assoziationsabkommens kritisieren die
ihrer Meinung nach einseitige Akzentuierung der Han-
delspolitik in dem Abkommen. Tatsächlich dürfen Men-
schenrechte und wirtschaftliche Interessen sich nicht
ausschließen und kein Hindernis für den Aufbau sozialer
Wirtschafts- und demokratischer Gesellschaftsstrukturen
in den mittelamerikanischen Staaten sein. Die EU muss
und wird alles daransetzen, etwa die Beachtung der
Rechte der indigenen Bevölkerung einzufordern.


(Klaus Barthel [SPD]: Und warum steht das jetzt nicht drin?)


Sie wird ihre Möglichkeiten nutzen, etwa im Bereich
großer Bergbauprojekte oder bei der Abholzung, auf die
zentralamerikanischen Staaten so einzuwirken, dass eine
Verschärfung bestehender Konflikte, die die Gegner des
Abkommens befürchten, vermieden wird.


(Klaus Barthel [SPD]: Wo steht das?)


– Davon gehe ich aus.


(Lachen des Abg. Klaus Barthel [SPD])


Viele politische Akteure in den Staaten Zentralameri-
kas, nicht nur Mitglieder der jeweiligen Regierungen er-
hoffen sich von diesem Abkommen eine Verbesserung
der wirtschaftlichen Situation aller Bevölkerungsschich-
ten in ihren Ländern. Wir befürworten deshalb das Ab-
kommen zwischen der Europäischen Union und Zentral-
amerika, und wir sind überzeugt davon, dass es sich für
beide Partner positiv auswirken wird. Daher bitte ich Sie
um Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723736900

Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt bin ich neugierig, ob Sie heute wieder so lügen wie letztes Mal in der Sitzung! – Gegenruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Na, na, na! – Gegenruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, ja, ja! So was Verlogenes!)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723737000

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir diskutieren zwar heute zu sehr später Stunde
über dieses Assoziationsabkommen, aber das ist noch
lange kein Grund, daraus eine Märchenstunde zu ma-
chen, wie die Bundesregierung es hier betrieben hat.


(Hans-Werner Ehrenberg [FDP]: Sie wiederholen sich! Das haben Sie vorhin schon gesagt!)


Wir haben darauf bestanden, hier über dieses zu
schließende Assoziationsabkommen zu debattieren, weil
wir die Möglichkeit haben, mit darüber zu entscheiden.
Das ist nicht bei vielen Entscheidungen der EU möglich.
Dieses Recht müssen wir nutzen. Vor allem haben wir
als Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine große
Verantwortung, weil wir hier auch über die Zukunft von
Millionen von Menschen in Zentralamerika entscheiden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ähnlich wie bei dem Freihandelsabkommen mit Ko-
lumbien und Peru, über das wir hier auch sehr kontro-
vers diskutiert haben, gibt es viele Vorbehalte. Denn
Freihandel schafft Vorteile für die Industriestaaten, für
wirtschaftlich starke Staaten, aber nicht für die Länder
des Südens. Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wurde bereits erwähnt, dass es in Zentralamerika
Staaten wie Honduras und Guatemala gibt, die zu den
gefährlichsten der Welt zählen, in denen es die höchsten
Mordraten und massive Menschenrechtsverletzungen
bei Landkonflikten gibt. Vor allem in Honduras – auch
das wurde schon erwähnt – hat die Zahl der Menschen-
rechtsverletzungen seit dem Putsch 2009 massiv zuge-
nommen. In diesem Zusammenhang muss ich einen Satz
in Richtung FDP sagen: Der Kollege Breil hat vorhin in
der Debatte zu den Steinkohlenimporten das Festlegen
sozialer und ökologischer Standards als Einmischung in
innere Angelegenheiten bezeichnet. Die FDP und die
Friedrich-Naumann-Stiftung haben aber kein Problem
damit, einen Putsch in Honduras zu unterstützen. Ich
frage mich: Was ist denn eine Einmischung in die inne-
ren Angelegenheiten der Länder?


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP – Hans-Werner Ehrenberg [FDP]: Der Kollege hat gesagt, Sie sollen nicht lügen!)






Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


Da gibt es einen sehr großen Unterschied. Sie pervertie-
ren wirklich die Ansprüche an die wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Mein Gott, die lügt heute wieder weiter! – Gegenruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Kollege, reißen Sie sich zusammen!)


Ich muss dazu sagen: Wir haben ja bereits Erfahrun-
gen mit Freihandel. Zentralamerika hat bereits mit den
USA ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, CAFTA.
Dort konnten wir die Folgen solch eines Freihandelsab-
kommens sehr genau sehen: Es gibt billige US-Importe
im Nahrungsmittelbereich, die regionalen Märkte sind
zusammengebrochen, die eigene landwirtschaftliche
Produktion auch. Jetzt sind diese Länder abhängig von
Nahrungsmittelimporten. Bei steigenden Preisen führt
das zu mehr Hunger und zu mehr Armut. Dies ist eine
Gefahr für die Ernährungssicherheit. Das können wir als
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
nicht verantworten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was war die Antwort aus dem Wirtschaftsministe-
rium, als wir im Ausschuss darüber diskutiert haben?
Die Bevölkerung kann zukünftig nicht nur US-Waren
kaufen, sondern auch EU-Waren und EU-Nahrungsmit-
tel.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Toll!)


Was ist denn das für eine zynische Logik? Das ist doch
keine Problemlösung, sondern verschärft diese Problem-
lage. Wir müssen die eigene Produktion in diesen Län-
dern stärken, damit sie zu einer Ernährungssouveränität
kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das stellt Ihre Argumentation wirklich auf den Kopf.

Wir lehnen es ab, dass in diesem Abkommen Privati-
sierungen im Wassersektor und im Gesundheitswesen
vorgesehen sind, dass die lokale Produktion von Gene-
rika erschwert wird und dass die Einführung von Paten-
ten auf Saatgut Bäuerinnen und Bauern dazu zwingen
wird, ihr Saatgut bei europäischen Konzernen teuer ein-
zukaufen. All das können Folgen dieses Freihandelsab-
kommens sein. Deshalb lehnen wir es ab.

Es gibt noch einen weiteren sehr gewichtigen Grund.
Es ist völlig verantwortungslos, dass in Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union
in diesem Abkommen die weitere Liberalisierung von
Finanzdienstleistungen festgeschrieben wird. Das trägt
die Krise nach Lateinamerika.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Deswegen stimmen wir gegen dieses Abkommen.

Ich richte meinen Appell an Rot-Grün. Es hängt jetzt
wirklich davon ab, wie im Bundesrat entschieden wird.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen, dass ich es

gut fand, dass die Grünen aus Rheinland-Pfalz gegen das
Abkommen mit Kolumbien und Peru gestimmt haben, –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723737100

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723737200

– aber die SPD hat dies leider nicht getan. Deswegen

lautet mein Appell: Rot-Rot-Grün muss im Bundesrat
beide Abkommen verhindern.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN – Bijan Djir-Sarai [FDP]: Rot-Rot-Grün! Im Geiste vereint!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723737300

Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion der

Grünen.


(Otto Fricke [FDP]: Jetzt kommt der nächste Teil von Rot-Rot-Grün!)



Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723737400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union
und ihren Partnerländern sind bisher meist unter hoher
Geheimhaltungsstufe ausgehandelt worden. Parlamenta-
riern, kritischen Journalisten und NGOs wurden kaum
Einblicke gewährt, wohl aber den Wirtschaftsverbänden
und den Vertretern großer Unternehmen. Um kaum eine
andere Abteilung der Europäischen Kommission schar-
ten und scharen sich mehr Lobbyisten als um die DG
Trade, um die Generaldirektion Handel. Aber inzwi-
schen haben das Europäische Parlament und – das ist
neu – auch die nationalen Parlamente mehr Mitwir-
kungsmöglichkeiten bekommen. Sie sind zwar noch un-
zureichend, aber immerhin: Handelspolitik kann nicht
mehr in der Dunkelkammer gemacht werden, und das ist
auch gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das hat sich auch schon im Deutschen Bundestag
ausgewirkt. Handelsabkommen werden nicht einfach
nur nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern es wird
endlich auch in unseren Ausschüssen über sie diskutiert,
sie werden auf den Prüfstand gestellt, in Anhörungen
durchleuchtet, kritisch hinterfragt und – wenn auch, wie
jetzt, zu später Stunde – im Plenum öffentlich debattiert.
Da hat sich wirklich schon etwas verändert. Das sieht
man auch daran, dass das Freihandelsabkommen der EU
mit Peru und Kolumbien hier im Bundestag kürzlich von
der Opposition geschlossen abgelehnt wurde.

Spannend wird sein, was im Bundesrat geschieht.
Denn dieses Abkommen kann nur dann ratifiziert wer-
den und in Kraft treten, wenn auch der Bundesrat zu-
stimmt. Dort haben SPD, Grüne und Linke die Mehrheit.
Wir warten also gespannt darauf, was am 3. Mai dieses
Jahres geschieht. Es kann sein, dass dieses Abkommen
die erforderliche Zustimmung nicht bekommt. Was dann





Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)


geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Rechtsauffas-
sungen.

Nach unserer Meinung – sie wird gestützt durch ein
neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages und durch Studien von Wirtschaftswissen-
schaftlern und Völkerkundlern – tritt dann nicht, wie
hier behauptet, der Handelsteil des Abkommens in Kraft
und nur die anderen Teile nicht, sondern nach dieser
Rechtsauffassung muss dann das gesamte Abkommen
nachverhandelt werden. Das wäre ein starkes Signal in
Richtung der DG Trade der EU-Kommission: kein Wei-
ter-so in der Handelspolitik, kein Festhalten am Liberali-
sierungsdogma um jeden Preis, sondern stärkere Be-
achtung von Sozial- und Umweltstandards und von
Menschenrechtskriterien!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Heute geht es um ein Assoziierungsabkommen mit
Zentralamerika, das genauso umstritten ist wie das Frei-
handelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Auch im
Hinblick auf dieses Abkommen ist zu befürchten, dass
die kleinbäuerliche Landwirtschaft in den Partnerländern
unter die Räder kommt und von hochsubventioniertem
Milchpulver und anderen Molkereiprodukten aus euro-
päischer Überschussproduktion überschwemmt wird.

Es ist auch zu befürchten, dass Wirtschaftssektoren
stimuliert werden, in denen es schon jetzt zu massiven
Umweltschäden, zu Zwangsvertreibungen von Indige-
nen und Kleinbauern und zu Menschenrechtsverletzun-
gen kommt. Die Debatte über die kolumbianische Stein-
kohle, die gerade ausgetragen wurde, haben wir alle ja
noch im Ohr. Das gleiche Problem besteht auch in Zen-
tralamerika. Bestimmte Wirtschaftssektoren, gerade der
exzessive Anbau von Palmöl und Bergbauaktivitäten,
würden durch dieses Abkommen enorm stimuliert wer-
den. Das würde zu Gewinnen für einige wenige führen,
hätte aber fatale Folgen gerade für arme Bevölkerungs-
gruppen. Sogar die von der EU-Kommission selbst in
Auftrag gegebene Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung
kommt zu dem Ergebnis, dass durch das Abkommen der
Druck auf das Land erhöht wird und dadurch auch Land-
konflikte – Stichwort „Land-Grabbing“ – weiter ver-
schärft werden.

Es waren nicht nur einige wenige, sondern mehr als
40 Nichtregierungsorganisationen, darunter auch das
evangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ und das ka-
tholische Hilfswerk „Misereor“, die dringend an uns ap-
pelliert haben, dieses Abkommen in dieser Form nicht
zu unterzeichnen. Auch der katholische Bischof von
Guatemala, Bischof Ramazzini – viele Kolleginnen und
Kollegen aus dem Bundestag kennen ihn –, hat uns bei
mehreren Podiumsveranstaltungen eindringlich gebe-
ten, dieses Abkommen genau zu prüfen und es in dieser
Form nicht zu unterzeichnen.

Wir könnten ein klares Signal setzen –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723737500

Kollege, Sie möchten bitte zum Schluss kommen.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723737600

– pardon –, zuerst wir im Bundestag, dann der Bun-

desrat. Müsste dieses Abkommen nachverhandelt wer-
den, könnte es im Sinne einer sozialen und ökologischen
Marktwirtschaft verbessert werden, und zwar dahin ge-
hend, dass genau diese Flankierungen gestärkt werden.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam eintreten!

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723737700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf – –


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Herr Präsident, da fehlt noch einer!)


– Entschuldigung, es ist schon spät. – Bitte, Herr Kol-
lege Holmeier.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Es wäre zu schön gewesen! – Gegenruf des Abg. Karl Holmeier [CDU/CSU]: Wenn Sie Ihre Rede zu Protokoll gegeben hätten, dann wären wir nicht hier! – Zuruf von der SPD: Da war der Wunsch wohl Vater des Gedanken! – HansWerner Ehrenberg [FDP]: Es ist schon gut, dass wir ihn noch hören!)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1723737800

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist wieder einmal einer der seltenen Tage, an de-
nen wir im Deutschen Bundestag ein Stück Geschichte
schreiben dürfen. Mit der Zustimmung zu dem vorlie-
genden Assoziierungsabkommen zwischen der Europäi-
schen Union und Zentralamerika schließen wir einen
Prozess erfolgreich ab, der als Friedensprozess schon im
Jahr 1984 begonnen hat – unter maßgeblicher Beteili-
gung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich
Genscher.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Abkommen steht ganz in der Tradition der eu-
ropäischen Idee, auf der Grundlage wirtschaftlicher Zu-
sammenarbeit für Frieden und Stabilität zu sorgen. Es
bildet die Grundlage für eine politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Integration zwischen der Europäi-
schen Union und Zentralamerika.

Das Abkommen ist aber auch noch aus einem anderen
Grund historisch: Es ist das erste biregionale Assoziie-
rungsabkommen, das die Europäische Union seit dem
Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon unterzeichnet
hat. Umso bedauerlicher finde ich es, dass sich die Op-
position im Deutschen Bundestag nicht zu einer Zustim-
mung zu diesem Abkommen durchringen konnte.

Wenn man sich dieses Abkommen einmal in seiner
gesamten Breite anschaut, wird schnell klar, dass es ei-





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)


nem übergeordneten Ziel folgt: Es geht nicht darum, aus
rein wirtschaftlichem Eigennutz ein Abkommen mit
Schwellenländern zu schließen, die ohne Zweifel vieler-
orts durch hohe Armut, soziale Ausgrenzung sowie so-
ziale und ökologische Instabilitäten geprägt sind. Es geht
vielmehr darum, die politische und gesellschaftliche
Entwicklung in Zentralamerika durch eine enge Zusam-
menarbeit und wirtschaftliche Verzahnung positiv zu be-
einflussen und zu begleiten. Wer dieses Abkommen auf
seine wirtschaftliche Dimension reduziert, hat schlicht
nicht verstanden, worum es eigentlich geht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Aber gelesen!)


Dieses Assoziierungsabkommen ist weit mehr als nur
ein Handelsabkommen: Es bildet die Grundlage für eine
privilegierte Partnerschaft auf der Basis gemeinsamer
Werte und Zielvorstellungen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was ist mit dem katholischen Bischof?)


Der Handelsteil ist der letzte von drei Grundpfeilern des
Abkommens. Ihm gehen die Abschnitte „Politischer
Dialog“ und „Zusammenarbeit“ voraus. Hierin wird
klargestellt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
die Achtung der Menschenrechte sowie der bürgerlichen
und politischen Rechte das Fundament des Assoziie-
rungsabkommens mit Zentralamerika bilden. Diesen
Grundprinzipien wird eine besondere Bedeutung zuge-
schrieben, da sie das Kernstück des gemeinsamen euro-
päischen und zentralamerikanischen Wertesystems dar-
stellen. Als weitere Ziele werden ausdrücklich genannt:
Armutsreduzierung, Bekämpfung von Ungleichheit,
nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klima-
schutz. Auch die Abrüstung und Nichtverbreitung von
konventionellen, chemischen und biologischen Waffen
finden sich als Zielvorgabe in diesem Abkommen,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist ja eh Allgemeinwissen!)


ebenso wie der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus,
gegen Drogen, Geldwäsche, Korruption und organisierte
Kriminalität. Das zeigt, wie umfassend dieses Assoziie-
rungsabkommen tatsächlich ist.

Angetrieben vom Interesse an einem gegenseitigen
Handel und einem weitreichenden Zugang zum europäi-
schen Markt, fördert das Abkommen eine politische, so-
ziale und gesellschaftliche Integration. Dieser vielver-
sprechende Entwicklungsprozess ist nicht nur im
Interesse einiger weniger Unternehmen oder politischer
und wirtschaftlicher Eliten. Nein, er ist im Interesse der
Menschen in Zentralamerika und in Europa. Ich kann
Sie daher nur um Ihre Zustimmung zu diesem Abkom-
men bitten.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723737900

Jetzt schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer
Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika anderer-
seits.

Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
17/13176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/12355 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-
men der Opposition angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Zusammenbruch des Emissionshandels ab-
wenden – Überschüssige Zertifikate aus dem
Markt nehmen

– Drucksache 17/13193 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1723738000

Das Europäische Parlament hat den Backloading-

Vorschlag der Kommission erst einmal abgelehnt.
Doch noch sind wir nicht am Ende der Debatte. Das
Erreichen einer Preissteigerung durch Herausnehmen
der Zertifikate ist noch nicht endgültig gescheitert.
Diese Preissteigerung ist aber nötig, damit der Emis-
sionshandel seine Funktion erfüllen kann.

Der Umweltausschuss des Europäischen Parla-
ments hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den
Kommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich ge-
meinsam mit dem Europäischen Rat und der Kommis-
sion auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Dieses
Ergebnis kann dann dem Plenum erneut vorgelegt wer-
den.

Aber auch der Positionierung des Rates kommt ent-
scheidende Bedeutung zu. Ich unterstütze daher
ausdrücklich die eindringlichen Bemühungen von
Bundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bun-
desregierung zu einer einvernehmlichen Positionie-
rung zu kommen. Denn die Bundesregierung muss hier
ein klares Signal setzen. Ich fordere die Bundesregie-
rung auf, eindeutig Stellung für ein fest umrissenes
Backloading und eine Erhöhung des Reduktionsziels
innerhalb der EU auf 30 Prozent bis 2020 zu beziehen.





Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)


Denn gelingt es nicht, das ETS zu stabilisieren,
dann gehen der Europäischen Union für den Klima-
schutz die kommenden Jahre bis 2020 verloren. Von
dem zu erwartenden Zertifikatepreis für diese Han-
delsperiode werden sicherlich kaum klimapolitische
Impulse ausgehen.

Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in
der letzten Woche ist ein herber Rückschlag für die in-
ternationalen Bemühungen um ambitionierte Klima-
schutzziele.

Es geht darum, mit dem Emissionshandel das Herz-
stück der europäischen Klimapolitik zu stabilisieren.
Der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zerti-
fikaten wird in absehbarer Zeit nicht zu einem signifi-
kanten Anstieg der Zertifikatspreise führen.

Wir sprechen beim Backloading über eine tempo-
räre Reduzierung des immensen Zertifikateüberschus-
ses. Das vorgeschlagene Backloading beendet diesen
Überschuss an Zertifikaten nicht, sondern begrenzt ihn
lediglich. Nach wie vor hätte es für die Industrie aus-
reichend Zertifikate am Markt gegeben, um auch bei
steigender Produktion nach der Wirtschaftskrise ohne
Härten in den Klimaschutz investieren zu können. Viel-
mehr hätte es diese Investitionen möglich gemacht.
Allerdings – und das ist das Entscheidende bei dieser
Diskussion – hätte das Herausnehmen von 900 Millio-
nen Zertifikaten das Signal gegeben, dass es der EU
ernst ist mit der Umsetzung ihrer klimapolitischen
Ziele.

Dabei kann das Backloading selbst nur ein erster
Schritt sein. Mindestens genauso wichtig wird es sein,
sich über eine langfristige Strukturreform des Emis-
sionshandels klar zu werden. Die marktorientierte Aus-
richtung des Emissionshandels halte ich weiterhin für
richtig. Allerdings sollte alles dafür getan werden, die
Geburtsfehler und Kinderkrankheiten des Systems wie
beispielsweise eine zu großzügige Zertifikatsaustat-
tung am Anfang oder die Bereitstellung von zu vielen
Zertifikaten aus ökologisch fragwürdigen Klima-
schutzprojekten zu beheben bzw. zu heilen.

Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese
beiden Eingriffe. Nur durch die klar definierte Heraus-
nahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraum
und eine daran anschließende grundlegende Refor-
mierung der nächsten Handelsperiode kann es gelin-
gen, dieses wichtige Steuerelement als Kernelement
der europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten.
Daher muss es neben dem Erhalt des ETS als markt-
wirtschaftliches Instrument auch darum gehen, die
Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,
um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.

Die Bundesregierung muss sich geschlossen dafür
einsetzen, dass die Europäische Union ihre Ziele bis
2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbst gesteck-
ten Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu
senken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse ge-
geben. Darauf gilt es aufzubauen. Auch die EU muss
diesen Schritt gehen. Insgesamt haben wir in der Euro-

päischen Union schon jetzt zu einem Großteil unsere
Reduktionsziele für 2020 erreicht und würden in unse-
ren Anstrengungen in den nächten Jahren unnötig
nachlassen, wenn wir hier nicht nachbessern.

Bundesumweltminister Altmaier setzt sich inner-
halb der EU zusammen mit einigen seiner Kolleginnen
und Kollegen stark für diese Position ein, und ich
unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Die
Bundesregierung ist nun am Zug, sich hier klar zu
positionieren und den Klimaschutz in Europa voranzu-
bringen.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1723738100

Letzte Woche hat das Europaparlament die Reform

des Emissionshandels abgelehnt. Dies war ein Schock
und ein schwarzer Tag für den Klimaschutz. Die kirch-
liche Hilfsorganisation Brot für die Welt sprach richti-
gerweise von einem „Votum der Unvernunft“. Haupt-
verantwortlich waren in der Mehrheit konservative
und liberale Abgeordnete aus ganz Europa.

Eine ganz entscheidende Verantwortung trägt aber
auch die deutsche konservative Partei und deren Par-
teivorsitzende Angela Merkel. Die jahre- und monate-
lange regierungsinterne Lähmung hat fatale Signale in
Richtung Brüssel ausgesendet. Die Bundesregierung
hatte keine einheitliche Position; Wirtschaftsminister
Rösler und Teile der Koalitionsfraktionen haben offen-
siv daran gearbeitet, die Reform des Emissionshandels
zu verhindern. Bis heute hat die Bundesregierung
keine Meinung, obwohl die Bundeskanzlerin erklärt
hat, dass sie nach der Abstimmung im Europaparla-
ment für eine einheitliche Position sorgen wird.

Nach diesem Rückschlag im Europaparlament muss
die Bundesregierung ihre destruktive Rolle aufgeben
und retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächsten
Wochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Ent-
scheidung geben wird, werden wir bis zum Jahr 2020
keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Der Emis-
sionshandel würde keinen Anreiz zum Klimaschutz ge-
ben und wäre als politisches Instrument praktisch tot.
Besonders absurd ist diese Situation, da andere Staa-
ten wie Australien oder China in Emissionshandelssys-
teme einsteigen wollen. Und die EU, die Pionierin des
Emissionshandels mit dem derzeit größten Emissions-
handelssystem der Welt, lässt ihr mühsam aufgebautes
System sehenden Auges kollabieren und sorgt so bei all
denen für Auftrieb, die schon immer gegen marktwirt-
schaftliche Instrumente waren.

Wir werden nun Debatten über ordnungsrechtliche
Lösungen bekommen, wie wir in der Debatte zum An-
trag der Linken für ein Kohleausstiegsgesetz gesehen
haben. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Re-
gelungen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systems
entstehen. Großbritannien hat schon einen gesetzli-
chen Mindestpreis für CO2 eingeführt; die Nieder-
lande und Spanien haben eine Steuer auf Kohle; Ita-
lien debattiert über eine Steuer. Ich habe den Eindruck,
dass viele Industrievertreter und konservative Abge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)


ordnete nicht verstanden haben, was sie angerichtet
haben, und dass wir genau das Gegenteil des „level
playing field“ erhalten werden, von dem die Industrie
immer redet.

Die Mehrheit der Europaabgeordneten wollte aber
die Reform des Emissionshandels nicht endgültig
scheitern lassen. Mit großer Mehrheit haben die Abge-
ordneten dafür gestimmt, die Backloading-Entschei-
dung wieder in die Ausschüsse zurückzuüberweisen.
Nun hat der Umweltausschuss des Europaparlaments
maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvor-
schlag weiter zu beraten und sich mit Rat und Kommis-
sion auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Noch ist
unklar, wie solch ein zustimmungsfähiger Kompromiss
aussehen kann. Das Ergebnis könnte dann wieder dem
Plenum vorgelegt werden.

Dies ist auch der Hintergrund, warum wir unseren
neuen Antrag zum Backloading in den Bundestag ein-
gebracht haben. Wir wollen eine Abstimmung, aus der
klar hervorgeht, wie sich die schwarz-gelbe Koalition
zum Backloading verhält. Die Haltung Deutschlands
ist entscheidend, wenn es darum geht, im Rat eine
Mehrheit zu organisieren. Die irische Ratspräsident-
schaft ist auf eine aktive Rolle Deutschlands angewie-
sen. Hierzu muss sich die Kanzlerin endlich gegen den
Wirtschaftsminister durchsetzen.

Über die Zukunft des Emissionshandels wird jedoch
nicht nur in der Backloading-Debatte entschieden,
sondern auch in einer weiteren Debatte, nämlich der
aktuellen Diskussion, welche Ziele im Klimaschutz
sich die EU für die Zeit nach 2020 geben wird. Wenn
wir ein Klimaziel für das Jahr 2030 wählen, das zu
dem abnehmenden berechenbaren Reduktionspfad zum
2050-Ziel passen soll, so muss dieses Ziel mindestens
40 Prozent Minderung bedeuten. Dies hätte mit dem
bestehenden 2020-Ziel zur Folge, dass die Industrie
bis 2020 sehr wenig machen muss, nach 2020 aber
plötzlich ihre Anstrengungen vervielfachen müsste.
Solch ein Bruch kann nicht im Interesse der Planbar-
keit von Investitionen sein.

Deshalb müssen wir zeitnah, unabhängig von einer
noch ausstehenden abschließenden Entscheidung des
Europäischen Parlamentes und des Europäischen
Rates zum Backloading, einen Diskurs in den europäi-
schen Institutionen über eine ambitioniert ausgestal-
tete Handelsperiode nach 2020 führen. Es muss eine
Lösung angestrebt werden, um über eine ehrgeizige
Absenkung des Caps umfängliche Innnovationen und
Investitionen und damit Effizienzsteigerungen in den
vom Emissionshandel betroffenen Unternehmen anzu-
stoßen bzw. zu unterstützen.

Die Ausgestaltung muss so sein, dass diese Investi-
tionen in die Emissionssenkung auch schon in der lau-
fenden Handelsperiode ausgelöst werden. Wichtig ist
eine zeitige Einigung, sodass auch die gewünschten
Investitionsziele möglichst bald eintreten können.
Ohne einen funktionierenden Emissionshandel mit an-
spruchsvollen Emissionsobergrenzen würden die nicht

dem Emissionshandel unterliegenden Sektoren Ver-
kehr, Haushalte und Gebäude vor Herausforderungen
gestellt, die kaum zu bestehen sind. Auf diesen Zusam-
menhang haben wir in unserem Antrag explizit hinge-
wiesen.

Nach diesem „Votum der Unvernunft“ wachen nun
hoffentlich einige konservative und liberale Abgeord-
nete aus ihrem Koma auf und zeigen sich konstruktiv,
um noch in letzter Minute eine Lösung zu erreichen.
Viel Zeit haben sie nicht mehr. Die Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen können schon ein-
mal vormachen, wie es geht, und diesem Antrag zu-
stimmen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1723738200

Die SPD fordert in ihrem erfreulich übersichtlichen

Antrag, dass die Bundesregierung die Position der
EU-Kommission unterstützt, zur Stabilisierung des
CO2-Preises das sogenannte Backloading anzuwen-
den, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handels-
periode zurückzuhalten. Aber schon im ersten Absatz
der Antragsbegründung klingen Sie nicht mehr so
überzeugt von Ihrem Vorhaben und räumen „instru-
mentelle Vorbehalte“ ein. Diese Vorbehalte sind in der
Tat nicht von der Hand zu weisen. Denn Sinn und
Zweck des Emissionshandels ist nicht ein Mindestpreis
für CO2-Emissionen, sondern die Einhaltung des Cap,
das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge an
CO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen aussto-
ßen. Schraubt man willkürlich an der Zertifikatmenge,
um einen bestimmten Preis anzupeilen, führt man das
System ad absurdum. Zudem basiert das Vertrauen der
Wirtschaftsakteure in das System auf stabilen Rahmen-
bedingungen. Eine willkürliche Änderung dieser Rah-
menbedingungen würde das Emissionshandelssystem
mehr gefährden als der aktuell sehr niedrige Preis.

Ich gebe zu, dass dieser Preis unerfreuliche Seiten
hat: Er führt zu einem niedrigeren Anreiz, in neue
CO2-arme und nachhaltige Technologien zu investie-
ren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EU
nach 2020 das Emissions-Cap absenkt, um auf dem
Klimaschutzpfad bis 2050 voranzukommen. Daneben
brechen die Einnahmen des Energie- und Klimafonds
ein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung
der Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelle
Jahr konnte dank der Verwendung zusätzlicher Ge-
winne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der
Einnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kom-
pensiert werden. Somit können Programme für inter-
nationalen Klimaschutz, die Gebäudesanierung und
die Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden.
Auch das neu eingeführte Speicherförderprogramm für
die Photovoltaik wird voll finanziert. Das Markt-
anreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann im-
merhin etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die
Finanzierungslücke hat die Bundesregierung in die-
sem Jahr somit eine gangbare Lösung gefunden.

Die Bundesregierung hat in der Nationalen Nach-
haltigkeitsstrategie beschlossen, dass sie eine Anhe-

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


bung des Klimaziels für 2020 auf 30 Prozent befürwor-
tet, wenn Deutschland sein nationales 40-Prozent-Ziel
nicht erhöhen muss und alle EU-Staaten einen ange-
messenen Beitrag leisten. Diesen Ansatz sollte man
nach dem Scheitern der Backloading-Pläne im Euro-
päischen Parlament jetzt noch einmal forcieren. Denn
dies ist ein systematischerer Ansatz als das doch recht
willkürliche Backloading.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723738300

Man mag zum EU-Emissionshandel, ETS, stehen,

wie man will. Fakt ist, dass von der ersten zur dritten
Handelsperiode etliche Kardinalfehler behoben wur-
den, die das System zutiefst diskreditiert hatten. So
werden seit diesem Jahr zumindest an die Energiewirt-
schaft die geldwerten CO2-Emissionsrechte nicht mehr
verschenkt, sondern versteigert. Das Problem der leis-
tungslosen Extragewinne wäre also hier vom Tisch.
Zudem wurde die Nutzung neuer missbrauchsanfälli-
ger CDM-Zertifikate für die dritte Handelsperiode ex-
trem eingeschränkt.

Leider sind durch die in der Vergangenheit von der
einschlägigen Lobby aufgebrochenen Lücken im ETS
– zu denen auch eine Überzuteilung an die Industrie
gehört – jede Menge überschüssiger Zertifikate aufge-
laufen. So macht allein der Zufluss von CDM-
Gutschriften aus zweifelhaften Klimaschutzprojekten
im globalen Süden etwa 1,6 Milliarden der 2 Milliar-
den Überschüsse aus, ist also Hauptursache für die
Krise des Handelssystems. Von diesen 1,6 Milliarden
sind auch noch die Hälfte faul. Die CDM-Gutschriften
lassen nicht nur die Preise in den Keller stürzen – ak-
tuell kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 ja nur so viel
wie ein Brot beim Bäcker statt der ursprünglich erwar-
teten 30 Euro –, sie führen auch zu einem zusätzlichen
Klimagasausstoß. Die Wirtschaftskrise tat ein Übriges
für die derzeitige Zertifikateschwemme.

Würde man nun diese ungenutzten, aber leider
übertragbaren Emissionsrechte endgültig stilllegen
und würde man zudem den linearen Minderungspfad
entsprechend den veränderten Rahmenbedingungen
verschärfen, so könnte sich dieses marode Cap-and-
Trade-System erstmalig zu einem tatsächlichen Klima-
schutzinstrument wandeln.

Genau dies hat zumindest die EU-Kommission mit
ihrem Backloading-Vorschlag im Blick. Das zeitweise
„Zurücklegen“ von Zertifikaten über 900 Millionen
Tonnen CO2, anstatt sie zu versteigern, würde den Zer-
tifikatepreis zwar zunächst nur wenig anheben. Denn
die Märkte antizipieren ja, dass die Menge 2019 und
2020 doch noch in den Markt geht, die 2013 bis 2015
bei den Auktionen aufgespart wird. Das Backloading
würde aber den Weg für eine grundlegende Reform des
Emissionshandels freimachen, weil es Zeit schindet.
Und die braucht man, da Strukturreformen vor 2015
sicher nicht wirksam werden.

Diese zwei bis drei Jahre hätten die Mitgliedstaaten
tatsächlich Zeit; denn das Backloading soll ja genau

verhindern, dass ein großer Teil der überschüssigen
Zertifikate in diesem Zeitraum marktwirksam wird. Sie
könnten mit den dann hoffentlich erfolgten Strukturre-
formen schließlich endgültig stillgelegt werden – und
mit ihnen auch die restlichen Überschüsse. In diesem
Zug könnten nach einem weiteren Vorschlag der Kom-
mission der genannte Minderungsfaktor verdoppelt
und jegliche Anrechnungen von Auslandsgutschriften
untersagt werden.

Dieser Fahrplan stand letzte Woche in Straßburg im
Raum, als es um die Backloading-Abstimmung ging.
Und genau deshalb gab es eine beispiellose Lobby-Ar-
beit von Industrie und Energiewirtschaft gegen den
Vorschlag. Die FDP und der Wirtschaftsflügel der
Union waren ihre parlamentarische Speerspitze. Sie

(Voreines wirksamen Emissionshandels ins Schloss geführt wurde. Darum war um jeden Preis zu verhindern, dass die Parlamentarier ihn umdrehten. Christdemokraten und Liberale haben sich im EUParlament leider knapp gegen den Klimaschutz durchgesetzt. Parallel hat sich in Berlin die Kanzlerin dem Druck der FDP ergeben. Die Bundesregierung war auf EU-Ebene entsprechend handlungsunfähig. Beide Blockaden drohen das jahrelang aufgebaute und schrittweise verbesserte EU-Emissionshandelssystem komplett und endgültig zu zerschießen. Die Parteien ziehen einer gemeinsamen europäischen Klimaschutzpolitik lieber eine kleinkarierte Klientelpolitik für Teile der Wirtschaft vor. Sie wird wohl zur Nationalisierung und weiteren Schwächung des Klimaschutzes in Europa führen. Die Linke hat als Alternative ein nationales Kohleverstromungsausstiegsgesetz vorgeschlagen, sofern der EU-Emissionshandel scheitert. Das können Sie auf unserem Antrag auf Drucksache 17/12064 lesen, der ebenfalls heute im Plenum abgestimmt wird. Aus unserer Sicht ist das ETS nicht nur bereits tot; es hat, was seine ökologische Wirkung betrifft, nie wirklich gelebt. Gleichzeitig haben Energiekonzerne damit Milliarden verdient – eine Schande auf der ganzen Linie. Die SPD versucht nun mit ihrem Antrag, die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Sie soll in der zweiten Verhandlungsrunde darauf hinwirken, dass das Backloading in der EU doch noch Anwendung findet. In der Begründung will die Fraktion allerdings grundlegende Reformen erst nach 2020. Das ist natürlich kompletter Unsinn, denn diese müssen spätestens Mitte dieses Jahrzehnts greifen. Zudem sehen wir die ausufernden Kompensationszahlungen für die Industrie skeptisch, die die SPD feiert. Dennoch werden wir diesem Antrag zustimmen. Zum einen sind die genannten Fehler nur Teil der für die Beschlussfassung unwichtigen Begründung. Zum anderen halten wir bei der Frage des Backloadings in diesen Wochen eine gemeinsame Stimme aller Parteien für dringend erforderlich. Zu Protokoll gegebene Reden Eva Bulling-Schröter Allerdings sehen wir bei der derzeitigen Konstellation wenig Chancen auf einen Backloading-Erfolg – und noch weniger für eine grundlegende ETS-Reform. Deshalb wird die Linke die Greenpeace-Idee eines Kohleausstiegsgesetzes weiter vorantreiben, egal was in Brüssel geschieht. Denn was ist einfacher, als nach einem Abschaltplan planmäßig aus der Kohle auszusteigen? Und zwar so, dass spätestens 2040 der letzte Meiler vom Netz ist! Ich hoffe, irgendwann unterstützen uns in dieser Frage auch Sozialdemokraten und Grüne, die diesen Schritt bislang entweder ablehnen oder sich zu unserem Antrag im Ausschuss enthalten haben. Die europäische Klimaschutzpolitik steckt in der wohl tiefsten Krise ihrer Geschichte. Konservative und Liberale haben im Europäischen Parlament die dringend erforderliche Reparatur des europäischen Emissionshandels gestoppt. Nicht einmal den Minischritt eines Backloading, einer kurzfristigen Verknappung von Emissionsberechtigungen, wollten die Parteifreunde der Regierungsfraktionen mitgehen. Damit bleibt das zentrale Instrument der EU-Klimapolitik auf absehbare Zeit ohne Wirkung. Der Preis für Verschmutzungsrechte ist auf rund 3 Euro je Tonne CO2 eingebrochen – das ist viel zu wenig, um Anreize für Investitionen in saubere Technologien zu setzen. Die Folgen dieses Politikversagens sind dramatisch: Die Braunkohle boomt, während hocheffiziente Gaskraftwerke stillstehen. Die deutschen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch die EEG-Umlage steigt, weil Windund Sonnenstrom mehr Unterstützung brauchen, um mit der künstlich verbilligten Kohle konkurrieren zu können. Dem Energieund Klimafonds der Bundesregierung fehlen Milliarden, die für die Finanzierung der Energiewende und den internationalen Klimaschutz eingeplant waren. Für den Niedergang des Emissionshandels trägt Bundeskanzlerin Merkel maßgebliche Verantwortung. Bundeswirtschaftsminister Rösler hat die Emissionshandels-Reform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn gewähren lassen. Sie hat mit stillschweigender Billigung hingenommen, dass die Abgeordneten ihrer Partei dem europäischen Klimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hat sie gerührt, die ehemalige „Klima-Kanzlerin“. Ihr Umweltminister Altmaier hat wenigsten noch Appelle nach Brüssel geschickt und vor einem massiven Rückschlag für den Klimaschutz gewarnt. Doch die große Mehrheit seiner Parteifreunde hat nicht auf ihn gehört. Jetzt stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zu einer Richtungsentscheidung über die Zukunft des Klimaschutzes. Wir Grünen treten ein für die überfällige Anhebung des EU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020. Wir wollen eine deutliche Verknappung der Verschmutzungsrechte, um das Überangebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem Markt zu nehmen. Und wir wollen eine grundlegende Reform des Emissionshandels, die auch die Einschränkung der Zufuhr billiger und ökologisch fraglicher Zertifikate aus China und Indien einschließt. Die Schwächung des europäischen Klimaschutzes macht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebene notwendig. Deshalb setzen wir uns für ein nationales Klimaschutzgesetz ein, ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele verbindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle der Klimaschutzmaßnahmen etabliert und bei Abweichungen vom Zielpfad ein Gegensteuern der Politik erzwingt. Es ist Zeit, dass Deutschland wieder Vorreiter wird und Antreiber beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen dafür bereit. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/13193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters – Drucksache 17/12163 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses – Drucksache 17/13269 – Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Sonja Steffen Stephan Thomae Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Der vorliegende Gesetzentwurf will dem leiblichen, nicht rechtlichen Vater die Möglichkeit einräumen, mit seinem Kind, das einen rechtlichen Vater hat und in einer intakten Familie lebt, Kontakt aufzunehmen und sich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Derzeit hat er diese Möglichkeit nicht. Bei dem Gesetzentwurf geht es im Kern um das Verhältnis von leiblicher und rechtlich-sozialer Elternschaft. Dabei geht es um unterschiedliche Vorstellungen von Elternschaft, Familie und Wohl des Kindes. In unserem Recht sind Eltern diejenigen, die das Elternrecht haben. Die, die das Kind gezeugt haben, Vater und Mutter des Kindes, haben in Bezug auf das Kind keine Rechte und keine Verpflichtungen, wenn das Kind einen rechtlichen Vater und eine rechtliche Mutter hat und in einer sozialen rechtlichen Familie lebt. Norbert Geis Dies ändert jedoch nichts daran, dass die natürlichen Eltern des Kindes Vater und Mutter sind. In unserer Rechtsordnung hat die rechtliche Elternschaft den Vorrang vor der natürlichen Elternschaft. Dies ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Im Urteil vom 19. Februar 2013 zur Sukzessivadoption missachtet das Gericht die natürliche Elternschaft von Vater und Mutter und geht dabei soweit, dass es auch eine eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft als rechtliche Eltern anerkennt. Dies entspricht jedoch nicht Art. 6 GG. Unsere Verfassung versteht unter Eltern Vater und Mutter und nicht Mama und Mama oder Papa und Papa. Der Versuch des Verfassungsgerichtes, den Begriff „Eltern“, wie er in Art. 6 aufgeführt wird, umzudeuten, sodass darunter auch ein gleichgeschlechtliches Paar zu verstehen ist, verstößt gegen die Verfassung. Wer das nicht will, muss die Verfassung ändern. Dazu aber fehlt dem Verfassungsgericht die Kompetenz. Der vorliegende Gesetzentwurf will diese Entwicklung, dass die natürliche Elternschaft keine Bedeutung mehr hat, wenigstens zum Teil korrigieren. Er will das natürliche Recht des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters gegenüber seinem Kind und gegenüber den rechtlichen Eltern stärken. Dabei bleibt jedoch der Grundsatz, dass der leibliche, aber nicht rechtliche Vater nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes nicht Träger des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist, erhalten. Deshalb hat er auch nicht „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ nach Art. 6 Abs. 2 GG, für die Pflege und Erziehung der Kinder zu sorgen. Der nur leibliche Vater hat also nicht die lebenslange Verantwortung für das Kind. Diese verbleibt bei den rechtlichen Eltern. Die Folge ist, dass das Kind keinen Unterhaltsanspruch gegenüber dem nur leiblichen Vater hat, was umgekehrt natürlich auch für den leiblichen Vater gegenüber seinem Kind Geltung hat. Der Grundsatz des § 1601 BGB, dass Verwandte in gerader Linie einander zu Unterhalt verpflichtet sind, gilt nicht im Verhältnis des nur leiblichen Vaters gegenüber seinem Kind, da dieser gemäß § 1592 BGB nicht Vater des Kindes ist. Das Kind hat auch keinen Erbanspruch gegenüber dem leiblichen Vater, wenn es einen rechtlichen Vater hat, also kein uneheliches Kind im Sinne des Art. 6 Abs. 5 GG ist. Wird das Kind, das von der verheirateten Mutter außerhalb der Ehe mit einem fremden Mann gezeugt wurde, in eine bestehende Ehe hineingeboren, erhält es automatisch den Ehemann seiner Mutter zum rechtlichen Vater einer sozial-familiären Beziehung mit seinem rechtlichen Vater, kann der leibliche Vater die Vaterschaft nicht anfechten und nicht selbst rechtlicher Vater des Kindes werden. Der leibliche Vater hat also unter diesen Voraussetzungen derzeit hinsichtlich des Kindes keinen Rechtsanspruch. Er hat kein Recht zur Kontakt aufnahme und auch kein Auskunftsrecht. Er ist ein Fremder. Diese Situation des leiblichen Vaters kritisiert der EGMR in mehreren Urteilen. Nach Auffassung des Gerichtes hat auch der nicht rechtliche Vater das Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Verletzung sieht der Gerichtshof darin, dass dem leiblichen Vater die Auskunft über das Kind und der Umgang mit ihm versagt wird, ohne dass das Familienrecht die Frage erlaubt, ob es denn im Sinne des Kindeswohles ist, dem leiblichen Vater das Auskunftsund Umgangsrecht zu verweigern. Es kann ja im Interesse des Kindes sein, dass sein leiblicher Vater ein Auskunftsrecht und auch ein Umgangsrecht mit ihm hat. Die Frage nach dem Kindeswohl bleibt insoweit außen vor. Dies kritisiert der EGMR. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll in der Neureglung des § 1698 a BGB dieser Mangel behoben werden. Dem nur leiblichen Vater soll jetzt ein Umgangsund Auskunftsrecht unter bestimmten Voraussetzungen eingeräumt werden. Dabei achtet der Gesetzentwurf darauf, dass der Schutz der gelebten sozialen Familie mit Mutter und rechtlichem Vater und eventuell weiteren Geschwistern erhalten bleibt. Der biologische Vater soll keine Chance haben, diese Einheit zu zerstören. Es ist jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob nicht durch die Verweigerung von Auskunft und Umgang das Wohl des Kindes geschädigt bzw. nicht gefördert wird. Der Entwurf macht also vor allem das Wohl des fraglichen Kindes zum Maßstab, ob dem nur leiblichen Vater Auskunft und Umgang gestattet wird. Das Kind bedarf des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu entwickeln, wie das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen ausgeführt hat. Für diesen Schutz haben vor allem die Eltern zu sorgen, mit denen zusammen das Kind eine rechtlich-soziale Einheit bildet. Das ist zum Wohl des Kindes. Wird diese schützende Familieneinheit durch das Auskunftsund Umgangsverlangen des leiblichen Vaters ernsthaft gestört, kann das Verlangen des nur leiblichen Vaters durch das Gericht zurückgewiesen werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um den Schutz der Familie an sich, sondern um das Wohl des Kindes, das den Schutz der Familie für die eigene Entwicklung dringend nötig hat. Zu den Interessen des Kindes gehört aber auch das Wissen um seine Abstammung. Es widerspricht daher in der Regel nicht dem Wohl des Kindes, wenn es Kontakt mit seinem leiblichen Vater hat. Dem leiblichen Vater steht aber dieses Recht des Umgangs und der Auskunft über das Kind nur zu, wenn er durch sein Verhalten gezeigt hat, dass er ein ernsthaftes Interesse an seinem Kind hat. Neugier allein genügt nicht, und schon gar nicht können ihm solche Rechte zugestanden werden, wenn es ihm gar nicht um das Kind, sondern um den Kontakt mit dessen Mutter oder gar darum geht, Unfrieden in die Familie des Kindes zu bringen. Zu Protokoll gegebene Reden Norbert Geis Außerdem hat der biologische Vater diese Rechte nur, solange die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes besteht. Fehlt eine solche Vaterschaft, ist der biologische Vater auf die Feststellung seiner Vaterschaft zu verweisen. Der Gesetzentwurf sieht in § 167 a FamFG vor, dass der biologische Vater nur dann Anspruch auf Auskunft und Umgang hat, wenn er eidesstattlich versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Dabei kann es auch zu einer Inzidentprüfung der biologischen Vaterschaft kommen (§ 167 a, Abs. 2 FamFG)





(A) (C)


(D)(B)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723738400
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723738500
Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1723738600




(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

noch zu einer starken Belastung der sozial-rechtlichen
Familie führen.

Deswegen erscheint der Vorschlag des Bundesrates,
der sich auf eine Empfehlung des 19. Deutschen Fami-
liengerichtstages 2011 beruft, sachgerechter. Danach
sollte die biologische Vaterschaft in einem isolierten
Vorverfahren nach § 1598 a BGB geklärt werden. Die
Überlegung ist, dass durch die Inzidentprüfung das
Umgangs- und Auskunftsverfahren überfrachtet wird.
Ein außergerichtlicher Vaterschaftstest gemäß § 1598 a
BGB würde, wenn er für den mutmaßlichen leiblichen
Vater negativ ausfällt, erst gar nicht zu dem Auskunfts-
und Umgangsverfahren führen. Die Inzidentprüfung
setzt im Gegensatz dazu voraus, dass ein Verfahren auf
Auskunft und Umgang bereits eingeleitet wird.

Die Bundesregierung und der Rechtsausschuss ha-
ben jedoch an der inzidenten Prüfung festgehalten.
Die Gesetzespraxis wird es erweisen, ob nicht doch
eine Vorabprüfung gemäß § 1598 a BGB der Situation
gerechter wird. Dann kann ja immer noch durch eine
Novellierung ein solcher Mangel, wenn er sich wirk-
lich herausstellen sollte, behoben werden.

Wichtig ist vor allem, dass die Situation der Kinder
in solchen rein rechtlichen Ehen wissenschaftlich nä-
her untersucht wird, um herauszufinden, welche Fol-
gen es für das Kindeswohl hat, wenn der leibliche
Vater seine Ansprüche geltend macht.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1723738700

Wir beraten heute abschließend über den Gesetzent-

wurf zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht
rechtlichen Vaters. Lassen Sie mich Ihnen zunächst ei-
nen Überblick über die bislang geltende Rechtslage
geben, bevor ich einige Aspekte aus den Beratungen
skizzieren und die wesentlichen Punkte der Neurege-
lung zusammenfassen werde.

Der leibliche Vaters eines Kindes, der mit der Mut-
ter des Kindes nicht verheiratet ist und auch nicht die
Vaterschaft anerkannt hat, konnte bisher ein Um-
gangsrecht nur unter zwei Voraussetzungen durchset-
zen: Er musste eine enge Bezugsperson des Kindes
sein, für dieses tatsächlich Verantwortung tragen oder
getragen haben – also mit ihm in einer sozial-familiä-
ren Beziehung stehen. Zusätzlich musste der Umgang
dem Kindeswohl dienen. Konnte der leibliche Vater zu

seinem Kind keine Beziehung aufbauen, war ihm der
Kontakt zu ihm bisher verwehrt.

Die Gründe, warum keine Beziehung zu dem Kind
bestand, waren dabei unerheblich. Selbst dann, wenn
der leibliche Vater zum Beispiel bereit war, für das
Kind Verantwortung zu übernehmen, dies aber auf-
grund der Weigerung der rechtlichen Eltern nicht
möglich war, gab es für ihn kein Umgangsrecht. Au-
ßerdem hatte der leibliche Vater bisher auch ohne
Rücksicht darauf, ob der Umgang dem Wohl des Kin-
des dient, keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme.

Ein leiblicher, nicht rechtlicher Vater hatte darüber
hinaus bislang auch nicht das Recht, Auskunft über die
persönlichen Verhältnisse des Kindes zu erlangen.
Nach § 1686 Satz 1 BGB kann jeder Elternteil vom an-
deren bei berechtigtem Interesse Auskunft über die
persönlichen Verhältnisse des Kindes verlangen, so-
weit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Diesen
Auskunftsanspruch haben jedoch nur die Eltern im
rechtlichen Sinne. Der leibliche Vater kann diesen Weg
nicht gehen.

Ein weiterer Punkt ist das Recht auf Anfechtung der
Vaterschaft. Dies hatte der leibliche Vater bislang nur
dann, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem
Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Außer-
dem konnte der leibliche Vater nicht gegen den Willen
der rechtlichen Eltern die Einwilligung in eine geneti-
sche Untersuchung verlangen, um Gewissheit über

(§ 1598 a BGB)

eingehen.

Der Überblick über die bestehende Rechtslage
zeigt, dass das Erscheinen eines – mutmaßlichen –
leiblichen Vaters erhebliche Interessenkonflikte her-
vorrufen kann. Das geltende Recht räumt in diesem
Spannungsverhältnis dem Schutz der bestehenden so-
zialen Familie absoluten Vorrang vor der ungewollten
Einmischung des mutmaßlichen leiblichen Vaters ein.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat in drei Entscheidungen zwischen 2010 und 2012
festgestellt, dass es mit Art. 8 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention nicht vereinbar ist, den leib-
lichen – biologischen – Vater, der keine Bezugsperson
für das Kind ist, von einem Umgang mit seinem Kind
und dem Recht auf Auskunft über dessen persönliche
Verhältnisse auszuschließen. Art. 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention garantiert das Recht auf
Achtung des Privat- und des Familienlebens.

Die Verweigerung des Rechts auf Anfechtung der
Vaterschaft bei Bestehen einer sozial-familiären Bezie-
hung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind
sowie der Ausschluss des – mutmaßlichen – leiblichen
Vaters aus dem Kreis der Klärungsberechtigen nach
§ 1598 a BGB ist im Gegensatz dazu aber mit der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbaren.
So haben nur die rechtlichen Eltern und das Kind ei-
nen Anspruch darauf, auf diesem Weg die leibliche Ab-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


stammung durch eine genetische Untersuchung zu klä-
ren.

Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des jetzigen
Gesetzentwurfes, nach den Vorgaben des Gerichts ein
Umgangs- und Auskunftsrecht für leibliche, nicht
rechtliche Väter einzuführen. Dabei muss allerdings
ein bestmöglicher Schutz der sozialen Familie erhalten
bleiben. Eine noch weiter gehende Stärkung der
Rechtsposition des leiblichen Vaters ist nach unserer
Auffassung abzulehnen. Diese Position haben so auch
die Experten in den Ausschussberatungen bestätigt.

Eine im Rahmen dieser Beratungen auch diskutierte
Forderung nach einem uneingeschränkten Anfech-
tungsrecht des leiblichen Vaters ist auf erhebliche
fachliche Bedenken gestoßen. Das Argument, die so-
zialen Kontakte zwischen Kind und bisherigem recht-
lichem Vater würden durch eine Anfechtung der Vater-
schaft nicht zerstört, Letzterer bleibe vielmehr
weiterhin Bezugsperson für das Kind, ist nicht über-
zeugend. Durch die Anfechtung und Feststellung sei-
ner Vaterschaft erhielte der biologische Vater die Stel-
lung des rechtlichen Vaters und damit auch die
Möglichkeit, das Sorgerecht zu beantragen. Außerdem
hätte er dann in jedem Fall auch ein Umgangsrecht.
Unterhalts- und Erbansprüche bestünden dann nicht
mehr zwischen dem Kind und seinem sozialen Vater,
sondern zwischen ihm und seinem biologischen, nun
auch rechtlichen Vater. Der bisherige rechtliche Vater
könnte nur noch als enge Bezugsperson einen Umgang
mit dem Kind pflegen. Wenn in der sozialen Familie
noch weitere Kinder mit ihren Eltern zusammenleben,
wäre dies – vor allem mit Blick auf das Kindeswohl –
eine erhebliche Belastung.

Ein unbeschränktes Anfechtungsrecht würde außer-
dem auf einen Paradigmenwechsel im Abstammungs-
recht und auf eine völlige Neubewertung des Span-
nungsverhältnisses zwischen rechtlicher, sozialer und
biologischer Elternschaft hinauslaufen. Dieser Para-
digmenwechsel wäre so nicht durch die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichtes zu begründen
und wurde auch von der Mehrzahl der befragten Sach-
verständigen abgelehnt.

Der Bundesrat hatte im Vorfeld der Beratungen um
Prüfung gebeten, ob dem mutmaßlichen Vater nicht
statt der im Gesetzentwurf vorgesehenen sogenannten
inzidenten Prüfung der biologischen Vaterschaft unter
einschränkenden Voraussetzungen auch ein Recht auf
Klärung der Abstammung nach § 1598 a BGB einge-
räumt werden sollte. Eine „inzidente Prüfung“ bedeu-
tet hier eine ausschließliche Prüfung im Rahmen des
gerichtlichen Umgangs- und Auskunftsverfahrens. Der
Bundesrat hatte befürchtet, dass dann gerichtliche
Umgangs- bzw. Auskunftsverfahren auch in Fällen an-
gestrengt werden müssten, in denen noch gar nicht
feststeht, ob der Antragsteller tatsächlich der Erzeuger
des Kindes ist. Diese Belastung für alle Beteiligten
könne vermieden werden, wenn dem mutmaßlichen
biologischen Vater stattdessen gegenüber Mutter und
Kind ein Anspruch auf Einwilligung in eine genetische

Untersuchung zur Klärung der leiblichen Abstam-
mung eingeräumt würde.

Eine solche Aufnahme des leiblichen Vaters in die
Regelungen des § 1598 a BGB wäre nach unserer Auf-
fassung nicht mit dem Ziel eines bestmöglichen Schut-
zes für die soziale Familie zu vereinbaren. Wenn leibli-
che Väter neben dem Recht auf Umgang und Auskunft
auch ein Recht auf Klärung der Abstammung erhalten
würden, würden nicht nur diejenigen leiblichen Väter
ein gerichtliches Verfahren anstrengen, die Umgang
oder Auskunft erhalten wollen, sondern auch diejeni-
gen, denen es nur um die Klärung der Abstammung
geht. Der Kreis der potenziellen Antragsteller wäre
deutlich erweitert, ohne dass daran die vom Bundesrat
vorgeschlagenen einschränkenden Voraussetzungen
etwas ändern könnten. Die Hürden für die Nutzung
dieses Klärungsanspruchs wären niedriger als die
Hürden zur Geltendmachung der Rechte nach § 1686
BGB-E. Außerdem steht – anders als beim Umgangs-
verfahren – beim Klärungsverfahren nach § 1598 a
BGB nicht das Kindeswohl, sondern das Klärungsinte-
resse des Vaters im Zentrum.

Die rechtsfolgenlose Klärungsmöglichkeit nach
§ 1598 a BGB steht aus gutem Grund neben der Mutter
nur dem zweifelnden rechtlichen Vater offen. Dieser
hat so die Möglichkeit, zunächst die biologische Her-
kunft des Kindes durch ein privates Abstammungsgut-
achten zu klären. Dann kann er im nächsten Schritt
entscheiden, ob er daraus rechtliche Konsequenzen
ziehen will. Der an seiner Vaterschaft zweifelnde Vater
ist damit nicht gezwungen, seine Vaterschaft direkt
durch ein Anfechtungsverfahren zu klären.

Der mutmaßliche leibliche Vater hat kein vergleich-
bares schutzwürdiges Interesse an Klärung der Ab-
stammung, da ihn mit dem Kind kein rechtliches Band
verbindet. An die Klärung der Abstammung wären
folglich auch keinerlei rechtliche Konsequenzen ge-
knüpft. Sie würden allein das Klärungsinteresse des
Vaters befriedigen. Bei Einführung des § 1598 a BGB
wurde der leibliche Vater daher bewusst nicht in den
Kreis der Klärungsberechtigten aufgenommen. Er
sollte nicht allein mit seinem – rechtsfolgenlosen – In-
teresse an der Klärung der Abstammung Unfrieden in
die soziale Familie hineintragen können.

Der heute von uns hier abschließend beratene Ge-
setzentwurf stärkt die Rechte des biologischen Vaters
also in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll es für das
Umgangsrecht künftig nicht mehr darauf ankommen,
ob bereits eine enge Beziehung zwischen dem Kind und
seinem leiblichen Vater besteht, sondern vielmehr da-
rauf, ob dieser ein ernsthaftes Interesse an seinem
Kind gezeigt hat und ob der Umgang dem Kindeswohl
dient. Durch diese im Rahmen der Ausschussberatun-
gen präzisierte Formulierung soll den Gerichten er-
möglicht werden, im Einzelfall entsprechend des Kin-
deswohls zu entscheiden.

Zum anderen wird dem leiblichen Vater die Mög-
lichkeit eingeräumt, Auskunft über die persönlichen

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


Verhältnisse und die Entwicklung seines Kindes zu er-
halten. Voraussetzung ist auch hier, dass er ein ernst-
haftes Interesse an seinem Kind gezeigt hat und dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Aktuell steht der
Auskunftsanspruch nach § 1686 BGB nur den Eltern
im rechtlichen Sinne zu.

Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung soll – auch
um die Sonderstellung des biologischen Vaters zu zei-
gen – durch die Einführung eines neuen § 1686 a in
das Bürgerliche Gesetzbuch, gestützt von entsprechen-
den flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen
in § 167 a FamFG, erfolgen. Danach muss der Antrag-
steller an Eides statt versichern, der Mutter während
der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Hier wird
künftig das Umgangs- und Auskunftsrecht des leibli-
chen, nicht rechtlichen Vaters geregelt sein. Von dieser
Vorschrift sollen aber nur die Fälle erfasst werden, in
denen das Kind bereits einen rechtlichen Vater hat.

Weiterhin wird das Umgangs- und Auskunftsrecht
des vermeintlichen biologischen Vaters an die Bedin-
gung geknüpft, dass der Antragsteller auch wirklich
der biologische Vater ist. Dies bedeutet zugleich, dass
er die Möglichkeit haben muss, seine biologische Va-
terschaft klären zu lassen, ohne dass die Mutter dies
vereiteln kann. Der Gesetzentwurf sieht daher die inzi-
dente Klärung der Vaterschaft im Rahmen des Um-
gangs- und Auskunftsverfahrens vor. Die Vor- und
Nachteile dieser Lösung habe ich ja bereits ausführ-
lich erläutert.

Zum Schluss noch eine Anmerkung: Das Bundesjus-
tizministerium bereitet derzeit eine Evaluation auch
des Umgangsrechts vor. Es soll vor allem untersucht
werden, welche Auswirkungen die Durchsetzung von
Umgangsregelungen auf das Eltern-Kind-Verhältnis
hat. Daneben soll auch das FamFG evaluiert werden,
in dessen Buch 2 das Familienverfahrensrecht – und
somit also auch das Verfahren in Umgangssachen –
2009 neu geregelt wurde. Im Rahmen dieses Vorha-
bens kann dann auch untersucht werden, ob sich die
Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen
Vaters in der Praxis bewährt.

Abschließend können wir sicherlich sagen, dass wir
mit dem Gesetzentwurf einen guten Weg gefunden ha-
ben, der der übergeordneten Bedeutung des Kindes-
wohls gerecht wird. Darüber hinaus setzt er das be-
rechtigte Interesse des leiblichen Vaters an einem
Umgangs- und Auskunftsrecht in einen angemessenen
Ausgleich mit den Interessen der sozialen Familie an
einem ungestörten Familienleben.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1723738800

Oft heißt es: Familie kann man sich nicht aussu-

chen. Andererseits heißt es auch: Blut ist dicker als
Wasser. Wie man es dreht oder wendet, Familie ist ei-
nes der wichtigsten, aber auch eines der kompliziertes-
ten Dinge in unserem Leben. Familien gibt es mittler-
weile in jeder erdenklichen Form und Konstellation.
Um diesen Lebenswirklichkeiten gerecht zu werden,

müssen wir auch unser Familienrecht immer wieder
anpassen und weiterentwickeln.

Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, etwas
über ihre Familie und Herkunft zu erfahren. Ob adop-
tierte Kinder, die sich auf den Weg machen, das Land
ihrer Geburt zu besuchen, ihre leiblichen Eltern aus-
findig zu machen und mehr über ihre Wurzeln zu erfah-
ren; oder Eltern, die versuchen, zu ihrem bis dahin un-
bekannten Kind Kontakt aufzunehmen und an seinem
Leben teilzuhaben.

Letzteres hat unser Familienrecht bisher für einen
bestimmten Personenkreis, den der leiblichen, aber
nicht rechtlichen Väter, nur sehr eingeschränkt vorge-
sehen. Zum Schutz der sozialen Familie und des Kin-
deswohls haben diese Väter nach derzeitigem Recht
keinerlei Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten
oder ein Umgangs- oder Auskunftsrecht einzufordern,
wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiären
Beziehung zu dem Kind steht.

Es ist richtig, dass die soziale Familie unter einem
besonderen Schutz steht. Aber es ist falsch, dass der
biologische Vater in dieser Konstellation keinerlei
Möglichkeit hat, zu seinem leiblichen Kind eine Ver-
bindung aufzubauen. Wir werden dies heute mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf ändern und damit die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte, EGMR, umsetzen. Nach Meinung des
EGMR hat der biologische Vater durch sein in Art. 8
der Menschenrechtskonvention geschütztes Recht auf
die Achtung seines Privat- und Familienlebens unter
bestimmten Voraussetzungen auch ein Recht auf Um-
gang mit seinem leiblichen, aber nicht rechtlichen
Kind. Wir werden daher die Möglichkeit eines Aus-
kunfts- und eines Umgangsrechts für diese Gruppe der
Väter schaffen und damit ihre Rechte stärken.

Einvernehmlich haben wir jedoch sinnvolle Hürden
eingebaut, um die soziale Familie so weit wie möglich
zu schützen. Das Bekanntwerden eines leiblichen Va-
ters stellt in den meisten Fällen eine enorme Belastung
für die Familie und im Zweifelsfall auch für das Kind
dar. Wir haben uns deshalb gegen eine Erweiterung
der Regelungen zur Anfechtung der Vaterschaft ent-
schieden. Auch wird das Erreichen eines Umgangs-
oder Auskunftsrechts über den neuen § 1686 a BGB
möglich sein, wenn bestehende Anfechtungsrechte
noch nicht ausgeschöpft wurden.

Bei den Umgangs- und Auskunftsrechten wird es zu-
dem einen kleinen, aber sehr wichtigen Unterschied
geben: Ein Recht auf Umgang soll dem leiblichen Va-
ter nur eingeräumt werden, wenn dies dem Kindeswohl
dient. Denn das Kind ist hiervon direkt betroffen, und
damit muss sein Wohl im Mittelpunkt stehen. Dagegen
kann der Vater Auskunftsrechte bereits erhalten, wenn
dies dem Kindeswohl nicht widerspricht.

In jedem Fall muss der Vater ein „ernsthaftes Inte-
resse“ an dem Kind gezeigt haben. Wir haben hier den
Begriff des „nachhaltigen Interesses“ ausgetauscht
und damit eine praxistauglichere Lösung gefunden.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1723738900

Die unterschiedlichen Ausgestaltungen von Fami-

lienkonstellationen sind in unserer Gesellschaft sehr
facettenreich. Es ist keine Besonderheit mehr, dass ein
Mann und eine Frau gemeinsam ein Kind zeugen, ohne
dass beide heiraten oder der Mann die Vaterschaft für
das Kind anerkennt. Das hat zur Folge, dass der Mann
nicht der rechtliche Vater des Kindes ist, sondern nur
der leibliche Vater. Dies gilt insbesondere dann, wenn
die Frau zum Zeitpunkt der Geburt mit einem anderen
Mann verheiratet ist (§ 1592 Nr.1 BGB).

Will der leibliche Vater sein Kind aber sehen und
mit ihm Umgang haben, kann er dies nach den Voraus-
setzungen des § 1685 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1
BGB beantragen. Damit ihm der Umgang gewährt
werden kann, muss der leibliche Vater eine enge
Bezugsperson für das Kind sein und tatsächlich Ver-
antwortung für das Kind getragen haben; der Vater
muss eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind ha-
ben. Zudem muss der Umgang des leiblichen Vaters
mit dem Kind dem Kindeswohl dienen. Liegen diese
Voraussetzungen nicht vor, kann ein Umgang nicht ge-
währt werden.

Die erforderliche sozial-familiäre Beziehung kann
aber nur entstehen, wenn der Vater regelmäßig
Kontakt zu seinem Kind hat. Es gibt jedoch Konstella-
tionen, in denen die rechtlichen Eltern dem leiblichen
Vater jeglichen Umgang mit seinem Kind verwehren.
In solchen Fällen hat der leibliche Vater nach bisheri-
gem Recht keine Chance auf Umgang mit seinem Kind.

Darüber hinaus hat ein leiblicher, nicht rechtlicher
Vater derzeit auch keinen Anspruch auf Auskunft über
die persönlichen Verhältnisse des Kindes. § 1686 BGB
gewährt jedem Elternteil einen entsprechenden An-
spruch gegenüber dem anderen Elternteil, wenn dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Allerdings gilt
dies nur für Eltern im rechtlichen Sinne. Folglich steht
einem leiblichen Vater eines Kindes, der weder mit der
Mutter des Kindes verheiratet ist noch die Vaterschaft
über das Kind anerkannt hat, der Anspruch aus § 1686
BGB nicht zu. Der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte, EGMR, hat darin einen Verstoß gegen die
Europäische Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten, EMRK, erkannt. Der vor-
liegende Gesetzentwurf soll diesen Missstand beheben.

Nachdem die Bunderegierung ihren Gesetzentwurf
am 31. Januar 2013 in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht hat, hat der Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestages am 27. Februar 2013 ein erweitertes
Berichterstattergespräch mit sechs externen Experten
geführt. Darin wurden verschiedene Ansätze beraten,
wie der Rechtsprechung des EGMR Folge geleistet
werden kann.

Ein Vorschlag ging zum Beispiel dahin, dem leibli-
chen Vater ohne einschränkende Voraussetzungen die
Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft zu ermögli-
chen. Ziel dieses Vorschlages ist, dass die leibliche Va-

terschaft sich gegenüber der rechtlich-sozialen Vater-
schaft immer durchsetzen kann.

Eine weitere Anregung sah vor, den leiblichen Vater,
der Umgang mit seinem Kind begehrt, auf den Weg der
Anfechtung der bestehenden Vaterschaft zu verweisen,
anstatt ihm, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, unter
engen Voraussetzungen ein Umgangsrecht und einen
Auskunftsanspruch einzuräumen. Dies hätte den
Vorteil, dass dem leiblichen Vater nicht Rechte wie
Umgang und Auskunft eingeräumt würden, ohne dass
ihm gleichzeitig auch Pflichten entstehen.

Darüber hinaus wurde die Frage erörtert, den leib-
lichen Vater in die Liste der Antragsberechtigten im
Sinne des § 1598 a BGB – Einwilligung in eine Unter-
suchung zur Klärung der Abstammung – aufzunehmen.

Nach intensiven Diskussionen haben wir uns in gro-
ßer Übereinstimmung der Berichterstatter aller Frak-
tionen dafür entschieden, den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf nur an einer Stelle
sprachlich zu überarbeiten, ansonsten aber unver-
ändert zu verabschieden. Die drei im erweiterten Be-
richterstattergespräch beratenen Vorschläge wurden
im Ergebnis verworfen. Dafür sprechen folgende
Gründe:

Das Auftauchen des leiblichen Vaters in einer bis
dahin intakten sozialen Familie birgt eine enorme
Sprengkraft. Insbesondere das Leben des betroffenen
Kindes kann dadurch in große Unordnung gestürzt
werden. Das kann aber nicht gewollt sein. Wir wollen,
dass die bislang bestehende soziale Familie so wenig
wie möglich beeinträchtigt wird. Steht dem leiblichen
Vater nach dem neuen Recht ein Anspruch auf Umgang
und Auskunft zu, soll die bestehende soziale Familie
selber entscheiden können, ob der leibliche Vater diese
Rechte frei von Pflichten erhalten soll. So kann zum
Beispiel der rechtliche Vater, der überraschend er-
fährt, dass er gar nicht der leibliche Vater ist, wenn er
nicht mehr für das Kind verantwortlich sein will, seine
Vaterschaft anfechten. Diese Entscheidung muss aber
der sozialen Familie vorbehalten bleiben und darf
nicht in die Hände des leiblichen Vaters gelegt werden.
Daher muss man die nach der Rechtsprechung des
EGMR erforderlichen Änderungen mit dem nötigen
Augenmaß und viel Fingerspitzengefühl vornehmen.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diese Vo-
raussetzungen.

In § 1686 a BGB neu werden die Rechte des leibli-
chen, nicht rechtlichen Vaters geregelt. Voraussetzun-
gen für den Umgang des leiblichen Vaters mit seinem
Kind und den Auskunftsanspruch des leiblichen Vaters
über die persönlichen Verhältnisse seines Kindes sind,
dass die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes
besteht und dass der leibliche Vater ernsthaftes Inte-
resse an dem Kind gezeigt hat. Zusätzlich muss der
leibliche Vater beim Auskunftsanspruch ein berechtig-
tes Interesse an der Auskunft haben. Darüber hinaus
muss der Umgang des leiblichen Vaters mit seinem

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


Kind dem Kindeswohl dienen. Der Auskunftsanspruch
darf dem Kindeswohl nicht widersprechen.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat im parlamentari-
schen Verfahren gemeinsam mit der Union darauf hin-
gewirkt, dass das Tatbestandsmerkmal „nachhaltiges“
Interesse aus § 1686 a Abs. 1 BGB neu in „ernsthaf-
tes“ Interesse geändert wird. Diese Formulierung wird
dem familienrechtlichen Kontext besser gerecht und
wird auch von den Familiengerichten besser ausgelegt
werden können.

Der Gesetzentwurf nimmt die erforderlichen Ände-
rungen mit dem nötigen Augenmaß vor, ohne die beste-
hende rechtliche Familie durch die neuen Rechte des
leiblichen, nicht rechtlichen Vaters über Gebühr zu
belasten. Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzentwurf
gemeinsam mit meiner Fraktion zu unterstützen.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723739000

Bislang stand einem leiblichen Vater, der nicht mit

der Kindesmutter verheiratet war oder die Vaterschaft
nicht anerkannt hatte, ein Umgangsrecht mit seinem
Kind nur dann zu, wenn er eine enge Bezugsperson ist,
für das Kind Verantwortung trägt oder getragen hat
und der Umgang dem Kindeswohl dient. Auch wenn
der Vater sich um sein Kind kümmern wollte, konnte er
dies bei Weigerung der rechtlichen Eltern nicht tun.

Allen Vätern, die aus welchen Gründen auch immer
eine solche sozial-familiäre Beziehung nicht aufbauen
konnten, blieb der Kontakt zum Kind verwehrt. Das
Umgangsrecht wurde kategorisch ausgeschlossen,
ohne Rücksicht darauf, ob der leibliche Vater eine
Chance zur Verantwortung für das Kind hatte, und
ohne Prüfung etwaiger Auswirkungen auf das Kind.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
sah in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2010 in
dem geltenden Recht in Deutschland eine Verletzung
des Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Insbeson-
dere stellte der EGMR darüber hinaus fest, dass es
jeweils einer Einzelfallentscheidung bedarf, ob der
Umgang mit dem biologischen Vater dem Kindeswohl
dienen würde.

Die Frage, die sich uns als Gesetzgeber aufdrängte,
war, wie die soziale Familie bestmöglich zu schützen
ist. Von daher waren auch die Überlegungen, das Um-
gangsrecht von einer Vaterschaftsanfechtung abhän-
gig zu machen, abzulehnen, da dies darauf hinausge-
laufen wäre, dass der biologische Vater ein
Umgangsrecht nur erlangen kann, wenn er dazu den
rechtlichen Vater aus dessen Rolle verdrängt. Dies
dürfte im Regelfall aber kaum dem Kindeswohl ent-
sprechen. Von daher ist der Verzicht auf eine vorherige
Anfechtungsverpflichtung des leiblichen Vaters sehr zu
begrüßen.

Da jedoch auch der EGMR das Kindeswohl in das
Zentrum der Entscheidung gestellt hat, soll dies auch
höchste Priorität für eine entsprechende Umsetzung
im deutschen Recht sein. Im Interesse des Kindeswohls

waren deshalb die Hürden für ein solches Umgangs-
recht hoch anzusetzen. So muss der leibliche Vater zu-
nächst an Eides statt versichern, der Kindesmutter
während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, um
missbräuchliche Behauptungen auszuschließen. Des
Weiteren muss er ein ernsthaftes Interesse an dem Kind
gezeigt haben, und der Umgang muss dem Kindeswohl
dienen. Dabei sollte es als selbstverständlich gelten,
dass im Falle des Erleidens von Gewalt der Kindes-
mutter durch den leiblichen Vater wegen der damit ein-
hergehenden seelischen Beeinträchtigung der Mutter
auch ein Umgang dem Kindeswohl nicht dienen kann.

Nun gibt es nach wie vor eine Meinung – auch in
meiner Fraktion –, welche ein Umgangsrecht des leib-
lichen Vaters in Abhängigkeit zu seiner Bereitschaft,
Unterhalt zu zahlen, setzen möchte, dies vor dem
Hintergrund der Möglichkeit, dass bei Feststellung der
leiblichen Vaterschaft eine Vaterschaftsanfechtung des
rechtlichen Vaters droht. Allerdings birgt dieser
Lösungsansatz gleichzeitig die Gefahr, dass der finan-
ziell besser gestellte leibliche Vater gegenüber dem fi-
nanziell schlechter gestellten Vater privilegiert würde.

Nach dem Gesetzentwurf ist ein entsprechender An-
trag nur zulässig, wenn der Antragsteller an Eides
statt versichert, der Mutter des Kindes in der
Empfängniszeit beigewohnt zu haben. So werden damit
biologische Väter qua Samenspende ausgeschlossen,
ohne dass dabei plausibel dargelegt würde, weshalb
die in Rede stehenden Begehren von vornherein nur
von Männern erhoben werden können sollen, die
behaupten, mit der Mutter „natürlich“ verkehrt zu
haben. Aber dies dürfte sich im Ergebnis jedenfalls
gegenwärtig nur als theoretisches Problem darstellen
mangels Kenntnissen der entsprechenden Personen-
daten der Beteiligten.

Trotz einzelner Kritikpunkte ist der Gesetzentwurf
in der Fassung des Änderungsantrags im Ergebnis zu
befürworten, weil er das nach der Rechtsprechung des
EGMR bestehende Recht des biologischen Vaters auf
Umgang mit Nachkommen in einer insgesamt überzeu-
genden Weise schützt. Richtig ist insbesondere, dass
das „nachhaltige“ Interesse als Voraussetzung für ein
Umgangsrecht des biologischen Vaters im Änderungs-
antrag durch ein „ernsthaftes“ Interesse ersetzt wird.
Ein grundsätzlicher Ausschluss des Umgangs wird
vermieden; unter gewissen Voraussetzungen wird dem
leiblichen Vater ein solcher Umgang ermöglicht,
wobei gleichzeitig die soziale Familie weitestgehend
geschützt wird.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723739100

In dieser Legislaturperiode hat der Europäische

Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in meh-
reren Entscheidungen festgestellt, dass das deutsche
Familienrecht nicht der Europäischen Menschen-
rechtskonvention entspricht. Auch heute debattieren
wir wieder über einen Gesetzentwurf, der die Recht-
sprechung des Gerichtshofs umsetzt. Das ist eine ge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


sellschaftlich notwendige Fortentwicklung unseres
Familienrechts.

Wir alle wissen: Es gibt Familienkonstellationen, in
denen der leibliche Vater eines Kindes nicht identisch
ist mit dessen rechtlichem Vater. Die bisherige deut-
sche Rechtslage sieht vor, dass der leibliche Vater, der
keine enge Bezugsperson für sein Kind ist, kategorisch
und ohne Prüfung des Kindeswohls vom Umgang mit
seinem Kind ausgeschlossen ist. Dies gilt auch dann,
wenn ihm der Umstand, dass er bisher keine Bezie-
hung zu seinem Kind aufbauen konnte, nicht zuzurech-
nen war. Beispielhaft sind die Fälle, in denen die so-
ziale Familie, in der das Kind lebt, jeglichen Kontakt
zwischen leiblichem Vater und Kind blockiert. Dieser
Vater ist machtlos und rechtlos.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat entschieden: Das deutsche Recht muss eine Rege-
lung finden, die leiblichen Vätern ermöglicht, eine Be-
ziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Voraussetzung
ist, dass es dem Kindeswohl entspricht.

Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
setzt diese Rechtsprechung um: Wenn es dem Kindes-
wohl dient, steht dem Vater zukünftig ein Umgangs-
recht zu. Wenn es dem Kindeswohl nicht widerspricht,
hat er ein Recht auf Auskunft über die persönlichen
Verhältnisse seines Kindes. Der leibliche Vater hat
jetzt die Möglichkeit, Informationen über sein Kind zu
erhalten und eine Beziehung zu seinem Kind herzustel-
len. Sachgerecht ist aus unserer Sicht auch, dass der
Gesetzentwurf eine abgestufte Kindeswohlprüfung
vorsieht, orientiert an der Frage, ob der Vater Aus-
kunfts- oder Umgangsrechte geltend macht. Und auch
für das Kind ist es wichtig, dass klar geregelte Kon-
taktmöglichkeiten für den Vater bestehen. Ermöglicht
dies doch dem Kind, Informationen über seine Her-
kunft, seine familiären Wurzeln, zu erhalten und im
besten Fall eine Beziehung zu seinem leiblichen Vater
aufzubauen. Und auch das Interesse der sozialen Fa-
milie, Störungen des Kindesinteresses durch Außenste-
hende zu vermeiden, wird berücksichtigt.

Wir Grünen begrüßen, dass wir heute fraktions-
übergreifend das Familienrecht weiter modernisieren.
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.

Allerdings hätten wir uns noch mehr Modernisie-
rung gewünscht. Der Gesetzentwurf aus der Regie-
rungskoalition regelt die Fälle, die der konkreten
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zugrunde lagen: Dies waren typische
„Seitensprung-Fälle“. Die Regelung, über die wir
heute debattieren, hilft Vätern weiter, die der Mutter
ihres Kindes „beigewohnt“ haben.

Vor kurzem hat das „Samenspende-Urteil“ des
Oberlandesgerichts Hamm für Aufsehen gesorgt. Das
Gericht hat festgestellt, dass ein Kind, das mithilfe ei-
ner Samenspende gezeugt worden ist, das Recht hat,
vom behandelnden Arzt Auskunft über die Identität des
Samenspenders zu verlangen. Dieses Urteil ist mittler-
weile rechtskräftig. Nun sind wir als Gesetzgeber

aufgefordert, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dazu
gehört die Klärung der Rechtsstellung des Samenspen-
ders. Er ist es, der in diesem Fall der leibliche Vater
ist. Leider blendet der heute beratene Gesetzentwurf
den Komplex „Samenspende“ komplett aus. Ebenso ist
die Situation des weiblichen homosexuellen Paares,
dessen Kind naturgemäß auch einen männlichen leib-
lichen Elternteil hat, weiter ungeklärt.

Alle diese Fälle haben eines gemeinsam: Sie zeigen,
dass Kinder mehr als nur zwei Elternteile haben können.
In allen diesen Fällen, seien es Patchworkfamilien mit
verschiedengeschlechtlichen Eltern oder Regenbogen-
familien, brauchen wir klare Regeln, die die Rechte
und Pflichten aller Elternteile normieren.

Wir Grünen hätten uns gewünscht, dass Sie, meine
Damen und Herren von der Regierungsbank, die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zum Anlass nehmen, das Familien-
recht insgesamt zu novellieren und konsequent weiter-
zudenken. Einen wichtigen Ansatz hierfür haben Sie
schon in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. Sie er-
möglichen erstmals, dass zusätzlich zum rechtlichen
Vater ein zweiter Vater gerichtlich festgestellt wird.
Dieser zweite Vater ist der leibliche Vater. Ihr Gesetz-
entwurf erkennt also an, dass Mehrelternkonstellatio-
nen nicht nur im sozialen, sondern auch im rechtlichen
Sinne möglich sind.

Das ist ein Paradigmenwechsel, der bedeutend ist.
Er ist aber auch dringend notwendig. Es wird höchste
Zeit, dass wir hier im Parlament das Verhältnis von
genetischer, sozialer und rechtlicher Elternschaft
grundlegend neu klären. Denn alle Kinder haben die
gleichen Rechte, unabhängig davon, in welcher Fami-
lienkonstellation sie aufwachsen und welchen Lebens-
entwurf ihre Eltern gewählt haben.

Ich freue mich, dass weitere Bewegung in das über-
kommene Familienrecht kommt. Nach der Reform des
Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Paare
und der Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht
rechtlichen Vaters ist es nun Zeit für eine umfassende
Modernisierung des Familienrechts. Wir Grünen wer-
den uns weiterhin dafür einsetzen, das Familienrecht
konsequent weiterzuentwickeln und an die gesell-
schaftlichen Realitäten anzupassen. In der nächsten
Legislaturperiode werden neue politische Mehrheiten
uns das erleichtern.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723739200

Zur Abstimmung liegen mehrere Erklärungen gemäß

§ 31 der Geschäftsordnung vor.1)

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
17/13269, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/12163 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der

1) Anlagen 11 und 12





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, der sollte sich erheben. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Thönnes, Dr. Rolf Mützenich, Christoph Strässer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Viola von Cramon-
Taubadel, Volker Beck (Köln), Ute Koczy, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Umfassende Modernisierung und Respektie-
rung der Menschenrechte in Aserbaidschan
unabdingbar machen

– Drucksachen 17/12467, 17/13177 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Franz Thönnes
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden auch hier zu Protokoll genommen.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1723739300

Aserbaidschan ist für Deutschland und die EU eine

wichtige Brücke nach Zentralasien. Die politischen
Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaid-
schan sind gut. Beide Länder unterhalten seit über
20 Jahren diplomatische Beziehungen und sprechen
alle bilateralen Fragen offen an.

Bundesaußenminister Westerwelle hat dies durch
seinen Besuch in Baku im März 2012 gewürdigt und
dabei auch das deutsche Interesse unterstrichen, die
Beziehungen zwischen beiden Ländern in ihrer vollen
Bandbreite auszubauen.

Für Deutschland ist Aserbaidschan der wichtigste
Wirtschaftspartner im Kaukasus und von strategischer
Bedeutung für eine von Russland unabhängige Versor-
gung. Aserbaidschan seinerseits sieht in Deutschland
einen seiner wichtigsten Partner in Westeuropa.

All dies zeigt die Intensität der Beziehungen. Auch
die entwicklungspolitische und kulturelle Zusammen-
arbeit ist hervorzuheben, ebenso eine ganze Reihe von
Maßnahmen der finanziellen und technischen Zusam-
menarbeit.

Aserbaidschan unternimmt seit Jahren Bemühun-
gen, sich schrittweise westlichen Demokratie- und
Rechtsstaatsstandards anzunähern.

2001 ist es dem Europarat beigetreten und hat sich
durch seine Mitgliedschaft auch zur Achtung und Ge-
währleistung der Grund- und Menschenrechte ver-
pflichtet. 2009 wurde Aserbaidschan Gründungsmit-
glied der Östlichen Partnerschaft im Rahmen der
Nachbarschaftspolitik der EU und führt seit 2010 Ver-
handlungen mit der EU über ein Assoziierungsabkom-
men. Auch dabei spielt die Einhaltung von Grund- und
Menschenrechten eine zentrale Rolle.

Aserbaidschan hat Fortschritte beim Aufbau eines
modernen demokratischen Rechtsstaates gemacht.
Dies bestätigt auch der Europarat. An dieser Entwick-
lung hat die Unterstützung durch Deutschland und die
EU erheblichen Anteil.

Deutschland begleitet im Rahmen der Östlichen
Partnerschaft und der Verhandlungen zum Assozi-
ierungsabkommen die aserbaidschanischen Reformbe-
mühungen. Gleichzeitig erwarten wir weitere deutliche
Verbesserungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,
insbesondere bei der Gewährleistung der Grund- und
Menschenrechte sowie der Unabhängigkeit der Justiz,
Demokratisierung und Medienfreiheit.

Unbestreitbar ist, dass hier noch erheblicher Ver-
besserungsbedarf besteht. Dies wiederum ist dem
Fortschrittsbericht der EU-Kommission im Rahmen
der EU-Nachbarschaftspolitik zu Aserbaidschan zu
entnehmen. Wir müssen beständig und mit Nachdruck
darauf hinwirken, dass der bisher unbefriedigende Zu-
stand in diesem Bereich so schnell wie möglich beho-
ben wird.

Freilich kann nicht erwartet werden, dass ein Land
wie Aserbaidschan mit einer völlig anderen Ge-
schichte und Kultur in kurzer Zeit westlichen Maßstä-
ben hinsichtlich politischer und rechtsstaatlicher Stan-
dards entsprechen kann.

Bei der Frage der weiteren positiven Entwicklung
Aserbaidschans spielt natürlich der Berg-Karabach-
Konflikt eine wichtige Rolle. Tatsache ist, dass Arme-
nien Teile des Territoriums von Aserbaidschan militä-
risch besetzt hält und die aserbaidschanische Bevölke-
rung nicht nur aus Berg-Karabach, sondern auch aus
den benachbarten Gebieten rund um Berg-Karabach
vertrieben hat. Der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen hat dies in mehreren Resolutionen verurteilt und
den Rückzug der armenischen Besatzungstruppen ge-
fordert. Dies ist bis heute nicht erfolgt. Wer vom
Selbstbestimmungsrecht der Menschen in Berg-Kara-
bach spricht, der muss auch vom Selbstbestimmungs-
recht der vertriebenen Aserbaidschaner sprechen.

Eine friedliche Lösung dieses Konflikts, die für die
Stabilität und Prosperität der Region notwendig ist,
erfordert die Bereitschaft beider Seiten zu ernsthaften
und entschlossenen Schritten. Dies hat Bundesaußen-
minister Westerwelle bei seinem Besuch in Baku und





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


Erivan Mitte März 2012 deutlich gemacht. Die Arbeit
der Minsk-Gruppe der OSZE und die Bemühungen der
EU leisten einen wichtigen Beitrag zu einer friedlichen
Lösung.

Im Hinblick auf die im Oktober dieses Jahres anste-
henden Präsidentschaftswahlen wäre es des Weiteren
wünschenswert, dass die angekündigte Reform des
Wahlrechts vorher noch umgesetzt wird.

Abschließend möchte ich feststellen: Uns muss da-
ran gelegen sein, Aserbaidschan auf seinem Weg der
Öffnung nach Westen, zu Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit und der Partnerschaft mit der EU weiter zu un-
terstützen. Der vorliegende Antrag dient diesen Zielen
nicht und wird deshalb von uns abgelehnt.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1723739400

Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass ich viele

der Anliegen in dem vorliegenden Antrag teile. Der
Antrag nimmt Bezug auf den Bericht zu politischen
Gefangenen in Aserbaidschan, über den die Parla-
mentarische Versammlung des Europarates im Januar
entschieden hat. Auch wenn der Bericht dort insgesamt
nicht die erforderliche Zustimmung erhalten hat,
möchte ich doch hervorheben, dass er eine nahezu ge-
schlossene Unterstützung sowohl von den Vertretern
der antragstellenden Fraktionen der SPD und der
Grünen wie auch von den Vertretern der deutschen Ko-
alitionsparteien in der Parlamentarischen Versamm-
lung erfahren hat. Nicht nur einzelne Mitglieder der
deutschen Delegation, auch Deutschland als Ganzes
ist in diesem Zusammenhang Objekt scharfer und per-
sönlicher Angriffe von Vertretern Aserbaidschans ge-
worden. Für uns sollte dies umso mehr Anlass sein,
hinsichtlich der Wahrung der Grundprinzipien des
Europarates Einigkeit zu demonstrieren.

In diesem Zusammenhang ist auch die Durchfüh-
rung von Wahlen von Bedeutung, gerade auch im Blick
auf die Präsidentschaftswahl, die im Oktober in Aser-
baidschan stattfinden wird. Nach den letzten Parla-
mentswahlen vom November 2010 hat die OSZE-Wahl-
berichterstattermission auf eine Reihe erheblicher
Probleme verwiesen, die infrage stellen, ob es sich da-
bei um eine wirklich kompetitive Wahl handelte. Einer
der wesentlichen Kritikpunkte betrifft das weitgehende
Fehlen freier Medien. Wir sollten allerdings auch nicht
außer Acht lassen, dass der Wahlprozess selbst fried-
lich und ordentlich verlief, unter Beteiligung aller
politischen Parteien des Landes.

Als einen weiteren Punkt möchte ich das Erforder-
nis einer Bewältigung des Berg-Karabach-Konflikts
hervorheben. Dieser Konflikt hemmt die Entwicklung
sowohl Aserbaidschans wie Armeniens. Es kommt
noch immer regelmäßig zu Opfern an der Kontaktlinie.
Flüchtlinge, die nicht zurückkehren können, werden
vieler Lebenschancen beraubt. Und nicht zuletzt kön-
nen wir auch eine – nicht selten aggressive – Vertie-
fung der gegenseitigen Feindbilder beobachten. Der
Fall Ramil Safarov ist dafür ein besonders bestürzen-
des Beispiel. Dabei sind die Verhandlungen über eine

Konfliktlösung in der Minsk-Gruppe weit fortgeschrit-
ten. Die Madrider Prinzipien zeichnen deren Grund-
züge vor. Ich sehe dazu keine Alternative. Es kommt
jetzt darauf an, deren Umsetzung endlich zu konkreti-
sieren.

Wir sollten uns aber auch nicht ausschließlich auf
problematische Entwicklungen beschränken. Aserbaid-
schan bleibt für Deutschland ein wichtiger Partner.
Das betrifft nicht nur die Bedeutung Aserbaidschans
für die Energieversorgung der EU, sondern auch die
Rolle Aserbaidschans in einem schwierigen geopoliti-
schen Umfeld. Und so wenig, wie wir Abstriche an den
Grundprinzipien des Europarates machen sollten, so
wenig sollten wir die schwierige innen- und außenpoli-
tischen Ausgangslage außer Acht lassen, die die Ent-
wicklung Aserbaidschans in den vergangenen 20 Jah-
ren bestimmt hat. Bei allen Problemen ist diese
Entwicklung auch nicht ohne Erfolge geblieben. Von
vielen meiner Gesprächspartner in verantwortlichen
Positionen in Aserbaidschan habe ich den Eindruck,
dass es weder an Problembewusstsein fehlt noch an
der Absicht, die Modernisierung Aserbaidschans in
wirtschaftlicher, aber auch politischer und nicht zu-
letzt rechtsstaatlicher Hinsicht voranzubringen.

Das ist der Punkt, wo mir der vorliegende Antrag zu
einseitig in der Tonlage ist. Kritik ohne Engagement,
Kritik ohne Angebot birgt immer nur die Gefahr, eine
selbsterfüllende Prophezeiung zu werden. Denn wo
wir keine Perspektive zur Zusammenarbeit eröffnen,
können wir auch nicht erwarten, dass unsere kriti-
schen Argumente positive Resonanz finden. Im Gegen-
teil: Wer als Gegner wahrgenommen wird, dessen Kri-
tik wird zwangsläufig auch nur als eine Form von
Angriff wahrgenommen. In dieser Hinsicht fehlt es mir
an Ausgewogenheit.

Bei einer Reihe anderer Punkte hätte ich mir Ge-
spräche über einen gemeinsamen interfraktionellen
Antrag vorstellen können. Dafür hätte es mehr zeitli-
chen Vorlauf und eine rechtzeitige Ansprache ge-
braucht. So spät in der Legislaturperiode ist das jetzt
nicht mehr möglich gewesen.


Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1723739500

Grundlage unserer heutigen Debatte ist die Ent-

wicklung in Aserbaidschan und der dazu eingebrachte
gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen.

Aserbaidschan vollzieht seit seiner Unabhängigkeit
eine betont westlich orientierte Außenpolitik und hat
enge und vielfältige Beziehungen zur Europäischen
Union. Seit 2009 verläuft der Großteil dieser Zusam-
menarbeit im Rahmen der Östlichen Partnerschaft.
Diese Form der europäischen Nachbarschaftspolitik
zielt auf eine weitreichende Annäherung zwischen den
Partnerländern und unterstützt dort umfassende politi-
sche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen.

Seit dem Jahr 2010 wird über ein Assoziierungsab-
kommen mit dem Ziel einer vertieften partnerschaftli-

Zu Protokoll gegebene Reden





Franz Thönnes


(A) (C)



(D)(B)


chen Kooperation verhandelt. Innerhalb der EU ist
Deutschland einer der wichtigsten Partner für Aser-
baidschan. Für die Weiterentwicklung und Vertiefung
der Beziehungen und die weitere Stabilität Aserbaid-
chans ist aus unserer Sicht aber eine Intensivierung
der Aktivitäten für eine umfassende Modernisierung
erforderlich. Dies gilt insbesondere im politischen und
gesellschaftlichen Bereich.

Am 16. Oktober 2013 finden die Präsidentschafts-
wahlen statt. Amtsinhaber Ilham Alijew, der schon die
Wahlen von 2003 und 2008 gewonnen hatte, tritt zum
dritten Mal an. Dies ist nach zweimaliger Wahl für ihn
nur möglich, weil durch ein Referendum 2009 die
Amtsbegrenzung des Präsidenten aufgehoben wurde.
Im internationalen Beobachterkreis geht man davon
aus, dass er auch diesmal wiedergewählt wird.

Das Präsidentenamt in Aserbaidschan ist geprägt
von weitreichenden Vollmachten. So ernennt und ent-
lässt das Staatsoberhaupt den Ministerpräsidenten
und die Minister, die allein ihm verantwortlich sind.
Dem Parlament gegenüber muss er sich nicht rechtfer-
tigen, ja er kann es sogar auflösen. Und er kann
Rechtsverordnungen erlassen, hat das Vorschlagsrecht
für die Ernennung aller Richter und setzt die Verwal-
tungschefs der 66 Provinzen ein.

Die Nationalversammlung wird als ein faktisch
machtloses Einkammerparlament mit 125 Abgeordne-
ten, die nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt wer-
den, eingeschätzt. Hier hat die Regierungspartei
Neues Aserbaidschan, YAP, mit 72 Sitzen die Mehrheit.

Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre sowie die
stattgefundenen Wahlen zeigen auch vor dem Hinter-
grund von Wahlbeobachtungsmissionen, dass es de
facto in diesen beiden Jahrzehnten keine freien und un-
abhängigen Wahlen gegeben hat. Wir sehen es sehr
kritisch, dass weder in den Bereichen Demokratie
noch Rechtsstaatlichkeit in der zurückliegenden Zeit
wirklich nennenswerte Fortschritte erfolgt sind oder
dass nachhaltige Schritte in diese Richtung erkennbar
gewesen wären. Leider sehen wir mit Sorge zuneh-
mend einen autoritären Kurs der aserbaidschanischen
Regierung mit systematischer Unterdrückung der Op-
position. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 und auch
bei der Parlamentswahl 2010 gab es schwerwiegende
Verstöße gegen die internationalen Standards. Die Or-
ganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, OSZE, kritisierte erhebliche Unregelmäßig-
keiten und Manipulationen vor, während und nach den
Wahlgängen. Dies gilt insbesondere für die Einschrän-
kung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die
Behinderung der unabhängigen Berichterstattung und
die Benachteiligung von oppositionellen Kandidatin-
nen und Kandidaten.

Die von Präsident Alijew 2009 durchgesetzte Mög-
lichkeit zur unbegrenzten Verlängerung seiner Amts-
zeit ist als schwerer Rückschlag für die Demokratisie-
rung Aserbaidschans zu werten.

Die internationale Gemeinschaft ist also aufgeru-
fen, sich vor den anstehenden Wahlen frühzeitig darum
zu bemühen, dass demokratische Verfahren strikt ein-
gehalten und durch die OSZE überwacht werden. Lei-
der verstärken sich nämlich auch die Anzeichen dafür,
dass der Status der OSZE herabgestuft werden soll, um
ihr das Mandat zur Wahlbeobachtung im Oktober zu
entziehen.

Aserbaidschan benötigt für eine umfassende Mo-
dernisierung eine selbstbewusste und vielfältige Zivil-
gesellschaft. Doch auch hier müssen wir feststellen,
dass sich die Menschenrechtslage in den letzten Jah-
ren weiter verschlechtert hat. Meinungs- und Ver-
sammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt, und
regierungskritische Kundgebungen werden nicht ge-
nehmigt. Proteste werden häufig gewaltsam aufgelöst,
die Teilnehmer verhaftet und in verkürzten Verfahren
zu längeren Haftstrafen verurteilt. Immer häufiger
trifft es vor allem Jugend- und Menschenrechtsaktivis-
tinnen und -aktivisten. Mit großer Sorge sehen wir
auch Berichte aus dem Land, die uns über Misshand-
lungen und Folter von Inhaftierten, leider auch mit To-
desfolge, informieren.

Nichtregierungsorganisationen, NGOs, und opposi-
tionelle Parteien haben große Schwierigkeiten bei ih-
rer Registrierung, was zu faktischer Arbeitsunfähigkeit
führt. Seit dem 1. März 2013 müssen nach dem soge-
nannten Grant-Gesetz inländische NGOs jede Förde-
rung über 200 Manat – das entspricht circa 200 Euro –
bei den staatlichen Finanzbehörden anzeigen. Und sie
dürfen nur von registrierten Organisationen Gelder
empfangen. Da aber die meisten internationalen Ak-
teure nach wie vor nicht registriert sind, ist eine effek-
tive zivilgesellschaftliche Aktivität nahezu unmöglich.

Im weltweiten Vergleich in der Rangliste der Presse-
freiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen steht
Aserbaidschan auf Platz 162 von 179. Fernseh- und
Radiosender werden vom Staat umfassend kontrolliert.
Behörden behindern Journalistinnen und Journalisten
bei ihrer Arbeit. Häufig werden sie mit willkürlichen
Verhaftungen und Misshandlungen bedroht, massiv be-
drängt; ihre Ausrüstung wird beschlagnahmt oder gar
zerstört. Ebenso kommt es zu Verurteilungen in unter
Vorwänden begründeten, politisch motivierten Prozes-
sen.

Entscheidend für die politische und langfristige
wirtschaftliche Modernisierung Aserbaidschans ist die
Unabhängigkeit des Justizwesens, sowohl bei der Aus-
wahl der Richter als auch bei der Urteilsfindung. Für
ein souveränes, berechenbares und transparentes
Rechtssystem sind umfassende rechtsstaatliche Refor-
men dringend erforderlich.

Die notwendige ökonomische Modernisierung so-
wie eine breitere Aufstellung seiner Wirtschaft kann
Aserbaidschan aus eigener Kraft alleine nicht leisten.
Unterstützung ist hier geboten; denn wir sind über ver-
schiedenste Kooperationen verbunden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Franz Thönnes


(A) (C)



(D)(B)


Für die EU gehört das Land zu den bedeutendsten
Lieferanten und wichtigsten Transitländern fossiler
Rohstoffe, und ihre Mitgliedstaaten sind seine wich-
tigsten Handelspartner und Abnehmer von Exportgü-
tern. Immer noch setzt Aserbaidschan jedoch einseitig
auf Abschöpfung von Gewinnen aus dem Rohstoff-
export statt auf Nachhaltigkeit. Viele Industrieanlagen
sind marode; die Infrastruktur ist veraltet; ganze
Industriezweige liegen brach. Die mangelnde Bekämp-
fung von struktureller Korruption und Klüngelwirt-
schaft behindern die wettbewerbsorientierte Weiter-
entwicklung der Wirtschaft und die internationale
Zusammenarbeit in diesem Bereich.

Auch in der Bevölkerung ist eine zunehmende Unzu-
friedenheit mit der aktuellen Lage zu spüren. Das So-
zial-, Bildungs- und Gesundheitssystem in Aserbaid-
schan bedarf dringend einer grundlegenden Reform.
Hier herrscht ebenfalls Korruption statt sozialer Ge-
rechtigkeit und Chancengleichheit. Von den Einnah-
men aus den Rohstoffexporten profitiert vor allem ein
kleiner Kreis autokratischer Eliten. Die Bevölkerung
hat so gut wie nichts davon. Die wachsenden privaten
Bildungsangebote kann kaum jemand bezahlen, und
die Qualität der öffentlichen Bildung sinkt. Die Ge-
sundheitsversorgung ist für den Großteil der Bevölke-
rung mangelhaft.

Schließlich ist der andauernde Konflikt mit Arme-
nien um Berg-Karabach eine große Belastung für jeg-
liche Modernisierungsbemühungen. Das manifestiert
sich durch die massive Aufrüstung und die laufende
Kriegsrhetorik der Konfliktparteien. Aus unserer Sicht
gilt hier: Nur die Erarbeitung einer langfristigen Frie-
denslösung, die Aserbaidschan und den Menschen in
der Region Berg-Karabach gerecht wird, kann den
Konflikt lösen. Der jahrelange Stillstand der Verhand-
lungen gibt jedoch zu Befürchtungen Anlass, dass die
Bereitschaft zur Konfliktlösung auf beiden Seiten eher
unzureichend hierfür ist.

Der derzeitige politische Kurs der aserbaidschani-
schen Regierung steht leider dem Ausbau der Zusam-
menarbeit mit der EU im Weg. Denn auch nach dem
2001 erfolgten Beitritt Aserbaidschans zum Europarat
bleiben Zweifel an der Respektierung und Umsetzung
der Werte, die in der dortigen Satzung festgeschrieben
sind. Das Land muss sich, wie alle anderen auch, mes-
sen lassen an der Gewährleistung von Grund- und
Menschenrechten sowie der Einhaltung von demokra-
tischen und rechtsstaatlichen Standards. Eine weitere
Annäherung an die europäische Wertegemeinschaft
kann es daher nur mit eingehenden politischen Refor-
men und der aktiven Bereitschaft zum gesellschaftli-
chen Wandel im Land geben.

Im bilateralen wie europäischen Dialog müssen wir
dies deutlich entschiedener einfordern. Und die Kräfte
in Aserbaidschan, die sich zu Demokratie, Rechts-
staatlichkeit und Menschenrechten bekennen, verdie-
nen unsere Unterstützung durch die stärkere Förde-
rung des grenzüberschreitenden Austauschs.

Wir haben in unserem gemeinsamen Antrag 18 kon-
krete Forderungen an die Bundesregierung formuliert,
die zu einer umfassenden Modernisierung und Respek-
tierung der Menschenrechte in Aserbaidschan bei-
tragen sollen. Darunter sind unter anderem: das ge-
meinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten der EU bei
Maßnahmen zur Behebung rechtsstaatlicher Defizite
sowie Schritte zur Demokratisierung und Stärkung der
Zivilgesellschaft.

Dazu gehört auch das gemeinsame Drängen, dass
die aserbaidschanische Regierung bereits ausgehan-
delte Teile des Assoziierungsabkommens mit der EU
einhält bzw. umsetzt. Gemeinsam müssen wir Aserbai-
dschan auf seine mit der Mitgliedschaft im Europarat
und in der OSZE übernommenen Verpflichtungen hin-
weisen; das gilt auch für die Durchführung einer
Langzeit-Wahlbeobachtungsmission bei den bevorste-
henden Wahlen.

Neben einer bilateralen und internationalen Koope-
ration zur Förderung der Pressefreiheit müssen wir
uns auf höchster politischer Ebene für die sofortige
Freilassung und Rehabilitierung inhaftierter Medien-
vertreterinnen und -vertreter und aller politischen Ge-
fangenen einsetzen.

Und wir sollten unsere Besorgnis über die zuneh-
mende Inhaftierung von Jugend- und Menschenrechts-
aktivistinnen und -aktivisten, die Einschränkung der
Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie über die
Misshandlung durch Staatsbedienstete noch deutlicher
ausdrücken.

Des Weiteren sollte Aserbaidschan mehr Mittel in
die öffentliche Bildung investieren, die Korruption
hier ernsthaft und gezielt bekämpfen und die Qualität
insgesamt für alle steigern. Studierende, die wegen ih-
res Eintretens für europäische Werte zwangsexmatri-
kuliert wurden, sollten innerhalb der EU Studienmög-
lichkeiten und Stipendien erhalten.

Zur Förderung intensiverer Kontakte der aserbai-
dschanischen Bevölkerung mit EU-Bürgern plädieren
wir auf europäischer Ebene für eine Lockerung der
Visabestimmungen, um insbesondere den zivilgesell-
schaftlichen Austausch und die Begegnungen mit den
Demokratien Europas zu fördern. Natürlich bleiben
Sicherheitsinteressen dabei beachtet. Schon jetzt soll-
ten jedoch bei der Visavergabe von den deutschen Aus-
landsvertretungen vorhandene Spielräume des gelten-
den EU-Rechts offensiv genutzt werden.

Den wirtschaftlichen Fortschritt wollen wir durch
die Förderung von Alternativen zum Export fossiler
Rohstoffe, den Ausbau erneuerbarer Energien und die
Erhöhung der Energieeffizienz unterstützen, mit Ko-
operationsprojekten sowie Wissens- und Technologie-
transfer. Auch in der deutschen Entwicklungszusam-
menarbeit muss entschiedener auf Fortschritte im
Bereich der Menschenrechte, bei der Demokratisie-
rung sowie der Rechtsstaatlichkeit gedrängt werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Franz Thönnes


(A) (C)



(D)(B)


All dies würde Aserbaidschan und die Europäische
Union näher zusammenbringen und der friedlichen,
demokratischen Entwicklung zum Vorteil der Men-
schen im südöstlichen Teil unseres Kontinents dienen.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1723739600

Im letzten Jahr haben wir das 20. Jubiläum der di-

plomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und
Aserbaidschan begangen. Deutschland hat sich stets
als konstruktiver Partner Aserbaidschans verstanden,
der auch problematische Entwicklungen offen an-
spricht.

Der Antrag befasst sich sowohl mit der außenpoliti-
schen Rolle Aserbaidschans im Südkaukasus als auch
mit den innen- und menschenrechtspolitischen Proble-
men Aserbaidschans. Sicherlich greift der Antrag
manchen wichtigen Kritikpunkt auf. Allerdings unter-
schlägt er auch sämtliche Anstrengungen der Bundes-
regierung, zu Menschenrechten, Pressefreiheit und
auch wirtschaftlicher Modernisierung in Aserbaid-
schan beizutragen. Das ist nicht akzeptabel.

Ich beginne zunächst mit der Außenpolitik. Was
Deutschlands Rolle beim Berg-Karabach-Konflikt an-
belangt, so fordert die Bundesregierung gemeinsam
mit den EU-Partnern sowie den Staaten der Minsk-
Gruppe beide Konfliktparteien zur Mäßigung und zur
Aufnahme eines substanziellen Dialogs auf. Die ent-
scheidenden Impulse müssen aber von innen heraus
kommen und können nicht von außen erzwungen wer-
den. Dass eine Lösung dieses Konflikts für die Stabili-
tät der Region des Südkaukasus von zentraler Bedeu-
tung ist, darüber besteht innerhalb des Deutschen
Bundestages wohl kein Dissens. Nur: Der Ball liegt
hier bei den Armeniern und Aserbaidschanern.

Nun zum bilateralen Verhältnis zwischen Deutsch-
land und Aserbaidschan: In der entwicklungspoliti-
schen Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und
Deutschland liegen die Schwerpunkte in den Berei-
chen nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft außer-
halb des Öl- und Gassektors, Schutz der Biodiversität,
erneuerbare Energien sowie Kommunalentwicklung
und Rechtsstaatlichkeit. Deutschland ist für Aserbaid-
schan beispielsweise im Bereich der erneuerbaren
Energien ein wichtiger Partner. So wurde 2010 der
erste Windpark in Aserbaidschan unter Beteiligung
von deutschen Unternehmen fertiggestellt; weitere
Projekte sind geplant. Die von SPD und Grünen im
Antrag formulierte Aufforderung, solche Projekte zu
fördern, ist somit überholt.

Schließlich zur innenpolitischen Situation Aserbaid-
schans: Die EU führt mit Aserbaidschan einen Men-
schenrechtsdialog im Rahmen des Unterausschusses
Menschenrechte des Europäischen Parlaments, und
seit seiner Aufnahme in den Europarat 2001 unterliegt
Aserbaidschan einem Sondermonitoring durch das Mi-
nisterkomitee und die Parlamentarische Versamm-
lung. Dass die Regierung Aserbaidschans einen
Besuch des Sonderberichterstatters der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates, dem Bundes-

tagsabgeordneten Christoph Strässer, bisher verhin-
dert hat, ist nicht akzeptabel. Auch die gegen die
deutsche Delegation durch den Vorsitzenden der aser-
baidschanischen Delegation beim Europarat, Elkhan
Suleymanov, vorgebrachten Unterstellungen, unter an-
derem Erpressung und Bedrohung, sind inakzeptabel.
Die Regierung in Baku muss wissen, dass sie durch
Verweigerung eines Dialogs Zweifel an ihrer Men-
schenrechtspolitik nicht ausräumen kann. Aserbaid-
schan hat die Europäische Menschenrechtskonvention
unterschrieben. Jetzt muss es sie auch einhalten.

Auch in bilateralen Gesprächen wird die Menschen-
rechtslage durch Mitglieder der Bundesregierung kon-
tinuierlich angesprochen. Der Menschenrechtsbeauf-
tragte der Bundesregierung, Markus Löning, hat sich
zu Recht mehrfach für die Freilassung von inhaftierten
Demonstranten eingesetzt. Bei seinem Besuch im ver-
gangenen Jahr hat der Bundesminister des Auswärti-
gen, Dr. Guido Westerwelle, sich auch mit Menschen-
rechtsorganisationen getroffen und bei den
entsprechenden Gesprächen die Menschenrechtslage
sowie die Pressefreiheit in Aserbaidschan thematisiert,
ebenso wie viele Mitglieder des Deutschen Bundesta-
ges. Die Begnadigung politischer Gefangener im Jahr
2012 wurde andererseits nicht nur in Deutschland als
ein Signal der aserbaidschanischen Regierung für den
Willen zu mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und zum
Schutz der Menschenrechte gewertet.

Wir haben in diesem Parlament mehr als einmal
deutlich gemacht, dass Aserbaidschan noch einen wei-
ten Weg zu gehen hat und weitere Reformen notwendig
sind. Gerade im letzten Jahr ist diese Diskussion auch
öffentlich intensiv geführt worden. Gleichzeitig hat die
Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse da-
ran, über Kontakte das Bewusstsein für diese Fragen
zu stärken und in Gesprächen immer wieder auf Verän-
derungen zu drängen.

Die Beziehungen zu Aserbaidschan sind vielfältig
und vom Interesse geprägt, die Situation in der Region
zu befrieden, die wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung voranzubringen und zu einer guten, trag-
fähigen und dauerhaften Zusammenarbeit zu kommen.
Mit der einseitigen Beschäftigung des Antrags von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Aserbaidschan
wird man den Anforderungen deutscher Außenpolitik
nicht gerecht. Denn es bleibt festzuhalten, dass auch
andere Länder in der Region, wie beispielsweise Ar-
menien, noch weiteren Entwicklungsbedarf in Fragen
von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten ha-
ben.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723739700

Der Bundestag hat sich in den zurückliegenden Jah-

ren bereits intensiv mit der Situation der Menschen-
rechte in Aserbaidschan beschäftigt. Auch Die Linke
hat in dieser Wahlperiode einen eigenen Antrag einge-
bracht, der sich ganzheitlich und kritisch mit der Men-
schenrechtslage in allen drei Südkaukasus-Republiken
auseinandersetzt. Die Situation in Armenien und Ge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)


orgien ist nämlich aus unserer Sicht keineswegs zufrie-
denstellender als in Aserbaidschan. SPD und Grüne
haben seinerzeit unseren Antrag abgelehnt und be-
schränken sich in ihrem aktuellen gemeinsamen An-
trag auf Aserbaidschan. Darin offenbaren sich nicht
nur unterschiedliche politische Herangehensweisen,
regionalspezifisch versus länderspezifisch, bei diesem
Thema. Der rot-grüne Antrag blickt vor allem hoch-
gradig selektiv auf die komplexe Situation in Aserbaid-
schan, indem er ausschließlich Defizite thematisiert.
Dadurch entsteht praktisch der Eindruck, als herrsche
dort eine der finstersten Diktaturen der Welt, der ir-
gendwie zu Leibe gerückt werden müsse. Ein kritischer
Menschenrechtsdialog kann so jedenfalls nicht geführt
werden, hierfür müsste eine differenzierte Gesamt-
bilanz der Situation gezogen werden.

Die gesellschaftlichen Realitäten werden zudem an
zahlreichen Stellen fehlerhaft beschrieben. Das liegt
unter anderem daran, dass dem Antrag eine zu dünne
Informationsbasis zugrunde liegt. Rot-Grün akzeptiert
beim Thema Aserbaidschan bekanntlich nur das, was
der eigenen Weltsicht entspricht. Der Antrag ist somit
ideologisch gefärbt. SPD und Grüne schenken nur
denjenigen Informationsquellen Glauben, die sie in ih-
rer eigenen Meinung bestätigen. Dabei handelt es sich
meist um einzelne Dissidentinnen und Dissidenten, die
im Ausland leben oder Vorträge halten. Natürlich müs-
sen auch radikal-kritische Stimmen bei der Informa-
tionsgewinnung Berücksichtigung finden, dies allein
reicht allerdings nicht aus. Um sich einen objektiven
Eindruck von der komplexen Lage in Aserbaidschan zu
verschaffen, muss mit möglichst vielen unterschiedli-
chen Kräften kommuniziert werden: sowohl mit Vertre-
terinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisa-
tionen, Gewerkschaften und der konstruktiv-kritischen
Opposition, aber auch mit der amtierenden Regierung
und regimekonformen Gruppen. Das ist von grund-
sätzlicher Bedeutung, nicht nur im Fall Aserbaid-
schans. Es ist für Fortschritte bei Menschenrechten
und Demokratie unerlässlich, insbesondere auch mit
denjenigen politischen Entscheidungsträgern zu re-
den, die die Situation real beeinflussen können, eben
weil sie an der Macht sind. Das Alijew-Regime ist
jedenfalls kein monolithischer Block, der nur aus Be-
tonköpfen besteht. Anstelle die Türen für Gespräche
zuzuknallen, wie dies Rot-Grün macht, müsste mit
Aserbaidschan ein offener und kritischer Dialog ge-
sucht werden. Menschenrechte haben eine zivile Logik
und können nur durch innergesellschaftliche Konsens-
bildungsprozesse durchgesetzt werden. Deshalb spricht
sich Die Linke auch stets gegen Sanktionen und für
Dialog aus. Menschenrechte können nicht von außen
aufgepfropft und schon gar nicht mit militärischen
Mitteln im Rahmen sogenannter humanitärer Interven-
tionen erzwungen werden. Und dass sich ausgerechnet
SPD und Grüne als Anwältinnen bzw. Anwälte der
Menschenrechte in Aserbaidschan profilieren wollen,
entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wer in seiner ge-
meinsamen Regierungszeit im eigenen Land mit der
Agenda 2010 einen systematischen Raubbau vor allem

an den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten
der Schwachen in der Gesellschaft getrieben hat, der
sollte sich besser zurückhalten, andere Länder zu be-
lehren. Rot-Grün ist menschenrechtspolitisch genauso
unglaubwürdig wie die amtierende Bundesregierung.

Es spricht Bände, wenn Rot-Grün allen Ernstes die
Ansicht vertritt, dass für eine weitere Annäherung
Aserbaidschans an die Europäische Union zunächst
Bedingungen diktiert werden könnten. Woher nehmen
SPD und Grüne eigentlich die Gewissheit, dass eine
Annäherung an die EU für Aserbaidschan überhaupt
Priorität habe? Das Land ist ja nicht nur seit 2011
auch offiziell Mitglied der Bewegung blockfreier Staa-
ten, sondern verfolgt vor dem Hintergrund seiner ge-
wachsenen ökonomischen Stärke bereits seit geraumer
Zeit eine selbstbewusste, ausbalancierte Außenpolitik.
Und angesichts ihres missratenen Krisenmanagements
dürfte die EU erheblich an Attraktivität für andere
Länder eingebüßt haben. Worin soll für Aserbaidschan
der Anreiz liegen, sich der EU weiter anzunähern?
Eine Beitrittsperspektive ist nicht vorgesehen, und mit
Blick auf die Versorgungssicherheit mit Erdöl und Erd-
gas ist die EU jedenfalls Bittstellerin bei Aserbaid-
schan und nicht umgekehrt.

Hinter dieser unrealistischen Konditionierung der
europäisch-aserbaidschanischen Beziehungen steckt
allerdings die altbekannte politische Vorstellung, dass
sich andere Länder der EU möglichst bedingungslos
unterordnen und haargenau das europäische Demo-
kratiemodell bei sich einführen sollten. Dahinter ver-
birgt sich nichts anderes als die wilhelminisch-imperi-
ale Maxime von „Am deutschen Wesen soll die Welt
genesen“ – nur in einer zeitgemäß mit Menschenrech-
ten garnierten, eurozentrischen Version. Das sind des
Kaisers neue Kleider, die imperiale Politik ist aller-
dings die alte geblieben.

Rot-Grün verkennt ebenfalls, dass Demokrati-
sierungsprozesse in der Regel längere Zeiträume
beanspruchen. Die postsowjetischen Transformations-
länder sind erst seit etwas mehr als 20 Jahren unab-
hängig. Auch die heutigen westeuropäischen Demo-
kratien haben für die Etablierung von demokratischen
und menschenrechtlichen Standards wesentlich län-
gere Zeit benötigt. Demokratieentwicklung ist zudem
kein geradliniger Prozess. Es kann mitunter auch
Rückschläge geben, wie dies aktuell am Beispiel des
EU-Mitglieds Ungarn beobachtet werden kann. Des-
halb müssen bei der Gesamtbeurteilung der Men-
schenrechtssituation in Transformationsgesellschaften
Erfolge wie Misserfolge gleichermaßen Berücksichti-
gung finden und auf überprüfbaren Fakten basieren.

Die Beschreibung der wirtschaftlichen und sozialen
Lage, wonach in Aserbaidschan außerhalb des Ölsek-
tors praktisch ganze Produktionszweige brach lägen,
hat mit der Realität nichts zu tun. Das Gegenteil ist
richtig: Die Volkswirtschaft entwickelt sich sehr dyna-
misch, gerade auch außerhalb des Energiesektors.
Laut Angaben der Weltbank konnte dadurch der Anteil
derjenigen, die unter 1,25 Dollar pro Tag zur Verfü-

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)


gung haben, bis zum Jahr 2008 auf 4 Prozent gedrückt
werden. Auch der sogenannte Gini-Koeffizient, der die
soziale Ungleichheitsverteilung misst, weist einen
rückläufigen Trend auf. Die aktuellen Werte dürften
vermutlich noch deutlich besser sein, da die Weltbank
ihre Daten seit 2008 nicht aktualisiert hat und in den
zurückliegenden drei Jahren die staatliche Sozialpoli-
tik nochmals massiv ausgeweitet wurde. Die Armut ist
deutlich zurückgegangen, und die Masseneinkommen
haben zugelegt. Obzwar durchaus weitere Umvertei-
lungsspielräume existieren, hat sich die wirtschaftli-
che und soziale Situation der Menschen spürbar ver-
bessert.

Anlass zu berechtigter Kritik an Aserbaidschan bie-
tet hingegen die Situation bei bestimmten bürgerlichen
und politischen Menschenrechten, insbesondere die
Einschränkungen bei der Versammlungs- und Presse-
freiheit, die noch nicht ausreichenden demokratischen
Standards bei politischen Wahlen und die Defizite bei
der Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz.
Korruption ist ebenfalls weit verbreitet. In diesen Be-
reichen sind zweifellos Verbesserungen vonnöten. Be-
zeichnenderweise fehlen im rot-grünen Antrag aber
Aussagen zum bürgerlichen Recht auf Religionsfrei-
heit. Aserbaidschan ist eines der wenigen traditionell
mehrheitlich muslimisch geprägten Länder, in denen
der Bau von neuen Kirchen und Synagogen ermöglicht
wird. Die säkulare Identität der aserbaidschanischen
Gesellschaft und das friedliche Zusammenleben der
unterschiedlichen Religionen konnten trotz des schwie-
rigen geopolitischen Umfelds und der anhaltenden mi-
litärischen Besatzung von Teilen des aserbaidschani-
schen Staatsgebiets durch Armenien aufrechterhalten
werden. Das ist keineswegs selbstverständlich und
sollte daher mit Nachdruck gewürdigt werden.

Insgesamt bestehen zwischen dem rot-grünen
Antrag und unserem eigenen Antrag gravierende Un-
terschiede in der inhaltlichen Bewertung und strategi-
schen Ausrichtung. Die rot-grüne Holzhammer-
methode wird auch in diesem Fall versagen. Deshalb
kann Die Linke diesen Antrag nur ablehnen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem vorliegenden Grünen-Antrag möchten wir
die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan stärker von
dringend notwendigen politischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Reformen abhängig machen.
Wir freuen uns, dass sich die SPD diesem Anliegen an-
geschlossen hat. Wir sind überzeugt davon, dass die
Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der EU
und Aserbaidschan in beiderseitigem Interesse ist.
Entscheidend hierfür wird die ernsthafte Bereitschaft
Aserbaidschans zur Demokratisierung des Landes und
zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit sein. Die syste-
matische Unterdrückung von Grund- und Menschen-
rechten durch die aserbaidschanische Führung muss
ein Ende haben.

Aserbaidschan ist aufgrund seiner Einnahmen aus
der Ölförderung kein armes Land. Es ist wirtschaftlich
interessant für Europa. Davon zeugt auch die Eröff-
nung einer deutschen Außenhandelskammer in Baku
im November 2012. Die AHK Aserbaidschan vertritt
über 130 deutsche und aserbaidschanische Mitglieds-
unternehmen im jeweiligen anderen Land. Sie sollte
die Diversifizierung der aserbaidschanischen Wirt-
schaft vorantreiben, die bislang nahezu vollständig
vom Rohstoffexport abhängig ist. Kooperationspro-
jekte zum Beispiel im Bereich erneuerbarer Energien
und Energieeffizienz sind denkbar und wünschenswert.

Leider beschränkt sich die regierende Elite darauf,
die Gewinne aus den Rohstoffexporten abzuschöpfen,
während andere Wirtschaftszweige brachliegen oder
zunehmend verfallen. Korruption ist systemimmanent
und nimmt erschreckende Dimensionen an. Ein erheb-
licher Mangel an Rechtssicherheit steht bislang um-
fangreicheren ausländischen Investitionen entgegen.

Wir wissen, dass der ungelöste Konflikt um Berg-
Karabach ein Hemmschuh ist bei der Entwicklung
Aserbaidschans. Wir bedauern den Stillstand in den
Verhandlungen der OSZE-Minsk-Gruppe und fordern
hier ein entschlosseneres Engagement Deutschlands
und der EU. Jedoch müssen alle Konfliktparteien ehr-
liche Kompromissbereitschaft zeigen, statt sich weiter-
hin in der Reproduktion nationalistischer Feindbilder
zu überbieten.

Am stärksten steht einem modernen und fortschritt-
lichen Aserbaidschan jedoch der Umgang mit Grund-
und Menschenrechten entgegen. Hier hat sich die Lage
im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Daher begrü-
ßen wir, dass die Parlamentarische Versammlung des
Europarates am 23. Januar 2013 mit großer Mehrheit
eine Resolution angenommen hat, die die Mängel im
Bereich der Demokratie, des Rechtswesens und der
Korruptionsbekämpfung aufzeigt. Die Situation der
politischen Gefangenen, Misshandlungen und Folter,
die Einschränkung von Meinungs-, Versammlungs-
und Vereinigungsfreiheit werden ebenso kritisiert wie
Defizite bei der Gewissens- und Religionsfreiheit.
Aserbaidschan hat sich – mit seiner Mitgliedschaft im
Europarat – selbst verpflichtet, europäische Standards
einzuhalten und derartige Defizite zu beseitigen.

Bisher aber konnten leider keine Fortschritte in die-
sen Bereichen festgestellt werden – im Gegenteil. Wir
beobachten das Austrocknen der Oppositionszeitung
„Azadliq“. Des Weiteren beklagt das Institut für die
Freiheit und Sicherheit von Reportern, IRFS, in Baku
die Ergänzungen am Art. 58 der aserbaidschanischen
Verfassung, der das Recht auf Gründung von Nichtre-
gierungsorganisationen regelt. Dadurch sind NGOs in
ihrer Existenz bedroht.

Am 10. April 2013 wurde die Free Thought Univer-
sity, AFU, in Baku ohne Angabe von Gründen durch
die Staatsanwaltschaft geschlossen. Vorlesungen und
Seminare zu Demokratie und Geschichte wurden hier
seit 2009 durchgeführt. Wir verurteilen die Schließung

Zu Protokoll gegebene Reden





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


dieser Einrichtung in aller Schärfe! Denn gerade der
öffentliche Bildungssektor muss gestärkt, vor allem
nichttechnische Studiengänge von der Regierung ge-
fördert werden. Die Korruption im Bildungssektor
muss bekämpft werden, um die Teilhabemöglichkeiten
derjenigen zu erhöhen, die studieren möchten, hor-
rende Bestechungsgelder aber nicht zahlen wollen
oder können.

Nachdem die aserbaidschanische Regierung durch
massives Lobbying das Zustandekommen einer Ent-
schließung der Parlamentarischen Versammlung, PV,
des Europarates zu politischen Gefangenen in Aser-
baidschan verhindert hat, befinden sich weiterhin
zahlreiche Personen aufgrund ihrer politischen Über-
zeugung in Haft. Und es werden wieder mehr. So wur-
den am 4. Februar 2013 der aserbaidschanische Op-
positionsführer Ilqar Mammadow von der REAL-
Bewegung und Tofiq Yaqublu von Musavat verhaftet.
Amnesty International und Human Rights Watch haben
diese Verhaftungen verurteilt; Thorbjorn Jagland, der
Generalsekretär des Europarates, hat Kontakt zu den
Anwälten der Inhaftierten aufgenommen.

Wir verfolgen die politische Entwicklung in Aser-
baidschan mit größter Aufmerksamkeit und zeigen uns
solidarisch mit unterdrückten Demokratieaktivisten
und -aktivistinnen. Wir müssen deshalb Projekte wie
Meydan TV unterstützen, einen unabhängigen Sender,
den der bekannte aserbaidschanische Blogger und
Dissident Emin Milli und andere aserbaidschanische
Aktivisten und Aktivistinnen in Berlin ins Leben geru-
fen haben. Der Sender soll zunächst über Internet,
später über Satellit nach Aserbaidschan senden und
einen „Raum für demokratische Meinungsbildung“
bieten, „denn ein freies Fernsehen ist die größte Ge-
fahr für eine Diktatur“, so Emin Milli.

Am 12. Februar 2013 wurden zwei Aktivisten, die
für das Election Monitoring and Democracy Studies
Center, EMDS, eine Schulung zur zivilgesellschaft-
lichen Wahlbeobachtung durchführten, polizeilich be-
droht. Das EMDS ist Mitglied der Initiative EPDE,
Europäische Plattform für Demokratische Wahlen. Die
Präsidentschaftswahlen in Aserbaidschan sollen am
16. Oktober 2013 stattfinden. Da es seit 20 Jahren in
diesem Land keine freien Wahlen gegeben hat, ist eine
umfassende und langfristige Wahlbeobachtung extrem
wichtig. Die internationale Gemeinschaft sollte sich
frühzeitig darum bemühen, dass demokratische Ver-
fahren strikt eingehalten und durch die OSZE, insbe-
sondere im Rahmen einer Langzeit-Wahlbeobach-
tungsmission, überwacht werden.

Bei der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parates haben wir – mit Ausnahme der Linken – frak-
tionsübergreifend feststellen müssen, dass es in Aser-
baidschan im Bereich der Menschenrechte seit
Dezember 2011 keine Verbesserung gegeben hat. Zwar
wurden im Januar 2013 einige Gefangene amnestiert,
aber das ist keine systemische oder strukturelle Ver-
besserung. Wir befürchten, dass sich die Situation in
Aserbaidschan bis zu den Wahlen im Oktober 2013

weiter verschlechtern und der Druck auf kritische
Stimmen noch zunehmen wird. Daher werbe ich über-
fraktionell dafür, die Bundesregierung aufzufordern,
eine entschlossenere Haltung gegenüber dem autoritä-
ren Kurs der aserbaidschanischen Regierung einzu-
nehmen. Dabei sollte sie sich für ein abgestimmtes
Agieren der Europäischen Union im Umgang mit Aser-
baidschan starkmachen.

Deutlich werden muss: Einen weiteren Ausbau der
Zusammenarbeit kann es nur geben, wenn Grund- und
Menschenrechte gewahrt sowie eine ernsthafte Bereit-
schaft zu tiefgreifenden Reformen erkennbar wird.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723739800

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/13177, den An-
trag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12467 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsge-
setzes

– Drucksache 17/12013 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/13270 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesord-
nung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1723739900

Die Umsetzung einer EU-Richtlinie in deutsches

Recht wird oft als komplizierter und bürokratischer
Vorgang dargestellt. Aus „Brüssel“ kommen die Vorla-
gen und Vorschriften, an denen sich „Berlin“ abarbei-
ten muss. In manchen Fällen mag das auch durchaus
der Fall sein. Doch der vorliegende Gesetzentwurf ist
ein Beispiel dafür, dass die Umsetzung einer EU-
Richtlinie nicht zwangsläufig ein komplizierter oder
unbequemer Vorgang sein muss. In diesem Fall schaf-
fen wir damit eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung
von Künstlern und Kreativen, die gleichzeitig für eine
Harmonisierung der rechtlichen Bedingungen von Ur-
hebern innerhalb der Europäischen Union sorgt.





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


Wir werden mit der heutigen zweiten und dritten Le-
sung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urhe-
berrechtsgesetzes die Richtlinie endgültig umsetzen
und somit die Verlängerung der Schutzdauer von
Rechten ausübender Künstler und Tonträgerhersteller
von 50 auf 70 Jahre beschließen.

Mit der Gesetzesänderung erreichen wir vor allem drei
Ziele. Zunächst setzen wir die Richtlinie 2011/77/EU über
die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter
verwandter Schutzrechte um. Sie nimmt die Anpassung
einer im Jahr 2006 vorgelegten Richtlinie vor. Bei der
Harmonisierung der Schutzdauer von Musikkomposi-
tionen mit Text knüpft die Richtlinie dabei an eine ver-
gleichbare Bestimmung zu Filmwerken- und audio-
visuellen Werken in der Schutzdauerrichtlinie an.

Die vorliegende Gesetzesänderung, die wir heute
abschließend beraten, ist damit im Wesentlichen tech-
nischer Natur. So schaffen wir auf EU-einheitlicher
Ebene ein angemessenes Schutzniveau für Künstler,
das in deutschem Recht bisher nicht besteht. Dies ist
eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung von Künstlern
sowie zur Weiterentwicklung des deutschen Urheber-
rechts. Bisher erloschen die Rechte 50 Jahre nach der
Erstveröffentlichung beziehungsweise der ersten öf-
fentlichen Wiedergabe. Mit der neuen Regelung erlö-
schen die Rechte an den Aufzeichnungen auf einem
Tonträger nach nunmehr 70 Jahren.

Außerdem erhalten die Künstler durch diese Ge-
setzesänderung eine bessere Teilhabe an den Einnah-
men, die durch ihre ausschließlichen Rechte erzielt
wurden. So wollen wir gewährleisten, dass der aus-
übende Künstler an den Einnahmen beteiligt wird, die
der Tonträgerhersteller aus der durch die Verlänge-
rung der Schutzdauer weiterhin möglichen Verwertung
von Tonträgern erzielt.

Schließlich beseitigen wir durch die Umsetzung der
EU-Richtlinie Harmonisierungslücken, die zwischen
den Mitgliedstaaten bei der Schutzdauer von Urheber-
rechten bestanden haben.

Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen des
Gesetzentwurfs gab es noch Änderungsbedarf mit
Blick auf die Rechte von Künstlergruppen. Für
Orchester etwa war offen, ob und wie sie von einem
Kündigungsrecht, das für einzelne Urheber besteht,
Gebrauch machen können. Daher haben die Koali-
tionsfraktionen von CDU/CSU und FDP einen ge-
meinsamen Änderungsantrag vorgelegt, um auch sol-
chen Künstlergruppen die Kündigungsmöglichkeit
einzuräumen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist.
Somit haben nun nicht nur einzelne Künstler, sondern
auch Gruppen von Künstlern einfacher die Möglich-
keit, einen Vertrag mit einem Werkmittler zu kündigen,
wenn Werke nicht zum Verkauf angeboten werden.

Zudem wird in dem Gesetzentwurf durch die darin
vorgesehene Übergangsregelung in § 137 m des Urhe-
berrechtsgesetzes sichergestellt, dass der Zuwachs,
der bei Musikkompositionen mit Text durch den wie-

derauflebenden Schutz von einer bereits gemeinfreien
Komponente entstehen kann, dem jeweiligen Urheber
zusteht. Das vorgesehene Wiederaufleben der Rechte
beim Urheber kann auch dazu führen, dass zugleich
die vertraglich vereinbarte Übertragung der Rechte
wieder auflebt, soweit dies im Vertrag zwischen dem
Urheber und seinem Vertragspartner, etwa dem Werk-
mittler, vorgesehen war.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir
nicht nur eine EU-Richtlinie erfolgreich in deutsches
Recht um, sondern erwirken eine sinnvolle Ergänzung
bestehender verwandter Schutzrechte im Urheber-
recht. Somit erhöhen wir das Schutzniveau für Künst-
ler und Kulturschaffende in Deutschland und leisten
damit einen Beitrag zur Stärkung der Urheber und
Kreativen.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1723740000

Der vorliegende Regierungsentwurf harmonisiert

die Schutzfristen für die Rechte ausübender Künstle-
rinnen und Künstler und Tonträgerhersteller an
Musikaufnahmen und verlängert diese – basierend auf
der Richtline 2011/77/EU des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 27. September 2011 zur Än-
derung der Richtlinie 2006/116/EG über die Schutz-
dauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter
Schutzrechte – auf 70 Jahre. Gleichzeitig wird die
Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text auf
70 Jahre festgelegt.

Bisher erloschen die Rechte an Aufzeichnungen und
Darbietungen ausübender Künstlerinnen und Künstler
50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Dieser Schutz
verlängert sich jetzt um weitere 20 Jahre. An den Zu-
satzeinnahmen, die die Plattenfirmen in dieser Zeit er-
zielen, sollen die Künstlerinnen und Künstler partizi-
pieren, indem sie zu einem Fünftel daran beteiligt
werden. Diese Teilhabe gilt für alle Tonträger ab dem
50. Jahr der Verwertung bis zum Ende der Schutzdauer
von 70 Jahren.

Darüber hinaus haben ausübende Künstler zukünf-
tig das Recht, den Übertragungsvertrag mit der Plat-
tenfirma zu kündigen, wenn diese es unterlässt, eine
Aufzeichnung, die ohne die Verlängerung der Schutz-
dauer gemeinfrei wäre, zu verwerten.

Gegen Regelungen, die Urhebern und Künstlern zu
ihren Lebzeiten fortlaufende Einnahmen aus der Ver-
wertung ihrer Werke sichern, ist grundsätzlich nichts
einzuwenden. Eben diesen Effekt wird der vorliegende
Entwurf jedoch nicht erzielen. Die Annahme, dass eine
große Anzahl ausübender Künstlerinnen und Künstler
von der Schutzfristverlängerung durch zusätzliche
Einnahmen profitieren wird, trügt – darauf haben viele
Urheberrechtsexperten bereits frühzeitig hingewiesen.
In Wirklichkeit können nur sehr wenige Werke
50 Jahre nach Erscheinen überhaupt noch kommerziell
verwertet werden; die Masse wirft schon nach einem
Jahr keine nennenswerten Einnahmen mehr ab. Wir
wissen daher, dass das Gesetz im Wesentlichen nur den

Zu Protokoll gegebene Reden





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


großen Plattenlabels, beispielsweise den Inhabern der
Rechte an den Liedern der Beatles, zusätzliche Ein-
nahmen bescheren wird. Damit verpufft das oft ge-
nannte Argument, die Schutzfristverlängerung diene
insbesondere der sozialen Absicherung der Künstle-
rinnen und Künstler im Alter.

Wir begrüßen allerdings ausdrücklich, dass es ge-
lungen ist, für das Kündigungsrecht in Fällen gemein-
samer Darbietung mehrerer Künstler – zum Beispiel
Orchester-, Chor- oder Bandeinspielungen – eine
Lösung zu finden, die die Ausübung des Kündigungs-
rechts durch einen gewählten Vertreter oder Leiter der
Gruppe ermöglicht und damit in der Praxis handhab-
barer macht.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1723740100

Der Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache

17/12013 setzt die Richtlinie 2011/77/EU des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 27. September
2011 zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG über
die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter
verwandter Schutzrechte in deutsches Recht um.

Die öffentliche Wahrnehmung des Urheberrechts
hat sich in den vergangenen 15 Jahren drastisch ver-
ändert. Fristete es noch Ende der 90er-Jahre ein Mauer-
blümchendasein, das lediglich von einigen Experten
wahrgenommen wurde, ist es spätestens mit der De-
batte um ACTA und den daraus resultierenden Protes-
ten in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die
Frage, ob die bestehenden urheberrechtlichen Schutz-
fristen angemessen sind, wird dabei immer wieder er-
örtert. Kritiker wünschen sich kürzere Schutzfristen
und somit ein früheres Gemeinfreiwerden der Inhalte.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich sehr, dass die
EU mit der Richtlinie 2011/77/EU ein klares Zeichen
für den Schutz geistigen Eigentums setzt. Die Richt-
linie sieht eine Harmonisierung der Schutzdauer für
Musikkomposition mit Text sowie eine Verlängerung
der Schutzdauer von Rechten ausübender Künstler und
Tonträgerhersteller von 50 auf 70 Jahre vor. Hierbei
muss man berücksichtigen, dass Urheber und Rechte-
verwerter eine Symbiose eingehen. Viele Urheber sind
auf professionelle Unterstützung bei der Verwertung
ihrer Werke durch Werkvermittler angewiesen, da sie
selber oftmals gar nicht in der Lage sind, eine aufwen-
dige Selbstvermarktung vorzunehmen. Die Verlänge-
rung der Schutzfristen für Werkvermittler wirkt sich
mittelbar auch positiv für die Urheber aus. Sie müssen
an den Einnahmen, die von den Werkvermittlern im
Rahmen der verlängerten Schutzfrist erzielt werden,
anteilig beteiligt werden.

Da das deutsche Urheberrecht entsprechende Rege-
lungen bislang nicht enthalten hat, muss es angepasst
werden. Dies wird durch den vorgelegten Gesetz-
entwurf der Bundesregierung erreicht. Die FDP-Bun-
destagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren
gemeinsam mit der Unionsfraktion lediglich eine in-
haltliche Änderung vorgenommen.

In § 80 Abs. 2 UrhG wird die Angabe „§§ 77 und
78“ durch die Wörter „§§ 77, 78 und 79 Abs. 3“ er-
setzt. Dies hat folgenden Hintergrund. Die Richtlinie
räumt ausübenden Künstlern ein Kündigungsrecht ge-
genüber dem Tonträgerhersteller ein, wenn dieser es
unterlässt, 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung des
Werkes Kopien des Tonträgers in ausreichender
Menge zum Verkauf anzubieten oder öffentlich zugäng-
lich zu machen. § 80 UrhG regelt die Rechte mehrerer
gemeinsam ausübender Künstler. Die Norm findet in
der Praxis insbesondere Anwendung auf Orchester
oder ähnliche große Musikgruppen. Mit der Ergän-
zung in § 80 Abs. 2 UrhG wird geregelt, dass eine
Gruppe ausübender Künstler ihr neues Kündigungs-
recht aus § 79 Abs. 3 UrhG-neu nur gemeinsam, ver-
treten durch ihren Vertreter, Vorstand, oder Leiter, aus-
üben kann. Damit stellen wir sicher, dass die Norm
praktikabel bleibt. Die Zusammensetzung eines Or-
chesters kann sich innerhalb von 50 Jahren erheblich
verändern. Müsste man zur Ausübung eines Kündi-
gungsrechts die Einwilligung jedes betroffenen Mit-
glieds einholen, könnte dies in der Praxis zu un-
lösbaren Problemen führen. Es bestünde die Gefahr,
den ausübenden Künstlern Steine statt Brot zu geben,
weil zum Beispiel einzelne Mitglieder des Orchesters,
das einen Tonträger eingespielt hat, nicht mehr auf-
findbar sind. Dieses Problem wird mit der von den Ko-
alitionsfraktionen vorgenommenen Änderung gelöst.

Die Richtlinie 2011/77/EU und damit auch die Um-
setzung in deutsches Recht verfolgen mit der Verlänge-
rung der Schutzdauer das Ziel, den Genuss der
Früchte eines Werkes auch noch den Kindern und Kin-
deskindern des Urhebers zukommen zu lassen. Ich
halte dies für richtig. Anders als bei gegenständlichen
Vermögenswerten wie zum Beispiel Immobilien kann
ein Urheber ohne gesetzliche Schutzfristen nichts an
seine Nachkommen weitergeben. Wir wollen aber ge-
rade Anreize setzen, damit Menschen Zeit und Kraft in
die Entwicklung und die Umsetzung von Ideen und
kreativen Leistungen stecken. Nur so können wir die
kulturelle Vielfalt in Deutschland und Europa erhalten.

Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf gemeinsam
mit meiner Fraktion zu unterstützen.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723740200

Ich bekomme immer einen Schweißausbruch, wenn

ich auf der Tagesordnung dieses Hauses das Wort
„Urheberrecht“ entdecke, weil ich dann weiß: Jetzt
kommt wieder ein Versuch, die Rechte der Medienin-
dustrie zu stärken, entweder zulasten der Urheberin-
nen und Urheber oder zulasten der Rezipientinnen und
Rezipienten. So auch diesmal. Sie wollen die Fristen
der Leistungsschutzrechte von ausübenden Künstlern
und Tonträgerherstellern verlängern. Ausübende
Künstler, also die Interpreten der Lieder, sollen nicht
hinnehmen müssen, dass noch zu ihren Lebzeiten ihre
Aufnahmen gemeinfrei werden, sodass sie nichts mehr
daran verdienen. So argumentieren die Befürworter
dieses Gesetzentwurfs.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


Sie kennen wahrscheinlich den Song „Twist and
Shout“, der durch die Beatles bekannt wurde. Dieser
Song wurde ursprünglich von Phil Medley und Bert
Russell für die Gruppe Top Notes geschrieben, also
nicht von John Lennon und Paul McCartney. Die Beat-
les besitzen an diesem Song keine Urheberrechte, aber
sie sind damit reich geworden. Warum? Nun, weil sie
den Song nachgespielt haben und als Interpreten Leis-
tungsschutzrechte an der Aufnahme besitzen. Ebenso
wie ihre Plattenfirma, nämlich als sogenannter Ton-
trägerhersteller.

Die Aufnahme der Beatles wurde erstmals am
2. März 1964 in den USA veröffentlicht. Sie wäre nach
dem alten Recht nur noch bis zum 31. Dezember 2015
geschützt gewesen, jedenfalls in Europa; denn in den
USA beträgt die Schutzfrist ohnehin 95 Jahre. Mit der
Verlängerung der Leistungsschutzrechte von 50 auf
70 Jahre wird sie nunmehr auch in Europa bis 2035
geschützt sein.

Cui bono? Die meisten ausübenden Künstler verdie-
nen an ihren Leistungsschutzrechten ziemlich wenig.
Universal, Sony und Warner Music streichen bis zu
72 Prozent der Einnahmen aus verwandten Schutz-
rechten ein. Das erfolgreichste Fünftel der Künstler
erhält weitere 24 Prozent. Die verbleibenden 4 Prozent
kommen bei 80 Prozent der ausübenden Künstler an.
Diese Zahlen können Sie einer Studie entnehmen, die
unter Federführung des Centre for Intellectual
Property Policy & Management an der Bournemouth
University entstanden ist.

Die Rechte an den Beatles-Songs liegen heute zum
großen Teil bei Sony/ATV, einem Joint Venture von
Sony mit dem Jackson Estate, der das Erbe von
Michael Jackson verwaltet. Anscheinend gilt das auch
für „Twist and Shout“, obwohl ich Ihnen das nicht mit
Sicherheit sagen kann, da ich die Verträge natürlich
nicht kenne. Aber etwas anderes kann ich Ihnen mit
Sicherheit sagen: dass weder Sony noch die Beatles
am Hungertuche nagen. Die Rechte an Beatles-
Aufnahmen werden heute etwa auf das 500 000-Fache
der ursprünglichen Wertsumme geschätzt.

Wenn Sie Kreative schützen wollen, indem Sie das
Schutzniveau immer weiter hinaufsetzen, dann sind Sie
auf dem Holzweg. Schutzfristen zu verlängern oder
den Schutzumfang zu erweitern, ihn auf immer kleinere
Elemente auszudehnen, auf einzelne Wörter oder
Soundschnipsel – all das bringt nichts außer gesell-
schaftlichen Kollateralschäden. Sorgen Sie stattdessen
lieber dafür, dass von dem Geld, das mit Urheber- und
Leistungsschutzrechten verdient wird, mehr dort an-
kommt, wo es dringend benötigt wird! Nämlich nicht
bei den großen Stars und Unternehmen, sondern bei
den vielen unbekannten Urhebern und Künstlern, die
von ihrer Arbeit tatsächlich kaum leben können. Stär-
ken Sie nicht die Major Labels, stärken Sie die Rechte
der Kreativen im Urhebervertragsrecht!


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723740300

Die Geschichte des Urheberrechts ist auch eine Ge-

schichte fortwährender Schutzfristverlängerungen.
Die Reformen des Urheberrechts der letzten Jahr-
zehnte haben gleich mehrfach zu einer Verlängerung
der Schutzfristen geführt. So betrug die Regelschutz-
frist urheberrechtlich geschützter Werke Anfang des
letzten Jahrhunderts noch 30 Jahre – heute sollen mit
diesem Gesetzentwurf sogar die Schutzfristen der ton-
trägerherstellenden Leistungsschutzberechtigten auf
nunmehr 70 Jahre angehoben werden.

Argumentiert wird bei der wiederholten Verlänge-
rung der Schutzfristen von Urhebern und Leistungs-
schutzberechtigten häufig mit der gesteigerten Lebens-
erwartung, bei Schutzfristverlängerungen post mortem
mit dem Urheberpersönlichkeitsrecht oder mit der Ver-
gleichbarkeit zum Sacheigentum, bei der heute anste-
henden Verlängerung mit einer angeblich nötigen Har-
monisierung. Schutzfristen haben zwar einerseits für
die Mitglieder der Familie des Urhebers die Funktion
einer sozialen Absicherung und bilden oft den Haupt-
inhalt des Erbes, das grundsätzlich unter gesetzlichem
Schutz steht; andererseits schwindet nach dem Tod der
personale Bezug zwischen dem Urheber und seinem
Werk, weshalb besonders Fristverlängerungen post
mortem problematisch sind.

Tatsächlich hat die Verlängerung der Schutzfrist für
Leistungsschutzberechtigte, die wir heute diskutieren,
deutlich weniger mit der Stärkung der im Musikbe-
reich tätigen Künstlerinnen und Künstler zu tun, als
die Koalition den Anschein zu wecken versucht. Viel-
mehr ist sie das Ergebnis konsequenter Lobbyarbeit
der Major Labels auf nationaler, supra- und interna-
tionaler Ebene. Sie mündete in der Richtlinie 2011/77/EU
vom 27. September 2011, welche die Schutzdauerricht-
linie 2006/116/EG ändert und von den Mitgliedstaaten
eine entsprechende Anpassung nationalen Urheber-
rechts fordert.

So werden mit dem heute vorliegenden Umsetzungs-
gesetz auch und insbesondere die Schutzfristen für
leistungsschutzberechtigte Tonträgerhersteller von
50 auf 70 Jahre ab Erstveröffentlichung verlängert.
Hier zeigt sich mehr als deutlich, dass der Vergleich
mit dem Sacheigentum oder dem Urheberpersönlich-
keitsrecht hinkt – geht doch die Richtlinie auf Initiati-
ven derjenigen zurück, die die Pressrechte an Tonträ-
gern von Beatles-Liedern halten und daraus noch
einige Jahre mehr Gewinn erzielen möchten.

Wir müssen bedenken, dass alle Schutzfristverlän-
gerungen der Gemeinfreiheit neue Grenzen setzen, ob-
wohl die Gemeinfreiheit in Wissensgesellschaften von
integraler Bedeutung ist. Schließlich wird die Durch-
setzung der Urheberrechte in der Zeit einer fortschrei-
tenden Digitalisierung und Globalisierung immer
schwieriger und kollidiert mit datenschutzrechtlichen
sowie bürgerrechtlichen Vorgaben. Auch geistige
Werke der Literatur und der Musik gehören, mit glei-
chem Anspruch auf Achtung, zum geistigen Erbe von
Kultur- und Sprachgemeinschaften, ohne dass einzelne

Zu Protokoll gegebene Reden





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


Rechteinhaber dies reglementieren oder lizensieren
dürften. Die Welt der Kultur sähe arm aus, wenn Werke
von Goethe oder Mozart nicht der Allgemeinheit gehö-
ren würden, wenn sie nicht gemeinfrei wären.

Wir Grünen werden uns daher auch weiterhin auf
europäischer und internationaler Ebene dafür einset-
zen, dass es zu einer Kehrtwende im Bereich der
Schutzfristen kommt, um bei gleichzeitiger Stärkung
der Urheberinnen und Urheber gegenüber den Ver-
wertern mehr Raum für Kreativität und Gemeinsinn zu
schaffen und zu verhindern, dass Gesetze lediglich zu-
gunsten der großen Plattenfirmen gemacht werden.

Immerhin wird den Urhebern als Ausgleich für die
Schutzfristverlängerung eine Beteiligung an den Erlö-
sen und ein Kündigungsrecht zugestanden, wenn der
Tonträgerhersteller es unterlässt, Kopien des Tonträ-
gers in ausreichender Menge zum Verkauf anzubieten.

Meine Bedenken bezüglich der Ausgestaltung des
Kündigungsrechts von Künstlergemeinschaften, wel-
che ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzent-
wurfs geäußert habe, wurden aufgenommen und sind
in einen Änderungsantrag der Regierungskoalitionen
eingeflossen. So ist sichergestellt, dass das Kündi-
gungsrecht beispielsweise von Orchestermitgliedern
50 Jahre nach der Aufnahme nicht faktisch leerläuft.

Wenn wir heute über den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung diskutieren, so dürfen wir nicht lediglich
als Urheberrechtler, sondern müssen auch als Euro-
päer diskutieren. Die EU-Richtlinie, die diesem
Gesetzentwurf zugrunde liegt, lässt keinerlei Um-
setzungsspielraum zu. Sie fordert klar und ohne Inter-
pretationsmöglichkeit, die Zahl 50 durch die Zahl 70
auszutauschen. Europarechtlich ist dies ein gewollter
und aus den europäischen Verträgen resultierender
Vorgang der fortschreitenden Vereinheitlichung in der
Europäischen Union.

So müssen wir als Europäer auch zur Kenntnis neh-
men, dass sich der Umsetzungsauftrag dieser Richtli-
nie eben nicht lediglich an die Bundesregierung oder
nur an die sie tragende Koalition, sondern an das ge-
samte Parlament richtet. Dieser europäischen Verant-
wortung können und wollen wir Grüne uns nicht ent-
ziehen. Deshalb werden wir als Europäer heute diesem
Gesetz zustimmen, auch wenn wir uns als Urheber-
rechtler deutlich gegen Schutzfristverlängerungen
aussprechen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723740400

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/13270, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12013 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition und der Grünen

gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor an-
genommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenk-
tag werden

– Drucksachen 17/585, 17/12908 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland

Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesord-
nung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Manfred Behrens (CDU):
Rede ID: ID1723740500

Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der

Fraktion Die Linke. Die Fraktion Die Linke fordert in
ihrem Antrag, dass der Tag der Befreiung ein gesetzli-
cher Feiertag werden muss.

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehr-
macht bedingungslos. Mit der Unterzeichnung der be-
dingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht
wurde der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet.

In den Folgejahren wurden zuerst Besatzungszonen
gebildet, und wenig später, nämlich im Jahr 1949, ent-
standen zwei deutsche Staaten. Mit der Bildung der
zwei Staaten ging die Etablierung unterschiedlicher
Lebensformen sowie persönlicher Entwicklungen und
Erfahrungen einher. Für den Zeitraum der Teilung
Deutschlands war ein gemeinsamer Feier- oder Ge-
denktag praktisch unmöglich.

Unbestritten ist der 8. Mai in zahlreichen Ländern
Europas ein Gedenktag. Dabei wird in erster Linie an
die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehr-
macht und damit einhergehend an das Ende des Zwei-
ten Weltkriegs in Europa erinnert. Auch in der Bundes-
republik Deutschland wird Jahr für Jahr an den 8. Mai
erinnert. Zweifelsfrei ist dies ein Tag der Mahnung,
dass Antisemitismus und Rassismus keinen Platz in un-
serer Gesellschaft haben dürfen.

In der Bundesrepublik Deutschland war der 8. Mai
1945 seit der Staatsgründung 1949 zu keinem Zeit-
punkt ein Feiertag. In der ehemaligen DDR wurde der





Manfred Behrens (Börde)



(A) (C)



(D)(B)


8. Mai bis 1966 und einmalig im Jahre 1985 als Feier-
tag begangen.

Mit dem vorliegenden Antrag verfolgt die Fraktion
Die Linke das Ziel, den früheren Gedenktag in der ehe-
maligen DDR wieder einzuführen. Aber dies ist unter
mehreren Aspekten nicht plausibel und politisch damit
nicht zu vertreten. Denn der 8. Mai 1945 war für viele
Deutsche auf dem Gebiet der späteren DDR nur be-
dingt ein Tag der Freiheit. Denn die Gefängnisse, wel-
che bis 1945 mit Opfern des Nationalsozialismus be-
legt waren, wurden später mit Kritikern des DDR-
Regimes gefüllt. Von daher ist es eine berechtigte
Frage, ob der 8. Mai für alle Deutschen als Tag der
Befreiung zählen kann.

Die CDU/CSU-Bundesfraktion hat in der Beschluss-
empfehlung und im Bericht des Innenausschusses ge-
gen den Antrag der Fraktion Die Linke gestimmt. Die
CDU/CSU sieht keine Notwendigkeit für einen neuen
und damit weiteren gesetzlichen Feiertag in der Bun-
desrepublik Deutschland. Insbesondere vor der histo-
rischen Teilung der deutschen Staaten und der Tatsa-
che, dass die Bewohner der ehemaligen DDR erst ab
1989 die Chance erhielten, eine Demokratie aufzu-
bauen, erscheint der Antrag nicht schlüssig.

Final bleibt damit festzuhalten, dass die CDU/CSU-
Bundesfraktion den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Bundestagsdrucksache 17/585 ablehnt.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1723740600

Der 8. Mai 1945 war der Tag, der die nationalsozia-

listische Schreckensherrschaft beendet hat, ein Tag,
der eine Wende für Deutschland bedeutete.

Leider führte das Ende der Zeit der Nationalsozia-
listen und das Ende des Zweiten Weltkrieges auch
dazu, dass Deutschland geteilt wurde. Diese Trennung
konnte zum Glück mit der Wiedervereinigung beendet
werden.

Ganz Deutschland ist heute ein angesehenes, souve-
ränes, demokratisches und rechtsstaatliches Land. Es
wird respektiert in der ganzen Welt.

Der 8. Mai hat für Deutschland zwei Bedeutungen:
Zum einen ist der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung
von einer menschenverachtenden Gewaltherrschaft
der Nationalsozialisten; zum anderen ist der 8. Mai
1949 der Tag, an dem der Parlamentarische Rat unser
Grundgesetz, unsere demokratische, auf den Men-
schenrechten basierende Verfassung, beschlossen hat.

Seit 1996 ist der 27. Januar gesetzlicher Gedenktag.
Es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Natio-
nalsozialismus; denn 1945 wurde an diesem Tag das
Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Seit
2005 ist dieser Tag auch Internationaler Tag des Ge-
denkens an die Opfer des Holocaust.

Der Deutsche Bundestag erinnert jährlich in einer
Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus;
rund um dieses Datum finden zahlreiche Veranstaltun-
gen statt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Und nun wollen Sie von der Linksfraktion, dass der
8. Mai auch ein gesetzlicher Gedenktag wird. Doch ich
meine, wir brauchen keinen weiteren Gedenktag; wir
brauchen ein lebendiges Gedenken, und das nicht nur
an einem Tag mit besonderer historischer Bedeutung,
sondern an jedem Tag.

Sie schreiben in der Begründung Ihres Antrags,
dass es in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr gäbe
und deshalb ein solcher Gedenktag für die gesell-
schaftspoltische Diskussion wichtig sei. Das sehen wir
anders.

Zeitzeugen spielen immer noch eine wichtige Rolle
bei der Vermittlung der nationalsozialistischen Ver-
gangenheit unseres Landes. Doch brauchen wir keinen
weiteren Gedenktag, sondern zusätzliche und neue
Formen, um junge Menschen über diese dunkelste Zeit
der deutschen Vergangenheit zu informieren und über
die Gefahren des Nationalsozialismus und Rechts-
extremismus aufzuklären.

Richard von Weizsäcker hat in seiner beeindrucken-
den Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundes-
tag angemahnt, die Erinnerung wachzuhalten: „Wer
sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der
wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Das müssen und werden wir mit allen Mitteln zu
verhindern suchen.

Wolfgang Thierse erklärte als damaliger Bundes-
tagspräsident zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945:
„Die Bewahrung der Erinnerung und das Gedenken
an die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg – sie
verpflichten uns zur Verteidigung der Demokratie
heute und zu aktiver Friedenspolitik heute.“

Leider gibt es immer noch Menschen in unserem
Land, die die Verbrechen der Vergangenheit leugnen,
die NS-Schreckensherrschaft glorifizieren, menschen-
verachtende Ideologien vertreten und für sie kämpfen,
sich von rechtsextremem Gedankengut anstecken las-
sen.

Das wissen wir nicht erst seit dem Aufdecken der
NSU-Morde. Seit 1990 gab es nach Recherchen von
„Mut gegen rechte Gewalt“ und der Amadeu-Antonio-
Stiftung 183 Morde mit rechtsextremem und rassis-
tischem Hintergrund; eine höhere Dunkelziffer ist zu
befürchten. Die Zahl der rechtsextremen Straftaten ist
in 2012 um 4 Prozent auf 17 600 Fälle gestiegen.

Unsere Aufgabe als Politik, Staat und Gesellschaft
ist es, die Erinnerung wachzuhalten. Das ist aber nur
das eine. Wir müssen auch aktiv gegen rechtsextremes,
rassistisches, antisemitisches und fremdenfeindliches
Gedankengut vorgehen.

Wir müssen die Menschen ermutigen, für unsere De-
mokratie einzustehen, für sie zu kämpfen. Ohne gesell-
schaftliches Engagement werden wir nichts erreichen
können. Und wir als Politikerinnen und Politiker, wir
müssen die Hürden für Engagement gegen Rechts und
gegen die Verherrlichung der NS-Zeit senken.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


Die seit 2001 von den jeweiligen Bundesregierun-
gen durchgeführten Modellprojekte gegen Rechts-
extremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlich-
keit haben schon einiges erreicht. Doch mit befristeten
Modellprojekten allein kommen wir nicht weiter. Wir
brauchen eine langfristige Förderung von erfolgrei-
chen Projekten, die Streichung der Extremismusklau-
sel und die Möglichkeit, auch ohne Kofinanzierung
durch Länder und Kommunen Projekte zu finanzieren.
Wir müssen das Bewusstsein und die Sensibilität hin-
sichtlich des Rechtsextremismus und seiner Gefahren
für Vertreter aller Bereiche des öffentlichen Lebens
stärken.

Die Erinnerung, die Aufklärung und das aktive
Handeln können ein Wiedererstarken des Rechtsextre-
mismus verhindern. Ein gesetzlicher Gedenktag ist zu
wenig. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linksfrak-
tion ab.

Schließen möchte ich mit Worten von Richard von
Weizsäcker: „Es gibt keine endgültig errungene mora-
lische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land!
Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Men-
schen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdun-
gen immer von neuem zu überwinden.“


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1723740700

Die erste Debatte im Mai 2010 zum heute ab-

schließend zu beratenden Antrag der Linksfraktion de-
monstrierte eindrücklich, wie vielschichtig der 8. Mai
1945 in der deutschen Erinnerungskultur diskutiert
wird und auch betrachtet werden sollte. Abgeordnete
berichteten zum Teil sehr persönliche Erinnerungen
und Eindrücke.

Dr. Lukrezia Jochimsen von der Linksfraktion schil-
derte beeindruckend, wie sie das Kriegsende an die-
sem Tag als neunjähriges Kind in einem Tagebuchein-
trag als „schweren Tag für alle Deutschen“ bezeichnet
hatte. Sie beschrieb ihre Überraschung später in der
Rückschau, dass Ängste vor Rache oder Vergeltung,
die vielleicht aus diesem Tagebucheintrag gesprochen
hatten, für sie unbegründet blieben. Sie sagte: „Fast
ungläubig stellten wir von nun an von Jahr zu Jahr an
jedem 8. Mai fest, wie gut mit uns umgegangen wurde,
wie schonend, wie auf die Zukunft setzend.“ Sie erlebte
des Kriegsende in Westdeutschland, in Frankfurt am
Main.

Joachim Selle von der CDU/CSU-Fraktion be-
schrieb aus eigener Erfahrung, mit welch verzerrter
Wahrnehmung dieser Tag in der DDR begangen
wurde. In der DDR wurde am 8. Mai, dem dort soge-
nannten Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom
Hitlerfaschismus, nicht der Beitrag aller Alliierten zur
Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherr-
schaft gewürdigt. Es wurde nicht berücksichtigt, dass
Stalin zwar entscheidend zum militärischen Sieg über
den Nationalsozialismus beigetragen hatte, wie der
Historiker Hubertus Knabe feststellt, diesen Sieg aber
zur Errichtung einer neuen Diktatur nutzte, die viele
Millionen Opfer forderte. Dieser Teil der Geschichte

wurde in der DDR ausgespart. Stattdessen erging sich
die SED-Einheitspartei in Glorifizierungen der
Sowjetunion und der Roten Armee und nutzte den anti-
faschistischen Gründungsmythos zur Befestigung ihrer
Diktatur. Für 16 Millionen Ostdeutsche kam der demo-
kratische Wiederaufbau erst ab 1989.

Richard von Weizsäcker definierte in seiner bemer-
kenswerten Rede vor dem Deutschen Bundestag zum
40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 den
8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung von dem men-
schenverachtenden System der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft“ für alle Deutschen, für West- wie
für Ostdeutschland und darüber hinaus. Er stellte
auch fest, dass wir im Ende des Krieges nicht die Ur-
sache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen
dürfen, sondern sie in seinem Anfang sehen müssen.
Daran gibt es keinen Zweifel.

Dennoch müssen wir den Tag der Befreiung in sei-
ner Bedeutung für West- und Ostdeutschland vor dem
Hintergrund der unterschiedlichen Geschichte der bei-
den Teile Deutschlands differenziert betrachten. Vor
diesem Hintergrund ist der 8. Mai nicht als gesetzli-
cher, staatlich verordneter Gedenktag geeignet. Das
ändert nichts an der wichtigen Bedeutung dieses Ta-
ges.

Seit der ersten Beratung des Antrags der Linksfrak-
tion im Plenum vor etwa zwei Jahren hat sich unsere
Haltung nicht geändert: Wir Liberale halten die staat-
liche Verordnung eines Gedenktages am 8. Mai nicht
für den richtigen Weg, mit diesem geschichtsträchtigen
Datum umzugehen. Eine lebendige und aktive Erinne-
rungspolitik aus der Mitte der Gesellschaft, wie sie in
vielen gesellschaftlichen Initiativen in jedem Jahr und
nicht nur am 8. Mai zum Ausdruck kommt, ist uns
wichtiger. In unserer Gesellschaft möchten wir die
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit
und mit dem schweren Erbe fördern, das der National-
sozialismus uns hinterlassen hat. Dieser Verantwor-
tung müssen wir uns täglich neu stellen, ob im Wider-
stand gegen den Rechtsextremismus in unserer
Gesellschaft oder bei der bedingungslosen Aufklärung
der grauenhaften Gewalttaten durch die NSU-Terror-
zelle, an der alle Fraktionen des Deutschen Bundesta-
ges im NSU-Untersuchungsausschuss gemeinsam ar-
beiten.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723740800

Bundeskanzlerin Merkel ist in vielen europäischen

Ländern, die unter dem deutschen Spardiktat leiden, zu
einer Hassfigur geworden. Die bittere Medizin, die die
Kanzlerin den Krisenländern verabreicht, hat die Lage
in fast allen Ländern dramatisch verschlechtert. Den
reichen Gläubigern, die in der Regel in Deutschland
leben, wird geholfen, die Schuldner werden ihrem
Schicksal überlassen. Zum Beispiel bekam Portugal
28 Milliarden Euro im vergangenen Jahr an „Hilfsgel-
dern“. Davon flossen 0,8 Milliarden Euro in den por-
tugiesischen Staatshaushalt, und 27,2 Milliarden Euro
flossen an die Gläubiger.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)


Mit großer Härte und Hochmut wird eine zerstöreri-
sche Politik von der Bundesregierung halsstarrig fort-
gesetzt. Auf Demonstrationen in Spanien, Portugal,
Griechenland, Zypern und Italien wird gegen die de-
saströse Kürzungspolitik demonstriert. Auf Plakaten
wird das Gesicht von Frau Merkel mit Hitler-Bärtchen
verunstaltet. Darüber kann man sich empören, man
muss aber auch darüber nachdenken.

Wir machen uns große Sorgen, dass die Bundes-
regierung den guten Ruf unseres Landes vollständig
verspielt und Deutschland in Europa und darüber hi-
naus isoliert. Wir brauchen einen Bruch mit dieser
Politik. Die Kanzlerin darf nicht länger die selbstherr-
liche Oberlehrerin geben.

Doch die grundsätzliche Änderung der Politik al-
lein reicht noch nicht aus, um den angeschlagenen Ruf
Deutschlands wiederherzustellen. Es bedarf einer
deutschen Geste der Dankbarkeit gegenüber unseren
europäischen Nachbarn. Jetzt wäre es an der Zeit, ein
deutliches Zeichen zu setzen. Wenn Deutschland zei-
gen würde, dass es die weltweite Hilfe zur restlosen
Zerschlagung des schlimmsten Terrorregimes in der
Geschichte der Menschheit, des Faschismus, als eine
Befreiung begreift, dann würde das auch als ein Akt
der Demut verstanden werden.

Die Linke hatte 2010 den Vorschlag gemacht, dem
Beispiel der SPD-Linke-Regierung in Mecklenburg-
Vorpommern zu folgen und den Tag der Befreiung zu
einem gesetzlichen Gedenktag zu machen. Unser Vor-
schlag wurde im Innenausschuss des Bundestages von
allen anderen Parteien abgelehnt. Bemerkenswert ist,
dass die Vertreter von SPD und Grünen im Kulturaus-
schuss sich der Stimme enthalten haben. Das ändert
leider auch nichts an dem Ergebnis.

Die Bundesregierung will keinen gesetzlichen Ge-
denktag zum Tag der Befreiung. Für sie ist das Ende
des 2. Weltkrieges immer noch nur eine Niederlage.

Wir könnten am Tag der Befreiung unsere Dankbar-
keit gegenüber Menschen und Völkern äußern, die uns
damals befreit haben.

Die Bundesregierung vermittelt den Eindruck, als
ob Deutschland aus eigener Kraft den Wohlstand er-
reicht hätte. Ohne die Befreiung vom Faschismus
könnten wir heute nicht unsere Freiheit genießen.
Ohne die Hilfe nach dem 2. Weltkrieg hätten wir jetzt
nicht den Wohlstand für zumindest zwei Drittel der Ge-
sellschaft.

Es ist ja nicht nur das Verhältnis Deutschlands zu
den EU-Ländern zerrüttet, auch das Verhältnis zwi-
schen Russland und Deutschland ist auf einem Tief-
punkt. Die Sowjetunion hat ohne Frage den größten
Beitrag zur Zerschlagung des Faschismus geleistet.
Diese Leistung wurde von der Bundesregierung nie
anerkannt.

Mit dem Tag der Befreiung als gesetzlichem Ge-
denktag könnten wir einen Neuanfang in den Bezie-

hungen zwischen Deutschland und Russland einleiten.
Doch das ist von der Bundesregierung nicht gewollt.

Wir als Die Linke werden am 8. Mai 2013, wie jedes
Jahr, mit vielen Menschen den Tag der Befreiung fei-
ern. Wir werden der Menschen gedenken, die ihr Le-
ben gegeben haben, damit wir heute in Freiheit leben
können.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723740900

Dieser Antrag, in all seiner Kürze, ist ein ganz klas-

sisches Produkt aus der Geschichtswerkstatt der
Linkspartei: formal ziemlich unsinnig, geschichtspoli-
tisch einseitig und in der Botschaft deswegen höchst
fragwürdig.

Das Formale mal vorweg: Dass die Linkspartei im-
mer beantragt, dass der Bundestag als Legislative
doch die Bundesregierung als Exekutive ersuchen
möge, einen Gesetzentwurf vorzulegen, daran haben
wir uns gewöhnt. Das kann man ja noch rechtfertigen,
wenn es um ein kompliziertes Artikelgesetz geht, da
kann man ja sagen: Das kann eine Oppositionspartei
kaum stemmen, dazu braucht es den Regierungsappa-
rat. Das kann man aber bei der Komplexität dieses An-
trags wohl kaum ins Feld führen.

Aber offenbar überfordert auch die Ausrufung eines
Gedenktages die Geschäftsordnungskenntnisse der
Antragsteller. Denn sie könnten schon wissen, dass es
der Bundespräsident ist, der einen Gedenktag prokla-
miert, da braucht es kein Gesetz. Das könnten Sie ganz
besonders deshalb wissen, weil die Fraktion Die Linke
kürzlich auch die Initiative für einen Gedenktag
18. März unterstützt hat, der war nämlich formal – in-
haltlich natürlich auch – richtig.

Sei es, wie es sei, für uns macht sich die Ablehnung
Ihres Antrags an seinem Inhalt und seiner Begründung
fest, nicht an diesen formalen Skurrilitäten.

Klar ist: Unsere Ablehnung hat nichts damit zu tun,
dass wir nicht auch der Meinung wären, dass der
8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Diese richtige
Bewertung des endgültigen Endes des Naziregimes hat
der damalige Bundespräsident von Weizsäcker 1985 in
seiner beeindruckenden Rede in eindrucksvoller Weise
getroffen und hat damit das gesellschaftliche Selbst-
verständnis in unserem Land verändert. Was bis dahin
viele dachten, was aber die Ewiggestrigen nicht wahr-
haben und nicht laut ausgesprochen haben wollten,
wurde so zum breit getragenen Konsens.

Und das ist eben das Problem mit Ihrem Antrag: Sie
tun so, als habe es das alles nicht gegeben! Als seien
nicht in der Bundesrepublik lange und erfolgreiche
Kämpfe um die Deutung des Nazisregimes geführt
worden, an deren Ende nun wirklich jeder sagt: Das
war ein menschenverachtendes System des Völkermor-
des, sein Untergang war eine Befreiung.

Sie stellen es in Ihrer Begründung so hin, als sei das
alles umstritten, als würde die ganze Gesellschaft
– und nicht nur eine Handvoll Ewiggestrige – den

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


8. Mai immer noch als Niederlage bewerten. Die De-
batten, die Sie angeblich auslösen wollen, die werden
aktiv geführt. Und die hochbetagten Zeitzeugen ins
Feld zu führen, ist nun auch ganz billig. Gerade das
Gedenken, das sie verkörpern, das Gedenken an das
Mordsystem Nationalsozialismus, das ist zu Recht mit
dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar verbunden.
An diesem Tag geht es um die Opfer des NS-Regimes,
um die Menschen, die unter dem System gelitten haben
und in seinen Lagern ermordet wurden. Das ist der
richtige Tag, um die historische Lektion des National-
sozialismus in Erinnerung zu behalten.

Sie unterstellen etwas, das nicht zutrifft, und fordern
dann im hohen Ton des historischen Rechthabens ganz
dringend eine Korrektur. Das ist die Attitüde dieses
Antrags, das wird aber der Sache nicht gerecht, das ist
nur selbstgerecht!

Und es kommt noch schlimmer, es gibt noch eine
ganz andere Dimension dieser Frage in der Linkspar-
tei – darauf hat mich der Kollege Bartsch kürzlich in
der Debatte über die Aufarbeitung des SED-Unrechts
wieder gestoßen –; Sie verbinden mit dem 8. Mai ganz
offenbar auch, dass er in der DDR als Tag der Befrei-
ung begangen wurde. Und auch darauf kochen Sie Ihr
Süppchen.

Den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begehen, war
zwar richtig. Aber Ihnen dient diese Tatsache als Fas-
sade, hinter der Sie verbergen können, dass in der
DDR ein System der Unterdrückung und Entrechtung
wirkte, das Sie und Ihre Altvorderen zu verantworten
haben. Es spricht Bände über Ihr Selbstverständnis
und Ihr Geschichtsbild, dass Sie auf der einen Seite ei-
nen unreflektierten, ja reaktionären Umgang mit der
Geschichte in der Bundesrepublik unterstellen und
Jahrzehnte der Debatte nicht zur Kenntnis nehmen
wollen. Auf der anderen Seite nehmen Sie den allzu oft
nur oberflächlich wirksamen, staatlich verordneten
Antifaschismus in der DDR für bare Münze und wollen
sich selbst damit entlasten. Als hätte das verordnete,
verquaste, marxistische Geschichtsbild der SED ir-
gendetwas mit der Beschreibung der Realität zu tun!

Natürlich gab es in der DDR unzählige Naziopfer
und Antifaschisten, die mit dem neuen Staat eine Über-
windung von Entrechtung und Gewalt erkämpfen woll-
ten, das ist unbestritten. Aber Sie missbrauchen diese
Menschen, wenn gerade Sie als Nachfolger der SED so
tun, als habe das von Ihren Vorgängern betriebene Un-
terdrückungssystem irgendetwas mit solchem Idealis-
mus zu tun gehabt!


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723741000

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12908, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/585 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-

fehlung ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stim-
men der übrigen Fraktionen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Handelsgesetz-
buchs

– Drucksache 17/13221 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Stephan Harbarth (CDU):
Rede ID: ID1723741100

Mit dem Gesetz zur Änderung des Handelsgesetzbu-

ches wird ein wichtiger Gesetzentwurf im Interesse
kleiner Unternehmen und kleiner Unternehmer vorge-
legt. Dies ist eine gute Nachricht. Mit dem Änderungs-
gesetz zum Gesetz über elektronische Handelsregister
und Genossenschaftsregister sowie das Unterneh-
mensregister werden wir entbürokratisieren und die
Verfahrensabläufe bei der Offenlegung von Rech-
nungslegungsunterlagen erleichtern.

Der Deutsche Bundestag hat 2006 ein Gesetz über
elektronische Handelsregister und Genossenschaftsre-
gister sowie das Unternehmensregister, das EHUG, be-
schlossen, das grundlegende Änderungen des Verfah-
rens zur Durchsetzung der Pflichten insbesondere der
Kapitalgesellschaften zur Offenlegung ihrer Rech-
nungsunterlagen mit sich brachte. Durch das EHUG
wurde das Bundesamt für Justiz mit der Durchsetzung
der Offenlegungspflichten betraut. Seit Inkrafttreten
des EHUG können wir feststellen, dass über 90 Pro-
zent der betroffenen über 1,1 Millionen Kapitalgesell-
schaften ihre Rechnungslegungsunterlagen rechtzeitig
offenlegen.

Nachdem inzwischen fünf Jahre seit Einführung des
EHUG verstrichen sind, hat der Deutsche Bundestag
in seiner Entschließung vom 29. November 2012

(Drucksache 17/11702) festgestellt, dass etwaiger Än-

derungsbedarf an dem seit 2006 geltenden Ordnungs-
geldverfahren zu prüfen war. Änderungsbedarf hat der
Deutsche Bundestag nunmehr in drei Bereichen festge-
stellt.

Erstens sollten die Mindestordnungsgelder für
Kleinstkapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesell-
schaften deutlich gesenkt werden, wenn diese Unter-
nehmen am Verfahren der Offenlegung ihrer Rech-
nungsunterlagen mitwirken. Nach derzeit geltendem
Recht beträgt das Mindestordnungsgeld unabhängig
von der Unternehmensgröße stets 2 500 Euro. Nach
dem Gesetzentwurf soll das Mindestordnungsgeld für
Kleinstkapitalgesellschaften auf 500 Euro gesenkt
werden.





Dr. Stephan Harbarth


(A) (C)



(D)(B)


Zweitens werden Fragen zum Verschulden und der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geregelt. Damit
können unbillige Härten durch knappe Fristen aufge-
fangen werden. Das Instrument der Wiedereinsetzung
würde dem Bundesamt die Möglichkeit geben, den Be-
sonderheiten des Einzelfalles besser als bisher gerecht
zu werden.

Drittens sollte ein Verfahren geschaffen werden, um
eine einheitliche Rechtsprechung in Ordnungsgeldver-
fahren zu erreichen. Zwar sieht das EHUG jetzt schon
vor, dass nur das für den Sitz des Bundesamtes für Jus-
tiz zuständige Landgericht Bonn über Beschwerden
gegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamtes
zu entscheiden hat. Die große Zahl der Verfahren und
die Befassung mehrerer Kammern des Landgerichts
hat in den vergangenen Jahren jedoch in wichtigen
Einzelfragen zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung
geführt. Ziel ist es, ein Verfahren zu schaffen, durch
das beispielsweise bei einer Divergenz zwischen ein-
zelnen Kammern eine einheitliche Entscheidung er-
reicht wird. Das hilft betroffenen Unternehmen, damit
sie sich auf eine möglichst einheitliche Rechtspre-
chung verlassen können.

Es freut mich sehr, dass die Änderungen zu einer
spürbaren Verbesserung der Rechtslage im Bereich
der kleinen Unternehmen führen werden. Ich bin da-
von überzeugt, dass dies ein richtiger Schritt ist, und
freue mich auf die parlamentarischen Beratungen.


Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1723741200

Alle Kapitalgesellschaften und Personenhandelsge-

sellschaften ohne haftende natürliche Person, GmbH
und Co KG, müssen ihren kaufmännischen Jahresab-
schluss im elektronischen Bundesanzeiger offenlegen
oder mindestens dort hinterlegen. 90 Prozent der Un-
ternehmen kommen diesen Pflichten reibungslos nach.
In den letzten Jahren gab es öfter Verdruss, wenn
kleine Unternehmen gegen diese Pflicht verstoßen
haben. Das Bundesamt für Justiz musste dann nach
§ 335 HGB ein Ordnungsgeldverfahren durchführen.
Das Ordnungsgeld beträgt mindestens 2 500 Euro und
höchstens 25 000 Euro.

Bereits bei den Beratungen zum Kleinstkapitalge-
sellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz oder Micro-
BilG hatte der Bundesrat geringere Bußgeldhöhen bei
sogenannten ruhenden Gesellschaften gefordert, die
Grünen haben darüber hinaus in einem Antrag im
Deutschen Bundestag mehr Ermessen des Bundesam-
tes für Justiz gefordert. Das MicroBilG wurde zwar
ohne Rücksicht auf diese Änderungswünsche verab-
schiedet, aber die Koalitionsfraktionen haben immer-
hin die Regierung in einem Entschließungsantrag auf-
gefordert, einen Gesetzentwurf mit Erleichterungen
hinsichtlich Ordnungsgeldhöhe und Ordnungsgeldver-
fahren vorzulegen, hier insbesondere unter Berück-
sichtigung der Erforderlichkeit eines Verschuldens und
der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand bis März 2013 vorzulegen, inklusive Regelun-

gen, die eine einheitliche Rechtsprechung ermögli-
chen.

Der Gesetzentwurf setzt diesen Antrag um, aller-
dings nicht sehr großzügig: Bei Nichtverschulden gibt
es nun die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand, das ist gut. Wenn die Unternehmen
nach Androhung des Ordnungsgeldes, bei der eine
sechswöchige Frist gesetzt wird, diese zwar über-
schreiten, aber die Offenlegung nachholen, bevor das
Bundesamt weitere Schritte eingeleitet hat, beträgt das
Mindestbußgeld nur 500 Euro bei Kleinstkapital-
gesellschaften bzw. 1 000 Euro bei kleinen Kapitalge-
sellschaften.

Außerdem gibt es gegen die Beschwerdeentschei-
dung des Landgerichts nun die Möglichkeit der
Rechtsbeschwerde zum OLG – aber nur dann, wenn
das Landgericht sie zugelassen hat.

Der Gesetzentwurf geht eindeutig in die richtige
Richtung, tastet sich aber zu behutsam vor. Ich nehme
an, dass das Bundesministerium der Justiz befürchtet,
bei genereller Herabsetzung der Ordnungsgelder
– auch wenn nicht offengelegt wird – das ganze Ver-
fahren zum zahnlosen Tiger werden zu lassen. Ich kann
verstehen, wie man auf diesen Gedanken kommt, aber
ich teile die Befürchtung nicht. Wichtiger wäre es
gewesen, im Interesse einer europaweit gültigen Re-
gelung die Akzeptanz insbesondere bei den Kleinst-
kapitalgesellschaften durch ein vernünftiges Maß beim
Ordnungsgeld und einen Schwerpunkt auf nachvoll-
ziehbares Verfahren zu fördern.

Die Erleichterungen, die der Gesetzentwurf schafft,
sind zu gering. Die SPD-Bundestagsfraktion ist insbe-
sondere der Auffassung, dass die Rechtsbeschwerde
ohne Zulassung möglich sein sollte. Denn auch bei ei-
ner Verurteilung in einem normalen Bußgeldverfahren
ist die Rechtsbeschwerde ohne Zulassung schon ab ei-
nem Bußgeld von 250 Euro zulässig. Hier geht es auch
nach der Änderung um mindestens 500 Euro.

Beim Mindestbußgeld fragen wir uns, warum Sie
die 2 500 Euro nicht auch auf 1 000 Euro herabsetzen
und dem Bundesamt für Justiz bei Miniunternehmen
oder ruhenden Unternehmen mehr Spielraum geben
konnten. Wir wissen von vielen kleinen Unternehmen,
die mit der Veröffentlichungspflicht ihrer Daten ha-
dern – nicht weil sie böswillig ihrer Pflicht nicht nach-
kommen wollen, sondern weil sie schlecht informiert
sind, den Zwang der Übermittlung sensibler Unterneh-
mensdaten an ein privates Unternehmen nicht
einsehen, mit den umständlichen und wirklich nutzer-
feindlichen Verfahren zur Übermittlung der Jahres-
abschlussdaten überfordert sind oder Wettbewerbs-
nachteile durch die Veröffentlichung allzu detaillierter
sensibler Unternehmensdaten fürchten. Sie sollten mit
Ihrem Gesetzentwurf, den wir im Kern sehr begrüßen,
den politischen Spielraum ausnutzen und die Chance
wahrnehmen, diesen Unternehmen zu helfen, ihre
Offenlegung auf europaweit einheitlichem Niveau vor-
zunehmen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1723741300

Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Koali-

tionsfraktionen zur Reform des Ordnungsgeldver-
fahrens des elektronischen Handels- und Unterneh-
mensregisters. Er geht zurück auf eine Entschließung
des Deutschen Bundestages vom 29. November 2012.
Damit wollen wir das Ordnungsgeldverfahren bei Ver-
stößen gegen die handelsregisterrechtlichen Offen-
legungspflichten im Sinne kleiner und kleinster Kapi-
talgesellschaften anpassen und der Lebenswirklichkeit
des Mittelstandes weiter entgegenkommen. Insbeson-
dere wollen wir für diese Gruppe Härtefälle besser in
den Griff bekommen und das Sanktionsinstrumen-
tarium abstufen.

Der Gesetzentwurf zur Änderung des Handelsge-
setzbuches führt konsequent die Ziele des Kleinstkapi-
talgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes fort.
Kleine Unternehmen und der Mittelstand insgesamt
werden durch unsere Initiative über die Erleichterung
bei der Bilanzierung weiter entlastet – nunmehr eben
im Bereich des Ordnungsgeldverfahrens. Mit dem vor-
liegenden Koalitionsentwurf haben wir einen ausge-
wogenen Kompromiss zwischen den widerstreitenden
Interessen der Erleichterung für Unternehmen im
Ordnungsgeldverfahren sowie den bewährten Publizi-
tätserfordernissen und der Gefährdung der ausge-
zeichneten Offenlegungsquote von nunmehr 90 Pro-
zent gefunden.

Der Gesetzentwurf greift im Wesentlichen drei An-
liegen auf: Die Ordnungsgelder werden abgesenkt; es
werden die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein-
geführt und eine einheitliche Rechtsprechung durch
ein neues Rechtsmittel gegen die gerichtliche Be-
schwerdeentscheidung gefördert.

Bislang setzte das Bundesamt für Justiz Ordnungs-
gelder in Höhe von einheitlich 2 500 Euro fest. Beibe-
halten wird dies für mittelgroße und große Unterneh-
men; für kleine Kapitalgesellschaften kann künftig
jedoch maximal ein Betrag von 1 000 Euro und für
Kleinstkapitalgesellschaften sogar nur von 500 Euro
festgesetzt werden.

Um jedoch einen gleichbleibend stabilen Offen-
legungsanreiz zu schaffen, müssen die Unternehmen
am Verfahren mitwirken: kleine Kapitalgesellschaften
durch Offenlegung der Bilanz und des Anhangs und
Kleinstkapitalgesellschaften durch elektronische Hin-
terlegung ihrer Bilanz beim Bundesanzeiger. Das ist
schon deshalb notwendig, weil für die Festsetzung des
niedrigen Ordnungsgeldes Bilanzkennzahlen erforder-
lich sind, um zur Qualifizierung als kleine oder
Kleinstkapitalgesellschaft zu gelangen.

Ein Ordnungsgeld kann künftig von Gesetzes wegen
nur dann festgesetzt werden, wenn das Unternehmen
tatsächlich ein Verschulden trifft. Um unbillige Härten
zu vermeiden, kann beispielsweise der Alleingeschäfts-
führer, der an der Offenlegung durch längere Erkran-
kung gehindert war, innerhalb von zwei Wochen nach
Wegfall dieses Hindernisses Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand beantragen.

Einen entscheidenden Beitrag zu mehr Rechts-
sicherheit leistet der Gesetzentwurf mit der Einführung
eines neuen Verfahrens zur Vereinheitlichung der
Rechtsprechung im Ordnungsgeldverfahren. Künftig
soll gegen die Entscheidungen des einzig zuständigen
Landgerichts Köln das Rechtsmittel der zulassungs-
bedürftigen Rechtsbeschwerde zum OLG Köln gege-
ben sein. So können zwischen verschiedenen Kammern
divergierende Rechtsprechungen eingefangen und
grundsätzliche Fragen des Ordnungsgeldverfahrens
geklärt werden.

Mit diesem Gesetzentwurf werden wir künftig un-
billige Härten im Ordnungsgeldverfahren des elektro-
nischen Handels- und Unternehmensregisters vermeiden
und kleine Kapitalgesellschaften sowie Kleinstkapital-
gesellschaften insgesamt stärken.


Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723741400

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen die Re-

gierungsfraktionen CDU/CSU und FDP die ohnehin
schon niedrigen Mindestordnungsgelder für Kleinst-
kapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesellschaften
drastisch senken, wenn auch nur für Unternehmen, die
innerhalb von wenigen Monaten nach Fristablauf
doch noch ihre Unterlagen einreichen, Verschulden
und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regeln so-
wie die Rechtsbeschwerde im Ordnungsgeldverfahren
einführen.

Wir hatten uns bereits bei der Verabschiedung des
Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsge-
setzes am 29. November 2012 dagegen ausgesprochen,
dass bei Verstößen gegen die Offenlegungsfrist Ord-
nungsgelder verhängt werden können, die so niedrig
sind, dass sie keinen Anreiz für die Einhaltung des Ge-
setzes bieten. Bereits in meiner Rede am 29. November
2012 hatte ich darauf hingewiesen, dass Kapitalgesell-
schaften wegen der beschränkten Haftung bestimmte
Publizitätspflichten erfüllen müssen, damit sich Gläu-
biger ein Bild über die finanzielle Lage machen kön-
nen. Außerdem haben kleine Kapitalgesellschaften
sechs Monate nach dem Geschäftsjahr Zeit, den Jah-
resabschluss zu erstellen. Der dann vorliegende Jahres-
abschluss ist innerhalb von weiteren sechs Monaten
elektronisch zu hinterlegen. Dieser lange Zeitraum von
insgesamt zwölf Monaten reicht nach meiner langjäh-
rigen Erfahrung vollkommen aus – wenn man diese
lästige Aufgabe nicht immer wieder verschieben
würde.

Ich hatte aber bereits bei der letzten Beratung im
Rahmen des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechts-
änderungsgesetzes ausgeführt, dass wir für Härtefall-
regelungen sind, mit denen dem Bundesamt für Justiz
mehr Flexibilität ermöglicht werden soll. Das gilt so-
wohl für die Frage nach dem Verschulden bei Über-
schreiten von Fristen als auch für die Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand. Gemeint sind damit die
Verlängerung der Frist zur Einreichung des Jahresab-
schlusses und der Verzicht auf Ordnungsgelder in die-
sen Fällen. Diesen neuen Regelungen können wir so-
mit zustimmen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)


Die Regelungen im Handelsgesetzbuch sind jetzt
klarer und transparenter – auch das freut uns.

Die dritte geplante Änderung, nämlich die Einfüh-
rung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des al-
lein zuständigen Landgerichts Bonn, sollte nach unse-
rer Meinung für jeden Anhänger eines Rechtsstaates
eine Selbstverständlichkeit sein. Bisher entscheidet
über Beschwerden gegen Ordnungsgeldentscheidun-
gen des Bundesamtes für Justiz ausschließlich das
Landgericht Bonn. Es gibt keine Rechtsmittel gegen
dessen Entscheidungen.

In einem sich selbst Rechtsstaat nennenden Land
sollte dagegen immer eine Berufung oder Beschwerde
gegen ein erstinstanzliches Gerichtsurteil möglich
sein. Dass das jetzt endlich nachgeholt wird, damit ge-
gen Willkürentscheidungen vorgegangen werden kann
und zu widersprüchlichen Entscheidungen der Kam-
mern des Landgerichts Bonn eine einheitliche Recht-
sprechung und damit Rechtsanwendung in Ordnungs-
geldentscheidungen des Bundesamtes für Justiz
endlich geschaffen werden soll, halten wir für drin-
gend geboten.

Aufgrund der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes
über elektronische Handelsregister und Genossen-
schaftsregister sowie das Unternehmensregister, also
dem EHUG, im Jahre 2006 verstrichenen Zeit wäre es
aus meiner Sicht erforderlich gewesen, auch die zwi-
schenzeitlich mit der Offenlegungspflicht in der Wirt-
schaftspraxis gemachten Erfahrungen bei dem vorlie-
genden Gesetzentwurf einzubeziehen.

Dann wäre Ihnen aufgefallen, dass sich in einer Be-
fragung mittelständischer Unternehmen im Jahre 2011
gezeigt hatte, dass durch das EHUG kleine und/oder
nichtdiversifizierte Familienunternehmen tendenziell
benachteiligt werden. Viele Unternehmen nehmen da-
her hohe Kosten in Kauf, um die negativen Wirkungen
des elektronischen Bundesanzeigers, in dem die Unter-
nehmen ihre Jahresabschlüsse publizieren müssen, zu
minimieren. Im Ergebnis wird das EHUG von den mit-
telständischen Unternehmen auch unter Anerkennung
seiner Vorteile mehrheitlich abgelehnt, das heißt also:
obwohl diese Unternehmen nicht nur die Nachteile des
EHUG tragen, sondern auch von dessen Vorteilen pro-
fitieren. Reformvorschläge der Wirtschaft und mög-
liche Alternativen zum elektronischen Bundesanzeiger
scheinen die Regierungsfraktionen offenkundig nicht
einbezogen zu haben. Warum nicht? Die Regierungs-
parteien, insbesondere die FDP, stellen sich doch sonst
immer auf die Seite des Mittelstands und vertreten an-
geblich dessen Interessen – hier nicht. Aber nicht nur
hier nicht, sondern beispielsweise auch nicht bei der
Zahlungsverzugsrichtlinie.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach dem Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanz-
rechtsänderungsgesetz folgt nun – nach zahlreicher
Kritik von Verbänden und Unternehmen – ein Gesetz-
entwurf zur Änderung des Handelsgesetzbuches.
Lange genug wurden wir auf die Folter gespannt. Die

Inspiration durch unseren damaligen Antrag ist über-
deutlich, das freut uns natürlich. Schade nur, dass das
Vorhaben nicht ganz bis zu Ende gedacht wurde. Doch
schauen wir uns den Entwurf doch etwas näher an.

Das eigentliche Problem blieb vom ursprünglichen
Entwurf der Bundesregierung zunächst unberührt: die
unangemessen hohen Ordnungsgelder ab 2 500 Euro
aufwärts, die zu entrichten waren, wenn die Rech-
nungsunterlagen nicht spätestens zwölf Monate nach
Abschluss des Geschäftsjahres beim Bundesanzeiger
elektronisch eingereicht wurden und die sechswöchige
Androhungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelau-
fen war.

Um zu verstehen, wer von diesen Ordnungsgeldern
am stärksten betroffen ist, muss man wissen: In den
Ordnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurden
laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage
von uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfah-
ren gegen kleine Unternehmen eingeleitet. Aber ge-
rade für kleine Unternehmen ist der buchhalterische
Aufwand zur Erstellung des Jahresabschlusses schwe-
rer zu erfüllen als für mittlere und große Unternehmen.
2 500 Euro sind für kleine Unternehmen außerdem ein
harter Schlag – bis hin zur Existenzbedrohung.

Jetzt will Schwarz-Gelb unserem Vorschlag nach-
kommen, die Höhe der Ordnungsgelder zu senken.
Man könnte fast meinen, unser Antrag wäre plagiiert
worden. Aber leider haben die Autorinnen und Autoren
es nicht richtig zu Ende geführt. Wenn abschreiben,
dann schon richtig! Denn CDU/CSU und FDP gehen
davon aus, dass 1 000 Euro für kleine Unternehmen
durchaus verträglich seien. Also sagen wir mal so: Na-
türlich ist es besser, als alle pauschal mit 2 500 Euro
oder mehr zu bestrafen. Aber wir glauben, dass auch
eine geringere Summe ausreicht, um Unternehmen zur
Ordnung zu rufen. Der Vorschlag geht uns nicht weit
genug.

In unserem Antrag forderten wir im vergangenen
Jahr echte Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapi-
talgesellschaften bei der Offenlegung der Jahres-
abschlüsse: Wir wollten, dass die Ordnungsgelder
an die Größe der Unternehmen angepasst werden.
Dabei haben wir als Mindesthöhe für Kleinstunterneh-
men 250 Euro vorgeschlagen, für Kleinunternehmen
500 Euro. Das ist aus unserer Sicht ausreichend ab-
schreckend und kann ja immer noch progressiv gestal-
tet werden.

Und außerdem ist da noch etwas versteckt, was die
geplante Senkung der Ordnungsgelder gleich weniger
spektakulär erscheinen lässt. Was im aktuellen Gesetz-
entwurf der Bundesregierung etwas befremdlich er-
scheint, ist vor allem die Tatsache, dass diese geringe-
ren Ordnungsgelder nur dann greifen sollen, sofern
Unternehmen ihre „Pflicht, wenn auch verspätet“ er-
füllt haben. Die Mindesthöhe der grundsätzlich ange-
setzten Ordnungsgelder soll demnach für alle Kapital-
gesellschaften, gleich welcher Größe, bestehen
bleiben – nämlich bei 2 500 Euro. An unserer Kritik

Zu Protokoll gegebene Reden





Beate Walter-Rosenheimer


(A) (C)



(D)(B)


ändert sich damit wenig, denn diese Gleichbehandlung
aller Unternehmensgrößen ist zu pauschal.

Zudem erscheint fraglich, inwiefern sich der Ver-
waltungsaufwand durch diese Vorgehensweise erhö-
hen würde – denn so wird zunächst die Summe von
2 500 Euro angedroht, nur um dann bei verspäteter
Zahlung zu prüfen, ob nicht doch eine Senkung greifen
könnte und, wenn ja, welche der drei Stufen zutreffen
würde.

Ein Versäumnis ist es aus unserer Sicht auch, die
Höhe der Ordnungsgelder auf einem Höchstbetrag von
25 000 Euro belassen zu wollen – diese Summe ist für
Großunternehmen doch vergleichsweise eine Mücke
gegenüber einem Elefanten. Schauen Sie doch nur ein-
mal, was 2 500 Euro für einen kleinen Handwerks-
betrieb bedeuten, und überlegen Sie im Gegenzug, was
25 000 Euro an Auswirkungen für einen millionen-
schweren Großkonzern mit sich bringen. Finden Sie
das wirklich verhältnismäßig?

Wir wollten in unserem Antrag damals außerdem,
dass das Bundesamt für Justiz in Härtefällen ganz vom
Ordnungsgeld absehen oder zumindest die Frist ver-
längern kann. Ich habe es in der ersten Rede zu diesem
Thema ja bereits erwähnt: Gerade in kleinen Betrieben
ist nur eine Person für die Rechnungslegung und
Buchhaltung verantwortlich. Vertretungskräfte sind
ein Luxus, die sich die Kleinen nicht unbedingt leisten
können. Im Krankheitsfall kann sich logischerweise
die Einreichung der Bilanz drastisch verzögern.

Im Gesetzentwurf wird deshalb nun vorgeschlagen,
dass Wiedereinsetzungsverfahren greifen sollen. Zu-
nächst muss vonseiten der Unternehmerinnen und Un-
ternehmer „glaubhaft“ geschildert werden, dass ein
wirklich unverschuldetes Hindernis der rechtzeitigen
Offenlegung entgegenstand. Wenn das Bundesamt für
Justiz der Erklärung Glauben schenkt, gibt es eine zu-
sätzliche sechswöchige Nachfrist, die mit dem Wegfall
des Hindernisses startet. In so einem Fall soll das Ord-
nungsgeld entfallen. Fraglich erscheint jedoch, ob die
angedachte Frist, in der ein solcher Wiedereinset-
zungsantrag gestellt werden kann, praktikabel ist.
Nach dem momentanen Entwurf müssen Betroffene
spätestens zwei Wochen nach Ende des Hindernis-
grundes einen solchen Antrag stellen. Nach einer lan-
gen schweren Krankheit sofort an die rasche Antrag-
stellung zu denken, ist womöglich zu rational, zu
bürokratisch gedacht.

Im Fazit stehen wir also einem Gesetzentwurf ge-
genüber, der die richtigen Tendenzen aufweist. Er lässt
aber den Mut missen, die Erleichterungen sinngemäß
zu Ende zu denken. In einem Rundumschlag hätte jetzt
die Gelegenheit bestanden, die Kleinsten und Kleinen
praktisch und einfach zu entlasten und die Großen fair
zu beteiligen. Einen solchen Entwurf können wir
schlecht mittragen, auch wenn uns die Richtung gefal-
len hätte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723741500

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/13221 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Monika Lazar, Beate Walter-
Rosenheimer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ahndung
von Therapien mit dem Ziel der Änderung der
sexuellen Orientierung bei Minderjährigen

– Drucksache 17/12849 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1723741600

„Da muss immer jeder für sich entscheiden, glaube

ich. Also ich würde jetzt sagen, natürlich kann man das
so oder anders sehen, und würde auch immer akzeptie-
ren, dass andere eine andere Position haben“, so
zitiert die Zeitung „Die Welt“ am 26. März 2013 die
Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin
Göring-Eckardt. Diese leicht verschachtelte Antwort
gab sie auf die Frage, wie sie zum Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stehe, den wir heute
in erster Lesung beraten.

Die Grünen beantragen damit, einen Ordnungs-
widrigkeitstatbestand zu schaffen, wonach „ordnungs-
widrig handelt, wer berufs- oder gewerbsmäßig The-
rapien anbietet oder durchführt, die das Ziel haben,
die sexuelle Orientierung von Minderjährigen zu ver-
ändern.“

Die leicht schlingernden Einlassungen der Vorsit-
zenden von Bündnis 90/Die Grünen zeigen sehr deut-
lich, was es mit dem Gesetzentwurf auf sich hat. Es
wird plakativ etwas beantragt, wofür es in der Sache
überhaupt keine Notwendigkeit gibt. Alles das ge-
schieht nur, um ein Thema in den Fokus der Aufmerk-
samkeit zu rücken, dessen Bedeutung im Einzelnen
zwar nicht von der Hand zu weisen ist, bei dem sich
aber die Frage nach der Notwendigkeit eines Eingrei-
fens durch den Gesetzgeber stellt.

Vordergründig ist das Ziel des Antrags, einen Ord-
nungswidrigkeitstatbestand neu zu schaffen. Das Ord-
nungswidrigkeitenrecht ist vom Strafrecht abgeleitet
und hat den gleichen Charakter. Das Strafrecht ist die
gleichsam schärfste Waffe des Rechtsstaates, um miss-
billigtes Verhalten mit Sanktionen zu ahnden. Dement-
sprechend geht der Staat damit in gegebenem Maße
umsichtig um. Denn umgekehrt bedeutet die Tatsache,





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


dass ein Verhalten von einem Straf- oder Ordnungs-
widrigkeitentatbestand nicht umfasst ist, nicht auto-
matisch, dass es vom Staat gutgeheißen wird.

So verhält es sich auch bezüglich der im Antrag an-
gesprochenen Therapien. Ausdrücklich wird darauf
hingewiesen, dass auch die Bundesregierung diese
Therapien missbillige. Und ja, zweifelsohne sind sie
auch fragwürdig. Aber bedeutet das gleichzeitig, dass
es deshalb eines Straf- beziehungsweise Ordnungswid-
rigkeitstatbestandes bedarf? Nach Ansicht der CDU/
CSU-Fraktion ist dies nicht der Fall.

Zunächst geht es hier nicht um Zwangstherapien,
sondern um die autonomen Entscheidungen Einzelner.
Hier stellt sich die Frage, in welchem Maße es dem
Staat zusteht, durch gesonderte Vorschriften in diese
Entscheidungen einzugreifen. Sicherlich geht es bezo-
gen auf Minderjährige darum, dass diese ihre Ent-
scheidung nicht alleine treffen, sondern deren Erzie-
hungsberechtigte. Sofern es aber um fragwürdige
Entscheidungen der Erziehungsberechtigten geht und
die Gefährdung des Kindeswohls eine Rolle spielt,
finden sich im Familienrecht bereits ausreichende In-
strumente, um der – ohne Zweifel gegebenen – Wäch-
terfunktion des Staates über das Kindeswohl nachkom-
men zu können. Einer eigenständigen Vorschrift bedarf
es somit aus diesem Gesichtspunkt nicht.

Des Weiteren haben wir mit den Körperverletzungs-
vorschriften des Strafgesetzbuches sowie der Vor-
schrift des § 228 StGB bereits jetzt entsprechende
strafrechtliche Regelungen, die vor fragwürdigen The-
rapien schützen, wenn diese in den Bereich der Kör-
perverletzung umschlagen. Gerade bezüglich solcher
Fragen existiert eine ausdifferenzierte Rechtspre-
chung. Auch hier hat der Staat, sogar mit seinem
schlagkräftigsten Instrument, dem Strafrecht, Mög-
lichkeiten an der Hand, gegen entsprechendes Han-
deln vorzugehen, soweit es denn die Schwelle der Kör-
perverletzung überschreitet. Dies ist aber ohne Zweifel
im Einzelfall zu beurteilen. Die Notwendigkeit einer
eigenständigen Vorschrift besteht auch in dieser Hin-
sicht nicht, da keine Schutzlücke besteht.

Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
greift also in tatsächlicher Hinsicht ein Problem auf,
das nicht von der Hand zu weisen ist, für dessen recht-
liche Regelung es aber gleichzeitig keinen eigenstän-
digen Bedarf gibt. Es besteht keine Schutzlücke, die zu
schließen ist. Denn auf verschiedenen rechtlichen Ebe-
nen, angesprochen habe ich Familienrecht und Straf-
recht, gibt es entsprechende rechtliche Möglichkeiten
für ein Eingreifen. Wir lehnen den Gesetzentwurf da-
her ab.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1723741700

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen das An-

bieten und die Durchführung von Therapien an Min-
derjährigen untersagt werden, die eine Änderung der
gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung verfol-
gen.

Die Annahme, dass Homosexualität überhaupt ei-
ner Therapie bedarf, mutet heutzutage nicht nur äu-
ßerst merkwürdig und reaktionär an. Diese Denkweise
ist schlichtweg dumm, respektlos und diskriminierend.

Seit Jahrzehnten wird Homosexualität in der Medi-
zin nicht mehr als Krankheit definiert. Die Diskrimi-
nierung wegen der sexuellen oder geschlechtlichen
Identität und Orientierung ist längst gesetzlich verbo-
ten. Schritt für Schritt hat in Deutschland das Bundes-
verfassungsgericht in den letzten Jahren die Lücken in
den Rechtsbereichen geschlossen, in denen homo-
sexuelle Menschen gegenüber Heterosexuellen be-
nachteiligt wurden.

Wir haben in diesem Hause dazu bunte Debatten ge-
führt, zuletzt nachdem das Bundesverfassungsgericht
gleichgeschlechtliche Paare im Adoptionsrecht ge-
stärkt hat. All die Diskussionen haben gezeigt, dass
wir in einem aufgeklärten und toleranten Land leben
und dass es nur noch ein Häuflein von Ewiggestrigen
ist, den Menschen mit einer von der heterosexuellen
abweichenden Sexualität für minderwertig oder gar
krank hält. Diese Ewiggestrigen sind es jedoch, die da-
für sorgen, dass sich junge Menschen von derartigen
Therapien überhaupt angesprochen fühlen, dass sol-
che Angebote nicht einfach ins Leere laufen.

Dass wir heute über das Verbot dieser Therapien re-
den, ist richtig. Solchen Methoden muss aber nicht nur
rechtlich Einhalt geboten, sondern auch der ideelle
Nährboden entzogen werden. Nur ein gesamtgesell-
schaftlicher Prozess kann es schaffen, dass unsere Kin-
der ohne Angst und Einschränkungen aufwachsen kön-
nen.

Kinder müssen so gefördert werden, dass sie in al-
len Aspekten ihrer Entwicklung die Möglichkeit haben,
sich entsprechend ihren Voraussetzungen zu entwi-
ckeln, und dass sie zu starken Persönlichkeiten werden
und ihren Weg im Leben finden. Dabei müssen wir ih-
nen das Gefühl geben, sich in einer sicheren Welt be-
wegen zu können.

Es ist auch die Aufgabe der Politik, die Vorausset-
zungen dafür zu schaffen. Wenn ein Verbot von gefähr-
lichen und dubiosen Therapieangeboten dafür einen
Beitrag leisten kann, sollten wir das auch eingehend
prüfen und in die Wege leiten.

Eine längst überfällige Maßnahme ist in diesem Zu-
sammenhang auch, das ausdrückliche Verbot der Dis-
kriminierung aufgrund der sexuellen Identität im
Grundgesetz zu verankern, wie es die SPD-Fraktion
fordert.

Alle Menschen haben eine sexuelle Identität, die wir
als hetero-, bi-, homo-, asexuell oder wie auch immer
bezeichnen können. Menschen, die mit der gesell-
schaftlichen Norm Heterosexualität brechen, sind
keine kranken Leute. Daher erübrigt sich auch die
Frage nach einer Behandlung oder Therapie. Was wir
stattdessen brauchen, ist Akzeptanz und Toleranz für
alle Menschen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1723741800

Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass Homo-

sexualität keine Krankheit ist, sondern Teil der
menschlichen Natur und deshalb Therapien grund-
sätzlich nicht zugänglich. Auch ich beobachte mit
Sorge diese Konversionstherapien und die damit ver-
bundenen Aktivitäten, die auch aus meiner Sicht belegt
zu negativen und schädlichen Effekten führen können.

Ich halte dennoch nichts von einer Bußgeldbeweh-
rung eines entsprechenden Angebots. Gegen diese Be-
strebungen muss mit Aufklärung und Hilfe vorgegan-
gen werden, die erfreulicherweise auch bundesweit
angeboten wird. Eine Bußgeldbewehrung erscheint
mir nicht angezeigt. Mir erscheint auch fraglich, ob
die in dem Antrag zitierte Ausarbeitung des Wissen-
schaftlichen Dienstes wirklich alle verfassungsrechtli-
chen Fragen aufwirft und diese auch zutreffend
würdigt. Interessanterweise wird das Grundrecht der
Religionsfreiheit und damit auch einer religiös moti-
vierten kritischen Betrachtung von gleichgeschlechtli-
chen Handlungen und Beziehungen im Antrag nicht
zitiert. Aber auch dieses Grundrecht ist in die Abwä-
gung miteinzubeziehen.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist deshalb klar:
Homosexuelle Menschen bedürfen weder der Therapie
noch einer Umerziehung. Entsprechenden Angeboten
ist mit Aufklärung und Hilfe entgegenzutreten. Einer
Bußgeldbewehrung bedarf es nicht.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723741900

Am 7. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorgani-

sation, WHO, Homosexualität aus dem Krankheits-
katalog. Dieser längst überfällige Schritt hatte eine
Signalwirkung und führte zu einem steigenden Respekt
gegenüber Lesben und Schwulen und einer zunehmen-
den Anerkennung ihrer sexuellen Orientierung. Nicht
überall ist dies so. Auch heute noch gibt es Menschen,
die Homosexualität als Krankheit auffassen, welche
heilbar wäre. Insbesondere in den USA gibt es christ-
lich-evangelikale Gruppen, die verbreiten, dass man
Menschen von der Homosexualität „heilen“ könne. In
den USA existiert die Ex-Gay-Bewegung, die ver-
meintlich Menschen helfen möchte, indem sie vorgibt,
dass sie ihre homosexuellen Neigungen unterdrücken
können oder sie gar heterosexuell werden könnten. Sie
betrachten Homosexualität als anormal. Auch in
Deutschland existieren Gruppen, die sich die Ex-Gay-
Bewegung zum Vorbild genommen haben.

Natürlich steht es jedem Menschen frei, seinen reli-
giösen Überzeugungen nachzugehen oder auch die ei-
gene Sexualität als falsch zu empfinden. Versuche, je-
manden davon zu „heilen“, sind von vornherein zum
Scheitern verurteilt, da selbst Krankheiten nur zum
Teil heilbar sind. Aber wie die WHO unterstrich, ist
Homosexualität keine Krankheit. Die sexuelle Orien-
tierung gehört zur Identität eines Menschen. Das sexu-
elle Begehren ist ein Teil der Persönlichkeit. Menschen
können nicht umgepolt werden. Im Gegenteil: Ein An-
satz, der Menschen einredet, Homosexualität wäre

schlecht, unnatürlich oder Ähnliches, ist gefährlich!
Gerade junge Menschen brauchen in der schwierigen
Phase der Selbstfindung Rückhalt und Sicherheit und
müssen angenommen werden, wie sie sind. „Heil-
versuche“ gefährden diesen Prozess, können schlimme
psychische Folgen haben, im Extremfall bis zum
Suizid.

Auch die Bundesregierung hat diese Therapiean-
sätze in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von
Bündnis 90/Die Grünen für falsch befunden. Umso be-
fremdlicher ist es, dass Bundeskanzlerin Angela
Merkel zu Anfang dieses Jahres den Gnadauer Ge-
meinschaftsverband für seine Arbeit würdigte. Dieser
fordert die „Korrektur“ von Homosexuellen. Frau
Merkel plant, am 12. Juli am Landesjugendtreffen der
„Apis“ teilzunehmen und dort zu reden. Die „Apis“
sind junge Menschen, die im evangelischen Gemein-
schaftsverband Württemberg engagiert und zu der fes-
ten Überzeugung gelangt sind, Homosexualität sei
eine veränderbare Persönlichkeitsstörung. Dies ist das
falsche Signal, Frau Bundeskanzlerin.

„Homoheiler“ betreiben wissenschaftlichen Mum-
pitz und gefährden junge Menschen.

Zum Glück haben evangelikale Gruppen in
Deutschland im Gegensatz zu den USA nur eine sehr
geringe Bedeutung, und „Homoheiler“ sind eine ver-
schwindend kleine Minderheit. Natürlich müssen wir
alles darangeben, dass unsere Kinder vor ihnen
geschützt werden und Eltern nicht aus einer falsch
verstandenen Religiosität ihre Kinder ins Unglück
stürzen. Doch der Gesetzgeber sollte nicht neue
Straftatbestände schaffen, sondern zunächst prüfen,
inwiefern wir dies mit den bestehenden Gesetzen ver-
hindern können.

Meine Fraktion ist skeptisch, ob der Vorschlag der
Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten
der geeignete Weg ist, „Homoheilern“ das Handwerk
zu legen. Zunächst sollten wir prüfen, ob nicht das gel-
tende Recht ausreichend Möglichkeiten bietet. Hier ist
zu prüfen, ob nicht die Gewerbeaufsicht der Ämter dies
mit Rückgriff auf die Gewerbeordnung unterbinden
kann und ob man „Homoheilern“ ihre Tätigkeit nicht
untersagen kann, da sie auf wissenschaftlich haltloser
Basis agieren und deshalb Betrug begehen, und ob ihr
Handeln nicht im Angesicht der psychischen Folgen
eine Körperverletzung darstellt.

Des Weiteren ist zu prüfen, ob das bestehende Recht
Anwendung findet.

Falls dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, so
können wir über eine Verschärfung des Strafrechts
nochmals nachdenken.

Anlässlich der Streichung von Homosexualität aus
dem Krankheitskatalog der WHO wird seit dem Jahr
2005 der Internationale Tag gegen Homophobie am
17. Mai begangen. Ich wünsche mir, dass Frau
Dr. Merkel an diesem Tag lesbische und schwule
Gruppen besucht und damit ein deutliches Zeichen ge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


gen Homophobie in dieser Gesellschaft setzt, statt sich
gegen die verfassungsrechtlich gebotene Gleich-
behandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft zu
stellen und „Homoheiler“ zu besuchen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Homosexualität ist keine Krankheit. Am 17. Mai
1990 hat die WHO dieser Tatsache in ihren Richtlinien
Rechnung getragen. Man kann deswegen auch nicht
von Homosexualität „kuriert“ oder „geheilt“ werden.
Jeder Mensch hat seine eigene sexuelle Identität und
persönliche Entwicklung.

Allerdings gibt es weiterhin Menschen, die glauben,
die sexuelle Orientierung ließe sich durch Therapien
ändern. Frei nach dem Motto: „Es kann nicht sein,
was nicht sein darf.“ Für bestimmte religiös-funda-
mentalistische Gruppen ist der Befund, dass Homose-
xualität eine natürliche Ausprägung der sexuellen
Identität ist unerträglich. Sie bieten deswegen Semi-
nare und Therapiegruppen an, bei denen vermeintlich
Kranke und Leidende auf den „richtigen Weg“ geführt
werden sollen. Sie nutzen dabei die Unsicherheit von
Menschen, insbesondere von Jugendlichen und ihren
Eltern, aus und versprechen eine Änderung der sexuel-
len Identität. Sie changieren dabei in unredlicher
Weise zwischen Begriffen und Sphären: Sünde und
Krankheit, theologische Überzeugung und scheinbar
wissenschaftliche Befunde werden in intellektuell un-
zulässiger Weise vertauscht und vermengt.

Natürlich ist die Findung der sexuellen Identität
nicht immer einfach, und gerade der Coming-out-
Prozess kann schmerzhaft und schwierig sein. Psycho-
logische Therapien zur Beratung und Selbstfindung
gehen deswegen von einem ergebnisoffenen Therapie-
verlauf aus. Einziges Ziel muss Selbstfindung und
Selbstversöhnung der Patienten mit sich selbst sein.
Diese Form von Beratung und Unterstützung ist wert-
voll und hilft den Menschen, ihr Leben erfüllt und
glücklich zu gestalten und fördert die Annahme der ei-
genen sexuellen Orientierung, sei sie homo-, hetero-
oder bisexuell. Nicht der Therapeut gibt hierbei das
Ziel normativ vor, sondern er macht sich mit seinem
Patienten auf die Suche nach dessen Identität und ver-
sucht, die Selbstentfaltungsprozesse zu unterstützen.

Im Gegensatz dazu ist das Ziel der von Wüsten-
strom, manchen Siebenten-Tag-Adventisten oder dem
Bund Katholischer Ärzte vermittelten bzw. durchge-
führten Therapien klar vorgegeben: Homosexualität
wird als negativ und falsch dargestellt. Der Bund Ka-
tholischer Ärzte spricht in seiner Stellungnahme zu
dem heute debattierten Gesetzentwurf zum Beispiel
ausführlich über angeblich stark gefährdende Sexual-
praktiken wie Oral- und Analverkehr, die natürlich nur
von Homosexuellen praktiziert würden. Hier zeigt sich
deutlich die Grundeinstellung dieser Leute: Sie begeg-
nen den Hilfesuchenden nicht unvoreingenommen,
sondern vorurteilsbelastet. Solchen Menschen darf
man Jugendliche nicht ausliefern!

Denn diese Therapien sind nicht einfach ein sinnlo-
ser Zeitvertreib, der schlicht zu nichts führt. Vielmehr
sind sie für die behandelten Menschen schädlich und
gesundheitsgefährdend. Zahlreiche Gutachten kom-
men zu dem Ergebnis, dass die Folgen dieser soge-
nannten Therapien Ängste, soziale Isolation und
Depressionen sind, die nicht selten zu Selbstmordver-
suchen führen. Die American Psychiatric Association
kommt in einem Gutachten für den Senat von Kalifor-
nien im Jahr 2007 zu dem Ergebnis, dass die Wirksam-
keit von diesen Therapien nicht gegeben sei. Die Orga-
nisation hatte Dutzende Studien ausgewertet und dabei
Belege gefunden, dass zu den negativen Nebenwirkun-
gen unter anderem der Verlust sexueller Gefühle und
Suizidalität zählten. Die American Psychiatric Associ-
ation kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass der wissen-
schaftliche Nachweis der Wirksamkeit solcher
Therapien trotz jahrzehntelanger Bemühungen der je-
weiligen Kreise nicht gegeben sei. Im Gegenteil seien
Berichte über aufgrund der Behandlung aufgetretene
Schädigungen dokumentiert. Die Organisation der
amerikanischen Psychiater lehnt diese Behandlungen
deswegen ab.

Der Professor für Psychologie der Universität Ba-
sel, Herr Professor Dr. Rauchfleisch, kommt zu dem
Ergebnis, dass die Behandlung fehlliefe und zudem
„die Änderung im Sexualverhalten häufig mit schwe-
ren Depressionen, zentralen Selbstwertproblemen und
tiefer Verzweiflung erkauft“ wird und bis „zum Suizid
der betreffenden Menschen führen“ könne.

Nicht zuletzt hat auch die Bundesregierung die Ge-
fährlichkeit dieser Therapien bestätigt. Demnach
gründet diese Einschätzung sich „auf die Ergebnisse
neuerer wissenschaftlicher Untersuchungen, nach de-
nen bei der Mehrzahl der so therapierten Personen

(zum Beispiel Ängste, soziale Isolation, Depressionen bis hin zu Suizidalität)

auftraten und die versprochenen Aussichten auf „Hei-

(Bundestagsdrucksache 16/8022)


In Kalifornien ist der Gesetzgeber aufgrund all die-
ser Erkenntnisse zu dem Ergebnis gekommen, dass sol-
che „Heilungsversuche“ für Minderjährige zu verbie-
ten seien. Unser Gesetzentwurf, den wir heute
einbringen, verfolgt dasselbe Ziel. Wir schlagen vor,
das Anbieten und Durchführen solcher Therapien als
ordnungswidrig zu verbieten.

Der Staat kommt damit seiner Pflicht des Jugend-
und Gesundheitsschutzes nach, die sich aus dem Art. 2
Abs. 2 und des Art. 6 Abs. 2 unseres Grundgesetzes er-
gibt. Bei Überschreitung der Grenzen des Elternrechts
durch kindeswohlbeeinträchtigenden Missbrauch des
Rechts berechtigt und verpflichtet der Art. 6 Abs. 2
Satz 2 zu staatlichen Interventionen zugunsten des
schutzbedürftigen Kindes. Der Wissenschaftliche Dienst

(WD 3 – 3000301/12)

land verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen.
Der Dienst kommt zum Ergebnis, dass keine solchen

Zu Protokoll gegebene Reden





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Bedenken vorliegen. Die Gefährdung des Kindeswohls,
die bei den angesprochenen Therapien zweifelsfrei vor-
liegt, stellt eine materielle Anforderung dar, die den
Staat verpflichtet, das staatliche Wächteramt auszu-
üben.

Wir müssen diese Quacksalberei und Scharlatane-
rie verbieten!

Ich erwarte eine interessante Debatte in den Aus-
schüssen und hoffe, dass wir dort zügig zu einem Er-
gebnis kommen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723742000

Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf

Drucksache 17/12849 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine ande-
ren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentral-
registergesetzes und anderer registerrechtli-
cher Vorschriften zum Zweck der Zulassung
der elektronischen Antragstellung bei Ertei-
lung einer Registerauskunft

– Drucksache 17/13222 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll gegeben.


Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1723742100

Bisher war es grundsätzlich notwendig, persönlich

bei der entsprechenden Meldebehörde vorzusprechen,
wenn man einen Antrag auf Erteilung eines Führungs-
zeugnisses aus dem Zentralregister oder einen Antrag
auf Erteilung einer Auskunft aus dem Gewerbezentral-
register stellen wollte. Wenn der Wohnsitz im Ausland
besteht, war es nach bisheriger Gesetzeslage nach § 30
Abs. 3 BZRG sogar notwendig, einen schriftlichen An-
trag mit Identitätsnachweis durch Bescheinigung einer
deutschen Konsularbehörde einzureichen.

Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses
Verfahren nun erheblich erleichtert.

Die Regelungen im Bundeszentralregistergesetz
werden dahin gehend geändert, dass zukünftig der An-
trag auf elektronischem Wege unmittelbar bei der Re-
gisterbehörde gestellt werden kann. Die entsprechende
Regelung enthält der neue § 30 c BZRG.

Das Konzept für die Antragstellung auf Erteilung
eines Führungszeugnisses soll auf den elektronischen
Antrag zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbe-
zentralregister übertragen werden. Für die Gewerbe-
ordnung wird eine entsprechende Regelung in § 150 e
GewO geschaffen.

Die Identifizierung des Antragsstellers wird mittels
eID erreicht. Ein Abgleich mit dem Melderegister wird
insoweit entbehrlich. Die Grundlage für den elektroni-
schen Identitätsnachweis wurde in § 18 Abs. 2 PAuswG
geschaffen und die entsprechende elektronische Identi-
fikation allgemein im Rechtsverkehr zugelassen.

Durch dieses Verfahren profitieren vor allem Bürge-
rinnen und Bürger und im Bereich der Gewerbeord-
nung die Wirtschaft. Das Verfahren wird erleichtert,
beschleunigt und verbilligt. Die Antragstellung kann
nun online erfolgen. Somit wird Zeitaufwand bei der
Antragstellung eingespart.

Da die Gebühr im elektronischen Rechtsverkehr we-
gen des verkleinerten Aufwandes sicher geringer aus-
fällt, findet auch eine Kostenreduzierung statt.

Zuerst wird das Angebot sicher eher durch die Wirt-
schaft wahrgenommen werden. Um nämlich den elek-
tronischen Identitätsnachweis zu führen, bedarf es ei-
nes entsprechenden Lesegerätes, das derzeit nur
wenige Bürgerinnen und Bürger haben. Die zukünftige
Entwicklung hin zu mehr elektronischem Rechtsver-
kehr wird aber dafür sorgen, dass die Möglichkeit der
elektronischen Antragstellung auch von Bürgerinnen
und Bürgern mehr und mehr genutzt wird. Insbeson-
dere bei der Auskunft aus dem Bundeszentralregister
bedarf es nur einer einfachen Identifizierung, sodass
die Sicherheitsschwelle eher gering anzusetzen ist.
Auch dies wird dazu führen, dass sich die elektronische
Antragstellung durchsetzen wird.

Ebenfalls die Kommunen werden auf Dauer von der
elektronischen Antragstellung profitieren. Zwar wer-
den die Gebühren nicht mehr den Kommunen, sondern
dem Bund zufließen. Die Auskunftserteilung erfolgt
eben nicht mehr durch die Meldebehörde, sondern
durch die Registerbehörde; mithin fließen die Gebüh-
ren direkt an den Bund. Da die Kommunen aber erheb-
liche Kosteneinsparungen für Personal und Sachmittel
haben werden, wird in Zukunft ein finanzieller Gewinn
der Kommunen zu verzeichnen sein.

Der Bundeshaushalt kann mit Mehreinnahmen von
zu Beginn 2,5 Millionen Euro pro Jahr und nach Errei-
chen des mittelfristig geschätzten Antragsaufkommens
von rund 10,2 Millionen Euro pro Jahr rechnen.

Die voraussichtlichen Kosten, solche, die zu Beginn
einmalig anfallen, wie etwa für die Anschaffung der
notwendigen Hard- und Software, und die laufenden
Kosten, beispielsweise für die Instandhaltung der IT
und den Mehrbedarf an Personal, werden durch die
größer ausfallenden Einnahmen der Registerbehörde
gedeckt sein; diese gehen nämlich weit über die nöti-
gen Beträge hinaus.

Unbedingt zu betonen sind die Vorteile, die durch
das neue System entstehen. Neben der erheblichen Er-
leichterung des Verfahrens, welches eine Antragstel-
lung ermöglicht, ohne persönlich bei der zuständigen
Behörde vorstellig werden zu müssen, ist auch die
massive Beschleunigung zu nennen. Bei einer Erspar-





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


nis von durchschnittlichen 16 Minuten pro Fall erge-
ben sich 128 000 Stunden pro anno, welche für diesen
bürokratischen Aufwand eingespart werden können.

Neben der Verbesserung für die Bürgerinnen und
Bürger wird sich auch ein geringerer Verwaltungsauf-
wand bei der Registerbehörde selbst beobachten las-
sen. Grund dafür ist, dass zukünftig nur noch diese
eine Instanz zuständig ist und ein sogenanntes One-
Stop-Shop-System entsteht. Mit der aktuellen, immer
weniger zeitgemäßen Regelung sind immer mindestens
zwei Instanzen involviert: zum einen die, die den An-
trag entgegennimmt, und zum anderen die, welche die
Identität und Meldedetails bestätigt.

Die zuvor genannten Vorteile und Verbesserungen
für viele Teile unserer Gesellschaft überwiegen an-
fängliche Herausforderungen, wie zusätzlicher Per-
sonalbedarf und neue praktische Prüfaufgaben bei der
Registerbehörde auf Bundesebene. Diese werden zu
bewältigen sein.

Da bereits bundeseinheitliche Regelungen beste-
hen, ist die Gesetzgebungszuständigkeit gegeben. Die
Wahrung der Rechtseinheit, welche im gesamtstaat-
lichen Interesse erforderlich ist, kann nur so garantiert
werden. Eine Regelung durch die Länder kann dies
nicht erreichen.

Im Laufe der Zeit ist durch die weitere Verbreitung
des neuen Personalausweises auch mit einer Zunahme
der elektronischen Anträge zu rechnen. Die Einfüh-
rung neuer Anwendungen wird die Attraktivität der
eID-Funktion steigern. Auch der vorliegende Gesetz-
entwurf trägt dazu bei.

Um auch im internationalen Bereich weiter mithal-
ten zu können und das E-Government mitzugestalten
und weiterzuentwickeln, braucht die Bundesrepublik
solche modernen und vorausschauenden Gesetzes-
änderungen.

Die Union ist hier Vorreiter bei einem modernen
E-Government und beim Bürokratieabbau. Die Oppo-
sition hatte viele Jahre Zeit, etwas zu machen, und hat
nichts auf den Weg gebracht. Wir tun was.


Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1723742200

Schon 2008 hat die damalige SPD-Justizministerin

Brigitte Zypries eine grundlegende Überarbeitung der
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung
des Bundeszentralregistergesetzes vorgelegt, der wir
dann auch hier im Parlament zugestimmt haben. Da-
mit konnten die Meldebehörden beim Bundeszentral-
register das Führungszeugnis elektronisch anfordern.

Durch den Übergang von der schriftlichen auf die
elektronische Antragstellung schufen wir die erste
Grundlage dafür, dass Anträge von Bürgerinnen und
Bürgern auf Erteilung eines Führungszeugnisses we-
sentlich schneller bearbeitet werden konnten.

Doch die Bürgerinnen und Bürger mussten auch
weiterhin einen Antrag auf Erteilung des Führungs-
zeugnisses bei der Meldebehörde stellen. Problema-

tisch war nämlich der elektronische Identitätsnach-
weis.

Nachdem mit dem neuen Personalausweis der elek-
tronische Identitätsnachweis realisiert wurde, ist nun
auch die elektronische Antragstellung durch die Bür-
gerinnen und Bürger bei Gewährung des dafür not-
wendigen Datenschutzes möglich. Die Datensicherheit
muss natürlich zwingend gegeben sein. Wir wissen ja
alle, dass das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung eine besonders hohe Bedeutung genießt.

Mit der geplanten Rechtsänderung werden die Ver-
fahrensabläufe bei Auskünften aus dem Bundeszentral-
register weiter beschleunigt. Durch die Einführung des
elektronischen Datenaustauschs können Anfragen der
Bürgerinnen und Bürger künftig rascher und einfacher
erledigt werden; denn der Umweg über die Meldebe-
hörden entfällt.

Die beschleunigte Datenverarbeitung bei der Er-
teilung von Führungszeugnissen im Bundeszentral-
register kommt vor allem den Bürgerinnen und Bür-
gern zugute. Wer ein einfaches oder erweitertes
Führungszeugnis aus dem Zentralregister benötigt,
zum Beispiel, wenn bei einer Bewerbung ein Füh-
rungszeugnis verlangt wird, braucht also künftig nicht
mehr wie bisher zum Einwohnermeldeamt zu gehen.
Der Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses
kann direkt online beim Bundesamt für Justiz als zu-
ständige Registerbehörde gestellt werden.

Damit werden auch die Kommunen entlastet. Aller-
dings muss auch gesagt werden, dass dann auch ent-
sprechend die Gebühreneinnahmen für die bisherigen
Antragstellungen wegfallen. Die Umstellung auf das
automatisierte Verfahren aber verringert den bisheri-
gen personellen Aufwand und rationalisiert das Regis-
terverfahren.

Das elektronische Antragsverfahren beim Füh-
rungszeugnis wird nun ermöglicht, weil das Personal-
ausweisgesetz den elektronischen Identitätsnachweis
allgemein im Rechtsverkehr zulässt. Für Ausländer
können auch Aufenthaltstitel, die mit einem elektroni-
schen Speicher- und Verarbeitungsmedium versehen
sind, für die elektronische Antragstellung verwendet
werden.

Allerdings ist für die Überprüfung der Angaben zur
Person auch der Geburtsname für die registerrecht-
liche Zuordnung von Bedeutung. Erst mit dem neuen
Personalausweis ist die elektronische Übermittlung
des Geburtsnamens möglich. Damit kann die Richtig-
keit und Vollständigkeit der Angaben zur Person und
zum Wohnort, die bei elektronischer Übermittlung de-
nen des Personalausweises entsprechen müssen, durch
den Empfänger überprüft werden. Ein Abgleich mit
den Daten im Melderegister ist dann nicht mehr erfor-
derlich.

Das ist erst seit dem 21. Juni 2012 möglich. Um
auch Personen, die Dokumente besitzen, in denen der
Geburtsname nicht gespeichert wurde, die elektroni-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


sche Antragstellung zu ermöglichen, können sie den
Geburtsnamen im Antrag angeben. In diesen Fällen
wird die Registerbehörde dann jedoch einen Datenab-
gleich mit dem Melderegister vornehmen müssen.

Es ist sinnvoll, die elektronische Antragstellung
auch zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbe-
zentralregister zu ermöglichen, wie es der vorliegende
Gesetzentwurf vorsieht. Auch hier soll der neue Per-
sonalausweis eine sichere Identifizierung des Antrag-
stellers gewährleisten.

Der Petitionsausschuss des Bundestages befürwor-
tet die Zulassung der elektronischen Beantragung des
Führungszeugnisses. Anders als der Regierungsent-
wurf hält er aber eine Gesetzesänderung zur Schaffung
dieser Möglichkeit nicht für erforderlich.

Nun, das Bundeszentralregistergesetz regelt die
Grundlagen der Organisation, Führung und Verwal-
tung des Zentralregisters, ferner Inhalt, Reichweite,
Dauer und Tilgung der Eintragungen sowie die Vo-
raussetzungen zur Erlangung von Auskünften aus dem
Register. Da ist es doch notwendig und sinnvoll, die ef-
fiziente und vereinfachte elektronische Antragstellung
im Gesetz zu verankern und so an die moderne Infor-
mationstechnologie anzupassen.

Das Gesetz führt also das zu Ende, was eine sozial-
demokratische Justizministerin konzeptionell angelegt
hatte.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1723742300

Die Beantragung eines polizeilichen Führungs-

zeugnisses oder die Erteilung der Auskunft aus einem
Register ist für Bürgerinnen und Bürger nach wie vor
nicht einfach und unkompliziert möglich. Begrenzte
Öffnungszeiten in den Ämtern, lange Wartezeiten,
unflexible Bearbeitung, schriftliche Antragstellung:
Diese Dinge machen für Bürgerinnen und Bürger oft-
mals ihre Erlebnisse mit der Verwaltung in Deutsch-
land aus.

Die christlich-liberale Koalition möchte diesen Zu-
stand beenden. Wir möchten, dass zukünftig Bürgerin-
nen und Bürger die Möglichkeit haben, auf verschiede-
nen Wegen mit der Verwaltung zu kommunizieren. Mit
dem E-Government-Gesetz des Bundes haben wir den
Grundstein dafür gelegt. Mit dem Gesetz zur Änderung
des Bundeszentralregistergesetzes möchten wir einen
weiteren Baustein der liberalen Strategie zur Verwal-
tungsmodernisierung setzen. Denn auch in der Verwal-
tungsmodernisierung waren es vier gute Jahre für
Deutschland.

Moderne Verwaltung muss für Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit bieten, auf verschiedenen We-
gen mit ihr zu kommunizieren. Die Zeiten, in denen
man Nummern in Ämtern ziehen muss, können zu Ende
gehen.

Das Bundeszentralregistergesetz ermöglicht den
Bürgerinnen und Bürgern ab sofort nicht nur persön-
lich die Ausstellung von polizeilichen Führungszeug-

nissen. Auch auf elektronischem Weg können sie zu-
künftig beantragt werden.

Wir werden im Detail noch einmal überprüfen, ob
hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Aber wir
sind der Ansicht, dass mit dem Gesetzentwurf der Bun-
desregierung ein gelungener erster Wurf auf dem Tisch
liegt. Wir prüfen, ob und wie wir diesen Vorschlag
noch weiter verbessern können.

Mit dem neuen Bundeszentralregistergesetz schaf-
fen wir für Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit,
einfach und ohne großen Aufwand die Informationen
beizutreiben, die sie zum Beispiel für Bewerbungen be-
nötigen. Ich würde mich daher freuen, wenn Sie uns
dabei unterstützen.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723742400

Im Endspurt der Wahlperiode und bemüht um eine

Aufbesserung ihrer miesen Bilanz, führt die Koalition
auf ziemlich halsbrecherische Weise einige ihrer frag-
würdigen oder sogar gescheiterten Großprojekte im
Bereich der Informations- und Kommunikationstech-
nik, IKT, zusammen. Keine Rolle spielen dabei Gefah-
ren für die Daten der Bürgerinnen und Bürger, klare
Defizite und systembedingte Sicherheitslecks.

Der Zufall hilft manchmal der Wahrheit auf die
Sprünge. Wenige Stunden vor der Vorlage der Bundes-
tagstagesordnung, auf der der Gesetzentwurf zur Än-
derung des Bundeszentralregistergesetzes auftauchte,
wurde eine Stellungnahme des Bundesrechnungshofs,
BRH, bekannt, in der dieser mit deutlichen Worten be-
mängelte, dass es dem Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik, BSI, in mehr als zwei Jahren
nicht gelungen sei, eine zertifizierte Software zur Nut-
zung der elektronischen Identität im neuen elektroni-
schen Personalausweis zur Verfügung zu stellen.

Und wie hängt beides zusammen? Der vorliegende
Gesetzentwurf soll die – im Grunde ja wünschenswerte –
Nutzung eines elektronischen Zugangs zu Führungs-
zeugnissen und Auskünften aus dem Gewerbezentral-
register eröffnen. Die bisher unbedingt vorgeschrie-
bene persönliche Antragstellung wäre damit hinfällig.
Der Bundesrechnungshof schreibt dazu, dass zwar
über 4 Millionen Euro ausgegeben worden sind, eine
zertifizierte Software für den Identitätsnachweis der
notwendigen Ausweis-App aber nicht vorliege.

Was ist die Folge? Nach der Personalausweisver-
ordnung sollen die Nutzer dieser Ausweis-App auf ih-
rem PC, Laptop oder anderem sicherstellen, dass sie
nur eine vom BSI zertifizierte Software einsetzen, weil
damit hinreichende Sicherheit gegeben sei. Tun sie das
nicht – und das ist das Entscheidende –, gehen sie un-
kalkulierbare Haftungsrisiken ein, sowohl was Daten-
verluste, als auch was kommerzielle Aktivitäten be-
trifft.

Laut BRH wurden die Nutzerinnen und Nutzer we-
der über die Nichtzertifizierung noch über die damit
verbundenen rechtlichen Probleme und Risiken infor-
miert. Die Deutsche Rentenversicherung biete gar den
elektronischen Zugang auf die Versichertendaten an

Zu Protokoll gegebene Reden





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


und verweise – wahrheitswidrig – auf eine zertifizierte
Ausweis-App des BSI.

In einer ersten Zusicherung hatte das BMI die Zer-
tifizierung verbindlich zugesagt. Der BRH zitiert sie
aber nun in dem Sinne, dass eine Zertifizierung in ih-
ren Augen nicht mehr nötig sei, da das BSI bei der Ent-
wicklung der Software ja schon alles geprüft habe.
„Auftretende Schwachstellen (können) frühzeitig er-

(„Saarbrücker Zeitung“ vom 22. April 2013)


Ich halte es ja tatsächlich für ein Problem, wenn die
softwareentwickelnde Behörde, hier also das BSI, die-
selbe ist, die das Produkt zertifizieren soll. So eine In-
teressenkollision haben wir im Gegensatz zu Ihnen im-
mer kritisiert und vor den Folgen gewarnt. Dass diese
Konstruktion jetzt aber auch noch dafür herhalten
muss, eine Zertifizierung ad acta zu legen, auf eine öf-
fentlich nachvollziehbare Sicherheitsbewertung zu
verzichten und die Nutzerinnen und Nutzer unwissend
zu lassen, das ist schon ein ziemlicher Hammer.

Dieses Vorgehen entspricht aber – und damit zurück
zum vorliegenden Gesetzentwurf und dem nächsten
Systemproblem – dem standardisierten fahrlässigen
Umgang dieser Bundesregierung mit zum Teil hoch-
sensiblen Daten der Bürgerinnen und Bürger: Schon
auf der ersten Seite der Gesetzesbegründung wird
nämlich auf die neuen Regelungen des Entwurfs eines
„Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwal-
tung …“, Bundestagsdrucksache 17/11473, verwiesen.
Dieses erst vor wenigen Tagen verabschiedete soge-
nannte E-Government-Gesetz basiert auf dem De-
Mail-Gesetz und der damit verbundenen unsicheren
Technik: ein hochgefährlicher Systemfehler der ange-
strebten elektronischen Verwaltung. Auf der Sachver-
ständigenanhörung wurde das ausgesprochen an-
schaulich dargestellt. Die Bundesregierung wollte das
nicht ändern und senkte stattdessen die Sicherheits-
standards in den Behörden zur Weitergabe von Daten
ab.

Eine kleine Zwischenbilanz: Der vorliegende Ge-
setzentwurf zwingt die Bürgerinnen und Bürger, mögli-
cherweise unsichere Technik einzusetzen und der Bun-
desregierung zu glauben, dass das schon in Ordnung
gehe. Derselbe Gesetzentwurf fußt in einer Regelung
– zum Umgang mit dem Geburtsnamen – auf dem ge-
rade erst verabschiedeten Gesetz zur elektronischen
Verwaltung, das wiederum auf der unsicheren De-
Mail-Technik basiert.

Beide zusammen würden nicht funktionieren, hätte
die Bundesregierung nicht das unsichere Projekt der
eID auf dem neuen Personalausweis gegen alle Kritik
auf Biegen und Brechen ohne jede Notwendigkeit
durchgesetzt.

Kaum eines der Versprechen auf optimale Daten-
sicherheit in den Großprojekten der Regierung konnte
eingehalten werden. Alle – bis auf das in aller Schön-
heit gestorbene ELENA – wurden und werden jetzt im
Endstadium der Legislaturperiode durchgedrückt, um
vollendete Tatsachen zu schaffen und im Dienste

wirtschaftlicher Interessen. Ich erinnere hier nur an
E-Perso, E-Government, ePass und elektronische Ge-
sundheitskarte.

Dagegen steht die Vernunft der Bürgerinnen und
Bürger: 17,5 Millionen Personalausweise mit eID-
Funktion wurden bis Oktober 2012 ausgegeben. Bei
70 Prozent davon haben klugerweise die Ausweisinha-
berinnen und -inhaber die eID-Funktion ausschalten
lassen. Denn noch kann man das, obwohl immerhin
130 behördliche und kommerzielle Internetdienste da-
mit anzuzapfen wären.

Hier zeigt sich korrektes bürgerliches Misstrauen.
Die Regierung scheint darauf zu setzen, durch voll-
endete Tatsachen und immer mehr per gesetzlichem
Zwang eingeleitete Angebote dieses Misstrauen aus
der Welt schaffen zu können. Ich bin mir sicher, dass es
sich dann eben anderswo wieder zeigen wird.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723742500

Als wir hier vor ein paar Jahren die Einführung des

elektronischen Personalausweises debattiert haben,
da war ein ganz laut vorgetragenes Argument immer:
Damit kann man sich elektronisch identifizieren, das
schafft Sicherheit im Onlinehandel und macht den Um-
gang mit staatlichen Behörden ganz einfach.

Inzwischen haben wir gelernt: Niemand hat es be-
sonders eilig, diese Segnungen für sich nutzbar zu ma-
chen. Genau wie bei der elektronischen Signatur ist
die meistgestellte Frage: Wozu brauche ich das? Und
wie bei der Signatur beantworten die meisten diese
Frage mit einem Schulterzucken. Die Bundesregierung
hat das auch bemerkt, und in der Begründung dieses
Gesetzes festgehalten: Kaum einer will die Identifika-
tionsfunktion, und selbst die Bundesregierung erwartet
nicht, dass es mehr werden.

Kein Wunder, es gibt keine Verwendung für diese
Funktion, nur Risiken. Und weil die Infrastruktur zu
teuer ist, wird sich das auch in der Tat nicht ändern.
Also nimmt es die Regierung nun auf sich, ein Angebot
zu schaffen, das dann auch wieder keiner nutzt.

Was sind die Zahlen? Nach zwei Jahren haben
17,5 Millionen Menschen den neuen Personalausweis.
Bei 75 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbür-
gern, die in Deutschland leben, hat also knapp ein
Viertel den neuen Ausweis. Bei einer Geltungsdauer
von fünf bzw. zehn Jahren, bei Verlusten und Ersatz ist
das einfach genau die Zahl, die man nach zwei Jahren
erwarten kann. Also kein Run auf den neuen Ausweis
mit seinen tollen Fähigkeiten.

Von diesen 17,5 Millionen neuen Ausweisen ist bei
nur 30 Prozent – also knapp 4,5 Millionen – die Funk-
tion zur elektronischen Identifikation eingeschaltet.
Erstes Mysterium: Die Bundesregierung erwartet
jährlich 500 000 Anträge auf elektronische Register-
auskunft. Nun mag man sagen: Es werden ja mehr
Ausweise, also auch mehr mit Identifikationsfunktion –
stimmt, aber werden die wirklich alle dann einen An-
trag elektronisch stellen? Ich habe meine Zweifel. Und
nimmt man mal an, dass nur die Hälfte von denen, die

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)


es könnten, den elektronischen Weg wählt, dann war-
ten wir noch eine ganze Weile, bis solche Zahlen er-
reicht sind.

Das zweite Zahlenrätsel bezieht sich auf die Zahl
der Anträge: Es sind jedes Jahr 4 Millionen. Anders
gesagt: Knapp jeder Zwanzigste stellt im Jahr einen
Antrag. Oder: Jeder nur alle knapp 20 Jahre. Warum
sollte ich mir für so eine seltene Notwendigkeit eine
elektronische Identifikationsfunktion in meinem Aus-
weis anschalten lassen?

Mich überzeugen diese Zahlen keinesfalls von der
Notwendigkeit, dieses neue Verfahren einzuführen. Die
Kosten jetzt sind garantiert, der Nutzen wirklich über-
schaubar. Keine Bürgerin und kein Bürger wird sich je
darüber beschweren, dass es so umständlich sei, wenn
man für einen Antrag, den man nur alle 20 Jahre stellt,
zum Amt gehen muss – zumal an solchen Anträgen zu-
meist ja auch einschneidende Ereignisse wie ein Wech-
sel des Arbeitsplatzes hängen; es also nicht darum
geht, die Bürokratiebelastung im Alltag zu reduzieren.

Wer die technischen Schwierigkeiten mit dem neuen
Ausweis kennt, wer weiß, dass alle Projekte dieser Art
noch immer teurer geworden sind als geplant, der
fragt sich wirklich, ob es die Millionen an einmaligen
Kosten wert sind, hier einen elektronischen Zugang zu
bauen, den ohnehin niemand nutzen will. Und es wird
ja bei einer Doppelstruktur bleiben müssen, der papie-
rene und persönliche Antrag bleibt ja möglich.

Der Entwurf räumt auch jegliche Sicherheitsbeden-
ken nonchalant beiseite. Es soll ein einfaches Verfah-
ren sein, also können auch schriftliche Nachweise ein-
gescannt und zugeschickt werden, und selbst eine
Versicherung an Eides statt über die Echtheit der
Nachweise kann elektronisch abgegeben werden. Alles
ohne ernstzunehmende technische Sicherung. Wie be-
fürchtet, wird die Identifikationsfunktion zur Signatur
light – auch elektronisch, dafür aber nicht sicher.

Alles in allem: Ein Projekt, das keiner braucht,
technische Mängel absehbar, damit auch Datenschutz-
probleme. Aus unserer Sicht die falsche Anwendung ei-
nes überflüssigen Ausweises.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723742600

Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf

Drucksache 17/13222 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine ande-
ren Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim),
Petra Crone, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD

Menschenrechte älterer Menschen stärken
und Erarbeitung einer UN-Konvention för-
dern

– Drucksachen 17/12399, 17/13220 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Angelika Graf (Rosenheim)
Pascal Kober
Katrin Werner
Tom Koenigs

Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1723742700

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Beobach-

tung beginnen. Da stehe ich – noch keine 50 Jahre alt –
morgens vor dem Spiegel, betrachte die Falten in mei-
nen Augenwinkeln und denke: Du solltest es vielleicht
mal mit einer Anti-Ageing-Creme probieren. Anti-
Ageing-Creme – ein Produkt gegen Falten, das sich
dreist damit schmückt, dem Altern vorzubeugen: „Ge-
gen-das-Altern-Creme“ hieße sie zu Deutsch. Sprache
verrät ja bekanntlich eine Menge über Inhalte und Ab-
sichten. Und die Werbesprache ist häufig ein besseres
Indiz für gesellschaftliche Normen, als alle politischen
Debatten und intellektuellen Diskurse es sein können.

Dem Altern kann man nicht vorbeugen. Die Haut
kann man pflegen. Um die Fitness kann man sich küm-
mern. Doch jeder Mensch wird alle 24 Stunden einen
Tag älter. C’est la vie – so ist das Leben.

Historisch neu und in der Geschichte bisher einma-
lig ist, dass wir alle, unsere gesamte Gesellschaft, je-
den Tag älter werden. Das Altern der Bevölkerung ist
einer der bedeutenden Trends des 21. Jahrhunderts.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-
moon schreibt: „Die sozialen und wirtschaftlichen Fol-
gen dieses Phänomens sind tiefgreifend und reichen in
beispielloser Weise weit über das Individuum und die
Familie hinaus bis in die Gesamtgesellschaft und die
Weltgemeinschaft.“ Die weltweiten Zahlen besagen,
dass 2050 mit 2 Milliarden Menschen ein Fünftel der
Menschen dieser Erde über 60 Jahre alt sein wird. Heute
ist es nur ein Neuntel. 80 Prozent der über 60-Jährigen
werden 2050 – das ist der geografische Unterschied –
in Entwicklungsländern leben. Die Organisation
HelpAge hat gesagt: „Die Welt wird grau.“

Das ist ein gesellschaftlicher Wandel, den es wahr-
zunehmen und zu gestalten gilt. Eine Herausforderung
nicht nur für die Politik. Das Altwerden ist Teil meines
Lebens. Und ich erschrecke, wenn ich das immanente
Vorurteil wahrnehme, das da bei mir selber mit-
schwingt, indem ich zur Anti-Ageing-Creme greife.
Oder besser gesagt: wenn ich diesen Begriff nutze.
Wenn schon die tägliche Körperpflege sich mit einem
Reflex gegen das Altwerden an sich verbindet, dann ist
das ein schlechtes Zeichen.

Die Haltung, die dahintersteckt, kulminiert in kei-
nem Begriff stärker als im Wort „Überalterung“. Für
mich ist dieser Begriff schon eine Diskriminierung in
sich. Da wird ein gesellschaftlicher Konsens infrage
gestellt, der den eigentlichen Kitt unseres Zusammen-
lebens darstellt: das Miteinander der alten und der





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


jungen Menschen, der sogenannte Generationenver-
trag. Hier wird ein Problem – das es ja tatsächlich gib,
und dem wir uns stellen müssen –, das Problem des de-
mografischen Wandels, einseitig einer Generation an-
gelastet, nämlich der älteren.

Ich plädiere erneut dafür, hier einen anderen Begriff
in die Debatte einzuführen: die „Unterjüngung der
Gesellschaft“. Wir haben zu wenig Kinder – nicht zu
viele alte Menschen. Wir werden nicht nur älter, wir
werden auch weniger. Und das verändert die Gesell-
schaft. Herbert Henzler und Lothar Späth schlagen in
ihrem lesenswerten Buch „Der Generationen-Pakt“
sogar einen Paradigmenwechsel vor, im Untertitel
heißt es: „Warum die Alten nicht das Problem, son-
dern die Lösung sind“. Die Alten, das zeigen die bei-
den Autoren an vielen Daten und praktischen Beispie-
len, werden gebraucht. Ja, ich möchte verstärken: Sie
werden heute mehr gebraucht denn je: die Erfahrung
und das Engagement der alten Menschen – welches
sich in nicht zuletzt in unzählbaren Stunden ehrenamt-
licher Arbeit ausdrückt, deren volkswirtschaftlicher
Beitrag sich zu mehrstelligen Milliardensummen sum-
miert und deren eigentlicher Wert nicht diesen beein-
druckenden ökonomischen Kennzahlen, sondern im
sozialen Miteinander sichtbar wird.

Um zwei Beispiele zu nennen: Wie oft ist es nicht
eine wirtschaftliche Maßnahme wie etwa das Eltern-
geld – so richtig und wichtig und politisch notwendig
das Elterngeld ist! –, die ein Paar dazu bewegt, den
Kinderwunsch zu realisieren, sondern es sind ganz an-
dere, soziale Gründe. Es sind Oma und Opa und ihre
Bereitschaft, die junge Familie zu unterstützen und zu
entlasten, die Kinder von der Kita oder der Schule ab-
zuholen, sie mal abends ins Bett zu bringen oder auch
mal den einen oder anderen finanziellen „Zuschuss“
zu geben. Oder das andere Beispiel: Wie oft sind es
nicht die professionellen Pflegedienste, die sich um die
Kranken kümmern, so wichtig es für die Politik ist,
Pflege institutionell zu organisieren und – wie das mit
der Pflegeversicherung geschehen ist – sie wirtschaft-
lich gesund und langfristig stabil aufzustellen. Es sind
in überwältigender Mehrheit die Angehörigen, die Le-
benspartner, die den Pflegebedürftigen liebevoll und
unter großem zeitlichem Aufwand pflegen.

Alte Menschen sind ein Schatz und eine Bereiche-
rung für eine Gesellschaft. Und das gilt nicht nur für
die fleißigen und fitten „jungen Alten“, das gilt auch
dann, wenn diese älteren Menschen „wunderlich“
oder „gebrechlich“ werden, um zwei ältere Adjektive
zu bemühen. Ich persönlich habe als Kind 14 Jahre
meines Lebens in einem Altenheim gelebt; meine El-
tern haben diese Einrichtung mit geleitet. Viele dieser
Menschen werde ich nie vergessen. Ich erinnere mich
an Gesichter, und ich erinnere mich an Begegnungen.
Wie ich bereits in meiner letzten Rede erwähnte, erin-
nere mich an Oma Berta, wie wir sie alle nannten;
schon 99 Jahre alt, war sie doch quicklebendig und ein
aufmunternder Gesprächspartner für die Menschen
um sie herum, nicht nur im Haus selber, sondern auch

im Dorf, in dem das Heim stand. Ich erinnere mich
auch an Opa Walther, der überhaupt kein Problem
hatte, sich mit den Jugendlichen zu unterhalten, und
der ihnen mit seinem reichen Erfahrungsschatz und
seinem breiten Wissen in vielen Diskussionen das Was-
ser reichen konnte. Wir jungen Leute hingen an seinen
Lippen und konnten gar nicht genug von seinen Ge-
schichten hören.

Ältere Menschen – ich wiederhole mich und werde
an dieser Stelle auch nicht müde, mich zu wiederho-
len – sind ein sozialer Schatz für unsere Gesellschaft.
Sie verdienen unsere Wertschätzung. Daneben brau-
chen sie aber auch unseren Schutz. Die Menschen-
rechte älterer Menschen stärken und Altersdiskrimi-
nierung schon in ihren Ansätzen zu unterbinden: Ja,
das müssen wir tun! Hier ist Politik gefordert.

Die oben erwähnte Aussage Ban Ki-moons macht
deutlich, dass die demografische Entwicklung ein glo-
bales Problem ist. Und doch gibt es dabei große regio-
nale Unterschiede. Alleine die Entwicklungen in der
nördlichen und der südlichen Hemisphäre gehen weit
auseinander. Diesem Umstand trägt der heute zu dis-
kutierende Antrag leider zu wenig Rechnung. Er ist
nicht differenziert genug.

Die Lage älterer Menschen hat sich in den Entwick-
lungsländern in den letzten Jahren dramatisch ver-
schlechtert. Ältere Menschen haben in Afrika, in Asien
und auch in Lateinamerika aufgrund ihrer Lebens-
erfahrung nicht nur innerhalb der Kernfamilie tradi-
tionell einen hohen gesellschaftlichen Status. Sie
galten als Lehrer, als „Weise“ und damit als Entschei-
dungsträger oder juristische Vermittler in der Ge-
meinde bzw. der Gemeinschaft. Dieser Status ändert
sich rasant. Zurzeit erleben alte Menschen besonders
in Afrika immer häufiger Gewalt und Misshandlungen.
Die Gründe dafür zu analysieren, ist eine elementare
Voraussetzung dafür, dem Problem wirksam begegnen
zu können. Dabei spielen sicherlich existenzieller
Druck und wirtschaftliche Notsituationen eine zentrale
Rolle. Armut oder HIV/Aids sind Gründe für die Ver-
schlechterungen, ebenso Analphabetismus und die hö-
here Vulnerabilität älter werdender Menschen.

Ob diese Probleme durch eine UN-Konvention für
die Rechte älterer Menschen gelöst werden können, ist
fraglich. Um diese Frage aber auch wirklich zu beant-
worten, hat die „UN Open-ended Working Group on
Ageing“ im Dezember 2012 den Auftrag erhalten, die
tatsächliche Notwendigkeit einer solchen Konvention
und in deren Folge die Einsetzung eines UN-Sonderbe-
richterstatters für die Menschenrechte älterer Men-
schen zu prüfen und einen Vorschlag dazu zu unter-
breiten, welche Punkte eine Vereinbarung zum Schutz
der Rechte Älterer umfassen sollte. Da abschließende
Erkenntnisse aktuell noch nicht vorliegen, ist der Zeit-
punkt, eine solche Konvention zu fordern, eindeutig
verfrüht. Diese Einschätzung teilen alle mitberatenden
Ausschüsse, die den Antrag abgelehnt haben: der Aus-
wärtige Ausschuss, der Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, der Gesundheitsausschuss

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


und der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung.

Als Menschenrechtler können wir bereits vor dem
Bericht der UN-Arbeitsgruppe feststellen, dass ent-
sprechende völkerrechtliche und menschenrechtliche
Voraussetzungen zum Schutze der älteren Menschen
bestehen.

Da sind der Internationale Pakt über bürgerliche
und politische Rechte, der Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte sowie die Internationale
Konvention zum Schutz der Rechte aller Wander-
arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. Immer
geht es in diesen Übereinkünften auch um das Alter,
auch wenn es nicht immer explizit genannt wird.

Ausdrücklich benennt und verbürgt Art. 25 der 2009
in Kraft getretenen Charta der Grundrechte der Euro-
päischen Union das Recht älterer Menschen auf ein
würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme
am sozialen und kulturellen Leben.

Alter ist darüber hinaus eines von sechs Merkma-
len, die durch das deutsche Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz von 2006 geschützt werden – dort heißt es
ausdrücklich: Niemand darf aufgrund seines Alters
diskriminiert werden.

Nicht die fehlende Rechtsgrundlage ist also das we-
sentliche Problem, wenn es darum geht, ältere Men-
schen besser zu schützen. Es besteht vielmehr der
Bedarf, die bestehenden Verträge, die aus diesen Ver-
trägen resultierenden Mechanismen besser anzuwen-
den.

Denn – und da gehen die Fraktionen der Regie-
rungskoalition und die Antragsteller konform – es lie-
gen große nationale und internationale Herausforde-
rungen vor uns.

Daher können wir die Forderung unterstützen, dass
sich die Bundesregierung im Rahmen von Entwick-
lungspartnerschaften und wirtschaftlicher Zusammen-
arbeit auch weiterhin für die Umsetzung von Systemen
des sozialen Basisschutzes, für sogenannte Social Pro-
tection Floors, in Partnerländern einsetzt und auf
diese Länder hinwirkt, im menschenrechtlichen Be-
reich ordnungsrechtliche Verantwortung zu überneh-
men.

Auch in Deutschland ist der Status quo nicht befrie-
digend. Auch hier möchte ich erneut einige in meiner
letzten Rede genannten Probleme in Deutschland kon-
kret ansprechen:

Die altersbedingten Krankheiten, die eine Demenz
zur Folge haben – in der öffentlichen Diskussion ist
Alzheimer der bestimmende Begriff –, führen oft zu
Fremdbestimmung und Entmündigung, zu Altersarmut
und Diskriminierung.

Es gibt Diskriminierung im Erwerbsleben, beim Ab-
schluss von Versicherungen und soziale Isolation.
Auch Fälle von Misshandlungen im Pflegewesen wur-
den publik: körperliche Misshandlung durch Festhal-

ten, emotionale Misshandlung durch Beschimpfung
oder in Form von Vernachlässigung.

Der angloamerikanische Sprachraum hat für das
Phänomen der Altersdiskriminierung einen Fachbe-
griff – analog dem Sexismus – geformt: Ageism. Es
existiert noch keine adäquate deutsche Entsprechung.
Geriatrismus vielleicht? Gemeint sind stereotype Ein-
stellungen, die zu diskriminierendem Verhalten gegen-
über älteren Menschen führen. Ageism beschreibt ei-
nerseits die Diskreditierung des Altersprozesses als
solcher – Sie erinnern sich an mein einleitendes Bei-
spiel von der Anti-Ageing-Creme? – und andererseits
die Exklusion von der Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben all derjenigen, die als „alt“ etikettiert werden.

Sie erinnern sich an das von mir zitierte Beispiel
aus der Tageszeitung „Die Welt“? Sie hat im vergan-
genen Jahr in einem Bericht das Beispiel von Margret
Schukies, einer attraktiven und unternehmungslusti-
gen Dame, 62 Jahre alt, beschrieben. Sie wollte sich
einen Hundewelpen in einem Tierheim abholen; aber
die Leiterin des Tierheims sagte zu ihr, sie sei zu alt.

Wir finden nach wie vor diskriminierende Alters-
grenzen, Höchstaltersgrenzen genannt, im Ehrenamt
und im Kirchengesetz.

Wir dürfen daher in unseren Anstrengungen gegen
die Altersdiskriminierung nicht nachlassen!

Und deswegen ist es mir, neben der klaren Benen-
nung der Probleme, auch wichtig, auf die begonnenen
Maßnahmen hinzuweisen. Wir brauchen dafür, das for-
dern die Antragsteller zu Recht, eine stärkere Einbe-
ziehung aller zivilgesellschaftlichen Verbände.

Die bereits bestehenden menschenrechtlichen
Schutzmechanismen für ältere Menschen habe ich be-
reits erwähnt. Darüber hinaus gibt es auf den ver-
schiedenen politischen Ebenen Maßnahmen gegen Al-
tersdiskriminierung.

Das Jahr 2012 ernannte die Europäische Union
zum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solida-
rität zwischen den Generationen“. Um eine breite
europäische Debatte voranzubringen, wurden anläss-
lich dieses Jahres 90 Initiativen auf lokaler, nationaler
und europäischer Ebene initiiert und durchgeführt.

In Deutschland wurde ebenfalls im vergangenen
Jahr die Demografiestrategie der Bundesregierung
unter dem Titel „Jedes Alter zählt“ auf den Weg ge-
bracht. Sie vereint mehrere Zielrichtungen. Eine davon
ist es, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für das
Thema zu schaffen. Die Bundesregierung engagiert
sich bei der Bekämpfung von Stereotypen bezüglich äl-
terer Menschen und setzt sich für eine bessere Lebens-
qualität ein.

Die Demografiestrategie umfasst sechs Themenfel-
der. Um eines davon beispielhaft herauszunehmen:
Unter der Überschrift „Selbstbestimmtes Leben im Al-
ter“ geht es um die Ziele: selbstbestimmtes Leben, Ak-
tivität im Alter, gesellschaftliche Teilhabe, gesundes
Altern.

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Zu würdigen in diesem Zusammenhang ist die Ar-
beit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit ih-
rem Themenjahr 2012 und der Kampagne „Im besten
Alter. Immer.“

Als erstes deutsches Bundesland hat Sachsen 2005,
und das sage ich als sächsischer Abgeordneter nicht
ohne Stolz, einen Landesseniorenbeauftragten bestellt.
Dieser hat sich seither unter anderem um folgende
konkrete Projekte gekümmert: Förderung der Teilhabe
am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, ins-
besondere im ländlichen Raum, oder die altersentspre-
chende Anpassung von Bildschirmen und Eingabemas-
ken. Diese guten Erfahrungen aus Sachsen lassen sich
auf andere Bundesländer übertragen.

Ähnliches gilt für die Arbeit der Seniorenbeiräte.
Ich unterstütze daher das Anliegen des Antrags, die
Bundesregierung aufzufordern, auf die Bundesländer
einzuwirken, Seniorenbeiräte in den Ländern und
Kommunen nach einheitlichen rechtlichen Grundlagen
einzurichten

In meinem Wahlkreis Chemnitz gibt es ein bemer-
kenswertes Forschungsprojekt. Im Rahmen der Profes-
sur für Arbeitswissenschaft gibt es das Forschungsge-
biet über alle Aspekte des demografischen Wandels.
Initiiert wurde es von Professorin Spanner-Ulmer.
Neben den Fragen zu altersgerechter Prozess- und
Produktgestaltung wurde die Simulation von alters-
induzierten Leistungseinschränkungen mithilfe trag-
barer Alterssimulationsanzüge untersucht. Die Aus-
wirkungen dieser Forschungen sind beachtlich: Sie
führen zu marktfähigen Produktinnovationen, sind
also ein Wirtschaftsfaktor, und sie führen zu Möglich-
keiten der Teilhabe älterer Menschen am wirtschaftli-
chen und gesellschaftlichen Leben, sind also zugleich
ein sozialer Faktor. Hier zeigt sich: Wenn wir im Be-
reich Forschung vorne dranbleiben wollen, müssen
wir auch in diesem Bereich die älteren Menschen in
den Fokus nehmen. Hier sind die Alten ganz praktisch
„nicht nur das Problem, sondern die Lösung“.

Der Forschungsbedarf ist auch im medizinischen
und anderen Bereichen erheblich. Nicht zuletzt in der
Sozialforschung müssen neue Modelle des Zusammen-
lebens evaluiert und gefördert werden, die das Mitei-
nander von Jung und Alt verbessern. Sehr erfolgreich
wurden die Modellprojekte der Mehrgenerationenhäu-
ser entwickelt.

Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von
Henning Scherf, einem Vorreiter für neue Modelle ge-
meinschaftlichen Lebens. Die Wichtigkeit, die Bedeu-
tung älterer Menschen in unserer Gesellschaft lässt
sich kaum positiver und mutmachender ausdrücken,
als es dem Bremer Altbürgermeister in seinem Buch
„Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist“ gelingt. Zur
Lebenserwartung der heute 60-Jährigen, die noch
durchschnittlich 30 Jahre Lebenserwartung vor sich
haben, schreibt Scherf:

„30 Jahre in wunderbaren Bedingungen, weil wir
nämlich eine Rente haben, die uns ernährt, weil wir

plötzlich Zeit haben, weil wir noch fit sind, weil wir
uns noch interessieren können, einmischen können,
weil wir uns noch beteiligen können, ohne immer zu
fragen: Kriege ich da auch das richtige Gehalt da-
für?“


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1723742800

Wir beraten heute abschließend den SPD-Antrag

„Menschenrechte älterer Menschen stärken und Erar-
beitung einer UN-Konvention fördern“. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, bei
Ihren Redebeiträgen in der ersten Lesung und im Aus-
schuss habe ich zwei Punkte herausgehört, die Sie in
unserem Antrag kritisch sehen. Ich kann Ihrer Argu-
mentation allerdings überhaupt nicht folgen. Sie
gestatten deshalb, dass ich mich auch hier mit Ihrer
Kritik beschäftige und sie ausräume.

Erstens halten Sie eine Konvention für ältere Men-
schen – eine der vulnerabelsten Gruppen überhaupt –
für nicht notwendig und möchten daher auch nicht die
Einsetzung eines UN-Sonderberichterstatters unter-
stützen. Ihre Argumente, mit denen Sie Ihre Kritik
begründen, haben mich wirklich schockiert: „Eine
weitere Konvention brauchen wir doch nicht!“ Sie
stellen sich tatsächlich die Frage, ob ein Diskussions-
prozess und die Beschäftigung der UN mit diesem
Thema „wirkliche Verbesserungen“ möglich machen
würden, und verweisen auf die EU-Regelungen. Das
können Sie eigentlich nicht ernst meinen. Mit einem
solchen Argument könnte man die kompletten Struktu-
ren und Instrumente der UN infrage stellen, alle Kon-
ventionen für nicht umsetzbar erklären und sich nur
noch mit sich selbst beschäftigen. So bringen Sie den
internationalen Menschenrechtsschutz nicht voran. Sie
behindern, im Gegenteil, eine effektive Weiterentwick-
lung der internationalen und letztendlich nationalen
Schutzmechanismen und lassen erkennen, dass Sie den
globalen Aspekt des Themas nicht begriffen haben.

Dabei hat Ihnen unser Kollege Tom Koenigs in sei-
ner Rede bei der ersten Lesung den Prozess erklärt:
Genau durch solche Konventionen ist die universelle
Menschenrechtserklärung in den vergangenen knapp
80 Jahren Stückchen für Stückchen weiterentwickelt
worden. Nur dank mutiger Vorreiter, die die Situation
von besonders vulnerablen Gruppen in den Fokus
rückten, konnte die internationale Gemeinschaft mit
der Schaffung von Schutzmechanismen reagieren.
Wenn es diese Weiterentwicklung nicht gegeben hätte,
stünden wir heute immer noch auf dem Stand von
1948. Diese Konventionen beschneiden nicht die
Rechte anderer Bevölkerungsgruppen, sondern führen
zu mehr Rechten für alle: Die UN-Kinderrechtskon-
vention oder die UN-Behindertenrechtskonvention,
zum Beispiel, wurden zu Wegweisern und sind für alle
von Nutzen. Wir wollen die Lücke bei den älteren Men-
schen schließen und in Solidarität mit anderen Teilen
der Gesellschaft auch hier ähnliche Erfolge erzielen.
Deshalb kann ich Ihre ablehnende Haltung nicht ver-
stehen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


Weil wir von der SPD die Brisanz der Debatte er-
kannt haben, fordern wir die Bundesregierung auf,
sich aktiv in den Diskussionsprozess auf internationa-
ler Ebene einzubringen. Das schafft Öffentlichkeit, das
schafft Aufmerksamkeit und das stärkt das Bewusstsein
der Betroffenen und ihrer Vertreter. Vor allem aber
denke ich auch, dass sich Deutschland mit seinen Er-
fahrungen im Zusammenhang mit dem Antidiskrimi-
nierungsgesetz gut und produktiv einbringen kann und
muss.

Als einen weiteren Grund, sich unseren Vorschlägen
zu verweigern, nannten Sie die gegenwärtige Situation
hier in Deutschland: Hier sei doch alles in bester Ord-
nung. Und Sie wurden nicht müde, die jüngsten Aktivi-
täten Ihrer Regierung aufzulisten. Ich denke, Sie wi-
derlegen sich selbst: Wenn doch alles wunderbar läuft,
warum gibt es dann zum Beispiel immer noch – im Üb-
rigen durch Studien belegt – Defizite und gravierende
Diskriminierungen älterer Menschen in Deutschland?
Und selbst wenn alles so super wäre und wir keinen
Handlungsbedarf in Deutschland hätten, weil die Ziele
der Konvention schon jetzt so gut wie erfüllt wären,
entbände uns das doch nicht von unserer menschen-
rechtlichen Verantwortung, auch ältere Menschen in
anderen Ländern verstärkt zu schützen und zu unter-
stützen. Diese Argumentation schließt nahtlos an Ihr
erstes Argument an: „Warum eine neue Konvention?
Wir haben doch bereits einen verankerten Schutz in
Europa.“ Ganz abgesehen davon, dass auch in der EU
nicht alles wirklich gut läuft für ältere Menschen, finde
ich diese Scheuklappenhaltung sehr problematisch.
Sie müsste eigentlich unter Ihrem intellektuellen
Niveau sein.

Es ist eines der ehernen Prinzipien der Menschen-
rechtspolitik in Deutschland, auch die eigene Situation
ohne rosarote Brille – oder soll ich sagen: schwarz-
gelb-gestreifte Tigerentenbrille? – zu reflektieren. Und
da stelle ich fest: Eine unvoreingenommene Betrach-
tung der Lage in der EU und auch bei uns in Deutsch-
land müsste Sie eigentlich zu dem Schluss bringen,
dass die Bundesregierung die Problematik der Diskri-
minierung Älterer auf nationaler Ebene nicht ernst
genug nimmt. Sprechen Sie doch einmal mit der Leite-
rin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau
Lüders! Diskriminierungen wegen Alters sind eines ih-
rer Hauptbeschwerdefelder. Das fängt beim Bankkonto
und bei Krediten an und hört bei Bürgermeister- oder
Schöffentätigkeiten auf. Und was tut die Bundesregie-
rung? Eine ihrer ersten Handlungen bei Amtsantritt
2009 war, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
die Mittel zu kürzen. Wir fordern die Bundesregierung
mit diesem Antrag dazu auf, diese Kürzungen zurück-
zunehmen.

Wir wollen zudem, dass in Deutschland die
Menschenrechte im Bereich der Pflege effektiver über-
wacht werden. Die Heimaufsichtsbehörden und die
medizinischen Dienste müssen besser als bisher in die
Lage versetzt werden, ihre Kontrollmöglichkeiten zu
nutzen. Sanktionen dürfen kein Tabu sein. Unangemel-

dete Kontrollen in Heimen müssen eine Selbstver-
ständlichkeit werden.

Wir wollen mehr darüber wissen, wie diese
Kontrollmöglichkeiten genutzt und verbessert werden
können – deshalb regen wir mit unserem Antrag eine
wissenschaftliche Evaluierung dieser Kontrollmög-
lichkeiten an – sowie darüber, wie das Wohn- und Be-
treuungsvertragsgesetz und die Heimgesetze der Län-
der hinsichtlich dieser Fragestellungen funktionieren.

Dies sind nur einige der Knackpunkte, bei denen
man in Deutschland eindeutigen Verbesserungsbedarf
feststellen kann. Es ist eine Schande, dass Ihre Regie-
rung auf nationaler und internationaler Ebene keiner-
lei Zeichen für eine entsprechende UN-Konvention
setzt, obwohl die UN 2012 feststellte, dass das Men-
schenrechtssystem lückenhaft ist, und explizit anregte,
die Rechte zum Schutz Älterer neu zu regeln. Die Bun-
desregierung ist – wie auf anderen Themenfeldern –
im Zweifel untätig und überlässt Anstrengungen für
Verbesserungen der Zivilgesellschaft.

Wir fordern die Bundesregierung daher dringend
auf, aktiv zu werden. Unterstützen Sie endlich die UN
Working Group on Ageing bei der Erarbeitung einer
UN-Konvention für ältere Menschen sowie bei der
Bestellung eines UN-Sonderberichterstatters bzw. ei-
ner UN-Sonderberichterstatterin, der oder die für die
Umsetzung und Einhaltung dieser zu beschließenden
Konvention zuständig ist.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1723742900

In ihrem Antrag fordert die SPD die Bundesregie-

rung auf, sich auf internationaler und nationaler
Ebene für die Stärkung der Menschenrechte älterer
Menschen einzusetzen. Wir müssen daher den Antrag
zunächst aus zwei Perspektiven betrachten: Zum einen
ließe sich trefflich darüber diskutieren, wie auf inter-
nationaler Ebene bei diesem Thema wirklich Verbesse-
rungen möglich sind und wie diese im Rahmen der Ver-
einten Nationen ausgestaltet werden könnten.

Zum anderen aber ist darauf hinzuweisen, dass ein
Großteil des Antrags ausschließlich die nationalen
Aspekte der Situation der Älteren behandelt. Und da
muss man sagen, dass sich diese christlich-liberale
Bundesregierung maßgeblich für die Bedürfnisse der
älteren Menschen in unserem Land einsetzt. Denn der
demografische Wandel und – mit ihm einhergehend –
die Diskriminierung älterer Menschen sind wichtige
gesamtgesellschaftliche Herausforderungen und lie-
gen der Koalition sehr am Herzen.

So hat diese Bundesregierung im vergangenen Jahr
eine Demografiestrategie auf den Weg gebracht, bei
der Maßnahmen und Aufgabenfelder konkret benannt
und Handlungsziele beschrieben worden sind. Ich
möchte die wichtigsten Aspekte der Demografiestrate-
gie aufzeigen; denn daraus wird ersichtlich, wie viel
wir für die Rechte Älterer getan haben und weiter tun
werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Erstens stärken wir die Familie als Gemeinschaft.
Denn nirgendwo sind Zusammenhalt und gegenseiti-
ges Vertrauen stärker als in der Familie. Das gilt ins-
besondere bei der Pflege Älterer, auf die ich gleich
noch dezidiert eingehen werde.

Zweitens setzen wir uns dafür ein, dass die Men-
schen qualifiziert und gesund arbeiten und damit auch
im Alter gesünder leben können. In diesem Zusammen-
hang werden wir für ältere Arbeitnehmer bessere
Möglichkeiten schaffen, Erwerbstätigkeit und Rente
flexibel zu kombinieren.

Dies ist natürlich auch für die Unternehmen und für
die jüngeren Generationen von großer Bedeutung.
Denn der Erfahrungsschatz der älteren Mitarbeiter
wird in der Wirtschaft sehr geschätzt.

Drittens macht sich diese Bundesregierung dafür
stark, dass die Menschen in unserem Land selbst-
bestimmt im Alter leben können. So gehören etwa
altersgerechte Wohnformen, technische Geräte für Äl-
tere und die Mobilität der Älteren zu den zentralen Zie-
len der Demografiestrategie.

Vor diesem Hintergrund werden wir auch die Rah-
menbedingungen für das Engagement der Menschen
über die Generationen hinweg verbessern. Dazu zählt,
um nur einige Beispiele zu nennen, dass wir Anlauf-
stellen und Mehrgenerationenhäuser breiter veran-
kern werden.

Ein weiterer Punkt ist die Stärkung zukunftsweisen-
der Modelle der Mitverantwortung von Bürgerinnen
und Bürgern in den Kommunen. Denn dies ist auch
eine From gelebter Generationenverantwortung. Dazu
gehört, dass wir die Pflegeberufe zukunftsgerecht
weiterentwickeln und die Pflegeversicherung ein-
schließlich des Begriffs der Pflegebedürftigkeit neu
ausrichten werden.

Hier sind im Übrigen bereits erste wichtige Schritte
getan. Denn seit dem 1. Januar 2013 gibt es aus der
Pflegeversicherung auch Leistungen für Demenzer-
krankungen. Das ist sehr wichtig, da zunehmend
Familien bzw. demenzkranke Menschen in der Pflege
auf Unterstützung angewiesen seien. Jetzt gibt es hier
nicht nur Leistungen für körperliche Einschränkun-
gen. Nun werden auch psychische Einschränkungen
wie Demenz unterstützt.

Neben diesen finanziellen Leistungen des Bundes
sind wir gerade dabei, eine nationale Allianz für
Menschen mit Demenz auf den Weg zu bringen und die
Bildung regionaler Hilfenetze zu unterstützen. Daher
haben wir auch die Mittel für Selbsthilfegruppen er-
höht. Denn da glücklicherweise immer noch der
weitaus überwiegende Teil der Pflegebedürftigen in
Familien gepflegt wird, ist es wichtig, den Familienan-
gehörigen zur Seite zu stehen.

Letztlich setzt die Demografiestrategie natürlich
auch immer auf die Eigeninitiative und die Kraft der
Menschen. Denn wir wollen Vorschläge entwickeln,
wie die Bereitschaft, für sich und andere Verantwor-

tung zu übernehmen, gestärkt und besser in die konkre-
ten Politikfelder eingebunden werden kann.

Vor dem Hintergrund dieser Erfolge ist es nicht be-
sonders hilfreich und glücklich, dass die SPD in ihrem
Antrag die internationalen mit den nationalen Interes-
sen Älterer vermengt hat. Im Gegenteil wird durch den
Antrag die Bedeutung der Interessen Älterer auf der
internationalen Ebene wieder geschmälert, statt auf
ihre Bedürfnisse einzugehen. Daher ist der Antrag ab-
zulehnen.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723743000

Im Jahr 2050 wird jede und jeder dritte Deutsche

älter als 60 Jahre sein. Das wird aber nicht nur bei uns
und in anderen Ländern des Nordens der Fall sein,
sondern gilt weltweit. Seriösen wissenschaftlichen
Prognosen zufolge werden im Jahr 2050 weltweit etwa
2 Milliarden Menschen über 60 Jahre alt sein. Heute
sind es gerade einmal 810 Millionen. In praktisch ei-
ner Generation wird es insgesamt mehr ältere Men-
schen auf der Erde geben als Kinder unter 14 Jahren.

Für ein würdevolles Leben im Alter müssen die
Rechte älterer Menschen gestärkt werden, weil es sich
um eine stetig wachsende Gruppe von Menschen han-
delt, die besonders verletzlich ist. Es ist daher richtig,
wenn die SPD in ihrem Antrag fordert, der besonderen
Schutzbedürftigkeit von älteren Menschen dahin ge-
hend Rechnung zu tragen, dass eine eigene UN-Kon-
vention verabschiedet und ein zuständiger Sonderbe-
richterstatter ernannt werden sollte. Denn was hilft es,
wenn eine Konvention vorhanden ist, aber keine ent-
sprechende Kontrolle stattfindet? Die Linke unterstützt
beide Forderungen ausdrücklich.

Es überrascht mich nicht, dass die Bundesregierung
vehement gegen die Verabschiedung einer UN-Kon-
vention ist. Wer gleich zu Beginn seiner Regierungs-
zeit, wie dies Schwarz-Gelb 2009 getan hat, ausge-
rechnet bei der nationalen Antidiskriminierungsstelle
den Rotstift ansetzt, zeigt damit, dass er auch bei den
älteren und kranken Menschen die neoliberale Politik
sozialer Grausamkeiten durchexerzieren will. Die so-
zial Schwachen und die besonders verwundbaren
Gruppen sind immer die Ersten, die es trifft. Darauf ist
bei dieser Bundesregierung immer Verlass gewesen.

Um von der sozialen Kahlschlagpolitik auch in die-
sem Bereich abzulenken, hat Schwarz-Gelb ein Pla-
cebo präsentiert: Es ist die „Demografiestrategie“,
die eine Fülle von unverbindlichen, wohlklingenden
Absichtserklärungen enthält, ohne dabei konkrete Ak-
tionspläne und Instrumente zu präsentieren. Das ken-
nen wir schon zur Genüge aus anderen Bereichen.

Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber älteren
Menschen schreien auch bei uns zum Himmel: Es gibt
einen akuten Pflegenotstand. In Alters- und Pflegehei-
men fehlen examinierte Altenpflegerinnen und Alten-
pfleger. Stress und Überlastung bestimmen den Ar-
beitsalltag vieler Beschäftigten, die mit 8,50 Euro pro
Stunde abgespeist werden. Niemand sollte in einem

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)


solchen verantwortungsvollen Beruf unter 10 Euro pro
Stunde arbeiten müssen. Das fehlt im Antrag der SPD,
der nur sehr allgemein bessere Arbeitsbedingungen
und einen gesetzlichen Mindestlohn für die Beschäftig-
ten fordert, ohne eine konkrete Höhe zu nennen. Die
Leidtragenden dieser kaltherzigen, neoliberalen Ar-
beitsethik sind die alten und pflegebedürftigen Men-
schen, die zu wenig menschliche Zuwendung erhalten
und häufig nicht einmal ausreichend zu trinken bekom-
men. Ruhigstellungen durch Medikamente, Zwangs-
ernährung mittels Magensonden und Fixierungen an
Händen und Füßen sind ebenfalls keine Seltenheiten.
Das sind schwere Einschränkungen in das Selbstbe-
stimmungsrecht der betroffenen Menschen.

Der Großteil der Pflege, etwa zwei Drittel, spielt
sich in der Familie ab. Viele Angehörigen kümmern
sich aufopferungsvoll um ihre alten und kranken Fami-
lienmitglieder, obwohl dies oft nur schwer mit dem Be-
ruf zu vereinbaren ist. Sie benötigen mehr gesellschaft-
liche Anerkennung und stärkere Unterstützung durch
die Politik. Auch das Heimrecht müsste den gesell-
schaftlichen Realitäten stärker Rechnung tragen. Da-
rauf geht der SPD-Antrag leider überhaupt nicht ein.

Ein heute schon absehbares Problem wird die künf-
tige Altersarmut sein. Durch den von Rot-Grün mit der
Agenda 2010 eingeführten Niedriglohnsektor drohen
vielen heutigen Erwerbstätigen im Alter Minirenten,
die keinen menschenwürdigen Lebensabend mehr ga-
rantieren. Frauen werden davon besonders betroffen
sein, da sie infolge von Kindererziehungszeiten und
mehr prekärer Beschäftigung häufiger unterbrochene
Erwerbsbiografien aufweisen als Männer und dement-
sprechend geringere Rentenansprüche erwerben.
Hinzu kommt ihr längeres Lebensalter. Bereits jetzt
kommen bei den über 80-Jährigen 100 Frauen auf
61 Männer. Daraus lässt sich ableiten: Die künftige
Altersarmut wird ebenso wie die Pflegebedürftigkeit
vor allem ein weibliches Gesicht tragen.

Das wird auch in anderen Bereichen zu ernsthaften
Problemen führen, die der SPD-Antrag vernachlässigt.
Wie verhält es sich beispielsweise, wenn aufgrund der
Rentenkürzungspolitik der Bundesregierung bei gleich-
zeitiger Preistreiberei auf dem Wohnungsmarkt die
Seniorinnen und Senioren künftig größere Schwierig-
keiten haben werden, ihre Mieten zu bezahlen? Der
Zugang zu bezahlbarem und angemessen ausgestatte-
tem Wohnraum ist ein Menschenrecht, das auch Älte-
ren zusteht. Und wie steht es um die Finanzierung von
altersgerechtem Wohnraum, wenn aufgrund der weiter
zunehmenden Lebenserwartung der Menschen auch
der Bedarf steigt und gleichzeitig bei der öffentlichen
Wohnungsbauförderung Ebbe herrscht, weil die Kom-
munen klamm bei Kasse sind und die Vorgaben der
Schuldenbremse einhalten müssen? Hier muss eindeu-
tig in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen
gedacht werden, was die Auswirkungen der neolibera-
len Sozialkahlschlagpolitik der letzten zehn Jahre be-
trifft, die sich vor allem gegen die Schwächsten der
Gesellschaft richtet. Wenn diese Entwicklung nicht

endlich gestoppt wird, dann wird in Deutschland wo-
möglich schlimmstenfalls Altersarmut sogar bald mit
physisch bedrohlicher Ernährungsarmut einhergehen.

Ein weiteres Problem ist die Altersdiskriminierung.
Es ist völlig inakzeptabel, wenn Menschen aufgrund
ihres Alters von sozialer, politischer und kultureller
Teilhabe ausgeschlossen werden, indem bei Ehrenäm-
tern, Partei-, Vereins- oder Kirchenmitgliedschaften
von vornherein Altersgrenzen existieren oder einge-
führt werden sollen oder sie trotz guter Gesundheit zu
Opfern fremdbestimmter Vormundschaft gemacht wer-
den.

Im neoliberalen Gesellschaftsentwurf werden ältere
Menschen primär zu einem „Kostenfaktor auf zwei
Beinen“ degradiert, denen im Rahmen eines „aktivie-
renden Sozialstaats“ bestenfalls Almosen zustehen.
Die Linke stellt sich dieser menschenverachtenden
Denklogik entgegen: Für uns ist jedes Menschenleben
von materiell unermesslichem Wert.

Ältere Menschen sind eine Bereicherung für die Ge-
sellschaft: Gerade wegen ihrer Lebenserfahrung kön-
nen sie wichtiges Wissen an jüngere Generationen wei-
tergeben, sich um die Miterziehung ihrer Enkelkinder
kümmern und häufig auch lange Zeit noch selbst aktiv
ihre Interessen und Hobbys bestreiten. Ältere Men-
schen sind auch das historische Gedächtnis einer Ge-
sellschaft. Wo stünden wir heute als Demokratie und
als Gesellschaft ohne ihre persönlichen Erfahrungen
aus der Zeit des Hitlerfaschismus, des Zweiten Welt-
kriegs und der jahrzehntelangen Lebensrealitäten in
zwei unterschiedlichen politischen Systemen als Folge
der Teilung Deutschlands? Darauf können und dürfen
wir als Gesellschaft um unserer selbst willen nicht ver-
zichten.

Die älteren Menschen benötigen bessere gesell-
schaftliche Rahmenbedingungen, um in der Mitte un-
serer Gesellschaft in Würde alt werden zu können. Das
ist die Aufgabe der Politik. Der SPD-Antrag liefert
hierfür einige wichtige Anregungen; er bleibt aller-
dings in etlichen Punkten zu oberflächlich, auch weil
die SPD innerlich immer noch nicht aus ihrer neolibe-
ralen Sackgasse herausgekommen ist, in die sie sich
unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders selbst hin-
einmanövriert hat. Aus diesem Grund kann sich Die
Linke bei dem Antrag auch nur enthalten, betrachtet
ihn allerdings als einen wichtigen Impuls für die ge-
sellschaftspolitische Debatte, die bei diesem Thema
keinen Zeitaufschub mehr duldet.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723743100

Das Leben wird länger. Wir werden immer älter. Die

Anzahl der älteren Menschen wächst. Bis 2050 wird
sich die Zahl der über 60-Jährigen fast verdreifachen:
von knapp 740 Millionen auf 2 Milliarden Menschen.
Vor allem in den Industrieländern werden 2050 etwa
ein Drittel der Menschen älter als 60 Jahre sein.

Diese demografische Verschiebung bedeutet für uns
einen Gewinn, für die gesellschaftlichen Kapazitäten

Zu Protokoll gegebene Reden





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)


eine Herausforderung. Es sind Gesetze und Maßnah-
men nötig, die auf den demografischen Wandel zuge-
schnitten sind.

Alt sein heißt nicht krank sein. Viele ältere Men-
schen tragen zu unserer Gesellschaft bei. Wir müssen
lernen, wo wir sie besonders fördern können, aber
auch, wie wir sie besser schützen können. Das ist Auf-
gabe der Staaten. Deshalb muss die internationale Ge-
meinschaft Grundsätze und Regeln für die Menschen-
rechte Älterer erarbeiten.

Bereits 1982 beriefen die Vereinten Nationen in
Wien die erste Weltversammlung zur Frage des Alterns
ein. Acht Jahre später hat die Generalversammlung
die Resolution 45/106 verabschiedet. Sie war die
Grundlage für einen internationalen Aktionsplan. Der
1. Oktober wurde als „Internationaler Tag der älteren
Menschen“ ausgerufen – zu mehr hat das allerdings
nicht geführt.

Unter den Schlagwörtern „Unabhängigkeit“, „Par-
tizipation“, „Fürsorge“, „Selbstverwirklichung“ und
„Würde“ nennt die VN-Resolution 46/91 konkrete
Richtlinien für die nationalen Aktionspläne. Das hat
die Bundesregierung erst 2007 zur Kenntnis genom-
men und daraufhin einen nationalen Aktionsplan ent-
worfen. Die Maßnahmen und ihre Umsetzung waren
und sind bis heute dürftig.

Die Wahl der Bundesrepublik in den VN-Menschen-
rechtsrat im Dezember 2012 bietet Deutschland die
Gelegenheit, einen neuen Anlauf zu machen. Deutsch-
land soll eine Konvention zu den Rechten der Alten
einbringen. Solche Konventionen gibt es schon für an-
dere schutzbedürftige Gruppen in der Gesellschaft,
wie zum Beispiel die VN-Kinderrechtskonvention oder
auch die Behindertenrechtskonvention. Schon die Dis-
kussionen zu den Konventionen haben etwas gebracht.

Im Antrag wird gefordert, einen VN-Sonderbericht-
erstatter einzusetzen. Dem kann ich nur zustimmen.
Mit dieser Institution würde man nicht nur problem-
orientiert handeln, sondern auch deutlich machen,
dass man den demografischen Wandel ernst nimmt und
auf die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaf-
ten eingeht. Der Bericht im Juli 2007 von Vernor
Muñoz, Sonderberichterstatter für das Menschenrecht
auf Bildung, war ein Erfolg. Er hat deutliche Miss-
stände im deutschen Bildungssystem aufgezeigt, wie
zum Beispiel die Chancenungleichheit von Kindern
von Migranten oder Kindern mit Behinderung. Sein
Bericht löste damals eine längst notwendige Diskus-
sion in der BRD über Chancengleichheit im Bildungs-
system aus.

Ein VN-Sonderberichterstatter sollte nicht davor
zurückschrecken, jede Bundesregierung auf die beste-
hende Altersdiskriminierung hinzuweisen. Der Son-
derberichterstatter für die Menschenrechte älterer
Menschen sollte regelmäßige, unabhängige Berichte
liefern, Missstände aufzeigen und konstruktive Kritik
äußern. Er soll positive Umsetzungsbeispiele, best
practices, auflisten, an denen sich ein handlungs- und

nicht nur schönwetterbezogener Aktionsplan orientie-
ren kann.

Eine VN-Konvention würde nicht nur die Situation
der Älteren in der Bundesrepublik ändern. Wir könnten
ein weltweites Zeichen setzen. Der 69-jährige kolum-
bianische Bauer im Hochland sollte dieselben Rechte
auf Älterwerden in Würde haben wie der 69-jährige
Bundestagsabgeordnete. Unser Leben ist sehr ver-
schieden verlaufen, an Würde sind wir jedoch immer
gleich gewesen – in jedem Alter.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723743200

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13220, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12399 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Öko-Landbaugesetzes

– Drucksache 17/12855 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss

Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Hans-Georg von der Marwitz (CDU):
Rede ID: ID1723743300

Umetikettierung von Pferdefleisch auf europäischer

Ebene und mutwillige Falschdeklaration vermeintli-
cher Bioeier in Deutschland: Die aktuellen Lebensmit-
tel- und Haltungsskandale machen deutlich, dass
Transparenz und Rückverfolgbarkeit fundamentale Be-
standteile eines wirksamen Verbraucherschutzes sind.
Das gilt sowohl für Produkte des konventionellen
Landbaus als auch im Ökobereich.

Den Ökokontrollstellen wird hierbei eine wichtige
Aufgabe zuteil. Sie überprüfen die Einhaltung der Vor-
gaben der EG-Öko-Basisverordnung aus dem Jahr
2007. Die Durchführungsverordnung Nr. 426/2011 der
EU gilt seit dem 1. Januar 2013 und hat einen stärke-
ren Verbraucherschutz zum Ziel. Demnach müssen alle
von den Ökokontrollstellen registrierten Unternehmen
in öffentlichen Verzeichnissen geführt und im Internet
der Bevölkerung zugänglich gemacht werden. In wei-
ten Teilen entsprechen die Vorgaben der EU-Durch-
führungsverordnung bereits den aktuellen Bestimmun-
gen des Öko-Landbaugesetzes. Lediglich die
Informationen der Kontrollstellen über kontrollierte
Unternehmen, die nicht zur Biokennzeichnung berech-
tigt sind, sowie die Angabe der Geltungsdauer der
Kontrollbescheinigungen sind nicht in der nationalen





Hans-Georg von der Marwitz


(A) (C)



(D)(B)


Gesetzgebung verankert und sollen mit EU-Recht har-
monisiert werden.

Um Verbrauchern mehr Informationen zu ermög-
lichen, hat die Konferenz der Kontrollstellen für den
ökologischen Landbau e. V., KdK, auf freiwilliger Ba-
sis eine zentrale Internetplattform bereitgestellt, die
die Verzeichnisse und Bescheinigungen der Datenban-
ken der einzelnen Kontrollstellen bündelt. Die Platt-
form wurde Ende 2012 ins Leben gerufen, führt aber
bisher nur die Aktivitäten der KdK-Mitglieder auf.
Hiermit werden circa 90 Prozent der ökologisch be-
wirtschafteten Landwirtschaftsfläche abgedeckt. Eine
Vervollständigung der zentralen Plattform wird ange-
strebt und scheint mir vor dem Hintergrund, dass die
entscheidenden Informationen ohnehin von den einzel-
nen Kontrollstellen bereitgestellt werden müssen, auch
ohne besonderen Mehraufwand oder Gegenwehr reali-
sierbar. Außerdem könnten weiterführende Ergänzun-
gen und Verpflichtungen in den Zulassungsbescheiden
für die Kontrollstellen aufgeführt werden.

Die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung be-
trachte ich in Anbetracht des zusätzlichen Verwal-
tungsaufwands kritisch, zumal nach der EU-Durch-
führungsverordnung keine einheitliche Datenbank
vorgeschrieben wird. Jedoch sollte gerade der sensible
Bereich der Kontrollstellen, die im Zuge der aktuellen
Lebensmittelskandale mehr und mehr in den Mittel-
punkt rücken, eindeutig, einfach und verpflichtend ge-
regelt sein. Die Abwägung zwischen neuen bürokra-
tischen Zwängen und Sicherheit für den Verbraucher
fällt nicht immer leicht. Vorsätzliche Betrügereien Ein-
zelner lassen sich nicht durch Gesetzesänderungen
vermeiden.

Die Lebensmittelbranche ist auf Akzeptanz und Ver-
trauen der Verbraucher angewiesen. Gleichermaßen
fordert der Verbraucher zum Beispiel einen transpa-
renten Produktionsprozess, um sich von der verspro-
chenen Qualität des Produktes überzeugen zu können.
Skandale müssen lückenlos aufgeklärt und die Verur-
sacher benannt werden können. Hierzu sind verpflich-
tende Maßnahmen innerhalb der Produktions-, Han-
dels- und Kontrollkette von großer Wichtigkeit. Es
muss eindeutig festgestellt werden können, welches
Glied seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist.
Das gilt insbesondere zum Schutz der Erzeuger, die
häufig als Sündenbock an den Pranger gestellt wer-
den, jedoch wenig Einfluss auf die folgenden Akteure
in der Wertschöpfungskette haben. Die Kontrollstellen
haben eine zentrale Stellung im Kontext des Verbrau-
cherschutzes. Vor diesem Hintergrund halte ich die
Gesetzesänderung für eine gangbare Lösung.


Heinz Paula (SPD):
Rede ID: ID1723743400

Die landwirtschaftliche Intensivtierhaltung in ihrer

jetzigen Form hat umfassende negative Folgen für uns
und unsere Umwelt. Das hat die Gesellschaft längst
erkannt. Das hat auch die Wirtschaft in weiten Teilen
erkannt. Darauf weisen wir Sozialdemokraten seit
Jahren hin. Einzig die Bundesregierung hinkt mit ihren

groß angekündigten Aktionsplänen und Werbemaß-
nahmen hinterher. Dies wirkt angesichts der bestehen-
den Probleme fast grotesk. Um nur einige zu nennen:
Langzeitschäden für die Umwelt, gefährliche Boden-
und Luftimmissionen, Klimawandel, Bodenerosion
durch falsche Bewirtschaftung, Gefährdung der Arten-
vielfalt, schlechte Arbeitsbedingungen, mangelhafte
Ernährung und Krankheiten bei Mensch und Tier. Was
ich neben den gesundheitlichen, ökologischen und so-
zialen Aspekten besonders hervorheben möchte, ist die
millionenfache Tierquälerei. Auch die Lebensmittel-
und Verbraucherskandale 2013 scheinen endlos zu
sein. Diese reichen von Ehec-Erregern im Gemüse
über Dioxin im Schweinefleisch bis hin zu BSE in der
Rinder- oder Antibiotika in der Geflügelproduktion.

Allein wegen der Skandale wäre es daher nur eine
logische Konsequenz die bisherige Politik infrage zu
stellen und umzustellen. Denn die strukturellen Ursa-
chen liegen oftmals in der derzeitigen Form der land-
wirtschaftlichen Intensivtierhaltung und der schlech-
ten Politik der Bundesregierung. Wir Verbraucher
haben Besseres verdient und wollen auch Besseres.
Wir haben einen Anspruch auf qualitativ hochwertige
Produkte, bei denen wir uns sicher sein können, dass
sie unbelastet sind und unter besseren Bedingungen
hergestellt wurden. Immer mehr Verbraucherinnen
und Verbraucher ernähren sich deswegen bewusster
und achten beim Lebensmittelkauf auf den Tierschutz
und die Qualität der Produkte.

Die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten steigt
ständig. Das Wachstum in der Biobranche spiegelt
diese bewusste Entscheidung wider: Allein letzes Jahr
wuchs der Biomarkt um 6 Prozent, der Umsatz lag so-
gar erstmals über 7 Milliarden Euro. Der Bioanteil am
gesamten Lebensmittelumsatz in Deutschland erhöht
sich damit auf 3,9 Prozent. In den letzten 10 Jahren hat
sich das Volumen verdreifacht. Momentan liegen wir
flächenmäßig bei 6,3 und bei der Zahl der Betriebe bei
rund 8 Prozent. Deutschland ist derzeit weltweit Bio-
land Nummer zwei hinter den USA.

Das größte Problem bleibt indes offensichtlich: Die
Umsatzsteigerungen ergeben sich zu einem guten Teil
aus Preissteigerungen infolge der Angebotsknappheit.
Mit anderen Worten: Die Nachfrage übersteigt schon
jetzt das Angebot, weil die vorhandenen Potenziale
noch lange nicht ausgeschöpft sind. Trotz der enorm
steigenden Nachfrage nach Biofleisch im letzten Jahr,
die zum Teil nicht befriedigt werden konnte, wuchs der
Anteil der ökologisch bewirtschafteten Flächen nur um
magere 2,7 Prozent. Das hat zur Folge, dass viele Bio-
produkte noch immer importiert werden müssen, was
lange Transportwege nach sich zieht und damit die
Nachhaltigkeit infrage stellt.

Zwischen Angebot und Nachfrage besteht eine der-
art große Diskrepanz, dass wir unbedingt handeln
müssen. Denn damit kommen wir nicht nur den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern entgegen; wir unter-
stützen auch die ökologischen Landwirte selber, deren
Bemühungen sich lohnen müssen. Vor allem müssen

Zu Protokoll gegebene Reden





Heinz Paula


(A) (C)



(D)(B)


wir aber auch handeln, um die gesamte Ernährungs-
wende zu unterstützen, hin zu mehr Nachhaltigkeit,
Tierschutz und Umweltbewusstsein.

Dass Nachhaltigkeit auch in der Praxis erreicht
werden kann, zeigen die unzähligen erfolgreichen
Biounternehmen in Deutschland, die den Spagat zwi-
schen wirtschaftlichem Erfolg, fairem Umgang mit Ar-
beitnehmern und Kunden sowie höchster Qualität der
ökologischen Lebensmittel hinbekommen. Die Bio-
landwirte sowie die Verarbeiter und Händler entspre-
chen damit nicht nur dem Wunsch des Verbrauchers,
sondern sind auch den notwendigen politischen Schrit-
ten voraus.

Die Bundesregierung tut zu wenig für den Ökoland-
bau. Dies zeigte sich auch bei den Verhandlungen über
die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EU-
Ebene. Statt die Zahlungen aus Brüssel an konkrete
ökologische Maßnahmen und Leistungen zu koppeln,
wird gezögert und gezaudert. Ein Schelm, wer dabei
nicht die große Agrarlobby im Hintergrund jubeln
sieht.

Angesichts aller Probleme muss aber selbst
Schwarz-Gelb endlich Farbe bekennen und den Schritt
zu mehr Ökolandbau wagen. Die letzte große Studie
des Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hat bestä-
tigt, dass ein großer Teil der Landwirte angesichts der
fehlenden Rechtssicherheit und der komplizierten Ver-
fahren verunsichert ist, wenn es darum geht, auf ökolo-
gische Landwirtschaft umzusteigen. Hier kann die
Bundesregierung direkt Abhilfe schaffen. In bewährter
Manier wird stattdessen gezögert und abgewartet.

Der Bundesrat hat indes mit rot-grüner Mehrheit
den richtigen Vorschlag einer gemeinsamen Internet-
datenbank gemacht. Der Gesetzentwurf begleitet und
präzisiert die Auflagen des EU-Rechts durch eine na-
tionale Regelung. Was die Bundesregierung also wei-
terhin hinausschiebt, packt der Bundesrat jetzt an:
eine klare und einheitliche Rahmenregelung, die
Rechtssicherheit bietet und allen Beteiligten im Inter-
net Zugang zu den Daten verschafft. Damit wollen wir
mehr Transparenz schaffen und die Kontrolle erleich-
tern. Künftig könnte sogar die Papierdokumentation
durch eine elektronische Dokumentation der Zertifi-
kate ersetzt werden und damit die Arbeit auf betriebli-
cher Ebene erleichtert werden. Dies ist zwar nur ein
Baustein in einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die
noch nötig sind, um den Ökolandbau zu stärken, aber
ein wichtiger. Denn er betrifft direkt die Arbeit vor Ort
und stärkt den Verbraucherschutz.

Natürlich muss es auch hier weitergehende Verbes-
serungen geben. Um eine praktikable Handhabung in
den Kontrollstellen zu gewährleisten, könnte man bei-
spielsweise die Berichtspflicht so definieren, dass eine
Aktualisierung auf den folgenden Werktag erfolgt. Au-
ßerdem könnte man den Kontrollstellen insofern entge-
genkommen, als dass eine Berichtspflicht nicht rück-
wirkend, sondern sofort mit dem Tag des Inkrafttretens
besteht.

Unsere Landwirte und Kontrollbehörden sind der
Schlüssel zu einer nachhaltigen Ernährungswende. Sie
brauchen diese Art der Unterstützung und Förderung,
damit sie auf ökologische Produktion umstellen kön-
nen. Unsere Landwirte sind der Schlüssel für die Lö-
sung vieler Probleme, vor denen wir stehen. Stellen wir
die Landwirtschaft endlich auf die Zukunft ein! Dazu
gehört insbesondere die Unterstützung der ökologi-
schen Landwirtschaft bei uns in Deutschland.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1723743500

In Deutschland sind 20 Kontrollstellen für die Kon-

trolle von Ökobetrieben zugelassen. Nach der EU-
Öko-Verordnung müssen diese Kontrollstellen aktuelle
Verzeichnisse der von ihnen kontrollierten Öko-Unter-
nehmen führen und diesen Unternehmen außerdem Be-
scheinigungen ausstellen. Seit dem 1. Januar 2013
verpflichtet das EU-Recht zusätzlich die Mitgliedstaa-
ten, die aktualisierten Verzeichnisse mit den aktuali-
sierten Bescheinigungen für die einzelnen Unterneh-
mer, unter Beachtung der Anforderungen an den
Schutz personenbezogener Daten, im Internet der Öf-
fentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Regelung
zielt darauf ab, Verbraucherinnen und Verbrauchern
die Möglichkeit zu bieten, sich über die Unternehmer
und deren Erzeugnisse, die dem Kontrollsystem für
Bioprodukte unterliegen, zu informieren.

Der Bundesrat hat dem Bundestag einen Gesetzent-
wurf vorgelegt, mit dem die EU-rechtlichen Vorgaben
für die Veröffentlichung von Verzeichnissen und Be-
scheinigungen der Biounternehmen durch die Kon-
trollstellen in nationales Recht umgesetzt und konkre-
tisiert werden sollen. Die Bundesregierung ist in ihrer
Gegenäußerung dem Gesetzentwurf des Bundesrates
teilweise gefolgt. Es gibt bereits eine durch den Bund
geförderte Datenbank mit allen relevanten Informatio-
nen. Die Konferenz der Kontrollstellen für den ökolo-
gischen Landbau e. V. , KdK, bietet bereits eine geeig-
nete Internetseite an. Diese Datenbank ist für die
Veröffentlichung der Verzeichnisse der Betriebe und
die zugehörigen Bescheinigungen geeignet. Sie bietet
Recherchemöglichkeiten zu allen deutschen Unterneh-
men, die dem Kontrollverfahren des ökologischen
Landbaus unterliegen. So können bereits jetzt alle ak-
tuellen Daten und Informationen aus den angebunde-
nen Kontrollstellen abgerufen werden. Das Rad muss
nicht ein weiteres Mal erfunden werden.

Das Anliegen der Länder, Vorgaben zur Veröffentli-
chung in einem Bundesgesetz zu regeln, dient der ver-
gleichbaren Transparenz und wird auch von der FDP
unterstützt.

Zur bundesweiten Bündelung der Verzeichnisse zu
einem zentral geführten Verzeichnis schlägt die Bun-
desregierung in ihrer Stellungnahme vor, im Gesetz zu-
nächst keine Regelungen vorzunehmen. Hier müssen
erst die rechtlichen und administrativen Möglichkeiten
für eine solche Bündelung geprüft werden. Diese Ein-
schätzung teilt die FDP.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


Im weiteren parlamentarischen Verfahren will die
FDP insbesondere prüfen, ob die Veröffentlichung al-
ler Öko-Bescheinigungen über fünf Jahre hinweg tat-
sächlich sinnvoll ist. Als problematisch sehen wir nicht
nur datenschutzrechtliche Aspekte an, sondern auch
eine mögliche Unübersichtlichkeit bei einer hohen An-
zahl von bescheinigungsrelevanten Vorgängen. Wir
wollen keinen Datenfriedhof schaffen. Ziel ist die
Transparenz der Kontrollvorgänge, nicht jedoch das
Ansammeln und Veröffentlichen von möglichst vielen
Bescheinigungen. Dieses erzeugt eine Scheintranspa-
renz, die dem Anliegen der Transparenz gerade wider-
spricht.

Im Übrigen gilt für Unternehmen der Biobranche,
was für alle Unternehmen gilt: Sie sind für ihre Pro-
dukte verantwortlich. Auch sie müssen vor einer Veröf-
fentlichung Gelegenheit bekommen, Verdachtsmo-
mente auszuräumen. Bei einem tatsächlichen Verstoß
gegen die EU-Öko-Verordnung steht einer Veröffent-
lichung der Bescheinigung nichts im Wege. Die Doku-
mentation aller Bescheinigungen, die einen Betrieb
betreffen, durch die Kontrollstellen bleibt gewährleis-
tet. Sie müssen von den Kontrollstellen bereits heute
sechs Jahre aufbewahrt und den Behörden zur Verfü-
gung gestellt werden. So können Unternehmen, welche
häufig Verdachtsmomente aufweisen, trotzdem risiko-
orientiert kontrolliert werden.

Die FDP hält eine klare, einheitliche und rechtssi-
chere Umsetzung der EU-Veröffentlichungspflicht, im
Sinne der Verbraucherinformation und im Sinne der
am Markt beteiligten Unternehmen, in Form eines Ge-
setzes für zweckmäßig und wird sich konstruktiv in das
Verfahren einbringen.


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723743600

Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf zum

Öko-Landbaugesetz, den der Bundesrat eingebracht
hat. Worum geht es? Mit diesem Gesetz sollen verbind-
liche Regelungen für die Veröffentlichung von Kon-
trolldaten im Bereich der Öko-Landwirtschaft im In-
ternet getroffen werden. Dieses Vorhaben wird von der
Linken unterstützt, obwohl die Kontrollstellen und de-
ren Verbund von sich aus bereits auf dem Weg waren,
die Internetveröffentlichung voranzutreiben. Aber eine
verbindliche gesetzliche Regelung schadet nicht – im
Gegenteil.

Damit wird jeder Betrieb, der ökologische Produkte
produziert und anbietet oder mit ihnen handelt, künftig
im Internet zu finden sein. Damit lässt sich dann von
jedem und zu jeder Zeit überprüfen, ob als Öko-Pro-
dukte deklarierte Waren tatsächlich dem von der EU
vorgegebenem Kontrollsystem der Öko-Landwirtschaft
entsprechen. Betriebe, die dort nicht registriert sind,
dürfen keine Öko-Produkte verkaufen. Die Gestaltung
einer einheitlichen bundesweit gültigen Internetplatt-
form vereinfacht das Auffinden der Betriebe. Eine
solche Transparenz ist angesichts der zunehmenden
Anteile von Öko-Produkten im Lebensmittelhandel
wichtig und auch im Sinne von Verbraucherinnen und

Verbrauchern sowie den seriös arbeitenden Erzeu-
gungs-, Verarbeitungs- und Handelsbetrieben. Unse-
riöse Geschäftspraktiken in der Erzeugung und im
Handel mit Bioprodukten werden damit erschwert.

Dass diese immer wieder vorkommen, haben zuletzt
der Skandal um falsch deklarierte Bioeier oder das il-
legal als ökologisch gekennzeichnete Futtergetreide
aus Osteuropa gezeigt. Nicht nur in der Erzeugung,
auch in den Zwischenstufen der ökologischen Lebens-
mittelkette gibt es immer wieder Probleme mit Betrug.
Ein heute fast überall verfügbarer Internetzugang
macht es den Akteuren auf allen Ebenen vergleichs-
weise leicht, zu überprüfen, ob eingekaufte Ware von
Betrieben kommt, die ordnungsgemäß kontrolliert und
registriert sind. Die Voraussetzung dafür ist die
Pflicht, dass die dafür notwendigen Daten im Netz ver-
öffentlicht werden. Ein auf Freiwilligkeit beruhendes
System weist immer Lücken auf und ist damit anfälli-
ger für Betrug. Die von den Bundesländern geforderte
gesetzliche Pflicht für die Internetveröffentlichung
schließt diese Lücke. Die Veröffentlichung im Internet
wäre handhabbar, praxisnah und effizient.

Immer wichtiger werden in diesem Kontext die Öko-
Kontrollstellen. Dass diese vernünftig und sauber ar-
beiten, ist die Voraussetzung für ein vergleichsweise
großes Vertrauen, das Verbraucherinnen und Verbrau-
cher den Bioprodukten entgegenbringen. Das Kon-
trollsystem im Öko-Landbau hat sich im Prinzip be-
währt, auch wenn es im Zusammenhang mit den
Kontrollen der Legehennen in Öko-Betrieben Schwä-
chen gezeigt hat. Auch die Öko-Branche muss darauf
reagieren, dass mit den größeren Marktanteilen und
dem steigenden Kostendruck auf die Erzeuger auch die
Versuchung zum Verstoß gegen Richtlinien größer ge-
worden ist. Konsequenzen wurden inzwischen gezo-
gen, und es bleibt zu hoffen, dass ein Versagen an die-
ser Stelle die Ausnahme bleibt.

Für die Überwachung der Kontrollstellen ist die
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, kurz
BLE, zuständig. Sie muss sicherstellen, dass die Stan-
dards der Biokontrollen eingehalten werden, und sie
vergibt die Zertifikate, die die Öko-Kontrollstellen zu
ihrer Arbeit autorisieren. Über diese Regelungen sind
die Kontrollen letztlich staatlich garantiert. Der ge-
samte Warenstrom von Öko-Produkten unterliegt da-
mit der Kontrolle, und die Ergebnisse dieser Kontrol-
len sind zu veröffentlichen! Das wäre dann nämlich
sehr viel umfassender und transparenter als alle ande-
ren Kontrollsysteme, die es noch in der Lebensmittel-
erzeugung gibt.


(Nordrhein-Westfalen)


Der Bundesrat legt den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Öko-Landbaugesetzes vor.

Hintergrund dieser Gesetzesänderung ist die na-
tionale Umsetzung der EU-Verordnung Nr. 426 vom
2. Mai 2011. Diese EU-Verordnung sieht vor, dass die
Mitgliedstaaten ab dem 1. Januar 2013 „aktualisierte

Zu Protokoll gegebene Reden





Minister Johannes Remmel (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


Verzeichnisse“ aller „Öko Unternehmen“ – das heißt
aller Landwirte, Verarbeiter und Handelsunternehmen,
die Ökoprodukte entsprechend der EU-Vorschriften er-
zeugen, verarbeiten und mit ihnen handeln – im Inter-
net veröffentlichen müssen. In Deutschland sind dies
inzwischen 34 000 Unternehmen. Gleichzeitig müssen
in diesem Verzeichnis die „Öko Vermarktungs-Be-
scheinigungen“ dieser 34 000 Unternehmen aufge-
führt werden.

In dem im Internet veröffentlichten Verzeichnis sol-
len sich Verbraucherinnen und Verbraucher zukünftig
informieren können, ob die gekauften Ökolebensmittel
tatsächlich von kontrollierten und zertifizierten Unter-
nehmen stammen. Diese größtmögliche Transparenz
soll nicht nur den Käufern helfen, sondern insgesamt
der Biobranche einer Nachverfolgung und Absiche-
rung aller Warenströme dienen. Nicht zuletzt soll das
umfangreiche Verzeichnis den in Deutschland zugelas-
senen 20 privaten Ökokontrollstellen und den in den
Bundesländern tätigen Überwachungsbehörden bei
der Betrugsabwehr helfen.

Wie so häufig bei EU-Regelungen müssen auf natio-
naler Ebene ergänzende Rechtsvorschriften erlassen
werden, um das EU-Recht in Deutschland sinnvoll und
gezielt ausführen zu können.

Der Bundesrat musste diese ergänzenden Rechts-
vorschriften jetzt vorlegen, da die Bundesregierung
sich bisher weigerte, solche präzisierenden Regelun-
gen im Öko-Landbaugesetz zu erlassen. Unter allen
Bundesländern bestand hingegen vollständige Einig-
keit, dass die generalklauselartigen EU-Vorschriften
durch klare, eindeutige und rechtssichere Durchführungs-
regeln zu konkretisieren seien.

In ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bun-
desrates hat die Bundesregierung am 20. März 2013
schließlich eingesehen, dass sie dem wiederholt be-
kundeten Willen der Länder nach einer klaren recht-
lichen Verankerung im Öko-Landbaugesetz nicht mehr
im Wege stehen möchte und hat jetzt einen eigenen Än-
derungsentwurf des Öko-Landbaugesetzes vorgelegt.

Viele Änderungsvorschläge des Bundesrates greift
die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf auf. Aber
in einem entscheidenden Punkt weicht der Vorschlag
des BMELV von dem des Bundesrates ab.

Die EU-Regelung sieht bedauerlicherweise nicht
vor, dass es in jedem Mitgliedstaat ein einheitliches
Verzeichnis geben muss. Der Bundesrat hatte daher
ausdrücklich formuliert, es müsse ein „bundesweit
einheitliches Verzeichnis“ in Deutschland geben. Die-
ser Passus fehlt im Vorschlag der Bundesregierung.
Was nützt es den Verbrauchern aber, wenn sie – wie in
Deutschland – in vielen verschiedenen Verzeichnissen
der 20 Ökokontrollstellen prüfen müssen, ob die ein-
gekauften Lebensmittel tatsächlich von kontrollierten
Unternehmen stammen? Und wie soll in Betrugsfällen
die Biobranche schnell informiert werden, wenn es
kein rechtsverbindliches gemeinsames Verzeichnis gibt?

Das BMELV hat in seiner Erwiderung auf den Ge-
setzesvorschlag des Bundesrates zwar auch eine Bün-
delung der bislang zersplitterten Informationsange-
bote befürwortet, hält aber anscheinend eine vom
Dachverband der Kontrollstellen angebotene freiwil-
lige und privatwirtschaftliche Lösung für ausreichend.

Deshalb möchte ich Sie, sehr geehrte Bundestags-
abgeordnete, herzlich bitten, dem Antrag des Bundes-
rates zuzustimmen und nicht dem unvollständigen Vor-
schlag der Bundesregierung zu folgen. Damit möchte
ich ein deutliches Signal des ernst gemeinten Verbrau-
cherschutzes setzen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723743700

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll

die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
17/12855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgenommen werden. Gibt es dazu andere Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Gustav Herzog, Sören Bartol, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Organisationserlass zur Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung stoppen – Reform rechts-
sicher gestalten

– Drucksache 17/13228 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung des Bundes ohne Beschlussfassung des
Deutschen Bundestages und Bundesrates ver-
hindern

– Drucksache 17/13229 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1723743800

Dieser Antrag der SPD-Fraktion ist der bisher rea-

listischste und überzeugendste, den ich in den letzten
Jahren gesehen habe. Er ist das, was viele Anträge der





Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)


Opposition nicht sind. Er ist visionär. Er ist zukunfts-
weisend.

Heute, liebe Kollegen von der Union, muss ich die
Sozialdemokraten loben: ihren Realitätssinn, ihre
Expertise und ihre Fähigkeit, die Zukunft einzuschät-
zen. Sie fordern in ihrem Antrag die Bundesregierung
dazu auf, nach der Bundestagswahl einen neuen
Dialogprozess über die zukünftige Struktur der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung zu beginnen. Das ist
richtig analysiert. Diese Bundesregierung wird in der
Tat auch nach der Bundestagswahl Bundesregierung
sein. Danke für diese Bestätigung!

Ansonsten bieten der SPD-Antrag wie auch der An-
trag der Linken inhaltlich wenig Neues. Die Kollegin-
nen und Kollegen tun das, was sie bei Reformen und
Veränderungen immer tun: Sie schüren Angst – Angst
vor dem Neuen, Angst vor dem Ungewohnten, Angst
vor dem Besseren.

Dabei wäre das Gegenteil richtig. Ein Blick in die
Natur lehrt uns dies. Arten, die sich verändernden
Lebensbedingungen nicht anpassen, sterben aus oder
überleben nur in ganz bestimmten, abgetrennten Bio-
topen. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Staats-
apparat. Er muss sich immer wieder den geänderten
Lebensverhältnissen anpassen. Sonst verliert er seine
Legitimität. Genau deshalb will diese Koalition der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung das Schicksal der
Dinosaurier ersparen.

Gewandelte Verhältnisse erfordern gewandelte
Behördenstrukturen. Lobend erwähnen möchte ich an
dieser Stelle die Grünen, die den Reformbedarf bei der
WSV erkannt haben und die Debatte in den vergange-
nen Monaten kritisch, aber konstruktiv begleitet
haben. Daran könnte sich die übrige Opposition ein
Beispiel nehmen.

Denn es ist unstrittig, dass die Struktur der WSV
veraltet ist. Deshalb richten wir die Generaldirektion
für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn ein. Dies
wird durch einen Einrichtungserlass unter Wahrung
der personalvertretungsrechtlichen Belange gesche-
hen. Ein Gesetz brauchen wir dazu nicht.

Zum einen gibt es keinen Vorbehalt derart, dass eine
solche Organisationsänderung nur durch Gesetz oder
Rechtsverordnung erfolgen darf. Zum anderen ist sie
durch das Selbstorganisationsrecht der Verwaltung ge-
deckt. Dies ist auch – zumindest außerhalb der Oppo-
sition – nachvollziehbar: Die Verwaltung muss in der
Lage sein, sich so zu organisieren, dass sie die ihr
übertragenen Aufgaben so gut, so schnell und so effi-
zient wie möglich erfüllen kann.

Das ist auch richtig so: Sonst würden wir im Deut-
schen Bundestag einen großen Teil unserer Zeit damit
verbringen, über veränderte Organisationsformen von
Behörden zu entscheiden. Das kann nicht Aufgabe des
Gesetzgebers sein. Das ist nicht Aufgabe des Gesetz-
gebers.

Insofern wird die Errichtung der Generaldirektion
für Wasserstraßen und Schifffahrt in der angemesse-
nen und gesetzlich gebotenen Form erfolgen. So wird
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch weiter-
hin eine von allen Seiten geachtete Existenz als flexible
und kompetente Behörde mit hochmotivierten Mitar-
beitern sicher sein. Warum wollen Sie dies nicht, meine
Damen und Herren von der Opposition?

Warum wollen Sie verhindern, dass die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung mit einer erneuerten Organisa-
tionsform fit für die Zukunft wird? Warum wollen Sie
verhindern, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung auch weiterhin attraktive Arbeitsplätze für
hochmotivierte Mitarbeiter schafft? Warum wollen Sie
verhindern, dass unsere Wasserstraßen effektiv und
hochwertig bewirtschaftet werden?

Die Errichtung der Generaldirektion für Wasser-
straßen und Schifffahrt ist der erste Schritt in die
Moderne der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung.
Weitere werden folgen.

Es werden aber Schritte in die richtige Richtung
sein. Die Kernkompetenzen der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung werden wir nicht antasten. Das aber,
was andere besser können, soll die Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung an andere vergeben. Diese Balance
werden wir halten. Es ist doch ganz selbstverständlich,
dass die Erledigung einiger Aufgaben durch Private
nicht zu einem Kompetenzverlust beim Staat führen
darf. Um es ganz klar zu sagen: Diese Koalition wird
sich nicht von Oligopolen abhängig machen.

Genauso klar ist, dass hoheitliche und sicherheits-
relevante Aufgaben auch weiterhin von der WSV erle-
digt werden, erledigt werden müssen. Wir wollen kei-
nen trägen, verfetteten Staat; wir wollen einen starken,
schlanken Staat, einen Staat, der eingreift, wo es nötig
ist – aber auch nur da.

Daher kann ich auch nicht erkennen, dass hier in ir-
gendeiner Weise die Kernkompetenzen der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung tangiert, geschweige denn
vernichtet werden. Das sind Unterstellungen. Es sind
Unterstellungen von Leuten, die auch morgen noch im
Gestern leben wollen.

Wir aber wollen und werden in einem zeitgemäßen
Morgen leben. Wir nehmen schon heute Kurs auf die
Zukunft.


Matthias Lietz (CDU):
Rede ID: ID1723743900

Zum wiederholten Male setzen wir uns heute mit der

Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes auseinander. Während wir in den vergangenen
Plenardebatten versuchten, mit den bösen Gerüchten
über den Inhalt dieser Reform aufzuräumen, hat die
Opposition des Deutschen Bundestages nun einen
neuen Kritikpunkt am Vorgehen um die WSV gefunden.
Im Wesentlichen handelt es sich zwar um alten Wein in
neuen Schläuchen – da es hier sicher nicht um den Or-
ganisationserlass, sondern um die Reform als solche
geht –, aber dennoch möchte ich die erneute Chance

Zu Protokoll gegebene Reden





Matthias Lietz


(A) (C)



(D)(B)


nutzen, um zum aktuellen Vorgehen des BMVBS in die-
ser Angelegenheit Stellung zu beziehen.

Nachdem das Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung richtigerweise den Ländern
einen Entwurf zum Zuständigkeitsanpassungsgesetz
vorgelegt hat, wurde dieser vorerst noch nicht in das
Plenum eingebracht. Stattdessen werden nun die ers-
ten Schritte der Reform via Ordnungserlass durch-
geführt. Dieses Verfahren ruft nun bei Ihnen Kritik
hervor, weil Sie selbstverständlich wissen, dass sich
die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat geändert ha-
ben und Sie dieses Vorgehen damit begründen.

Tatsächlich aber wehrt sich niemand gegen ein
Anpassungsgesetz oder den weiteren Dialog darüber.
Diesbezüglich muss man erwähnen, dass der Ord-
nungserlass und das Gesetz ganz unterschiedliche
Regelungsinhalte haben. Der Entwurf des Zuständig-
keitsgesetzes erhielt so keine Organisationsregelung.
Davon abgesehen, steht es auch nirgends geschrieben,
dass die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunkt
davon ausging, dass die Einrichtung der GDWS ein
Rechtsbereinigungsgesetz benötigt. Und auch in Ihren
Anträgen finde ich dazu keinerlei rechtlich begründete
Argumente. Sie halten sich also wieder einmal nicht an
die Fakten. Aber das kennen wir aus den vergangene
Debatten um die Reform ja bereits.

Und meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen
aus der Opposition, wir wissen selbstverständlich,
dass es Kritiker gibt. Die gibt es bei jeder Reform.
Deshalb haben wir hier auch nichts von heute auf mor-
gen über das Knie gebrochen, sondern einen langen
Reformprozess beratend und reflektierend begleitet.

Wir haben über Jahre hinweg immer wieder an der
WSV-Reform geformt und gefeilt. Sie selbst waren bis-
her nicht willens dazu, oder im Falle der Linken auch
noch nie in der Regierungsverantwortung, und kriti-
sieren deshalb unsere Schritte nur noch um des Kriti-
sierens willen.

Natürlich ist Kritiküben eine wesentliche Aufgabe
der Oppositionsfraktion. Allerdings sollte man nach
ein paar Jahren vielleicht auch vernünftige Vorschläge
erwarten können. Darauf nämlich warten wir schon
lange vergeblich.

Und auch die Menschen in der Verwaltung wissen,
dass Sie jahrelang nur mit heißer Luft um sich gebla-
sen haben, anstatt mal da anzugreifen, wo der Schuh
wirklich drückt. Und so sind auch diese Anträge ledig-
lich Hilfeschreie, um mit wehenden Fahnen in den
Bundestagswahlkampf zu ziehen und doch noch das
eine oder andere gutgläubige Wählerpotenzial ausfin-
dig zumachen. Denn die Notwendigkeit einer Reform
ist inzwischen vielfach unbestritten.

Sollte es sich hier um rein rechtliche Bedenken han-
deln, existiert selbstverständlich immer die Möglich-
keit, Rechtsmittel einzulegen. Auch ich kann und will
hier nicht die Rolle der Justitia übernehmen und vor-
schnell urteilen. Dennoch muss ich darum bitten, mit

den Gerüchten darüber aufzuräumen, wir würden die
Länder ihrer Stimme berauben und im stillen Kämmer-
lein vor uns hin brüten. Vor allem die Länder waren
während des Prozesses eingeflochten und werden es
auch zukünftig weiter sein.

Auch sollten sowohl Sie alle hier als auch die Län-
der anerkennen, dass es sich um die Bundesverwaltung
handelt. Und die ist nun mal bundeseigen und der
Hoheit des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung unterstellt. Ich hege daher auch
keine Zweifel daran, dass das BMVBS seinen Behör-
denunterbau selbst durch Organisationserlasse ver-
walten darf. Gern können Sie sich hierzu auch im
Grundgesetz Art. 86 sachkundig machen.

Zum Thema der Ämter und deren Aufgabenspaltung
verweise ich auf die Antwort einer Kleinen Anfrage
der Kollegin Wilms, Bundestagsdrucksache 17/12624.
Zum einen werden die Strukturen hier nochmals ergeb-
nisoffen geprüft. Zum anderen ist es ein Ammenmär-
chen, zu behaupten, wir würden die Regionen schwä-
chen. Denn auf die Stärkung der regionalen Strukturen
zielt diese Reform ja ab!

Und noch nicht genug der Kuriositäten, denn die
SPD fordert in ihrem Antrag einen Aufschub der Re-
form bis zur Bundestagswahl und eine umfassende
Aufgabenkritik und Personalbedarfsermittlung. Offen-
bar haben die Genossen die fünf Berichte aus dem
Ministerium nicht gelesen; denn sonst wüssten sie,
dass derartige Untersuchungen schon durchgeführt
wurden und auf einem guten Wege sind. Auch werden
wir mit dem Aufschub keine kostengünstigere und
effektivere, verlässliche WSV schaffen. Und gerade im
Bereich des Personals ist es dringender denn je,
Lösungen zu erarbeiten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich ver-
misse in Ihren Anträgen nachhaltige Konzepte, über
die man sich ernsthaft unterhalten kann. Seit 2001 ist
Ihnen nichts weiter eingefallen, um diese Verwaltung
vernünftig zu reformieren.

Ihre Anträge gehören daher ins Schaufenster und
nicht in dieses Plenum!


Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1723744000

Mit den WSV-Plänen ist der Bundesverkehrsminis-

ter mächtig vom Kurs abgekommen. Vergeblich hat die
Bundesregierung in den vergangenen Monaten ver-
sucht, Länder und Verbände bei dem höchst umstritte-
nen Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
des Bundes mit ins Boot zu holen. Am Ende musste sie
zurückrudern: Nach heftiger Kritik von Ländern, Ver-
bänden und der Opposition im Deutschen Bundestag
hat sie ihren Gesetzentwurf, mit dem sie die Zuständig-
keiten der sieben regionalen Direktionen auf eine neu
einzurichtende Zentralbehörde mit Sitz in Bonn über-
tragen wollte, wieder zurückgezogen.

Ihre Pläne für den Verwaltungsumbau der WSV will
die Regierungskoalition nun an Bundestag und Bun-
desrat vorbei per Organisationserlass durchsetzen,

Zu Protokoll gegebene Reden





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)


der bereits am kommenden Mittwoch in Kraft treten
soll. Eine überzeugende Erklärung für diesen bemer-
kenswerten Kurswechsel hat die Bundesregierung
nicht. Das Manöver ist aber auch so ziemlich durch-
sichtig. Denn auf diese Weise verhindert die Bundes-
regierung jede parlamentarische Mitwirkung und eine
offene Debatte über die Zukunft der WSV, eine der
wichtigsten Behörden in Deutschland.

Wenn die Bundesregierung jetzt das Parlament um-
schifft, zeigt dass nur eines: Sie hat selbst nicht mehr
damit gerechnet, dass sie mit ihren Plänen durch Bun-
destag und Bundesrat kommt. Nun will sie diese auf
Biegen und Brechen noch vor der Bundestagswahl
durchsetzen. Diskussion oder gar Kritik lässt sie dabei
nicht zu. Der jetzt geplante Verwaltungsumbau im
Wege eines Organisationserlasses wird zudem zu mas-
siver Rechtsunsicherheit führen. Wir als SPD halten es
für höchst bedenklich, dass in Bundesgesetzen defi-
nierte Zuständigkeiten von den jetzigen Direktionen
per Erlass auf die neue Generaldirektion übertragen
werden sollen, die in den zugrunde liegenden Gesetzen
nicht einmal erwähnt ist.

Doch eine Antwort auf unsere entsprechende An-
frage vom 14. März hielt die Bundesjustizministerin
nicht für nötig. Erst auf erneute Nachfrage und mit
Fristsetzung kam die dürre Nachricht aus dem Haus,
dass die Anfrage an das Bundesministerium des Innern
abgegeben worden sei. Die Antwort, die schließlich
von dort kam, ist – nun ja – bemerkenswert: „Die in
Ihrem Schreiben erwähnten bestehenden gesetzlichen
Zuweisungen von Zuständigkeiten an die bisherigen
Wasser- und Schifffahrtsdirektionen sind lediglich von
deklaratorischer Natur.“ Das zeugt nun allerdings von
einem fragwürdigen Demokratieverständnis – mal
ganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen Fra-
gen, die das Vorgehen der Bundesregierung aufwirft.

Auch wenn zu einem späteren Zeitpunkt eine
Rechtsbereinigung geplant ist, wie es aus dem Bundes-
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
heißt, bestehen doch über einen Zeitraum von zwölf
und mehr Monaten keine klaren Zuständigkeiten – mit
rechtlichen Folgen, die derzeit kaum absehbar sind.
Denn bisher sind für Planfeststellungsverfahren die
Direktionen zuständig; so ist es im Bundeswasserstra-
ßengesetz festgelegt. Wird diese Zuordnung jetzt durch
Erlass neu geordnet, könnte dies Auswirkungen auf
laufende oder künftige Planfeststellungsverfahren
nach § 14 ff. Bundeswasserstraßengesetz haben. Wenn
die Bundesregierung hier auf das geplante Zuständig-
keitsanpassungsgesetz verweist, ist das nicht mehr als
ein müder Beschwichtigungsversuch. Denn es ist über-
haupt nicht absehbar, wann der neu zu wählende
18. Deutsche Bundestag zusammentreten und ein sol-
ches Gesetz verabschieden wird. Wir halten einen sol-
chen Schwebezustand für nicht tragbar, geht es doch
um eine der wichtigsten Behörden in Deutschland, die
für die Unterhaltung und die Sicherheit und Schiffbar-
keit unserer Bundeswasserstraßen verantwortlich ist.

Das Vorhaben, die WSV zu modernisieren, ist
grundsätzlich richtig. Denn in den vergangenen Jah-
ren sind viele neue Aufgaben – etwa im Bereich Ökolo-
gie und Tourismus – hinzugekommen. Doch der Aus-
weitung des Aufgabenprofils und den gestiegenen
Herausforderungen bei Bau und Unterhaltung steht
keine ausreichende Aufstockung der Finanzmittel im
Bundeshaushalt für die Bundeswasserstraßen gegen-
über. Die Folge: Der Anteil der Aufgaben der WSV, die
zur Erledigung an private Unternehmen vergeben wer-
den, musste deutlich erhöht werden; 2009 hatte der
Vergabeumfang mit 3 656 Einzelvergaben ein Gesamt-
volumen von 1,08 Milliarden Euro. Mit ebendiesem
Argument will die Bundesregierung nun begründen,
warum die WSV in der bisherigen Größenordnung
nicht mehr gebraucht und also dringend reformbedürf-
tig sei. Damit verkehrt sie Ursache und Wirkung. Aus-
baden müssen das die WSV-Beschäftigten. Bis Ende
2013 will das Bundesministerium mindestens zehn Äm-
ter schließen, die bisherige Ämterstruktur soll weitge-
hend zerschlagen werden. Mindestens ein Viertel aller
Stellen soll gestrichen werden. Verdi hat vor diesem
Hintergrund jetzt zur Urabstimmung über einen unbe-
fristeten Streik aufgerufen – die Frist läuft noch bis
morgen. Es wird sich zeigen, ob es am Ende zu einer
Abstimmung mit den Füßen kommt.

Für die SPD steht fest: Eine Reform der WSV ist
wichtig, um die Verwaltung fit für die Zukunft zu ma-
chen. Der Organisationserlass leistet das jedoch nicht.
Er ist verkehrspolitisch unsinnig; denn die Regie-
rungspläne würden die Entwicklung des Wasserstra-
ßennetzes behindern, die Verkehrssicherheit gefährden
und die Nutzung der Wasserwege verteuern. Er ist
wirtschaftspolitisch schädlich, da wichtige Wasser-
straßen in Deutschland – insbesondere im Norden –
künftig vom Verkehrsnetz abgekoppelt würden, obwohl
bereits heute massive Kapazitätsengpässe im Güter-
verkehr bestehen. Er ist beschäftigungspolitisch fatal,
da ein drastischer Stellenabbau innerhalb der gesam-
ten WSV droht und das – siehe oben – auch massive
Folgen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
der verladenden Wirtschaft und der Binnenschifffahrt
hätte. Er ist verfassungsrechtlich bedenklich, da eine
untergesetzliche Übertragung von gesetzlich festge-
legten Zuständigkeiten der Wasser- und Schifffahrts-
direktionen auf die neue Generaldirektion zu massiver
Rechtsunsicherheit führen wird.

Wir fordern Sie daher mit unserem Antrag auf, den
Organisationserlass zur Errichtung der Generaldirek-
tion für Wasserstraßen und Schifffahrt auszusetzen.
Was es braucht, ist ein echtes Zukunftskonzept für die
WSV und eine verlässliche Finanzausstattung der Bun-
deswasserstraßen. Wir wollen einen Neustart nach der
Bundestagswahl – und zwar im engen Dialog mit den
Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen. Eine
Entscheidung über die Struktur der WSV kann es erst
geben, wenn eine umfassende Aufgabenkritik und eine
grundlegende Personalbedarfsermittlung erfolgt sind.
Beides ist bisher nicht der Fall, ebenso wenig wie eine
Wirtschaftlichkeitsprüfung der Vergabe von Aufgaben,

Zu Protokoll gegebene Reden





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)


die eine Kostenermittlung für den Fall der Eigenerle-
digung durch die WSV einschließt.

Mit anderen Worten: Die Bundesregierung fährt auf
Sicht – und hat dabei leider die falsche Richtung ein-
geschlagen. Herr Minister, kehren Sie um, und sorgen
Sie dafür, dass die Reform, die diesen Namen nicht ver-
dient, gestoppt wird!


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1723744100

Sie erinnern sich an den „Herbst der Entscheidun-

gen“ im Oktober 2010? Nicht nur der Ausstieg aus
dem Atomausstieg wurde ohne jeden vernünftigen
Grund von der schwarz-gelben Koalition beschlossen.
Auch – weniger beachtet von der Öffentlichkeit – die
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes wurde
Opfer einer schwarz-gelben Fehlentscheidung.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin enttäuscht.
Ich bin enttäuscht von den Kolleginnen und Kollegen
dieser Koalition im eigentlich zuständigen Verkehrs-
ausschuss, die dieses Drama in sieben Akten zugelas-
sen haben: die sogenannte WSV-Reform, die den
Namen „Reform“ nicht verdient und die sich an Un-
professionalität, Ignoranz und Inkompetenz kaum
überbieten lässt.

Angestoßen von den Privatisierungsgelüsten eini-
ger FDP-Abgeordneter nahm das Unheil am 27. Okto-
ber 2010 seinen Lauf. Akt eins bis fünf: Fünf Berichte
des Verkehrsministeriums später blicken wir auf einen
Zickzackkurs, der kaum zu erkennen gibt, wo es eigent-
lich hingehen soll. So nebenbei wurde das ungeliebte
Kind der „Kategorisierung“ geboren: von niemandem
gewollt und doch in die Welt der Bundeswasserstraßen
gesetzt. Gegen alle Widerstände aus der Wirtschaft,
aus den Ländern und den Kommunen und wider alle
fachliche Kritik setzt dieses Ministerium eine tonnage-
basierte Kategorisierung durch. Schubladen werden
zur Grundlage von verkehrspolitischen Entscheidun-
gen, und Schwarz-Gelb verabschiedet sich damit end-
gültig von der verkehrsträgerübergreifenden und ge-
staltenden Verkehrspolitik.

Eine parlamentarische Legitimation für derart weit
in die Zukunft reichende Entscheidungen gibt es nur in
Form von Ausschussbeschlüssen. Vor einem eigenen
Antrag und einem Gesetz haben sie gekniffen.

Ganze Regionen werden mittel- bis langfristig abge-
hängt, Wirtschaftsräume ausgetrocknet und Arbeits-
plätze gefährdet, Milliardeninvestitionen der Vergan-
genheit entwertet, und das Ganze auf der Basis von
„Berichten“? Liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP: Damit haben Sie dem Parlament
einen Bärendienst erwiesen.

Akt sechs: Das BMVBS bereitet ein Gesetz zur An-
passung der Zuständigkeiten der Direktionen an die
Neuordnung der WSV vor. In einem Vermerk vom
Dezember 2012 war zu lesen: „Die Arbeit an dem Ge-
setzgebungsverfahren hat oberste Priorität“. Ich will
Ihnen auch nicht vorenthalten, was im Referentenent-
wurf stand: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des

Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: …“.
Das macht zwei Dinge deutlich.

Erstens: Das Verkehrsministerium war der Mei-
nung, ein Gesetz sei notwendig.

Zweitens: Das BMVBS hat dem Bundesrat ganz ein-
deutig ein Mitspracherecht zugestanden.

Und dann kam der 20. Januar und mit ihm die
Niedersachsenwahl. Seitdem werden Sie nicht müde,
zu beteuern, ein Gesetz sei überflüssig.

Hier werden parlamentarische Grundrechte mit Fü-
ßen getreten. Sie legen ein Projekt „oberster Priori-
tät“ zurück in die Schublade.

Selbst Ihre eigenen Fachleute warnen unmissver-
ständlich vor Rechtsunsicherheiten, wenn auf ein regu-
läres Gesetzgebungsverfahren verzichtet wird. Ich
sage Ihnen: Für bereits laufende oder auch zukünftige
Verwaltungsverfahren gilt: Ohne vorherige gesetzliche
Zuständigkeitsänderung kann rechtlich nicht sicherge-
stellt werden, dass die GDWS rechtmäßige Verwal-
tungsakte erlassen kann.

Einschlägigen Petitionen der Beschäftigten und aus
der Wirtschaft, einstimmigen Beschlüssen der VMK
und persönlichen Appellen der Ministerpräsidenten
zum Trotz hält Bundesminister Ramsauer an seinem
Kurs fest und hat dabei längst die Übersicht verloren.

Damit kommen wir zu Akt sieben: Ohne Rücksicht
wird auf Biegen und Brechen versucht, diese Reform
durchzudrücken. Auf untergesetzlichem Weg wird mit
einem Organisationserlass eine Generaldirektion ge-
schaffen, gesetzlich zugeordnete Zuständigkeiten der
Direktion übertragen und ein Zuständigkeitschaos aus-
gelöst, das gefährlich ist für den ganzen Verkehrsträ-
ger. Ich gebe zu bedenken: All das geschieht zu einer
Zeit, in der wir alle Ressourcen darauf verwenden soll-
ten, unsere Wasserstraßen auf Vordermann zu bringen.
Stillstand am NOK, verrottete Schleusen an der Lahn,
in Passau und Schneckentempo beim Ausbau der Mo-
sel-Schleusen – hier müssen wir unsere Kräfte bün-
deln, um die Güter von der Straße auf das Binnenschiff
zu bringen.

Stattdessen werden Beteiligungsrechte der Beschäf-
tigten auf das Gröbste missachtet, Bundestag und Bun-
desrat umgangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, das alles geht auf Ihr Konto. Sie haben das
zugelassen, durchgewunken und sich selbst zum Ab-
nicker degradiert – obwohl, wie ich weiß, viele von Ih-
nen ebenfalls sehr unzufrieden sind. Wir werden nach
der Bundestagswahl wieder ändern, was noch möglich
ist. Wir werden einen neuen Prozess einleiten und Be-
schäftigte, Wirtschaft, Länder und Kommunen dabei
aktiv beteiligen.

An dieser Stelle möchte ich mich mit den Beschäf-
tigten solidarisch erklären. Bis morgen läuft die Urab-
stimmung für einen unbefristeten Streik, und ich bin
zuversichtlich, dass sich die Beschäftigten nicht alles
gefallen lassen. Ich mag mir nicht ausmalen, was pas-
siert, wenn die WSV bundesweit die Arbeit niederlegt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gustav Herzog


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Wenn, dann hat der oberste Dienstherr dafür die Ver-
antwortung zu tragen.

Der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes
ein gutes Stehvermögen!


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1723744200

Die bestehenden Strukturen der Wasser- und Schiff-

fahrtsverwaltung des Bundes müssen dringend effi-
zienter gestaltet werden, um sie leistungsstark, zu-
kunftsfähig und demografiefest zu erhalten. Hierzu
werden die See- und Binnenwasserstraßen nach ihrer
Bedeutung für den Güterverkehr kategorisiert. Der
Deutsche Bundestag hat dazu Auf- und Abstiegsmög-
lichkeiten beschlossen, die auch umkehrbar sind, da-
mit sie geänderten Güterverkehrsströmen angepasst
werden können.

Die neu zu schaffende Generaldirektion wird zen-
tral die Aufgabensteuerung übernehmen und dadurch
wesentlich zur Beschleunigung von Entscheidungsver-
fahren sowie zur Einsparung von Kosten beitragen.

Der Bundesrechnungshof hat Prioritäten und Mit-
teleinsatz überprüft und untersucht, welche Verfahren
optimiert werden müssen, ein Vorgehen wie in jedem
gut geführten Unternehmen.

Bald können wir ein weiteres Häkchen auf unserer
Liste erfolgreichen Bürokratieabbaus setzen!

Das können und wollen die Kolleginnen und Kolle-
gen von der SPD und der Linken so kurz vor der Bun-
destagswahl natürlich nicht dulden! Von ihnen kommt
nichts als Gegenrede um der Gegenrede willen. Das
bringt uns nun wirklich nicht weiter!

Nicht, dass man Ihnen unterstellen wollte, Sie hät-
ten etwas gegen Leistungsfähigkeit und Kostenerspar-
nis. Aber Ihre Anwürfe sind – mit Verlaub – bestenfalls
plakativ.

Keine Beteiligung des Bundestages und des Bundes-
rates – das hört sich ja ganz schlimm an. Wenn man
Ihre Anträge liest, könnte man meinen, der Rechtsstaat
samt freiheitlich-demokratischer Grundordnung sei
für die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
kurzerhand abgeschafft worden, um einem schreckli-
chen Verwaltungsmonster Tür und Tor zu öffnen. Fakt
ist, dass der Bundesrat in der aktuellen politischen
Konstellation und insbesondere vor entscheidenden
Wahlen den Reformprozess nicht konstruktiv begleitet.
Im Übrigen stellt sich ohnehin die Frage, ob der Bun-
desrat beteiligt werden sollte. Art. 86 des Grundgeset-
zes lässt dies nicht zu. Eine Blockadehaltung aus
durchsichtigen politischen Motiven muss verhindert
werden. Denn auch der Bundesrat muss endlich erken-
nen, dass wir mit der Reform auf dem richtigen Wege
sind!

Hier droht keinerlei Unbill, weder was die Aufga-
benerfüllung noch die Ämterstrukturen betrifft. Ganz
im Gegenteil: Hier wird gute Politik für den Schiff-
fahrtsstandort Deutschland gemacht!

Anders als Sie schlagen wir konkrete Maßnahmen
vor, was man besser machen kann. Denn wir wissen:
Gute Kritik ist nur die, die auch Lösungsansätze be-
inhaltet.

Auch wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern mit
lautem Wahlkampfgetöse etwas anderes einreden wol-
len: Durch die Wasser- und Schifffahrtsreform werden
keine Arbeitsplätze vernichtet. Wer, wie Sie, Ängste vor
betriebsbedingten Kündigungen schürt, agiert in völli-
ger Unkenntnis der Fakten. Kündigungen sind nicht
vorgesehen. Ich sage: Das ist schäbig – noch dazu auf
dem Rücken der Beschäftigten und der Schifffahrt!

Und was würden Ihre Anträge letztlich bewirken?
Einen guten und wichtigen Reformprozess zum Still-
stand bringen.

Wer Ihnen folgt, könnte auch genauso gut dem Rat-
tenfänger von Hameln hinterherlaufen. Das ist es doch
genau, was Bürgerinnen und Bürger so politikverdros-
sen macht – die Vernachlässigung von sachlichen Er-
wägungen und oft leider auch das gänzliche Fehlen
fachlicher Kompetenz.

Ihren Anträgen werden wir deshalb nicht zustim-
men.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723744300

Die Menschen wollen mit Politik nichts mehr zu tun

haben, wenn sie merken, dass ihre Argumente nicht ge-
hört werden. Sie wenden sich ab von der Demokratie,
wenn sie erfahren müssen, dass Entscheidungen ein-
fach exekutiert werden. Der Umbau der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung ist ein Paradebeispiel für de-
mokratiefeindliche Arroganz der Macht. Unbeirrt
zieht der Bundesverkehrsminister sein Projekt durch,
wischt jeden Vorschlag vom Tisch, der Reform doch
noch eine vernünftige Wendung zu geben.

Die Beschäftigten der WSV, die Binnenschiffer,
Wirtschaftsverbände und Wassersportler versuchen
seit Jahren, mit guten und ernst zu nehmenden Vor-
schlägen die Zerschlagung der WSV zu verhindern.
Doch selbst eine Allianz von Beschäftigten, Wirtschaft
und Fachverbänden konnte nichts bewirken. Die Ver-
kehrsminister der Länder protestierten auf ihrer Kon-
ferenz vor zwei Wochen dagegen, dass eine Behörde,
die in den Bundesländern wichtige Arbeit leistet, ohne
ihre Mitwirkung zentralisiert wird. Statt auch nur ei-
nen ihrer Einwände gegen den WSV-Umbau ernsthaft
zu prüfen, weist Staatssekretär Ferlemann die Beden-
ken als „unzulässige Einmischung“ der Länder in die
Bundespolitik zurück. Das ist schon ein ziemlicher
Hammer, muss ich sagen.

Aber diese Arroganz der Macht beschädigt nicht
nur die Demokratie.

Am Freitag vergangener Woche hat Bundes-
verkehrsminister Ramsauer verfügt, dass die General-
direktion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn
gegründet wird und die Wasser- und Schifffahrtsdirek-
tionen zu Außenstellen dieser Zentralbehörde degra-

Zu Protokoll gegebene Reden





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


diert werden. Wasser- und Schifffahrtsämter verlieren
ihre Zuständigkeiten, die in den vergangenen Jahren
erarbeiteten Arbeitsstrukturen werden zerschlagen,
und das Personal wird in eine ungewisse Zukunft ent-
lassen. Mit einem verfassungsrechtlich zweifelhaften
Organisationserlass drückt der Verkehrsminister sein
Projekt durch, ohne den Bundesrat und den Bundestag
ausreichend zu beteiligen. Das notwendige Gesetz
könne auch im Nachklapp beschlossen werden, heißt
es. Das ist ein Skandal.

Nach drei Jahren Rumwerkeln an einer sogenann-
ten Reform der WSV ist der Schaden groß, für die Ver-
kehrspolitik auf dem Wasser und für die Behörde
selbst.

Mit dem Antrag der Linken ist es möglich, diesen
doppelten Schaden abzuwenden. Stimmen Sie für eine
wirklich ökonomische und ökologische, eine sinnvolle
Reform der WSV! Die funktioniert aber nur mit den
Beschäftigten, das geht nur mit den Fachverbänden
und mit den Bundesländern.

Wir fordern den sofortigen Stopp der Zerschlagung
der WSV, damit es einen Neustart geben kann.

Was passiert, wenn sich der Verkehrsminister jetzt
durchsetzt? Die Ansprechpartner der Wasser- und
Schifffahrtsdirektionen werden zunächst damit be-
schäftigt sein, sich überhaupt in das neue Organi-
gramm einzusortieren; neue Strukturen in der Zusam-
menarbeit müssen gebildet werden. Wir haben bei
vielen Besuchen von Dienststellen und Bauhöfen die
Arbeit der Beschäftigten kennengelernt. Beim Besuch
in Emden und Aurich habe ich erfahren, dass Kunden
der WSV bei manchen Aufgaben künftig drei verschie-
dene Stellen anlaufen müssen, wo sie heute alles bei ei-
ner Direktion erledigen können.

Die Beschäftigten werden sich in neu zusammen-
gestrickten Ämtern und Außenstellen wiederfinden.
Und sie müssen gleichzeitig in der Lage bleiben, jeder-
zeit die Sicherheit auf Flüssen und Kanälen zu garan-
tieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
auch Sie haben bei Ihren Besuchen erfahren können,
dass diese Reform kein Fortschritt ist. Auch wenn Sie
in einzelnen Wahlkreisen eine Behörde sichern konn-
ten, nützt das der WSV insgesamt nichts. Wie soll sie
mit noch einmal 2500 Leuten weniger auskommen?
Wie sollen die oft komplizierten Aufgaben von Firmen
auf dem freien Markt erledigt werden? Die Reparatur
einer Schleuse kann ausgeschrieben werden, wenn sie
geplant ist. Aber wir wissen nicht zuletzt durch den
zeitweiligen Totalausfall am Nord-Ostsee-Kanal, dass
schnelles Eingreifen mit qualifizierten und engagierten
Leuten so schnell auf dem Markt nicht zu finden ist.

Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft Verdi ha-
ben mit Gesprächsangeboten nicht erreichen können,
die Kenner der Materie in die Reform der WSV ange-
messen einzubeziehen. Nun stehen sie vor der Situa-
tion, dass sie die sozialen Folgen der Zerschlagung

der WSV regeln müssen. Damit die Kolleginnen und
Kollegen wissen, wo sie eingesetzt werden sollen, ob
sie mit ihren Familien den Wohnort wechseln müssen,
fordern sie einen Tarifvertrag. Und selbst in dieser
Frage weigerte sich der Bundesverkehrsminister lange
Zeit, die sozialen Folgen überhaupt zur Kenntnis zu
nehmen. Mit Warnstreiks und dem Beginn der Urab-
stimmung nimmt der Arbeitgeber zur Kenntnis, dass
die Reform direkt in das Leben der Beschäftigten ein-
greift.

Wir wünschen den Kolleginnen und Kollegen und
ihrer Gewerkschaft Verdi viel Erfolg bei der Aushand-
lung guter Bedingungen. Aber wir versprechen ihnen
auch, dass wir auch eine andere Bundesregierung be-
arbeiten werden, damit dieser Tarifvertrag nicht ange-
wendet werden muss. Es muss eine Reform der Reform
geben, die die Arbeit der WSV und nicht die Privatisie-
rung öffentlicher Aufgaben ins Zentrum stellt.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723744400

Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung

macht deutlich, wie planlos diese Bundesregierung
agiert. Noch im Juni 2012 wurde die Reform durch
Minister Ramsauer angekündigt, und zwar als Kon-
zept, das „Reformstau und 20 Jahre Unsicherheit für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ beenden sollte.
So weit, so gut: für uns ein Ziel, das auch wir gerne be-
reit sind, zu unterstützen und kritisch zu begleiten.

Doch das Ministerium kommt mit der Umsetzung ei-
ner im Kern sinnvollen Reform nicht voran. Jetzt ist
Herr Ramsauer auf dem besten Weg, überhaupt nichts
mehr zu erreichen. Bisher mangelt es im Rahmen der
Umsetzung der Reform vor allem bei der Kommunika-
tion mit den Mitarbeitern. Ich warne davor: Wenn das
Ministerium seine Reform durchzusetzen versucht,
ohne die Belegschaft mitzunehmen, kann das nur
schiefgehen. Seit fast einem Jahr warten die Mitarbei-
ter in den Ämtern auf ein Ende der Hängepartie. Sie
möchten endlich wissen, wie es mit der Reform weiter-
geht.

Wir stellen uns unter einer guten Verwaltungsreform
vor, dass die Organisationsstruktur den heutigen Be-
dürfnissen angepasst wird. Eine Verwaltung, wie sie
bei ihrer Gründung vor 140 Jahren geschaffen worden
ist, ist nicht mehr zeitgemäß. Maßnahmen einer klugen
Verwaltungsreform sind zum Beispiel der Einsatz eines
funktionierenden Change-Managements sowie eines
klugen Personalkonzepts. Doch beides fehlt bisher;
das Reformvorhaben dieser Bundesregierung ist eine
reine Top-down-Veranstaltung. Nur wenn auch die Be-
lange der Mitarbeiter vor Ort ernst genommen wer-
den, wird dies auch eine erfolgreiche Reform.

Ich habe deswegen Zweifel am Erfolg des Reform-
vorhabens: Per Organisationserlass, also wieder von
oben herab, soll nun die Reform der Ämterstruktur um-
gesetzt werden. Vorgesehen war eigentlich ein Gesetz
mit ordentlicher Befassung des Parlaments, doch hier
kneift die Bundesregierung. Nach dem Verlust der
Mehrheit im Bundesrat wurde das Gesetz begraben –

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


obwohl das Gesetz nicht einmal zustimmungspflichtig
gewesen wäre.

Lassen Sie mich hier aus der Pressemitteilung des
Hauses Ramsauer, BMVBS, vom 27. Juni 2012 zitie-
ren: „Die rechtliche Umsetzung erfolgt durch eine
Reihe von Gesetzesänderungen unter anderem im Was-
serstraßenG, SeeaufgabenG, SeeunfallUG, Binnen-
schifffahrtsaufgabenG. Der Gesetzgebungsprozess
wird noch dieses Jahr begonnen.“ Auf meine Anfrage,
welcher Zeitplan vonseiten der Bundesregierung für
das Rechtsbereinigungsgesetz vorgesehen ist, wurde
am 13. November 2012 in Drucksache 17/11460 ge-
antwortet: „Mit der Befassung des Deutschen Bundes-
tages ist Anfang 2013 zu rechnen.“ Hier ist keinesfalls
die Rede von einem Organisationserlass, und auf das
Gesetz warten wir vergeblich. Was ist das Wort dieser
Bundesregierung eigentlich wert? Damit liegt auf der
Hand, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung
der Reform schlampig arbeitet.

Wir sind weiterhin für eine konsequente Reform der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Aber aus dem
Hause Ramsauer ist bis zur Bundestagswahl wohl
nicht mehr viel zu erwarten. Mal sehen, was aus dem
Erlass wird, ob die neue Behörde tatsächlich arbeitsfä-
hig wird und was die Angestellten und Beamten aus
der unklaren Situation noch machen. Zu viele Fragen
sind offen.

Wir müssen deswegen jetzt unseren Blick schon auf
die nächste Legislatur richten. Die SPD macht das in
ihrem Antrag deutlich. Ich freue mich, dass die SPD
sich für einen Dialogprozess über die zukünftige Struk-
tur der WSV einsetzt, der in enger Abstimmung mit den
Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen trans-
parent und ergebnisoffen geführt werden soll. Dieser
Dialog ist absolut notwendig und fügt sich sehr gut zu
unserem Vorschlag zu einer Kommission, die einen Re-
formvorschlag mit den Betroffenen erarbeiten soll. Mir
scheint, inzwischen haben Sie verstanden, dass es eine
Reform geben muss. Das begrüßen wir. In der nächsten
Legislatur geht es dann an die richtige Umsetzung mit
den Menschen vor Ort. Damit müssen wir im Herbst
spätestens beginnen. Ich nehme die SPD beim Wort.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723744500

Es wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-

chen 17/13228 und 17/13229 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine
Einwände. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-
Emissionshandels

– Drucksachen 17/12064, 17/12489 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Bärbel Höhn

Die Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1723744600

Die Entscheidung des Europäischen Parlaments in

der letzten Woche, das sogenannte Backloading zurück
an die Ausschüsse zu geben, ist ein Rückschlag für den
Klimaschutz. Und eine vertane Chance zugleich. Die-
ser einmalige Eingriff in den Emissionshandel sollte
dafür Sorge tragen, dass eines der wichtigsten Instru-
mente der europäischen Klimapolitik stabilisiert wer-
den und man über entsprechende Neujustierungen für
die nächste Handelsperiode nachdenken kann. Denn
der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zerti-
fikaten wird sicherlich in absehbarer Zeit nicht für ei-
nen signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise sorgen.
Das vorgesehene Herausnehmen von 900 Millionen
hätte hier für eine gewisse Entspannung der Situation
sorgen können.

Doch ein generelles Scheitern des ETS, wie es Die
Linke in ihrem Antrag darstellt, sehe ich noch nicht.
Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments
hat nun maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissions-
vorschlag weiter zu beraten und sich informell mit Rat
und Kommission auf einen neuen Kompromiss zu ei-
nigen. Das Ergebnis kann dann wieder dem Plenum
vorgelegt werden. Ziel muss es weiterhin sein, den euro-
päischen Emissionshandel als ein zentrales Klima-
schutzinstrument zu erhalten und zu stärken. Denn die
Alternativen wären ordnungsrechtliche Vorschriften
oder Klimasteuern. Ein wie im Antrag gefordertes
Kohleausstiegsgesetz wäre ein solcher ordnungspoliti-
scher Eingriff, den ich aus diesem Grund nicht für ziel-
führend halte.

Ich unterstütze daher ausdrücklich die eindringlichen
Bemühungen von Bundesumweltminister Altmaier, in-
nerhalb der Bundesregierung zu einer eindeutigen,
einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Auch
ich fordere die Bundesregierung auf, hier schnell klar
Stellung für ein fest umrissenes Backloading und eine
Erhöhung des Reduktionszieles innerhalb der EU auf
30 Prozent bis 2020 zu beziehen.

Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diese
beiden genannten Eingriffe. Nur durch die klar defi-
nierte Herausnahme von Zertifikaten für einen be-
stimmten Zeitraum und eine daran anschließende
grundlegende Reformierung der nächsten Handels-
periode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerungs-
element als Kernelement der europäischen Klimapoli-
tik auf Dauer zu erhalten. Das Backloading ist hierfür
die erste Voraussetzung.





Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)


Der Handel mit CO2-Zertifikaten ist das Herzstück
der EU-Klimapolitik. Dabei ist seine wichtigste Auf-
gabe, die Unternehmen dazu anzuregen, in effiziente,
emissionsarme Technologien und Verfahren zu inves-
tieren. Investiert ein Unternehmen, benötigt es weni-
ger Zertifikate, die es sonst zum Teil ersteigern müsste.
Der Mechanismus hilft darum, dass Europa seine Füh-
rungsrolle bei den zukunftsgerichteten Effizienztech-
nologien gegen Wettbewerber halten kann. Und er soll
für einen planbaren, ruhigen Übergang in eine emissions-
arme Wirtschaft sorgen. In einem für Investitionen re-
lativ knappen Zeitrahmen von circa 35 Jahren muss
sich die Wirtschaft der EU vom CO2-Ausstoß fast voll-
ständig verabschieden. Je länger Europa aber mit dem
Abschied wartet, desto mehr werden wir dafür inves-
tieren müssen. Je steiler der zu erfüllende CO2-Aus-
stiegspfad sein wird, desto teurer wird es am Ende.

Neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaft-
lichem Instrument muss es auch darum gehen, die
Minderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,
um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.
Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die Eu-
ropäische Union ihre Ziele bis 2020 auf 30 Prozent er-
höht. Mit ihrem selbstgesteckten Ziel, die Emissionen
bis 2020 um 40 Prozent zu senken, hat die Bundes-
regierung wichtige Impulse gegeben. Darauf muss
jetzt aufgebaut werden. Die EU muss diesen Schritt mit
einem Bekenntnis zu einem 30-Prozent-Ziel nachvoll-
ziehen. Bundesumweltminister Altmaier setzt sich in-
nerhalb der EU stark für diese Position ein, und ich
unterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Denn na-
tionale Bemühungen allein werden am Ende nicht aus-
reichen, um die anvisierten klimapolitischen Ziele zu
erreichen.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1723744700

Die Fraktion der Linken fordert in diesem Antrag,

dass im April 2013, also in diesen Tagen, das Scheitern
des Emissionshandels festgestellt wird und die Bun-
desregierung im Mai dem Deutschen Bundestag einen
Gesetzentwurf über den planmäßigen Ausstieg aus der
deutschen Kohleverstromung vorlegt. Spätestens im
Jahr 2040 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutsch-
land stillgelegt werden. Ab dem nächsten Jahr soll die
jährliche Menge an Strom, die in Kohlekraftwerken
erzeugt wird, begrenzt und in den Folgejahren stetig
reduziert werden. Mit diesem Antrag bekommen wir
genau die Debatte über die Ablösung des Emissions-
handels durch Ordnungsrecht, vor der ich die Gegner
des Backloading immer gewarnt habe. Offensichtlich
war vielen Industrievertretern und konservativen und
liberalen Abgeordneten nicht klar, was sie mit ihrem
Boykott der Reform des Emissionshandels angerichtet
haben. Es ist absurd, dass diejenigen, die massiv für
ein marktwirtschaftliches Instrumentarium wie den
Emissionshandel eingetreten sind, jetzt dieses Instru-
mentarium kaputtmachen. Dadurch entsteht natürlich
eine neue Debatte über andere Instrumente der Klima-
schutzpolitik, wie zum Beispiel Ordnungsrecht, Grenz-
werte für Kraftwerke, Abgaben oder CO2-Steuern.

Diese Debatte werden wir nicht nur in Deutschland,
sondern in ganz Europa bekommen. Es kann ein Mo-
saik aus nationalstaatlichen Regelungen entstehen an-
stelle eines EU-weit einheitlichen Systems. Großbritan-
nien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis für
CO2 eingeführt, die Niederlande und Spanien eine
Steuer auf Kohle, Italien debattiert über solch eine
Steuer. Es kann sein, dass wir genau das Gegenteil von
einem „level playing field“ erhalten werden, von dem
die Industrie immer redet.

Die Bundesregierung trägt eine große Verantwor-
tung für die gegenwärtige Situation. Allen Fachleuten
war klar gewesen, was passieren wird und dass eine
Reform des Emissionshandels dringend notwendig ist.
Allen ist klar, dass das Leitinstrument des europäi-
schen Klimaschutzes, der EU-Emissionshandel, seine
Lenkungswirkung verloren hat und unter starkem
Druck steht. Backloading, also die vorübergehende
Herausnahme von Zertifikaten, ist nur eine kurzfristige
Rettungsmaßnahme, gegen die auch instrumentelle
Vorbehalte vorgebracht werden können. Konsequent
wäre es, eine mittel- und langfristige Perspektive für
die Jahre 2020 und 2030 aufzuzeigen, die Unterneh-
men eine klare Orientierung für ihre Investitionsent-
scheidungen gibt. Um Schritte zur Funktionsfähigkeit
des Emissionshandels im Sinne eines effizienten Klima-
schutzinstrumentes einzuleiten, auch um das notwen-
dige politische Signal zu geben, ist es aktuell notwendig,
überschüssige Zertifikate aus dem Markt zu nehmen.
Der Vorschlag der EU-Kommission zur kurzfristigen
Herausnahme von Zertifikaten löst die bestehenden
Probleme nicht, ist aber wegen der Signalwirkung ex-
trem wichtig. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu
keine Meinung. So löblich der Einsatz des Bundesmi-
nisters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
sowie der Mitglieder dieses Ausschusses gewesen ist:
Am Ende ist diese Bundesregierung nicht in der Lage,
eine klare Linie zu fahren. Die Bundeskanzlerin er-
klärte, dass sie nach der Abstimmung im Europaparla-
ment für eine einheitliche Position sorgen wird. Das ist
jedoch bis heute nicht passiert. Nach diesem Rück-
schlag im Europaparlament muss die Bundesregierung
ihre destruktive Rolle aufgeben und retten, was zu ret-
ten ist. Wenn es in den nächsten Wochen keine Wen-
dung hin zu einer konstruktiven Entscheidung geben
wird, werden wir bis zum Jahr 2020 keinen nennens-
werten Preis für CO2 haben. Eine weitere Folge davon
ist, dass ein Teil der Energiewende nicht mehr zu finan-
zieren ist, weil die dem Haushalt zugrunde gelegten
Zertifikatspreise regelmäßig nicht erreicht werden.

Die Linken weisen in ihrem Antrag auf einen wich-
tigen Sachverhalt hin: Ohne wirksame Preissignale
durch den Emissionshandelsmarkt wäre die Errei-
chung der Klimaschutzziele zunehmend auf ordnungs-
rechtliche Maßnahmen angewiesen. Diese Maßnah-
men werden keineswegs kostenlos zu haben sein, wie
ich nebenbei bemerken möchte. Auch deshalb unter-
stützen einige Unternehmen der Energiewirtschaft die
Reform des Emissionshandels. Ohne das klare Preis-
signal im CO2-Markt werden Investitionen in kohlen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)


stoffarme Technologien zurückgehalten oder erfolgen
gar in CO2-intensive Infrastrukturen, welche später zu
hohen Folgekosten führen werden, wenn man es mit
Klimapolitik und dem Erreichen des 2-Grad-Ziels
ernst meint. Dabei zeigt sich auch, um was es bei der
Debatte um Backloading wirklich geht: um einen An-
griff auf die Klimapolitik an sich. Die Gegner des Kli-
maschutzes sehen ihre Chance für einen Rollback zu-
rück, als ob es die Klimadebatte der letzten Jahre mit
den Berichten des IPCC, den Vorträgen von Al Gore
oder den Berechnungen von Sir Nicolas Stern niemals
gegeben hätte. Wie soll eine Verständigung auf ambi-
tionierte Klimaziele für das Jahr 2030 möglich sein,
wenn nicht einmal eine Mehrheit für solch einen klei-
nen Eingriff wie das Backloading möglich ist? Mit al-
len Mitteln und einer aggressiven Lobbykampagne
verteidigt die Industrielobby ihr veraltetes Geschäfts-
modell. Und stößt in Zeiten der Wirtschaftskrise leider
auf viele offene Ohren. Viele Menschen denken, dass
jetzt Wirtschaft und Arbeitsplätze ganz oben stehen
sollten und wissen leider nicht, dass kluge Umweltpo-
litik Arbeitsplätze schaffen kann. Staaten wie Grie-
chenland oder Zypern sind nicht in der Krise, weil sie
zu viel für den Klimaschutz gemacht hätten. Ich kann
nicht oft genug betonen: Ökologische Industriepolitik
ist nicht ein Gegensatz und auch keine Ergänzung
klassischer Industriepolitik. Sie ist die Industriepolitik
des 21. Jahrhunderts! Sie sichert angesichts knapper
Ressourcen und wachsender Nachfrage die Zukunft
der industriellen Produktion. Deshalb fordere ich die
Bundesregierung noch einmal auf, in den nächsten
Wochen alles zu tun, damit die Reform des Emissions-
handels doch noch gelingt. Eine generelle Aufkündi-
gung des Emissionshandels, wie sie die Linke in ihrem
Antrag fordert, kann ich dagegen heute nicht unter-
stützen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1723744800

Der Preis für CO2-Zertifikate hat einen historischen

Tiefstand erreicht und liegt nun bei circa 3 Euro pro
Tonne. Diese Entwicklung hat zugegebenermaßen un-
erfreuliche Seiten: Der niedrige Zertifikatepreis führt
zu einem niedrigeren Anreiz, in neue CO2-arme und
nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen An-
reiz aber benötigen wir, wenn die EU nach 2020 das
Emissions-Cap absenkt, um auf dem Klimaschutz-Pfad
bis 2050 voranzukommen. Daneben brechen die Ein-
nahmen des Energie- und Klimafonds ein, der eine we-
sentliche Rolle bei der Finanzierung der Energie-
wende spielt. Zumindest für das aktuelle Jahr konnte
dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kre-
ditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der Einnahmeaus-
fälle des Energie- und Klimafonds kompensiert wer-
den. Somit können Programme für internationalen
Klimaschutz, für die Gebäudesanierung und die Elek-
tromobilität wie geplant umgesetzt werden. Auch das
neu eingeführte Speicherförderprogramm für die Pho-
tovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizpro-
gramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin
etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die Finan-

zierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr
somit eine gangbare Lösung gefunden.

Ich möchte aber auch festhalten, dass der originäre
Zweck des Emissionshandels nicht die Finanzierung
von staatlichen Klimaschutzprojekten ist, sondern die
Einhaltung des Cap, das heißt der EU-weit gedeckel-
ten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflich-
tige Anlagen ausstoßen. – Dieses Ziel wird bislang er-
reicht, von einem Scheitern des Emissionshandels, wie
es der Titel des Linken-Antrags nahelegt, kann also
keine Rede sein. Der Klimaschutz funktioniert.

Zur Stabilisierung des CO2-Preises hat die EU-
Kommission vorgeschlagen, das sogenannte Backloa-
ding anzuwenden, das heißt Zertifikate in der begin-
nenden Handelsperiode zurückzuhalten. Dieser Vor-
schlag ist im Europäischen Parlament gescheitert. Die
Forderung der Linken, diese Zertifikate endgültig still-
zulegen, würde erst recht zu weit führen. Denn die EU-
Kommission würde so ein Instrument aus der Hand ge-
ben, um bei einer Überhitzung des CO2-Zertifikate-
marktes zu reagieren, etwa wenn die europäische Wirt-
schaft wieder an Fahrt gewinnt.

Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der
Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neu-
baus von Kohlekraftwerken. Dies ist Wunschdenken,
das mit der Realität nichts zu tun hat. Wir werden für
eine Übergangszeit auf Kohle nicht verzichten können,
schon alleine aus Gründen der Netzstabilität. Wer den
Bau neuer effizienterer Kohlekraftwerke verhindert,
trägt Schuld am Weiterbetrieb alter ineffizienter
Dreckschleudern und erweist dem Klimaschutz einen
Bärendienst.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723744900

Vorhin haben wir über das Scheitern des Backloa-

ding debattiert. In meiner Rede vorhin habe ich detail-
liert erklärt, warum die Linke den SPD-Antrag unter-
stützt, nach dem die Bundesregierung einen erneuerten
Anlauf zum zeitweisen Stilllegen überschüssiger Emis-
sionsrechte in Brüssel befördern soll. Die Forderung
nach Backloading und weiter gehenden Reformen des
Emissionshandels sind ja auch Teil unseres eigenen
Antrags, den wir jetzt abschließend behandeln.

Allerdings wird immer deutlicher, dass wohl weder
das Backloading eine Chance hat, geschweige denn
weiter gehende Reformen. Doch letztere sind zwingend
notwendig, wenn der Emissionshandel endlich zum
Klimaschutzinstrument werden soll. Darum werden sie
wohl auch nicht kommen – die Lobby der Energiever-
sorger und der Industrie ist europaweit schlicht zu
stark. Unter dem Strich können wir den Emissionshan-
del getrost für tot erklären.

Diese Entwicklung hat die Linke abgesehen; denn
der Emissionshandel war von Anfang an seiner Klima-
schutzwirkung weitgehend beraubt. Er wurde zur
Gewinnmaximierungsmaschine für Stromkonzerne de-
gradiert. Durch kostenlose Zuteilungen an Energie-
wirtschaft und Industrie, durch windige Zertifikate aus

Zu Protokoll gegebene Reden





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


Auslandsprojekten und durch zu niedrige Caps. Wegen
dieser Architektur haben wir nun EU-weit mit 2 Mil-
liarden überschüssigen Zertifikaten zu kämpfen, die
das Cap aufblähen und die CO2-Preise ins Lächerliche
verfallen lassen, und daran soll sich offensichtlich
nichts ändern.

Dies ist der Grund, warum wir im selben Antrag als
Alternative ein nationales Kohleausstiegsgesetz for-
dern. Leider hat im Ausschuss keine andere Fraktion
den vorliegenden Antrag unterstützt. Das liegt offen-
sichtlich auch daran, dass sie alle gemeinsam am
Emissionshandel hängen, dessen Konstruktion sie ja in
den verschiedenen Regierungen zu verantworten hat-
ten.

Gut, Union, FDP und der NRW- und Brandenburg-
Flügel der Sozialdemokraten werden ohnehin einen
Teufel tun, die Kohleverstromung planmäßig und zügig
beenden zu lassen. Die anderen Sozialdemokraten und
die Grünen aber möchte ich auffordern: Lösen Sie sich
davon, die fossile Kraftwerkswirtschaft durch den EU-
Emissionshandel in die Knie zwingen zu können! Aus-
gehöhlt, wie er ist, wird er nie die Zugkraft entwickeln,
die etwa das EEG hat. Das ist enorm erfolgreich und
hat den Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeu-
gung auf ein Viertel nach oben getrieben.

Leider sind parallel die Stromexporte gewachsen.
Denn Sonne, Wind und Biomasse ersetzen nicht die
Kohleverstromung. Die macht munter weiter wie bis-
lang; denn der lächerliche Emissionshandel kann sie
nicht bremsen. Entsprechend stiegen zuletzt auch na-
tional die CO2-Emissionen des Kraftwerkssektors wie-
der an.

Das ist der Grund, warum Greenpeace vor zwei
Jahren erstmals für ein Gesetz plädierte, nach dem
Kohlekraftwerke Restlaufzeiten erhalten sollen. Diese
Idee hat die Linke aufgegriffen: Ab dem Jahr 2014 soll
die jährliche Menge an in Kohlekraftwerken erzeug-
tem Strom begrenzt und in den Folgejahren stetig und
weitgehend linear reduziert werden. Nach unserem
Antrag soll dann spätestens 2040 der letzte Meiler vom
Netz. Der Neubau von Kohlekraftwerken und Neuauf-
schluss von Tagebauen würde sofort untersagt.

Hätten wir solch ein Gesetz, so würde Deutschland
Europa nicht mehr lange mit billigem Kohlestrom
überfluten können, wie es gegenwärtig geschieht. Ein
Kohleausstiegsgesetz hätte aber noch eine zweite posi-
tive Wirkung: Momentan ist der Netzentwicklungsplan
darauf ausgelegt, dass alle Kohlekraftwerke beinah
Volllast fahren. Klar, sie haben ja auch das Recht dazu.
Nun kommen die geplanten Ökostrommengen dazu. In
der Summe haben wir dann künftig eine Netzausle-
gung, die sich an einem Extremszenario orientiert,
welches der Energiewende genau genommen wider-
spricht. Denn Kohlestrom soll ja eigentlich durch
Strom aus Wind und Sonne abgelöst werden.

Mit einem Kohleausstiegsgesetz hätten wir also
nicht nur für die Kohleverstromung eine Begrenzung,
sondern es wäre auch weniger Netzausbau nötig. Da-

rum halten wir das Konzept nicht nur ökologisch, son-
dern auch ökonomisch und sozial für eine vernünftige
Sache. Ich hoffe, diese Sichtweise werden die anderen
Parteien schrittweise verstehen und übernehmen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723745000

Wir reden hier heute über einen Antrag der Frak-

tion Die Linke, der Konsequenzen aus dem Scheitern
des europäischen Emissionshandels einfordert. Und es
ist wahr: Der Emissionshandel steht am Rande des
Abgrunds. Unzureichende Klimaziele, die europäische
Wirtschaftskrise und eine Schwemme billiger Zertifi-
kate aus Drittstaaten haben dazu geführt, dass der
Preis für Verschmutzungsrechte auf nur noch rund
3 Euro je Tonne CO2 eingebrochen ist – viel zu wenig,
um Anreize für Investitionen in saubere Technologien
zu setzen.

Und die Bundesregierung ist nicht bereit, dem am
Boden liegenden Emissionshandel wieder auf die
Beine zu helfen. Im Gegenteil! Konservative und Libe-
rale haben im Europäischen Parlament die dringend
erforderliche Reparatur des europäischen Emissions-
handels schon im Ansatz gestoppt. Sie haben das Back-
loading, die kurzfristige Verknappung von Emissions-
berechtigungen, abgelehnt. Damit bleibt das zentrale
Instrument der EU-Klimapolitik auf absehbare Zeit
wirkungslos.

Die Folgen dieses Politikversagens sind drama-
tisch: Klimaschädliche Braunkohle boomt, während
hocheffiziente Gaskraftwerke stillstehen. Die deut-
schen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch die
EEG-Umlage steigt, weil Wind- und Sonnenstrom
mehr Unterstützung brauchen, um mit der verbilligten
Kohle konkurrieren zu können. Und im Energie- und
Klimafonds der Bundesregierung klafft ein Milliarden-
loch.

Für diese Entwicklungen trägt Bundeskanzlerin
Merkel maßgebliche Verantwortung. Bundeswirt-
schaftsminister Rösler hat die Emissionshandels-
Reform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn gewäh-
ren lassen. Sie hat stillschweigend hingenommen, dass
die Abgeordneten ihrer Partei dem europäischen
Klimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hat
die ehemalige „Klima-Kanzlerin“ gerührt. Minister
Altmaier hat hilflose Appelle nach Brüssel geschickt,
vor einem Rückschlag für den Klimaschutz gewarnt.
Doch seine Parteifreunde haben nicht auf ihn gehört,
und auch nicht seine Kanzlerin. Jetzt stehen wir vor ei-
nem Scherbenhaufen.

Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zu
einer Richtungsentscheidung über den Klimaschutz.
Wir Grüne treten ein für die überfällige Anhebung des
EU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissions-
minderung bis 2020. Wir wollen eine deutliche
Verknappung der Verschmutzungsrechte, um das Über-
angebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem Markt zu
nehmen. Und wir wollen eine grundlegende Reform
des Emissionshandels, um den CO2-Preis zu stabilisie-
ren.

Zu Protokoll gegebene Reden





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)


Die Schwächung des europäischen Klimaschutzes
macht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebene
notwendig. Deshalb werden wir dem Bundestag den
Entwurf eines nationalen Klimaschutzgesetzes vorle-
gen: Ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele ver-
bindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle der
Klimaschutzmaßnahmen etabliert und bei Abweichun-
gen vom Zielpfad ein Gegensteuern der Politik er-
zwingt. Ein Gesetz, das klarmacht, dass klimaschädli-
cher Kohlestrom in Deutschland keine Zukunft hat,
dass wir ihn Schritt für Schritt überflüssig machen
durch erneuerbare Energien und Energieeffizienz.

Deutschland muss wieder Vorreiter und Antreiber
werden beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen dafür
bereit.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1723745100

Die Beschlussempfehlung des zuständigen Aus-

schusses offenbart eine bemerkenswerte Einigkeit bei
der Analyse der Situation. Doch der Mut, daraus Kon-
sequenzen zu ziehen, fehlt den meisten.

Der Antrag der Fraktion Die Linke versucht es noch
im Guten: Zum größten Teil beschäftigt er sich mit den
Möglichkeiten, wie der Emissionshandel doch noch zu
retten sein könnte: Erhöhung des europäischen Klima-
schutzzieles auf minus 30 Prozent, Stilllegung über-
schüssiger Zertifikate und eine entschlossenere jährli-
che Reduktion. Dem Markt soll also eine Chance
gegeben werden, zu zeigen, dass er auch Klimaschutz
kann. Erst wenn das scheitern sollte, wird in letzter
Konsequenz ein ordnungsrechtliches Instrument in Ge-
stalt eines Kohleausstiegsgesetzes gefordert.

Das ist ein großzügiges Kompromissangebot an die
Regierungsfraktionen. Schlagen Sie das nicht aus.

Die Bundesregierung hat es nicht einmal geschafft,
die viel zu vorsichtigen Vorschläge der EU-Kommis-
sion zur Rettung des Emissionshandels zu unterstüt-
zen. Eine solche Bundesregierung muss vom Parla-
ment zum Handeln gezwungen werden.

Als in der Lausitz direkt gewählter Abgeordneter
habe ich ganz konkrete Folgen mangelnden Klima-
schutzes vor Augen; denn die Braunkohlekraftwerke
gehören – in der Lausitz genauso wie im Rheinland –
zu den klimaschädlichsten Anlagen Deutschlands.

Die Landesregierungen in Brandenburg und Sach-
sen lassen sich bereits Gefälligkeitsgutachten schrei-
ben, denen zufolge Braunkohlestrom aus Deutschland
künftig Polen und Frankreich mit Energie versorgen
soll. Die engen Beziehungen der Staatskanzleien in
Potsdam und Dresden zum Vattenfall-Konzern sind le-
gendär. Offensichtlich hat der geringe CO2-Preis zu
diesen Planspielen auf Kosten des Klimaschutzes in-
spiriert. Offensichtlich sehnt mancher in diesen Krei-
sen ein Scheitern des Klimaschutzes in Europa herbei.

Doch für diese Lobbypolitik sollen in meinem Wahl-
kreis Dörfer zerstört und Menschen gegen ihren Willen
umgesiedelt werden. Bei Weigerung, seine Heimat zu

verlassen, kommt die Drohkulisse der bergrechtlichen
Grundabtretung ins Spiel. Deren Verfassungskonfor-
mität ist umstritten und wird demnächst durch das
Bundesverfassungsgericht überprüft.

Aktuell werden die Langzeitprobleme offensichtlich,
die Braunkohleabbau für den Wasserhaushalt verur-
sacht. Die Versauerung des Grundwassers und die
Einträge riesiger Mengen an Eisen und Sulfat in die
Flüsse halten mehr als 100 Jahre nach Beendigung des
Bergbaus an. Jeder neue Tagebau würde diese Pro-
bleme um mehrere Jahrzehnte verlängern. Im Übrigen
erreicht ein Teil dieser Probleme über die Spree auch
Berlin.

Braunkohleverstromung wird den Erfordernissen
der Energiewende mittel- und langfristig nicht gerecht.
Das ist nicht neu, sondern bereits von Enquetekommis-
sionen früherer Legislaturperioden in Energieszena-
rien eindeutig dargestellt worden. Aktuell weist beson-
ders das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
wiederholt darauf hin.

Machen Sie sich also nicht zum Handlanger derje-
nigen, die die Zeit der Braunkohle mit immer neuen
Tricks verlängern wollen. Tragen Sie nicht dazu bei,
besser geeignete Brückentechnologien wie Gaskraft-
werke durch zu geringe CO2-Preise kaputtzumachen.

Man kann nicht lauthals die Energiewende verkün-
den und dann den Klimaschutz absichtlich vor die
Wand fahren. Die deutsche Energiewende steht vor ei-
nem Glaubwürdigkeitstest. Lassen sie ihn uns gemein-
sam bestehen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723745200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/12489, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12064 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die
Stimme der Linken bei Enthaltung der Grünen angenom-
men.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheitsversorgung von Menschen mit
Behinderung menschenrechtskonform gestal-
ten

– Drucksache 17/12712 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.






(A) (C)



(D)(B)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1723745300

Ob wir hier im Deutschen Bundestag eine Debatte

über die Arbeitswelt oder den Sport oder das Wahl-
recht oder die wirtschaftliche Entwicklung führen, im-
mer sind auch die Belange von Menschen mit Behinde-
rung berührt. So ist es auch im Gesundheitswesen.
Dieses deckt sogar einen wesentlichen Anteil der Be-
lange von Menschen mit Behinderung ab, denn es gilt,
das gesundheitliche Wohlbefinden zu erhalten bzw. zu
stärken oder die Beeinträchtigungen zu lindern oder
Schmerzen zu vermeiden oder den gegenwärtigen Ge-
sundheitszustand zu stabilisieren, chronische Erkran-
kungen oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden bzw. die
Betreuung so zu organisieren, dass ein menschenwür-
diges Leben und eine gesellschaftliche Teilhabe mög-
lich sind. Das ist nicht nur aus ganz persönlichen Ge-
sichtspunkten für erkrankte oder durch einen Unfall
dauerhaft verletzte oder von Geburt an mit einer Be-
hinderung lebende Menschen wichtig, sondern letzt-
lich aufgrund der demografischen Entwicklung eine
gesellschaftspolitische Aufgabe von uns allen. Das ha-
ben wir als Unionsfraktion in vielen immer wieder vor-
gelegten Anträgen deutlich gemacht. Und wir haben in
dieser Legislaturperiode in den jeweiligen Gesetz-
gebungsprozessen immer wieder auch Anliegen im In-
teresse der Menschen mit Behinderung geregelt. Das
Thema der Gesundheitsversorgung ist eine perma-
nente Aufgabe und immer aktuell. Insofern ist der An-
trag von Bündnis 90/Die Grünen durchaus sinnvoll.

Auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-
rung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention ist dem Thema Gesundheitsversorgung ein
besonderer Abschnitt gewidmet. Wir wollen eine
wohnortnahe, barrierefreie und flächendeckende Ver-
sorgung mit Präventions-, Gesundheits-, Rehabilita-
tions- und Pflegedienstleistungen für Menschen mit
und ohne Behinderung. Das bedeutet, dass auch alle
Ärztinnen und Ärzte, das gesamte medizinische Perso-
nal, ja alle Leistungsanbieter für die Belange von
Menschen mit Behinderung sensibilisiert und fachlich
qualifiziert sind. Das bedeutet auch, dass in den kom-
menden Jahren weiter daran gearbeitet werden muss,
eine ausreichende Zahl an Arztpraxen barrierefrei zu-
gänglich zu machen.

Es muss nach unserer Ansicht unmissverständlich
Bedingung sein, bei Neubauten konsequent auf Barriere-
freiheit zu achten. Auch Modernisierungsarbeiten in
Praxen von gesundheitlichen Leistungsanbietern soll-
ten genutzt werden, noch mehr Barrierefreiheit zu
schaffen. Dabei ist auf Praxisbesonderheiten entspre-
chend den Behandlungsnotwendigkeiten zu achten. In
diesem Kontext ist die ehrenamtliche Arbeit der Stif-
tung Gesundheit zu loben. Über ihre transparente Auf-
stellung im Internet ist die Orientierung bei der Arzt-
suche mit den Suchfunktionen der „barrierefreien
Praxis“ leicht möglich. Dieses Angebot schafft zur
Barrierefreiheit in Arztpraxen Transparenz und ist
schon deshalb wertvoll. Es ist eine echte Hilfestellung
für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen.

lch weiß, dass dieses Angebot genutzt wird, weil es
auch eine ständige Vervollkommnung erfährt.

Aber es geht nicht nur um bauliche Bedingungen.
Wir sind uns einig, dass die Fragen der verständlichen
Kommunikation, zum Beispiel durch Leichte Sprache
oder Assistenz bei Taubblindheit, ein unbedingtes Muss
für eine gute individuelle Versorgung sind. Mehr und
mehr Arzneimittelhersteller achten auf den barriere-
freien Beipackzettel. Und ich selbst habe in Apotheken
auch schon Informationsmaterial in Leichter Sprache
gesehen. Es ist wirklich etwas in Bewegung gekom-
men, seitdem wir über die Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention diskutieren.

Ich finde es zumindest untertrieben, wenn die An-
tragsteller im Antrag lapidar formulieren, dass im Ers-
ten, Fünften, und Neunten Sozialgesetzbuch einige
Vorgaben zur Erbringung von Leistungen der Gesund-
heitsversorgung für Menschen mit Behinderung ent-
halten sind. Vielmehr ist es so, dass wir eine umfas-
sende und solidarische Regelung haben. Natürlich
stellen wir in der Umsetzung immer wieder auch Defi-
zite fest und wir thematisieren diese. Die Zuständigkei-
ten dafür sind differenziert. Sie liegen zum Teil bei den
Ländern, zum großen Teil auch bei der Selbstverwal-
tung.

Wir Menschen sind von lernenden Systemen umge-
ben. Das gilt auch für das System des Gesundheitswe-
sens. Deshalb kommt es ja immer wieder zur neuen
Gesetzgebung. Und wie Sie wissen, ist das gerade im
Gesundheitsbereich besonders intensiv, weil es sich
um ein sehr komplexes und ausdifferenziertes System
handelt. Wir Menschen sind ja auch sehr verschieden.

Lassen Sie mich auf einige Aspekte von Verbesse-
rungen in der medizinischen Versorgung von Men-
schen mit Behinderung eingehen.

So haben wir im GKV-Versorgungsstrukturgesetz,
das zum Jahresanfang 2012 in Kraft getreten ist, im
§ 87 im SGB V einen neuen Abs. 2 eingefügt. Danach
ist im einheitlichen Bewertungsmaßstab für zahnärzt-
liche Leistungen zusätzlich zum Wegegeld eine geson-
dert abrechenbare Position vorzusehen. Diese soll für
das Aufsuchen von Pflegebedürftigen und Menschen
mit einer Behinderung gelten, die aufgrund ihrer Be-
einträchtigung nicht in der Lage sind, eine Zahnarzt-
praxis selbst aufzusuchen. Und im Pflege-Neuausrich-
tungs-Gesetz ist zehn Monate später die Erweiterung
des einheitlichen Bewertungsmaßstabs nochmals aus-
gedehnt worden, und zwar auf Personen mit dauerhaft
erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Es wird
eine zusätzliche Leistungsposition zur Abrechnung von
Hausbesuchenstätigkeiten durch Vertragsärzte einge-
führt, wenn diese im Rahmen eines Kooperationsver-
trags nach § 119 b Abs. 1 SGB V erbracht wird. Am
17. Dezember 2012 hat der Bewertungsausschuss nun-
mehr für zahnärztliche Leistungen beschlossen, mit
Wirkung zum 1. April 2013 den BEMA den gesetzli-
chen Vorgaben entsprechend zu erweitern. Damit ste-

Zu Protokoll gegebene Reden





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


hen seit April dieses Jahres die verbesserten Leistun-
gen zur Verfügung.

Als weiteres Beispiel für die sich verbessernde me-
dizinische Versorgung nenne ich das AMNOG. Danach
gilt bei Arzneimitteln für die Behandlung seltener Er-
krankungen, sogenannter Orphan Drugs, der sonst
nachzuweisende medizinische Zusatznutzen bereits
durch die arzneimittelrechtliche Zulassung als belegt.
Von dieser Regelung profitieren viele Menschen mit ei-
ner Behinderung und einer spezifischen Erkrankung.

Erinnern will ich auch an die novellierte Heilmittel-
richtlinie. Seit 2011 gilt, dass Menschen mit dauer-
haften schweren Behinderungen ohne erneute Über-
prüfung des Behandlungsbedarfs eine langfristige
Genehmigung von mindestens einem Jahr Heilmittel-
behandlungen von ihrer gesetzlichen Krankenkasse
bekommen können. Kinder und Jugendliche mit einer
besonders schweren und langfristigen funktionellen
und strukturellen Schädigung und Beeinträchtigung
der Aktivitäten können auch ohne Verordnung eines
Hausbesuchs eine Heilmittelbehandlung in fördernden
Tageseinrichtungen außerhalb der Praxis erhalten.
Das sichert eine kontinuierliche und qualitätsgerechte
Behandlung, weil sie zu Tageszeiten stattfindet, wo die
Kinder noch besonders aufnahmefähig sind. Das ist
viel besser als abendliche Behandlungen, wenn Mutter
oder Vater, von der Arbeit kommend, Zeit haben. Da-
mit haben wir auch auf die sich verändernden Bedin-
gungen der Arbeits- und Familienwelt reagiert.

Ferner haben wir zum Januar 2012 mit dem GKV-
Versorgungsstrukturgesetz im § 32 im Abs. 1 a ver-
schiedene Regelungen getroffen, um die Heilmittelver-
sorgung von Patientinnen und Patienten mit langfris-
tigem Behandlungsbedarf, insbesondere für Menschen
mit schweren und dauerhaften Behinderungen, zu er-
leichtern. Sie können sich die erforderlichen Heilmittel
von ihrer Krankenkasse für einen geeigneten Zeitraum
genehmigen lassen. Natürlich wird ein Antrag gestellt.
Dieser muss von der Krankenkasse innerhalb von vier
Wochen entschieden sein. Nach Ablauf dieser Frist gilt
die Genehmigung als erteilt. Diese speziellen Verord-
nungen unterliegen zudem nicht mehr den Wirtschaft-
lichkeitsprüfungen, die den behandelnden Ärztinnen
und Ärzten oftmals die Entscheidung erschwerten. Zur
Umsetzung haben sich der GKV-Spitzenverband und
die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf bundes-
weit geltende Praxisbesonderheiten für die Verord-
nung von Heilmitteln geeinigt, die seit dem 1. Januar
2013 in Kraft sind.

Meiner Aufzählung der Verbesserungen füge ich
noch zwei weitere Beispiele hinzu:

Mit Inkrafttreten des Assistenzpflegegesetzes gilt
seit Januar dieses Jahres der erweiterte Assistenz-
pflegeanspruch für Assistenz nach dem Arbeitgeber-
modell für die Situationen, wo es nicht nur um die Un-
terstützung im Krankenhaus geht, sondern auch wenn
stationärer Aufenthalt für Vorsorge und Rehabilitation
notwendig wird.

Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist noch eine
weitere Verbesserung seit dem 30. Oktober 2012 in
Kraft. Pflegebedürftige, die in vollstationären Einrich-
tungen leben, erhalten anteilig auch für die Tage das
volle Pflegegeld ausgezahlt, an denen sie zu Hause ge-
pflegt werden. Dadurch werden die häusliche Pflege
sowie der familiäre Kontakt gestärkt. Und diese Rege-
lung gilt auch für die Pflege von Kindern und Jugend-
lichen mit Behinderung, die zu Hause gepflegt werden
und bislang nur einen Anspruch auf eine Kurzzeit-
pflege bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres hatten.
Wir in der Koalition haben hier nachgebessert, das
heißt, der Anspruch besteht nunmehr bis zum 25. Le-
bensjahr. Wir haben damit den berechtigten Bedürfnis-
sen Rechnung getragen.

Wie Sie wissen, ist derzeit das Präventionsgesetz in
der parlamentarischen Beratung. Auch für die medizi-
nische Versorgung von Menschen mit einer Behinde-
rung gilt: Vorbeugen ist in jedem Fall besser. Wir ar-
beiten daran, dass in der Gesundheitsuntersuchungs-
Richtlinie des G-BA die ärztliche Gesundheitsuntersu-
chung neben der Früherkennung auch primärpräven-
tive Maßnahmen enthält.

Die bisher in § 25 Abs. 1 vorgegebene Häufigkeit
des Anspruchs der Gesundheitsuntersuchung von zwei
Jahren und die untere Altersgrenze von 35 Jahren so-
wie die nicht abschließende Aufzählung von Zielkrank-
heiten für die Früherkennung entfallen. Der G-BA soll
Inhalt, Art, Umfang und Häufigkeit der Untersuchun-
gen sowie die für die Früherkennung in Betracht kom-
menden bevölkerungsmedizinisch relevanten Ziel-
krankheiten an den jeweils aktuellen Stand des
medizinischen Wissens anpassen und zugleich alters-
und zielgruppengerecht ausgestalten. Hierbei ist auch
den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit
Behinderung Rechnung zu tragen. Diese Gesetzes-
begründung zeigt deutlich auf, dass bei aktuellen Ge-
setzgebungsverfahren die Belange von Menschen mit
Behinderung beachtet und Schritt für Schritt optimiert
werden.

Ja, Gesundheit hat einen zentralen Stellenwert in
unserer Gesellschaft eingenommen und zählt zu den
sogenannten Megatrends. Deshalb ist es für uns selbst-
verständlich, dass Menschen mit Behinderung auch
hier eine echte Teilhabe erfahren und von allen neuen
Erkenntnissen auf medizinischem Gebiet profitieren.
Die Beispiele haben gezeigt, dass viele im Antrag be-
nannte Forderungen von der christlich-liberalen Koali-
tion bereits umgesetzt wurden bzw. in die aktuelle Ge-
setzgebung einbezogen werden.

Dass es in individuellen Situationen immer wieder
auch Unzufriedenheit oder Klagen der Betroffenen
gibt, liegt oftmals an unterschiedlicher Auslegungs-
praxis der gesetzlichen Bestimmungen vor Ort und
noch öfter an nicht geklärten Schnittstellenfragen. Wir
sind uns einig: Verschiebebahnhöfe in der medizini-
schen Versorgung, meist aus Kostengründen, zulasten
von Menschen mit Behinderung sind nicht akzeptabel.
Und wir sind uns auch einig, dass noch stärker als bis-

Zu Protokoll gegebene Reden





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


her in der medizinischen Aus- und Weiterbildung für
die besonderen Erfordernisse von Menschen mit Be-
hinderung sensibilisiert werden muss und umfassende
Kompetenzen angeeignet werden müssen. Und wir
sind uns in einem dritten Punkt einig: Gute, voraus-
schauende Gesetze und Verordnungen sind wichtig!
Aber ebenso wichtig ist die Kontrolle der Umsetzung.
Dies setzt eine zeitnahe und umfassende Information
aller Leistungsanbieter voraus.

Da uns alle aber immer wieder auch Beschwerden
über nicht zufriedenstellende Versorgung erreichen,
nutze ich die Gelegenheit, für die Union zu erklären:
Wir setzen uns auch weiterhin für eine bedarfsgerechte
medizinische Versorgung von Menschen mit Behinde-
rung ein und gehen davon aus, dass alle Leistungs-
träger die medizinische Versorgung verantwortungs-
bewusst erfüllen. Wir halten am Solidarprinzip fest,
das eine kostenmäßige Überforderung durch Zuzah-
lungen ausschließt. Die Überforderungsklausel im Ge-
setz funktioniert in der Praxis. Auch sind zwischenzeit-
lich praktische Umsetzungsstrategien erprobt, die den
bürokratischen Aufwand minimieren.

Wir nehmen diese Themenstellung nach wie vor
ernst, da wir wissen, dass in einer älter werdenden Ge-
sellschaft die medizinische Versorgung von Menschen
mit Mehrfachbehinderungen zunehmen und über einen
viel längeren Zeitraum praktisch stattfinden wird. Das
sind neue Herausforderungen, an deren Lösungen wir
heute bereits arbeiten.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1723745400

Der heute hier im Plenum behandelte Antrag der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen thematisiert den sehr
wichtigen Bereich einer inklusiven Gesundheits- und
Pflegepolitik. Wir sind uns alle einig, dass den Bedürf-
nissen und Bedarfen von Menschen mit Behinderungen
sehr viel stärker Rechnung zu tragen ist. Von einem in-
klusiven Gesundheits- und Pflegewesen sind wir noch
weit entfernt. Menschen mit Behinderung brauchen
viel mehr medizinische Unterstützung.

Damit diese umfassende Unterstützung im Gesund-
heitswesen auch geschieht, ist Handeln der Politik
angesagt. Nicht nur Menschen mit Behinderung brau-
chen mehr als Lippenbekenntnisse und Absichtserklä-
rungen in Sonntagsreden.

Durch die Vielzahl der im Antrag erwähnten Bau-
stellen wird klar, wie wenig die aktuelle Bundesregie-
rung – für den Bereich Gesundheit Bundesminister
Daniel Bahr (FDP) – zur Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention tatsächlich getan hat. Deren
Unterzeichnung jährte sich am 26. März 2013 bereits
zum vierten Mal. Dabei ist mit der Ratifizierung am
26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention
in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht
geworden. Sie verpflichtet insbesondere alle staatli-
chen Stellen zu mehr Chancengleichheit beim Zugang
und zu mehr Teilhabe und Partizipation in allen Berei-
chen.

Schon unter Rot-Grün wurde bereits der Paradig-
menwechsel von der Fürsorge zur selbstbestimmten
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Ge-
sellschaft eingeleitet – mit der Einführung des SGB IX,
dem Behindertengleichstellungsgesetz und dem Gleich-
behandlungsgesetz. Wir haben noch einen langen Weg
zur inklusiven Gesellschaft vor uns, in der alle Rechts-
ansprüche aus der UN-Behindertenrechtskonvention
umgesetzt sind. Die SPD fordert die Bundesregierung
auf, die riesigen Chancen aus der UN-Behinderten-
rechtskonvention für eine inklusive Gesellschaft wahr-
zunehmen und ihre Politik der kleinen Umsetzungs-
schritte aufzugeben. Um die Menschenrechte der
behinderten Menschen auf freie Zugänge, auf Selbst-
bestimmung, auf volle Teilhabe in einer inklusiven Ge-
sellschaft umzusetzen und Rechtsansprüche in allen
gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen, hat die
SPD in dieser Legislaturperiode bereits mehrere Ini-
tiativen gestartet.

Unser großer SPD-Antrag zur Umsetzung der UN-
Behindertenrechtskonvention „UN-Konvention jetzt
umsetzen – Chancen für eine inklusive Gesellschaft
nutzen“ wurde am 9. November 2012 in zweiter und
dritter Lesung hier im Deutschen Bundestag debat-
tiert. Wir haben hier benannt, wo für uns Handlungs-
bedarf besteht, um allen Menschen mit Behinderung
vor Beginn an Teilhabe und Selbstbestimmung zu er-
möglichen. Das sind im Bereich von Gesundheit und
Pflege unter anderem: Der Aufbau von medizinischen
Zentren für Erwachsene mit Behinderung, in Anleh-
nung an die bestehenden Sozialpädiatrischen Zentren
für Kinder; die Auflage eines Programms für den bar-
rierefreien Umbau von Einrichtungen der Gesund-
heitswirtschaft, zum Beispiel Arztpraxen, Krankenhäu-
ser, Physio- und Ergotherapiepraxen und
Rehabilitationseinrichtungen. Aus- und Weiterbildun-
gen für Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte im The-

(bisher nur freiwilliges Fortbildungsangebot der Ärztekammer)

Nötig sind die Erweiterung der Ausbildungs- und
Facharztweiterbildungsordnungen. Die Sensibilisie-
rung zur Gewaltproblematik gegenüber Frauen mit
Behinderungen sollte in die Grundausbildung von me-
dizinischen und therapeutischen Berufsgruppen aufge-
nommen werden. Beratungs-, Hilfs- und Betreuungs-
strukturen sind behinderungs-, geschlechts- und
kultursensibel zu verbessern. Und Menschen mit geis-
tiger, insbesondere aber mit mehrfacher Behinderung
sind umfassend in den Ausbau von Gesundheitsförde-
rung und Prävention einzubeziehen.

Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten gilt: Wir wollen diskriminierungsfreie Zugänge
zum Gesundheitswesen, wollen gleiche Patientinnen-
und Patientenrechte für alle, sodass Teilhabe und
Selbstbestimmung für alle auch im Gesundheitswesen
gilt.

Leider ist zu konstatieren: Zwar wollte das Bundes-
gesundheitsministerium für 2012, gemeinsam mit den
Ländern und der gesamten Ärzteschaft, ein Gesamt-

Zu Protokoll gegebene Reden





Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)


konzept vorlegen, um Anreize für einen barrierefreien
Zugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxen
und Kliniken zu gewährleisten. Zwar steht es so – wie
vieles andere auch – im ersten Nationalen Aktionsplan
der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011. Geschehen
ist aber wenig bis nichts. CDU/CSU und FDP haben
bei der Umsetzung der Rechte aus der UN-Behinder-
tenrechtskonvention, haben bei der Herstellung eines
inklusiven Gesundheits- und Pflegewesens versagt.

So rückt beispielsweise das Ziel, in den nächsten
zehn Jahren eine ausreichende Zahl an Arztpraxen
barrierefrei zugänglich zu machen, in weite Ferne.
Das ist schlimm, denn der Handlungsbedarf liegt auf
der Hand – allein in Berlin sind rund 80 Prozent der
Arztpraxen nicht barrierefrei. Für Menschen mit Be-
hinderung ist dadurch das Recht auf freie Arzt- bzw.
Ärztinnenwahl erheblich eingeschränkt. Als Gesund-
heitspolitikerin setze ich mich für das Recht auf eine
bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung für jede
und jeden ein. Nur ein auf dem Gedanken der Solidari-
tät und Beitragsparität organisiertes Gesundheitswe-
sen ist im Interesse von chronisch kranken, älteren, be-
hinderten und pflegebedürftigen Menschen.

Es existieren Barrieren in vielfacher Hinsicht. Diese
sind multidimensional und existieren in struktureller,
mentaler und kommunikativer Art. Zu den strukturel-
len Barrieren des deutschen Gesundheitssystems gehö-
ren neben nicht barrierefreien Arztpraxen und nicht
behindertengerechten Praxisausstattungen die unge-
nügende Assistenz in der stationären Versorgung oder
nicht ausreichende Ausbildungscurricula in den Ge-
sundheits- und Pflegeberufen. Von höchster Bedeutung
ist auch die mangelnde Kommunikation zwischen Arzt
und Patient, zwischen Ärztin und Patientin: Die einen
können sich häufig nicht ausreichend ausdrücken, die
anderen haben nicht gelernt, dass Krankheit und Be-
hinderung zwei verschiedene, oftmals aber mit Wech-
selwirkungen versehene Aspekte sind. An eine Anam-
nese werden vielfache Herausforderungen gestellt, zu
denen es besonderer Kompetenzen bedarf.

Völlig unverständlich ist mir, warum nicht von An-
fang das Motto „Nichts ohne uns über uns“ umgesetzt
wurde, warum die Vertretungen von Menschen mit Be-
hinderung so wenig in den Prozess der Erarbeitung
des Gesamtkonzepts eingebunden sind. Dann wäre mit
Sicherheit mehr geschehen, und wir wären bei einer
inklusiven Gesellschaft, einem inklusiven Gesund-
heits- und Pflegewesen sicherlich ein Stück weiter.

Für mich, für uns Sozialdemokratinnen und Sozial-
demokraten bleibt die grundlegende Herausforderung,
für ein grundsätzliches gesellschaftliches und persön-
liches Umdenken im Gesundheitswesen zu sorgen. Un-
ser Ziel ist es, alle medizinischen und pflegerischen
Angebote aus Sicht der Patientenperspektive zu planen
und vor Ort anzubieten.

Wir werden den heute vorgelegten Antrag im Aus-
schuss für Gesundheit weiter beraten. Ich prophezeie,

dass Schwarz-Gelb bis zum Ablauf dieser Legislatur-
periode aber keine wesentlichen Verbesserungen für
die Gesundheitsversorgung der Menschen mit Behin-
derung umsetzen wird. Nach der gewonnenen Bundes-
tagswahl werden wir, wird Rot-Grün dieses Thema mit
Verve anpacken und zu mehr Teilhabe, zu mehr Selbst-
bestimmung führen.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1723745500

Menschen mit Behinderung haben ebenso wie Men-

schen mit psychischen Erkrankungen das Recht auf
gute Gesundheit. Ein diskriminierungsfreier Zugang
zu einer guten gesundheitlichen Versorgung leitet sich
für uns schon aus dem Grundgesetz ab und nicht erst
durch die UN-Behindertenrechtskonvention.

Mit der Gesundheitsversorgung von Menschen mit
Behinderung haben wir uns in dieser Legislaturpe-
riode intensiv beschäftigt. Unser Ziel ist eine optimale
gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behin-
derung. Das schließt Früherkennung und Präventions-
maßnahmen ebenso ein wie Leistungen, die eine Be-
hinderung abwenden oder kompensieren.

Wir haben in dieser Legislatur eine deutliche Ver-
besserung in der zahnärztlichen Versorgung von Men-
schen mit Behinderung erzielt. Menschen mit körperli-
chen und geistigen Einschränkungen sind häufiger von
Zahn- und Zahnfleischerkrankungen betroffen, da so-
wohl die Mundhygiene als auch die Behandlung einge-
schränkt ist. Ich freue mich daher, dass wir im Versor-
gungsstrukturgesetz, das die FDP-Bundestagsfraktion
gemeinsam mit dem Koalitionspartner im Bundestag
verabschiedet hat, die Vergütung der Zahnärzte ange-
messen gestaltet haben. So wird dem erhöhten per-
sonellen, instrumentellen und zeitlichen Aufwand
Rechnung getragen. Zahnärzte können bettlägerige
oder schwerbehinderte Menschen nun in der Pflege-
einrichtung aufsuchen und vor Ort behandeln.

Mit dem Versorgungsstrukturgesetz haben wir zu-
dem dafür gesorgt, dass auch zukünftig alle Menschen
eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung
wohnortnah erhalten.

Auch für Menschen mit Assistenzpflegebedarf ha-
ben wir Verbesserungen erreicht. Durch unsere Politik
können Menschen mit Pflegebedarf ihre privat be-
schäftigte Pflegekraft nicht mehr nur ins Krankenhaus
mitnehmen, sondern zusätzlich auch in stationäre Vor-
sorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Für die ge-
samte Dauer ihres Aufenthalts erhalten die Betroffe-
nen nun weiterhin das Pflegegeld und die Hilfe zur
Pflege von der Sozialhilfe.

Auch die Barrierefreiheit spielt in der Gesundheits-
versorgung von Menschen mit Behinderung eine wich-
tige Rolle. Menschen, die auf Rollstühle oder Rollatoren
angewiesen sind, muss der Zugang zu Arztpraxen,
Apotheken oder Physiotherapieräumen erleichtert
werden. Im besten Fall haben Praxen Behinderten-
parkplätze am Haus, eine Busstation in der Nähe, eine
Rampe, elektrische Türöffner auf Hüfthöhe, höhenver-
stellbare Behandlungsliegen sowie -stühle und einen
Fahrstuhl mit Blindenschrift auf den Tasten. Leider

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


haben immer noch einige Arztpraxen und Kranken-
häuser erhebliche Defizite in der Barrierefreiheit,
während andere schon viel weiter sind. Deshalb för-
dern wir das Projekt „Barrierefreie Praxis“, das in die
Arzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit integriert ist.
Damit können sich Patienten über den Grad der Bar-
rierefreiheit bzw. Barrierearmut von Arztpraxen in
ganz Deutschland informieren.

In einer alternden Gesellschaft spielt auch die Ver-
sorgung von Menschen mit Demenz eine große Rolle,
da diese eine umfangreiche Unterstützung benötigen.
Deshalb haben wir mit dem Pflege-Neuausrichtungs-
Gesetz die Leistungen für demenziell Erkrankte in der
ambulanten Versorgung erhöht. Auch die Ausweitung
der Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten für Pflegebe-
dürftige und ihre Angehörigen ist ein Erfolg. Die er-
wachsenen Töchter pflegebedürftiger Menschen sind
mit 23 Prozent die größte Gruppe pflegender Angehö-
riger: Ihnen Spielräume und weitere Unterstützungs-
möglichkeiten anzubieten, war uns ein wichtiges An-
liegen.

Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der bes-
ten der Welt. Darum beneiden uns viele Länder. Doch
darauf können und wollen wir uns nicht ausruhen, son-
dern wir wollen unser Gesundheitssystem noch effi-
zienter und bedarfsgerechter gestalten, gerade auch
für Menschen mit Behinderung.

Jedoch sind nicht alle Fragen rund um die Gesund-
heitsversorgung von Menschen mit Behinderung eine
Aufgabe des Gesetzgebers. So kann es beispielsweise
nicht sein, dass Rehabilitationsträger Leistungen ver-
wehren, da sie sich nicht einig sind, wer die Kosten
trägt. Meist sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen
schon längst geschaffen, sodass wir auch von den Par-
teien der Selbstverwaltung erwarten, dass sie die Be-
dürfnisse von Menschen mit Behinderung im Blick be-
halten.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723745600

Was nützt die beste Gesundheitsversorgung, wenn

man sie nicht erreichen kann? Gar nichts. Die Linke
hat die Bundesregierung in einer Großen Anfrage
nach ihren Kenntnissen bezüglich der barrierefreien
Gestaltung von Praxisräumen und Kliniken gefragt. Es
folgte eine der häufigsten Antworten auf Fragen zum
Gesundheitswesen – nämlich dass der Bundesregie-
rung dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Gerne wird
auf die Verantwortung der Länder verwiesen, als ob
der Bund keine Verantwortung für eine ausreichende
gesundheitliche Versorgung der Menschen mit Behin-
derung tragen würde. Das gleiche Ergebnis bei unse-
ren Fragen zur zahnärztlichen Versorgung von Men-
schen mit Behinderung. Menschen mit Behinderung
spielen in der bisherigen Bedarfsplanung, in der Prä-
vention, letztlich in der gesamten Gesundheitspolitik
keine oder nur eine marginale Rolle. Stattdessen voll-
mundige Ankündigungen im Nationalen Aktionsplan,
man würde 2012 gemeinsam mit den Ländern und der
Ärzteschaft ein Gesamtkonzept entwickeln, das dazu
beiträgt, einen barrierefreien Zugang oder die barrie-

refreie Ausstattung von Praxen und Kliniken zu ge-
währleisten. Leere Worte, wie so oft.

Die Linke hat auf die Mängel bei der Barrierefrei-
heit in den entsprechenden Anträgen und Anfragen
hingewiesen und Änderungen gefordert. Den Grünen
gebührt der Dank dafür, eine Vielzahl von Forderun-
gen für eine barrierefreie Gesundheitsversorgung in
einem Antrag zu bündeln. Einen großen Teil der For-
derungen können wir unterstützen, einiges hätten wir
lieber klarer oder auch schärfer formuliert. So reicht
es nicht aus, bei den Ländern auf eine Stärkung der
Barrierefreiheit als Qualitätskriterium in der Kran-
kenhausplanung hinzuwirken. Die Linke fordert seit
geraumer Zeit zur Beseitigung des Investitionsstaus
bei Krankenhäusern 2,5 Milliarden Euro jährlich für
zehn Jahre aus dem Bundeshaushalt. Die Beantragung
dieser Gelder kann an einen Beitrag zur barrierefreien
Ausgestaltung der Kliniken geknüpft werden. So hätte
man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Wir finden es wie die Grünen richtig, bei Neuzulas-
sungen von Praxissitzen die Verpflichtung zur Barrie-
refreiheit festzuschreiben. Hier sind die Barrieren teil-
weise sogar für Menschen ohne festgeschriebene
Behinderung kaum überwindbar. Wie kann es zum Bei-
spiel sein, dass es orthopädische Praxen im vierten
Stock ohne Aufzug gibt? Natürlich werden viele Pra-
xisinhaber darauf bestehen, dass sie auch ihre nicht
barrierefreie Praxis weiterverkaufen können. Der Auf-
kauf der Praxen durch die KV benachteiligt allerdings
diejenigen Praxisinhaber, die selbst für einen barriere-
freien Zugang gesorgt haben; denn der Aufkauf von
Praxen mindert das Honorarbudget der KVen. Hier
müssen schnellstens Regelungen gefunden werden, be-
vor weitere Ärztinnen und Ärzte ihre neuen, unzugäng-
lichen Praxen einrichten, und wir müssen eine Dead-
line benennen, bis wann alle Praxen barrierefrei sein
müssen. Sonst schleppen wir Praxen mit Barrieren bis
ins nächste Jahrtausend.

Es ist auch nicht ausreichend, eine bestimmte An-
zahl von barrierefreien Arztsitzen vorzuhalten, wie es
die Bundesregierung fordert. Es kann doch nicht sein,
dass Menschen mit Behinderung Einschränkungen bei
der freien Arztwahl haben, faktisch Patientinnen und
Patienten zweiter Klasse sind, nur weil Praxissitze
nicht barrierefrei sind. Es mag da Ausnahmen bei be-
stimmten Behinderungen geben, für die Praxen nur mit
großem Aufwand zugänglich gemacht werden können.
Entsprechend sind verbindliche Mindestkriterien für
Praxen, ob für Ärzte oder Heilmittelerbringer, zu be-
nennen. Die Bundesregierung ist gefordert, jährlich ei-
nen Bericht über die Barrierefreiheit in der gesund-
heitlichen Versorgung und die Fortschritte vorzulegen,
statt leerer Versprechungen. Das Nichtwissen, das ja
letztlich aus einem Nicht-wissen-Wollen folgt, muss
aufhören, und es müssen endlich Taten folgen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723745700

Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen Rollstuhl,

um sich dauerhaft damit fortzubewegen, und müssen
plötzlich Ihrer Krankenkasse erklären, warum Sie mit
diesem Rollstuhl auch zur Bank, zum Optiker und in

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


den Buchladen möchten. Denn Ihre Kasse ist der Auf-
fassung, sie sei gesetzlich nur verpflichtet, einen Roll-
stuhl zu finanzieren, der medizinisch notwendig ist.
Stellen Sie sich vor, Sie liegen nach einem Notfall im
Krankenhaus, und das gesamte Personal ist nicht in
der Lage, mit Ihnen zu kommunizieren: Niemand dort
spricht Ihre Sprache, und eine Dolmetscherin ist auch
nicht vor Ort. Das ist die Situation von vielen Gehör-
losen in diesem Land. Oder stellen Sie sich vor, Sie
sind blind und möchten zum Hausarzt, dürfen in die
Praxis um die Ecke Ihren Blindenführhund aber nicht
mitbringen.

Menschen mit Behinderung kennen solche Pro-
bleme; sie begegnen ihnen immer wieder. Denn unser
Gesundheitssystem ist nicht für sie gemacht. Wer keine
Beeinträchtigung hat, hat vermutlich auch schon viel
Zeit in Wartezimmern verbracht, musste lange auf ei-
nen Termin warten oder hatte Probleme, auf Anhieb
die richtige Anlaufstelle zu finden. Wenn wir hier über
die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Be-
hinderung sprechen – und zu den Menschen mit Behin-
derung zählen auch Menschen mit chronischen Er-
krankungen, psychischen Beeinträchtigungen oder
Pflegebedürftigkeit –, dann sprechen wir über wesent-
lich gravierendere Probleme.

Ich möchte hier kein Bild des Schreckens zeichnen:
Es ist richtig, dass sich immer mehr Akteure im Ge-
sundheitssystem bemühen, die Bedarfe behinderter
Menschen zu berücksichtigen und das System entspre-
chend umzugestalten. Es ist aber auch richtig, dass un-
ser Gesundheitssystem viel zu stark an den Interessen
der Kostenträger und Leistungserbringer ausgerichtet
ist – auf Kosten einer guten Versorgung von Menschen
mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen.
Und die verantwortlichen Akteurinnen und Akteure
versichern sich viel zu häufig gegenseitig, dass sie ein
inklusives System möchten, ohne viel dafür zu tun. Das
muss sich ändern.

Den besonderen Belangen behinderter und chro-
nisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen. Das
geht unzweideutig aus § 2 a des Fünften Buches So-
zialgesetzbuch hervor. Wohlfahrtsverbände und Ver-
bände behinderter und chronisch kranker Menschen
kritisieren seit langem, dass diese Formel leistungs-
rechtlich und praktisch kaum Niederschlag findet.
Grund sind unter anderem bestehende Spannungsfel-
der zwischen dem Fünften und dem Neunten Buch So-
zialgesetzbuch. Sie verursachen zahlreiche Probleme
in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit
Behinderung. Unser Antrag sieht daher vor, alle Ge-
setze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, die
Leistungsansprüche und die Organisation der Gesund-
heitsversorgung regeln, auf noch bestehende Wider-
sprüche zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zur
UN-Behindertenrechtskonvention zu überprüfen und
im Sinne behinderter Menschen zu beseitigen.

Es ist aber nicht allein die Politik gefragt. Die Kas-
senärztlichen Vereinigungen sind gesetzlich dazu ver-
pflichtet, die ärztliche Versorgung der Versicherten si-
cherzustellen. Für Menschen mit Behinderung ist das

nicht gewährleistet, wenn Praxen baulich und tech-
nisch nicht barrierefrei sind oder die Kommunikation
nicht gelingt. Damit Krankenhäuser entsprechend ge-
staltet werden, muss das Ziel der Barrierefreiheit in
der Krankenhausplanung der Länder berücksichtigt
werden. Wenn es um die Aus-, Fort- und Weiterbildung
in den Gesundheitsberufen geht, kommen unter ande-
rem die Universitäten ins Spiel. Zu diesen Bereichen
haben wir entsprechende Forderungen in unseren An-
trag aufgenommen. Denn auch wenn die Politik nicht
alleine gefragt ist, so halte ich es für wirklich notwen-
dig, dass wir politisch größeren Druck machen.

Ich war selbst ganz überrascht: Im Rahmen einer
Veranstaltung meiner Fraktion zur gesundheitlichen
Versorgung von Menschen mit Behinderung waren
sich Kassen- und Ärztevertreter in ihrer Forderung an
die Politik erstaunlich einig. Angesichts der teilweise
konträren Interessen in der Selbstverwaltung dauere es
mitunter sehr lange, bis die untergesetzliche Ausge-
staltung von Vorgaben Gestalt annehme. Hier sei der
Gesetzgeber aufgerufen, für eine Einigung Fristen mit
Sanktionsandrohungen vorzugeben, um Verzögerungs-
taktiken zu verhindern. Ich finde, auch darüber sollten
wir sprechen.

Dass wir konsequenter an einer besseren gesund-
heitlichen Versorgung behinderter Menschen arbeiten,
gebietet die völkerrechtliche Verpflichtung zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich freue
mich, mit Ihnen in den Ausschussberatungen über un-
sere Vorschläge zu diskutieren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723745800

Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12712 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine Ein-
wände. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Angelika Krüger-Leißner, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Bildung und Teilhabe für alle Kinder, Jugend-
liche und junge Erwachsene in Deutschland
sicherstellen – Das Bildungs- und Teilhabe-
paket reformieren

– Drucksache 17/13194 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.






(A) (C)



(D)(B)



Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1723745900

Der Komponist Benjamin Britten sagte einst: „Ler-

nen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man damit
aufhört, treibt man zurück.“ Dieses Zitat lässt sich
ebenso auf die Bereiche Bildung und Teilhabe übertra-
gen. Wir wollen, dass kein Kind in Deutschland „zu-
rück treibt“ und alle Kinder und Jugendlichen unab-
hängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern
oder ihrer Herkunft eine Chance auf Bildung und Teil-
habe erhalten.

Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ermöglichen
wir Kindern und Jugendlichen seit 2011 diese Chance.
Wir ermöglichen ihnen, an Bildungs- und Freizeitan-
geboten mit Gleichaltrigen teilzunehmen und ein war-
mes Mittagessen in der Schule, der Kita oder im Hort
in Anspruch zu nehmen. Wir haben das Bildungs- und
Teilhabepaket infolge des Bundesverfassungsgerichts-
urteils vom 9. Februar 2010 rückwirkend zum 1. Ja-
nuar 2011 eingeführt.

Sie haben diesen Antrag eingebracht und fordern
darin vermeintlich soziale Gerechtigkeit. Ich frage Sie
ganz offen: Wo war Ihr soziales Gewissen gegenüber
den Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren
Familien, als Sie selbst in der Regierungsverantwor-
tung waren?

Ich möchte Sie daran erinnern: Mit dem Bildungs-
und Teilhabepaket haben wir Kindern und Jugendli-
chen erstmals seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze
durch Ihre rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005
eine echte Chance ermöglicht, an Bildungs- und Frei-
zeitangeboten teilzunehmen, so zum Beispiel die Mit-
gliedschaft in einem Sport- oder Musikverein, die
Möglichkeit der Lernförderung oder das gemeinsame
warme Mittagessen in Hort, Kita oder in der Schule.

Das Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht die
Übernahme der Kosten für ein- oder mehrtätige Aus-
flüge in der Kita oder in der Schule, den persönlichen
Schulbedarf in Höhe von 70 Euro jeweils zum 1. Au-
gust und in Höhe von 30 Euro jeweils zum 1. Februar
eines Schuljahres, die Schülerbeförderung, die schul-
nahe Lernförderung und, wie bereits erwähnt, ein ge-
meinsames warmes Mittagessen in der Schule, in der
Kita oder im Hort.

In Anspruch nehmen können das Bildungs- und Teil-
habepaket Kinder und Jugendliche in der Grundsiche-
rung nach dem SGB II sowie in der Sozialhilfe nach
dem SGB XII. Kinder und Jugendliche, deren Eltern
Wohngeld oder Kindergeldzuschlag erhalten oder un-
ter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werden
ebenfalls berücksichtigt.

Seit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepa-
kets im Jahr 2011 sind inzwischen zwei Jahre vergan-
gen. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten wird
das Bildungs- und Teilhabepaket inzwischen gut von
den betroffenen Familien vor Ort angenommen.

Das zeigen zum Beispiel die Zahlen, die der Deut-
sche Städtetag und der Deutsche Landkreistag im Jahr

2012 zur Inanspruchnahme des Bildungspakets vorge-
legt haben. Hierfür hatten der Deutsche Städtetag und
der Deutsche Landkreistag eine Umfrage bei 70 Städ-
ten und 190 Landkreisen in Deutschland zum Bil-
dungs- und Teilhabepaket durchgeführt. Laut dieser
Umfrage des Deutschen Städtetages stieg die Inan-
spruchnahme des Bildungspakets von 27 Prozent im
Juni 2011 auf etwa 56 Prozent im März 2012. Nach
Angaben des Deutschen Landkreistages stieg die Inan-
spruchnahme von 30 auf 53 Prozent im gleichen Zeit-
raum. Das zeigt eine positive Tendenz.

Meine lieben Kollegen von der SPD, ich möchte Sie
in diesem Zusammenhang an den 21. Februar 2013 er-
innern, als Sie dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und
anderer Gesetze, Drucksache 17/12036, im Deutschen
Bundestag zugestimmt haben. Mit der Zustimmung zu
diesem Gesetzentwurf wurde nach zwei Jahren Praxis-
erfahrung in der Umsetzung des Bildungs- und Teilha-
bepakets der Weg für eine Vereinfachung des Bildungs-
pakets geebnet. Der Deutsche Landkreistag als
Vertreter der Landkreise hat hierfür viele konstruktive
Vorschläge zur Verwaltungsoptimierung unterbreitet.
So können Leistungen, welche vor einem Schul- oder
Kitaausflug nicht rechtzeitig erbracht werden, auch im
Nachhinein erstattet werden. Die Regelung zum Eigen-
anteil von Hartz-IV-Beziehern bei der Schülerbeförde-
rung und zur Kostenabrechnung von Klassenausflügen
sollten mit dem Gesetzentwurf praktikabler gefasst
werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies wa-
ren unter anderem die Vorschläge der kommunalen
Spitzenverbände.

Umso mehr wundert es mich, dass Sie, verehrte Kol-
legen von der SPD, die dem Gesetzentwurf des Bun-
desrates im Februar zugestimmt haben, nun einen
neuen Antrag vorlegen, der die Reformierung des Bil-
dungs- und Teilhabepakets vorsieht.

Nicht nur das. Sie fordern auf Seite 3 Ihres Antrags
den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsbetreuung
und Ganztagsschulen, die Deckung des förderpädago-
gischen Bedarfs an Regelschulen, Schulsozialarbeit an
allen Schulen. Darüber hinaus fordern Sie gebühren-
freie Betreuungsangebote, Lernmittelfreiheit und kos-
tenlosen Förder- und Leistungsunterricht. Sie fordern
diese kostenlosen Angebote, sagen aber nicht, wer das
bezahlen soll, liebe Kollegen der SPD.

Weiterhin fordern Sie – ich zitiere – „für alle zu-
gängliches Mittagessen in Schulen, Kindertagesein-
richtungen, Kindertagespflege und Horten sowie die
notwendige finanzielle Absicherung der zusätzlichen
Bildungsanstrengungen von Bund und Ländern“.

Verehrte Kollegen von der SPD, Sie wissen, dass in
unserem föderativen Staat die Kompetenzen für die
schulische Bildung bei den Ländern liegt. Warum fan-
gen Sie nicht in den Bundesländern, in denen Sie in der
Regierungsverantwortung stehen, damit an und ver-
bessern die Möglichkeiten vor Ort?

Zu Protokoll gegebene Reden





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)


Auf Seite 5 Ihres Antrags fordern Sie in Punkt 4 wei-
terhin – ich zitiere –: „Schulen, Kindertageseinrich-
tungen, Kindertagespflegestellen und Horte sollen flä-
chendeckend eine gemeinsame, gesunde, qualitative
und diskriminierungsfreie Essensverpflegung anbie-
ten.“ Ihr Ziel ist es – ich zitiere weiter –: „auf die Er-
hebung eines Eigenanteils zu verzichten …“.

Ich frage Sie: Was machen Sie für die Familien mit
Kindern und Jugendlichen, welche keine Leistungen
aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten, für ihre
Kinder jeden Cent zusammenkratzen und alles selbst
erarbeiten müssen? Die Wohltaten, welche Sie hier so
großzügig verteilen, müssen erst erarbeitet und vor al-
lem finanziert werden.

In Ihrem Antrag, der sich über fünf ganze A4-Seiten
erstreckt, schreiben Sie jedoch an keiner Stelle, wie Sie
die geforderten Maßnahmen eigentlich finanzieren
wollen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das den Wähle-
rinnen und Wählern erklären wollen, verehrte Kolle-
gen der SPD.

Lernmittelfreiheit, kostenloser Förderunterricht, Neu-
festsetzung der Regelbedarfe in der Grundsicherung,
Barauszahlung der Mittel für Schulbedarf ohne An-
tragstellung – Ihnen geht es doch in Ihrem Antrag nicht
darum, wie wir in Zukunft Kinder und Jugendliche mit
dem Bildungs- und Teilhabepaket unterstützen können.
Ihnen geht es darum, unter dem Deckmantel der sozia-
len Gerechtigkeit fleißig Wahlgeschenke zu verteilen.
Ich frage Sie, verehrte Kollegen: Ist das die Art von
nachhaltiger Sozialpolitik, die unsere zukünftigen Ge-
nerationen verdient haben? Angesichts der bevorste-
henden Bundestagswahlen im September erscheinen
mir Ihre Forderungen doch als sehr durchsichtig.

Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates, dem auch
Sie zugestimmt haben, haben wir das Bildungs- und
Teilhabepaket optimiert. Die Vorschläge zur Verwal-
tungsvereinfachung wurden unter anderem durch den
Deutschen Landkreistag eingebracht. Dieser hat die
Erfahrungen der Landkreise mit in die Gesprächsrun-
den der Runden Tische eingebracht, welche regelmä-
ßig von unserer Bundesministerin Dr. Ursula von der
Leyen mit den Akteuren rund um das Bildungspaket
durchgeführt werden.

Unsere CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat am
18. März 2013 unter dem Motto „Probleme und He-
rausforderungen im SGB II – Bilanz und Ausblick“ ver-
schiedene Vertreter der Arbeitsagenturen und Jobcen-
ter aus ganz Deutschland zu einem Fachgespräch
eingeladen, um gemeinsam Erfahrungen auszutau-
schen, so auch zum Thema der Umsetzung des Bil-
dungs- und Teilhabepakets. Wir dürfen nicht vergessen:
Die kommunalen Träger leisten eine hervorragende
Arbeit vor Ort und sind zuverlässige Ansprechpartner
für die Betroffenen.

Lassen Sie mich nun zum Abschluss meiner Ausfüh-
rungen kommen. Ziel des Bildungs- und Teilhabepa-
kets ist es, für Kinder und Jugendliche das „Mitma-
chen möglich zu machen“. Nach zwei Jahren

Praxiserfahrung und dem regelmäßigen Austausch der
Akteure vor Ort haben wir das Bildungspaket opti-
miert, um die Inanspruchnahme für die betroffenen
Familien zu erleichtern.

Die entsprechenden Zahlen zur Inanspruchnahme
werden voraussichtlich Ende des Monats vorliegen.
Ich appelliere an Sie, verehrte Kollegen, diese Zahlen
im konstruktiven Miteinander auszuwerten und ge-
meinsam mit den verschiedenen Spitzenverbänden
nach Lösungen zu suchen.

Wir wollen, dass alle Kinder und Jugendlichen in
Deutschland unabhängig von ihrer Herkunft oder dem
Geldbeutel ihrer Eltern eine Chance auf Bildung und
Teilhabe erhalten. Darauf haben die Kinder und Ju-
gendlichen in Deutschland ein Anrecht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie ein,
dass wir uns mit Engagement und mit aller Kraft für
die Chancen und Perspektiven dieser Kinder und Ju-
gendlichen einsetzen.

Ihren Antrag, liebe Kollegen von der SPD, lehnen
wir von der CDU/CSU-Fraktion ab.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1723746000

Schule, Bildung und natürlich gesellschaftliche

Teilhabe von allen Kindern ist ein wichtiges Thema.
Wer sich den Antrag der SPD aufmerksam durchliest,
merkt aber sehr schnell: Hier geht es nicht um Bil-
dungspolitik, sondern hier wird wieder eine Debatte
zum Betreuungsgeld an den Haaren herbeigezerrt.

Auch in diesem Antrag zeigt die SPD erneut, dass
sie den Sinn des Betreuungsgeldes in keiner Weise ver-
standen hat, dass wir den Eltern auf der einen Seite
eine Garantie für einen Hortplatz geben, auf der ande-
ren Seite aber auch die Eltern, die sich die Zeit neh-
men, ihre Kinder selbst zu Hause zu erziehen, finan-
ziell bei ihrem Einsatz unterstützen. Wir vertrauen den
Eltern, dass sie die richtige Entscheidung für ihre Kin-
der treffen, ob sie die Betreuung im Hort oder zu
Hause wählen. Wir geben ihnen die Entscheidungs-
möglichkeit.

Kommen wir zurück auf die Einführung des Bil-
dungs- und Teilhabepakets, die eine gute Entscheidung
war. Mit ihr wird Kindern aus finanzschwachen Fami-
lien ein Mehr an Teilhabe in unserer Gesellschaft er-
möglicht. Denn das Bildungspaket ist weit gestaffelt.

Was ist drin im Bildungspaket?

Mittagessen in Kita, Schule und Hort: Der verblei-
bende Eigenanteil der Eltern liegt bei 1 Euro pro Tag.

Lernförderung: Bedürftige Schülerinnen und Schü-
ler können Lernförderung in Anspruch nehmen, wenn
nur dadurch das Lernziel erreicht werden kann.

Kultur, Sport, Mitmachen: Bedürftige Kinder sollen
in der Freizeit nicht ausgeschlossen sein, sondern bei
Sport, Spiel und Kultur mitmachen. Deswegen wird
zum Beispiel der Beitrag für den Sportverein oder für

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrich Lange


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die Musikschule in Höhe von monatlich bis zu 10 Euro
übernommen.

Schulbedarf und Ausflüge: Damit bedürftige Kinder
mit den nötigen Lernmaterialien ausgestattet sind,
wird den Familien zweimal jährlich ein Zuschuss ge-
währt, zu Beginn des Schuljahres 70 Euro und im
Februar 30 Euro – insgesamt 100 Euro. Zudem werden
die Kosten eintägiger Ausflüge in Schulen und Kitas
finanziert.

Schülerbeförderung: Sind Beförderungskosten er-
forderlich und werden sie nicht anderweitig abge-
deckt, werden diese Ausgaben erstattet.

Außerdem können die Kommunen Schulsozial-
arbeiter einstellen.

Das sind vielfältige Angebote, die Kinder nutzen
können. Ich halte dieses Programm allemal für besser,
als den Familien ein erhöhtes Sozialgeld zu geben;
denn hier weiß ich genau, dass es den Kindern zugute-
kommt. Der Bundesregierung ist es wichtig, dass die
Leistungen direkt beim Kind oder Jugendlichen an-
kommen. Das sieht auch die Mehrheit unserer Bevöl-
kerung so. Das Prinzip „Sach- oder Dienstleistung
statt Bargeld“ wird von 90 Prozent der Bevölkerung
für richtig befunden; nur 9 Prozent lehnen es ab.

Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal aus-
drücklich darauf hinweisen, dass der Bund für die
Kommunen die vollen Kosten für das Bildungspaket
übernimmt. Das finanzielle Gesamtvolumen des Bun-
des beträgt 2011 bis 2013 rund 1,6 Milliarden Euro.
Darin enthalten sind auch die Kosten, die die Kommu-
nen für die Einstellung von Schulsozialarbeitern auf-
wenden. Dies erspart auch dem einen oder anderen
Land etliche Millionen Ausgaben. Beispiel Nordrhein-
Westfalen: Das Land hat vor Inkraftreten des Pakets
nach Angaben des Schulministeriums 17,5 Millionen
Euro für das Programm „Kein Kind ohne Mahlzeit“
ausgegeben. Weil jetzt der Bund einspringt, wird die
Landesregierung ab dem Sommer nur noch sogenann-
ten Härtefällen, zum Beispiel Kindern von Asylbewer-
bern, das Essen subventionieren. Für diese Härtefälle
werden lediglich 1 Million Euro veranschlagt.

Wir sind uns alle darin einig, dass das Bildungspa-
ket kein Schulsystem ersetzen kann und auch nicht den
weiter notwendigen Ausbau der Kitas. Aber das
Bildungspaket ist eine notwendige Ergänzung, damit
Kinder aus ärmeren Familien bessere Startchancen
bekommen.

Es ist richtig, dass der Start ein wenig holprig war.
Die Zwischenergebnisse zeigen aber, dass das Paket
immer mehr greift. Nach Umfragen des Deutschen
Städtetages, DST, und des Deutschen Landkreistages,
DLT, bei rund 70 Städten und 190 Landkreisen haben
die Eltern bis zum 1. März 2012 im Durchschnitt für
etwa 56 Prozent, DST, bzw. 53 Prozent, DLT, der leis-
tungsberechtigten Kinder und Jugendlichen Anträge
auf Leistungen gestellt. Im Juni 2011 hatte in Umfra-
gen der Verbände die Inanspruchnahme der Leistun-

gen noch bei 27 Prozent bis 30 Prozent und im Novem-
ber 2011 bei 44 Prozent bis 46 Prozent gelegen.

Dies zeigt, wird sind auf einem guten Weg. Ich
möchte auch darauf hinweisen, dass der Staat nicht
nur eine Bringschuld, sondern die Eltern auch eine
Holschuld für ihre Kinder haben und den Weg auf sich
nehmen müssen, die entsprechenden Leistungen zu be-
antragen. Wir möchten natürlich, dass noch mehr Kin-
der die Teilhabeangebote nutzen. Wir wollen uns auch
stärker um Migranten kümmern und die Kinder errei-
chen, deren Eltern das Bildungspaket noch nicht ken-
nen oder ablehnen. Auf diesen drei Feldern müssen wir
besser werden. Trotzdem lässt sich heute bereits fest-
stellen: Das Bildungspaket ist aus dem Gröbsten raus
und wird langsam selbstständig.

Weitere genauere Daten über die Inanspruchnahme
werden wir aus einer wissenschaftlichen Studie ziehen
können. Im Auftrag des BMAS wurde vom Institut für
Sozialforschung und Gesellschaftspolitik eine Befra-
gung zum Niveau der Inanspruchnahme des Bildungs-
und Teilhabepakets durchgeführt, deren Ergebnisse
Ende April vorliegen.

Wenn diese Daten vorliegen, werden wir das Bil-
dungs- und Teilhabepaket unter Berücksichtigung der
neuen Erkenntnisse prüfen und bewerten und an der
einen oder anderen Stellschraube drehen. Ich fordere
alle auf, zugunsten der Kinder und Jugendlichen da-
ran mitzuwirken, um das Instrument der gesellschaftli-
chen Teilhabe weiter zu verbessern.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1723746100

Wir debattieren heute über unseren Antrag zum Bil-

dungs- und Teilhabepaket. Es geht einerseits darum,
wie wir dieses bürokratische Monster schnell und
wirksam an die Kette legen können.

Andererseits zeigen wir auch unsere mittel- und län-
gerfristigen Vorstellungen von mehr Bildungsgerech-
tigkeit in Deutschland auf: Wir investieren in die
Bildungsinfrastruktur. Deshalb wollen wir flächen-
und bedarfsdeckend Kitas und Horte ausbauen und
Schulen zu Ganztagsschulen umgestalten – mit Betreu-
ungs-, Freizeit- und Lernförderangeboten und Schul-
sozialarbeitern sowie diskriminierungsfrei zugängli-
cher und gesunder Essensverpflegung.

Zu dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen ge-
rechte Bildungschancen durch gute barrierefreie An-
gebote an Schulen und Kitas bereitzustellen, haben wir
uns schon immer bekannt: Bereits unter Rot-Grün ha-
ben wir 4 Milliarden Euro in den Ausbau der Ganz-
tagsschulen gesteckt, und in der Großen Koalition den
Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Einführung
eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für
Kinder ab einem Jahr ab dem 1. August 2013 durchge-
setzt.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung verfolgt eine
andere Strategie. Sie kümmert sich nicht darum, die
Bildungsinfrastruktur auszubauen. Stattdessen soll ein
Betreuungsgeld an diejenigen Eltern gezahlt werden,

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Hiller-Ohm


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(D)(B)


die ihre Kinder von der Kita fernhalten. Dies ist bil-
dungs-, integrations- und gleichstellungspolitisch völ-
lig verfehlt und verfassungsrechtlich problematisch.
Unterm Strich: eine absolute Fehlinvestition.

Der Gesetzgeber schafft damit Anreize, dass Kinder
Bildungsangebote nicht nutzen und Eltern ihre Er-
werbstätigkeit einschränken. Das ist genau der falsche
Weg.

Wir wollen das Betreuungsgeld so schnell wie mög-
lich abschaffen und die so gewonnenen rund 2 Milliar-
den Euro jährlich zusätzlich in die Bildungsinfrastruk-
tur, also in den konsequenten Ausbau von Krippen und
Kitas, stecken.

Gerechte Bildungschancen für alle Kinder und Ju-
gendlichen zu schaffen, ist unser Ziel. Gute Bildung
von Anfang an muss für alle möglich sein: von der Kita
über die Schule bis zu Studium und Berufsabschluss.

Die SPD hat als bisher einzige Partei mit dem „Na-
tionalen Pakt für Bildung und Entschuldung“ einen
umfassenden Vorschlag vorgelegt, die Bildungsfinan-
zierung von Bund und Ländern auszuweiten: Wir wol-
len für Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahr
bereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Län-
dern finanziert aus Einsparungen, dem Abbau von
überflüssigen Subventionen, der Wiedereinführung der
Vermögensteuer und der Reform der Erbschaftsteuer
zugunsten der Länder.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das Koope-
rationsverbot im Grundgesetz aufzuheben, damit Bund
und Länder bei der Bildung wieder zusammenarbeiten
dürfen. Nur gemeinsam wird es gelingen, Ganztags-
schulen und Kitas in Deutschland auszubauen und sie
besser auszustatten – Bund und Land Hand in Hand.

Auch wenn sich das leider nicht über Nacht errei-
chen lässt, gilt: Alle Kinder in unserem Land haben ein
Recht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen und ge-
sellschaftlichen Leben. Leider sieht die Realität viel zu
oft anders aus. Insbesondere für Kinder aus Familien
mit wenig Geld ist Chancengleichheit nicht gesichert.

Deshalb ist es gut, dass das Bundesverfassungsge-
richt im Jahr 2010 dem Gesetzgeber ins Stammbuch
geschrieben hat, dass wir bei der Bemessung der
Grundsicherung die Teilhabe der Kinder an Bildung
und ihr soziokulturelles Existenzminimum sicherstel-
len müssen.

Bundestag und Bundesrat haben nach langen Ver-
handlungen Anfang des Jahres 2011 das sogenannte
Bildungs- und Teilhabepaket geschnürt. Wir Sozialde-
mokratinnen und Sozialdemokraten haben das Bil-
dungspaket im Vermittlungsausschuss gemeinsam mit
CDU und CSU auf den Weg gebracht – nach intensiven
Verhandlungen, in denen die SPD deutliche Verbesse-
rungen für die Familien erreicht hat. Wir haben dem
Kompromiss zugestimmt, um den 2,5 Millionen Kin-
dern und deren Eltern bessere Bildungschancen und
die dafür notwendigen Finanzmittel zukommen zu

lassen. Die Alternative wäre sonst gewesen: kein Bil-
dungspaket und weniger Gerechtigkeit für die Kinder.

Die SPD hat durchgesetzt, dass nicht nur Kinder
aus Hartz-IV-Familien an Klassenfahrten, Nachhilfe
und Schulessen teilnehmen können und Lernmaterial
erhalten. Auch einkommensschwache Familien im
Kinderzuschlags- und Wohngeldbezug können das
Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Das
betrifft rund 500 000 Kinder zusätzlich.

Leider muss beim Bildungspaket aktuell jede Leis-
tung einzeln beantragt und abgerechnet werden. Das
konnten wir als SPD in den Verhandlungen nicht ver-
hindern. Wir halten dies für unnötig aufwendig – die
Bürokratie kostet zudem Geld. Außerdem zeugt das
von einer pauschalen Misstrauenskultur gegenüber
den Eltern. Wir vertrauen den Eltern.

Das Bildungspaket ist ein wichtiger Schritt in die
richtige Richtung. Es sind aber – wie es zu erwarten
war und die Erfahrung gezeigt hat – wesentliche Ver-
besserungen dringend nötig. Denn wir wollen, dass die
Leistungen bei den Kindern ankommen, und wir wol-
len bessere Wege – ohne ausufernde Bürokratie.

Das Bildungs- und Teilhabepaket schreckt mit sei-
nen bürokratischen Hürden Anspruchsberechtigte ab.
Viele Kinder und Jugendliche können daher ihren
grundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung
und Teilhabe nicht wahrnehmen.

So kann es nicht gehen. Das Bildungspaket ist Teil
des grundgesetzlich garantierten soziokulturellen
Existenzminimums.

Laut Schätzungen erhalten nur etwa 50 Prozent der
Kinder tatsächlich Leistungen aus dem Bildungs- und
Teilhabepaket. Das bedeutet, dass jedes zweite bedürf-
tige Kind leer ausgeht. Sie sehen, wir sind noch sehr
weit von echter Bildungs- und Chancengerechtigkeit
entfernt.

Wie viele Kinder es ganz genau sind, wie viel Geld
wo und für welche Leistungen ausgegeben wurde, weiß
niemand. Die Bundesregierung kann dazu bis heute
keine Angaben machen und verweist darauf, dass erst-
mals zum 31. März 2013 Zahlen durch die Länder ge-
meldet werden mussten. Aber bis heute wurden diese
nicht offiziell bekannt gegeben. Entweder kennt die
Regierung die Zahlen wirklich nicht, oder sie hält sie
bewusst zurück. Beides wäre ein Skandal.

Ursprünglich hat die eigentlich zuständige Sozial-
ministerin von der Leyen große Töne gespuckt, dass
durch das Bildungspaket den Kindern neue Zukunfts-
chancen eröffnet werden. Über zwei Jahre nach
seinem Start kommen diese Chancen aber leider nur
bei höchstens jedem zweiten Kind an – eine traurige
Bilanz.

Die Bundesregierung hat sich weder um vernünftige
statistische Daten bemüht noch versucht, nur die
kleinsten Verbesserungen vorzunehmen. Diese Arbeit
mussten die Länder machen. Sie haben sich – alle 16 –
einvernehmlich auf zumindest kleinere Änderungen

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Hiller-Ohm


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verständigt. So wird etwas Verwaltungsaufwand abge-
baut, wovon auch die Kinder und Jugendlichen profi-
tieren und somit letztendlich die Inanspruchnahme
verbessert wird. Die Verbesserungen können zum
1. August in Kraft treten – dank unserer Länder.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben das Bildungs- und Teilhabepaket von Anfang an
intensiv auf den Prüfstand gestellt. In vielen Gesprä-
chen mit Praktikern vor Ort, Gewerkschaften und Ver-
bänden haben wir uns kritisch mit dessen Umsetzung
auseinandergesetzt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat
letztes Jahr dazu auch ein großes Fachgespräch mit
vielen Sachverständigen durchgeführt.

Die Ergebnisse legen wir heute in unserem Antrag
vor. Wir bringen damit ganz konkrete und kurzfristig
umzusetzende Verbesserungsvorschläge für weniger
Verwaltungsaufwand für die Betroffenen und Behörden
und mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit ein:

Die 10 Euro monatlich zur Teilhabe am sozialen
und kulturellen Leben in der Gemeinschaft sollen ohne
Antrag mit dem Regelsatz ausgezahlt sowie grundsätz-
lich überprüft werden. Wie die Regelsätze selbst muss
dieser Betrag fortlaufend angepasst werden.

Auch das Schulbedarfspaket ist allen Leistungsbe-
rechtigten ohne zusätzlichen Antrag mit dem Regelsatz
auszuzahlen. Hier wollen wir ebenfalls eine Überprü-
fung und regelmäßige Anpassung der Höhe von derzeit
insgesamt 100 Euro.

Der Zugang zur Lernförderung soll vereinfacht und
möglichst an den Schulen angeboten werden.

An Schulen, Horten und Kitas muss eine diskrimi-
nierungsfreie gemeinsame und gesunde Essensverpfle-
gung angeboten werden. Auf den Eigenanteil von
1 Euro soll verzichtet werden, was zudem Verwal-
tungskosten spart. Zur Entbürokratisierung soll der
Finanzierungsbeitrag des Bundes pauschal orientiert
an der Zahl der Leistungsberechtigten erfolgen.

Lediglich Einmal- und Härtefallleistungen sowie
nur schwer pauschalisierbare Kosten wie für Kita- und
Schulausflüge und Beförderungskosten sollen weiter-
hin auf unbürokratischen Antrag gewährt werden. Au-
ßerdem muss die Direktzahlung an die Eltern ohne
Gutschein- oder Sachleistungsabwicklung zur Verrin-
gerung des Verwaltungs- und Kostenaufwands ermög-
licht werden.

Mit diesen Vorschlägen können wir das bestehende
bürokratische Bildungspaket nachhaltig verbessern
und mehr Kinder und Jugendliche erreichen.

Aber auch die Kommunen müssen mit in die Umset-
zungsverantwortung genommen werden. Sie sind
näher am Geschehen; sie kennen die Angebote und
wissen beispielsweise, wie das Mittagessen in Kitas
und Schulen organisiert ist.

Einerseits müssen wir die Kommunen – wie von uns
vorgeschlagen – von unnötiger Verwaltungsbürokratie
entlasten. Andererseits müssen sie dann aber auch die

Möglichkeiten nutzen, das Bildungspaket mit ihren be-
stehenden Strukturen und Programmen zu verknüpfen
und bestmöglich umzusetzen. Anerkannt gute Umset-
zungsbeispiele wie der Lübecker Bildungsfonds aus
meinem Wahlkreis können hier als Vorbilder dienen.

Deshalb fordern wir die Entwicklung von unbüro-
kratischen Verwaltungs- und Verfahrensstandards an-
hand von guten Praxisbeispielen. Schließen Sie sich
unseren Forderungen an und verweigern Sie unseren
Kindern nicht weiterhin wichtige Bildungschancen.

Wir müssen alle Kinder fördern – nicht nur jedes
zweite.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1723746200

Wieder einmal diskutieren wir über einen Antrag

zum Thema Bildungs- und Teilhabepaket. Es scheint
mir immer wieder, dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Grünen, dabei vergessen, wie
es zur bestehenden Regelung kam.

Am 9. Februar 2010 beurteilte das Bundesverfas-
sungsgericht die von der rot-grünen Bundesregierun-
gen beschlossenen Gesetze zum Arbeitslosengeld II als
verfassungswidrig. Dies geschah unter anderem des-
halb, weil bei der damaligen Festlegung der Regel-
sätze der Bildungs- und Teilhabebedarf von Kindern
und Jugendlichen vollkommen unberücksichtigt blieb.

Diese Regierungskoalition hatte dann vorgeschla-
gen, die Leistungen für Bildung und Teilhabe zentral
über die Jobcenter zu administrieren und dabei auf die
Kenntnisse der Bundesagentur für Arbeit zu vertrauen.

Da das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch im Bundesrat zustimmungspflichtig
war, haben SPD und Grüne diese Idee der sogenann-
ten Familienlotsen in den Jobcentern blockiert. Sie ha-
ben stattdessen, unterstützt von den Kommunen, die
Zuständigkeit für das Bildungs- und Teilhabepaket in
die Hände der Kommunen geben wollen. Um zu einem
Ergebnis im Vermittlungsverfahren zum Wohle der An-
spruchsberechtigten zu kommen, haben wir diese Be-
dingung vonseiten von SPD und Grünen erfüllt.

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ha-
ben diesem Kompromiss am Ende sowohl im Bundes-
tag als auch im Bundesrat zugestimmt, während sich
die Grünen aus parteipolitischen Gründen in letzter
Sekunde verabschiedet hatten.

Deshalb nur zur Klarstellung für all das, was Sie in
Ihrem Antrag kritisieren: Die SPD hat sowohl im Bun-
destag als auch im Bundesrat die Hand gehoben. Das
müssen Sie aus Gründen der Redlichkeit den Men-
schen auch sagen.

Der heute zu beratende Antrag stellt die Tatsachen
und Fakten aber bewusst falsch dar. So behaupten Sie
auf Seite 3 im zweiten Abschnitt, dass derzeit viele Kin-
der, Jugendliche und junge Erwachsene ihren grund-
gesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung und

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


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(D)(B)


Teilhabe nicht wahrnehmen könnten. Dies ist so
schlichtweg falsch.

Wahrnehmen kann den Anspruch jeder Anspruchs-
berechtigte; es gibt da keine Hürden. Richtig ist aber,
dass aufgrund von Anlaufschwierigkeiten, die durch
die zentrale Erbringung der Leistungen durch die
Kommunen entstanden sind, die Inanspruchnahme des
Bildungs- und Teilhabepakets noch ausbaufähig ist.

Am kommenden Montag wird Bundesarbeitsminis-
terin Dr. Ursula von der Leyen die aktuellen Zahlen
zur Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabe-
pakets veröffentlichen. Ich bin mir dessen sehr sicher,
dass wir eine weitere Zunahme im Vergleich zu den
letzten Zahlen vom März 2012 verzeichnen werden.
Dennoch wird es gewiss auch weiterhin Luft nach oben
geben.

Um dies zu erreichen, haben wir am 21. Februar
dieses Jahres im Deutschen Bundestag ein Gesetz
beschlossen, das zu Änderungen in der Praxis des
Bildungs- und Teilhabepakets führt. Diese Änderungen
sind auf die Initiative dieser christlich-liberalen
Regierungskoalition zurückzuführen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
direkt nach der Einführung des Bildungs- und Teilha-
bepakets einen Runden Tisch gestartet, an dem Bund,
Länder und Kommunen gemeinsam über Verbesserun-
gen und Nachsteuerungen beim Bildungs- und Teil-
habepaket gesprochen haben. Ergebnis der Gespräche
waren die erwähnten Änderungen des Gesetzes.

Der Runde Tisch wird auch weitergeführt. So stellen
wir sicher, dass weiterhin sehr praxisnah Probleme be-
sprochen und dann auch gesetzgeberisch gelöst wer-
den können.

Sie fordern in ihrem Antrag unter Punkt 4, dass in
Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespfle-
gestellen und Horten flächendeckend Essensverpfle-
gung angeboten werden soll. Hierbei übersehen Sie je-
doch die praktischen Probleme. Natürlich ist es ein
Ziel, dass jedes Kind eine Essensverpflegung in An-
spruch nehmen kann. Sie müssen jedoch auch die Ge-
gebenheiten an Gebäuden vor Ort berücksichtigen.
Nicht jede Bildungs- oder Betreuungseinrichtung kann
Mittagessen anbieten. An einigen Stellen fehlen dazu
schlichtweg die Räumlichkeiten.

Eine große Zahl ihrer Forderungen wäre derzeit aus
verfassungsrechtlichen Gründen nicht umsetzbar. In
vielen Punkten wollen Sie in die Bildungshoheit der
Länder eingreifen. Wenn Sie dies wollen, müssen sie
aber auch gleichzeitig einen Gesetzentwurf für eine
Grundgesetzänderung einbringen. So kann man Ihrem
Antrag nicht zustimmen, da er, würden wir ihn jetzt be-
schließen, verfassungswidrig wäre.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723746300

Mit seinem Urteil im Februar 2010 hat das Bundes-

verfassungsgericht eine Neuermittlung der Regel-
bedarfe für das menschenwürdige Existenzminimum

auch für Kinder erzwungen. Bei dieser Neuermittlung
wurde ein Teilbedarf von Kindern und Jugendlichen
– nämlich spezifische Bedarfe für Bildung und Teil-
habe – aus dem Regelbedarf ausgegliedert und in
Form eines sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets
organisiert. Grundcharakter dieses Bildungs- und
Teilhabepakets ist demzufolge, dass die Bedarfe nicht
automatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungen
gedeckt werden, sondern erstens beantragt werden
müssen und zweitens in der Regel als Sach- oder
Dienstleistung gewährt werden. Die Folge ist, dass
dies zum einen extrem bürokratisch ist und dass zum
Zweiten quasi eine mehrfache Bedarfsprüfung stattfin-
det. Das Ergebnis: Das Antragserfordernis führt zu
einer völlig unzureichenden Inanspruchnahme der
Leistungen, weil Aufwand und Leistung in keinem Ver-
hältnis zueinander stehen.

Die Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets
war von Anbeginn an ein Fehler. Sie wurde ideologisch
mit dem Misstrauen gegenüber den Eltern begründet:
„Die Gelder müssten tatsächlich bei den Kindern an-
kommen.“ Damit wurde gegen alle Erfahrungen und
empirische Erhebungen unterstellt, die Eltern würden
zusätzliche Gelder für andere Zwecke – beliebte Bei-
spiele: Flachbildschirme und Bier – und nicht für die
Bildung und Teilhabe ihrer Kinder verwenden. Die
Linke lehnt eine solche Stigmatisierung von Eltern im
SGB-II-Leistungsbezug grundsätzlich ab. Dass die
Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets nicht bei
den Kindern ankommen, ist nicht das Verschulden der
Eltern. Es ist vielmehr die realitätsfremde Konstruk-
tion des gesamten Pakets, die bewirkt, dass Kindern
und Jugendlichen Leistungen vorenthalten werden, die
ihnen rechtlich zustehen!

Das Bundesverfassungsgericht hat die Leistungen
für Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendliche
als einen Teil des zu garantierenden menschenwürdi-
gen Existenzminimums angesehen. Dieser Anspruch
bedeutet, dass jedes Kind und jeder Jugendliche die
Leistungen auch bekommen muss. Dass die Hilfe bei
den Kindern nicht ankommt, ist das Versagen der Poli-
tik und nicht ein Mangel an Engagement von Eltern!

Mit dem Geburtsfehler des Bildungs- und Teilhabe-
pakets sind mehrere Probleme systematisch verknüpft:

Erstens. Da – wie die niedrigen Antrags- und Bewil-
ligungsquoten deutlich zeigen – nicht alle Kinder und
Jugendliche Leistungen aus dem BuT beziehen, dieser
Bedarf aber bei der Ermittlung des Regelbedarfs nicht
berücksichtigt wird, entsteht bei vielen Kindern und
Jugendlichen eine verfassungsrechtlich bedenkliche
Unterdeckung ihres Existenzminimums. Sprich: Sie be-
kommen nicht das, was sie brauchen, und auch nicht
das, was ihnen zusteht.

Zweitens. Weitere verfassungsrechtliche Bedenken
formulieren Professor Münder und Dr. Becker in
einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung: So
sehen sie zum Beispiel in der Tatsache, dass lediglich
bestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote finanziert

Zu Protokoll gegebene Reden





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


werden, einen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der
Eltern und Kinder.

Drittens. Das Antragserfordernis erfordert einen
vollkommen unangemessenen Apparat zur Verwaltung
des BuT. Die Verwaltungskosten wurden allein für den
Bereich des SGB II mit deutlich über 100 Millionen
Euro pro Jahr veranschlagt. Dem stehen veran-
schlagte Leistungen in Höhe von 626 bis 661 Millio-
nen Euro pro Jahr gegenüber. Dieses Ungleichgewicht
sorgt dafür, dass umfangreiche finanzielle Mittel den
Kindern für ihre Bedürfnisse nicht zur Verfügung ste-
hen. Die Linke sagt: Die verfügbaren Mittel müssen
den Leistungsberechtigten zugute kommen und dürfen
nicht die Verwaltungsapparate finanzieren.

Es ist sehr zu begrüßen, dass die SPD diese Kritik

(nunmehr) weitgehend teilt und in ihrem Antrag

formuliert: „Die Probleme resultieren aus dem indivi-
dualisierten und bedürftigkeitsgeprüften Zugang zu
Bildungs- und Teilhabeleistungen sowie aus der Fo-
kussierung auf das Sach- und Dienstleistungsprinzip.“
Es ist aber daran zu erinnern, dass die SPD-geführten
Länder im Vermittlungsausschuss für zusätzliches bü-
rokratisches Chaos gesorgt haben. Statt das BuT zu
verhindern bzw. es in vernünftige Bahnen zu lenken,
bestanden sie auf der Durchführung des BuT durch die
Kommunen. Die Übertragung der Verantwortung auf
die Kommunen durch den Vermittlungsausschuss
klingt zwar grundsätzlich vernünftig, in der prakti-
schen Umsetzung führt die Entscheidung aber zu zu-
sätzlichem Chaos. Der Bund finanziert Leistungen, de-
ren konkrete Umsetzung er nicht anweisen, nicht
einmal kontrollieren oder prüfen kann. Der Bund kann
nicht einmal zuverlässig sagen, wie viele Kinder wel-
che Leistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Der
Bund ist hier auf Ergebnisse von Befragungen ange-
wiesen. So kann ein menschenwürdiges Existenzmini-
mum nicht garantiert werden.

In der Perspektive der Linken ist klar: Das Bil-
dungs- und Teilhabepaket ist gescheitert und muss
grundlegend neu gestaltet werden. Das menschenwür-
dige Existenzminimum der Kinder und Jugendlichen
ist zu gewährleisten. Statt des Bildungs- und Teilhabe-
pakets ist dringend notwendig, dass die Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepakets, wo immer sachlich
möglich, in den allgemeinen Regelbedarf der Kinder
und Jugendlichen einfließen. Diese regelmäßigen
Leistungen sind deutlich anzuheben. Perspektivisch
bedarf es der Einführung einer bedarfsdeckenden Kin-
dergrundsicherung.

Darüber hinaus müssen Bedarfe, die nur unregel-
mäßig anfallen – wie zum Beispiel Schulausflüge oder
Klassenfahrten –, wo dies nicht bereits Praxis ist, als
Mehrbedarfe in Form von Geldleistung ausgezahlt
werden. Die Praxis, dass Eltern hier in Vorleistung ge-
hen müssen, entspricht nicht der Lebensrealität der
betroffenen Familien. Hier müssen Mittel und Wege
gefunden werden, die Eltern nicht in finanzielle Not-
lagen bringen oder gar Kindern im Zweifel eine Teil-
nahme unmöglich machen.

Dienst- und Sachleistungen wie Schulverpflegung
und Schülerbeförderung sind bei Bedarf allen Schüle-
rinnen und Schülern unentgeltlich zur Verfügung zu
stellen. Auch die Lernförderung aller Schülerinnen
und Schüler muss selbstverständliche Regelleistung
aller Schulen sein und darf nicht – über das BuT geför-
dert – ausgegliedert und privatisiert werden.

Und ja: Die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur
ist – da ist der SPD zuzustimmen – massiv auszubauen.
Die SPD verschweigt aber, dass zur Finanzierung ei-
nes derartigen Ausbaus der öffentlichen Infrastruktur
eine deutliche Umverteilung des gesellschaftlichen
Reichtums notwendig ist. Die Linke hat ein Programm
zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Ohne die Bereitschaft, von oben nach unten umzuver-
teilen, blieben die Forderungen hohle Ziele, weil die fi-
nanziellen Mittel letztlich fehlen – und zwar vor Ort!


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723746400

In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeit

und Soziales hat die Diskussion über das Bildungs-
und Teilhabepaket, BuT, einen neuen Tiefstand er-
reicht. Auf der Tagesordnung stand die Berichterstat-
tung der Bundesregierung zur Inanspruchnahme des
Bildungs- und Teilhabepakets 2012. Aber das, was
Staatssekretär Dr. Brauksiepe den Mitgliedern des
Ausschusses vortrug, war eine Brüskierung. Keine ein-
zige Zahl wurde genannt. Seit nunmehr zwei Jahren
dreht und windet sich die Bundesregierung, weil sie
nicht einräumen will, was alle, die in der Praxis mit
dem BuT vertraut sind, einmütig beklagen: Das BuT ist
in seiner jetzigen Form ein bürokratisches Ungetüm,
das Kindern nur ungenügend Bildungs- und Teilhabe-
förderung zuteil werden lässt.

Der kommunikative Umgang der Bundesregierung
mit dem BuT ist desaströs und zeigt zweierlei: Zum ei-
nen scheint es die Bundesregierung nicht zu interessie-
ren, ob die Leistungen tatsächlich bei den anspruchs-
berechtigten Kindern ankommen. Ministerin von der
Leyen hatte vor allem die mediale Inszenierung und
weniger die Bedürfnisse der Kinder im Sinn. Zum an-
deren weigert sich die Bundesregierung, die offenkun-
digen Konstruktionsfehler des BuT einzugestehen.
Dass die Bundesregierung die Zahlen zurückhält, die
ihr von den Ländern seit dem 31. März 2013 vorliegen,
hat vor allem einen Grund: Anhand der Zahlen lassen
sich die Fehlkonstruktionen des BuT nicht mehr ver-
leugnen.

Nehmen wir das Beispiel Nordrhein-Westfalen, für
das mir die Zahlen vorliegen. In NRW wurden insge-
samt 87,2 Millionen Euro aus dem BuT abgerufen, das
entspricht 60 Prozent der zur Verfügung gestellten
Mittel. Damit liegt NRW sowohl relativ als auch abso-
lut über dem Bundesdurchschnitt. Zum Überblick: Von
den 87,2 Millionen wurden die meisten Gelder, näm-
lich 36,2 Prozent, für die Mittagsverpflegung in An-
spruch genommen. 32,5 Prozent entfielen auf das
Schulbedarfspaket, und 19,8 Prozent wurden für
Schulausflüge und Klassenfahrten verausgabt. Die an-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


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deren drei Leistungsfelder des BuT, die Lernförderung,
die Leistungen der sozialen und kulturellen Teilhabe
und die Schülerbeförderungskosten, machten zusam-
men nur 10 Prozent aus.

Und ich frage mich: Wie kann es sein? Wie kann es
sein, dass 2,5 Millionen Kinder in diesem Land An-
spruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe ha-
ben, aber nur gut die Hälfte der zur Verfügung gestell-
ten Mittel tatsächlich in Anspruch genommen wird?
Daran, dass teure Schulmaterialen oder auch Klassen-
fahrten und Schulausflüge von Hartz-IV-Familien pro-
blemlos selbst finanziert werden können, wird es wohl
kaum liegen. Oder nehmen wir die marginalen Abruf-
raten bei der Lernförderung und den Leistungen zur
sozialen und kulturellen Teilhabe, die eigentlich das
Herzstück des Bildungs- und Teilhabepakets bilden
sollten: Sie kommen sicher nicht dadurch zustande,
dass Kinder aus bildungsfernen Familien oder Kinder
mit Migrationshintergrund keine Nachhilfe bräuchten
oder anders als andere Kinder nicht mit Freunden im
Verein Fußball spielen oder ein Instrument lernen
möchten. Und selbst bei der Mittagsverpflegung, die
von den Ländern insgesamt am stärksten in Anspruch
genommen wird – so das Ergebnis einer Abfrage des
Norddeutschen Rundfunks bei den Kommunen; wohl-
gemerkt: des NDR, nicht des Ministeriums! –, muss
man doch fragen: Warum werden die Gelder auch hier
nicht voll ausgeschöpft? UNICEF hat im vergangenen
Jahr eine Studie zur Kinderarmut in den reichen Län-
dern der Welt veröffentlicht. Ein Ergebnis dieser Stu-
die war, dass in Deutschland von 20 Kindern eines
keine warme Mahlzeit am Tag bekommt. Das sind fünf
Prozent der Kinder; aber die Gelder aus dem Bil-
dungs- und Teilhabepaket werden nicht genutzt.

Die Antwort auf all diese Fragen ist erschreckend
einfach: Die Hürden der Beantragung sind zu hoch,
und die Konzentration auf Sachleistungen geht an den
Erfordernissen der Praxis schlicht vorbei. Denn was
nützt der Zuschuss zum Mittagessen, wenn Schulen
keine Schulküchen haben und private Caterer wegen
der komplizierten Abrechnung zurückschrecken, so-
dass überhaupt kein Schulessen angeboten wird? So
bleiben die Küchen kalt und die Mägen leer. Was nüt-
zen monatliche Zuschüsse zu Sportvereinen oder Mu-
sikschulen, wenn der Zuschuss nur einen Bruchteil der
eigentlichen Kosten deckt und die Familien zusätzlich
25 bis 50 Euro im Monat selbst finanzieren müssen?
Pro Kind wohlgemerkt. Das Beispiel der Musikschulen
wird immer wieder angeführt: Dass Instrumentalun-
terricht, selbst dann, wenn es sich um günstigen Grup-
penunterricht handelt, nicht unter 35 Euro pro Stunde
zu haben ist, ist keine Neuigkeit. Das war auch be-
kannt, als die schwarz-gelbe Bundesregierung das Bil-
dungs- und Teilhabepaket geschnürt hat. Ähnlich ab-
surd und weltfremd sind die Vorgaben für die
Bewilligung von Lernförderung: Diese wird nur im
Fall einer unmittelbaren Versetzungsgefährdung und
dann auch nur einmalig und kurzfristig gewährt. Dass
ein langfristiger Lernerfolg Kontinuität braucht, ist
landläufig bekannt. Mit maximal 35 Stunden pro

Schuljahr und Kind kann dieser nicht erreicht werden.
Selbst dann nicht, wenn der hohe Aufwand betrieben
wird und die Leistungen tatsächlich beantragt werden.

Die Bundesregierung rühmt sich, im Jahr 2012
knapp 900 Millionen für das BuT bereitgestellt zu ha-
ben. Was sie dabei geflissentlich verschweigt, ist, dass
ein Großteil des Geldes – nämlich 159 Millionen Euro –
ausschließlich auf Verwaltungsmittel entfällt. Faktisch
ist es aber noch mehr. Tatsächlich schätzen wir anhand
der Zahlen des Verwaltungspersonals den Verwal-
tungsaufwand auf mindestens 30 Prozent. Für die ei-
gentlichen Sachleistungen wurden also bestenfalls
716 Euro Millionen bereitgestellt. Eine sachgerechte
Verwendung der Mittel fordern wir Grünen seit lan-
gem. In unserem Antrag „Das Bildungs- und Teilhabe-
paket – Leistungen für Kinder und Jugendliche unbü-
rokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“

(Bundestagsdrucksache 17/8149) – wohlgemerkt dem

ersten zum Reformbedarf des BuT – haben wir die
Überführung der sogenannten Teilhabepauschale, des
Schulbasispakets und der Schülerbeförderung in den
monatlichen Regelsatz gefordert. Außerdem ist es aus
unserer Sicht notwendig, die Lernförderung unbüro-
kratisch zu gewähren und die tatsächlichen Kosten für
Schulausflüge und Klassenfahrten zu erstatten. Und
für das Mittagessen fordern wir eine Vereinfachung
der Abrechnung: Die Kostenübernahme muss den
Schulen, Horten und Kindertagesstätten direkt zukom-
men.

Der Änderungsbedarf am Bildungs- und Teilhabe-
pakt ist allgemein konsentiert. Vereine, Sozialver-
bände, Stiftungen, Jobcenter, der Deutsche Landkreis-
tag und auch die Länder, sie alle sind sich einig: Der
Bürokratieaufwand muss reduziert und die Leistungs-
gewährung so umgestaltet werden, dass die Leistung
bei den Kindern ankommt. Der Bundesrat hat einen
Gesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches So-

(Bundestagsdrucksache 17/12036)

Wohlfahrtsverband hat Praktikerinnen und Praktiker
befragt und die Inanspruchnahme des Bildungs- und
Teilhabepakets evaluiert. Die kritische Praxisbilanz
nennt die drängenden Probleme konkret beim Namen
und macht Lösungsvorschläge. Die Vodafone Stiftung
Deutschland hat die Lernförderung bilanziert und ei-
nen Zehn-Punkte-Plan zur Lernförderung vorgeschla-
gen. Von allen Seiten werden der Bundesregierung die
Lösungen auf dem silbernen Tablett serviert. Aber
Ministerin von der Leyen zieht es vor, die Inanspruch-
nahme selbst zu evaluieren und eine ehrliche Bewer-
tung des BuT weiter zu verzögern.

Wenn die Ministerin am kommenden Montag vor die
Presse tritt und anstelle der Zahlen aus den Ländern
die Ergebnisse einer vom BMAS in Auftrag gegebenen
Befragung präsentiert, dann wird sie wieder davon
sprechen, dass das BuT ein sozialpolitischer Erfolg ist.
Und wie schon beim Abschlussbericht des Instituts für
Sozialforschung und Gesellschaftspolitik werden die

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



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Tatsachen sicher auch am 29. April 2013 wieder be-
schönigt werden.

Frau von der Leyen hat heute im Plenum treffender-
weise Kurt Schumacher zitiert: „Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit.“ Das sollte sie sich
selbst ins Stammbuch schreiben und die Zahlen, Fak-
ten und Bedürfnisse der Praxis, die ihr vorliegen, ernst
nehmen. Die Wirklichkeit von 2,5 Millionen Kindern
ist, dass sie besseren und umfassenden Zugang zu Bil-
dung und Teilhabe brauchen und dass das Bildungs-
und Teilhabepaket in seiner derzeitigen Ausformung
dazu nur ungenügend beiträgt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723746500

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/13194 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine Ein-
wände. Dann verfahren wir so.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten
Schneider (Erfurt), Uwe Beckmeyer, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Privatkundengeschäft der Finanzagentur
Deutschland GmbH fortsetzen

– Drucksachen 17/12062, 17/12434 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.


Alexander Funk (CDU):
Rede ID: ID1723746600

Seit unserer letzten Debatte zum Privatkundenge-

schäft der Finanzagentur hat sich gezeigt: Auch nach
unserer Ankündigung, Ihren Antrag zur Fortsetzung
des Privatkundengeschäftes der Finanzagentur nicht
zu unterstützen, dreht sich die Welt weiter. Wie sollte es
auch anders sein? Kunden können ja weiterhin Bun-
deswertpapiere erwerben, nur eben nicht mehr über
die Finanzagentur, für deren Minusgeschäft der Steuer-
zahler aufkommt.

Überdenken Sie doch einfach Ihr Anliegen selbstkri-
tisch. Sie fordern, dass die Finanzagentur des Bundes
ein Produkt weiter anbietet, das jedes Jahr zwischen
50 und 70 Millionen Euro Verluste einbringt. Dieses
Geld soll dann der Bund, also der Steuerzahler zu-
schießen, damit andere über die Finanzagentur Schatz-
briefe erwerben können. Warum? Und vor allem:
Wieso stellen Sie Ihre Forderung erst jetzt? – Seit Juni
2012 wissen die Mitglieder des Bundesfinanzierungs-
gremiums – also auch Ihre Vertreter darin –, dass das

Privatkundengeschäft eingestellt werden soll. Dass es
unrentabel ist, wissen Sie schon länger. Da muss ich
fragen: Wieso befassen Sie sich erst jetzt damit, wenn
Ihnen angeblich so sehr an diesem Thema gelegen ist?

Ich meine: Sie versuchen, die wenigen aktuellen
Presseartikel zu dem Thema aufzugreifen, in denen der
Wegfall der Bundesschatzbriefe bedauert wird, ohne
jedoch auf das Verlustgeschäft für den Steuerzahler
hinzuweisen. Suggeriert wird dann, der einfache Spa-
rer könne keine Bundeswertpapiere mehr erwerben.
Das ist schlicht und einfach falsch: Sie können komfor-
tablere und häufig preisgünstigere Erwerbswege nut-
zen als den Kauf über die Finanzagentur. Denn das ist
doch das Problem und hat zu der Entscheidung ge-
führt, das Privatkundengeschäft einzustellen: Banken
haben vielfach preiswertere Angebote im Sortiment
und haben der Finanzagentur hier schlicht und einfach
den Rang abgelaufen.

Nichts anderes schreibt uns der Bundesrechungshof
ins Stammbuch. Ein kleiner Blick in den Bericht wäre
sicher hilfreich gewesen, bevor Sie Ihren Antrag hier
zur Debatte gestellt haben. Gewiss werfen Sie dem
BRH nicht vor, im Interesse anderer Vertriebswege zu
sprechen – und uns nicht, dass wir Anmerkungen und
Hinweise des Rechnungshofes ernst nehmen.

Nochmals zu Ihrer Kenntnis, falls Sie die entschei-
dende Passage des Berichts übersehen haben sollten:
„Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfehlung
des Bundesrechnungshofes bis zum Ende des Jahres
2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, die es für Pri-
vatanleger anbietet. Dieses Privatkundengeschäft ist
für die Kreditaufnahme des Bundes bedeutungslos ge-
worden, weil Privatanleger seit über 20 Jahren immer
weniger Wertpapiere des Bundes kaufen.“ Weiter heißt
es: „Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft
sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden
Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der
gesamten Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sich
damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem ent-
standen im Privatkundengeschäft in den letzten Jahren
Verluste, teilweise in zweistelliger Millionenhöhe.“
Außerdem heißt es: „Der Bundesrechnungshof hat be-
zweifelt, dass sich das Privatkundengeschäft mit neuen
Produkten oder bei einem höheren allgemeinen Zins-
niveau deutlich ausweiten und kostendeckend betrei-
ben lässt.“ Abschließend heißt es: „Privatanleger sind
damit nicht von einer Geldanlage beim Bund ausge-
schlossen. Sie können weiterhin Wertpapiere des Bun-
des über Kreditinstitute erwerben.“

Ich nehme an, dass diese Bewertung doch auch Ih-
nen zu denken geben müsste. Wollen Sie ernsthaft, dass
der Steuerzahler in Millionenhöhe für diejenigen auf-
kommt, die ihr Geld verleihen? – Das ist zumindest
nicht unsere Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn Sie
mehr Gemeinsinn einfordern, dann beginnen Sie doch
einfach hier im Kleinen und überprüfen Sie mit uns kri-
tisch, welche unrentablen Vertriebswege, die zulasten
des Gemeinwesens gehen, wegfallen können.





Alexander Funk


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Wir jedenfalls werden weiterhin auch im Detail
nicht nachlassen, wenn es darum geht, unsere Staats-
finanzen nachhaltig zu sanieren. Dass Sie damit nicht
viel anfangen können, ist nicht nur bei Ihren großen
Steuererhöhungsplänen zu sehen, sondern auch hier
im Detail.

Lassen Sie uns die richtigen Konsequenzen aus dem
Bericht des Rechnungshofes ziehen und dem Antrag
der SPD nicht folgen.


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1723746700

Vergangene Woche, am 16. April 2013, hat das ita-

lienische Schatzamt für eine „Patriotenanleihe“ Itali-
ens so viele Gebote der italienischen Bürgerinnen und
Bürger erhalten, dass die Bücher zwei Tage vor Ende
der Zeichnungsfrist geschlossen werden mussten. „Ita-
lien kann sich auf seine Bürger verlassen“, schrieb die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 17. April. Ita-
lien hat so knapp 17 Milliarden Euro eingesammelt –
und zwar zu 2,25 Prozent Zinsen, gekoppelt an die ita-
lienischen Verbraucherpreise.

Italien hat das mitten in einer wirtschaftlich und
politisch schwierigen Situation geschafft, war zur Auk-
tionszeit sogar ohne neue Regierung. Das Beispiel
zeigt: Staaten können, wenn sie an den Kapital- und
Finanzmärkten in eine schwierige Lage geraten, sich
selbst daraus befreien, wenn ihre Bürgerinnen und
Bürger ihnen vertrauen. Die Reformen von Minister-
präsident Monti waren sicherlich für viele Italiener
schwierig und anstrengend; sie haben sich aber ge-
lohnt, weil die Menschen wieder Vertrauen in ihren ei-
genen Staat haben.

Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist von
dieser Erfolgsgeschichte gänzlich unbeeindruckt.
Über viele Jahrzehnte war es auch dem Bund möglich,
sich direkt bei den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland zu refinanzieren. Bundesschatzbriefe und
Finanzierungsschätze hatten in Deutschland einen
guten Namen. Gerade die ältere Generation, die die
Einführung der D-Mark im Juni 1948 noch erinnerte,
entschied sich oft für diese Anlagen, und sei es als Ge-
schenk für die Enkel.

Ab dem 1. Januar 2013 hat diese Bundesregierung,
hat Herr Schäuble das Privatkundengeschäft der Fi-
nanzagentur eingestellt. Ich habe das seit der ersten
Information im Sommer 2012 immer wieder kritisiert.

Heute sind die Schulden Deutschlands auf dem
höchsten Stand, auf dem sie je waren. Deutschland ist
mit über 2,1 Billionen Euro, davon über 1,3 Billionen
Euro beim Bund, verschuldet. Wir geben gegenwärtig
über 30 Milliarden Euro pro Jahr für Zinszahlungen
aus. Nun haben Sie entschieden, die Mittel zur Finan-
zierung dieser Schulden künftig vollständig an den
Finanz- und Kapitalmärkten aufzunehmen. Damit be-
stimmen die großen internationalen Investoren den
Ton. Dem Bund die Möglichkeit zu nehmen, sich bei
seinen Bürgern Geld zu leihen, ist wieder einmal der

puren Marktideologie der FDP geschuldet, und sie ist
und bleibt ein schwerwiegender Fehler.

Sie verstecken diese Ideologie hinter einem Bericht
des Bundesrechnungshofes, der besagt, die Kosten für
das Privatkundengeschäft überstiegen den Gewinn um
über 50 Millionen Euro. Das trifft zwar zu, Ihre Konse-
quenz daraus ist aber falsch. Denn es war diese Bun-
desregierung, die nichts unternommen hat, um das zu
ändern. Sie haben der Finanzagentur untersagt, Wer-
bung für Privatanlagen zu machen. Sie haben sich
nicht bemüht, über Synergieeffekte und effektivere An-
gebote die Kosten zu senken. Sie haben sich einfach
ausgeruht und zugesehen.

Seit zwei Jahren haben wir eine sehr spezielle Situa-
tion. Deutschland ist – so paradox das klingen mag –
in einem Punkt Profiteur der Finanzmarktkrise. Auf-
grund der Finanzmarktkrise, die über marode Bankbi-
lanzen zu einer Refinanzierungskrise für einige Staa-
ten des Euro-Raums geworden ist, suchen Investoren
heute fieberhaft nach sicheren Anleihen. Deutschland
ist hier mit die beste Adresse in der Welt. Die Folge da-
raus ist, dass die Zinssätze, die wir als Bund zahlen
müssen, gegenwärtig stark gesunken sind – teilweise
bis ins Negative. Das ist zwar eine gute Entwicklung
für die Bundesschuld und den Bundeshaushalt. Sie ist
aber nicht von Dauer und kann sich rasch wieder än-
dern. Zudem werden die Zinsen durch die niedrigen
Leitzinssätze der Europäischen Zentralbank und die
enormen Liquiditätshilfen an Geschäftsbanken gene-
rell auf einem niedrigen Niveau gehalten. Für die
Sparerinnen und Sparer jedenfalls in Deutschland be-
deutet das eine langsame, schleichende Enteignung,
solange die Zinsen auf Ersparnisse unterhalb der In-
flationsrate liegen. Auf mittlere und lange Sicht ist das
gefährlich und muss sich ändern. Deshalb muss der
Bund nicht nur ein sicherer Hafen bleiben, sondern
wird perspektivisch auch für Privatanleger wieder
ökonomisch interessant werden.

Das Privatkundengeschäft mit Bundesschuldtiteln
findet seit Januar nur noch über die Geschäftsbanken
statt, über die Privatkunden Schuldtitel des Bundes er-
werben können. Das ist verbunden mit Gebühren und
anderen Kosten, denn die Banken wollen ja daran ver-
dienen. Den Gewinn der Banken aber auch noch mit-
hilfe der Bundesschuldenverwaltung zu steigern, darf
doch wirklich nicht unser Interesse sein. Da haben Sie,
Kollege Fricke, in der ersten Lesung dieses Antrags
recht gehabt: Ja, wir wollen den Banken diesen Ge-
winn auf Kosten der privaten Anleger nicht zubilligen.
Sie aber schon. In Klientelpolitik sind Sie einfach un-
übertroffen.

Wir wollen, dass Sie das Privatkundengeschäft der
Finanzagentur umgehend wieder aufnehmen und prü-
fen, wie andere, auch längerfristige Wertpapiere zu-
sätzlich zu den traditionellen Privatkundenprodukten
angeboten werden können. Gemeinsam mit dem Bun-
desrechnungshof müssen Möglichkeiten erarbeitet
werden, wie die Kosten minimiert werden und gegebe-
nenfalls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft

Zu Protokoll gegebene Reden





Carsten Schneider (Erfurt)



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(D)(B)


an anderer Stelle kompensiert werden können. Und ich
fordere Sie auf, Herr Schäuble, gemeinsam mit den an-
deren Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes
Möglichkeiten und Instrumente zu erörtern, um das
Engagement Privater bei der Refinanzierung der
Euro-Mitgliedstaaten generell zu erhöhen und lukrati-
ver zu gestalten und dadurch mehr Unabhängigkeit
gegenüber institutionellen Investoren und anderen
Finanzmarktakteuren zu gewinnen.

Noch hätten Sie Gelegenheit, das klug zu ändern.
Nach dem 22. September 2013 jedenfalls werden wir
mal wieder Ihre Arbeit tun müssen.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1723746800

Wir haben in dieser Debatte über den Antrag der

SPD zur Fortführung des Privatkundengeschäfts der
Finanzagentur Deutschland GmbH bereits mehrfach
Argumente ausgetauscht. Weder an den Fakten noch
an der Wertung hat sich etwas geändert.

Die Bundesregierung hat entschieden, das Privat-
kundengeschäft zum Jahresende 2012 einzustellen.
Der Bundesrechnungshof hat diese Entscheidung un-
terstützt. Die Einstellung des Vertriebs von speziellen
Privatkundenprodukten des Bundes ist aufgrund fest-
gestellter Unwirtschaftlichkeit erfolgt. Das ist im Inte-
resse der Steuerzahler und sollte damit auch im Inte-
resse der privaten Anleger sein.

Als FDP haben wir das Privatkundengeschäft der
Finanzagentur des Bundes stets kritisch begleitet, zu-
mal sich der Staat hier teilweise in Konkurrenz zu pri-
vaten Banken, Sparkassen und Genossenschaftsban-
ken begeben hat.

Die SPD wollte nun, dass weiterhin der Steuerzah-
ler mit 50 bis 70 Millionen Euro belastet wird, um Ka-
pitalanlegern Vergünstigungen zu verschaffen. Je Be-
standskunde kostete die Finanzagentur des Bundes den
Steuerzahler rund 200 Euro. Deutschland sollte also
im Sinne der SPD weiterhin unwirtschaftlich Schulden
aufnehmen.

Auch nach der Beendigung des Privatkundenge-
schäftes der Finanzagentur besteht für jeden Bürger
weiterhin die Möglichkeit, über sein Bankdepot deut-
sche Staatsanleihen zu erwerben. Der international so
beneidete „sichere Hafen“ steht dem Kleinanleger da-
mit weiterhin offen.

Der Antrag der SPD passt gut in die Politik der
SPD, bedeutet er doch in der Konsequenz, dass priva-
ten Banken, Sparkassen und Volksbanken das Geschäft
weggenommen und dem Staat die weitere Verschul-
dung erleichtert wird. Damit fließen Spareinlagen
nicht in Investitionen und privatwirtschaftliche Ent-
wicklungen und damit in die Zukunft unseres Landes,
sondern in die Verschuldung des Staates.

Die christlich-liberale Koalition hat eine nachhal-
tige Politik der Haushaltskonsolidierung erfolgreich
auf den Weg gebracht. Auch in diesem Bereich waren
die vergangenen Jahre vier gute Jahre für Deutsch-

land. Damit sich diese guten Jahre für Deutschland
fortsetzen, macht die christlich-liberale Koalition
auch in diesem Punkt das sachlich Richtige, setzt pri-
vat vor Staat und lehnt daher den Antrag der SPD ab.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723746900

Im Juni 2012 hat die Bundesregierung entschieden,

das Privatkundengeschäft der bundeseigenen „Bun-
desrepublik Deutschland – Finanzagentur GmbH“, Fi-
nanzagentur, einzustellen. Das passt in die neoliberale
Politik der Privatisierung und Kommerzialisierung öf-
fentlicher Angebote. Es gibt kaum noch einen Lebens-
bereich, wo die Bundesregierung nicht versucht, öf-
fentliche Angebote durch kommerzielle zu ersetzen.
Die Resultate sprechen für sich: Die Angebote werden
teurer und in der Regel schlechter.

Im SPD-Antrag wird die Bundesregierung aufgefor-
dert, das Privatkundengeschäft der Finanzagentur
fortzusetzen. Auch wenn zurzeit keine ökonomischen
Gründe bestehen würden, das Privatkundengeschäft
der Finanzagentur fortzuführen, soll privaten Investo-
ren ein direkter Zugang zu Staatsschuldtiteln des Bun-
des weiter offenstehen. Der Zugang allein über
Geschäftsbanken sei zudem mit Gebühren- oder Provi-
sionszahlungen verbunden.

Die Bundesregierung soll umgehend prüfen, wie an-
dere, auch längerfristige Wertpapiere zusätzlich zu den
traditionellen Privatkundenprodukten der Bundes-
schatzbriefe und der Finanzierungsschätze angeboten
werden können. Die Bundesregierung soll aufgefordert
werden, gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof
Möglichkeiten zu erarbeiten, wie die Kosten, die durch
die Bereitstellung der Finanzagentur-Infrastruktur für
Private entstehen, minimiert werden und gegebenen-
falls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft an
anderer Stelle kompensiert werden können.

Die Linke befürwortet die Fortsetzung des Privat-
kundengeschäfts der Finanzagentur. Das Privatkun-
dengeschäft der Finanzagentur hat in der Vergangen-
heit einen positiven Beitrag zur Senkung der
Zinskosten des Bundes geleistet und könnte das künftig
wieder leisten.

Das Privatkundengeschäft der Finanzagentur war
den Interessen von Bürgerinnen und Bürgern entge-
gengekommen, die bei ihren Anlageentscheidungen
nicht von Banken über den Tisch gezogen werden wol-
len. Die Banken wollten das Privatkundengeschäft der
bundeseigenen Finanzagentur kapern, um den Privat-
kunden der Finanzagentur im nächsten Schritt die
Bundeswertpapiere auszureden und ihnen stattdessen
eigene Papiere anzudienen, an denen die Banken mehr
verdienen. Dieses Interesse haben Koalition und Bun-
desregierung durch die Einstellung des Privatkunden-
geschäfts der Finanzagentur bedient.

In ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschland
von der Finanzmarktkrise dadurch profitiert habe,
dass Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt worden
sind und werden. Diese Feststellung greift zu kurz. Tat-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)


sächlich profitierte die deutsche Wirtschaft und eine
wohlhabende Minderheit in Deutschland lebender
Menschen auf Kosten anderer Staaten und der Mehr-
heit der in Deutschland lebenden Menschen vor allem
durch Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge der
von SPD und Grünen durchgesetzten Agenda 2010.

Die Zielrichtung im SPD-Antrag, die Sparanlagen
der Bürger zu mobilisieren, um in Not geratene Staaten
besser refinanzieren zu können, führt dazu, dass die
Auslöser und Profiteure der Finanzkrise aus ihrer Ver-
antwortung entlassen werden.

Die Linke fordert, die Staatsfinanzierung endlich
der Willkür der Finanzmärkte zu entziehen. Neben ei-
ner konsequenten Regulierung der Finanzmärkte muss
die Europäische Zentralbank ermächtigt werden, den
Euro-Staaten günstige Kredite zu geben – direkt oder
über eine zwischengeschaltete europäische Bank für
öffentliche Anleihen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Nach meiner Rede in der ersten Lesung habe ich
viele unterstützende Zuschriften von Bürgerinnen und
Bürgern bekommen, die die Bedeutung des Privatkun-
dengeschäfts der Finanzagentur Deutschland erkannt
haben. Die Leute sehen nicht ein, warum sie künftig
saftige Bankgebühren zahlen sollen, wenn sie ihr Geld
dem Staat über einen bestimmten Zeitraum zur Verfü-
gung stellen. Ich finde, diese Menschen haben völlig
recht.

Als Politikerinnen und Politiker sollten wir uns
freuen, dass viele Bürger ihrem Staat Geld anver-
trauen und damit zur Refinanzierung des Gemeinwe-
sens beitragen wollen, auch wenn die Rendite ver-
gleichsweise niedrig ist. Stattdessen erhöht Schwarz-
Gelb mit der Abschaffung des direkten Privatkunden-
geschäfts der Finanzagentur nun die Hürden, damit
die privaten Banken keine Konkurrenz mehr fürchten
müssen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir
brauchen. Die Bundesschatzbriefe sind immer noch
sinnvoller, als wenn die Leute ihr Vermögen in Zocker-
papiere an den Finanzmärkten stecken, die zur wirt-
schaftlichen Destabilisierung beitragen können.

Es mag sein, dass die Bundesrepublik sich derzeit
günstiger Geld am Markt leihen kann, als das über den
direkten Kontakt mit ihren Bürgerinnen und Bürgern
möglich ist. Das liegt aber auch an der Krise der ande-
ren Staaten im Euro-Währungsgebiet und dem damit
verbundenen niedrigen Zinsniveau für Deutschland.
Darauf können wir uns nicht dauerhaft verlassen. Wir
brauchen langfristig solide Verhältnisse, wenn wir uns
nicht in die Abhängigkeit der Finanzmärkte begeben
wollen. Ein weitsichtiges Schuldenmanagement steht
deshalb auf mehreren Beinen, und das Privatkunden-
geschäft muss ein wichtiges Standbein bleiben.

Das Argument, dass private Anleger Bundeswert-
papieren grundsätzlich ablehnend gegenüberstünden
und der geringe Anteil des Privatkundengeschäfts an

der Gesamtverschuldung nicht zu steigern wäre, geht
jedenfalls ins Leere: In den 90er-Jahren lag der Anteil
bei rund 15 Prozent und damit mehr als fünfmal so
hoch wie heute. Das Interesse an sicheren Geldan-
lagen wird in der Bevölkerung insbesondere in den
Zeiten der Krise seit ein paar Jahren nicht abgenom-
men haben. Das Potenzial wäre grundsätzlich also
vorhanden, wenn man es denn richtig ausschöpfen
würde.

Das will die schwarz-gelbe Koalition aber offenbar
nicht sehen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass CDU,
CSU und FDP auch im Laufe der Beratungen nicht
von ihren Plänen abzubringen waren. Wenn Lobby-
interessen der privaten Banken für Merkels Regierung
wichtiger sind als rationale Argumente für die lang-
fristige Stabilität der deutschen Finanzen, dann kann
auch die Opposition das Ende des Privatkundenge-
schäfts der Finanzagentur nicht verhindern. Wer aber
ein ehrliches Interesse an einem gesunden Schulden-
management und einer möglichst geringen Abhängig-
keit von den Kapitalmärkten hat, der muss dem vorlie-
genden Antrag heute zustimmen und die von Schwarz-
Gelb in den zuständigen Ausschüssen durchgedrückte
Beschlussempfehlung ablehnen.

H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1723747000


Das Bundesministerium der Finanzen hat im ver-
gangenen Jahr entschieden, den Vertrieb von Privat-
kundenprodukten zum Jahresbeginn 2013 einzustellen.
Diese Entscheidung wurde vor dem Hintergrund
ausführlicher Beratungen mit der Bundesrepublik
Deutschland – Finanzagentur GmbH sowie unter Be-
achtung verschiedener Gutachten, die der Bundes-
rechnungshof zu dieser Frage bereits erstellt hatte, ge-
troffen. Auch seitens des Parlaments gab es die
Forderung, aus dem Privatkundengeschäft auszustei-
gen.

Der Bundesrechnungshof stellte fest: „Das Ver-
kaufsvolumen im Privatkundengeschäft sank im Zeit-
raum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden Euro auf
unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der gesamten
Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sich damit von
40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem entstanden im
Privatkundengeschäft in den letzten Jahren Verluste,
teilweise in zweistelliger Millionenhöhe …Der Bun-
desrechnungshof bezweifelt, dass sich des Privatkun-
dengeschäft mit neuen Produkten oder bei einem höhe-
ren allgemeinen Zinsniveau deutlich ausweiten und
kostendeckend betreiben lässt.“

Dieser Beurteilung schloss sich das Bundesministe-
rium der Finanzen an, nachdem weder die tatsächliche
Absatzsituation noch die von der Finanzagentur aufge-
zeigten Perspektiven für die weitere Entwicklung der
Absatzsituation auf die Möglichkeit eines wirtschaftli-
chen Betriebs hindeuteten. Zu den Hintergründen der
Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben,
lassen Sie mich näher erläutern, dass es bis in das
Jahr 2002 noch zwei Absatzwege im Privatkundenge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)


schäft gegeben hatte, nämlich – erstens – den Verkauf
über die Deutsche Bundesbank und – zweitens – den
Vertrieb über Banken und Sparkassen.

Die Deutsche Bundesbank entschied sich im Jahr
2002 jedoch, nicht mehr für den Vertrieb von Privat-
kundenprodukten des Bundes zur Verfügung zu stehen.
Bereits mit Wirkung vom 31. Dezember 2002 wurde
der Verkauf von Bundesschatzbriefen und Finanzie-
rungsschätzen eingestellt, im Februar 2003 folgte
dann auch die Einstellung des Verkaufs von Bundesob-
ligationen ex Emission an Private. Seitdem ist die
Deutsche Bundesbank nur noch bei der Abwicklung
dieser Produkte für den Bund tätig.

Nach dem Ausscheiden der Deutschen Bundesbank
aus dem Verkauf von speziellen Produkten des Bundes
für Privatkunden war nur der Verkauf dieser Produkte
über Banken und Sparkassen sowie der Direktvertrieb
über die Finanzagentur verblieben. Die für diese bei-
den Vertriebswege anfallenden Kosten waren jedoch
nicht so zu beeinflussen, dass die Rentabilität des Ver-
triebs der Privatkundenprodukte des Bundes hätte si-
chergestellt werden können.

Ein weiterer, noch gewichtigerer Aspekt kam hinzu,
und das waren bzw. sind renditeorientierte Anlegerent-
scheidungen. Die übergroße Mehrheit der privaten An-
leger hatte sich im mittlerweile heiß umkämpften
Markt für Privatkundenprodukte gegen die risikofreien
Bundprodukte mit niedrigen Renditen entschieden und
zieht sehr oft Produkte vor, die mehr Rendite für höhe-
res Risiko bieten.

Auch die Versuche der Finanzagentur und des Bun-
desministeriums der Finanzen, das Privatkundenge-
schäft nochmals durch ein neues Produkt wie die Ta-
gesanleihe des Bundes – begleitet sogar von einer
TV-Werbekampagne – zu beleben, konnten den Absatz-
rückgang nicht wirklich aufhalten.

Die derzeit besonders niedrigen Bundrenditen ha-
ben den Niedergang der speziellen Produkte des Bun-
des für Privatkunden sicherlich beschleunigt. Aus-
schlaggebend war aber nicht die Marktlage an sich,
sondern dass die speziellen Produkte des Bundes für
den Privatanleger nicht mehr wettbewerbsfähig wa-
ren.

Eine Subventionierung von Kapitalanlegern für
Zwecke der Kreditaufnahme des Bundes ist jedoch un-
ter keinem Aspekt sinnvoll; insoweit war unsere Ent-
scheidung im Interesse eines verantwortungsvollen
Umgangs mit öffentlichen Geldern ohne Alternative.

Ich möchte zum Schluss noch einen weiteren Punkt
festhalten und betonen, der in der Debatte manchmal
untergeht: Die Einstellung des Vertriebs von speziellen
Privatkundenprodukten – Bundesschatzbriefen, Finan-
zierungsschätzen und der Tagesanleihe – führt keines-
wegs dazu, dass diejenigen Privatanleger, für die die
Sicherheit der Vermögensanlage an erster Stelle steht,
keinen Zugang mehr zu Bundeswertpapieren haben.
Eine Beteiligung privater Investoren an der staatli-
chen Kreditaufnahme ist dauerhaft auch ohne spezielle
Produkte für Privatkunden gewährleistet. Denn Bun-

deswertpapiere können ohne Weiteres auch zukünftig
von Privatanlegern, die eine sichere Wertanlage su-
chen, zum Beispiel über Banken und Sparkassen, er-
worben werden. Der Bundesregierung ist an dem fort-
bestehenden Anlegerinteresse sogar sehr gelegen, weil
es eine wichtige Grundlage für eine weiterhin rei-
bungslose Kreditaufnahme zu wirtschaftlich günstigen
Konditionen ist.

Der ab und zu vorgebrachte Einwand, beim Wertpa-
piererwerb über Banken und Sparkassen fielen Gebüh-
ren an, die die Anleger beim Direkterwerb gespart
hätten, ist irreführend. Selbstverständlich wurden Di-
rektanleger beim Bund an den höheren Kosten des Pri-
vatkundengeschäfts beteiligt. Nur geschah dies durch
einen Zinsabschlag auf die Privatkundenprodukte an-
stelle der Eintreibung von Kontoführungs- oder ähnli-
chen Gebühren. Der Erwerb eines sechsjährigen Bun-
desschatzbriefs mit dem üblichen 0,3-prozentigen
Zinsabschlag für den langfristig orientierten Anleger
von zum Beispiel 10 000 Euro ist selbstverständlich
weniger attraktiv als der Erwerb einer Bundesanleihe
mit sechsjähriger Restlaufzeit zu banküblichen Gebüh-
ren.

Zusammengefasst: Die Einstellung des Vertriebs
von speziellen Privatkundenprodukten des Bundes ist
im öffentlichen Interesse erfolgt, und zwar weil die
Kreditaufnahme des Bundes dadurch kostengünstiger
wird. Das liegt im Interesse aller Steuerzahler – und
daher auch der privaten Anleger. Für Bestandskunden
werden alle bestehenden Einzelschuldbuchkonten von
der Finanzagentur bis zur Fälligkeit der darin verwal-
teten Bundeswertpapiere fortgeführt. Eine Quersub-
ventionierung des Privatkundengeschäfts auf Dauer
widerspräche dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Haus-
haltsrechts und wäre auch nicht sinnvoll.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723747100

Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12434, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12062 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Maurer, Herbert Behrens, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Moratorium für Hartz-IV-Sanktionen als ers-
ten Schritt zu deren Überwindung

– Drucksache 17/13130 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.






(A) (C)



(D)(B)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1723747200

Lassen Sie mich zunächst ein paar kurze Sätze zur

aktuellen Lage am Arbeitsmarkt sagen: Die sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigung nimmt weiter zu
und erreichte im vergangenen Jahr mit über 40 Millio-
nen Beschäftigten den höchsten Stand aller Zeiten. Die
Arbeitslosigkeit sank mit 2,897 Millionen auf den
niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Trotz der aufgrund
des anhaltenden Winters zunächst noch ausbleibenden
Frühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit dennoch
von Februar auf März 2013 um 58 000 Personen auf
3,089 Millionen gesunken. Die Arbeitslosenquote ging
auf 7,3 Prozent zurück. In meinem Landkreis Würz-
burg beträgt die Arbeitslosenquote zurzeit lediglich
3 Prozent – im vergangenen Jahr lag sie sogar noch
darunter! Per Definition handelt es sich hierbei um
Vollbeschäftigung!

Sie sehen, die Chancen für Langzeitarbeitslose sind
derzeit so gut wie nie. Und ich will an dieser Stelle
noch mal ganz klar betonen, dass sich die überwie-
gende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiert zeigt
und wieder in Arbeit kommen will. Die hier immer wie-
der heftig diskutierten Sanktionen treffen nur einen
kleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen. Im letzten
Jahr waren lediglich 3,5 Prozent aller Leistungsbe-
rechtigten in Ostdeutschland und 3,3 Prozent in West-
deutschland von Sanktionen betroffen. Zwar stieg die
Zahl der Sanktionen im vergangenen Jahr insgesamt
auf über 1 Million – in Anbetracht der Zahlen vermutet
die Bundesagentur für Arbeit aber, dass eine kleine
Gruppe mehrfach sanktioniert wurde.

Der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr ist auch auf
den Anstieg von Meldeversäumnissen zurück-
zuführen – zum Beispiel, wenn ein vereinbarter Termin
im Jobcenter nicht eingehalten wurde. Sie stiegen auf
705 000 und machten damit 70 Prozent aller Sanktio-
nen aus. 13 Prozent der Sanktionen wurden wegen Ab-
lehnung einer Beschäftigung, Ausbildung oder Bil-
dungsmaßnahme ausgesprochen. 14 Prozent wurden
ausgesprochen, weil sich Hartz-IV-Empfänger weiger-
ten, Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung mit
dem Jobcenter zu erfüllen, also beispielsweise wenn
innerhalb einer bestimmten Zeit keine oder zu wenige
Bewerbungen geschrieben wurden. Auch wenn Leis-
tungsbezieher eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen
oder an einer Fortbildung nicht teilnehmen, müssen
sie mit Kürzungen rechnen.

Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass
es bei der heutigen Debatte keinesfalls um die große
Mehrheit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechen
hier auch nicht über die Ahndung von vorsätzlichem
Betrug, sondern von der Verletzung von Pflichten, wel-
che der Gesetzgeber den Unterstützten völlig zu Recht
auferlegt hat. Wir diskutieren über diejenigen Men-
schen, die in diesem Land zu Recht Hartz IV beziehen,
aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungen er-
hält, der muss sich in Kooperation mit seinem Arbeits-
vermittler bzw. Fallmanager darum bemühen, mög-
lichst rasch wieder eine Beschäftigung zu finden.

Unsere Leitphilosophie, die die Kollegen der Frak-
tion Die Linke stets zum Dämon der sozialen Kälte stili-
sieren, heißt „Fördern und Fordern“. Dahinter steht
die Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafür aber auch
bei der Suche nach einem Job sehr nachdrücklich En-
gagement und Eigeninitiative einzufordern. Eine Person,
die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsitua-
tion unterstützt wird, muss mithelfen, ihre Situation
auch wieder zu verbessern.

Auch diejenigen, deren Einkommen möglicherweise
nur knapp über den Transferleistungen liegt, finanzie-
ren mit ihren Abgaben diese Leistungen letztendlich
mit. Daher sind wir bei der Verteilung von steuerfinan-
zierten Fürsorgeleistungen auch ihnen in besonderem
Maße verpflichtet.

Nach dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG
hat der Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschen-
würdiges Existenzminimum zu sichern. Dem sind wir
– unter Bestätigung der Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts – mit der Neubemessung der Re-
gelsätze auch nachgekommen. Wir tragen dafür Sorge,
dass einem hilfebedürftigen Menschen die materiellen
Voraussetzungen dafür zur Verfügung stehen, um seine
Würde in Notlagen, die nicht aus eigenen Kräften
überwunden werden können, durch materielle Unter-
stützung zu sichern. Eine Person, die hilfebedürftig ist,
weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung
der Gesellschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie aber
auch alles daransetzen, um diese Hilfebedürftigkeit zu
beenden und ihren Lebensunterhalt wieder selbst be-
streiten zu können. Dass der deutsche Sozialstaat des-
wegen eine „Disziplinierungsmaschine“ sein soll –
liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die
Linke –, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.

Die Ausgangslage war – wie bereits erwähnt – noch
nie so gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wenn
nicht in einem konjunkturell guten Umfeld, wie wir es
derzeit bei uns in Deutschland vorfinden, sollen Leis-
tungsbezieher sonst den Schritt aus der staatlichen Ab-
hängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenen wollen
dies doch auch und bemühen sich redlich, wieder in
Arbeit zu kommen – das stellt auch niemand in Abrede.

Im Schnitt wurden die Leistungen um circa 115 Euro
gekürzt, wobei die Kürzung nicht immer den Regelsatz
betraf, der bei 374 Euro lag. Teilweise wurden auch
die Leistungen für Unterkunft und Heizung oder für
den individuellen Mehrbedarf gekürzt. Der Kürzungs-
betrag richtet sich nach einem Prozentsatz des maßge-
benden Regelbedarfs. Die Minderung bzw. der Wegfall
der Leistung dauert drei Monate. Doch selbst bei einer
Kürzung des Hartz-IV-Satzes ist der Bedarf für Ernäh-
rung, Gesundheits- und Körperpflege in Form von
Gutscheinen gesichert. Eine vorübergehende Herab-
setzung des Regelsatzes widerspricht nicht den verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben.

Natürlich ist es schmerzhaft, wenn man auf einen
Teil seines Geldes verzichten muss, aber wenn jemand
in unserem Land berechtigterweise Hartz IV bezieht,

Zu Protokoll gegebene Reden





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


hat er selbstverständlich auch Pflichten – das habe ich
bereits ausgeführt. Solidarität beruht eben immer auch
auf Gegenseitigkeit. Nur so kann unsere Gesellschaft
funktionieren. Die Solidargemeinschaft kann zu Recht
erwarten, dass die angebotenen Hilfestellungen und
Chancen von den Betroffenen auch genutzt werden,
was bei der Mehrheit der Arbeitslosen ja ohnehin der
Fall ist.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,
ein von Ihnen gefordertes Sanktionsmoratorium trägt
nicht zum Eintritt bzw. Wiedereintritt in Beschäftigung
bei – dies ist durch Studien hinreichend belegt. Hier-
durch würden falsche Anreize gesetzt – weswegen wir
Ihre Forderungen als nicht zielführend erachten.

Das Ziel von arbeitsmarktpolitischen Sanktionsin-
strumentarien ist es, potenziellen Fehlanreizen im Ar-
beitslosenversicherungs- oder Sozialhilfesystem ent-
gegenzuwirken und somit zu gewährleisten, dass die
Arbeitslosen mit den jeweiligen Angestellten von Ar-
beitsagenturen bzw. Jobcentern zusammenarbeiten.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Arbeitssuch-
intensität nahezu aller Arbeitslosen im Vergleich zu
Systemen ohne Sanktionen allein aufgrund einer mög-
lichen Sanktionierung höher ist und Anspruchslöhne
geringer sind. Die Arbeitslosigkeitsdauer wird ver-
kürzt. Verhängte Sanktionen in der Grundsicherung
erhöhen demnach die Beschäftigungswahrscheinlich-
keit der sanktionierten Personen. Es ist davon auszu-
gehen, dass sich bei einem Wegfall von Sanktionen die
Suchanstrengungen der Leistungsempfänger verrin-
gern.

Ich plädiere an dieser Stelle noch einmal für die
konsequente Anwendung des bewährten Prinzips
„Fördern und Fordern“. Bei der Wiedereingliederung
in den Arbeitsmarkt sind wir am erfolgreichsten, wenn
alle Beteiligten konstruktiv und aktiv auf das gemein-
same Ziel hinarbeiten.


Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1723747300

Zum Thema Sanktionen im SGB II wurde bereits

vieles, wenn nicht alles gesagt. Wir haben allein in die-
ser Legislaturperiode bereits achtzehn Anfragen und
Anträge dazu diskutiert. Elf davon wurden allein von
der Fraktion Die Linke gestellt. Da wundert es nicht,
dass die vorliegende Initiative extrem dürftig ist: Der
Antrag besteht nur aus drei Sätzen. Trotzdem möchte
ich die Gelegenheit nutzen, um den Sachverhalt noch-
mals klarzustellen.

Sanktionen sind ein unverzichtbares Element der
Strategie des „Förderns und Forderns“. Dass diese
Strategie greift, ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist
aber auch, dass der Schwerpunkt ganz klar auf dem
„Fördern“ liegt. Die durch Sanktionen einbehaltenen
Geldleistungen summierten sich nach den Daten der
Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2012 auf knapp
200 Millionen Euro. Dem standen insgesamt 32,7 Mil-
liarden Euro an Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik ge-
genüber. Darunter waren allein 4,4 Milliarden Euro
für die aktive Arbeitsmarktpolitik bereitgestellt wor-

den. Wer also den Eindruck erweckt, der Sozialstaat
sei eine „Disziplinierungsmaschine“, wie im Antrag
aufgeführt, der erzeugt ein Zerrbild der Daten- und
Faktenlage.

In den vergangenen Jahren habe ich mehrere Job-
center besucht und zudem hier in Berlin viele Gesprä-
che mit Verantwortlichen geführt. Eins ist klar: Die
Mitarbeiter vor Ort sind bestens qualifiziert und hoch-
motiviert. Sie haben nur ein Ziel, nämlich die Arbeits-
losen wieder in Arbeit zu vermitteln und bei Bedarf zu
qualifizieren, um deren Vermittlungschancen zu erhö-
hen. Ein solches System kann aber nur funktionieren,
wenn alle Betroffenen mitarbeiten. In diesem Zusam-
menhang stellen die Sanktionen ein wichtiges Instru-
ment dar. Der Gedanke, bei Fehlverhalten zu sanktio-
nieren, ist ein grundsätzlicher Bestandteil unserer
Gesellschaft. Dieser Ansatz ist genau richtig, um jeden
Einzelnen zu motivieren und der Solidargemeinschaft
insgesamt gerecht zu werden.

Lassen Sie mich drei Argumente herausgreifen, die
von Ihnen immer wieder vorgetragen werden: Erstens.
Sie behaupten, Sanktionen seien nicht verfassungskon-
form. Dieses Argument ist schlicht falsch. Das Einfor-
dern von eigenen Anstrengungen zählt zu den Grund-
prinzipien bedarfsabhängiger und am Fürsorgeprinzip
orientierter Sozialleistungen und ist auch verfassungs-
rechtlich begründbar – vergleiche BSG, Urteil vom
9. November 2010 – B 4 AS 27/AS R.

Zweitens. Sie behaupten weiterhin, dass Menschen,
die mit Sanktionen belegt werden, nicht ausreichend
versorgt seien. Auch das ist falsch. Dazu verweise ich
auf § 31 a Abs. 3 SGB II. Dieser Paragraf beschreibt
die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenz-
minimums im Sanktionsfall. Auf Antrag können Sach-
leistungen zur Deckung des Bedarfs für Ernährung,
für Gesundheitspflege, Hygiene und Körperpflege ge-
währt werden. Sind zudem minderjährige Kinder im
Haushalt, werden diese Sachleistungen von Amts we-
gen erbracht.

Drittens. Sie vermitteln den Eindruck, als würden
sämtliche Grundsicherungsempfänger unter der Sank-
tionspraxis leiden. Das ist eine bewusste Täuschung,
denn Sie kennen die Sanktionsquoten sehr genau:
Mehr als 95 Prozent und damit die überragende Mehr-
heit der Leistungsempfänger hält sich an die Regeln
und ist nicht von Kürzungen betroffen.

Angesichts dieser Fakten sieht die CDU/CSU-Frak-
tion keinen Grund, den vorliegenden Antrag zu unter-
stützen.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1723747400

Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag zur Bera-

tung eingebracht, dessen Thema bereits vielfach Ge-
genstand der politischen Auseinandersetzung war: das
Sanktionssystem im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, dass die-
ser Antrag in einem gewissen Zusammenhang mit der
Veröffentlichung der Sanktionszahlen für 2012 steht,

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


welche durch die Bundesagentur für Arbeit am
10. April dieses Jahres veröffentlicht wurden. Diese
Zahlen sind auf den ersten Blick erschreckend, aber
sie sind auch zu hinterfragen.

Ich finde, dieser Antrag sagt eine ganze Menge da-
rüber aus, wie Die Linke mit statistischen Zahlen um-
geht. So wie Schwarz-Gelb die Realität in diesem Land
leugnet und sich eine schöne heile Welt malt – hier sei
auf den Armuts- und Reichtumsbericht verwiesen –, so
malen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion, immer ein schwarzes, düsteres Bild von
Deutschland und hüllen die gesellschaftlichen Zu-
stände in Tristesse und Ausweglosigkeit. Dieser undif-
ferenzierte Blick lässt dann auch nicht die richtige
Schlussfolgerung zu.

Lassen Sie mich auf die Sanktionszahlen für 2012
zurückkommen: 1 024 600 neue Sanktionen – das hört
sich gewaltig an. Ein genauer Blick relativiert die Zahl
aber schon wieder. Denn 2012 haben sich im Jahres-
verlauf 96,6 Prozent aller rund 4,3 Millionen erwerbs-
fähigen Leistungsberechtigten korrekt verhalten, ha-
ben die Vereinbarungen eingehalten und wurden durch
die Jobcenter nicht sanktioniert. Lediglich 3,4 Prozent
wurden im Jahresverlauf mit Sanktionen belegt. Das
ist doch die richtige Schlussfolgerung aus der Statistik
der Bundesagentur für Arbeit. Sie heißt: Die überwäl-
tigende Mehrheit der Arbeitsuchenden kennt nicht nur
ihre Rechte, sondern nimmt auch ihre Pflichten wahr
und bemüht sich aktiv, die Hilfebedürftigkeit zu been-
den, eine Arbeit aufzunehmen oder in eine Fördermaß-
nahme zu kommen. Denn diese Einstellung ist der
Schlüssel zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik
und die Voraussetzung dafür, dass die Eingliederungs-
maßnahmen und -instrumente wirken können.

Erst seit den arbeitsmarktpolitischen Reformen der
rot-grünen Bundesregierung gibt es den Grundsatz des
Förderns und Forderns. Beides gehört zu einer erfolg-
reichen Arbeitsmarktpolitik. Mit diesem Gedanken der
Hilfe zur Selbsthilfe haben wir viele Menschen vom so-
zialen Rand in den Fokus der Förderung geholt und ih-
nen Chancen zur Teilhabe eröffnet.

Schwarz-Gelb hat den Gleichklang aus Fördern und
Fordern aber in Schieflage gebracht. Mit dem Strei-
chen erfolgreicher arbeitsmarktpolitischer Instrumente
und dem Zusammenstreichen des Eingliederungstitels
hat diese Regierung die Axt an die Arbeitsmarktförde-
rung gesetzt. Erfolgreiche Programme wie der Grün-
derzuschuss, der Ausbildungsbonus oder der Einglie-
derungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer sind keine
Pflichtleistung mehr oder ganz gestrichen und können
ihre vormals gute Wirkung nicht mehr entfalten. Das
war und ist unverantwortlich. Hier muss endlich um-
gesteuert werden und der Gleichklang aus Fördern
und Fordern wiederhergestellt werden. Vor dem Hin-
tergrund der derzeit noch über 1,2 Millionen Langzeit-
arbeitslosen müssen die staatlichen Anstrengungen ver-
stärkt werden. Gerade für diese Zielgruppe ist das
wichtig. Fakt ist: Derzeit reichen die Anstrengungen
nicht aus.

Wir dürfen das Ziel, dass die Menschen ein selbst-
bestimmtes Leben führen können, nicht aus den Augen
verlieren. Das muss aber auch von beiden Seiten ge-
wollt und ermöglicht werden. Arbeitsuchende, die sich
aktiv daran beteiligen, ihre Hilfebedürftigkeit zu been-
den, müssen auch aktiv unterstützt werden. Vorsätzli-
che Verweigerung wiederholter Art und die Nichtan-
nahme von geeigneten Angeboten müssen jedoch
sanktioniert werden können. Das Sanktionssystem
ganz abzuschaffen, würden wir darum nicht mittragen
können. Auch ein Moratorium fände nicht unsere Zu-
stimmung.

Jede Sanktion, die mit Repressionen einhergeht,
lehnen wir aber ab. Darum bedarf das Sanktionssys-
tem einer Überarbeitung. Die Sanktionsdauer von drei
Monaten ist zum Beispiel viel zu starr. Das Sanktions-
system muss an einigen Stellen flexibler werden. Denn
bei Eintritt der gewünschten Verhaltensänderung beim
sanktionierten Arbeitssuchenden muss auch die Mög-
lichkeit bestehen, die verhängte Sanktion umgehend
aufheben zu können, damit positive Effekte erzielt wer-
den können und es nicht ins Gegenteil umschlägt.

Ferner gehört das verschärfte Sanktionssystem für
junge Menschen unter 25 Jahren abgeschafft; das ist
unser klares Votum. Für dieses verschärfte System gibt
es weder pädagogische noch fachliche Gründe. Es
steht auch im klaren Widerspruch zu anderen Rechts-
systemen, wie zum Beispiel dem Jugendstrafrecht, das
aus pädagogischen Gründen weichere Strafen für Ju-
gendliche vorsieht. Die jungen Erwachsenen müssen
für die Mitwirkung gewonnen und hierzu motiviert
werden. Dazu bedarf es eben größerer Anstrengungen
in der Arbeitsmarktpolitik. Schwarz-Gelb rennt aber
sehenden Auges in die falsche Richtung. Das ist jedoch
leider nichts Neues.

Der uns vorliegende Antrag zielt zwar auf ein ge-
wichtiges Thema ab, zieht jedoch die falschen
Schlüsse. Einer sanktionsfreien Grundsicherung stim-
men wir nicht zu. Wir stehen zu dem von uns mit einge-
führten Gleichklang des Förderns und Forderns und
den daraus erwachsenden Rechten und Pflichten – das
gehört zusammen. Das gilt übrigens auch für andere
gesellschaftliche Bereiche.


Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1723747500

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke for-

dert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der ein Moratorium für die Sanktionen im
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Kraft setzt. Diese
von der Fraktion Die Linke angestrebte gesetzliche Re-
gelung zur Aussetzung der Sanktionen soll den ersten
Schritt zur – wie es im Antrag heißt – „Abschaffung
des Hartz-IV-Sanktionssystems“ markieren.

Wie die Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt hat,
wurden im Kalenderjahr 2012 rund 1 024 600 Sanktio-
nen gegenüber erwerbsfähigen leistungsberechtigten
Personen ausgesprochen. Im Vergleich zum Kalender-
jahr 2011 entspricht dies einer Steigerung von circa
11 Prozent. Die Sanktionen wurden in der überwiegen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sebastian Blumenthal


(A) (C)



(D)(B)


den Zahl wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen
– circa 705 000 –, was einem Anteil an der Gesamtzahl
der Sanktionen von rund 70 Prozent gleichkommt.
Rund 13 Prozent der Sanktionen waren in Ablehnun-

(bzw. Ausbildungsoder Bildungsmaßnahmen)

Nichteinhaltung der in der Eingliederungsvereinba-
rung vereinbarten Pflichten.

Die Zahl von 1 024 600 mag zunächst sehr hoch er-
scheinen – dementsprechend titelten auch die Vertreter
der Printmedien zum Beispiel „Sanktionen für Hartz-IV-
Empfänger erreichen Rekordwert“ wie „Die Zeit“
oder auch „Rekordstand bei Hartz-IV-Sanktionen”
wie der „Stern“: Tatsächlich muss dieser „Rekord-
wert“ sehr differenziert betrachtet werden: Im Durch-
schnitt des Kalenderjahres 2012 wurden gegenüber
rund 150 300 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten
Sanktionen ausgesprochen. Das entspricht einem An-
teil von lediglich 3,4 Prozent aller erwerbsfähigen Lei-
stungsberechtigten. Sowohl dieser geringe Anteil als
auch der Anteil der Sanktionen wegen Meldeversäum-
nissen zeigt auf, dass es keine ausgeprägte Neigung
der Arbeitsuchenden gibt, vorgeschlagene Arbeit ab-
zulehnen. BA-Vorstand Heinrich Alt hat sehr treffend
dargestellt, dass eine positive Entwicklung auf dem Ar-
beitsmarkt und eine höhere Betreuungsintensität in
den Jobcentern sich auf die Zunahme der ausgespro-
chenen Sanktionen ausgewirkt haben: Wenn mehr Ar-
beitsangebote gemacht und mehr Beratungstermine
anberaumt werden, erfolgen auch mehr Meldever-
säumnisse.

Es bleibt – wie schon erläutert – dabei: Der geringe
Sanktionsanteil von 3,4 Prozent dokumentiert, dass die
überwiegende Mehrheit der Arbeitsuchenden – über
96 Prozent! – die rechtlichen Vorgaben einhält und
dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den
Jobcentern nicht leichtfertig mit Sanktionsmaßnahmen
umgehen. Das ist für uns Liberale der richtige Weg.
Wer in eine Notsituation geraten ist, muss sich auf so-
lidarische Unterstützung verlassen können. Solidarität
beruht aber immer auf Gegenseitigkeit.

Die Linke fordert in ihrem Antrag jedoch eine Auf-
hebung des Solidarprinzips, indem die Unterstützung
in jedem Fall in voller Höhe erfolgen muss – unabhän-
gig davon,ob eine leistungsberechtigte Person sich an
die rechtlichen Vorgaben hält oder nicht.

Diese Forderung lehnen wir ab. Insofern werden
wir von der FDP-Fraktion auch den Antrag der Frak-
tion Die Linke ablehnen.


Ulrich Maurer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723747600

Mit großem Erstaunen haben wir das Märchen von

Jürgen Trittin zur Kenntnis genommen, dass die Grü-
nen schon immer für einen Mindestlohn gewesen sein
wollen. Sie konnten ihn damals unter der Schröder/
Fischer-Regierung aber aufgrund der Blockadehal-
tung der SPD nie durchsetzen. Diese Märchen hat sich
als Lüge herausgestellt.

Mit großem Erstaunen nehmen wir nun zur Kennt-
nis, dass die Grünen ein weiteres Märchen erfinden.
Sie sind für ein Moratorium der Hartz-IV-Sanktionen
und versuchen so, gerade noch rechtzeitig vor dem
Wahlkampf den Eindruck zu erwecken, sie seien gegen
die Hartz-IV-Sanktionierungen. Jürgen Trittin und
Katrin Göring-Eckardt erkennen in „Die Zeit“ vom
13. März 2013: Der deutsche Sozialstaat wurde im Be-
wusstsein der Menschen zu einer Disziplinierungsma-
schine.

Das ist ja schon einmal was. Sie fahren fort: „Das
Gefühl, von sozialem Abstieg bedroht zu sein, reicht
heute bis weit in die gut gebildete Mittelschicht.“ Als
Konsequenz daraus fordern sie ein Moratorium für die
Hartz-IV-Sanktionen. Das fordert Die Linke ebenso.
Aber wir gehen weiter und fordern das als ersten
Schritt der Überwindung der Hartz-IV-Sanktionen.
Wenn Sie schon feststellen, dass der Wahlkampf naht,
ziehen Sie die richtigen Konsequenzen, stimmen Sie
der Forderung der Linken zu, und stimmen Sie gegen
die menschenverachtende Sanktionierungsmaschine
von Hartz IV! Bekennen Sie endlich einmal Farbe, und
sagen Sie, wie Sie es mit Hartz-IV-Sanktionen und
Hartz IV in Wirklichkeit halten!

Wie wollen Sie sich im Übrigen nach der Wahl ver-
halten? Sie führen Seite an Seite mit der SPD Ihren
Bundestagswahlkampf. Was ist denn von den Lager-
parteien SPD und Grüne nach der Wahl zum Thema
Hartz IV zu erwarten? Die SPD kann sich ja nicht ein-
mal zu einem Moratorium der Hartz-IV-Sanktionie-
rung durchringen. Setzen Sie sich, liebe Grüne, nach
der Bundestagswahl für die Menschen ein, die unter
diesem Hartz-System leiden, oder geben Sie ihre Hal-
tung zur Hartz-IV-Sanktionierung nach der Wahl wie-
der einfach auf?

Gerade vorletzte Woche verstarb in Reinickendorf
in einer Wärmestube eine 67-jährige schwerbehin-
derte Frau wenige Tage nach der Zwangsräumung ih-
rer Wohnung. Die Zwangsräumung war juristisch
durch die von Ihnen damals eingeführte Hartz-Gesetz-
gebung gedeckt, da die Frau Mietrückstände hatte;
aber wo bleibt der Mensch? Gestehen Sie sich bitte
Ihre Fehler ein, die Sie damals mit der Einführung der
Hartz-IV-Gesetze begangen haben, und streiten Sie an
der Seite der Linken und der Menschen wieder für de-
ren Abschaffung!

Durch die Hartz-IV-Gesetzgebung werden Men-
schen zu Menschen dritter Klasse degradiert. Gesetze
sollen für Menschen sein, nicht gegen sie. Selbst
Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für
Arbeit, konstatierte kürzlich: „Nur Lebenskünstler
können von Hartz IV leben.“

Am Montag dieser Woche wurde Inge Hannemann,
eine Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit in
Hamburg, bis auf Widerruf freigestellt, weil sie sich
weigerte, den Sanktionswahn der ARGE durchzupeit-
schen. In ihrem Brandbrief an die Bundesagentur für
Arbeit stellt sie die Frage: „Wie viele Tote, Geschä-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrich Maurer


(A) (C)



(D)(B)


digte und geschändete Hartz-IV-Bezieher wollen Sie
noch auf Ihr Konto laden? Wie viele Dauerkranke,
frustrierte und von subtiler Gehirnwäsche geprägte
Mitarbeiter wollen Sie in Ihrem Konstrukt ‚Jobcenter-
maschine‘ durchschleusen?“ Diese Frage, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, sollten Sie sich alle in diesem
Haus stellen, wenn Sie über unseren Antrag abstim-
men.

Belassen Sie es nicht bei Ihren Wahlkampf-Mär-
chen, sondern entscheiden Sie sich endlich, Politik
für die Menschen zu machen! Bekennen Sie Farbe,
und stimmen Sie unserem Antrag „Moratorium für
Hartz-IV-Sanktionen als erster Schritt zu deren Über-
windung“ zu!


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723747700

Wir Grünen fordern seit langem ein Sanktions-

moratorium. Die geltenden Sanktionsregeln sind un-
differenziert, unflexibel und wirken oft kontraproduk-
tiv. Insbesondere das verschärfte Sanktionsrecht für
unter 25-Jährige gehört sofort abgeschafft. Für junge
Menschen gelten derzeit viel härtere Regeln als für äl-
tere Arbeitsuchende. Das ist nicht nur verfassungs-
rechtlich bedenklich: Das führt Jugendliche ins Aus
statt in Arbeit.

Wir stellen fest: Die versprochene Balance zwischen
Fördern und Fordern gibt es nicht. Unter Bundes-
ministerin von der Leyen wurden die Mittel für die
aktive Arbeitsmarktpolitik überproportional stark ge-
kürzt. Zeitgleich sind die Zahlen der Sanktionen auf
ein Rekordhoch gestiegen. Von einem Verhältnis auf
Augenhöhe zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern
kann unter diesen Bedingungen keine Rede sein.

Im Jahresdurchschnitt 2012 waren monatlich
150 300 Menschen von Sanktionen betroffen. Gegen-
über dem Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von
11 Prozent. 70 Prozent der Sanktionen wurden wegen
Meldeversäumnissen ausgesprochen.

In Niedersachsen, wo ich herkomme, ist die Anzahl
der verhängten Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger
2012 sogar um 19 Prozent gegenüber 2011 und um
56 Prozent gegenüber 2009 gestiegen. Auch deshalb
macht sich die rot-grüne Landesregierung Niedersach-
sens ebenfalls für ein Sanktionsmoratorium stark und
hat eine entsprechende Bundesratsinitiative angekün-
digt.

Die gestiegene Anzahl an Sanktionen ist auch des-
halb besonders bedenklich, weil davon häufig auch
Angehörige betroffen sind, die gar keine Pflichtverlet-
zung begangen haben. Die enorme Zunahme bei den
Sanktionen liegt vor allem im System begründet und
hat nur selten etwas mit Missbrauch zu tun.

Arbeitsuchende brauchen eine passgenaue Unter-
stützung. Dazu gehören gute Betreuung, Beratung und
Qualifizierungsangebote. Motivation und Bestärkung
sollten im Mittelpunkt stehen; bürokratische Zumutun-
gen und Gängelungen müssen endlich fairen Spiel-
regeln weichen. Die persönlichen Ansprechpartner in

den Jobcentern müssen in die Lage versetzt werden, ei-
nen nachhaltigen und auf die individuellen Stärken
und Schwächen der Arbeitslosen abgestimmten Plan
zu entwickeln, der die Menschen wieder in Arbeit brin-
gen kann. Dies muss partnerschaftlich und auf Basis
eines Vertrauensverhältnisses geschehen. In diesem
Prozess haben weder Scheinangebote zur Überprü-
fung der Arbeitsbereitschaft noch Sanktionsandrohun-
gen und -automatismen Platz.

Was wir brauchen, ist ein qualifiziertes, individuel-
les und umfassendes Fallmanagement. Arbeitsuchende
müssen die Möglichkeit haben, aus verschiedenen
Maßnahmen ein passgenaues Angebot auszuwählen.
All das ist im Moment leider nicht gewährleistet.

Daher fordern wir Grünen, die Rechte der Arbeits-
losen zu stärken. Auch die verstärkten Zumutbarkeits-
regeln müssen korrigiert werden. Insbesondere für
junge Menschen unter 25 Jahren sind Regelungen not-
wendig, die ihrer Entwicklung gerecht werden und
nicht zu starr sind. Dafür brauchen wir gut ausgestat-
tete Jobcenter mit einem besseren Fallmanagement
und unabhängige Ombudsstellen, die bei Konflikten
vermitteln. Die hohen Erfolgsquoten von Widersprü-
chen und Klagen gegen Jobcenterentscheide zeigen,
dass hier ein enormes Verbesserungspotenzial liegt. Es
gibt bereits Jobcenter, die mit Ombudsstellen gute
Erfolge erzielen; daraus kann ein Erfolgsmodell für
alle entstehen.

Ein Sanktionsmoratorium ist also ein notwendiger
Schritt, bis die Rechte der Arbeitsuchenden nachhaltig
und umfassend gestärkt worden sind und die Arbeits-
bedingungen und die Ausstattung in den Jobcentern
stimmen.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1723747800

Dieser Tage geht der Euphorietaumel um. Bejubelt

wird die Agenda 2010. Bundespräsident Joachim
Gauck lobt Altkanzler Gerhard Schröder für „blei-
bende Verdienste“ und findet „die Balance von För-
dern und Fordern in der Sozialpolitik sehr wichtig“.
Denn: „Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir zu wenig
von uns verlangen.“ Der Grundsatz, von dem die Rede
ist, lautet „Fördern und Fordern“. Er ist oberstes
Prinzip der Hartz-IV-Leistungsvergabe und bedeutet:
keine Leistung ohne Gegenleistung. Die Befürworter
der Agenda 2010 vergessen einen anderen Grundsatz.
Er ist oberstes Prinzip unserer Verfassung und lautet:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Prinzip
des „Förderns und Forderns“ kann für die Garantie
des Existenzminimums keine Geltung beanspruchen.
In einem Sozialstaat ist es verfassungsrechtlich ausge-
schlossen, die Existenz nur denjenigen zuzugestehen,
die im Gegenzug gehorchen. Das ergibt sich auch aus
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Mit seiner Entscheidung zu Hartz IV hat das Gericht
ein Grundrecht auf ein Minimum staatlicher Leistung
geschaffen: das Existenzminimum. Es umfasst den
unbedingt notwendigen Bedarf des Einzelnen zum phy-
sischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaft-

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Nešković

(A) (C)



(D)(B)


lichen, kulturellen und politischen Leben. Das Exis-
tenzminimum muss in jedem Fall und zu jeder Zeit
sichergestellt sein.

Dieses Verständnis der Menschenwürdegarantie
respektiert die Bundesregierung jedoch nicht. „Eine
Person, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit fin-
det, kann mit der Unterstützung der Gemeinschaft
rechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, um
ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen“, be-
gründet die Regierungskoalition die Leistungskürzun-
gen bei Hartz IV. „Wiederholte Verstöße gegen die
Selbsthilfeobliegenheit führen daher folgerichtig zu
verstärkten Sanktionen“, schreibt die Bundesregie-
rung auf eine Kleine Anfrage. Über 1 Million dieser
Sanktionen verhängten die Jobcenter in den vergan-
genen zwölf Monaten, mehr als je zuvor. Über 10 000
Leistungsberechtigte waren im Jahresdurchschnitt
2011 „vollsanktioniert“, ihnen wurde im Sanktions-
zeitraum kein einziger Euro ausgezahlt. Obwohl sie
bedürftig sind. Obwohl sie vielleicht von Obdachlosig-
keit bedroht sind oder hungern. Aus einem einzigen
Grund: weil sie nicht gehorchen. Das ist gerecht,
könnte man meinen, wer – noch – einen Job hat, arbei-
tet schließlich auch für sein Geld. Es überlebt nur, wer
etwas dafür tut. Das ist die Gerechtigkeit einer Leis-
tungsgesellschaft.

Doch es gibt einen Haken. Denn es gibt noch eine
andere Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit des Sozial-
staats. Sie geht von der gleichen Würde aller Men-
schen aus. Gleich, ob sie stark sind oder schwach. Be-
reits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt
es: „Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist
eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt
den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es
nun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, wel-
che arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zu-
sichert.“ Im Unterschied zur freien Konkurrenz aller
gegen alle sind die Menschenwürde und der Sozial-
staat auf ewig im Grundgesetz niedergeschrieben. Sie
markieren die Grenze, die in Deutschland nie wieder
überschritten werden darf. Jedes politische und wirt-
schaftliche System muss diese Werte achten. Das kann
man begrüßen oder ablehnen, ändern kann man es
nicht. Weder das „Volk“ noch eine Regierung. Auch
der Einzelne kann auf seine Menschenwürde nicht ver-
zichten. Die Würde des Menschen kann auch durch die
Nichterbringung staatlicher Leistungen verletzt wer-
den. Wenn die Menschenwürde des Besitzenden und
des Besitzlosen gleich wiegen, kommt es nicht darauf
an, ob dem einen sein Brot genommen oder dem ande-
ren keines gegeben wird. In beiden Fällen hungert ein
Mensch. Der Philosoph Ernst Bloch hat vom „aufrech-
ten Gang“ gesprochen. Aufrecht gehen kann der
Mensch nur, wenn er sowohl von Entrechtung und
Bevormundung als auch von Not und Elend frei ist.
Unser Grundgesetz nennt es die Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und
zu schützen.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 in
Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung ent-
schieden, dass die Leistungen nach dem Asylbewer-
berleistungsgesetz evident unzureichend sind. Danach
offenbart „ein erheblicher Abstand von einem Drittel
zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch … ein Defizit in der Sicherung der
menschenwürdigen Existenz“. Entsprechendes muss
auch für die Sanktionen bei Hartz IV gelten. Für die
Höhe der staatlichen Leistung muss der Bedarf eines
Menschen entscheidend sein. Ihn auszurechnen und zu
garantieren, ist Sache des Gesetzgebers; ihn zu be-
schneiden, nicht. Das Existenzminimum muss bei glei-
chem Bedarf stets gleichermaßen gewährt werden. Der
notwendige Bedarf sinkt nicht dadurch, dass jemand
eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Er sinkt auch
nicht, wenn jemand sich nicht regelkonform verhält.
Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zu
relativieren“. Sie ist auch arbeitsmarktpolitisch nicht
zu relativieren. Nicht nur fleißige Arbeitslose, die täg-
lich Bewerbungen schreiben und jede unterbezahlte
Arbeit annehmen, haben das Recht auf eine menschen-
würdige Existenz, sondern auch Menschen, die sich
der Zusammenarbeit mit den Behörden entziehen, Per-
sonen ohne Aufenthaltstitel oder Strafgefangene.
Ebenso, wie sie beispielsweise ein Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit haben.

Solange eine staatliche Leistung „freiwillig“ er-
bracht wird, ist das Prinzip des „Förderns und For-
derns“ eine Frage der politischen Beliebigkeit. Doch
im Bereich der unantastbaren Menschenwürde hat es
nichts zu suchen; denn dort besteht eine unbedingte
staatliche Leistungspflicht. Das Prinzip der Bundes-
regierung „Tausche Gehorsam gegen Existenz“ ist
verfassungswidrig. Soziale Grundrechte sind unver-
käuflich und nicht verhandelbar. Die Abhängigkeit ei-
nes Menschenrechts von Bedingungen bedeutet in
Wirklichkeit seine Einschränkung. Menschenrechte
stehen jedoch nicht im Ermessen einer Regierung oder
eines Sachbearbeiters im Jobcenter.

Ein Sanktionsmoratorium, wie hier von der Linken
gefordert, ist eine Minimalforderung. Die §§ 31 ff.
SGB II gehören abgeschafft. Doch die Mehrheit im
Bundestag befürwortet weiterhin den Verfassungs-
bruch. Wieder einmal wird es das Bundesverfassungs-
gericht sein, das irgendwann einschreitet. Bis dahin
werden weiter Sanktionen verhängt, die Menschen in
noch mehr Not und Armut stürzen. Bis dahin wird die
Menschenwürde tagtäglich verletzt.

Wir könnten dem Einhalt gebieten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723747900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/13130 an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales vorgeschlagen. – Es gibt keine Einwände. Dann
verfahren wir so.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Dr. Konstantin von Notz, Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

1. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES)

zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten
von Drittstaatsangehörigen an den Außen-
grenzen der Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union 

(KOM [2013] 95)


2. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates
über ein Registrierprogramm für Reisende

(KOM [2013] 97)


3. zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur
Änderung der Verordnung (EG) Nr. 562/
2006 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/
Ausreisesystems (EES) und des Programms
für registrierte Reisende (RTP)

(KOM [2013] 96)


hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union

Smart-Borders-Paket ablehnen

– Drucksache 17/13236 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1723748000

Der Schutz der Außengrenzen der Europäischen

Union ist eine der wichtigsten politischen, aber auch
faktischen Aufgaben zum Erhalt des Raums der Frei-
heit, der Sicherheit und des Rechts. Erst durch ihn wird
ein Wegfall der Binnengrenzen möglich.

Gemäß Art. 77 Abs. 1 AEUV ist durch die Europäi-
sche Union eine Politik zu entwickeln, die schrittweise
ein integriertes Grenzschutzsystem an den Grenzen
einführt und die eine Personenkontrolle und die wirk-
same Überwachung des Grenzübertritts an den Außen-
grenzen sicherstellt.

Das Europäische Parlament und der Rat können ge-
mäß Art. 77 Abs. 2 AEUV Maßnahmen erlassen, die
die gemeinsame Politik in Bezug auf Visa und andere
kurzfristige Aufenthaltstitel und die Kontrollen, denen
Personen beim Überschreiten der Außengrenzen un-
terzogen werden, betreffen. Auch können Maßnahmen

zur schrittweisen Einführung eines integrierten Grenz-
schutzsystems an den Außengrenzen getroffen werden.

Gestützt auf die vorgenannten Rechtsgrundlagen
hat die Europäische Kommission am 28. Februar 2013
unter dem Titel „Smart Borders“ ein ganzes Bündel an
Maßnahmen für den besseren Schutz der Außengren-
zen der EU vorgestellt. Die vorgestellten Verordnungs-
entwürfe sollen den Einsatz von neuen Technologien
an den EU-Außengrenzen befördern und Bürgerinnen
und Bürgern aus Drittländern, die in die EU einreisen
wollen, einen reibungsloseren und rascheren Grenz-
übertritt ermöglichen. Zugleich soll durch die Einfüh-
rung der neuen Technologien auch eine Verbesserung
der Sicherheit erreicht werden. Irreguläre Grenzüber-
tritte sollen verhindert und Überschreitungen der zu-
lässigen Aufenthaltsdauer in der EU schneller aufge-
deckt werden.

Hierfür gibt es ausweislich der von der EU-Kom-
mission vorgestellten Zahlen auch einen erheblichen
Bedarf. Vorsichtigen Schätzungen zufolge liegt die
Zahl der irregulären Zuwanderer in die EU zwischen
1,9 und 3,8 Millionen. Dabei wird davon ausgegangen,
dass die Mehrheit der irregulären Zuwanderer soge-
nannte Overstayer sind, also Personen, die für einen
Kurzaufenthalt legal – erforderlichenfalls mit einem
gültigen Visum – in die Europäische Union eingereist
sind, dann jedoch nach Ablauf der zulässigen Aufent-
haltsdauer nicht wieder ausgereist sind. Die Gesamt-
zahl der aufgegriffenen irregulären Zuwanderer belief
sich in der EU für das Jahr 2010 auf 505 220 Men-
schen. Der überwiegende Teil der Overstayer wird so-
mit in den Mitgliedstaaten derzeit nicht aufgegriffen.

Es ist daher zu begrüßen, dass die Europäische
Kommission sich des Themas der illegalen Zuwande-
rung und der Verbesserungen der Grenzkontrollen an-
nimmt und versucht, angemessene Lösungen zu finden.
Sie folgt damit im Übrigen nicht nur den Zielsetzungen
des Stockholmer Programms, sondern auch dem
ausdrücklichen Wunsch des Europäischen Rates vom
23. und 24. Juni 2011, der sich für „intelligente Gren-
zen“ in Europa ausgesprochen hatte.

Für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit ihrem eingebrachten Antrag geforderte Blockade-
haltung der Bundesregierung gegenüber dem Maß-
nahmenpaket besteht somit aus meiner Sicht kein
Anlass. Das Gegenteil ist der Fall. Das Thema der il-
legalen Zuwanderung kann man nicht einfach ignorie-
ren oder bagatellisieren, sondern wir müssen uns auf
europäischer Ebene sowohl Gedanken zu den erfor-
derlichen Rechtsgrundlagen als auch Gedanken zur
technischen Umsetzung für einen besseren Grenz-
schutz machen.

Mit der Übernahme des „Schengen-Besitzstandes“
in das Gemeinschaftsrecht und dem Erlass mehrerer
gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte im Bereich der
Visapolitik hat der europäische Gesetzgeber von den
ihm zugewiesenen Kompetenzen hierzu bereits umfas-
send Gebrauch gemacht. Hervorzuheben sind hierbei





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


insbesondere das Visainformationssystem und der Da-
tenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa
für einen kurzfristigen Aufenthalt sowie die im Jahr
2011 verabschiedete Verordnung über einen Visako-
dex.

Die vorgestellten Verordnungsentwürfe schließen
sich nun unmittelbar an die bisher bereits verabschie-
deten Maßnahmen in diesen Bereichen an. Ebenso wie
die bereits existierenden Maßnahmen schlagen auch
sie den Weg hin zu mehr Mobilität und Sicherheit ein.

Ich darf daher für meine Fraktion sagen, dass wir
das vorgelegte Maßnahmenpaket grundsätzlich begrü-
ßen. Allerdings könnte man sich durchaus an der einen
oder anderen Stelle auch weiter reichende Regelungen
vorstellen.

Neben dem von der EU-Kommission vorgesehenen
Einreise-/Ausreisesystem und dem Registrierpro-
gramm für Reisende könnte die vorgestellte Initiative
noch um zwei weitere Komponenten erweitert werden.
Zum einen könnten die Grenzkontrollen insgesamt auf
ein automatisches System umgestellt werden, welches
dann auch nicht nur Drittstaatsangehörige, sondern
auch Unionsbürger erfasst. Zum anderen haben die
Erfahrungen der USA mit dem neuen elektronischen
Reisegenehmigungssystem gezeigt, dass dieses erheb-
liche Vorteile bei der Sicherheitsüberprüfung einzelner
Personen haben kann. Es wäre somit zu diskutieren, ob
die Einführung eines vergleichbaren Systems auch für
die Europäische Union von Vorteil wäre. Angesichts
des zunehmenden Wegfalls von einzelnen Visabestim-
mungen könnte es insofern zumindest einen Teilaus-
gleich hierfür bieten.

Unabhängig von einer möglichen Erweiterung der
vorgeschlagenen Komponenten stellen sich aber auch
Fragen zur technischen und datenschutzrechtlichen
Umsetzung der bereits in den Verordnungen angeleg-
ten Maßnahmen. Warum sollte das EES nicht bereits
von Beginn an auch auf biometrische Daten zugreifen?
Entsprechende technische Systeme sind bereits entwi-
ckelt und beispielsweise bei der Einreise nach Groß-
britannien im Einsatz. Sicherlich wird es den einen
oder anderen Mitgliedstaat geben, der vor entspre-
chenden Investitionen derzeit noch zurückschreckt,
aber letztlich werden die sich ständig weiterentwi-
ckelnden technischen Möglichkeiten einen solchen
Schritt sowieso erfordern. Auch Fragen der Zugriffs-
rechte und des Datenschutzes auf die im Einreise- und
Ausreisesystem gespeicherten Daten sind im parla-
mentarischen Verfahren noch zu diskutieren.

Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ver-
tretene Auffassung, dass es sich bei der Speicherung
von Daten von Drittstaatsangehörigen um eine anlass-
lose Speicherung von personenbezogenen Daten
handle, vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen.
Schließlich erfolgt die Überprüfung und Speicherung
der personenbezogenen Daten eben sehr wohl anlass-
bezogen. Anlass ist die Ein- bzw. Ausreise aus der
Europäischen Union. Auch bisher werden bei Grenz-

übertritten entsprechende personenbezogene Daten
erhoben und auf ihre Korrektheit hin überprüft.
Darüber hinaus erfolgt die Teilnahme am Registrier-
programm ausdrücklich freiwillig.

Aus datenschutzrechtlicher Sicht wird aber in der
Tat zu prüfen sein, wie sich die geplanten neuen Daten-
banken zu bereits existierenden Datenbanken mit per-
sonenbezogenen Daten von Ein- und Ausreisenden
verhalten. Mögliche Synergieeffekte sollten gehoben
und Doppelerhebungen und -speicherungen vermie-
den werden.

Beim geplanten Registrierprogramm für Reisende
stellen sich aber auch einige technische Fragen, die es
noch im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zu
klären gilt. Insbesondere der Mehrwert der Ausgabe
eines Tokens sollte aus meiner Sicht noch einmal hin-
terfragt werden. Zur Verifizierung der Identität der re-
gistrierten Reisenden könnte auch ausschließlich auf
einen vorhandenen E-Pass zurückgegriffen werden.
Dies hätte zudem den Vorteil, dass eine zentrale Spei-
cherung von biometrischen Merkmalen entfallen
könnte. Ein sicherlich aus datenschutzrechtlicher Sicht
wünschenswertes Szenario.

Generell gilt für die Umsetzung des Registrierpro-
gramms für Reisende, dass auf zusätzliche manuelle
Dateneingaben so weit wie möglich verzichtet werden
sollte, um die Grenzkontrollprozesse nicht zu verzö-
gern. Schließlich soll auch nach der Einführung der
neuen Systeme eine schnelle und zuverlässige Ein- und
Ausreise in die Europäische Union möglich sein.

Sie merken, es gibt noch viele offene Fragen und
Themen, die ausführlich diskutiert werden sollten, be-
vor das Smart-Borders-Paket auch tatsächlich in Kraft
treten kann. Wir stehen somit erst am Anfang des Dis-
kussionsprozesses.

Es ist daher auch nicht verwerflich, wenn die Bun-
desregierung in ihrer Antwort vom 20. März 2013
darauf hinweist, dass sie noch keine abschließende
Position zu den Vorschlägen der EU-Kommission er-
arbeitet hat. Im Gegenteil, dies zeugt nur von einer
sehr sorgfältigen Prüfung des vorgeschlagenen Maß-
nahmenpakets, und dies ist mit Sicherheit im Interesse
aller Beteiligter.

Es gilt somit, in den nächsten Monaten offen und in
konstruktiver Art und Weise über die aufgezeigten Fra-
gen zu diskutieren. Die entsprechende Ratsarbeits-
gruppe hat ihre Arbeit Anfang April aufgenommen,
und ich bin zuversichtlich, dass sie zügig arbeiten
wird.

Viele andere Mitgliedstaaten haben sich bereits bei
einem ersten Termin grundsätzlich für eine weitere
Verbesserung der Grenzkontrollen und der eingesetz-
ten Technologien und Systeme ausgesprochen.

Eine schlichte Ablehnung der Vorschläge der EU-
Kommission, so wie von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit ihrem Antrag gewünscht, kommt daher für
uns nicht in Betracht.

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


Aus populistischen Gründen mag so etwas zwar op-
portun sein. Einschlägige Webseiten von Abgeordne-
ten des Europäischen Parlaments, die bildlich auf
Grenzbefestigungen eintreten, entsprechen aber mit
Sicherheit nicht verantwortungsvoller europäischer
Innen- und Rechtspolitik und auch nicht einem demo-
kratischen Miteinander.

Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein-
gebrachte Antrag darf daher aus meiner Sicht keine
Unterstützung in diesem Hohen Hause finden.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1723748100

Wir beraten einen Antrag unserer Kolleginnen und

Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
der das Thema Smart Borders – intelligente Grenzen –
zum Inhalt hat. Was kann man sich darunter vorstel-
len?

Die Europäische Kommission hat Ende Februar
dieses Jahres ein Verordnungspaket vorgelegt, das so-
wohl eine Verordnung über ein EU-Registrierungspro-
gramm für Reisende als auch eine Verordnung über ein
Einreise-/Ausreisesystem der EU und eine entspre-
chende Anpassung des Schengener Grenzkodexes ent-
hält.

Mit dem Registrierungsprogramm für Reisende soll
vorher sicherheitsüberprüften Vielreisenden aus Dritt-
ländern die Einreise in die EU durch vereinfachte
Grenzkontrollen erleichtert werden. Dabei werden
an wichtigen Grenzübergängen automatische Grenz-
kontrollsysteme eingesetzt. Diese ermöglichen eine
schnellere Abfertigung der vorher registrierten Rei-
senden, insbesondere von Geschäftsreisenden, Studie-
renden oder Menschen mit Verwandten in der EU.

Mit dem zweiten Verordnungsvorschlag, dem Ein-
reise- und Ausreisesystem, sollen Einreise und Aus-
reise von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außen-
grenzen erfasst werden. Zusätzlich dazu soll eine
Datenbank eingerichtet werden, die Zeit und Ort der
Ein- und Ausreise dokumentiert. Dann wird die zuläs-
sige Dauer des Kurzaufenthalts automatisch berech-
net. Die lokalen Sicherheitsbehörden werden gewarnt,
wenn nach Ablauf der zulässigen Frist noch keine Aus-
reise erfolgt ist. Das bisherige System mit Stempeln in
Pässen soll damit ersetzt werden. Das System der in-
telligenten Grenzen soll 2017/2018 in Betrieb gehen.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiert in
dem vorliegenden Antrag die Verordnungsvorschläge
und fordert die Bundesregierung auf, sich bei den Ver-
handlungen dafür einzusetzen, dass alle drei Verord-
nungen abgelehnt werden.

Grundsätzlich ist ein Entry-Exit-System gerechtfer-
tigt. Die Reisebewegungen in die Europäische Union
werden sich erhöhen; insofern ist es auch nachvoll-
ziehbar, dass darauf reagiert wird. Das Einreisesystem
für Vielreisende zu vereinfachen, ist ein begrüßenswer-
ter Vorschlag. Reiseerleichterungen begründen auch
wirtschaftliche Vorteile.

Ich kann die datenschutzrechtlichen Bedenken mei-
ner Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen durchaus nachvollziehen. Ob es tat-
sächlich so kommt, wie erwartet, werden wir sehen.
Die geplante Speicherung von Fluggastdaten, die in
der Konferenz der Innen- und Justizminister so sehr
begrüßt wurde, ist schließlich gestern im Innenaus-
schuss des Europäischen Parlaments abgelehnt wor-
den. Hier konnte ein Sieg für die Bürgerrechte errun-
gen werden.

Die Datenschutzfragen im vorliegenden Fall sind
im weiteren Verfahren sehr genau zu prüfen. Wenn
Nachbesserungsbedarf besteht, müssen entsprechende
Änderungen erfolgen. Eine starke Demokratie fußt auf
klaren Werten – nicht auf totaler Überwachung.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Das geplante EES soll bei Kurzaufenthalten von

Drittstaatsangehörigen die automatisierte Überwa-
chung der zulässigen Aufenthaltsdauer erleichtern, die
manuelle Stempelung der Reisepässe ersetzen und auto-
matisierte Grenzkontrollverfahren für bestimmte Dritt-
staatsangehörige ermöglichen, über die Erfassung von
Fingerabdruckdaten bei der Einreise zur Identifizie-
rung von Personen beitragen, die die Voraussetzungen
für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaa-
ten oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr
erfüllen, und zwar insbesondere dann, wenn die Be-
troffenen nicht im Besitz ihrer Reisedokumente oder
sonstiger Ausweispapiere sind, sowie die statistische
Analyse der Ein- und Ausreise erleichtern und somit
eine zusätzliche Informationsbasis für die Visumpolitik
schaffen.

Das Registrierungsprogramm, RTP, richtet sich an
Drittstaatsangehörige, die häufig in den Schengen-
Raum reisen. Diese Vielreisenden sollen die Möglich-
keit erhalten, sich nach einer Vorabkontrolle zentral
registrieren zu lassen, um sodann für einen festgeleg-
ten Zeitraum von erleichterten Grenzkontrollen – ins-
besondere auch unter Nutzung zeitsparender automati-
sierter Grenzkontrollverfahren – an den Schengen-
Außengrenzen profitieren zu können. Die Teilnahme an
dem Registrierungsprogramm ist freiwillig.

Zu den Folgeänderungen im Schengener Grenzkodex
gehören insbesondere die Aufhebung der Pflicht zur
manuellen Stempelung der Reisepässe sowie die Ein-
führung von Erleichterungen bei der Kontrolle von re-
gistrierten Reisenden.

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht für dieses
Regelungspaket beim Fonds für die innere Sicherheit
eine Gesamtfinanzausstattung in Höhe von 1,1 Mil-
liarden Euro vor. Die konkrete Ausgestaltung hinsicht-
lich des weiteren Umsetzungsbedarfs der drei Verord-
nungsvorschläge wird daher noch vertieft zu prüfen
sein.

Sämtliche Bewertungen sowie Stellungnahmen ste-
hen im Übrigen unter nationalem Haushaltsvorbehalt.
Perspektivisch sollten sämtliche fachlichen Zugeständ-

Zu Protokoll gegebene Reden





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


nisse Deutschlands stets nur mit der Maßgabe einer
haushaltsneutralen Umsetzung auf nationaler Ebene
in Aussicht gestellt werden.

Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundes-
tagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischer
Daten im Pass, im Personalausweis und an anderen
Stellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sich
um sehr sensible Daten. Deshalb nehmen wir die Kri-
tik des Datenschutzbeauftragten ernst. Die FDP setzt
sich dafür ein, dass mit Daten sorgfältig verfahren
wird und sie nur zu unumgänglichen Zwecken oder
wünschenswerten Erleichterungen für die Betroffenen
genutzt werden.

Das neue System soll den Reiseverkehr beschleu-
nigen. Dieses Ziel unterstützen wir. So haben wir in
der schwarz-gelben Koalition die Visa-Warndatei auch
insbesondere unter diesem Aspekt geschaffen. Wir
möchten auch, dass überprüft wird, ob die Visa-Warn-
datei dieses Versprechen hält.

Ob aber die Verordnungsvorschläge überhaupt zur
Beschleunigung geeignet sein können, muss noch be-
wiesen werden. Gleichzeitig muss man fragen, wie das
Verhältnis der Verordnungsvorschläge zu nationalen
Regelungen ist. Datenschutz bedeutet auch, dass
Mehrfachspeicherungen vermieden werden müssen.

Die Überlegung, auch feststellen zu wollen, wann
jemand ausreist, möchte ich nicht gleich von der Hand
weisen: Wir wissen, dass es Leute gibt, die mit einem
Visum in den Schengen-Raum kommen, aber nie wie-
der ausreisen oder verspätet ausreisen. Es ist nach-
vollziehbar, dass die Nationalstaaten auch im Schen-
gen-Raum darüber Bescheid wissen sollten. Ob die
Vorschläge der Kommission dabei helfen können, muss
geprüft werden. Aber natürlich muss vermieden wer-
den, dass jeder, der nach Europa kommt, unter den
Verdacht gestellt wird, diesen Umstand auszunutzen,
um einfach hierzubleiben. Europa muss sich weltoffen
zeigen. Abschottung hilft nicht weiter.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723748200

Die EU-Kommission hat in diesem Jahr ihr soge-

nanntes Smart Border Package vorgelegt, mit dem die
Rechtsgrundlage für zwei neue Datenerfassungssys-
teme an den EU-Außengrenzen geschaffen werden soll.
Sie folgt mit diesen Vorschlägen dem Konzept der „in-
telligenten Grenzen“. Doch dieser Begriff ist nichts als
eine Beschönigung. Es geht um die totale Erfassung
aller Daten von Reisenden in die EU, den Zugang von
Strafverfolgungsbehörden auf diese Daten und nicht
zuletzt um 1,1 Milliarden Euro, die auf diesem Wege in
die Taschen der Konzerne strömen. Es sind die glei-
chen Konzerne, die die EU-Staaten auch mit allen
möglichen anderen Technologien zur Grenzüberwa-
chung beliefern: Die großen Rüstungskonzerne EADS,
BAE, Thaies, IAI verdienen sowohl an der Hochrüs-
tung der Grenzuberwachung mit Hubschraubern,
Schiffen und Drohnen als auch an der automatisierten
Ein-und Ausreisekontrolle.

Diesen beiden Vorschlägen ging im letzten Jahr der
Vorschlag für ein EU-System zur Erfassung von Flug-
passagierdaten von Reisenden in die EU voraus, das
EU-PNR. Die Europäische Union nähert sich damit
der schlechten Utopie einer totalen Überwachung von
Drittstaatsangehörigen in der EU. Die beiden aktuel-
len Vorschläge setzen die Erfassung biometrischer Da-
ten der Reisenden voraus. Im Entry Exit System EES
sollen nach dem Vorschlag der EU-Kommission zu-
nächst nur die Daten aus dem Reisepass, die biometri-
schen Daten erst nach einer Übergangsphase von drei
Jahren erfasst werden. Dann müssen alle Reisenden
beim Grenzübertritt ihre Fingerabdrücke hinterlassen,
um bei der Ausreise ihre Identität bestätigen zu kön-
nen. Daneben schlägt die Kommission vor, nach einer
Evaluation nach zwei Jahren zu prüfen, ob auch Straf-
verfolgungsbehörden Zugriff auf diese Daten erhalten
sollen.

Die Bundesregierung im Verein mit einer Reihe an-
derer EU-Staaten drängt bei den Verhandlungen im
EU-Rat darauf, die Fingerabdruckdaten sofort zu er-
fassen und den Strafverfolgungsbehörden den Zugriff
zu geben. Neben dem Visa-Informationssystem und
dem Fingerabdrucksystem für Asylsuchende EuroDAC
wäre das EES das dritte Datensystem, mit dem auf
EU-Ebene massenhaft biometrische Daten von Dritt-
staatsangehörigen gesammelt und den Behörden zu-
gänglich gemacht werden sollen. Auch wenn es aus der
Kommission und aus dem Europaparlament Wider-
stand gegen diese Pläne gibt: Wo Daten in solcher
Menge vorhanden sind, wachsen die Begehrlichkeiten
der Sicherheitsbehörden. Nach den bisherigen Erfah-
rungen ist nicht zu erwarten, dass Kommission und
Parlament diesem Druck standhalten werden.

Die EU-Kommission will sich ihren Traum von der
elektronischen Grenzüberwachung einiges kosten las-
sen. 1,1 Milliarden Euro sind für den Aufbau beider
Datengroßsysteme veranschlagt. Nach den Erfahrun-
gen mit dem Schengener Informationssystem und dem
Visa-Informationssystem dürfte es auch noch einiges
mehr werden. Darin noch gar nicht enthalten sind die
Kosten der Mitgliedstaaten, die nahezu jeden Grenz-
übergang mit der entsprechenden Technologie ausstat-
ten müssen, das alles, um ein paar Menschen zu
schnappen, die die Gültigkeitsdauer ihres Visums über-
ziehen. Das ist vollkommen unverhältnismäßig. Die
Linke lehnt diese Pläne deshalb ab und wird den An-
trag der Grünen-Fraktion unterstützen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723748300

Die Europäische Kommission hat am 28. Februar

2013 das „Smart-Borders-Paket“ vorgelegt. Es ent-
hält drei Verordnungsvorschläge: einen Vorschlag für
eine Verordnung über ein Einreise-/Ausreisesystem,
EES, zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von
Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern; einen Vorschlag
für eine Verordnung über ein Registrierprogramm für
Reisende, RTP, sowie einen Vorschlag zur Anpassung
des Schengener Grenzkodex an EES und RTP. Die Vor-

Zu Protokoll gegebene Reden





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)


schläge wurden als Paket vorgelegt, weil ein funktio-
nierendes EES Voraussetzung für die geplante voll-
automatische Kontrolle registrierter Reisender im
Rahmen des RTP ist.

Mit dem EES sollen die Ein- und Ausreisebewegun-
gen von Personen an den Außengrenzen des Schengen-
Raums aufgezeichnet und die biometrischen Identitäts-
kontrollen auf alle Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger
ausgeweitet werden – auch auf diejenigen, die derzeit
kein Visum für die Einreise in die EU benötigen –.
Dazu soll eine zentralisierte europäische Datenbank
aufgebaut werden, in der neben anderen personenbe-
zogenen Daten zehn Fingerabdrücke gespeichert wer-
den. Die Datenbank soll so eingerichtet werden, dass
später der Zugriff der Polizei- und Strafverfolgungsbe-
hörden darauf möglich ist. Damit würde das zur Ein-
reise- und Migrationskontrolle eingerichtete EES in
eine Datenbank zur allgemeinen Verbrechensbekämp-
fung umfunktioniert. Drei Jahre nach dem Start des
Einreise-/Ausreisesystems soll überprüft werden, ob
der Zugriff durch Polizei- und Strafverfolgungsbehör-
den tatsächlich erlaubt werden soll. Auch die Verlän-
gerung der Speicherfristen zu Strafverfolgungszwe-
cken ist bereits im Gespräch sowie der Zugriff von
Drittstaaten auf die Daten. Mit dem RTP sollen Viel-
reisende nach vorheriger Durchleuchtung ihrer finan-
ziellen Situation, Familienverhältnisse und anderer
Daten die Möglichkeit erhalten, als „unbedenklich“
eingestuft zu werden und durch automatische Grenz-
kontrollen einzureisen.

In seinem Nachbericht zum Rat der Justiz- und In-
nenminister der EU am 7./8. März 2013 berichtet das
Bundesministerium des Innern, Bundesinnenminister
Friedrich habe die Vorlage des Smart-Borders-Pakets
begrüßt und angeregt, biometrische Daten von Anfang
an zu nutzen. Begründet wurde diese Haltung mit der
Notwendigkeit der Modernisierung der Außengrenz-
verwaltung und der wachsenden Bedrohung durch Ter-
rorismus und organisierte Kriminalität. Am 20. März
beantwortete das Bundesministerium des Innern meine
Frage nach der Vereinbarkeit des Smart-Borders-
Pakets mit dem Grundgesetz und den EU-Grundrech-
ten nicht inhaltlich. Man prüfe die Legislativvor-
schläge noch und wolle dem Ergebnis dieser Prüfung
nicht vorgreifen. Ein derart widersprüchliches Verhal-
ten wird der Verpflichtung der Bundesregierung nicht
gerecht, auf EU-Ebene verfassungskonforme Verhand-
lungspositionen zu beziehen. Zudem zeugt die Beant-
wortung der Frage abermals davon, dass die Bundes-
regierung das verfassungsrechtlich garantierte
Auskunftsrecht der Abgeordneten nicht respektiert.

Die Umsetzung der Vorschläge des Smart-Borders-
Pakets würde extrem hohe Kosten verursachen. Die
Europäische Kommission rechnet bis 2020 mit 1,3 Mil-
liarden Euro Kosten für das Smart-Borders-Paket.
Ursprünglich geplant war, einen Großteil davon –
1,1 Milliarden Euro – aus dem Fonds für innere Si-
cherheit zu finanzieren. Mittlerweile geht die Kommis-

sion jedoch von einer drastischen Kürzung dieses
Fonds um rund 800 Millionen Euro aus. Deshalb ist
damit zu rechnen, dass die Mitgliedstaaten einen er-
heblichen Teil der Kosten selbst aufbringen müssen.

Zugleich sind Nutzen und Funktionsfähigkeit von
EES und RTP äußerst zweifelhaft. Es wurde versäumt,
die unüberwindlichen Schwierigkeiten der USA bei der
Einführung vergleichbarer Systeme in die Überlegun-
gen mit einzubeziehen – US VISIT, das immer noch
nicht in der Lage ist, automatische biometrische Aus-
reisekontrollen durchzuführen.

Schließlich widersprechen die vorgelegten Legisla-
tivvorschläge deutschen und europäischen Grundrech-
ten. Die anlasslose Speicherung personenbezogener
Daten sämtlicher Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger
stellt einen schweren Eingriff in deren Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i. V. m.
Art. 1 Abs. 1 GG, bzw. das EU-Datenschutzgrundrecht,
Art. 8 EU-Grundrechtecharta, dar. Die Speicherung
hat zudem diskriminierenden Charakter, da sie einem
Generalverdacht gegen Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bür-
ger gleichkommt und damit deren Persönlichkeits-
rechte aufweicht. Die Vorabüberprüfung Vielreisender
im Rahmen des RTP kommt einer freiwilligen Raster-
fahndung gleich, die anschließend vorgesehene Spei-
cherung von vier Fingerabdrücken in einem Zen-
tralregister stellt ebenfalls einen schweren Eingriff in
Grundrechte dar. Diese Grundrechtseingriffe sind
nicht zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die EU mit
dem Visa-Informationssystem VIS, Eurodac und dem
Schengener Informationssystem II ohnehin bereits
über eine Reihe zentraler Informationssysteme verfügt,
in denen biometrische Daten gespeichert werden und
auf die Sicherheitsbehörden Zugriff haben. Geplant ist
überdies die Vorratsdatenspeicherung von Fluggast-
daten. Die Erforderlichkeit einer zusätzlichen Zentral-
datei ist unbegründet, schafft zusätzliche Gefahren für
den Datenschutz und missachtet die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts, das vor jeder neuen an-
lasslosen Datenspeicherung die Aufstellung einer
Überwachungsgesamtrechnung fordert, um verbotene
Rundüberwachung zu verhindern.

Wir fordern die Bundesregierung auf, folgende Be-
lange bei ihren Verhandlungen durchzusetzen:

Erstens. Die Errichtung eines Elektronischen Ein-
reise-/Ausreisesystems wird abgelehnt.

Zweitens. Die Errichtung eines Registrierpro-
gramms für Reisende wird abgelehnt.

Drittens. Die Anpassung des Schengener Grenzko-
dex an EES und RTP wird abgelehnt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723748400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/13236 an die vorgesehenen Ausschüsse
vorgeschlagen. – Es gibt keine Einwände. Dann verfah-
ren wir so.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


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Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Rita
Schwarzelühr-Sutter, René Röspel, Willi
Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Chancen der Nanotechnologien nutzen und
Risiken für Verbraucher reduzieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nanotechnologie – Chancen nutzen und
Risiken minimieren

– Drucksachen 17/8158, 17/9569, 17/13217 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1723748500

Die Titel der hier vorliegenden Anträge ließen ei-

gentlich auf eine vielversprechende und interessante
Debatte hoffen. Die Nanotechnologie bietet als eine
Schlüsseltechnologie viele neue Chancen in den Berei-
chen Klima, Energie, Gesundheit, Ernährung, Mobili-
tät, Sicherheit und Kommunikation für unser Land. Es
ist ein schnell wachsender Markt, auf dem sich
Deutschland durch seine herausragende Innovations-
kraft einen Namen gemacht hat. Schon heute hängen
mehr als 63 000 Arbeitsplätze von der Nanotechnolo-
gie ab. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir diesen
Prozess effektiv begleiten können, um uns auch zukünf-
tig auf diesem Markt gut zu platzieren, statt Gefahren
zu suchen, die es nicht gibt.

Doch leider kann die Opposition nicht anders, als
eben diese Gefahren und Risiken dort zu suchen, wo es
sie nicht gibt. Ihre Anträge lassen das Thema „Chan-
cen der Nanotechnologie nutzen“ links liegen und kon-
zentrieren sich lieber auf sinnlose Forderungen.

Für die christlich-liberale Koalition hat die Sicher-
heit der Bürgerinnen und Bürger höchste Priorität.
Wir wollen keine Produkte in Deutschland, die eine
Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung darstellen.
Deshalb gibt es bereits für Chemikalien, Lebensmittel,
Lebensmittelkontaktmaterialien und kosmetische Mit-
tel Regelungen auf EU-Ebene. Ein von den Grünen ge-
fordertes Moratorium ist sinnlos. Alle verwendeten
Materialien müssen bereits jetzt den erforderlichen
Prüfungen unterzogen werden.

Da wir uns nun dank dieser Anträge mit den Risiken
der Nanotechnologie beschäftigten, werde ich Ihnen
gerne Auskunft zu dem bisher Erreichten und den kom-
menden Mechanismen zum Schutz und zur Aufklärung
der Bevölkerung geben.

Die Opposition verlangt die Einführung eines natio-
nalen Produktregisters. Dazu kann ich Ihnen Folgen-
des sagen: Wir haben einen europäischen Binnen-
markt. Ein EU-weiter Ansatz ist jedem nationalen
Klein-Klein vorzuziehen. Auf EU-Ebene ist zu diesem
Thema bereits eine informelle Expertengruppe aus
mandatierten EU-Mitgliedstaaten zusammengekom-
men, die derzeit die Grundlagen für eine europäische
Datenbank diskutiert.

Zu den geforderten Kennzeichnungen ist Folgendes
zu sagen: Für Kosmetika, Lebensmittel und Biozide
gibt es bereits Kennzeichnungspflichten. Für Kosme-
tika tritt diese ab dem 11. Juli 2013, für Lebensmittel
ab dem 31. Dezember 2014 und für Biozide ab dem
1. September 2013 in Kraft. Die Regelungen zur Ein-
stufung und Kennzeichnung von Nanomaterialien auf
europäischer Ebene, die mit der GHS/CLP-Verord-
nung eingeführt wurden, greifen schon jetzt – auch
ohne eine Mengenschwelle. Für alle Stoffe besteht so-
mit die Pflicht, die Gefährlichkeit einzuschätzen.

Auch tun sich durch die vermehrte Forschung und
Anwendung der Nanotechnologie neue Felder auf, die
nun abgedeckt werden müssen. Die Detektion von
Nanomaterialien, die Entsorgung und die Risikofor-
schung sind Bereiche, denen man sich nun verstärkt
zuwenden muss. Dies haben wir erkannt und fördern
die notwendigen Projekte im Rahmen der Hightech-
Strategie und des Aktionsplans für Nanotechnologie.

Neben der reinen Kennzeichnung bedarf es aber
auch der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger.
Diese müssen verstehen, dass Produkte, die als nano-
haltige Produkte deklariert wurden, nicht gefährlich
sind. Dazu möchte ich eine wissenschaftlich fundierte
Feststellung hier noch einmal aussprechen: „Nano“
per se ist kein Hinweis auf eine besondere Gefährdung.
Damit die Akzeptanz und Aufklärung innerhalb der
Bevölkerung gesteigert werden kann, wurden die Mit-
tel für Aufklärung unter der CDU/CSU um 140 Pro-
zent auf 14 Millionen Euro erhöht. Anstatt hier und
heute die Angst vor der Nanotechnologie zu schüren,
lade ich Sie ein, gemeinsam mit der christlich-libera-
len Koalition die Zukunft dieser Technologie zu gestal-
ten.

Die Nanotechnologie bietet eine Menge Potenzial.
Wir können hier auf eine Technologie zugreifen, die
neue Chancen und Möglichkeiten eröffnet, von denen
wir heute nur träumen können. Sie kann in allen mög-
lichen Bereichen einen Mehrwert für Innovationskraft,
Produktivität, Gesundheit und eine bessere Umwelt
schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam die Chancen und
das Potenzial nutzen.






(A) (C)



(D)(B)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1723748600

Nanomaterial ist deshalb so interessant, weil die

Partikel so klein sind und deshalb das Material verän-
derte, optimierte Eigenschaften hat. Mit Nanotechno-
logie kann man selbstreinigende Kleidung herstellen
oder intelligente Verpackungen, die sich verfärben,
wenn die Lebensmittel ablaufen. Aber man kann auch
Nanomaterialien in der Krebstherapie einsetzen, in
der Landwirtschaft, bei Energie- und Rohstoffeffizienz,
bei Umwelt- und Klimaschutz. Gerade hier kann die
Nanotechnologie wichtige Lösungsbeiträge leisten.

Wir sind uns alle einig, dass die Nanotechnologie
eine der wichtigsten Zukunftstechnologien ist. Die
Forschung in Deutschland ist fortschrittlich. Im inter-
nationalen Wettbewerb stehen wir mit unserer Nano-
forschung an der Weltspitze. Deshalb habe ich auch
schon in meiner letzten Rede betont: Die Nanotechno-
logie ist wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutsch-
land, für den Wohlstand unseres Landes und auch für
das Wohlergehen der Menschen.

Die christlich-liberale Koalition setzt sich dabei
stets für einen nachhaltigen und verantwortungsbe-
wussten Verbraucherschutz ein. Die Gesundheit und
Sicherheit der Menschen steht dabei für uns an erster
Stelle. Wir wägen Chancen und Risiken von neuen
Technologien sorgfältig ab; denn wir wissen, dass ein
übereilter Einsatz von neuen Technologien mit Risiken
für die Menschen und die Umwelt verbunden sein
kann.

Die Bundesregierung hat einen Aktionsplan Nano-
technologie 2015 vorgelegt, in dem alle Aspekte be-
dacht sind: die Sicherheit, die Forschungsförderung,
die Unterstützung der kleinen und mittelständischen
Unternehmen und auch der Dialog mit der Öffentlich-
keit und die Kooperation mit internationalen Part-
nern; denn etwa 90 Prozent des Wissens über die
Nanotechnologie wird außerhalb von Deutschland er-
arbeitet.

Vielleicht sollten Sie sich diesen Aktionsplan erst
einmal anschauen, bevor Sie mit derartigen Anträgen
die Menschen verunsichern. Wir wollen keine Ängste
schüren. Niemand hat etwas davon, wenn wir ständig
den „Anlass zur Besorgnis“ vor uns hertreiben. Statt-
dessen wollen wir die Forschung stärken – die christ-
lich-liberale Regierung hat die Mittel für den Bereich
der Risiko- und Begleitforschung übrigens in den letz-
ten Jahren massiv erhöht –; wir müssen den Dialog
fördern und für Transparenz sorgen. Denn der Ver-
braucher verlangt zu Recht einen Hinweis auf der Le-
bensmittel- oder Kosmetikverpackung, ob das Produkt
nanoskalige Bestandteile enthält.

Für Kosmetika in der Europäischen Union gilt des-
halb auch seit diesem Jahr eine Kennzeichnungs-
pflicht; für Lebensmittel gilt sie ab 2014. Dann müssen
nanoskalige Bestandteile und Inhaltsstoffe auf dem
Etikett mit „Nano“ gekennzeichnet sein.

Zu der Forderung nach einem Nanoproduktregister
lässt sich sagen, dass es bereits viele Melde-, Regis-

trierungs- und Zulassungspflichten gibt. Die Kommis-
sion plant die Umsetzung einer Internetplattform, auf
der sämtliche relevanten Registrierungen von Nano-
materialien zusammengeführt werden.

Es ist besonders wichtig, dass die Nanotechnologie
von der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür benötigt
sie sachgerechte Informationen, wie dies zum Beispiel
der Nanodialog oder die Internetseite www.nanopar
tikel.info, die vom Bundesforschungsministerium ge-
fördert wird, gewährleisten.

Durch gute und sachliche Informationen können Vor-
urteile abgebaut werden. Ein hervorragendes Beispiel
für eine Kommunikationsoffensive ist der nanoTruck.
Der nanoTruck ist ein rollendes Ausstellungs- und
Kommunikationszentrum des Bundesforschungsminis-
teriums, der deutschlandweit unterwegs und einsetzbar
ist – eine tolle Möglichkeit, an die Leute heranzukom-
men, den Bürgerinnen und Bürgern die Technologie zu
erklären und über die Chancen und auch mögliche Ri-
siken aufzuklären. Nanotechnologie ist dann nicht
mehr die unbekannte Technologie, die vielleicht Heil,
vielleicht Unheil bringt.

Auf meine Anfrage hat der nanoTruck dann auch in
meinem Wahlkreis bei einer Schule haltgemacht. Die
Schülerinnen und Schüler waren begeistert, und auch
andere Interessierte konnten sich über diese neue
Technologie informieren lassen, und zwar ganz prak-
tisch und hautnah.

So kann man mit neuen Technologien umgehen: in-
dem wir die Forschung fördern, Chancen und Risiken
abwägen und immer den Dialog mit der Öffentlichkeit
suchen, ohne Ängste zu schüren.

Wir wissen, dass die Nanotechnologie ein großes
Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt, Gesund-
heit und Wohlstand bietet. Wir sorgen aber auch dafür,
dass der Schutz von Mensch und Umwelt im Bereich
der Nanotechnologie an erster Stelle steht.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1723748700

Die Europäische Kommission schätzt in einer ihrer

jüngsten Stellungnahmen, dass das Marktvolumen von
Produkten, in denen Nanomaterialien eingearbeitet
sind, im Jahre 2015 auf 2 Billionen Euro steigen wird.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung
hat für das Jahr 2013 um die 70 Millionen Euro für
Projektmittel im Bereich „Neue Materialien – Nano-
technologien“ bereitgestellt. Das ist im Vergleich zum
Vorjahr eine Kürzung von 10 Millionen Euro. Das ver-
wundert, wenn man den Sätzen Glauben schenkt, dass
der Bundesregierung diese Technologie sehr am Her-
zen liegt. Wir, die Oppositionsfraktionen der Grünen
und SPD, haben deshalb grundsätzlich Zweifel, ob die
aktuelle Strategie der Bundesregierung in die richtige
Richtung zeigt. Aus diesem Grund haben Grüne und
SPD jeweils eigene Forderungen aufgestellt. Diese
diskutieren wir heute.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
und die Kolleginnen und Kollegen der Grünen sind

Zu Protokoll gegebene Reden





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


beim Thema Forschungspolitik sehr oft einer oder
ähnlicher Meinung. Aus diesem Grund wünschen wir
uns eine gemeinsame Regierung für die nächste Legis-
laturperiode. Aber bei manchen Themen sind wir eben
auch unterschiedlicher Meinung. Im Antrag der Grü-
nen finden sich viele grundsätzliche inhaltliche Über-
schneidungen zu unserem Antrag. Zu nennen sei zum
Beispiel die Erhöhung der Sicherheitsforschung auf
10 Prozent. Diese alte Forderung der SPD, die der
Bundestag in Zeiten der Großen Koalition auf unsere
Initiative hin beschlossen hat, ist bis heute nicht um-
gesetzt worden. Selbst die Ressortforschungseinrich-
tungen der Bundesregierung legen in ihrer gerade ver-
öffentlichten ersten Bilanz „Nanotechnologie –
Gesundheits- und Umweltrisiken von Nanomateria-
lien“ dar, dass die wissenschaftliche Forschung in die-
sem Bereich zu intensivieren sei. Warum die schwarz-
gelbe Bundesregierung dann trotzdem die Projektför-
derung für Nanomaterialien senkt, ist für mich deshalb
noch weniger nachvollziehbar.

Weitere inhaltliche Überschneidungen mit dem An-
trag der Grünen betreffen die Forderung nach der Um-
setzung des Vorsorgeprinzips bei Nanomaterialien, die
Einführung eines Nanoregisters und die Kennzeich-
nung von Produkten mit Nanomaterialien. Auch wenn
es bei diesen Themen zwischen SPD und Grünen im
Detail durchaus Unterschiede gibt, so stimmen wir in
diesen großen Linien doch überein.

An einem entscheidenden Punkt können wir den
Grünen aber nicht zustimmen. Denn leider hat man
nach dem Lesen des Antragstextes das Gefühl, dass je-
der Nanopartikel erst einmal gefährlich sei. Das
stimmt aber nun einmal nicht. Ganz im Gegenteil.
„Nano“ bedeutet erst einmal nur, dass in dieser Größe
das Material andere Eigenschaften besitzt als in ande-
ren Größenordnungen. Diese können durchaus gefähr-
lich, zum Beispiel toxisch, sein, müssen es aber auch
nicht. Sie können auch harmlos sein, aber eben doch
neue positive Eigenschaften enthalten, zum Beispiel
die Fähigkeit, elektrische Energie besser zu leiten.
Wenn man wie die Grünen von der generellen An-
nahme ausgeht, dass alle Nanomaterialien schädlich
sind, dann macht ein Moratorium, wie sie es in ihrem
Antrag fordern, für Nanoprodukte natürlich Sinn.
Wenn man aber hingegen von der Realität ausgeht,
nämlich dass sich Nanomaterialien ähnlich wie andere
Chemikalien oder Stoffe verhalten, dann ist ein solches
Moratorium nicht der richtige Weg. Hier ist vielmehr
eine aufwendige Einzelprüfung notwendig.

Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten sind der Meinung, dass gewisse verbrauchernahe
Produkte bzw. bestimmte Nanomaterialien einer be-
sonderen Kontrolle unterliegen müssen. Aber das ist in
der EU Standard. Die Europäische Kommission prüft
außerdem bereits – übrigens im Auftrag des Europäi-
schen Parlaments, welches beim Thema Nano sehr ak-
tiv ist – an welchen Stellen die Kontrollen verbessert
und Regelungen angepasst werden müssen. Aktuell ist
die Kommission zum Beispiel zu dem Schluss gekom-

men, dass REACH, die Europäische Chemikalienver-
ordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und
Beschränkung chemischer Stoffe, für Nanoprodukte
angepasst werden sollte. Auf dem Gebiet passiert also
bereits einiges.

Ein Grund für übertriebene Angst vor allen Nano-
materialien ist vielleicht die aktuelle EU-Definition für
Nanomaterialien. Nach dieser fallen nämlich alle Na-
nopartikel, ob nun natürlich vorkommend, bei Prozes-
sen anfallend oder bewusst hergestellt, unter diese Ka-
tegorie. Das bedeutet, dass natürlich vorkommende
Nanopartikel in der Milch, bei Verbrennungen entste-
hende Rußpartikel und extra hergestellte nanogroße
Partikel in Computerchips oder Verpackungsmaterial
gleich behandelt werden. Die Gefahr für Mensch und
Umwelt ist aber bei jedem dieser Materialien absolut
unterschiedlich. Eine Kategorie, die alles erfasst, sagt
am Ende hingegen gar nichts aus. Aus diesem Grund
gehört die EU-Definition zügig überarbeitet. Vielleicht
konzentriert sich die Diskussion dann auch wieder auf
die realen Risiken bei der Nanotechnologie.

Die sehen wir, wie auch verschiedene andere Insti-
tutionen, insbesondere in den freien Partikeln. Hier ist
bei einigen immer noch unklar, wie der menschliche
Organismus und die Umwelt darauf reagieren. Auch
sind das Auffinden und die Reaktion hergestellter Na-
nopartikel in der Natur immer noch problematisch
bzw. unklar. Forschungsbedarf ist also noch genug
vorhanden.

Um die großen Chancen der Nanotechnologie auch
weiterhin nutzen zu können, müssen mögliche Risiken
ausgeräumt werden. Dafür benötigen wir neben den fi-
nanziellen Mitteln aber auch gut ausgebildete Fach-
kräfte. Und wie wir aus unserer Kleinen Anfrage zum
Thema Stand der Toxikologie in Deutschland erfahren
mussten, sieht der Zustand dieses auch für die Nano-
technologie so wichtigen Wissenschaftszweiges ziem-
lich schlecht aus. Diese Bundesregierung hat über de-
ren Zustand nur veraltete Zahlen und fördert den
Bereich nur rudimentär. Das ist eine Katastrophe!
Denn die Toxikologinnen und Toxikologen sollen doch,
unter anderem im Auftrag der Bundesregierung,
schauen, ob das eine oder andere Material für Mensch
oder Umwelt gefährlich sein könnte. Diese Bundesre-
gierung streicht also nicht nur Forschungsgeld. Sie ge-
fährdet auch die Strukturen, welche eine unabhängige
Untersuchung von Nanomaterialien gewährleistet. Es
wird Zeit, dass sich auch in diesem Forschungsbereich
ab Herbst etwas ändert; denn Schwarz-Gelb bekommt
es einfach nicht hin!


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1723748800

Zum wiederholten Mal debattieren wir in dieser

Legislaturperiode zum Thema Nanotechnologie. Wir
haben nicht nur in einigen Ausschusssitzungen zu An-
trägen und Förderprogrammen politische Positionen
ausgetauscht, sondern auch im Rahmen der Technik-
folgenabschätzung mit Experten aus Wissenschaft und
Vertretern europäischer Institutionen diskutiert. Ich

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


behaupte deshalb, dass wir das Thema hinlänglich be-
handelt haben, um mit klarer fachlicher Haltung und
mit Recht die Anträge der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.

Der Antrag der Fraktion der SPD „Chancen der
Nanotechnologie nutzen und Risiken für Verbraucher
reduzieren“ und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen „Nanotechnologie – Chancen nutzen und
Risiken minimieren“ haben allenfalls in einem Punkt
Recht. Die Nanotechnologien werden sich noch lange
in einem Spannungsverhältnis zwischen Chancen und
Nutzen auf der einen Seite und Risiken und Gefahren-
potenzial auf der anderen befinden. Jedoch geht die
FDP nicht mit den Schlussfolgerungen konform, die
ein überspitztes Handeln der Politik einfordern, um
sich aus diesem Spannungsverhältnis zu lösen. Denn
die Nanotechnologie ist ein Schlüssel zum technologi-
schen Fortschritt im 21. Jahrhundert: Sie liegt in der
Schnittmenge verschiedener Disziplinen, angefangen
von der Physik über die Chemie und Biologie bis hin
zu den Ingenieurwissenschaften und der Medizin.

In diesem interdisziplinären Feld entsteht ein weit-
reichendes Anwendungspotenzial zum Nutzen der
Gesellschaft und der deutschen Wirtschaft. Dieses Po-
tenzial dürfen wir aber nicht durch überschnelles Han-
deln und unbegründete Verdachtsmomente zunichte-
machen.

Die Anträge werden abgelehnt, weil Sie den in
Deutschland vorhandenen forschungs- und innova-
tionsfreundlichen Rahmen durch Ihre Forderungen ein-
schränken wollen. Forderungen nach einem nanospe-
zifischen Produktregister, der Kennzeichnungspflicht,
der Meldepflicht, einer Ermächtigungsverpflichtung
für Behörden, Produkte im Besorgnisfall vom Markt zu
nehmen, einer Überarbeitung von gesetzlichen Rege-
lungen im Produkt-, Stoff- und Umweltrecht, einem
Haftungsregime für Nanoprodukte etc. lehnen wir ab.
Denn derartige Forderungen sind überzogen und un-
begründet, wenn man wie die Antragsteller diese vom
unzureichenden Wissensstand über Risiken und Gefah-
renpotenzial von Nanoprodukten bzw. Nanotechnolo-
gie ableitet. Die Wissenschaft liefert keine Belege für
eine spezifische Nanotoxizität. Auch über das Gefah-
renpotenzial lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht
keine stichhaltigen Belege finden. Das stellen die An-
träge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sogar
selbst fest. Der Sachverständigenrat für Umweltfra-
gen, SRU, der 2011 die Stellungnahme „Vorsorgestra-
tegien für Nanomaterialien“ veröffentlichte, woraus
SPD und Grüne ihre Forderungen ableiten, sagt:
„Pauschale Urteile über die Risiken von Nanomateri-
alien sind nicht möglich … Bisher gibt es keine wissen-
schaftlichen Beweise dahin gehend, dass Nanomateri-
alien – wie sie heute hergestellt und verwendet werden –
zu Schädigungen von Umwelt und Gesundheit führen.“

Als FDP sehen wir bei unbegründeten Verdachtsmo-
menten keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Gleichwohl setzen wir uns für eine Sicherheitsfor-
schung ein, die Wissenslücken über Nanotechnologien

schließt und einheitliche Mess- und Prüfmethodiken
entwickelt, um Aussagen über das Gefahrenpotenzial
für Gesundheit und Umwelt treffen zu können. Aus
Sicht der FDP sollte dabei vor allem die bisher unge-
nügend beantwortete Frage nach dem Lebenszyklus
von Nanopartikeln und danach, was nach dem Lebens-
zyklus passiert, von der Wissenschaft bearbeitet wer-
den.

Auch setzen wir Liberalen uns anders als die
Antragsteller für eine über Europa hinausragende in-
ternational harmonisierte Definition von Nanomateri-
alien ein. Der Vorschlag einer Definition von Nanoma-
terialien und -technologie, den die EU-Kommission
erarbeitet hat und der bis Dezember 2014 auf seine
Tauglichkeit hin überprüft werden soll, ist meiner Auf-
fassung nach etwas zu kurz gegriffen. Als FDP plädie-
ren wir dafür, die regulatorische Definition von Nano-
materialien an bestehende wissenschaftsbasierte
Definitionen zu knüpfen, die im Rahmen der Interna-
tional Organization for Standardization, ISO, entwi-
ckelt worden sind, und so den Weg einer weltweit har-
monisierten Definition zu gehen.

Weiterhin sieht die FDP, wie auch die Koalition ins-
gesamt, den nationalen Rechtsrahmen ebenso wie die
europäische Chemikalienverordnung, REACH, als
ausreichend an, um einen sicheren Umgang mit Nano-
materialien zu gewährleisten. Nach REACH wird jeder
Stoff, der von einem Unternehmen in einer Menge von
mehr als 1 Tonne pro Jahr hergestellt oder importiert
wird, bei der Europäischen Chemikalienagentur,
ECHA, mit einem technischen Dossier registriert. Aus-
kunft wird über physikalisch-chemische, toxikologi-
sche und ökotoxikologische Eigenschaften des Stoffes
gegeben. Auch wenn Stoffe in einer Menge von weni-
ger als 1 Tonne pro Jahr hergestellt werden sollten,
könne man in Bezug auf Nanomaterialien dennoch die
Verordnung durch Interpretation anwenden. Die In-
dustrie hat dabei ihre Verantwortung und muss einer
Mitwirkungspflicht nachkommen. Ich bin mir sicher,
dass die Industrie keinen Interpretationsspielraum in
der REACH-Verordnung ausnutzen würde, allein um
dann folgende gesetzgeberische Maßnahmen zu umge-
hen.

Würden stattdessen die Forderungen von SPD und
vor allem von Bündnis 90/Die Grünen umgesetzt, be-
raubt sich Deutschland einer wichtigen Technologie
und eines zukünftig großen Wirtschaftsfaktors. Beson-
ders kritisieren wir aber, dass die Anträge einen Gene-
ralverdacht insinuieren, der sich langsam in die Ge-
sellschaft bahnt. Durch die verkettete Argumentation
aus „kann“ und „mögliche Risiken“ wird ein Argwohn
aufgebaut, der sich nicht rechtfertigen lässt, unter ei-
ner Überschrift, die die Chancen heben möchte.

Deshalb lehnen wir die Anträge aus guten Gründen
ab und verweisen auf den Aktionsplan Nanotechnolo-
gie 2015, den diese christlich-liberale Koalition auf
den Weg gebracht hat und der ein tatsächliches Anlie-
gen formuliert, wie Risiken zu unterbinden und die
Chancen der Nanotechnologien zu fördern sind.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723748900

Ohne Frage: Nanotechnologie bietet gute Chancen

für Unternehmen in Deutschland. Für Verbraucherin-
nen und Verbraucher hingegen ist der Mehrwert be-
grenzt. Ob Nanozusätze bei Lebensmitteln und Be-
darfsgegenständen in einem vernünftigen Verhältnis zu
möglichen Risiken und Mehrkosten stehen, ist eher
fraglich.

Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den
öffentlichen Versprechungen vorbei. Vorrangig dient
die Förderung der Industrie zur Verbesserung vorhan-
dener Verfahren für Prozesse und Produkte. Im Vorder-
grund stehen dabei Kostensenkungspotenziale für die
Unternehmen. Wichtige gesellschaftliche Fragen wie
Energie- und Ressourcenschutz oder Gesundheits- und
Risikoforschung haben daran einen verschwindend
geringen Anteil. Es entsteht der Eindruck, dass solche
Themen nur vorgeschoben werden, um die Förderung
der Industrieforschung mit Geldmitteln in beträchtli-
cher Höhe zu rechtfertigen.

Die Linke hatte bereits Mitte 2011 mit dem Antrag
„Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen
durchsetzen“ auf die fehlgeleitete Nanoförderung der
Bundesregierung hingewiesen. Die mit jährlich über
400 Millionen Euro ausgestattete Nanoinitiative von
Schwarz-Gelb ist weitgehend auf klientelhafte Subven-
tionspolitik beschränkt:

Die öffentlichen Gelder fließen maßgeblich an klas-
sische Industriebereiche. Die Innovation besteht im
Wesentlichen in den Kostensenkungen für große Un-
ternehmen bei herkömmlichen Anwendungen und Pro-
zessen.

Es findet keine Lenkung der Förderschwerpunkte
hin zu gesellschaftlich wichtigen Themen, wie erneuer-
bare Energien, Medizin und die Risikoforschung, statt.

Die geförderten Vorhaben werden nicht einmal auf
ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen hin untersucht
oder bewertet.

Mögliche Risiken im Verbraucher-, Arbeits- und
Umweltschutz werden als „Hemmnis bei der Vermark-
tung nanotechnologischer Produkte“ festgemacht, so
der Nanoreport der Bundesregierung.

In Hinblick auf Umwelt- und Gesundheitsrisiken er-
weist sich die Nanotechnologieförderung der Bundes-
regierung als wirkungslos. Die Erforschung und Be-
wertung von Gesundheits- und Umweltrisiken, die von
Nanostoffen ausgehen können, wird deutlich vernach-
lässigt. Der Gesetzgeber ist daher kaum in der Lage,
wirksame Maßnahmen zur Gesundheits- und Umwelt-
vorsorge zu treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht.

Ein Grund ist sicherlich, dass die Untersuchung
und Bewertung von Risiken bisher weitgehend den Un-
ternehmen überlassen wird, die die Nanostoffe selbst
entwickeln. Viele Ergebnisse von Untersuchungen, die
mit Fördergeldern der Nanoinitiative des Bundes
finanziert wurden, nutzen die Unternehmen vorrangig
zur Abschätzung ihrer betriebswirtschaftlichen Risi-

ken. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass die
Industrie gerne mögliche Risiken in der öffentlichen
Kommunikation herunterspielt – nach dem Motto: Es
ist ja noch nicht bewiesen, dass es schädlich sein
könnte.

Die Linke sagt: Das ist der falsche Weg. Verbrau-
cherschutz kommt im Bereich der Nanotechnologie
praktisch nicht vor. Verbraucherinnen und Verbrau-
cher erwarten aber, dass Behörden, Wissenschaft und
Unternehmen die Frage nach den Risiken der Nano-
technologie vollständig beantworten. Der Gesetzgeber
muss deshalb eine Kenntlichmachung aller nanotech-
nologisch hergestellten oder nanopartikelhaltigen
Produkte sicherstellen. Dabei reicht ein Hinweis auf
der Verpackungsrückseite nicht aus. Die Unbedenk-
lichkeit muss belegt und der Zusatznutzen in verständ-
licher Weise erläutert sein.

Die Linke fordert von der Bundesregierung, dass sie
eine umfassende Regelung und Kontrolle der Nano-
technologie auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips
umsetzt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen
hat dazu mit seinem Sondergutachten „Vorsorgestrate-
gien für Nanomaterialien“ sehr gute und hilfreiche
Vorschläge gemacht. Dazu gehört ein öffentliches Re-
gister aller Nanostoffe ebenso wie eine unabhängige
Risikoforschung. Nur so kann offenkundigen Risiken
gegenüber Mensch und Umwelt angemessen begegnet
und können unberechtigte Ängste abgebaut werden.
Klare gesetzliche Vorgaben mindern darüber hinaus
auch betriebswirtschaftliche Risiken bei den Unter-
nehmen, die mit Nanotechnologien befasst sind.

Wesentliche Voraussetzung und Forderung der Lin-
ken ist, die Förderstruktur zugunsten von Vorsorge und
Verbraucherschutz neu zu strukturieren. Die vorlie-
genden Anträge von SPD und Grünen unterstützen
diese Forderungen weitgehend, weshalb wir ihnen zu-
stimmen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723749000

Bisher gibt es in Deutschland keine nanospezifi-

schen Regulierungen. Dabei ist die Nanotechnologie
mit all ihren Chancen und Risiken längst in unserem
Alltag angekommen. Denn Nanopartikel finden sich in
den verschiedensten Anwendungen und Produkten.
Doch aufgrund ihrer geringen Größe und den damit
verbundenen anderen physikalischen und chemischen
Eigenschaften gegenüber den jeweiligen Ausgangs-
stoffen schlüpfen Nanopartikel durch die bestehenden
Kontroll- und Regulierungsregimes.

Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Gerade
beim Einsatz von ungebundenen Nanopartikeln in ver-
brauchernahen und umweltoffenen Anwendungen wie
zum Beispiel in Kosmetika oder Reinigungsmitteln
sind die bestehenden Risiken für Mensch und Umwelt
bislang viel zu wenig erforscht und unzureichend regu-
liert.

Wir wollen, dass das Vorsorgeprinzip zum Leitsatz
im Umgang mit der Nanotechnologie wird. Das hat

Zu Protokoll gegebene Reden





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in
seinem ausführlichen Sondergutachten zu Nanomate-
rialien ausdrücklich empfohlen – leider ohne Reaktion
vonseiten der Bundesregierung!

Wir fordern in unserem Antrag, die Sicherheits- und
Risikoforschung deutlich auszuweiten, um die vorhan-
denen Wissenslücken zu schließen und die Unsicher-
heit im Bezug auf das Gefahrenpotenzial bestimmter
Nanomaterialen zu verringern.

Außerdem brauchen wir nanospezifische Prüf- und
Zulassungsverfahren und bessere Regelungen zur Pro-
dukthaftung. Der Sachverständigenrat für Umweltfra-
gen hat hierzu gute Vorschläge gemacht, die die Bun-
desregierung aufgreifen sollte. Dazu gehören auch
Novellen der Novel-Food-Verordnung und des euro-
päischen Chemikalienrechtes REACH. Auch die Rege-
lungen zum Arbeitsschutz müssen um nanospezifische
Regelungen ergänzt werden.

Um mehr Transparenz für Verbraucherinnen und
Verbraucher zu schaffen, wollen wir, dass, wo Nano
drin ist, auch Nano draufsteht. Ebenso muss offenge-
legt werden, ob diese Inhaltsstoffe neben den beworbe-
nen Vorteilen auch mögliche Risiken und Nebenwir-
kungen mit sich bringen. Wir fordern deshalb eine
verständliche Kennzeichnung für verbrauchernahe
und umweltoffene Nanoprodukte und ein öffentlich zu-
gängliches Nanoproduktregister, um Transparenz und
Wahlfreiheit zu gewährleisten und den Regulierungs-
behörden einen Überblick über den Markt zu ermögli-
chen.

Zum Schutz von Mensch und Umwelt ist es notwen-
dig, dass Behörden im Besorgnisfall gefährliche Pro-
dukte gegebenenfalls vom Markt nehmen bzw. solchen
Produkten den Marktzugang verweigern können. Das
trifft unter anderem für den Einsatz von Nanosilber in
verbrauchernahen Produkten zu. Sowohl das Bundes-
institut für Risikobewertung als auch das Umweltbun-
desamt haben vor den möglichen Gefahren beim
Einsatz von ungebundenem Nanosilber in verbrau-
chernahen Produkten gewarnt. Nanosilber kann sich
nicht nur außen an menschliche Zellen anlagern, son-
dern auch biologische Grenzen überwinden und somit
in Zellen eindringen.

Wir sind fest davon überzeugt, dass die Sicherheit
von Mensch und Umwelt immer oberste Priorität ha-
ben muss. Nur dann wird auch eine breite gesellschaft-
liche Akzeptanz für neue Technologien wie die Nano-
technologie möglich sein, die zweifelsohne auch große
Chancen und erhebliches Innovationspotenzial für Be-
reiche wie Informations- und Kommunikationstechnik,
Medizin und andere innovative Produktentwicklungen
birgt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723749100

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-

fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13217.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/8158. Wer stimmt für diese
Empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Lin-
ken bei Enthaltung der Grünen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Grünenfraktion auf Drucksa-
che 17/9569. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen von Grünen und Linken
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Wiedereingliederung fördern – Gefangene in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
einbeziehen

– Drucksache 17/13103 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1723749200

Strafgefangene unterliegen heute nicht der Versi-

cherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken-
und Pflegeversicherung. Die Zeit während des Voll-
zugs einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der
Besserung und Sicherung gilt für die Rentenversiche-
rung auch nicht als Anrechnungszeit. Die Vollzugs-
behörde entrichtet für die Gefangenen, auch wenn sie
ihrer Arbeitspflicht nach § 41 Strafvollzugsgesetz ge-
nügen, keine Beiträge zur Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung. Für eine Aufrechterhaltung der
Versicherungen sind die Gefangenen selbst verant-
wortlich.

Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit
bereits mehrfach mit der Frage der Einbeziehung der
Strafgefangenen in die gesetzliche Renten-, Kranken-
und Pflegeversicherung befasst. Die Frage war und ist
auch wiederholt Gegenstand von Petitionsverfahren.

In der Sache hat sich an der Situation nichts geän-
dert: Zwar enthält das Strafvollzugsgesetz vom
16. März 1976 Regelungen über eine grundsätzliche
Einbeziehung der Strafgefangenen in die Sozialversi-
cherung. Es hat in § 198 Abs. 3 das Inkrafttreten der
im Gesetz vorgesehenen Regelungen zur Einbeziehung
von Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversi-
cherung aber einem besonderen Bundesgesetz vorbe-
halten. Diese aufschiebende Inkraftsetzung beruht im





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundes-
länder, die die Beiträge zur Sozialversicherung als
Träger des Strafvollzugs anteilig zu übernehmen hät-
ten. Das mag man beklagen, aber wenn man Forde-
rungen aufstellt, gehört zur Wahrheit auch eine Aus-
sage, wie man diese Forderungen finanzieren will. Die
Fraktion Die Linke macht es sich in diesem entschei-
denden Punkt sehr einfach und trifft in ihrem Antrag
hierzu keine Aussage. Das zeigt: Es geht der Fraktion
nicht um eine sachgerechte Lösung für die Betroffenen,
die Initiative ist vielmehr ein reiner Schaufensteran-
trag.

Warum ist es zu dem oben angegebenen Bundes-
gesetz bislang nicht bekommen? Ganz einfach: Weil es
der Bundesrat in der Vergangenheit abgelehnt hat, die
sich aus der Einbeziehung der Strafgefangenen in die
Sozialversicherung ergebenen finanziellen Belastun-
gen zu tragen. Und ohne Zustimmung des Bundesrates
kann ein solches Bundesgesetz nicht verabschiedet
werden. Und ich sehe bei der Mehrheit der Bundeslän-
der aufgrund ihrer Finanzlage weiterhin keine Nei-
gung, einem dem Anliegen der Antragsteller entspre-
chenden Bundesgesetz zuzustimmen bzw. selbst eine
entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat zu er-
greifen. Wem das Anliegen der Betroffenen wirklich
wichtig ist, der müsste eigentlich einen dringenden
Appell an die Länder richten. Im Antrag der Linken
findet sich dazu im Analyseteil verschämt die Aussage,
die Bundesländer müssten „nun endlich aktiv wer-
den“. Der Forderungsteil des Antrags ist dagegen
recht mutlos ausgefallen, einen flammenden Appell an
die Länder finde ich dort jedenfalls nicht. Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag hätten Sie
sich wirklich sparen können.

An dieser Stelle nur am Rande: Man mag die Einbe-
ziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherung
als ein geeignetes Mittel für deren Wiedereingliede-
rung in die Gesellschaft halten. Einen zwingenden
rechtlichen Handlungsbedarf kann ich aber nicht er-
kennen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung vom 1. Juli 1998 zur Gefangenenentloh-
nung die fehlende Einbeziehung in die Kranken- und
Rentenversicherung ausdrücklich als verfassungskon-
form gebilligt. Weder aus dem verfassungsrechtlichen
Resozialisierungsgebot noch aus dem Gleichbehand-
lungsgebot lasse sich eine Verpflichtung des Staates
ableiten, Pflichtarbeit mit freier Erwerbsarbeit gleich-
zusetzen.

Das zeigt: Es geht nicht nur um die Finanzierung,
sondern auch um eine politische Entscheidung. Und
mit genau diesen Fragen beschäftigt sich derzeit der
Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Die
Kollegen machen sich die Fragen nicht einfach. Wer
mit ihnen spricht, weiß, dass sie die Angelegenheit
gründlich prüfen. Ich möchte hier und heute der Ent-
scheidung der Kollegen nicht vorgreifen. Ich bin gern
bereit, mit Ihnen die politische Auseinandersetzung in
der Angelegenheit zu führen. Aber bitte in geordneten
Verfahren. Deshalb: Lassen Sie erst die Kollegen im

Petitionsausschuss ihre Arbeit machen. Erst dann sind
wir dran. Die heutige Debatte ist eine Debatte zur
Unzeit.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1723749300

Bevor eine Altersrente ausbezahlt werden kann,

müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Neben
der Vollendung des erforderlichen Lebensalters sind
dies vor allem die Berücksichtigung der Zeiten als Bei-
tragszeiten und die vorgesehene Mindestversiche-
rungszeit oder die sogenannte Wartezeit. Für die nor-
male Altersrente liegt diese gemäß § 50 SGB VI bei
fünf Jahren oder 60 Monaten.

Für ein Jahr Beitragszahlung erhält man nach dem
Durchschnittsverdienst – vorläufiger Wert für 2012:
32 446 Euro – dann einen Entgeltpunkt. Ein Entgelt-
punkt bringt zurzeit eine Monatsrente von 28,07 Euro
in den alten und 24,92 Euro in den neuen Bundeslän-
dern (Werte ab 1. Juli 2012).

Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Zeit
als Beitragszeit gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI im Versi-
cherungskonto ist ein versicherungspflichtiges Be-
schäftigungsverhältnis. § 55 Abs. 1 SGB VI definiert
als Beitragszeiten solche Zeiten, für die nach Bundes-
recht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt
worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind Zeiten, wäh-
rend deren kraft Gesetzes oder auf Antrag oder kraft
entsprechender Vorschriften Versicherungspflicht be-
stand und Pflichtbeiträge gezahlt worden sind.

Bei einer Beschäftigung, die während eines Straf-
vollzugs ausgeübt wird, handelt es sich aber nicht um
ein die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung begründendes Beschäftigungsverhält-
nis. Verschiedene Gerichte haben in ihren Urteilen und
Beschlüssen dies bereits bestätigt und damit die Vo-
raussetzungen für das Entstehen der Versicherungs-
pflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung durch
eine Beschäftigung im Gefängnis abgelehnt. Die Be-
schäftigung von Strafgefangenen im Rahmen eines
Straf- bzw. Maßregelvollzugs stellt kein Beschäfti-
gungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV dar, da
ein Strafgefangener bei seiner Beschäftigung im Ge-
gensatz zu einem Arbeitnehmer nicht frei sei. Vielmehr
ist der Strafgefangene gemäß § 41 Abs. 1 Strafvoll-
zugsgesetz zur Arbeitsleistung verpflichtet.

Nun fordern die Linken, dass die bisherige Arbeits-
verpflichtung während des Strafvollzugs in ein „Recht
auf Arbeit“ und „einen individuellen einklagbaren An-
spruch auf einen Arbeitsplatz“ geändert werden solle.
Zudem sollten die Anstalten „eine ausreichende Zahl
von Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen“, und „bei
der Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen Fähigkeiten
und Neigungen der Gefangenen berücksichtigt wer-
den“.

Nach der Föderalismusreform sind für die Regelun-
gen des Strafvollzugs die Länder zuständig. Deshalb
muss ein solcher Antrag nicht im Bundestag, sondern
in den Landtagen eingebracht werden. 2011 haben

Zu Protokoll gegebene Reden





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Berlin, Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpom-
mern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-
Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen einen ge-
meinsamen Entwurf für ein Landesstrafvollzugsgesetz
vorgelegt, das aber in den einzelnen Ländern noch
nicht in Kraft ist.

In § 22 heißt es dort, dass den Gefangenen auf An-
trag oder mit ihrer Zustimmung Arbeit zugewiesen
werden soll. Die Erklärung zu § 22 besagt, dass Arbeit
nach dieser Bestimmung, dem Angleichungsgrundsatz
Rechnung tragend, freiwillig ist. Die Zuweisung einer
Arbeit ermöglicht es den Gefangenen, Geld für die Er-
füllung von Unterhaltsverpflichtungen, den Schul-
denabbau, den Ausgleich der Tatfolgen oder den per-
sönlichen Einkauf zu verdienen.

Auch hinsichtlich der Höhe der Vergütung sei bei ei-
ner nach § 22 zugewiesenen Arbeit zu berücksichtigen,
dass es sich insoweit um freiwillige Arbeit und nicht
um Pflichtarbeit handele. Daher sei eine nichtmone-
täre Komponente entsprechend der Regelung des § 43
Abs. 6 StVollzG nicht mehr vorgesehen, ohne dass sich
daraus ein Anspruch der Gefangenen auf eine höhere
Vergütung als bisher ergebe. Bei der Festsetzung der
Vergütung werde berücksichtigt, dass die Produktivität
der Arbeitsbetriebe in den Anstalten im Vergleich zu
Betrieben in der freien Wirtschaft gering ist.

Die Linken kritisieren weiterhin, dass es an einer
Rechtsgrundlage für das Entstehen einer Versiche-
rungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
fehle; denn § 191 Strafvollzugsgesetz, der die Versi-
cherungspflicht einführe, sei nicht in Kraft gesetzt
worden.

Auch hier gibt es bereits umfangreiche Rechtspre-
chung, die besagt, dass in der Nichtinkraftsetzung der
Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversiche-
rung für Strafgefangene kein Verstoß des Gesetzgebers
gegen Grundrechte oder das Sozialstaatsgebot

(Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz) liege.


Auch ein Verstoß gegen europäisches Recht liegt
nicht vor. Zwar hat der EuGH entschieden, dass eine
Person, die während eines Zeitraums, in dem sie eine
Haftstrafe verbüßte, Beiträge zur Arbeitslosenversi-
cherung entrichtete, ein Arbeitnehmer im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 sei. Diese euro-
parechtliche Definition zwingt aber nicht zu der
Annahme, damit sei entgegen der Entscheidung des
nationalen Gesetzgebers quasi automatisch auch die
Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 1 Satz 1 Nr. 1
SGB VI begründet.

In ihrem Antrag wollen die Linken außerdem sugge-
rieren, dass aufgrund der fehlenden Leistungen zur
Rentenversicherung Strafgefangene in der Regel von
Altersarmut betroffen sind.

Ein solcher zwingender Zusammenhang zwischen
Haftzeiten und Hilfebedürftigkeit im Alter kann nicht
automatisch abgeleitet werden. Weder kann aus der
Verbüßung einer Haftstrafe eine generell niedrigere

Rente noch ein Nichterreichen der Mindestversiche-
rungszeit abgeleitet werden.

„Eine Mindestversicherungszeit“, so der Kommen-
tar von Kreikebohm zu § 50 SGB VI, „beugt Manipula-
tionen zulasten der Solidargemeinschaft vor und
schützt bedingt vor schlechten Risiken“. Dieser Schutz
ist erforderlich, weil die Beitragszahler auch einen
sozialen Ausgleich mitfinanzieren, indem sich zum
Beispiel beitragsfreie Zeiten positiv auf die Renten-
höhe auswirken. Insbesondere bei frühzeitigem Eintritt
eines Leistungsfalles kann die Zurechnungszeit bewir-
ken, dass das Sicherungsziel der Rentenart – die Ge-
währleistung eines Einkommensersatzes über dem
Grundsicherungsniveau – überhaupt zu erreichen ist.
Die gesetzliche Rentenversicherung kann – zu Recht –
nicht den Beitritt von schlechten Risiken zur Versicher-
tengemeinschaft verhindern. Eine Gesundheitsprüfung
findet nicht statt, vielmehr entsteht die Versicherungs-
pflicht kraft Gesetzes.“

Rentenhöhe und Hilfebedürftigkeit im Alter hängen
von vielen verschiedenen Faktoren ab und wirken sich
höchst individuell aus. Es gibt also keinen zwingenden
Grund, Strafgefangene in die Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung einzubeziehen.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1723749400

Die gesellschaftliche Wiedereingliederung ehemali-

ger Strafgefangener ist ein wichtiges gesellschaftli-
ches Thema. Daher tut es tatsächlich not, dass wir uns
hier auch mit der Frage der Sozialversicherungs-
pflicht bzw. dem Sozialversicherungsschutz Strafge-
fangener auseinandersetzen. Insofern begrüße ich den
vorliegenden Antrag.

Allerdings fordern Sie weit mehr, als wir mittragen
können und wollen: Die Einbeziehung in die gesetzli-
che Rentenversicherung. Das soll aufgrund der im
Vollzug geleisteten Arbeit paritätisch beitragspflichtig
und anspruchsbegründend sein – ohne dass geklärt ist,
worauf sich die Beitragsbemessung beziehen soll. Sie
formulieren lediglich eine weitere Forderung nach ei-
ner besseren Bezahlung. Ferner: die Verknüpfung der
Abschaffung der Arbeitspflicht und der Einführung ei-
ner angemessenen Entlohnung mit der Schaffung eines
Rechts auf Arbeit im Strafvollzug; die Ausweitung des
bestehenden Vertrauensschutzes bei der Anerkennung
von versicherungspflichtigen Zeiten bei ehemals in der
DDR Inhaftierten; die Verbindung von Verbesserungen
bei Entschädigungsleistungen für Opfer schwerer Ge-
walttaten mit den Interessen von Strafgefangenen im
vorliegenden Antrag.

Es ist aber nicht sinnvoll, Strafgefangene, während
sie sich in Gewahrsam befinden – auch unter Ableis-
tung von Pflichtarbeit –, in Hinblick auf die spätere
Rente besserzustellen als Bezieher von Arbeitslosen-
geld II, Ersatz- oder Wehrdienstleistende. Des Weite-
ren ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesländer
auch ohne eine Versicherungspflicht bereits heute frei-
willige Beiträge für arbeitende Strafgefangene abfüh-
ren könnten, wenn sie es so beschließen würden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


Gegenwärtig sind Strafgefangene ausdrücklich in

(§ 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB III)

Pflege- und Rentenversicherung. Hier gelten die allge-
meinen Regeln des Sozialversicherungsrechts, wonach
es nach den Vorschriften des SGB IV für eine Versiche-
rungspflicht vor allem an der „Freiwilligkeit“ der Ar-
beitsleistung mangelt. Sogenannte Freigänger, denen
die Unterhaltung eines Arbeitsverhältnisses außerhalb
der Justizvollzugsanstalt erlaubt ist, sind hingegen in
diesem Beschäftigungsverhältnis pflichtversichert.

Arbeitende Strafgefangene werden darauf verwie-
sen, dass sie freiwillige Beiträge leisten können. Das
Bundesverfassungsgericht hatte am 1. Juli 1998 ent-
schieden, dass die fehlende sozialversicherungsrecht-
liche Absicherung verfassungskonform ist. Allein die
Höhe der Entgelte – 5 Prozent der sozialversiche-
rungsrechtlichen Bezugsgröße – entsprach nicht dem
verfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung.
Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgelte daraufhin

(zwischen rund 9 und 14 Euro pro Arbeitstag)

das Bundesverfassungsgericht die Neuregelung im
Jahr 2002 als verfassungsgemäß gebilligt.

Zudem gab es zahlreiche Petitionen zur Aufnahme
von Strafgefangenen in die Sozialversicherung. Von
der 14. bis zur 16. Legislaturperiode sind allein 35 Pe-
titionen an den Deutschen Bundestag gerichtet wor-
den. Derzeit läuft ein weiteres Petitionsverfahren –
eine ältere Leitpetition und weitere Mehrfachpetitio-
nen. Im Augenblick läuft der Abstimmungsprozess in
den Fraktionen.

Gegenwärtig liegt eine Gesetzesinitiative der Lan-

(Landtag Brandenburg Drucksache 5/6437: Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe und der Untersuchungshaft im Land Brandenburg)

Abschaffung der Arbeitspflicht vorsieht. Ein Automa-
tismus in Bezug auf die Integration in die Sozialversi-
cherung wäre damit aber noch nicht in Gang gesetzt.

Wie Sie auch in Ihrem Antrag rekapitulieren, wurde
im Jahr 1976 das Strafvollzugsgesetz, StVollzG, verab-
schiedet. Das Gesetz sah auch die Einbeziehung arbei-
tender Strafgefangener in die Kranken- sowie die Ren-
tenversicherung vor. Die §§ 190 bis 193 des StVollzG
enthielten die entsprechenden Vorschriften, die nach
§ 198 Abs. 3 durch ein weiteres Bundesgesetz in Kraft
gesetzt werden sollten. Zugleich sollten auch die Ar-
beitsentgelte erhöht werden. Dieses besondere Gesetz
ist bis jetzt nicht ergangen.

Seit der Föderalismusreform liegen die Zuständig-
keiten für den Strafvollzug zwar bei den Ländern, der
Bund bleibt aber weiterhin für die Sozialversicherung
verantwortlich. Die jeweiligen Bundesregierungen ha-
ben in der Vergangenheit zwar die Einbeziehung Straf-
gefangener in die Sozialversicherung als sinnvoll er-
achtet, die aufgeschobene Inkraftsetzung wird vor

allem dem Widerstand der Bundesländer und deren fi-
nanziellen Vorbehalten zugeschrieben.

Im Zusammenhang mit einer Anfrage des Grund-
rechtekomitees, einer Organisation, die sich unter an-
derem mit der Frage der Einhaltung der Grund- und
Menschenrechte Strafgefangener beschäftigt, zur Ein-
beziehung Gefangener in die gesetzliche Rentenversi-
cherung habe ich die Bundesregierung in zwei schrift-

(Bundestagsdrucksache 17/6712)

einen sollte geklärt werden, ob die Bundesregierung
diese Problematik in dem sogenannten Rentendialog
aufgreifen wird und wie sie dazu steht, die Arbeitszei-
ten von Strafgefangenen als Anrechnungszeiten in der
gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. In ih-
rer Antwort hat die Bundesregierung die Einbeziehung
in den Rentendialog verneint und auch den Vorschlag
zur rentenrechtlichen Anerkennung abgelehnt. Be-
gründet hat sie ihre Ablehnung mit den Kosten für die
Solidargemeinschaft der Beitragszahler, die nicht zu
rechtfertigen seien. Dabei hat die Bundesregierung in
ihrer Antwort aber die Höhe des finanziellen Aufwands
nicht angegeben. Die Bundesregierung sieht die Bun-
desländer in der Pflicht, einer Änderung zuzustimmen.
Eine Mehrheit für eine solche Position bei den Bundes-
ländern sieht sie aber wegen der weiterhin angespann-
ten Haushaltssituation nicht.

Dabei können die niedrigen Entgelte für die Pflicht-
arbeit, auch wenn sie in Zukunft etwas steigen, kaum
einen nennenswerten Beitrag zum Aufbau einer exis-
tenzsichernden Rente leisten. Anrechnungszeiten kön-
nen bei entsprechenden Vorleistungen im Einzelfall so-
gar zu höheren Ansprüchen führen als Beitragszeiten.

Das Argument einer zu starken finanziellen Belas-
tung der Solidargemeinschaft erweist sich bei Betrach-
tung der Wirkungen von Anrechnungszeiten als unan-
gebracht. Denn allein durch den Strafvollzug würde
kein Rentenanspruch erstmalig begründet. Lediglich
ein bereits erworbener würde aufrechterhalten, zum
Beispiel auf eine Erwerbsminderungsrente, bzw. in Zu-
kunft wirksam werden, wenn der Versicherte vor oder
nach dem Vollzug weiter versicherungspflichtig war
oder wird.

Darüber hinaus fordern Sie von der Linken, den
Krankenversicherungsschutz und die Einbeziehung in
die Pflegeversicherung sicherzustellen. Dabei ist aber
weniger an den Betroffenen selbst als an dessen Ange-
hörige zu denken. Der Gefangene erhält während des
Vollzugs Leistungen der Gesundheitsfürsorge. Fami-
lienversicherte Angehörige können bzw. müssen im
Einzelfall jedoch Leistungen der Sozialhilfe in An-
spruch nehmen, um ihren Krankenversicherungsschutz
aufrecht zu halten. Hier sehen wir noch Klärungsbe-
darf zur Situation in den einzelnen Bundesländern.

Die SPD verfolgt das Ziel, in Zukunft alle Erwerbs-
tätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzube-
ziehen. Dies könnte über kurz oder lang bedeuten, dass
auch Menschen in besonderen Erwerbssituationen

Zu Protokoll gegebene Reden





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


– dies beträfe dann auch Strafgefangene – integriert
würden. Bis dahin sind aber noch einige Fragen zu
klären. Letztendlich können die Länder bei Fragen der
Entlohnung aber auch immer auf die finanziellen Be-
lastungen durch die allgemeinen und individuellen
Unterhaltskosten im Vollzug verweisen. Insofern wäre
die Anerkennung dieser Zeiten als Anrechnungszeiten
eine gute Lösung, um den Interessen der Strafgefange-
nen für eine bessere Alterssicherung gerecht zu wer-
den.

Es wäre schön gewesen, hätte sich die Fraktion Die
Linke allein auf den Themenkomplex des Sozialversi-
cherungsschutzes konzentriert. So werden nun zwar
zusammenhängende, aber doch sehr unterschiedliche
Probleme in Ihrem Antrag miteinander vermischt, aber
längst nicht ausführlich genug abgehandelt:

Arbeit ist ohne jeden Zweifel wichtig für die Reso-
zialisierung Strafgefangener. Aber die Abschaffung
der Arbeitspflicht zu fordern, ist das eine; zugleich
aber auch ein Recht auf Arbeit für Strafgefangene ver-
ankern zu wollen, lässt Ratlosigkeit auch bei Wohlwol-
lenden zurück. Das Recht auf Arbeit beschreibt nach
Art. 12 unseres Grundgesetz das Recht, bei freier Be-
rufswahl und Sicherung der menschlichen Würde ar-
beiten zu können. Dies beinhaltet aber keinen indivi-
duellen Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Den kann es
daher auch für Strafgefangene nicht geben. Eine freie
Berufswahl ist schon allein aus Gründen, die im Cha-
rakter des Vollzugs liegen, unmöglich. Die Vollzugsan-
stalten sind bemüht, sinnvolle Beschäftigungsmöglich-
keiten bereitzustellen, letztendlich haben sie aber
heute schon Schwierigkeiten, allen Gefangenen etwas
anzubieten, weil die Nachfrage die vorhandenen Ar-
beitsmöglichkeiten übersteigt.

Sie haben eine finanzielle Opferentschädigung über
einen Härtefonds für Opfer von schweren Gewalttaten
in ihren Forderungskatalog mit aufgenommen. Halten
Sie es für taktvoll und angemessen gegenüber den Be-
troffenen, die Sache der Strafgefangenen mit dem der
Opferentschädigung in einem Antrag abzuhandeln?
Sicherlich ist es richtig, Strafgefangene für angetanes
Leid auch in die finanzielle Pflicht zu nehmen, wie Sie
es mit der Änderung der Pfändungsvorschriften beab-
sichtigen. Aber die Einrichtung eines Härtefonds hätte
sicherlich eine eigenständige Behandlung verdient. Es
erscheint mir unangemessen und löst Befremden aus,
die Interessen der Opfer mit denen der ehemaligen Tä-
ter gemeinsam zu behandeln.

Kurz und gut: Obwohl wir Ihre Initiative zur Inte-
gration Strafgefangener in die Sozialversicherung als
richtig erachten, wäre es dem Antrag zustatten gekom-
men, hätten Sie sich ausschließlich mit diesem Kernthema
auseinandergesetzt. Dies hätte dann auch einen Er-
kenntnisgewinn für uns bedeuten können. Stattdessen
haben Sie thematische Verknüpfungen vorgenommen,
die der Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens nicht dienlich
sind.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1723749500

Zum wiederholten Male bringt die Fraktion der Lin-

ken das Thema aufs Tableau. Das ist zwar lobenswert,
ändert aber nichts an der grundsätzlichen Problema-
tik. Ich möchte sie Ihnen gerne noch einmal darlegen.

Zur inhaltlichen Diskrepanz:

Versicherungspflichtig in der gesetzlichen Renten-
versicherung sind gemäß SGB VI unter anderem Per-
sonen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Ein
solches Beschäftigungsverhältnis kann nach Recht-
sprechung des Bundessozialgerichts nur angenommen
werden, wenn man die Arbeit freiwillig macht.

Die Arbeitsleistung von Gefangenen hingegen wird
aufgrund eines sogenannten öffentlich-rechtlichen Ge-
wahrsamsverhältnisses erbracht, sodass ein freies Be-
schäftigungsverhältnis nicht vorliegt. Nach geltendem
Recht unterliegen Strafgefangene somit während einer
Tätigkeit im Rahmen des Strafvollzugs nicht der Versi-
cherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung. Für diese Zeiten werden folglich auch keine Bei-
träge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt.

Das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 enthält
zwar schon Regelungen über eine grundsätzliche Ein-
beziehung der Strafgefangenen in die Rentenversiche-
rungspflicht, es hat jedoch in § 198 das Inkrafttreten
der vorgesehenen Regelungen einem besonderen Bun-
desgesetz vorbehalten.

Und hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel: Dass
aus dem Vorhaben bislang nichts wurde, beruht im We-
sentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundeslän-
der, die die Beiträge zur Sozialversicherungsleistung
übernehmen müssten. Die Gesetzgebungskompetenz
für den Strafvollzug ist im Wege der Föderalismusre-
form auf die Länder übertragen worden. Nur der
Bundesgesetzgeber kann jedoch Festlegungen zu den
Personengruppen treffen, die von den sozialen Versi-
cherungssystemen erfasst sind.

Dass Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversi-
cherung aufgenommen werden, war bereits in der 14.
und 15. Wahlperiode des Deutschen Bundestages
Thema im Petitionsausschuss. Seinerzeit hat der Aus-
schuss keine Möglichkeit gesehen, dieses Anliegen auf
Bundesebene zu unterstützen, und daher empfohlen,
das damalige Petitionsverfahren abzuschließen. Der
Deutsche Bundestag ist dieser Empfehlung gefolgt.
Der Petitionsausschuss hat jedoch wegen der erfor-
derlichen Zustimmung der Bundesländer zu einem ent-
sprechenden besonderen Bundesgesetz im Sinne des
§ 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes zwei Petitionen
den Landesparlamenten zugeleitet.

Im Wege einer erneuten parlamentarischen Prüfung
in der 16. Wahlperiode vertrat der Petitionsausschuss
in seiner Beschlussempfehlung die Meinung, dass bei
künftigen Gesetzgebungsverfahren zur Rentenversi-
cherung das Anliegen mit einbezogen werden sollte.
Dieser Vorschlag wurde dann im Bundesministerium
für Arbeit und Soziales zwar geprüft, jedoch konnte

Zu Protokoll gegebene Reden





Miriam Gruß


(A) (C)



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eine entsprechende Regelung als Gesetzesinitiative der
Bundesregierung nicht in Aussicht gestellt werden, da
mit wenig Erfolg zu rechnen gewesen wäre.

Die Vorbehalte der Bundesländer gegen die Auf-
nahme von Strafgefangenen in die Kranken- und Ren-
tenversicherung bestehen unverändert fort. Die Haus-
haltssituation der Bundesländer hat sich nicht in der
Weise verändert, dass eine erneute Initiative der Bun-
desregierung Aussicht auf Erfolg hätte. Die Bundesre-
gierung hält die Einbeziehung von Strafgefangenen in
die gesetzliche Rentenversicherung zwar weiterhin für
sinnvoll, hat jedoch keinerlei Möglichkeiten, die um-
fassende Einbeziehung in die Sozialversicherung auf
anderem Wege sicherzustellen.

Es können somit allein die Bundesländer eine Ände-
rung der bestehenden Rechtslage herbeiführen, indem
sie eine Einbeziehung von Strafgefangenen in die So-
zialversicherung initiieren. Nach derzeitigem Kennt-
nisstand besteht jedoch bei der Mehrheit der Bundes-
länder aus den eingangs geschilderten finanziellen
Gründen weiterhin keine Neigung, einem Bundesge-
setz im Sinne des § 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgeset-
zes zuzustimmen bzw. eine entsprechende Gesetzesini-
tiative im Bundesrat zu ergreifen.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723749600

Bereits vor 35 Jahren hat die Politik das Verspre-

chen gegeben, dass Gefangene im Rahmen einer
grundlegenden Gesamtreform des Strafvollzugswesens
in die Sozialversicherungen einbezogen werden. Bis-
her gilt dies lediglich für die Unfall- und Arbeitslosen-
versicherung. Die Linke will die Wiedereingliederung
von Gefangenen fördern und fordert daher, sie in die
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einzubezie-
hen. Mit dem Verweis auf die finanziellen Vorbehalte
der Länder und auf die für sie anfallenden Kosten
durch Sozialversicherungsbeiträge verweigert sich die
Bundesregierung, initiativ zu werden. Das Sozial-
staatsprinzip und Gebot der Resozialisierung von Ge-
fangenen darf aber nicht unter Kostenvorbehalt ge-
stellt werden.

Die heutigen Regelungen stellen eindeutig eine dop-
pelte Bestrafung dar, die nicht rechtens ist. Denn durch
die Nichteinbeziehung in die Sozialversicherungssys-
teme entstehen den Gefangenen langfristig schwere
Nachteile, indem sie etwa Vorversicherungszeiten und
Wartezeiten verfehlen oder ihren Anspruch auf Er-
werbsminderungsrente verlieren.

Gefangene sind deshalb nicht in Sozialversicherun-
gen einbezogen, weil bisher die Freiwilligkeit als das
Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung gilt. Strafgefangene und Sicherungsver-
wahrte unterliegen jedoch einer gesetzlichen Arbeits-
pflicht. Wir fordern die vollständige Abschaffung der
Arbeitspflicht und diese in ein individuelles und ein-
klagbares Recht auf einen Arbeitsplatz umzuwandeln.
Die meisten Gefangenen wollen nämlich arbeiten.

Es existiert zwar der Musterentwurf eines Gesetzes
von zehn Ländern, der die Abschaffung der Arbeits-
pflicht vorsieht. Doch als einziges Bundesland steht
Brandenburg mit seiner rot-roten Regierung auch vor
der tatsächlichen Umsetzung dieses Entwurfs.

Dass die von Gefangenen geleistete Arbeit derzeit
nicht bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pfle-
geversicherung berücksichtigt wird, hat verheerende
Auswirkungen auf die Zeit nach der Haftentlassung.
Die entstandenen Versicherungslücken führen zu sehr
niedrigen Altersrenten, und sogar die Mitgliedschaft in
der Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rent-
ner ist keineswegs garantiert. Ansprüche auf Leistun-
gen der gesetzlichen Pflegeversicherung oder auch auf
Erwerbsminderungsrente können nur bei Einhaltung
bestimmter Vor- bzw. Mindestversicherungszeiten gel-
tend gemacht werden.

Wir Linken schlagen deshalb vor, für die Dauer des
Freiheitsentzugs eine eigenständige rentenrechtliche
Zeit einzuführen. Bei der 35-jährigen Wartezeit muss
die Zeit des Strafvollzugs voll berücksichtigt werden.
Für ehemals in der DDR Inhaftierte galten Arbeitsein-
sätze als versicherungspflichtige Zeiten. Diese Rege-
lung lief jedoch am 31. Dezember 1996 aus. Für die
Zeit nach 1996 wollen wir eine vertrauensschutzwah-
rende Regelung schaffen.

Strukturierte und ausgefüllte Arbeitstage, entspre-
chend der Fähigkeiten und Neigungen der Gefange-
nen, sind für einen echten Resozialisierungsprozess
unabdingbar. Die Länder müssen daher dazu angehal-
ten werden, neue Arbeitsplätze im Strafgefangenen-
vollzug zu schaffen. Die geleistete Arbeit muss zudem
paritätisch beitragspflichtig und anspruchsbegrün-
dend werden. Dies soll neben der Verbesserung der
Resozialisierungsbedingungen insbesondere den Op-
fern der Straftäterinnen und Straftäter zugutekommen.

Wir fordern darum, die bisherigen Pfändungsvor-
schriften derart zu gestalten, dass zunächst die Opfer
der Straftaten mit ihren Entschädigungsansprüchen
privilegiert werden. Dazu ist ebenso die derzeitige
Entlohnung der Gefangenen von durchschnittlich
1,50 Euro pro Stunde deutlich anzuheben.

Im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Straftäterin-
nen und Straftäter kann nur ein Härtefallfonds für
Opfer schwerer Gewalttaten Abhilfe schaffen. Die Ge-
setzgebungskompetenz liegt hier ausdrücklich beim
Bund. Dafür muss im nächsten Haushaltsgesetz unbe-
dingt ein Haushaltstitel in angemessener Höhe ein-
gestellt werden. Die Wahrung der Opferrechte ist un-
mittelbar mit der Wahrung der Straftäterinnen- und
Straftäterrechte verknüpft.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723749700

Es zählt zu den Grundsätzen des Sozialstaats, dass

der Staat „für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund
ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert
sind“, Vor- und Fürsorge trägt. Ganz im Geiste dieser
sozialen Verantwortung des Staates für seine Bürger

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


wurde 1976 eine Änderung des Strafvollzugsgesetzes
beschlossen. Sie sah vor, die Arbeit von Inhaftierten
neu zu bewerten. Nach den Vorstellungen des Gesetz-
gebers sollte die Arbeitspflicht im Strafvollzug zukünf-
tig nicht – mehr – als Strafe gelten, sondern die beruf-
liche Integration der Strafgefangenen fördern und sie
darin unterstützen, sich nach Verbüßung der Haftzeit
eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen.
Als wesentliche Punkte dieser Neubewertung waren
zum einen eine bessere Vergütung vorgesehen, die der-
jenigen in Freiheit vergleichbar sein sollte; zum ande-
ren sollten die arbeitenden Häftlinge umfassend in die
Sozialversicherung einbezogen werden. Dieser Be-
schluss wurde 1976 gefasst; allerdings ist keiner der
beiden Punkte bislang umgesetzt. Damals wie heute
erhalten Strafgefangene und Sicherungsverwahrte ei-
nen Minimallohn von wöchentlich 100 Euro. Und da-
mals wie heute sind Strafgefangene und Sicherungs-
verwahrte trotz Erwerbsarbeit weder kranken-, pflege-
noch rentenversichert.

Dass ein entsprechendes Bundesgesetz bislang
nicht zustande kam, ist dem Widerstand der Länder ge-
schuldet. Im Bundesrat wurde die Einbeziehung der
Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung
mit Verweis auf die finanziellen Belastungen der Län-
derhaushalte, die als Träger des Strafvollzugs die Bei-
träge anteilig übernehmen müssten, abgelehnt. Die
Kosten, die auf die Länder für eine Einbeziehung von
Strafgefangenen in die Rentenversicherung zukämen,
würden sich auf jährlich 160 Millionen Euro belaufen.
Noch einmal 100 Millionen Euro fielen jährlich für
eine angemessene Entlohnungshöhe an – eine ver-
gleichsweise geringe Summe, stellt man ihr die Kosten
gegenüber, die dadurch entstehen, dass viele ehema-
lige Häftlinge – vor allem diejenigen mit langen Haft-
zeiten – mit dem Eintritt ins Rentenalter auf Leistun-
gen aus den Sozialkassen angewiesen sind.

Abgesehen davon, dass die Blockadehaltung der
Länder eine finanzielle Milchmädchenrechnung ist,
bedeutet der seit 37 Jahren währende Ausschluss von
Strafgefangenen aus der gesetzlichen Renten-, Kran-
ken- und Pflegeversicherung vor allem eine Bankrott-
erklärung an das Sozialstaatsprinzip. Ihr Ausschluss
widerspricht der staatlichen Vor- und Fürsorgepflicht.

Indem Gefangene für ihre Arbeit, die sie als Pflicht-
arbeit in Eigenbetrieben der Strafvollzugsanstalten
oder assoziierten Unternehmen leisten, weder ange-
messen entlohnt noch sozial abgesichert werden, ist
das Verbüßen einer Freiheitsstrafe nicht allein ein
Freiheitsentzug für einen bestimmten Zeitraum, son-
dern straft die Betroffenen auch über ihren Haftaufent-
halt hinaus.

Damit widerspricht die Praxis zwei eisernen
Grundsätzen des Strafvollzugs: erstens dem Gebot,
dass eine Haftstrafe über die eigentliche Haftdauer hi-
naus keine negativen Folgen für die Betroffenen haben
darf. Greift man allein die fehlende Einbindung in die
Rentenversicherung heraus, so wird deutlich, dass ge-

nau das aber der Fall ist. Da während der Zeit der
Strafhaft keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenver-
sicherung gezahlt werden und diese Zeit auch nicht als
Berücksichtigungs-, Anrechnungs- oder Zurechnungs-
zeit gilt, führt die Haft trotz Heranziehung zur Arbeit
dazu, dass Teile der Lebensarbeitszeit für die Alters-
vorsorge entfallen. Neben Einbußen bei der Renten-
höhe scheitern Rentenansprüche so auch an der Nicht-
erfüllung von Wartezeiten. Durch den Ausschluss aus
der Rentenversicherung kann die Anwartschaft auf
eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit we-
gen der Nichterfüllung der besonderen versicherungs-
rechtlichen Voraussetzungen verloren gehen.

Zweitens steht der Umgang mit den Inhaftierten im
Widerspruch zum Grundsatz der Resozialisierung. Wir
wissen um die Bedeutung der Arbeit für Kriminalprä-
vention, Straffälligkeit und Resozialisierung. Die Wert-
schätzung, die Strafgefangene für ihre Arbeit erfahren,
ist wichtig. Allerdings erschwert es die geringe Entloh-
nung, Schulden zu tilgen, Angehörigen Unterhalt zu
leisten oder Rechtstitel der Opfer zu begleichen. Die
Schuldenlast, die viele Strafgefangene drückt, kann
während der Haftzeit kaum gemindert werden, und
das, obwohl Schuldenfreiheit die Chancen für ein Le-
ben ohne Straftaten deutlich erhöht.

Ein echter Neuanfang ist – insbesondere nach län-
gerer Haft – ohnehin schwer. Wer das Ziel der Resozia-
lisierung von Strafgefangenen wirklich ernst nimmt,
der sollte ihnen die Möglichkeit geben, während der
Haftzeit „reinen Tisch“ zu machen – und zwar auch in
finanzieller Hinsicht –, um eine realistische Aussicht
auf gelingende Rückkehr in die Gesellschaft zu haben.

Noch ein Wort zum Sozialstaatsprinzip, mit dem ich
meinen Redebeitrag eingeleitet habe: Hinter ihm steht
das politische Bekenntnis, jedem Einzelnen den Status
als Bürger zuzugestehen. Der Ausschluss von Strafge-
fangenen und Sicherheitsverwahrten fällt hinter diesen
Grundsatz zurück. Die Linke betont in ihrem Antrag
die Wiedereingliederung von Strafgefangenen und Si-
cherungsverwahrten; das unterstützen wir Grünen. Al-
lerdings hat die Einbeziehung von Strafgefangenen in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung noch
eine andere, man könnte sagen, symbolische Dimen-
sion. Es geht um die Integration in die soziale Siche-
rung, und zwar als vollwertige Bürger, unabhängig da-
von, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind
oder nicht. Unstrittig ist, dass Rechtsverstöße strafbe-
wehrt verfolgt werden müssen und dass – wo dies mög-
lich ist – ein Ausgleich zwischen Tätern und Opfern
erfolgen muss. Unstrittig ist aber auch, dass Rechts-
verstöße keine Ungleichbehandlung rechtfertigen, wie
sie derzeit – und, ich betone das noch einmal, seit in-
zwischen 37 Jahren – betrieben wird.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723749800

Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-

che 17/13103 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstan-
den? – Dann haben wir so beschlossen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



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Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Katja Kipping, Sabine Zimmermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei den
Jobcentern erhöhen
– Drucksache 17/7844 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1723749900

Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch ist ein lernendes

System. Dies hat sich erst vor wenigen Tagen wieder
gezeigt, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Fach-
leute aus ganz Deutschland zu einem Symposium zur
Anwendung des SGB II eingeladen hatte. Wir haben
aus diesem Gespräch eine Fülle von Anregungen für
unsere Arbeit mitgenommen. Aber, um es vorwegzu-
nehmen: Vorschläge, wie sie die Fraktion Die Linke
heute in ihrem Antrag präsentiert, hat uns dort nie-
mand unterbreitet.

Dabei ist der Überschrift des Antrags nicht einmal
zu widersprechen. Nichts ist so gut, als dass es nicht
auch noch besser werden könnte. Insofern räume ich
durchaus ein, dass bei der Wirksamkeit der Beiräte bei
den Jobcentern bisweilen noch Spielraum nach oben
sein könnte. Ich will an der Stelle aber auch vorab
schon sagen, dass viele Jobcenter mit den Beiräten
sehr gut zusammenarbeiten und die dort vorhandene
Expertise zugunsten ihrer Kunden nutzen.

Wie gesagt, die Überschrift des Antrags ist ganz
vernünftig, aber das war es dann auch schon. Wenn
man sich die Vorschläge im Einzelnen ansieht, stünde
am Ende der Umsetzung dann wohl die vollständige
Ausgliederung der Einzelfallbearbeitung im Jobcenter
in deren örtliche Beiräte. Wer auch nur ein bisschen
Ahnung von Verwaltung hat, kann sich ausmalen, was
das in der Praxis bedeutet. Das Ganze soll dann auch
noch in öffentlicher Sitzung beraten werden. Was das
mit dem Ziel der Effizienzsteigerung zu tun haben soll,
erschließt sich mir beim besten Willen nicht.

Ich komme nochmals auf die eingangs zitierte An-
hörung zu sprechen. Da gab es auch kritische Unter-
töne, dass bisweilen die Kooperation mit den Beiräten
nur formal sei. Wir wurden aber gleichzeitig und fast
schon händeringend gebeten, das SGB II nicht zu
übersteuern. Daraus folgt für mich: Wenn es einen
Optimierungsbedarf zwischen Jobcenter und Beirat
geben sollte, dann müssen sich dem die Akteure vor
Ort zuwenden. Diesem Anliegen können sich beispiels-
weise die Kreistage widmen, wenn ihnen über die
Arbeit des Jobcenters berichtet wird. Der Bund ist als
Gesetzgeber wichtig; er sollte aber gerade dort, wo es
um originäre kommunale Zuständigkeiten geht, einse-

hen, dass auch im vorliegenden Fall der Leitsatz gilt:
In der Beschränktheit zeigt sich der Meister.

Insofern kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
diesem Antrag der Linkspartei nicht folgen.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1723750000

Unsere erste und vorrangigste Aufgabe ist es, den

erwerbsfähigen Hilfebedürftigen vor Ort durch Unter-
stützung und Förderung eine Brücke in den Arbeits-
markt zu bauen. Dazu ist in dezentraler Verantwortung
ein individuelles und passgenaues Fallmanagement
erforderlich. Denn der Gesetzgeber kann nur die Rah-
menbedingungen setzen; die eigentliche Arbeit wartet
vor Ort im Rahmen der Gestaltung der örtlichen Ar-
beitsmarktpolitik. Gefordert sind also in erster Linie
die Träger der Grundsicherung, die Jobcenter, die Be-
teiligten des örtlichen Arbeitsmarktes und eben auch
die örtlichen Beiräte. Der Sachverstand aller wird be-
nötigt, um die bestmöglichen Lösungen für die betrof-
fenen arbeitslosen Menschen zu finden und zu nutzen.

Dabei bilden die gesetzlich verankerten örtlichen
Beiräte die Schnittstelle zwischen der öffentlichen Ver-
waltung in den Jobcentern und der Umsetzung und Er-
bringung der erforderlichen Maßnahmen durch die
Arbeitsmarktdienstleister. Sie beraten das Jobcenter
und die verantwortlichen Träger und geben Impulse.
Ziel ist es, die Erfahrung und das Wissen der Akteure
vor Ort bei der Auswahl von Eingliederungsmaßnah-
men zu nutzen.

Seit dem 1. Januar 2011 ist verbindlich vorgesehen,
dass jedes Jobcenter, egal ob gemeinsame Einrichtung
oder Optionskommune, einen örtlichen Beirat einrich-
tet. Damit hat der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck
gebracht: Die Nutzung der Kompetenzen der Partner
des Arbeitsmarkts sollen aktiv genutzt und in die tägli-
che Arbeit der Jobcenter eingebunden sein. Die Bei-
räte werden gebraucht, sie können überall einen akti-
ven fördernden Part bei der Zielerreichung spielen.
Das ist zugleich Teil der Philosophie der Jobcenterre-
form, mit der wir die lokalen Strukturen und die dezen-
trale Verantwortung gestärkt haben.

Aufgabe der Beiräte ist allerdings lediglich die Be-
ratung der Jobcenter. Es geht nicht darum, Entschei-
dungen für die Jobcenter zu treffen. In diese Richtung
zielt erkennbar der Antrag der Fraktion Die Linke. Die
Beiräte sollen verbindlich mitbestimmen; sie sind bei
ablehnenden Widersprüchen anzuhören; ihnen soll
Akteneinsicht gewährt werden. Das geht aber weit
über die Aufgabenbefugnisse hinaus, die den Beiräten
zukommen soll. Ein verbindlicher Einfluss der örtli-
chen Beiräte, eine Entscheidungskompetenz oder ein
Vetorecht sind einfachgesetzlich und auch verfas-
sungsrechtlich ausgeschlossen.

§ 18 d SGB II spricht deshalb mit guten Gründen
von der beratenden Funktion des örtlichen Beirats.
Das geht natürlich nur, wenn die Jobcenter gegenüber
den örtlichen Beiräten transparent handeln. Nur im
ehrlichen und offenen Dialog können gute und nach-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


haltige Ergebnisse erzielt werden. Je engagierter die
örtlichen Beiräte auftreten, nachfragen und sich ein-
bringen, desto stärker können positive Impulse von
den verantwortlichen Stellen gehört und umgesetzt
werden. Die Beiräte sind nicht Placebo, nicht Beiwerk
oder Kulisse; sie sind wichtig, notwendig und eine Ein-
flussgröße von besonderem Wert. Alle Beteiligten vor
Ort sind aufgefordert, darauf zu achten und dieser
Funktion in den wesentlichen Entscheidungsprozessen
zur Geltung zu verhelfen.

Eine andere Frage ist, die Wirksamkeit der örtli-
chen Beiräte auf die Arbeit der Jobcenter zu prüfen.
Kommen die Beiräte ihrer Funktion nach? Welchen
Einfluss haben sie auf die Entscheidung der Jobcen-
ter? Welche Gestaltungsspielräume stehen ihnen dazu
zur Verfügung? Die Bundesregierung hat dazu Anfang
März 2013 in ihrer Antwort auf eine entsprechende
parlamentarische Anfrage der Linken ausgeführt, dass
sie derzeit keinen Bedarf sieht, ein Forschungsvorha-
ben zur Rolle und Wirkungsweise der örtlichen Beiräte
umzusetzen. Ich teile diese Einschätzung. Ich halte es
für einen großen Erfolg, dass innerhalb kurzer Zeit fast
überall Beiräte eingerichtet worden sind. Jetzt sollten
wir die Beiräte erst einmal in Ruhe arbeiten lassen. An
mich sind bislang auch keine diesbezüglichen Klagen
herangetragen worden. Nach meinen Erkenntnissen
stehen die Linken mit ihrer Forderung auch ziemlich
allein. Eine Erweiterung der Kompetenzen der Bei-
räte, wie sie die Antragsteller fordern, lehne ich jeden-
falls ab. Die heutige Gespensterdebatte könnten wir
uns getrost sparen.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1723750100

Die Beiräte in den Jobcentern sind ein wichtiger

Partner vor Ort, wenn es darum geht, lokal erfolgrei-
che Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Ihrem ehrenamt-
lichen Engagement sollten wir alle Anerkennung und
Dank zollen.

Und die Kenntnisse und Erfahrungen der örtlichen
Arbeitsmarktakteure sind zudem eine große Bereiche-
rung für die Arbeit der Trägerversammlung und der
Geschäftsführung. Sie bringen sich ein und tragen mit
dafür Sorge, dass die Eingliederungsleistungen im
Sinne der arbeitsuchenden Menschen vor Ort gestaltet
werden.

Die rigide Kürzungspolitik dieser schwarz-gelben
Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik stellt die
Arbeitsuchenden, die Jobcenter und die Träger vor
große Herausforderungen. Daher ist es umso wichti-
ger – vor dem Hintergrund dieser verschärften Bedin-
gungen –, das Wissen der Arbeitnehmer- und Arbeit-
gebervertreter, der Kammern und berufsständischen
Organisationen sowie der Freien Wohlfahrtpflege mit
einzubinden. Das war immer unser Anspruch!

Deshalb ist es auch gut und richtig, dass seit dem
1. Januar 2011 die örtlichen Beiräte nach § 18 d SGB II
in allen Jobcentern verpflichtend sind. Dafür haben
wir uns in den Beratungen zur Jobcenterreform einge-

setzt. Die Einrichtung der Beiräte lief etwas holprig,
und in vielen Regionen musste sich das vertrauens-
volle und reibungslose Zusammenspiel zwischen dem
Beirat, der Trägerversammlung und der Geschäftsfüh-
rung erst entwickeln.

Wir schauen in den meisten Regionen unseres Lan-
des also auf gut zwei Jahre Arbeit von Beiräten zurück.
Die Fraktion Die Linke hat den Antrag bereits im
November 2011 eingebracht und wollte zu diesem Zeit-
punkt schon erkannt haben, dass die Arbeit der Beiräte
nur ungenügend wirkt. Das ist schon interessant. Vor
allem vor dem Hintergrund, dass Sie uns die Quelle Ih-
rer Erkenntnis verschweigen!

Der Gesetzgeber hat mit den Beiräten ein beraten-
des Gremium geschaffen, welches vor Ort gute fachli-
che Unterstützung leistet. Diesem Anspruch müssen
aber auch die Größe der Beiräte und ihre Zusammen-
setzung, sowie ihr Aufgabenspektrum Rechnung tra-
gen. Denn zu berücksichtigen ist und bleibt, dass die
örtlichen Beiräte ehrenamtlich arbeiten.

Daher müssen die gemachten Vorschläge der Links-
fraktion genau geprüft werden – inwieweit sie mit dem
Anspruch einer wirksamen Arbeit der Beiräte verein-
bar sind. Und dann kommen wir zum Schluss, dass
durch die meisten Forderungen die Wirksamkeit der
Arbeit der örtlichen Beiräte nicht verbessert wird, son-
dern eher verschlechtert wird.

Schauen wir uns exemplarisch den einen oder ande-
ren Vorschlag genauer an. Es wird zum Beispiel gefor-
dert, dem Beirat Akteneinsicht zu gewähren und auf
Verlangen Auskunft zu erteilen. Hier muss erläutert
werden, wie weit sich das Akteneinsichtsrecht erstre-
cken soll. Lediglich datenschutzrechtliche Grenzen zu
ziehen, ist sicherlich zu weitläufig. Für Einzelfallakten
ist dieser Vorschlag gänzlich auszuschließen, und wir
müssen auch Sorge dafür tragen, dass die ohnehin
schon komplexen Verwaltungsabläufe nicht noch kom-
plizierter werden.

Voraussetzung für eine wirksame Arbeit der Beiräte
ist, dass die Jobcenter Transparenz über ihre Arbeit
schaffen. Das heißt, dass sie den örtlichen Beiräten In-
formationen über die Höhe des Eingliederungstitels,
über geplante Maßnahmen und deren Grundlagen
rechtzeitig zur Verfügung stellen. Denn die Intention
des Beirats ist verfehlt, wenn er erst nach Erstellung
des Katalogs der Eingliederungsmaßnahmen und -ins-
trumente eingebunden wird. Sinn macht nur eine früh-
zeitige Beteiligung! Inwieweit das derzeit schon gut
funktioniert oder wo es noch hakt, kann keiner zum jet-
zigen Zeitpunkt sagen.

Ich glaube aber, dass sich die Zusammenarbeit noch
besser einspielen muss. Die Trägerversammlungen so-
wie die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer
müssen die Beiräte als Partner und guten Ratgeber be-
greifen. Doch das lässt sich nicht per Gesetz regeln.

Wovor wir uns auch hüten sollten, es gesetzlich zu
regeln, ist die Einbindung der Beiräte im Wider-

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



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spruchsverfahren der Leistungsbescheide. Wir dürfen
nicht vergessen, dass es von vornherein gewollt war,
dass die örtlichen Beiräte ein ehrenamtliches und be-
ratendes Gremium sind. Und so ist es nach unserer
Auffassung auch richtig. Eine Einbindung in das
Widerspruchsverfahren würde die Arbeit der Beiräte
nicht wirksamer werden lassen, sondern zum Erliegen
bringen. Richtig ist, dass dem Sozialrecht eine Beteili-
gung Dritter im Widerspruchsverfahren nicht fremd
ist. Aber der Beirat ist hier definitiv die falsche
Adresse – zumal wir dann auch wieder bei den Einzel-
fallakten und den datenschutzrechtlichen Regeln wä-
ren. Wenn man in diese Richtung was machen will,
dann sollte man eher über neutrale Ombudsstellen
nachdenken.

Die Frage, wer in den Beiräten sitzt und wer
Mitglieder entsenden darf, war im Vorfeld der zum
1. Januar 2011 eingeführten Änderungen schon
Thema. Die derzeitige Regelung ist in unseren Augen
ausreichend und begrenzt die Beiräte somit auch auf
eine arbeitsfähige Größe. Eine weitere Ausdehnung
des Gremiums werden wir daher nicht unterstützen.

Was wir aber unterstützen, ist die engere Einbin-
dung der örtlichen Beiräte im Einsatzfeld der öffent-
lich geförderten Beschäftigung. In unserem Antrag
zum sozialen Arbeitsmarkt haben wir das schon unter-
strichen. Wir wollen, dass die Sozialpartner ein ord-
nungspolitisches Vetorecht bekommen – und zwar für
die im Arbeitsmarktprogramm dargelegten Konzepte
für sozialversicherungspflichtige öffentlich geförderte
Beschäftigung. Diese intensive Einbindung hat näm-
lich ihren besonderen Reiz. Zum einen ist der lokale
Konsens in einem sozialen Arbeitsmarkt unabdingbar.
Zum anderen können somit auch Vorurteile abgebaut
werden. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Kon-
sens mit dem Jobcenter die Instrumente und Maßnah-
men besprechen, kann den permanenten Vorwürfen
– öffentlich geförderte Beschäftigung verdrängt regu-
läre Arbeitsplätze und sei nur schlecht bezahlt – entge-
gengewirkt werden.

Jedoch kann die Befugnis des Beirats als bera-
tendes Gremium nur bei einem ordnungspolitischen
Vetorecht liegen. Das haben wir in unserem Antrag
zum sozialen Arbeitsmarkt auch hinreichend begrün-
det.

An diesem Punkt würden wir die Rechte der örtli-
chen Beiräte stärken wollen. Inwieweit die beratende
Tätigkeit, wie in Punkt 1 gefordert, noch ausgeweitet
werden soll, muss in der weiteren Diskussion geklärt
werden. Es kann durchaus Sinn machen, die Beiräte in
einzelnen Punkten beratend mit hinzuzuziehen. Eine
generelle Ausweitung auf alle Leistungen ist aber zu
weitgehend, und wird durch uns nicht unterstützt.

Im Großen und Ganzen können wir über die Anre-
gungen aus diesem Antrag diskutieren. Schlussendlich
haben wir hier aber ein Thema, zu dem es derzeit kein
fundiertes und belastbares Material gibt. Es ist einfach
zu früh, über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit

der Beiräte zu Schlussfolgerungen im Sinne dieses
Antrags zu kommen.

Wir wissen zudem, dass die Hans-Böckler-Stiftung
gerade an einem Forschungsprojekt zu genau diesem
Thema arbeitet. Das Projektteam untersucht die Ge-
staltungsspielräume und die Durchsetzungskraft der
Beiräte. Lassen Sie uns doch einfach erst einmal
abwarten, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen! Mitte
2014 soll das Forschungsprojekt abgeschlossen sein.
Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. Und davon ausge-
hend lohnt sich dann auch eine intensivere Betrach-
tung der Arbeit der Beiräte in den Jobcentern.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1723750200

Mit der Neuorganisation der Aufgabenwahrneh-

mung im Bereich des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
hat diese christlich-liberale Regierungskoalition die
Bildung von Beiräten bei den Jobcentern gesetzlich
verankert. Im Zuge der Reform der arbeitsmarktpoliti-
schen Instrumente haben wir die örtlichen Beiräte wei-
ter gestärkt. Sie können daran erkennen, dass dieser
Regierungskoalition viel an der Arbeit der örtlichen
Beiräte liegt.

Unsere Zielrichtung bei der Jobcenterreform war
es, den Prozess des lokalen Zusammenarbeitens der
entscheidenden Akteure vor Ort zu stärken. Dabei ist
auch klar, dass, je engagierter die örtlichen Beiräte
auftreten, nachfragen und sich einbringen, desto stär-
ker positive Impulse von den verantwortlichen Stellen
gehört und umgesetzt werden können.

Als Politik haben wir das Signal gesetzt, dass die
Beiräte wichtig sind und ihren Einfluss geltend ma-
chen sollen. Sie dienen nicht als Feigenblatt, sondern
sollen konkret mitsprechen und beraten.

Gerade uns als Liberalen war es ein Anliegen, bei
der Entscheidung über den Einsatz von Arbeitsgele-
genheiten nach §16 d SGB II die örtlichen Beiräte mit
Befugnissen auszustatten. Sie haben jetzt eine bera-
tende Funktion beim Einsatz dieses arbeitsmarktpoliti-
schen Instruments.

Gerade bei der Bewertung der Einhaltung der Kri-
terien öffentliches Interesse, Wettbewerbsneutralität
und Zusätzlichkeit setzen wir auf das Wissen der loka-
len Arbeitsmarktakteure vor Ort. Diese können die
Einsatzfelder viel besser ausmachen und definieren,
als es aus der Ferne einzuschätzen wäre.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr An-
trag ist für mich ein Beispiel dafür, dass gut gemeint
das Gegenteil von gut gemacht ist. Wenn man Ihren
Antrag liest, dann klingt das alles sehr schlüssig und
unterstützenswert. Ich möchte nicht verhehlen, dass
auch wir gerade im Zuge der Reform der arbeitsmarkt-
politischen Instrumente darüber nachgedacht hatten,
die örtlichen Beiräte mit noch weiter gehenden Kom-
petenzen auszustatten.

Im Rahmen der Beratung des damaligen Gesetzent-
wurfs haben wir uns mit Fachleuten unterhalten, die

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


uns aus einem einfachen Grund davon abgeraten ha-
ben. Ein verbindlicher Einfluss der örtlichen Beiräte,
eine Entscheidungskompetenz oder ein Vetorecht sind
einfachgesetzlich und vor allem auch verfassungs-
rechtlich ausgeschlossen.

Durch das Urteil vom 20. Dezember 2007 zu den
Arbeitsgemeinschaften als Gemeinschaftseinrichtung
von Bundesagentur für Arbeit und kommunalen
Trägern hat das Bundesverfassungsgericht dem Ge-
setzgeber den Auftrag gegeben, dafür zu sorgen, dass
transparente und eindeutige Entscheidungs- und Auf-
sichtsstrukturen geschaffen werden. Dies sei ein zwin-
gendes Gebot des Demokratieprinzips; denn für jeden
Bürger müsse klar nachvollziehbar sein, welche staat-
liche Stelle für eine Entscheidung tatsächlich verant-
wortlich ist.

Daher ist die Übertragung von verbindlichen Ent-
scheidungsmöglichkeiten auf die örtlichen Beiräte
nicht möglich. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit der örtli-
chen Beiräte so wertvoll, dass wir sie weiterhin unter-
stützen wollen, auch wenn es keine verbindlichen
Entscheidungen der Beiräte geben kann.

Für uns ist wichtig, dass lokale Arbeitsmarktpolitik
akzeptiert ist. Hierfür ist es notwendig, dass keine
Arbeitsplätze verdrängt werden. Uns ist wichtig, dass
jeder eine Chance bekommen kann. Dies darf aber
nicht zulasten der bisherigen Arbeitnehmer gehen. Ge-
rade dies kann der Rat der örtlichen Beiräte bewerk-
stelligen.

Es ist das Ziel dieser christlich-liberalen Regie-
rungskoalition, die lokalen Arbeitsmarktakteure stär-
ker an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteili-
gen. Denn vor Ort liegt das Wissen über die regionalen
Gegebenheiten des Arbeitsmarktes. Unter anderem
aus diesem Grund haben wir uns ja auch für die Ent-
fristung und Ausweitung der Optionskommunen einge-
setzt. Und auch aus diesem Grund sind wir gegen ein-
heitliche staatlich festgesetzte Mindestlöhne. Vor Ort
muss entschieden werden, welche Lösungen es jeweils
braucht.

Wir bekennen uns zu den örtlichen Beiräten; der
Antrag der Linken ist jedoch nicht praktikabel.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1723750300

Mit dem Gesetz über die Neuorganisation der

Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde die Ein-
richtung von örtlichen Beiräten bei Jobcentern festge-
schrieben. Der neu in das Zweite Buch Sozialgesetz-
buch, SGB II, aufgenommene § 18 d schreibt die
Bildung von Beiräten bei allen Jobcentern der gemein-
samen Einrichtungen und den zugelassenen kommuna-
len Trägern verpflichtend vor; das heißt, Beiräte müs-
sen überall gebildet werden.

Dies stellt zwar gegenüber der alten Gesetzeslage
einerseits einen Fortschritt dar, aber andererseits be-
inhaltet die Neuregelung auch einen Rückschritt. Posi-
tiv ist, dass es nun nicht mehr im Belieben eines Land-
rates oder Bürgermeisters oder einer kommunalen

Vertretung liegt, ob ein Beirat eingerichtet wird. Er
kann auch nicht einfach wieder abgeschafft werden.
Beides war leider in der Vergangenheit vielfach der
Fall. Insofern ist die verbindliche Einführung von Job-
centerbeiräten grundsätzlich zu begrüßen. Sie bedeu-
tete auch eine Aufwertung der Beiräte.

Negativ ist allerdings, dass die Beiräte die Träger-
versammlung und die Jobcenter nur noch in Fragen
der Auswahl und der Gestaltung der Eingliederungs-
instrumente und -maßnahmen beraten können. Dies ist
ein Rückschritt. Denn bis zur Neuregelung konnten
sich die Beiräte mit allen Fragen des SGB II befassen.
So haben sie sich zum Beispiel auch mit der Wider-
spruchs- oder Sanktionspraxis der Jobcenter befasst.
Das ist jetzt nicht mehr machbar, da die Bundesregie-
rung diese Möglichkeit per Gesetz ausgeschlossen hat.

Zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Regelung
wird deutlich, dass die Beiräte sehr oft nur eine Alibi-
funktion haben. Ihre Einflussnahme ist begrenzt bzw.
auch nicht gewollt. Nicht nur aus einer Kommune ist
mir bekannt, dass, obwohl die Trägerversammlung per
Gesetz zur Zusammenarbeit mit dem Beirat verpflich-
tet ist, seine Empfehlungen gar nicht erst zur Kenntnis
genommen werden. Einen Rücklauf, wie mit den Emp-
fehlungen des Beirats umgegangen wurde, gibt es
nicht. Das ist nicht nur demotivierend für viele, die
sich ehrenamtlich in den Beiräten engagieren. Das ist
auch eine Pflichtverletzung der Trägerversammlung.

Ich weiß, wovon ich rede, da unsere Fraktion seit
nunmehr sechs Jahren regelmäßig Erfahrungsaustau-
sche mit Mitgliedern von Beiräten durchführt. Die in
unserem Antrag unterbreiteten Vorschläge zur Erhö-
hung der Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte ist ein Er-
gebnis dieser regelmäßigen Treffen.

Die Beiratsmitglieder wollen ihr Aufgabenfeld
selbst bestimmen und eine Zusammenarbeit mit dem
Jobcenter und der Trägerversammlung auf gleicher
Augenhöhe. Sie sind der Auffassung, dass sie ihre be-
ratende Rolle erst richtig wahrnehmen können, wenn
die Beiräte auch über entsprechende Kompetenzen
verfügen. So sollten sich die Beiräte mit allen grund-
sätzlichen Fragen, die im Zusammenhang mit Leistun-
gen, die für Betroffene im Rahmen des SGB II erbracht
werden, befassen und hierzu Empfehlungen an die Trä-
gerversammlung und die Jobcenter aussprechen kön-
nen.

Wichtig ist auch, dass die örtlichen Beiräte über die
Einsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung ver-
bindlich mitbestimmen. Hier sollten sie nicht nur bera-
tend tätig sein, um Missbrauch und Fehlsteuerungen
entgegenwirken zu können.

Es ist heute bereits in einigen Kommunen Praxis,
dass Trägerversammlungen per Vereinbarung den Bei-
räten weitere Aufgaben übertragen. Diese Möglichkeit
sollte allen eröffnet werden. Auf diese Weise kann den
unterschiedlichen Gegebenheiten des jeweiligen örtli-
chen Arbeitsmarktes und den daraus erwachsenden
Anforderungen an Auswahl und Gestaltung der Ein-

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)


gliederungsinstrumente besser Rechnung getragen
werden.

Weiterhin schlagen wir vor, dass sich die Beiräte mit
strittigen Widerspruchsbescheiden befassen können, um
Klageverfahren zu verhindern. Eine Beteiligung Dritter
im Widerspruchsverfahren ist dem SGB nicht fremd. Für
die Sozialhilfe bestimmt § 116 Abs. 2 SGB XII, dass so-
zial erfahrene Dritte vor dem Erlass des Bescheides
über den Widerspruch gegen die Ablehnung der Sozi-
alhilfe oder die Festsetzung ihrer Art und Höhe bera-
tend zu beteiligen sind. Die Einbringung dieser Erfah-
rung in das Verfahren soll unter anderem eine erhöhte
„Richtigkeitsgewähr“ für die jeweils zu treffende
Maßnahme bewirken, und zwar im öffentlichen Inte-
resse wie im Interesse des von dieser Maßnahme be-
troffenen Einzelnen.

In der Begründung zur verbindlichen und flächen-
deckenden Einrichtung von Beiräten wurde darauf
verwiesen, dass durch die Arbeit des Beirats für alle
Beteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes Transparenz
über das Gesamtpaket der aktiven Leistungen herge-
stellt wird. Die Linke ist der Auffassung, dass dieser
Anspruch nur erfüllt werden kann, wenn die Beirats-
mitglieder den Zugang zu Informationen zu allen zum
Aufgabenbereich eines Beirats gehörenden Angele-
genheiten haben. Insofern fordern wir ein Aktenein-
sichtsrecht für alle Mitglieder des Beirats und eine
Auskunftspflicht der Geschäftsführung des Jobcenters
gegenüber den Mitgliedern des Beirats. Dies würde
zugleich zu einer Zusammenarbeit auf gleicher Augen-
höhe beitragen. Zu beachten sind allerdings etwaig
entgegenstehende datenschutzrechtliche Regelungen.

In Zukunft sollten die Mitglieder eines Beirats nicht
mehr über die Trägerversammlung berufen werden.
Kommunale Vertretungen und SGB-II-Beziehende bzw.
deren Interessenvertretungen sowie die übrigen Betei-
ligten des örtlichen Arbeitsmarktes, insbesondere Ge-
werkschaften und Arbeitgebervertretungen, die Indus-
trie- und Handelskammer, die Handwerkskammern
sowie die Liga der freien Wohlfahrtspflege, sollen ihre
Vertreterinnen und Vertreter selbst bestimmen. Da-
durch wird sichergestellt, dass alle gesellschaftlich re-
levanten Belange berücksichtigt werden.

Soweit zu unseren Vorschlägen. Die Linke ist der
Auffassung, dass deren Umsetzung zu einem anderen
Verständnis und zu einer echten Aufwertung der Arbeit
der Beiräte im Interesse der Betroffenen führen kann.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1723750400

Wir brauchen starke Jobcenter, und dazu gehören

auch stark besetzte und gut eingebundene Beiräte. Wer
kann besser die örtlichen Problemlagen einschätzen
als die Beteiligten des lokalen Arbeitsmarktes selbst?
Wer kann besser den Einsatz von Eingliederungsmaß-
nahmen bewerten als diejenigen, die breite Erfahrung
haben mit den verschiedenen Instrumenten? Wer kann
besser bei der Gestaltung der Maßnahmen beraten als
diejenigen, die wissen, wo es Lücken und Defizite gibt,
aber auch sagen können, was bereits gut funktioniert?

In den Beiräten sitzen idealerweise genau diejeni-
gen zusammen, die die Gegebenheiten vor Ort am bes-
ten kennen und einschätzen können. Dazu gehören die
Vertreter von Kommunen und Gemeinden, der freien
Wohlfahrtspflege, von Arbeitgebern, Gewerkschaften,
Wirtschaftsverbänden und Kammern. Aber immer wie-
der wird die Arbeit der Beiräte nicht ernst genommen
oder gar missachtet. Die Arbeitsmarktakteure dürfen
sich dann in den Beiräten zwar austauschen und ihre
Meinung kundtun, wirklich eingebunden werden sie
aber nicht.

Beispielhaft dafür steht die Situation in Leipzig. Die
dortigen Grünen mussten erst ein Rederecht des Job-
centerbeirats in der Trägerversammlung beantragen
und im Stadtrat durchsetzen – um den Widerstand der
Verwaltung dagegen aufbrechen zu können. Partner-
schaftliche Zusammenarbeit stelle ich mir anders vor.

Die Beiräte sind nicht als Plauderrunden gedacht.
Dort sitzt wichtige lokale Expertise. Es muss daher
überall eine echte und transparente Kultur der Zusam-
menarbeit zwischen den Jobcentern und den Beiräten
entstehen. Nur dann können Impulse in der Arbeits-
marktpolitik gesetzt werden, nur dann kann die Arbeit
der Jobcenter begleitet und reflektiert werden, nur
dann entstehen dringend notwendige Kooperationen
zwischen der Arbeitsverwaltung und den arbeitsmarkt-
politischen Akteuren der Region. Nur so kann den
Herausforderungen am Arbeitsmarkt wirksam begeg-
net werden. Und Sie alle wissen, wie groß die Pro-
bleme am Arbeitsmarkt nach wie vor sind.

Die lösen wir nicht mit starren 08/15-Programmen,
sondern nur mit flexibel gestaltbaren Maßnahmen, die
an die Erfordernisse vor Ort angepasst werden kön-
nen. Dafür wollen wir die Rahmenbedingungen schaf-
fen. Herr Keller vom Deutschen Landkreistag hat es in
einer öffentlichen Anhörung zum Thema „Sozialer Ar-
beitsmarkt“ auf den Punkt gebracht. Er erinnerte da-
ran, dass der Gesetzgeber nicht der erste Sachbearbei-
ter ist! Der vielfältigen und heterogenen Wirklichkeit
wird man mit kleinteiligen gesetzlichen Regelungen
kaum gerecht werden können. Stattdessen wollen wir
die lokalen Entscheidungsspielräume ausweiten und
die Möglichkeit für flexible Lösungen schaffen. Lokale
Spielräume erfordern Know-how vor Ort, und das ist
in den Beiräten vorhanden.

Wie das genutzt werden kann, zeigt beispielhaft un-
ser grünes Konzept für einen sozialen Arbeitsmarkt.
Wir wollen, dass an die Stelle starrer und oft realitäts-
ferner gesetzlicher Vorgaben und Kriterien ein lokaler
Konsens tritt. Den Konsens schmieden müssen die re-
levanten Arbeitsmarktakteure vor Ort. Sie stimmen in
Kenntnis der örtlichen Lage den Arbeitsverhältnissen
im sozialen Arbeitsmarkt zu, die wir grundsätzlich für
alle Arbeitgeber öffnen wollen. Auf Kriterien wie Zu-
sätzlichkeit, Wettbewerbsneutralität und öffentliches
Interesse, wie sie zurzeit bei öffentlich geförderter Be-
schäftigung bestehen – sie haben sich nicht bewährt –,
kann so verzichtet werden. Der lokale Konsens mit den
Arbeitsmarktpartnern gewährleistet eine praxisnahe

Zu Protokoll gegebene Reden





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


und abgestimmte Handhabung vor Ort. Diese Form
der Beteiligung der Arbeitsmarktakteure vor Ort sollte
noch viel häufiger genutzt werden.

Wir wollen die lokale Ebene im Sinne einer flexiblen
Arbeitsmarktpolitik stärken, und dazu gehören selbstver-
ständlich auch die Akteure in den Beiräten. Allerdings
sehen wir nicht, dass die Beiräte zur Widerspruchsbe-
arbeitungsstelle werden sollten. Hier schlagen wir
stattdessen die Einrichtung unabhängiger Ombuds-
stellen in den Jobcentern vor, die bei Konflikten ein-
geschaltet werden sollen. Dadurch können unter-
schiedliche Auffassungen und Vorstellungen zwischen
Arbeitsuchenden und Jobcenter in einem frühen Sta-
dium bearbeitet und gelöst und Klagen vermieden wer-
den.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1723750500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/7844 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. April 2013, 9 Uhr,
ein.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.

Die Sitzung ist geschlossen.