Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sieherzlich. Ich freue mich, dass wir uns nach zwei bemer-kenswerten Fußballgala-Abenden
nun mit gefestigter Motivation unseren ähnlich glanzvol-len parlamentarischen Geschäften widmen können. Wirfangen auch ganz vorsichtig und besonders fröhlich undfreundlich an, indem wir der Kollegin Marie-Luise Döttund der Kollegin Annette Sawade gratulieren, die inden zurückliegenden Tagen jeweils ihren 60. Geburtstaggefeiert haben. Alle guten Wünsche für die nächstenJahre!
Für den verstorbenen Kollegen Ottmar Schreiner hatdie Kollegin Astrid Klug erneut die Mitgliedschaft imDeutschen Bundestag erworben. Ich darf Sie im Namendes ganzen Hauses herzlich begrüßen und wünsche unsfür die verbleibende Zeit eine gute Zusammenarbeit.
Dann müssen wir noch eine Wahl von Mitgliedern desBeirats beim Bundesbeauftragten für die Unterlagendes Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDRgemäß § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes durchführen.Die SPD-Fraktion schlägt vor, für den turnusmäßig aus-scheidenden Herrn Markus Meckel den KollegenSiegmund Ehrmann sowie für eine weitere AmtszeitHerrn Professor Dr. Richard Schröder als Mitgliederdes Beirats zu berufen. Stimmen Sie dem zu? – Das istoffensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen Ehrmannund Professor Schröder in den Beirat nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz gewählt.Darüber hinaus müssen wir noch eine Schriftführer-wahl durchführen. Die Fraktion Die Linke schlägt vor,für die Kollegin Ingrid Remmers die Kollegin SabineLeidig als Schriftführer zu wählen.
– Ich komme auch fast ins Grübeln, ob das Amt jetzt wö-chentlich neu besetzt werden soll.
– Mit dieser feierlichen Bekräftigung vonseiten der un-mittelbar zuständigen Fraktion nehme ich dann diesenVorschlag als offenkundig einvernehmlich so zu Proto-koll. Damit ist die Kollegin Leidig als neue Schriftführe-rin gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN:Große Vermögen durch Neuverhandlung desdeutsch-schweizerischen Steuerabkommens so-wie durch eine Vermögensabgabe heranziehen
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten AndreaWicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, WolfgangTiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDBessere Politik für einen starken Mittelstand –Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,Rahmenbedingungen verbessern– Drucksache 17/13224 –ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 45a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinGriese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNationales Reformprogramm 2013 und Natio-naler Sozialbericht 2013– Drucksache 17/13195 –
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29652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür eine Neuorientierung im Umgang mit Ge-walt und Organisierter Kriminalität in Me-xiko und Zentralamerika – Sicherheitsabkom-men unter dem Primat der Menschenrechtegestalten– Drucksache 17/13237 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-zes– Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,17/13190 –Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van EssenZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPRechtsextremismus entschlossen bekämpfen– Drucksache 17/13225 –ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKENPD verbieten– Drucksache 17/13231 –ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENRechtsextremismus umfassend bekämpfen– Drucksache 17/13240 –ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDFür eine umfassende Debatte zum ThemaKampfdrohnen– Drucksache 17/13192 –ZP 9 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEStraffreiheit bei Steuerhinterziehung durchSelbstanzeige abschaffen– Drucksache 17/13241 –Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 8 und 13 werden getauscht.Die Redezeit für den Tagesordnungspunkt 8 beträgt nun-mehr 30 Minuten, so wir denn nicht vor Beginn dessel-ben anderes beschließen. Für den Tagesordnungs-punkt 13 sind jetzt 45 Minuten vorgesehen.Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 5 b abgesetztwerden.Schließlich mache ich Sie noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 18. April 2013 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehr dem Haus-haltsauschuss zusätzlich nach § 96 derGeschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen wer-den:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Beseitigung sozialer Überforderungbei Beitragsschulden in der Krankenversiche-rung– Drucksache 17/13079 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOSind Sie damit einverstanden? – Auch das ist der Fall.Dann ist das so beschlossen.Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 esowie den Zusatzpunkt 2 auf:3 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, ThomasBareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
, Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDPStabilität, Wachstum, Fortschritt – Den star-ken deutschen Mittelstand weiter zukunftsfestmachen– Drucksache 17/12700 –b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht über den Erfolg der Programme zurTechnologieförderung im Mittelstand in derlaufenden Legislaturperiode, insbesondereüber die Entwicklung des Zentralen Innova-tionsprogramms Mittelstand– Drucksache 17/12771 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29653
Präsident Dr. Norbert Lammert
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c) Beratung der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der Abgeordneten AndreaWicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, DorisBarnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDSituation des Mittelstands– Drucksachen 17/9655, 17/12245 –d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten KarlHolmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten OliverLuksic, Patrick Döring, Petra Müller ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPÖffentlich-Private Partnerschaften – Poten-tiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlichgestalten und Transparenz erhöhen– zu dem Antrag der Abgeordneten GarreltDuin, Michael Groß, Klaus Brandner, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDFür einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf-fentlich-Private Partnerschaften differen-ziert bewerten, mit mehr Transparenz wei-terentwickeln und den Fokus auf dieWirtschaftlichkeit stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Dr. Konstantin von Notz, WinfriedHermann, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTransparenz in Public Private Partnershipsim Verkehrswesen– Drucksachen 17/12696, 17/9726, 17/5258,17/13155 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhold SendkerMichael Große) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Haushaltsausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,Katrin Kunert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKERekommunalisierung beschleunigen – Öffent-lich-Private Partnerschaften stoppen– Drucksachen 17/5776, 17/6515 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerOtto FrickeRoland ClausTobias LindnerZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten AndreaWicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter, WolfgangTiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDBessere Politik für einen starken Mittelstand –Fachkräfte sichern, Innovationen fördern,Rahmenbedingungen verbessern– Drucksache 17/13224 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Frak-tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat-tieren über Mittelstandspolitik, ein besonders wichtigesThema. Ich vermisse den Kanzlerkandidaten der SPD,Herrn Steinbrück; aber vielleicht hat er auch Problememit seiner Politik für den Mittelstand.
Vor wenigen Jahren waren wir der kranke MannEuropas. „Sick man of Europe“ war das geflügelte Wort.Damals war Rot-Grün an der Regierung und hat die Re-gierungspolitik gestaltet. Wir hatten 5 Millionen Ar-beitslose und Jahre lähmender Rezession.
Heute ist die Einschätzung eine andere. Heute findetman „Modell Deutschland“ auf dem Titel des Economistund anderer internationaler Zeitungen. Deutschland isterfolgreicher als alle anderen Länder aus der Krise he-rausgekommen. Die internationalen Beobachter habenein Schlüsselwort dafür – sie haben kein eigenes Wort,sondern nur ein Lehnwort –, nämlich „German Mittel-stand“. Der Mittelstand ist also eine der Schlüsselgrößendafür, wie wir aus der Krise herausgekommen sind undwie erfolgreich wir Politik betrieben haben.
Mittelstand ist nicht irgendeine Betriebsordnung, Mit-telstand ist eine Geisteshaltung, ist eine eigene Richtung,ist eine eigene Gedankenwelt. Da wird in Generationen,nicht in Quartalen gedacht. Viele dieser Mittelständlersind Hidden Champions in ihrem Bereich, also Welt-marktführer. Manche in Deutschland träumen von einpaar gewerkschaftsdominierten Aktiengesellschaftenplus Millionen kleiner Ich-AGs.
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Rainer Brüderle
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Das ist nicht mein ökonomisches Weltbild; das will ichauch nicht haben. Ich will eine starke Mitte.Die Entwicklung ist geprägt durch ein – wie es imAusland dargestellt wird – neues deutsches Wirtschafts-wunder. Wir haben 42 Millionen Arbeitsplätze inDeutschland. So viele gab es noch nie.
Das ist ein Beschäftigungswunder. Wir haben ein Ex-portwunder: Exporte in Höhe von gut 1 Billion Euro; dassind über 1 000 Milliarden Euro. Und die Ausländerkaufen unsere Produkte freiwillig, weil sie gut sind. Dasist keine Zwangsabnahme. Wir haben ein Wohlstands-wunder: seit drei Jahren steigende Reallöhne.Es sind die fleißigen Menschen im Land, dynamischeUnternehmen, die dies erreicht haben, aber auch diechristlich-liberale Politik.
Wir haben die Weichen richtig gestellt.
Wir haben auf Entlastung gesetzt. Wir haben das Wachs-tum beschleunigt. Wir haben die Rentenbeiträge und da-mit Lohnzusatzkosten gesenkt. Wir haben die Renten er-höht. Wir haben die Praxisgebühr abgeschafft. Wirhaben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Mittelstandbei der Erbschaftsteuer entlastet und 13 Milliarden Eurozusätzlich in Bildung und Forschung gesteckt, ohne denStaatshaushalt aufzublähen. Das ist erfolgreiche Politikauch für den deutschen Mittelstand. Das sind die Rah-menbedingungen.
Die Staatsquote ist auf 45 Prozent gesenkt worden. Un-ser Ziel ist es, auf 40 Prozent herunterzukommen. So-zialsysteme haben Überschüsse statt Defizite, und wirhaben im Haushalt die schwarze Null auf den Weg ge-bracht, erreicht.
Christlich-liberale Politik hat den Staat fit gemacht.Rot-grüne Politik will den Staat fett und träge machen.
Für den Kollegen Trittin ist die Staatsquote nur eine Re-cheneinheit, wie er sagt. Ihm ist egal, ob sie 40 Prozent,45 Prozent, 60 Prozent beträgt. Das ist eben das fatal fal-sche Denken. Das macht den Mittelstand kaputt.
Sie wollen die Wirtschaft abwürgen: mit der Erhöhungder Erbschaftsteuer, mit der Erhöhung der Einkommen-steuer, mit der Wiedereinführung der Vermögensteuer.
Ich habe mir das Gutachten der SPD-Finanzministergenau angeschaut und habe es auch dabei. Das Gutach-ten ist die Blaupause für die Wiedereinführung der Ver-mögensteuer. Das trifft 160 000 Unternehmen inDeutschland. Das sind 160 000 Unternehmen zu viel, diedavon betroffen werden.
Wenn in jedem Unternehmen dadurch nur ein Arbeits-platz verloren geht, erreicht die Zahl, die wir an Arbeits-plätzen verlieren, eine Größenordnung, die der Einwoh-nerzahl einer Stadt wie Potsdam entspricht. Deshalb istIhre Politik falsch.Sie wollen die Einkommensteuer erhöhen. Für Sie istoffenbar nicht klar, dass für viele Mittelständler die Ein-kommensteuer die Unternehmensteuer ist, dass für vieleHandwerker die Einkommensteuer die Unternehmen-steuer ist, dass für viele Selbstständige und Freiberuflerdie Einkommensteuer die Unternehmensteuer ist, dassfür viele Landwirte die Einkommensteuer die Unterneh-mensteuer ist. Mit Ihrer Politik der Einkommensteuer-erhöhung und auch mit der Erhöhung des Spitzensteuer-satzes treffen Sie diese Bereiche des Mittelstands insMark.
Hinzu kommt die Erhöhung der Abgeltungsteuer, derMehrwertsteuer, der Erbschaftsteuer. Rot-Grün würdedie deutschen Steuerzahler, wenn Rot-Grün die Mehrheitbekäme, mit 30 bis 40 Milliarden Euro zusätzlich be-lasten – und das bei Rekordsteuereinnahmen von über600 Milliarden Euro. Das ist absolut falsche Politik.Frau Andreae und andere Grüne laufen auch Sturmgegen die Vermögensteuerpläne der eigenen Partei. Siewarnen vor der Substanzbesteuerung, die der Möchte-gern-Finanzminister Jürgen „Bilderberg“ Trittin einfüh-ren will. Aber Herr Trittin hat noch ein zusätzlichesKonzept: eine Vermögensabgabe von 100 MilliardenEuro obendrauf, also Abgabe plus Wiedereinführung derVermögensteuer. Das alles geht nicht ohne Einbeziehungder Betriebsvermögen; es wäre sonst auch verfassungs-widrig. Herr Trittin hat kürzlich sogar erklärt, die Ver-mögensabgabe rückwirkend einziehen zu wollen.
Auch das halte ich für einen Verfassungsbruch. Das isteine grottenfalsche Politik, die den Mittelstand voll trifft.
Man liest im Spiegel, dass Herr Trittin bei internenSitzungen rumgebrüllt habe und gewarnt habe vor dem,was sich politisch abzeichne. Das zeigt: Er ist nervös.Die Grünen selber merken: Rot-Grün schwimmen dieFelle davon. – Rot-Grün kann sich keiner leisten undwill sich auch keiner leisten. Der aufziehende Wahl-kampf muss deshalb mit aller Härte und Deutlichkeit ge-führt werden, damit der Mittelstand eine faire Chancehat.
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Rainer Brüderle
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Wir schlagen in unserem Antrag 20 Punkte vor, damitder Mittelstand in Deutschland weiter gute Chancen hat:Wir wollen die kalte Progression abbauen. Wir wollenBasel III – –
– Weil der Bundesrat mit Ihnen dabei, also Rot-Rot-Grün, blockiert.
Es ist doch immer das Gleiche. Fällt den Sozis etwas ein,muss es eine neue Steuer sein. Wer ist mit dabei? Diegrüne Partei. – Das ist die Gefechtslage in Deutschland.
– Ja, schreien Sie nur rum! Die Bürger werden entschei-den,
ob eine vernünftige Politik fortgesetzt wird oder irrerGulasch gemacht wird, also Ihr Rückmarsch in die Vor-stellungen von vorgestern stattfindet.
Lassen Sie doch den Karl Marx in seinem Museum!Kommen Sie doch nicht wieder mit den alten Klamottenheraus!
Sie müssen doch mal was dazulernen! Das ist ja Mu-seumspolitik, was Sie betreiben!
Meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutsch-land klare Weichenstellungen. Wir brauchen mehr rich-tige Ingenieure und weniger rot-rot-grüne Sozialinge-nieure.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lassen Sie uns jetzt ausnahmsweise mal über Mit-telstandspolitik reden! Diese dampfplaudernden Redennützen dem Mittelstand überhaupt nichts, Herr Brüderle.
Ich finde, Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Siehier morgens Karnevalsreden halten, längst von derRealität mittelständischer Unternehmen verabschiedet.
Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstandist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Das wird verschie-dentlich von allen Parteien so beschrieben. Aber klar istauch, dass der deutsche Mittelstand von dieser Bundes-regierung in den letzten Jahren vernachlässigt wurde. Erist gleichwohl erfolgreich. Wenn Sie es mir nicht glau-ben, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, was der neuePräsident des Deutschen Industrie- und Handelskammer-tages Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat – mit Ver-laub, ich darf es zitieren –:Auch wenn wir derzeit gut dastehen: Zu wenig Re-formen und Innovationen dürfen wir uns nicht leis-ten, sonst ist unser Vorsprung schnell weg.Wenn Sie uns nicht glauben und Herrn Schweitzernicht glauben, der ja aus der FDP ausgetreten ist, HerrBrüderle, dann glauben Sie bitte dem Institut der deut-schen Wirtschaft – keine Vorfeldorganisation der SPD –,das dieser Bundesregierung ins Stammbuch schreibt,dass sie nur von Entscheidungen von Vorgängerregie-rungen, vom Mut zu Strukturreformen aus rot-grünerZeit profitiert und diesen Vorsprung durch das Chaosschwarz-gelber Politik aufbraucht.
– Übrigens: August Bebel war ein Handwerksmeister.Sie haben ja gar keine Ahnung von Geschichte; das ha-ben Sie verschiedentlich bewiesen.Ich sage Ihnen: Das einzig gute Schwarz-Gelb wargestern Abend Dortmund.
Aber das, was Sie für den Mittelstand leisten, ist tatsäch-lich nichts, für das Sie sich rühmen können.Wie ist die Situation in Deutschland? Der BDI, derBundesverband der Deutschen Industrie, der auch mit-telständische Unternehmen vertritt, beklagt einen massi-ven Verfall der öffentlichen Infrastruktur im Land. DerNord-Ostsee-Kanal muss gesperrt werden, weil dieseBundesregierung mit Herrn Ramsauer zu wenig in dieInfrastruktur, auch in die wirtschaftsnahe Infrastruktur indiesem Land investiert. Das ist die Wirklichkeit. Auto-bahnbrücken müssen gesperrt werden, weil Sie nicht inder Lage sind, die notwendigen Investitionen zu schul-tern. Das schadet der Wirtschaft, auch dem Mittelstandin Deutschland.
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Hubertus Heil
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Meine Damen und Herren, hier muss ich Ihre dünnenAnträge zum Thema Mittelstandspolitik lesen und dieseoberflächlichen Reden von Herrn Brüderle anhören.Sprechen Sie einmal mit real existierenden Mittelständ-lern in Deutschland – mit Handwerksmeistern, mit Fa-milienunternehmern, mit einer freien Selbstständigen,mit einer Existenzgründerin –, dann stellen Sie fest:Diese haben ganz andere Sorgen als das, was Sie hier andie Wand malen. Sie haben ganz konkrete Ansprüche.Der Unterschied zwischen Ihrer Bundesregierung unddem guten deutschen Mittelstand ist: Im guten deutschenMittelstand gibt es Unternehmer, die etwas unterneh-men. Sie sind eine Regierung, die etwas unterlässt.
Nun zu unseren Anträgen und zu unseren Vorschlä-gen. In genau vier Bereichen sagen wir sehr konkret, waswir unter einer ambitionierten, einer zukunftsgerichtetenMittelstandspolitik in Deutschland verstehen.
Erstens. Was kann und muss getan werden für qualifi-zierte Fachkräfte in diesem Land? Zu diesem wichtigenThema haben Sie keinen Satz gesagt. Es sind vor allenDingen die kleinen und mittelständischen Unternehmen,Herr Brüderle, die unter Fachkräftemangel leiden wer-den. Die großen Konzerne können sich Personalrekrutie-rungen leisten. Die kleinen und mittelständischen Unter-nehmen nicht. Deshalb muss etwas getan werden, damitFrauen und Männer in diesem Land arbeiten können, da-mit sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen, das Ar-beitsvolumen von Frauen in diesem Land tatsächlichentfalten kann. Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeitvon Beruf und Familie statt Ihres idiotischen Betreu-ungsgeldes. Das trägt zur Fachkräftesicherung bei.
Wir müssen jungen Menschen eine Chance geben.60 000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr dieSchule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschenzwischen 20 und 30 Jahren haben keine beruflicheErstausbildung. Das duale System der beruflichenErstausbildung ist unser Standortvorteil. Darum hättesich diese Regierung kümmern müssen. In diesem Be-reich haben Sie nichts getan.
Zweites Thema: Innovationsanreize, Investitionen inForschung und Wissenschaft. Wir haben in Deutschlandeinen hochinnovativen Mittelstand. Aber von der öffent-lichen Forschungsförderung dieser Regierung profitierennur Großunternehmen, kleine und mittelständische Un-ternehmen nicht.
Wo ist eigentlich die steuerliche Forschungsförderunggeblieben, die Sie dem Mittelstand versprochen haben?Wir werden steuerliche Forschungsförderung einführen,damit wir privates Kapital stärker in Forschung und Ent-wicklung gerade im Mittelstand lenken können, damitder Mittelstand davon profitieren kann.
Was tun Sie eigentlich für Existenzgründer? Sie ha-ben den Gründungszuschuss plattgemacht, ein wesentli-ches Instrument für Menschen, die den Mut haben, sichselbstständig zu machen, um mit einer Markteinführungtatsächlich nach vorne zu kommen. Hier haben Sie amfalschen Ende gestrichen. Sie haben nichts getan. Wirwerden etwas tun, zum Beispiel im Bereich der Investi-tionszulagen. Wir brauchen eine Gründerkultur inDeutschland. Die Sozialdemokraten stehen an der Seitederjenigen, die den Mut haben, sich mit guten Konzep-ten selbstständig zu machen, aber im Moment von Ihnensträflich vernachlässigt werden. Sie bekommen am Ka-pitalmarkt oft nicht die nötige Unterstützung. Deshalbwerden wir in diesem Bereich handeln.
Drittens. Die wirtschaftsnahe Infrastruktur. Ich habeschon über Verkehrswege gesprochen. Wir müssen abergenauso über die Frage der Breitbandinfrastruktur in die-sem Land sprechen. Gerade für kleine und mittelständi-sche Unternehmen, die es oft auch im ländlichen Raumgibt, ist die Tatsache, dass Sie beim Ausbau des schnel-len Internets nicht von der Stelle gekommen sind, mitt-lerweile zum Standortnachteil geworden. Bei allem Ju-bel über unsere Stärke müssen wir feststellen, dassDeutschland gegenüber anderen Ländern beim schnellenInternet zurückgefallen sind. Wer ist zuständig? Ihre Re-gierung. Wer hat nichts getan? Ihre Regierung. WarmeWorte, Herr Brüderle, solche Reden, wie Sie sie hier hal-ten, schaffen keinen Arbeitsplatz. Sie befriedigen mit Ih-rer Art und Weise vielleicht einige in Ihren Reihen, abersie nützen der deutschen Wirtschaft nichts. Im BereichBreitband haben Sie nichts getan.
Zum Bereich der Energiepolitik haben Sie auch kei-nen Satz verloren. Gerade der Mittelstand in Deutsch-land leidet unter Ihrem energiepolitischen Chaos. Sie ha-ben Planungs- und Investitionssicherheit in Deutschlandzerstört. Sie belasten Unternehmen mit immer höherenStrompreisen. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Siehaben nichts getan, um in den letzten vier Jahren eineneue Ordnung am Strommarkt durchzusetzen. In diesemBereich werden wir viel aufräumen müssen,
damit der Mittelstand von den Chancen der Energie-wende profitieren kann und damit die Energiewendenicht zum wirtschaftlichen und sozialen Risiko fürDeutschland wird. Auch das unterscheidet uns.
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Hubertus Heil
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Viertens. Im Mittelstand, Herr Brüderle, sind vor al-len Dingen die klassischen Werte der sozialen Markt-wirtschaft gefragt; das sind Maß und Mitte, Anstand undAugenmaß. Es sind gerade die deutschen Mittelständler,die über die Exzesse auf den Finanzmärkten entsetztsind. Es sind gerade die mittelständischen Unternehmen,die in den letzten Jahren erlebt haben, dass in vielenBereichen der Finanzwirtschaft Finanzdienstleistungennicht mehr Dienstleistungen waren, vielmehr umgekehrtdie Realwirtschaft, also auch der deutsche Mittelstand,als Dienstleister für Zocker auf den Finanzmärkten be-handelt wurde. Das hat die mittelständischen Unterneh-men, also diejenigen, die reale Werte schaffen und nichtspekulieren, richtig erzürnt. Die Unternehmen in diesemLand nehmen es einem übel, wenn mit ihrem Vermögen,mit ihrer Zukunft und mit ihren Arbeitsplätzen gespieltwird. Wir fragen uns deshalb: Wie regulieren wir den Fi-nanzmarkt so, dass in die Realwirtschaft, also in Indus-trie und Mittelstand, investiert wird? Das ist die zentralewirtschaftliche Frage.
Heute wird Herr Rösler seine Wachstumsprognose fürdieses und nächstes Jahr vorlegen. Sie sind stolz auf einWachstum von 0,5 Prozent. Das ist ein schmales Wachs-tum in diesem Jahr.
Herr Kollege!
Sie prognostizieren vor dem Hintergrund der Bundes-
tagswahl ein Wachstum von 1,6 Prozent. Wir müssen er-
heblich etwas dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Denn die Wachstumserwartungen stehen durch die Euro-
Krise auf tönernen Füßen. Der deutsche Mittelstand
braucht daher starke politische Partner. Schwarz-Gelb ist
das nicht. Das zeigt sich auch in diesen Tagen. Schauen
Sie sich einmal an, was Ihnen die Unternehmer ins
Stammbuch schreiben. Von Wirtschaftspolitik hat diese
Bundesregierung keine Ahnung.
Christian von Stetten ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn Sie heute Morgen in die Wirtschaftsteile der deut-schen Tageszeitungen schauen, dann können Sie vielüber große Automobilkonzerne, über Versicherungskon-zerne und über große börsennotierte Technologieunter-nehmen lesen. All diese sind sicherlich wichtige Unter-nehmen für die Bundesrepublik Deutschland. Aber dasRückgrat der deutschen Wirtschaft, der Garant für die si-cheren Arbeitsplätze sind und bleiben der Mittelstandund insbesondere die deutschen Familienunternehmen.
Es gibt 3,7 Millionen mittelständische Unternehmenin Deutschland. Diese Firmen sind das Herz unsererWirtschaft. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir so gutaus der Krise gekommen sind. Sie stellen immer noch71 Prozent aller Erwerbstätigen. 83 Prozent der Auszu-bildenden werden im Mittelstand ausgebildet. All dassind stolze Zahlen. Aber: Wir sollten diese Zahlen nichtnur in der heutigen Debatte hochhalten, sondern dieWichtigkeit und die Wertschätzung dieser Betriebe auchin unserer täglichen Gesetzgebung unterstreichen.Dass der Mittelstand heute gut dasteht, hat HerrBrüderle bereits ausgeführt. Die Bundesregierung stütztdiese positive Entwicklung durch zahlreiche Maßnah-men. Wir haben Maßnahmen zur Fachkräftesicherungergriffen. Wir haben mithilfe des Normenkontrollratesdie Bürokratiekosten um 12 Milliarden Euro gesenkt.Wir haben die Mittel des Zentralen Innovationspro-gramms Mittelstand um 500 Millionen Euro aufgestockt.Wir haben diverse Maßnahmen zur Verbesserung der Fi-nanzierung des Mittelstands auf den Weg gebracht.Wir haben hier im Deutschen Bundestag zahlreicheweitere Beschlüsse gefasst, um den Mittelstand, die mit-telständischen Betriebe und die Mitarbeiter zu entlasten.Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-position – das wurde vorhin bereits deutlich gemacht –,haben diese Gesetze mit Ihrer Mehrheit im Bundesratgestoppt und somit verhindert. Die kalte Progression,also die sogenannte Facharbeiterfalle, ist vorhin schonangesprochen worden. Ich denke aber auch an die ener-getische Gebäudesanierung oder an die Verkürzung derAufbewahrungsfristen für Rechnungen und Belege. Alldas sind sinnvolle Maßnahmen, die Sie hier verhinderthaben.Wenn jetzt einer einen Zwischenruf macht – –
– Sie werden aber kommen.
Wenn jetzt einer von Ihnen sagt, dass dies keine sinnvol-len Maßnahmen seien, dann fragen Sie einmal IhrenKanzlerkandidaten Peer Steinbrück, wie er darüberdenkt. Es stimmt: Die SPD hat, genau wie die Grünen,die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen abgelehnt.Keine zwei Monate später, am 4. März dieses Jahres, hatdie IHK Siegen Herrn Steinbrück eingeladen, um seineThesen zu sozialdemokratischer Mittelstandspolitik zupräsentieren. Einer der Teilnehmer hat mir das vomKanzlerkandidaten verteilte und anschließend auch vomWilly-Brandt-Haus an die Medien verschickte Thesen-papier zukommen lassen. Da steht bei Punkt 7 unter der
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Christian Freiherr von Stetten
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Überschrift „Der Mittelstand braucht Beinfreiheit“ – ichzitiere Peer Steinbrück –:Ich will, dass unnötige, für den Mittelstand kosten-trächtige Regelungen abgeschafft werden:– und dann fordert er –Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Rech-nungen und Belege …
Da bin ich zwar überrascht, aber ich kann zu 100 Prozentzustimmen.Wenn sich jetzt plötzlich CDU/CSU, FDP und derKanzlerkandidat der SPD bei dieser wichtigen Maß-nahme für den Mittelstand einig sind, dann sollten wirdas entsprechende wichtige Gesetz zum Wohl des deut-schen Mittelstandes noch vor der Wahl gemeinsam undohne Streit hier im Deutschen Bundestag verabschieden.
Liebe Kollegen, wir haben dieses gemeinsame Anlie-gen von Peer Steinbrück und den Koalitionsfraktionenjetzt auch sofort wieder in den Deutschen Bundestag ein-gebracht. Gestern hat der Finanzausschuss des Deut-schen Bundestages über die Verkürzung der Aufbewah-rungsfristen entschieden. Wir von CDU/CSU und FDPhaben Wort gehalten und mit Mehrheit zugestimmt. Undwas haben die Kollegen der SPD-Fraktion gemacht? Siehaben ihren Kanzlerkandidaten im Stich gelassen undgegen dessen eigenen Vorschlag gestimmt. – HerrSteinbrück hatte von Ihnen etwas Beinfreiheit verlangt.Und was haben Sie gemacht? Sie haben ihm die Beineeinfach abgeschlagen.
Sie haben heute Nachmittag, wenn wir im DeutschenBundestag abschließend über den Gesetzentwurf debat-tieren, die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren unddiesem Gesetzentwurf zum Bürokratieabbau zuzustim-men.Wer das gesamte Wahlprogramm der SPD liest, derwird feststellen, dass die Vorstellungen des SPD-Kanz-lerkandidaten im Wirtschaftsbereich überhaupt nichtmehr vorkommen. Die vereinigte Linke in der SPD hatsich komplett durchgesetzt.
Das geht sogar so weit, dass der SPD-Landesvorsitzendeaus Baden-Württemberg, Nils Schmid, und der grüneMinisterpräsident Kretschmann zwei Tage vor demSPD-Bundesparteitag in Augsburg gemeinsam einenBrandbrief an den SPD-Bundesvorsitzenden geschriebenhaben, in dem sie vor den Folgen des eigentlichen Pro-gramms gewarnt haben.
Sie warnten vor den Folgen der Substanzbesteuerungund insbesondere vor deren katastrophalen Auswirkun-gen auf Mittelstand und Familienunternehmen. Und, hatdieser Protest etwas genutzt?
Nein, im Gegenteil: Am Ende des Tages hat sogar derProtestbriefschreiber Nils Schmid diesem Wahlpro-gramm zugestimmt.
Gott sei Dank ist es noch nicht Gesetz; es darf auch nieGesetz werden. Alle SPD-Delegierten, auch die ausBaden-Württemberg, haben diesem Mittelstandsge-fährdungsprogramm, bestehend aus höherer Einkom-mensteuer, höherer Erbschaftsteuer, zusätzlicher Vermö-gensteuer und zusätzlicher Bürokratie, einstimmigzugestimmt. Das ist sozialdemokratische Mittelstands-politik, meine Damen und Herren.
Die Wiedererhebung der Vermögensteuer und die Er-höhung der Erbschaftsteuer sind Gift für unseren Mittel-stand.
Sie führen zu einer Besteuerung der Substanz, selbstwenn das Unternehmen Verluste macht. Natürlich würdedie Umsetzung der Vorschläge der Opposition zu einerArt Wettbewerbsverzerrung zugunsten der börsennotier-ten Unternehmen und zulasten der Familienbetriebe füh-ren. Die großen DAX-Konzerne hätten mit der Einfüh-rung einer Vermögensteuer überhaupt keine Probleme,und eine Verdopplung der Erbschaftsteuer ist den DAX-Konzernen auch egal. Aber unsere mittelständischen Be-triebe, die Familienbetriebe, müssen diese zusätzlichenKosten in ihre Preiskalkulation mit einrechnen. Dann istdoch klar, wer in Zukunft bei Ausschreibungen dengünstigeren Preis anbieten kann. Das, was Sie verlangen,führt zu Wettbewerbsverzerrung. Wir werden das selbst-verständlich verhindern.
Ihre Fraktion allerdings, Herr Bartsch – Sie sind ja dernächste Redner für die Linksfraktion –,
hat in der Mittelstandsdebatte den Vogel abgeschossen.
Mit Ihrer Forderung nach einer jährlichen Vermögen-steuer
in Höhe von 5 Prozent bezogen auf den Verkehrswertkommen Sie einer Enteignung der betroffenen Bürgernahe.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29659
Christian Freiherr von Stetten
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss.
In unserem heute zur Abstimmung gestellten Antrag„Stabilität, Wachstum, Fortschritt – Den starken deut-schen Mittelstand weiter zukunftsfest machen“ wirddeutlich, wie wichtig unserer Fraktion der deutsche Mit-telstand ist. Durch unser Regierungshandeln werden wirdas auch weiter unter Beweis stellen.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Dietmar Bartsch für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr vonStetten, ich bedanke mich für die Ankündigung. Wennich Herrn Brüderle und Ihnen zuhöre und wenn ich denTitel der Unterrichtung lese: „Bericht über den Erfolgder Programme …“, dann werde ich an eine Zeit erin-nert, die lange vorbei ist. Fragen Sie einmal die Ossis inIhrer Fraktion; sie wissen, wie das ist, wenn nur von Er-folgen berichtet wird.
Halten Sie es lieber mit dem Altbundeskanzler Kohl, dergesagt hat: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“Ich finde, das sollte der Maßstab sein.
Es reicht, eine Zahl zu nennen: 0,5 Prozent Wirt-schaftswachstum. Das ist faktisch nichts. Das ist das Er-gebnis Ihrer Politik, die Sie hier zu verantworten haben.
Nur die realen Ergebnisse zählen wirklich.
Völlig unbestritten ist: Der Mittelstand in Deutsch-land hat viel geleistet. Ich war selber einige Jahre Unter-nehmensberater.
– Ja, da kann ich Ihnen viel erzählen. – Ich habe erlebt,wie dort agiert wird. Aber der Mittelstand ist nicht nureine Geisteshaltung, der Mittelstand ist viel differenzier-ter. Es gibt sehr unterschiedliche Unternehmen in diesemBereich, sodass man sie nicht über einen Kamm scherenkann.Gerade weil der Mittelstand in der deutschen Wirt-schaftslandschaft eine herausragende Bedeutung hat,muss man ihn differenzierter fördern und zielgenaueragieren. Man muss vor allen Dingen seine Wettbewerbs-position gegenüber den Großunternehmen stärken unddarf das nicht nur ankündigen, Herr von Stetten. Was istdenn geblieben von der Steuervereinfachung, die Sie inIhrem Wahlprogramm angekündigt haben? Wie sieht esin der Realität aus? Nahezu nichts!Ich will aus Ihrem Antrag zitieren. Dort steht:Deutlicher denn je zeigt sich, dass die Selbststän-digen und die kleinen und mittelgroßen Unterneh-men … insbesondere auch in Ostdeutschland … dasRückgrat unserer Wirtschaft bilden.Dieses Selbstlob steht in völligem Widerspruch zurRealität. Auch 23 Jahre nach der deutschen Einheit istdie Arbeitslosenquote in den neuen Ländern doppelt sohoch wie in den alten Ländern, die Löhne befinden sichauf dem niedrigsten Niveau, wir haben weiterhin einehohe Abwanderungsquote, und wir haben weiterhin1,5 Millionen Pendlerinnen und Pendler. Das ist das Er-gebnis Ihrer Politik.Die Bundeskanzlerin ist zwar nicht da, aber lassen Siemich einmal konkret auf unser gemeinsames BundeslandMecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommen. Meck-lenburg-Vorpommern wird, wie andere norddeutscheBundesländer, mit der finanziellen Hilfe für die Werftenjetzt alleingelassen. Der Bund will das Bürgschaftspro-gramm nicht weiterführen. Einen falscheren Zeitpunktdafür kann es überhaupt nicht geben.
Jetzt, wo sich die Werften auf die Bereiche Spezial-schiffbau und Offshoreprodukte ausgerichtet haben,streichen Sie das Programm. Das ist mittelstandsfeind-lich; denn die Werften bei uns in Mecklenburg-Vorpom-mern sind nichts anderes als Mittelstand. Sie als FDPverhindern die Förderung.
Die Linke ist eine mittelstandsfreundliche Partei.
Ich will Ihnen das an einigen Punkten darlegen:Der Mittelstand hat überall, aber besonders in denneuen Ländern, Finanzierungsprobleme. Es geht um Fi-nanzquellen, es geht aber auch um Finanzierungskondi-tionen. Die Finanzkrise hat die Probleme verstärkt. Faktist – Sie wissen das –: Kreditanträge von Kleinunterneh-men mit weniger als 1 Million Euro Jahresumsatz wer-den deutlich öfter abgelehnt als Anträge von Unterneh-men mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz. Das sindletztlich wettbewerbsverzerrende Rahmenbedingungenzulasten der Mittelständler. Wir setzen deshalb vor allenDingen auf eine sichere Finanzierung durch Sparkassensowie Volks- und Raiffeisenbanken und nicht auf Ret-
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Dr. Dietmar Bartsch
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tungsmilliarden für Großbanken und deren Aktionäre.Das haben Sie in den letzten Jahren gemacht.
Die privaten Großbanken haben sich häufig aus demnormalen Geschäft mit dem Mittelstand zurückgezogen.Das ist gerade in den neuen Ländern zu beobachten. Dagibt es diese Geschäftsbeziehungen faktisch nicht mehr.Gott sei Dank gibt es die Sparkassen und Volksbanken,die das übernehmen.Der öffentliche Finanzsektor muss stärker auf die Fi-nanzierung des Mittelstandes verpflichtet werden.Außerdem müssen wir die Rolle der Sparkassen weiterstärken, weil nur darüber die notwendige Eigenkapital-quotenerhöhung und -stärkung möglich ist. Häufig sindes Kleinstkredite, die benötigt werden, und die sind häu-fig sehr schwierig zu bekommen.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, derauch unter den Mittelständlern unserer Partei umstrittenist: das Thema Mindestlohn. Aber unsere Position istklar: Wir sind und bleiben bei unserer Forderung nachder Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von10 Euro, weil dadurch gleiche Wettbewerbsregeln fürdie Unternehmen geschaffen werden. Es darf kein Ge-schäftsmodell sein, über Aufstocker Vorteile zu erzielen.Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden Mindest-lohn, der im Übrigen auch die Kaufkraft und die Nach-frage für Handwerk und Dienstleistung stärkt.
Die Energiewendepolitik ist für den Mittelstand einganz großes Problem. Eigentlich ist das gar keine Ener-giewendepolitik; denn das einzig Zuverlässige an IhremKurs ist, dass für die Mittelständler nichts sicher, nichtsplanbar ist. Wer den Mittelstand fördern will, der mussdie Macht der Energiemonopole brechen und für stabileStrom- und Gaspreise sorgen. Das ist Ihre Aufgabe, da-mit der niedrige Strompreis an der Leipziger Strombörseauch beim Mittelständler ankommt. Sie begünstigen ein-seitig stromintensive Großunternehmen. Das ist die Rea-lität.Außerdem brauchen wir mehr Aufträge für den Mit-telstand; auch das ist klar. Schauen Sie sich einmal IhreInvestitionspolitik in den letzten vier Jahren an: Bei je-der Haushaltsberatung hat die Opposition zu Recht kriti-siert, dass die Investitionen viel zu gering sind. Mit In-vestitionen sanieren wir doch die Infrastruktur, tun wiretwas für Schulen, Krankenhäuser etc. und schaffen da-mit Aufträge auch für den Mittelstand.Wir brauchen auch ein anderes Vergabegesetz. Klei-nere Lose sind notwendig, weil die öffentlichen Auftrag-geber – egal ob unter CDU, SPD oder der Linken – sonstüberhaupt keine Chance haben. Wenn Sie die regionaleWirtschaft wirklich fördern wollen, dann brauchen wirdiesbezüglich ein anderes Herangehen.
Die Linke hat im Übrigen seit vielen Jahren einen ei-genen Unternehmerverband – OWUS –, von dem wirviele Hinweise für unsere Politik bekommen, was sehrvernünftig ist, denn diese Hinweise helfen uns dann auchgerade in der Sozialpolitik.Ich will vor allen Dingen auf eines verweisen: Wir ha-ben in Berlin den Wirtschaftssenator gestellt, hatten Re-gierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommernund stellen jetzt in Brandenburg den Wirtschaftsminister.Sie alle können eine sehr erfolgreiche Politik vorweisen.Harald Wolf hat in Berlin unter einer rot-roten Regie-rung endlich einen einheitlichen Unternehmensservicegeschaffen. Er hat außerdem in Berlin/Brandenburg eineClusterentwicklung gefördert. Und weil wir letzte Wo-che die Diskussion über die Frauenquote in Aufsichtsrä-ten hatten: In Berlin hat Harald Wolf als Wirtschaftsse-nator und zugleich Frauensenator den bundesweithöchsten Anteil von Frauen in Aufsichtsräten öffentli-cher Unternehmen erreicht. Das kann sich doch wirklichsehen lassen.
Jetzt habe ich eine umfassende Erfolgsgeschichte,muss aber leider wegen der Redezeit abbrechen; ichweiß, Herr Präsident. Lassen Sie mich nur noch ein klei-nes Beispiel nennen. Helmut Holter hat in meinem Bun-desland ein Mikrodarlehensprogramm für Existenzgrün-der geschaffen. Die Welt – wirklich keine linke Zeitung –hat geschrieben, das sei europaweit einmalig. DiesesLob gehört hierher.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Tobias Lindner ist der nächste Redner für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lassen Sie mich mit einem Geständnis beginnen:
Als ich heute morgen zu dieser Debatte gegangen bin– es war ja die Koalition, die sie auf die Tagesordnunggesetzt hat –, da hatte ich als junger Abgeordneter tat-sächlich für einen Moment die naive Hoffnung, Sie, HerrBrüderle, würden etwas über die Inhalte Ihrer Mittel-standspolitik erzählen. Einen Moment lang hatte ichdiese naive Hoffnung.Nun ist es ja so, dass ich als Pfälzer Sie auch phone-tisch dekodieren kann.
Wir haben von Ihnen keine Bilanz und auch keine gro-ßen Zukunftspläne der Koalition gehört. Nein, es gab nurdie Aussage: Deutschland geht es gut. – Da würde ichIhnen in einigen Punkten überhaupt nicht widerspre-chen. Ansonsten besteht das mittelstandspolitische Pro-gramm dieser Koalition einzig und allein noch in Ab-wehrreaktionen und Halbwahrheiten im Hinblick auf
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Dr. Tobias Lindner
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grüne und zugegebenermaßen auch rote Steuerpolitik.Wenn das Ihre Mittelstandspolitik ist, dann ist das einArmutszeugnis.
– Es muss nicht immer alles im Manuskript stehen, Herrvan Essen.Unternehmen in Deutschland – vor allen Dingen Mit-telständlern – geht es um drei Dinge: Chancengleichheit,Planbarkeit und Durchschaubarkeit von Regeln.Fangen wir mit der Chancengleichheit an und spre-chen kurz über Steuern. Deutschland gehen durch krea-tive und aggressive Steuergestaltung multinationalerGroßunternehmen jährlich schätzungsweise bis zu150 Milliarden Euro an Steuern verloren. WeltbekannteKaffeehäuser und internationale Buchketten zum Bei-spiel zahlen hier so gut wie keine Steuern. Der deutscheMittelstand kann entsprechende Steuergestaltungs-schlupflöcher allerdings nicht nutzen. Das ist alles an-dere als Chancengleichheit. Da müssen wir gerade imInteresse des deutschen Mittelstands gegensteuern.
Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Punkt einge-hen. Die wichtigste Voraussetzung, damit es dem Mittel-stand in diesem Land gut geht, sind vernünftige Rah-menbedingungen, ist eine gute Infrastruktur,
die nicht einzig und allein aus Beton besteht, sondernzum Beispiel auch Breitbandinternetanschlüsse und dieVerfügbarkeit von Fachkräften umfasst.
Der wichtigste Rohstoff, den wir in diesem Land ha-ben, ist Grips. Die wichtigsten Voraussetzungen sindeine gute Bildungspolitik und eine gute Fachkräftepoli-tik.
Dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat, unddafür brauchen wir auch und gerade einen Staatshaus-halt, der endlich einmal die Altschulden in den Blicknimmt und die Voraussetzungen für vernünftige Finan-zen und dauerhaft stabile Rahmenbedingungen schafft.Deshalb fordern wir von Bündnis 90/Die Grünen einezeitlich befristete und zweckgebundene Abgabe aufhohe Vermögen.
Jetzt kommen wir zu einem anderen Punkt – es istschon interessant, dass man das gerade einer vermeint-lich bürgerlichen Regierung erklären muss –: Es musserst etwas erwirtschaftet werden, bevor man etwas ver-teilen kann.
– Ja. – Bevor Sie über Steuern reden, sollten Sie bessereinmal über die Voraussetzungen reden, die erfüllt seinmüssen, um Gewinn zu erzielen. Diesbezüglich war IhreRede, lieber Herr Brüderle, ganz schwach.Ich will noch etwas zum Thema Planungssicherheitsagen: Das Gegenteil von Planungssicherheit ist das,was Sie im Moment bei der Energiewende machen. VierNovellen zum EEG in den letzten Jahren – können Siemir erklären, wie ein Mittelständler, der die Energie-wende als Chance begreift, angesichts dessen Investi-tionsentscheidungen treffen soll? Ich kann ihm das nichterklären.
Jetzt reden wir einmal über Innovationspolitik. Jederhier im Haus hält den Begriff „Innovation“ gerne hoch:Ja, wir müssen innovativ sein. Sie haben von „HiddenChampions“ geredet. Es ist natürlich richtig, dass unserMarktvorteil in den hochspezialisierten kleinen Unter-nehmen besteht. Aber sind in Deutschland wirklich dieVoraussetzungen gegeben, dass wir aus den Innovatio-nen eine Menge Gewinn ziehen können? Schauen Siesich doch einmal den IT-Bereich an. Ich glaube nicht,dass wir in Deutschland unbegabtere oder untalentiertereInformatiker oder Gründer als in anderen Ländernhaben. Aber warum sind dann Firmen wie Yahoo,Facebook oder Google in den USA entstanden? Auszwei Gründen: zum einen, weil an den Hochschulen inden USA eine ganz andere Kultur herrscht und dieStrukturen dort ganz anders sind. Dort entstehen auf eineganz andere Art und Weise aus Ideen Unternehmen.Zum anderen gibt es dort viel mehr privates Wagniskapi-tal. Diese Regierung ignoriert faktisch die Frage, wie wirzu mehr privatem Wagniskapital in Deutschland kom-men, wie wir diesbezüglich die richtigen Anreize setzenkönnen.
Sie reden immer gerne über Bürokratieabbau und be-tonen, wie unbürokratisch alles sein müsste. Schauen wiruns einmal Ihre Innovationsförderung an: Im Etat desBundeswirtschaftsministers findet man einen Dschungelan Förderprogrammen. Viele größere Unternehmen kön-nen da noch gut durchblicken. Sie haben Spezialisten,die wissen, wie man den Antrag schreibt und wo manGeld herbekommt. Aber viele Mittelständler, die eineIdee haben, haben weder Zeit noch Leute, um konkreteAnträge zu schreiben. Denen wäre mit einer steuerlichenForschungsförderung besser gedient. In Ihrem Koali-tionsvertrag steht, dass Sie eine steuerliche Forschungs-förderung anstreben. Sie hatten vier Jahre Zeit, aber Siehaben nichts gemacht, meine sehr geehrten Damen undHerren von der Koalition.
Hubertus Heil hat schon erwähnt, was der DIHK-Chef über die Mittelstandspolitik dieser Bundesregie-
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Dr. Tobias Lindner
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rung sagt. Ihre Hightech-Strategie, zu der diese Wocheein Treffen stattfand, wird vielfach gerade von mittel-ständischen Unternehmen kritisiert und als Rohrkrepie-rer bezeichnet. Das Problem ist, dass Sie sich auf den Er-folgen, die zu der derzeitigen Situation geführt haben,ausruhen, anstatt die Herausforderungen der nächstenDekade in den Blick zu nehmen. Ich prophezeie Ihnen:Wenn das so weitergeht, werden wir in den nächsten Jah-ren die Folgen Ihrer Unterlassungen zu spüren bekom-men.Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
Mittelständische Unternehmen zeichnen sich speziell inDeutschland insbesondere dadurch aus, dass sie nichtnur den Gewinn im Blick haben. Ja, Gewinn ist nötig,damit ein Unternehmen am Leben bleiben und wachsenkann. Mittelständische Unternehmen übernehmen aberauch Verantwortung, Verantwortung für ihre Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter, für ihre Familien und für die Ei-gentümer. Mittelständische Unternehmen denken überden Tag hinaus und haben ein breites Blickfeld. Dasmuss eine Mittelstandspolitik in den Blick nehmen.Diese Eigenschaften muss man bei einer Politik für denMittelstand berücksichtigen. Das Gegenteil davon istdas, was Sie tun. So kann und darf es nicht weitergehen.Herzlichen Dank.
Für die Bundesregierung erhält nun der Bundeswirt-schaftsminister das Wort.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist ihreStruktur im Allgemeinen und die mittelständische Struk-tur im Speziellen. Ja, es ist richtig: Unsere mittelständi-schen Unternehmer sind regional tief verwurzelt. Sieleisten Hervorragendes. Sie bringen hervorragende Pro-dukte, Technologien und Dienstleistungen auf denMarkt. Sie haben ein hervorragendes Verhältnis zu ihrenBeschäftigten, und sie sind weltweit anerkannt.Deswegen bin ich den Regierungsfraktionen sehrdankbar dafür, dass sie genau dieses Thema heute auf dieTagesordnung gesetzt haben. Denn eines ist doch klar:Mittelstand ist nicht nur eine Frage von Strukturen, istnicht nur eine Frage von Kennzahlen, sondern – RainerBrüderle hat es gesagt – der unternehmerische Mittel-stand in Deutschland ist weitaus mehr. Er ist eine Geis-teshaltung, der sich diese Koalition in besonderer Weiseverpflichtet fühlt.
Dass Rote, Grüne und Linke kein Interesse am Mittel-stand haben, das kennen wir schon.
– Das sieht man jetzt wieder an Ihren Reaktionen.
Leider mussten wir gerade in den letzten Monaten fest-stellen: Sie haben nicht nur kein Interesse mehr, sondernSie fangen jetzt auch langsam an, massiv Politik gegenden unternehmerischen Mittelstand in Deutschland zubetreiben.
Überall da, wo Sie in den Ländern Verantwortung tra-gen, machen Sie das Gegenteil von dem, was der Mittel-stand in Deutschland heute braucht.
Stabiles Geld, Fachkräftesicherung, Bezahlbarkeit vonEnergie, Forschung, Technologie und Innovationen– dazu sollten sich die Grünen übrigens erst recht nichtäußern – sowie neue Märkte, neue Chancen. Das sindaktuell die Themen bei jedem Mittelstandsbesuch vonPolitikern, egal welcher Fraktion.Schauen wir uns einmal an, was Sie da machen. IhreEuropapolitik besteht doch darin, durch Europa zu reisen– so wie es gerade Ihr Spitzenkandidat getan hat – undnach der Rückkehr gegen solide Haushalte zu wettern.Das ist Ihre Europapolitik. Sie wollen eine Vergemein-schaftung von Schulden, Sie wollen am Ende Euro-Bonds, und das Schlimme daran ist, dass Sie hier inDeutschland die Steuern erhöhen wollen, um die Schul-den in anderen europäischen Staaten zu bezahlen.
Beim Thema Fachkräftesicherung spricht HerrDr. Lindner von Grips. Das finde ich schön. Aberschauen Sie sich doch einmal rot-grüne Bildungspolitikin den Ländern an. Als Allererstes wollen Sie das Sitzen-bleiben abschaffen, um den jungen Menschen zu zeigen:Leistung lohnt sich nicht. Das ist Ihre Bildungspolitikund Ihr einziger trauriger Beitrag zur Fachkräftediskus-sion in Deutschland.
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Energiepolitik. Gerade nach der letzten Woche findeich Ihre Haltung wirklich bemerkenswert. Sie blockierendoch jede Reform, jeden kleinen Fortschritt bei der Ver-besserung der Förderung der erneuerbaren Energien imSinne von Bezahlbarkeit.
Ich sage Ihnen: Sie sind durch Ihre Politik verantwort-lich dafür, wenn in den nächsten Monaten die Strom-preise steigen. Sie sind für jede künftige Strompreis-steigerung in Deutschland verantwortlich.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:
Ich bin jetzt so schön drin. Nein, vielen Dank.
Gut.Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Nehmen wir uns einmal das Beispiel Belastungen vor.Wenn wir Ihnen vorwerfen würden, dass Sie den Mittel-stand belasten, dann könnten Sie sagen: Nein, es ist dieAufgabe der Regierung, etwas für den Mittelstand zutun.
Die taz von heute – ja, ich gebe zu, ich muss mich outen,auch ich lese die taz –
hatte eine dazu passende Überschrift. Es geht in dem Ar-tikel um die Belastungen durch Rot und Grün, insbeson-dere durch die Grünen und die Dinge, die Sie morgenund am Wochenende auf Ihrem Bundesparteitag be-schließen wollen. Die Überschrift lautet: „Grün amSteuer, das wird teuer“.
All das, was Sie vorhaben, bedeutet 40 Milliarden EuroBelastungen für den Mittelstand, für die gesellschaft-liche Mitte; dazu kommen noch die neuen Pläne derGrünen. Das ist Ihre Mittelstandspolitik für Deutschland.
Schauen Sie sich den Bereich Forschung und Techno-logie an. Wir haben das Zentrale InnovationsprogrammMittelstand. Es gilt als Goldstandard der Innovationsför-derung im Mittelstand. Was ist Ihr Beitrag gerade fürjunge Unternehmen, die hochkreativ sind, die hochinno-vativ sind? Stichwort Wagniskapital. Sie haben durchIhre Politik im Bundesrat zunächst verhindert, dass esvolles Gründungskapital für junge Start-up-Unternehmengibt, weil Sie als Allererstes genau dieses Streubesitz-kapital, dieses Gründungskapital besteuern wollten. Sosieht Ihre Innovationsförderung aus. Das ist eineSchande, und das schadet gerade den neuen Unterneh-men in Deutschland.
Neue Märkte, neue Chancen. In jeder Debatte imWirtschaftsausschuss wird aufs Neue kritisiert, dass derdeutsche Mittelstand exportstark ist, dass unsere Pro-dukte, Dienstleistungen und Technologien nachgefragtwerden. Da wird kritisiert, dass wir Außenhandelsbilanz-überschüsse haben.
Diese wollen Sie reduzieren. Es ist kein Nachteil, wennman Überschüsse hat, sondern das ist ein Beweis für dieLeistungsfähigkeit unseres Mittelstandes in Deutsch-land.
Abschließend. Herr Kollege Heil, Sie haben hier mitGrabesstimme eine Grabesrede auf den Mittelstand ge-halten.
Das ist für Ihre Mittelstandspolitik bezeichnend. Erst ha-ben Sie den Mittelstand nicht wahrgenommen, dann ha-ben Sie ihn im Bundesrat bekämpft. Aber die Krönung
war das Thema „IHK und Übergabe der Präsident-schaft“; Sie haben davon berichtet. Ihr Spitzenkandidatwar dort –
er ist ja sonst sehr geschickt – und hat den Unterneh-mern, dem versammelten Mittelstand in Deutschland, er-zählt, dass er – Punkt eins – eigentlich gar keine Steuer-erhöhungen will
und dass er – Punkt zwei – eine Vermögensteuer ohneSubstanzbesteuerung will.
Ich glaube, er glaubt selber nicht daran, meine Damenund Herren. Es fängt langsam an, dass Rote, Grüne und
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Linke den Mittelstand in Deutschland verhöhnen. Das istIhre Mittelstandspolitik, und das, meine Damen undHerren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Heil das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister
Rösler, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Sie nicht
souverän genug waren, eine Zwischenfrage zuzulassen.
– Herr Präsident, muss ich mich vom Vorsitzenden der
CDU/CSU-Fraktion bleidigen lassen?
Ich bitte, das im Protokoll nachlesen zu lassen. Herr
Kauder, Sie können sich ja nachher entschuldigen, wenn
Sie die Größe dazu haben.
Lesen Sie diesen Begriff bitte im Protokoll nach. Wir
können das ja nachher miteinander klären.
Jetzt zur Sache. Herr Rösler, ich habe mich zu Wort
gemeldet, um mit Ihnen über Energiepolitik zu sprechen,
weil ich eigentlich den Eindruck hatte, dass Sie neben
Herrn Altmaier in den letzten Jahren der dafür zustän-
dige Minister gewesen sind. Herr Altmaier hat einen
Vorschlag gemacht, den er nicht mit Ihnen abgestimmt
hat, unter dem Stichwort „Strompreisbremse“. Ich sage
Ihnen: Wir sind bei diesem Thema nach wie vor zu Ver-
handlungen bereit, und wir haben konkrete Vorschläge
gemacht. Wir haben gesagt: Wir sind bereit zu Sofort-
maßnahmen beim EEG, um den Anstieg der EEG-Um-
lage zu bremsen. Wir haben gesagt: Wir sind bereit,
darüber zu reden, wie wir die Befreiungstatbestände bei
den Ausnahmen für energieintensive Betriebe mit Augen-
maß regeln können. Außerdem haben wir den Vorschlag
gemacht, die Stromsteuer zu senken. Das sind konkrete
Vorschläge.
Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie, weil Sie
als zuständiger Minister sich nicht mit Herrn Altmaier
einig sind – das ist ein Teil des Problems der Energie-
wende –, von Ihrer Uneinigkeit ablenken wollen, indem
Sie versuchen, den Schwarzen Peter anderen zuzuschie-
ben. Sie tragen als Regierung seit 2009 in Deutschland
die Verantwortung für die Energiepolitik. Sie sind Ihrer
Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie sind Zick-
zack gefahren und haben die Planungs- und Investitions-
sicherheit kaputtgemacht. Deshalb meine ganz klare
Bitte, Herr Rösler: Erzählen Sie dem deutschen Mittel-
stand keine Märchen, wenn die EEG-Umlage und die
Energiepreise im Herbst dieses Jahres, vielleicht auch
schon im August, massiv steigen werden. Sie sind dafür
verantwortlich, niemand sonst.
Zeigen Sie nicht mit dem Finger auf andere!
Meine Frage an Sie lautet: Warum haben Sie es in vier
Jahren nicht geschafft, gemeinsam als Regierung einen
klaren Vorschlag im Hinblick auf ein neues Strommarkt-
design bzw. eine neue Ordnung am Strommarkt zu ma-
chen? Im Bereich der Energiepolitik sind Sie eine Nicht-
regierungsorganisation.
Übrigens habe ich keine Grabesrede auf den Mittel-
stand gehalten. Wir haben einen starken und guten Mit-
telstand. Wenn Sie zugehört hätten – das haben Sie viel-
leicht nicht getan; das kann sein –, hätten Sie gehört,
dass ich gesagt habe: Der Mittelstand in Deutschland ist
nicht schwach; er ist stark und gut aufgestellt. Aber er ist
darauf angewiesen, dass die Politik bzw. die Bundes-
regierung Rahmenbedingungen schafft, vor allen Dingen
im Bereich der Energiepolitik, die Versorgungssicherheit
und Bezahlbarkeit gewährleisten. Hier zeigt sich Ihr Ver-
sagen, Herr Rösler. Davon können Sie nicht ablenken,
indem Sie mit dem Finger auf andere zeigen. Sie haben
ausgespielt, gerade in der Energiepolitik. Wir brauchen
einen Neuanfang.
Herr Minister Rösler, zur Erwiderung.Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Ich darf zunächst einmal Ihren Parteivorsitzenden,den Kollegen Sigmar Gabriel, zitieren.
Er hat in einer Debatte, die schon etwas länger her ist,gesagt:Wer die ganze Wahrheit kennt, aber nur die halbeWahrheit nennt, ist trotzdem ein ganzer Lügner.
Herr Kollege Heil, Sie haben sehr schön dargelegt,was Sie alles angeboten haben. Das ist auch alles richtig.Nur, am Ende haben Sie nichts gemacht.
In all den Diskussionen und Verhandlungen, die wir ge-führt haben, waren Sie dagegen, haben blockiert oderverhindert. Ich sage Ihnen: Das werden wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29665
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Wir haben Vorschläge gemacht, um die Förderung dererneuerbaren Energien effizienter auszugestalten; umherauszukommen aus dem bisherigen System; um dieBezahlbarkeit sicherzustellen. Bei all diesen Maßnah-men waren Sie am Ende dagegen. Deswegen sage ich Ih-nen nochmals: Sie – SPD, Grüne und Linke – werden füralle künftigen Strompreissteigerungen allein verantwort-lich sein.
Denn Sie haben im Bundesrat zusammengearbeitet – soviel also dazu, dass SPD und Grüne auf Bundesebenenicht mit den Linken zusammenarbeiten wollen.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Brüderle, Herr Minister Rösler, bei Ihnenbeiden ist im Zusammenhang mit dem Mittelstand dasWort „Geisteshaltung“ vorgekommen. Ich konstatiere:Mittelstand ist für Sie etwas, was sich im Geiste abspielt,
aber nicht etwas, was in konkrete Maßnahmen mündet.Das ist der große Unterschied zwischen dem, was Siedem Mittelstand anbieten, und dem, was der Mittelstandbraucht.
Wir brauchen eine konkrete Politik für den Mittelstand.Herr Rösler, die Jacke muss ja ganz schön brennen,wenn Sie hier derartige Pappkameraden aufbauen unddann beschießen: wenn Sie so tun, als ob die SPD etwasvorschlüge, was Sie zu bekämpfen hätten. Ich möchtedas im Einzelnen einmal durchdeklinieren.Erster Punkt. Der Mittelstand braucht eine verläss-liche Basis, was die Finanzierung anbetrifft. Die SPD istangetreten, den Wählerinnen und Wählern deutlich zumachen, wie wir das Geld, das der Mittelstand braucht– zum Beispiel für seine wirtschaftsnahe Infrastruktur –,beschaffen wollen. Wenn die SPD einschließlich ihresKanzlerkandidaten deutlich sagt: „Der Mittelstand sollgestärkt werden, der Mittelstand soll entlastet werden,der Mittelstand soll auf Verlässlichkeit und Planbarkeitsetzen können“, und wenn wir sagen: „Wir werden denMittelstand nicht in seiner Substanz besteuern“, dannkönnen Sie, Herr Rösler, hier nicht immer wieder diesenzusammengeleimten Pappkameraden aufstellen und sotun, als müssten Sie ihn beschießen.
Das Zweite. Sie behaupten gebetsmühlenartig, dasswir im Bundesrat etwas verhindern würden, was demMittelstand nützt.
Gehen wir das einmal im Einzelnen durch: Der Mittel-stand braucht die energetische Sanierung der Gebäude.Am Verhandlungstisch sitzen zwei Parteien: auf der ei-nen Seite der Bund, auf der anderen Seite die Länder.Der Bund hat ein Konzept für eine steuerliche Entlas-tung vorlegt, dessen Umsetzung die Länder Hundertevon Millionen Euro kosten würde.
Das können die Länder im Zusammenhang mit derSchuldenbremse nicht stemmen. Die Bundesregierunghat die Mittel für das KfW-Programm – die KfW ist dieHausbank des Mittelstands – zurückgezogen. Dannbrauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Ländergegen Ihre Vorschläge stimmen. Sie sind diejenigen, diemit ihrem schlechten Programm zur energetischen Ge-bäudesanierung die Verhinderung im Bundesrat provo-ziert haben; deswegen wird dem Mittelstand das Geldnicht zukommen. So wird eine Wahrheit daraus.
Das Gleiche gilt für die Bekämpfung der kalten Pro-gression. Auch da wiederholen Sie gebetsmühlenartig,der Bundesrat sei schuld, dass die kalte Progressionnicht bekämpft werden könne. Dabei wissen Sie genau,dass die Gelder, die dafür nötig wären – es geht umreichlich 1 Milliarde Euro –, nicht vorhanden sind. DieLänder wissen nicht, woher sie dieses Geld nehmen sol-len – es sei denn, Sie würden die unsägliche und sinnlose„Hotelsteuer“ abschaffen und die dadurch zusätzlich ein-genommenen Gelder dafür einsetzen. Dann hätten Siewahrscheinlich den Bundesrat einschließlich der rot-grü-nen Länder an Ihrer Seite.
Wenn man danach fragt, was Sie für den Mittelstand tun,muss man auch hier wieder sagen: Fehlanzeige. Wirwollen etwas für den Mittelstand tun, auch bei den Fi-nanzen.Gehen wir ein weiteres Feld durch: Herr Brüderle, Siehaben keinen einzigen Satz zur Fachkräftesituation undzum demografischen Wandel gesagt. Wenn Sie tatsäch-lich – so wie wir – in den letzten Wochen und Monatenmit Mittelständlern geredet hätten, dann wüssten Sie:Für den Mittelstand ist das ein drängendes Problem. Die-ses Problem hat drei Facetten.Erstens. Wir müssen für bessere Bildung sorgen. Wo-her soll das Geld dafür kommen? Das Kooperationsver-bot haben Sie nicht angefasst. Wir werden es anfassen.
Wir wollen, dass es eine Ausbildungsgarantie gibt, dassjunge Leute die Schule nicht ohne Abschluss verlassen.Zweitens. In einer Debatte vor zwei Jahren, als Sieeine Art Mittelstandspapier eingebracht haben, im Fe-
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Wolfgang Tiefensee
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bruar 2011, haben Sie gesagt – ich habe es noch einmalnachgelesen –: Wir wollen mehr Frauen in den Chef-sesseln. – Das ist interessant im Hinblick auf die Debattein der letzten Woche. Was tun Sie eigentlich, um die Ver-einbarkeit von Beruf und Familie und Freizeit zu erleich-tern? Sie schaffen ein Betreuungsgeld. Dieses Betreu-ungsgeld gehört aber abgeschafft, damit wir hiervorankommen.
Drittens. Es stellt sich die Frage, wie wir, wenn dasgesamte Potenzial nicht reicht und wir das Potenzial derälteren Arbeitnehmer ausgeschöpft haben, auch Men-schen aus dem europäischen, dem internationalen Raumzu uns holen können. Was tun Sie? Fehlanzeige! DieBluecard ist ein Witz.Ich habe im Tagesspiegel unlängst von einem jungenMann gelesen, Herrn Shaam, einem Harvard-Studenten,der hierher gekommen ist. Er kann kein Konto eröffnen,weil er keinen Wohnsitz hat, und weil er kein Konto hat,bekommt er keine Wohnung. Er dreht sich im Kreise.Nur weil es Leute gibt, die ihn privat unterstützen,konnte er hier überhaupt aktiv sein und mittlerweile14 Arbeitsplätze schaffen. Was tun Sie eigentlich dafür,dass Deutschland eine Willkommenskultur für diejeni-gen hat, die wir hier dringend brauchen? Fehlanzeige,Herr Minister, und Sie müssten das aufgrund Ihrer Vitaeigentlich besser wissen.
Ein weiteres Thema ist die wirtschaftsnahe Infra-struktur. Wir verhandeln heute indirekt zum Beispielauch über Public-private-Partnership. Was ist aus diesemInstrument geworden? Schauen Sie sich einmal dieFirma „Partnerschaften Deutschland“ an, die wir ge-gründet haben. Die Anzahl der Projekte im Bereich PPPist nahe null. Das verantworten Sie. Dieses Finanzie-rungsinstrument, das nicht zuletzt auch für die Kommu-nen segensreich ist, haben Sie sträflich vernachlässigt.Wir werden das ändern und dieses Instrument dort, woes sinnvoll ist, wieder einsetzen.
Ich komme nun zum Thema Energie. Herr Brüderle,wenn Sie zu den Unternehmern gehen – wir haben das inder letzten Zeit getan –, dann hören Sie dort immer wie-der die Frage: Wie können wir die Energiepreise bezahl-bar halten? – Wir haben hier Vorschläge auf den Tischgelegt. Was findet man bei Ihnen? In Ihrem Antrag stehtdoch tatsächlich:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, die Energiewende mit … Augenmaß um-zusetzen …Na, großartig!
Toll! Das spiegelt Ihre Geisteshaltung wider: Man soll esmit Augenmaß machen.Wo sind die konkreten Projekte, zum Beispiel dafür,das EEG so zu reformieren, dass aus dem Markteinfüh-rungsinstrument ein Marktdurchdringungsinstrumentwird, und dafür, dass die Energienetze genauso wie dieIT und die Infrastruktur im Hinblick auf die Mobilitätvorangetrieben werden? Fehlanzeige! Chaos zwischenden Ministerien! Keine Abstimmung zwischen Europa,dem Bund, den Ländern und den Regionen!Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesemChaos kann der Mittelstand in Zukunft nicht zum stabi-len Anker für die Volkswirtschaft werden. Deshalb wen-den sich immer mehr Mittelständler unserer Politik zu.Das haben wir in den letzten Monaten erfahren.
Wir hoffen, dass wir recht bald all das, was Sie in unse-ren Anträgen und in unserem Mittelstandspapier lesen,durchsetzen können.
Der Mittelstand ist sowohl mit seinen Stärken alsauch mit seinen Sorgen, Nöten und Befürchtungen beider SPD besser aufgehoben als bei Schwarz-Gelb.Vielen Dank.
Lena Strothmann von der CDU/CSU-Fraktion ist die
nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu Ihnen,Herr Bartsch: Dass wir in Deutschland keinen gesetzli-chen Mindestlohn brauchen, zeigt doch eigentlich dasBeispiel des Friseurhandwerks sehr deutlich. Die Verant-wortlichen haben das auch so bestens hinbekommen.
Deutschland geht es gut: Den Menschen in unseremLand geht es gut, die Betriebe in Mittelstand und Hand-werk haben volle Auftragsbücher, und sie schauen zu-versichtlich in die Zukunft. Der gesamte deutsche Mit-telstand ist seit Jahren stabil. Die mittelständischenUnternehmen in Deutschland – das sind 99 Prozent allerUnternehmen – haben ihre Leistungsfähigkeit immerwieder bewiesen.Noch nie in der deutschen Geschichte waren soviele Menschen in Beschäftigung, noch nie wurdeein höherer Wohlstand erreicht.
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Lena Strothmann
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Dass wir solch einen Satz einmal in einen Antragschreiben können, hätten wir nie gedacht und macht unsstolz.
Wir sind vor allen Dingen stolz auf unseren Mittel-stand. In Deutschland hat der Mittelstand eine besondereAusprägung. Hier liegt ein Unterschied zu unseren euro-päischen Nachbarn. Auch in anderen Ländern gibt esviele kleine und mittlere Betriebe; aber bei uns ist diehohe Qualität der Arbeit der Standard. Die Treue zu denMitarbeitern ist fest verankert, und die Ausbildungs-quote ist hoch, höher als in der Industrie.
Das unternehmerische Denken ist geprägt von Verant-wortung, besonders im Handwerk auch von Familien-strukturen. Rendite um jeden Preis ist nicht das obersteZiel.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, in der Krise 2008/2009 hat es sich gezeigt: Esgab wenig Entlassungen. Die Verbraucher waren unbe-eindruckt und sorgten für eine gute Binnenkonjunktur.Es gab keine Kreditklemme, und die Betriebe haben re-lativ schnell wieder investiert. – Das ist die Basis für un-seren Wohlstand in den letzten Jahren. Wir wollen dieseBasis erhalten und vor allen Dingen stärken. Steuererhö-hungen, wie SPD und Grüne sie planen, sind schädlich.Denn Mittelständler können rechnen. Einen Euro kannman eben nur einmal ausgeben: für Steuern und Abga-ben oder eben für Arbeitsplätze und Investitionen.Mittelstand braucht also keine Steuerandrohung, erbraucht Unterstützung, zum Beispiel bei der Fachkräfte-sicherung. Wir stecken schon mittendrin im Fachkräfte-mangel. In vielen Branchen werden schon jetzt Mitarbei-ter gesucht, der Markt ist praktisch leergefegt, und eswird immer schwieriger, Stellen zu besetzen. Deshalb istdie Fachkräftesicherung das A und O.Das setzt aber voraus, dass wir junge Menschen zuFachkräften ausbilden. Das Handwerk weiß das und tutdas bereits seit Jahren. Aber im letzten Jahr konnten15 000 Lehrstellen im Handwerk nicht besetzt werden,und im gesamten Mittelstand waren es schätzungsweise60 000. Das finde ich alarmierend.
Deshalb werben wir intensiv um Nachwuchs. Wir brau-chen die jungen Menschen als Fachkräfte, für Führungs-positionen, als Betriebsgründer, aber eben auch fürBetriebsübernahmen. Denn jedes Jahr stehen über20 000 Handwerksbetriebe zur Übergabe an, weil die In-haber das Rentenalter erreicht haben. Geeignete Nach-folger zu finden, wird immer schwieriger.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, der Mittelstand, das Handwerk sind bei derAusbildung sehr engagiert. Die Ausbildungsquote be-trägt im Handwerk fast 10 Prozent. Das ist herausra-gend, und das muss auch so bleiben.
Wir stellen aber auch einen Trend zu mehr Bildungfest. Immer mehr junge Menschen wollen Abitur ma-chen. Das ist gut so. Aber Deutschland ist auch ein In-dustrieland. Wir brauchen mehr gewerblich-technischeFachkräfte. Jugendliche mit gewerblich-technischenAusbildungen haben auf dem Arbeitsmarkt, was denMittelstand angeht, die besten Chancen, und sie habendort viele individuelle Aufstiegsmöglichkeiten, die vie-len leider nicht bekannt sind.Deshalb kommt der Berufsorientierung in den Schu-len ein wichtiger Part zu.
Hier kommen Schüler und Lehrer oft zum ersten Mal mitMittelstand und Handwerk in Berührung. Allein imHandwerk gibt es über 130 Ausbildungsberufe. Nachdem Gesellenbrief gibt es noch viele weitere Weiterbil-dungs- und Karrieremöglichkeiten und ebenso gute Ver-dienstmöglichkeiten.Auch viele Eltern kennen die Chancen des dualenSystems für ihre Kinder nicht. Deshalb kooperieren vieleBetriebe schon mit regionalen Schulen, zum Teil auchmit Kindergärten. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
Wir müssen einfach mehr für die duale Ausbildungbei unseren Jugendlichen werben. Andere Länder mit ei-nem verschulten Berufsbildungssystem und einer akade-misierten Bildung haben derzeit eine sehr hohe Zahlarbeitsloser Jugendlicher. Der Zusammenhang ist offen-sichtlich: Unser Mittelstand und das duale System ver-hindern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in unseremLand. Auch das gehört zum Erfolgsrezept des „GermanMittelstand“.Obwohl das duale System bereits seit vielen Jahrenals Exportschlager gilt, waren unsere Nachbarn bislangsehr zögerlich mit der Einführung. Ein Grund dafür warzum Beispiel, dass es natürlich Geld kostet – für denStaat, aber vor allen Dingen auch für die Betriebe. Nochschrecken die Betriebe zurück; sie erkennen aber zuneh-mend die Chancen. Ich würde es begrüßen, wenn sichdas duale System schneller europaweit durchsetzenwürde.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, es gehört aber auch zu einer ehrlichen Debatteüber die Fachkräftesicherung, dass wir sowohl gute Aus-bilder als auch genügend Ausbilder brauchen. Ausbildersind im Handwerk unsere Meister. Das duale Systemund der Meisterbrief gehören zusammen, und alle Versu-che in Brüssel, den Meisterbrief auszuhöhlen, sollten wirgemeinsam im Keim ersticken.
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Lena Strothmann
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Die Meisterfortbildung ist nicht nur eine Ausbilder-schulung, sondern auch eine Unternehmerschulung. Hierwird das Rüstzeug für Gründung und Leitung eines Un-ternehmens erworben. Aber leider gehen die Gründer-zahlen im Handwerk zurück. Gerade Firmengründungensind wichtig, weil damit Wachstum und Beschäftigungerhalten werden.Leider ist in Deutschland die Kultur der Selbststän-digkeit noch nicht so stark ausgeprägt wie in anderenLändern. Selbstständigkeit und Unternehmertum erfor-dern Einsatz und Verantwortung; sie sind aber auch im-mer ein Risiko. Deshalb verdient jeder, der diesenSchritt wagt, Unterstützung und Anerkennung.
Die Regierungskoalition und die Bundesregierung ge-ben diese Unterstützung. Wir fördern Existenzgründer,Innovationen und neue Ideen, wir geben Entfaltungs-möglichkeiten und helfen bei der Finanzierung. Wir hel-fen ausbildungswilligen Betrieben, und wir tragen zurFachkräftesicherung bei. Der Mittelstand in Deutschlandwird deswegen auch in Zukunft stark bleiben.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland
Claus nun das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Bundesminister Rösler, dass Sie nicht lie-fern im Amte, daran haben wir uns hier leider alle schonirgendwie gewöhnt. Aber dass Sie jetzt die Folgen IhresLieferstreiks bei der Opposition abladen wollen, das istschon ein starkes Stück, das wir so nicht hinnehmenkönnen. Das müssen wir Ihnen einmal sagen.
In schöner Regelmäßigkeit wird vor anstehendenWahlen hier im Parlament die Verneigung vor dem Mit-telstand zelebriert. Der Mittelstand ist da skeptisch ge-worden. Ich verweise darauf, dass am heutigen Tage diegrößte Versammlung der Mittelstandsförderer in Dres-den stattfindet. Ich meine den Sparkassentag in Dresden.Von den Sparkassen kann man mit Blick auf den Mittel-stand durchaus sagen: Sie tun etwas, sie liefern; sie ver-dienen unsere Anerkennung und Unterstützung.
Die Sparkassen haben zu einem breiten Dialog einge-laden. Alle Foren, die in diesen Tagen dort stattfinden,sind per Internet für die Öffentlichkeit zugänglich; es istzum Mitmachen eingeladen.Meine Partei hat in Dresden gestern einen solchenBeitrag zum Mitmachen geleistet, indem sie ihre Posi-tion zur Mittelstandsförderung eingebracht hat. Sie hatgesagt: Internet ist ja nicht schlecht, aber man kann jaauch einmal persönlich hingehen. – Deshalb haben dieVertreter der Linken unsere Position dort deutlich ge-macht und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer desSparkassentages sehr herzlich begrüßt.
Meine Damen und Herren, die Linke steht für eineWirtschafts- und Mittelstandspolitik, die kleinen undmittelständischen Unternehmen und ExistenzgründernChancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,von der Beschäftigte auch sorgenfrei leben können, unddie so zu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialerGerechtigkeit gleichermaßen beiträgt. Kleiner geht esbei uns nicht.Ich will, wie auch mein Kollege Dietmar Bartsch, aufdie Situation der ostdeutschen Mittelständler verweisen.Ich glaube nämlich, dass die kleinen und mittelständi-schen Unternehmen im Osten über spezielle Transfor-mationserfahrungen verfügen, das heißt über spezielleErfahrungen im Bewältigen von besonders schwierigenUmbruchsituationen. Sie mussten ohne große Geldgeberin die Selbstständigkeit, in die wirtschaftliche Entwick-lung gehen.Wir haben im Osten nach wie vor keine einzige großeFirmenzentrale. Wir haben dort im Niedriglohnbereicheinen Anteil von über 40 Prozent, das Doppelte dessen,was wir im Bundesdurchschnitt haben. Deshalb sindsehr viele Unternehmen darauf angewiesen, neue Ent-wicklungspfade beim sozial-ökologischen Umbau zu su-chen, neue Entwicklungspfade zu finden, von denen wirbundesweit viel stärker profitieren könnten, wenn wirdiesen Erfahrungsvorsprung denn auch anerkennten.
Wir müssen uns zudem auf ein schwieriges Problemeinstellen: Viele dieser jungen Unternehmen sind in derNachwendezeit entstanden, wenn man so will, unter denBedingungen einer Nachwendenarkose. Jetzt steht derGenerationswechsel an der Spitze an – die Narkose wirktzum Glück nicht mehr –, und es bedarf anderer Rahmen-bedingungen. Ich wünschte mir, dass wir die Kraft fän-den, diese gemeinsam zu gestalten. Natürlich könntenwir solche Erfahrungen wie die Vereinbarkeit von Er-werbstätigkeit und Kindererziehung aus dem Osten vielstärker nutzen und sagen: Die Kinderbetreuung im Wes-ten soll zumindest auf Ostniveau gebracht werden.
Es ist für die örtlichen Kleinunternehmen natürlichgut, wenn die Kommunen etwas zu sagen haben, wenndie Kommunen über Eigentum verfügen, wenn dieStadtwerke der Stadt gehören und nicht irgendwelchenfremden Besitzern. Seinem Stadtrat kann der Malermeis-ter noch auf der Straße begegnen, einem Fondsmanageraber nicht. Deshalb der Antrag der Fraktion Die Linke,
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Roland Claus
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die Daseinsvorsorge zurück in die öffentliche Hand zugeben. Rekommunalisierung nennen wir das.
Es gibt da wirklich kuriose Vorgänge. Ich traf letztensdie Bürgermeisterin von Coswig. Sie hat zwei Jahre langvergeblich versucht, den Besitzer des Bahnhofs in Cos-wig ausfindig zu machen. Es ist ihr nicht gelungen. DerBahnhof ist an irgendjemanden verscheuert worden, undden Eigentümer konnte sie nicht in Erfahrung bringen.
Noch schlimmer wird es dann, wenn man einem Bürger-meister die Frage stellt: „Wem gehört eigentlich euerRathaus?“, und der Bürgermeister muss daraufhin ant-worten: Das weiß ich nicht, aber das ist eine gute Frage.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass ÖPP- bzw.PPP-Konstrukte final gescheitert sind, also die Versuche,die öffentliche Daseinsvorsorge in die Hände von Fi-nanzmärkten zu geben.
Der Weg aus der Sackgasse beginnt in der Sackgasse,nämlich mit dem Eingeständnis: Raus komme ich hiernur, wenn ich zurückgehe.Die größte Gefahr für den Mittelstand – darauf willich auch hinweisen – geht momentan von den internatio-nalen Finanzmärkten und besonders den Schattenbankenaus. Deren Philosophie ist es, weltweit aus der Wert-schöpfung anderer Profit zu ziehen, ohne selbst je denAnspruch zu erheben, Werte zu schöpfen. Diese Bankensind natürlich auf das aus, was vom Mittelstand geleistetwird. Warren Buffett hat deshalb diese Instrumente aucheinmal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ ge-nannt. Eine vernünftige Wirtschaftspolitik wird erst dannwieder möglich sein, wenn diese Übermacht der Finanz-märkte über die Realwirtschaft gebrochen wird.
Da versagt diese Bundesregierung natürlich auf derganzen Linie. Das ist eigentlich kein Wunder. Wir habenes hier nämlich mit einem Bundesminister zu tun, der alsBundeswirtschaftsminister mit der linken Hand Förder-mittel verteilt und dann als Parteivorsitzender mit derrechten Hand Spenden einkassiert. Da muss man sichnicht wundern, wenn dabei eine wirkliche Regulierungvon Finanzmärkten ausbleibt.
Herr Kollege Claus, würden Sie einmal einen Blick
auf die Uhr werfen?
Das tue ich gerne und komme zum Schluss. – Ich
gehe im Moment davon aus, dass ich Sie von unserem
Antrag überzeugen konnte und dass Sie deshalb zustim-
men: für die Stärkung von Mittelstand und Kommunen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Anton Hofreiter,Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Rede von Wirtschaftsminister Rösler warmehr als überraschend; denn der Minister hat dargestellt,dass für das Handeln der Regierung, was die Energie-politik angeht, SPD und Grüne verantwortlich sind. Ichglaube, Herr Minister, Sie haben ein paar ganz grund-sätzliche Dinge nicht verstanden. Sie sind Minister undTeil der Regierung und haben deshalb den Auftrag, diePolitik dieses Landes mitzugestalten, statt hier Polemikzu verbreiten.
Ich komme nun zu dem Punkt, über den heute eigent-lich debattiert werden sollte, nämlich zum Thema PPP.Ob eine Regierung mittelstandsfreundlich ist oder nicht,erkennt man nicht daran, ob ein Herr Brüderle imBundestag die heute-show imitiert, sondern eine solcheRegierung erkennt man an ihrem konkreten Handeln.Wie das ausschaut, können wir am Beispiel PPP wunder-schön sehen.Was macht die Regierung? Sie setzt einen ganzenHaufen PPP-Projekte im Bereich Autobahnen um. Diesedienen erstens dazu, die Schuldenbremse zu umgehen,was schon einmal ein Skandal an und für sich ist.
Sie dienen zweitens dazu, den Mittelstand aus dem Be-reich Straßenbau herauszuhalten.
Warum? Wie funktionieren diese Modelle? DieseModelle funktionieren so, dass sich der Staat nicht mehrbei den Banken, sondern bei großen Baufirmen bzw.großen Konsortien verschuldet, damit diese dann für dieöffentliche Hand beispielsweise Autobahnen erweiternoder ausbauen. Neben der Tatsache, dass PPP als Vorfi-nanzierung missbraucht wird, um so die Vorgaben derSchuldenbremse zu umgehen, ist ein weiterer Effekt,dass sich der Mittelstand nicht mehr direkt beteiligenkann; denn die Projekte haben in der Regel ein Konzes-sionsvolumen von 400 Millionen bis 1 Milliarde Euro.Mittelständler sind damit ausgeschlossen.Ein weiterer Effekt ist de facto eine Oligopolbildungin diesem Bereich. Die öffentliche Hand zahlt unglaub-
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Dr. Anton Hofreiter
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lich viel für solche Projekte. Die Kosten fallen allerdingsüber 30 Jahre verteilt an. Deswegen hat der Bundesrech-nungshof klar gesagt, dass PPP-Projekte zukünftig nurnoch durchgeführt werden sollten, wenn sie wirtschaft-lich sind. Was ist daraus zu schlussfolgern? Dass die bis-herigen PPP-Projekte im Autobahnbereich eben nichtwirtschaftlich waren. Warum macht man das Ganzedann? Weil sich so die Vorgaben der Schuldenbremseumgehen lassen.Man könnte ehrlicher vorgehen und die entsprechen-den Projekte in vernünftigen Losgrößen ausschreiben,sodass sich auch der Mittelstand beteiligen kann. Aberdann müsste man zum Finanzminister gehen und sagen,dass man für die entsprechenden Autobahnprojekte Geldbraucht, oder man müsste sich die eine oder andere Um-gehungsstraße sparen, weil man sie sich dann nicht mehrleisten kann. Aber nein! Was macht man? Man machtriesige Projekte, die unglaublich aufwendig sind und nurnoch von den größten Baufirmen zu stemmen sind.Man umgeht also die Vorgaben der Schuldenbremse,sorgt für wunderschöne Gelegenheiten, Bändchen beiAutobahneröffnungen durchzuschneiden, und verschiebtdie Finanzierung in die Zukunft. Das ist nicht mittel-standsfreundlich, sondern eine finanzpolitische Frech-heit.Danke.
Für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Ernst
Hinsken der nächste Redner.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Wenn man die Debatte verfolgt, dann gewinntman zum Teil den Eindruck: Hier reden welche, die vomMittelstand überhaupt nichts verstehen.
Sie vermitteln den Eindruck, als lebten Sie in einer ande-ren Welt. Sie sind nicht bereit, anzuerkennen, was Groß-artiges gerade in den letzten Monaten und Jahren für denMittelstand in der Bundesrepublik Deutschland unterLeitung des tüchtigen Wirtschaftsministers Rösler ge-leistet worden ist.
Das, was mein Kollege von Stetten und Frau KolleginStrothmann, immerhin Präsidentin einer Handwerks-kammer, hier ausgeführt haben, hat sich von IhrenReden, meine Damen und Herren von der Opposition,wohltuend abgehoben.Ich möchte aber nicht alleine Aussagen darüber tref-fen, wie es um den Mittelstand steht, sondern ich möchtein diesem Fall andere sprechen lassen. Der BDI-Präsi-dent Grillo hat am 14. April 2013 gesagt: „,GermanMittelstand‘ ist im Ausland eine echte Marke unseres In-dustriestandortes.“ BDA-Präsident Dieter Hundt hat aus-geführt: „Die Bundeskanzlerin und die Bundesregierungstehen dabei für eine hervorragende Politik.“ BDI-Präsi-dent Grillo hat des Weiteren gesagt: „Wir sehen guteChancen, dass die deutsche Wirtschaft … deutlich anFahrt gewinnt.“ Der Präsident des Zentralverbands desDeutschen Handwerks, Otto Kentzler, hat ausgeführt:„Das Handwerk ist zuversichtlich und blickt positiv indie Zukunft.“ Das sind Aussagen von Verbandsvertre-tern, die in vorderster Linie stehen und wissen, wo derSchuh drückt. Sie wissen, was sie sagen. Sie würden unsins Gewissen reden, wenn die Lage nicht so wäre, wiesie sein sollte. Aber tatsächlich ist alles gut. Diese Ver-bandsvertreter sind bereit, anzuerkennen, was sich getanhat. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposi-tion, sind dazu nicht bereit.
Ja, der Mittelstand ist das Bollwerk der Wirtschaft.Mithilfe eines leistungsfähigen Mittelstandes haben wirdie Krise mit am besten bewältigt. Insbesondere die klei-nen und mittleren Unternehmen haben in den vergange-nen Jahren maßgeblich zur deutschen Erfolgsgeschichtebeigetragen.Mein Resümee: Es lohnt sich ersichtlich, Politik fürden Mittelstand zu machen; denn dieser ist nirgendwostärker ausgeprägt als bei uns in der BundesrepublikDeutschland. Wir werden überall gerade um diesen star-ken und tüchtigen Mittelstand beneidet. Andere sind da-bei, einen Mittelstand aufzubauen. Wir haben ihn, wirsetzen auf ihn und geben ihm Freiheit. Wir wollen dieMittelständler unterstützen, damit sie sich weiterhingroßartig entfalten können.
Zum Beweis dafür möchte ich anführen, dass dieAnzahl der kleinen Unternehmen mit weniger als zehnBeschäftigten und einem Umsatz unter 1 Million Eurolaut Unternehmensregister seit 2006 um 1,6 Prozent undgleichzeitig die der mittleren Unternehmen mit 10 bis499 Beschäftigten und einem Umsatz zwischen 1 und50 Millionen Euro um 4,1 Prozent gestiegen ist. Es istwieder in, Mittelständler zu werden, in die Selbststän-digkeit zu gehen.
Jahrelang haben wir für den Mittelstand gerungen undgekämpft. Wir haben den Leuten gesagt: Seid wiederbereit, selbst Aufgaben zu übernehmen, selbst in dieWirtschaft zu gehen, euch selbst zu entfalten. – Jetzt istdiese Situation erreicht, und die Zahlen liefern dafür ei-nen eindeutigen Beweis.
Diese Bundesregierung schafft dafür die Rahmen-bedingungen, natürlich auch unterstützt von unseremhervorragenden Kammersystem, das keinesfalls negativgesehen werden darf. Unsere Kammern sind wichtig.Gäbe es sie nicht, müssten sie erfunden werden. Sie leis-ten als Körperschaften des öffentlichen Rechts für uns,
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Ernst Hinsken
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den Staat, hervorragende Arbeit. Deswegen möchte ichhier ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum Kam-mersystem in der Bundesrepublik Deutschland ablegen.
Mittelständler sind Unternehmer und keine Unterlas-ser.
Sie nehmen die Herausforderungen an. Weil sie die He-rausforderungen annehmen und weil sie erfolgreich sind– ich darf dabei auf den Sparkassenverband verweisen –,ist die Eigenkapitalquote der mittelständischen Unter-nehmen von 11,5 Prozent im Jahr 2007 auf aktuell20,7 Prozent angestiegen. Das ist fast eine Verdopplung.Die Wertschöpfung und die Erwerbstätigkeit waren inder deutschen Geschichte noch nie so hoch wie 2012.Die Zahl der Beschäftigten in kleinen und mittleren Be-trieben mit weniger als 250 Mitarbeitern liegt um sageund schreibe 921 000 über dem Stand von 2009. Das warvor wenigen Jahren.Besonders erfreulich ist für mich, dass die Beschäfti-gungsaussichten weiterhin positiv bleiben. So rechnetder DIHK für das Jahr 2013 mit rund 150 000 zusätz-lichen Arbeitsplätzen im Mittelstand. Das Handwerkrechnet mit einem Wachstum von 0,5 bis 1 Prozent.Damit leistet der Mittelstand auch in diesem Jahr aufherausragende Weise einen namhaften Beitrag zur Stabi-lisierung der Beschäftigungslage.Ich könnte hier natürlich noch Verschiedenes ausfüh-ren, vor allen Dingen was die Investitionen in Forschungund Entwicklung anbelangt. Auch dort können wir posi-tive Zahlen vermelden. Das würde aber den zeitlichenRahmen sprengen, sodass ich mich auf das beschränkenmöchte, was ich Ihnen als Botschaft zurufen möchte.Wenn ich bei einer Veranstaltung mit einem Mittel-ständler spreche und frage: „Was bedrückt dich denn?“,dann antwortet er: Zu hohe Steuern, zu viel Bürokratie,zu hohe Sozialkosten, zu wenig Fachkräfte und zu hoheEnergiekosten.Zu den Steuern. Wir arbeiten am Abbau der kaltenProgression und wollen vor allen Dingen die Umsatz-grenzen für die Istbesteuerung anheben.Zur Bürokratie. Seit 2005 wurden in der Bundesrepu-blik Deutschland 600 Gesetze und Verordnungen weni-ger registriert. Hier ist also ein Positivum zu verzeich-nen. Mit den Erleichterungen bei den elektronischenhandelsrechtlichen Bilanzveröffentlichungen und der-gleichen mehr haben auch wir unseren Beitrag dazu ge-leistet, dass der bürokratische Unsinn so weit wie ir-gendwie möglich zurückgedrängt wird.Zu den Sozialkosten. Bei der Rentenversicherung ha-ben wir eine Beitragssatzsenkung auf 18,9 Prozent vor-genommen. Das ist eine Entlastung um 6 MilliardenEuro: 3 Milliarden Euro bei den Arbeitnehmern, 3 Mil-liarden Euro bei den Unternehmern. Insbesondere davonbetroffen ist der Mittelstand.Zum Thema Fachkräfte. Wir erschließen noch mehrinländische Fachkräfte und erleichtern die Zuwanderungqualifizierter Fachkräfte.
Herr Kollege.
Auch was die Energiekosten anbelangt – Herr Präsi-
dent, ich bin am Ende –,
Oh, das kann ich mir gar nicht vorstellen.
– werden wir die Belastung für den Mittelstand auf ei-
nem vertretbaren Niveau halten. Das darf die Bevölke-
rung wissen, das darf der Mittelstand zur Kenntnis neh-
men. Der Mittelstand kann sich auf uns verlassen. Er
muss nur am 22. September richtig wählen, damit es so
bleibt, wie es ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Schwarzelühr-Sutter ist die nächste
Rednerin für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es für diese Re-gierung ein Arbeitszeugnis gäbe, dann würde darin ste-hen: Die Bundesregierung hat sich bemüht.
– Immerhin, Herr Kauder. – In der Zeugnissprache heißtdies – Wirtschaftsexperten wissen das –: auf der ganzenLinie versagt.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere GroßeAnfrage zur Situation des Mittelstandes kann auch nichtals Werbeblock bewertet werden. Das war auch schon sobei der Großen Anfrage zur Energiewende: keine Zah-len, keine Daten. Überhaupt fragt man sich, auf welcherBasis Sie eigentlich Politik machen.
Den Mittelstand landauf, landab als Rückgrat derdeutschen Wirtschaft zu bezeichnen, sind viele schönewarme Worte. Aber eigentlich muss man sagen: Es istschon interessant, dass unser robuster Mittelstand so er-folgreich war – trotz dieser Regierung.
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29672 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Rita Schwarzelühr-Sutter
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Der Economist hat die Bedeutung des deutschen Mit-telstandes ganz gut beschrieben – die haben das erkannt –:Du musst kein Silicon Valley Nerd in Flip-Flops sein,um erfolgreich zu sein. Unsere mittelständischen Unter-nehmen sind gut damit gefahren, dass sie bei ihren Leis-ten geblieben sind.Dem Mittelstand geht es bisher zwar gut, aber vor denHerausforderungen des demografischen Wandels, derEnergiewende, der Finanzierungen und der Existenz-gründungen verschließen Sie die Augen. Die neuestenZahlen sprechen nämlich eine ganz andere Sprache. DerIfo-Geschäftsklimaindex zeigt, dass sich die Stimmungmehr und mehr eintrübt. Sie verschließen davor die Au-gen.
Die Fachkräftesicherung wurde schon mehrfach an-gesprochen. Sie nehmen das Potenzial von Frauen garnicht wahr. Nein, Sie gewähren lieber ein Betreuungs-geld und finden es dann gut, wenn die Frauen zu Hausebleiben, und beklagen sich dann auch noch. Da brauchenwir doch gar nicht über die Frauenquote oder gar übergleichen Lohn für gleiche Arbeit zu sprechen.Wenn Sie auf unsere Frage, was Sie denn tun, umMädchen und junge Frauen für MINT-Berufe zu begeis-tern, antworten, dann nennen Sie den Girls’ Day. – Die-ser Tag ist übrigens heute. Unsere Girls’-Day-Mädchensitzen jetzt hier auf der Tribüne und sind begeistert.
Weiter verweisen Sie auf „Jugend forscht“. Beides istnicht auf Ihrem Mist gewachsen, und Sie haben nichtsNeues hinzugesetzt.Sicherlich wurden viele Frauen, die in dieser Sacheauf die Kanzlerin gesetzt haben, herb enttäuscht, weil danicht mehr Schwung in die Frauenpolitik und die Ar-beitspolitik gekommen ist.
Herr Kauder, heute schreibt das Handelsblatt zurEnergiewende – das ist mein nächster Punkt –:Energiewende ist aus Sicht der Industrie größterMinuspunkt der Kanzlerin.Wie wahr!Das Auf und Ab dieser Bundesregierung in der Ener-giepolitik ist ein gewichtiger Risikofaktor für mittelstän-dische Unternehmen geworden. Sie sind zur Investi-tionsbremse in dieser Branche geworden und schadenDeutschland. Das ist ein energiepolitisches Versagendieser Regierung auf ganzer Linie.
Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, Umweltver-träglichkeit beschwören Sie zwar; aber Sie machen keinePolitik, die auch zukunftsfähig ist. Es mangelt an Ko-ordination zwischen Bund und Ländern und auch mit dereuropäischen Ebene. Ein Schelm, wer denkt, das seiTaktik. Strategie ist es sicherlich nicht. LangfristigesDenken ist für Sie ein Fremdwort.
Aus Nischen heraus sind unsere mittelständischenUnternehmen oftmals erfolgreich, nicht nur hier im In-land, sondern auch im Ausland. An dieser Stelle kommeich zur europäischen Rechtssetzung. Wenn Sie diesenMittelstand immer so beschwören, dann hätten Sie sichauch einmal dafür einsetzen können, dass die Gesetzge-bung in Brüssel etwas mittelstandsfreundlicher wird.Aber nichts dergleichen! Auch einen europäischen Nor-menkontrollrat – das zum Thema Bürokratieaufbau; Ent-schuldigung: Bürokratieabbau –
haben Sie nicht erreicht. Sie bauen dagegen Bürokratieauf.Die Lage hochqualifizierter Arbeitskräfte wurdeschon mehrfach angesprochen. Die steuerliche For-schungsförderung steht bei Ihnen im Koalitionsvertrag.Sie haben vier Jahre Zeit gehabt. Daraus ist nichts ge-worden. Erster Klasse beerdigt!
Wir fordern eine steuerliche Forschungsförderung,und zwar für kleine und mittlere Unternehmen – es sollkeine Mitnahmeeffekte durch die großen geben –, mit ei-nem wachstumsorientierten Personalkostenzuschuss.Damit leisten wir konkret Unterstützung für junge Un-ternehmen. Die können wirklich etwas damit anfangen.Sie können Personal für Forschung und Entwicklungeinstellen und so innovativ unterwegs sein.Das ZIM wollen wir über 2013 hinaus fördern,ebenso Existenzgründungen. Wir sind wirklich fastSchlusslicht bei den Existenzgründungen; das hat sichmassiv verschlechtert. Auch da haben Sie sich nicht mitRuhm bekleckert.
Als Letztes möchte ich noch ein Wort zur europäi-schen Gesetzgebung sagen. Was den Mittelstand, kleineund mittlere Unternehmen sowie insbesondere dasHandwerk, richtig trifft, ist die Umsetzung der Zah-lungsverzugsrichtlinie. Zahlungsmoral fordern Sie ein.Das funktioniert bei uns in Deutschland, und Sie öffnenjetzt das Tor dafür, dass dieses Leitbild quasi fällt.Kleine Unternehmen kommen in Liquiditätsprobleme,weil Sie diese Richtlinie nicht richtig umsetzen.
Sie werden die Rechtsposition der Handwerksbetriebeals Gläubiger total schwächen. Da geht es wirklich rich-tig ums Eingemachte, richtig ums Geld und nicht nur umschöne Worte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29673
Rita Schwarzelühr-Sutter
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Alles in allem: Mittelstandspolitik der schwarz-gel-ben Koalition bedeutet: viel in der Auslage, wenig gelie-fert und nichts auf Lager. Diese Mittelstandspolitik mussein Ende haben. Am 22. September gehen wir da mitneuem Schwung heran und machen eine neue Reform-politik mit Mut und auch für die Realwirtschaft.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Jasper, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauSchwarzelühr-Sutter, viele Länder in der Welt hättengerne die Probleme, die wir in Deutschland haben. Stattin Ihr Wehklagen einzustimmen, möchte ich lieber damitbeginnen, die Aussage der Kollegin Lena Strothmann zuunterstützen: Der deutschen Wirtschaft geht es gut, undden Menschen in Deutschland geht es ebenfalls gut.
Noch nie in der Geschichte unseres Landes waren soviele Menschen in Beschäftigung, und noch nie ist eingrößerer Wohlstand erreicht worden. Grundlage dieseraußerordentlichen Stabilität und Wachstumsstärke derdeutschen Wirtschaft ist die dynamische mittelständi-sche Unternehmenslandschaft. Es sind insbesondere dieinhabergeführten Familienbetriebe, die nicht nur quanti-tativ, sondern auch qualitativ das Rückgrat unserer Wirt-schaft bilden. Man kann es gar nicht oft genug sagen:Die Arbeitslosigkeit in unserem Land ist in den letztenJahren von über 5 Millionen auf heute unter 3 Millionengesunken. Hieran haben die mittelständischen Unterneh-men einen erheblichen Anteil.
In den letzten fünf Jahren wurden über 1,8 MillionenArbeitsplätze geschaffen. Auch in diesem Jahr rechnetman mit über 150 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen.Handwerk und Mittelstand leisten somit erneut einen er-heblichen Beitrag zur Stabilisierung der Beschäftigungs-lage. Wichtige Eckpfeiler sind hierbei die Sozialpartner-schaft, aber natürlich auch die Tarifautonomie.Investitionen in Forschung und Entwicklung sind einIndikator für die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftssys-tems. Diese Investitionen sind auf 2,9 Prozent des BIPgestiegen. Unser Ziel von 3 Prozent ist nahezu erreicht.Investitionen und Initiativen im Rahmen der High-tech-Strategie der Bundesregierung haben die Innova-tionskraft und auch die Wettbewerbsfähigkeit inDeutschland gestärkt. Viele weitere Beispiele lassen sichnennen.Doch das allein reicht nicht aus. Es ist erst die Risiko-und Leistungsbereitschaft des innovativen Mittelstands,die Wachstum, Wohlstand und Innovation in unseremLand sichert. Die kleinen und mittelständischen Unter-nehmen sind die Treiber des Strukturwandels und desFortschritts. Der gute und robuste Zustand des Mittel-stands darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass esin der Zukunft weitere und neue Herausforderungengibt, die es zu meistern gilt.Wenn ich mich mit meinen Unternehmerkollegen un-terhalte und sie frage, welche drei zentralen Probleme inder Zukunft gesehen werden, dann werden in der Regeldrei genannt: Ganz oben steht der Fachkräfte- und Nach-wuchsmangel. Es folgen steigende Energiekosten undder Rohstoffmangel. Und genau da gilt es dann anzuset-zen. Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen undUnterstützungen generiert werden, damit die Unterneh-men Mittel und Wege finden, diese Probleme zu lösen.
Wir sollten über die Stärke dieser Unternehmen frohsein und alles tun, damit das so bleibt. Wenn ich sehe,was vonseiten der Linken, der SPD und der Grünen indiesem Bereich hauptsächlich gefordert wird, nämlichSteuererhöhungen, wirkt das genau in die entgegenge-setzte Richtung.Was will Rot-Grün? Die Wiederbelebung der Vermö-gensteuer, die Einführung einer Vermögensabgabe, dieErhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer, die An-hebung des Spitzensteuersatzes und viele Dinge mehr.Statt die Schaffung von Vermögen und Eigentum zu för-dern, ist das linke Bedürfnis nach Umverteilung größerdenn je.
Die propagierten Steuererhöhungen in den unter-schiedlichsten Bereichen gehen insbesondere zulastendes Mittelstandes. Die Investitions- und Innovationsfä-higkeit wird entscheidend eingeschränkt. Es wirdverhindert, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Auch Unter-nehmensgründungen werden erschwert. Wenn der Frak-tionsvorsitzende der Grünen in der gestrigen AktuellenStunde darüber schwadroniert, dass Deutschland eineSteueroase sei, weil es hier noch keine Vermögensab-gabe oder keine Vermögensteuer gibt, dann hat er nichtsverstanden.
Der Aufwand zur Ermittlung der Bemessungsgrund-lage der Vermögensteuer und der daraus resultierendeErtrag stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu-einander. Ein Großteil des in Deutschland vorhandenenVermögens ist in Unternehmen gebunden. Somit sind esgenau die kleinen und mittelständischen Unternehmen,die am stärksten von der Vermögensteuer betroffen sind.
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Dieter Jasper
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Im Kern findet eine Substanzbesteuerung statt. Es wirdVermögen vernichtet.
Auch die schnell aufgestellte Forderung nach einerErhöhung des Spitzensteuersatzes von derzeit 42 Pro-zent auf dann 49 Prozent trifft in erster Linie die Leis-tungsträger unserer Gesellschaft.
Neben den Facharbeitern ist das die große Zahl der klei-nen und mittelständischen Unternehmen, die in der Re-gel als Personengesellschaften organisiert sind. Bei die-sen führt die geplante Steuererhöhung zu erheblichenProblemen. Anders als große Kapitalgesellschaften kön-nen sie beispielsweise nicht ins Ausland ausweichen undmüssen die volle Steuerlast tragen.Gleiches gilt für den Bereich der Erbschaft- undSchenkungsteuer. Für viele Handwerker und Unterneh-mer wird es ohnehin immer schwieriger, einen Nachfol-ger zu finden. Hohe Zahlungen durch eine Erbschaft-und Schenkungsteuer erschweren das zusätzlich und be-deuten auch manchmal das Aus für die Betriebe.Die von der linken Seite immer wieder gefordertenErhöhungen von Steuern und Abgaben sind eindeutigder falsche Weg. Der deutsche Staat verfügt über Steuer-einnahmen in nie dagewesener Höhe. Hiermit gilt eshauszuhalten. Ein ausgeglichener Staatsaushalt bietetauch für die Unternehmen in Deutschland die beste Ge-währ und eine gute Voraussetzung für ein nachhaltigesund stetiges Wachstum.
Dieses Wachstum schafft nicht nur neue Arbeitsplätze,sondern entlastet auch die Sozialkassen. Nur so ist esletztendlich zu erklären, dass die Leistungsträger durcheine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um mehrals 6,3 Milliarden Euro entlastet werden konnten.
Der richtige Weg ist: Haushalt konsolidieren, sparsamhaushalten, Erleichterungen an die Bürger weitergeben,Erhöhungen von Steuern und Abgaben nur dann, wennes zwingend erforderlich ist.
Und das zum Schluss: Viele kleine und mittelständischeUnternehmen zahlen ihre Steuern in Deutschland und tundas auch mit großer Überzeugung. Die Einstellung, dassstarke Schultern mehr tragen müssen als schwache, ist beivielen Unternehmern durchaus vorhanden. Dazu brauchtes nicht immer die Begründung, dass durch Umverteilungsozialer Frieden begründet werden kann.Es gibt auch pragmatische Gründe, die hier bereitsdargestellt wurden: eine funktionierende Infrastruktur,eine gute Aus- und Weiterbildung junger und ältererMenschen, eine gute Verwaltung und viele Dinge mehr.Das schafft eine solide Basis für nachhaltiges Wirtschaf-ten und ist ein Wettbewerbsvorteil für die deutschen Un-ternehmen im internationalen Wettbewerb.Dennoch ist die Summe aus Steuern und Abgabenenorm hoch. Eine leichtfertige Erhöhung vorhandenerund die Einführung neuer Steuern unter dem Stichwort„Reichensteuer“ ist diffamierend und schadet demStandort Deutschland. Es werden gerade nicht die vonRot-Rot-Grün verfolgten Millionäre getroffen. Diesesind jederzeit in der Lage, ihre Vermögen im Auslandanzulegen.
Getroffen werden vor allem die kleinen und mittelständi-schen Unternehmen, die in Deutschland gebunden sindund ihre Steuern auch hier zahlen müssen. Rot-Grünzielt auf eine Handvoll Millionäre, trifft aber die ge-samte Breite des Mittelstandes.
Bei allem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und so-zialem Frieden darf nicht vergessen werden, dass vordem Verteilen das Erwirtschaften steht. Dieses Erwirt-schaften erfolgt hauptsächlich in den kleinen und mittel-ständischen Betrieben unseres Landes. Diesen darf nichtdie Luft zum Atmen genommen werden.Es gibt viele Möglichkeiten, den deutschen Mittel-stand weiter zukunftsfest zu machen, sei es in den Berei-chen Fachkräftesicherung, Sicherstellung der Energie-versorgung, Förderung von Innovationen und vielenBereichen mehr, die bereits angeführt wurden. Die Bun-desregierung hat hier in den letzten Jahren viel erreicht.Nicht durch das Erhöhen und Schaffen neuer Steuernsind wir so erfolgreich gewesen, sondern durch nachhal-tiges und effizientes Haushalten. Die ganze Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Unternehmen konnte sichso voll entfalten.
Deutschland kann sich im europäischen und auch iminternationalen Vergleich mehr als sehen lassen. DerDank hierfür gilt in erster Linie den Arbeitnehmern undArbeitgebern in Deutschland, aber natürlich auch derunionsgeführten Bundesregierung, die eine eindrucks-volle Bewerbung für eine neue Legislaturperiode abge-geben hat.Danke schön.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist derKollege Reinhold Sendker, ebenso für die CDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29675
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Tiefensee, von Stillstand bei den ÖPP, den öffent-lich-privaten Partnerschaften, kann überhaupt keineRede sein. ÖPP-Projekte machen im Bereich des Hoch-baus 60 Prozent aus. Die Möglichkeiten sind hier nochlange nicht ausgeschöpft. Ferner gibt es ÖPP-Projekteim Dienstleistungs- und IT-Bereich, denen Experten einenormes Wachstum voraussagen. Im Bereich des Fern-straßenausbaus bilanzieren wir ein Ausbauvolumen von300 Kilometern und einen privaten Kapitaleinsatz von1,5 Milliarden Euro. Dafür, dass der Fernstraßenausbauderzeit aufgehalten wird, sind letztendlich rot-grüneLandesregierungen, zum Beispiel in Baden-Württem-berg und Nordrhein-Westfalen, verantwortlich.Schauen wir auf weitere positive Botschaften bei denöffentlich-privaten Partnerschaften: auf die Qualität derBauausführung, auf einen hochwertigen Betriebsdienstund auf einen schnellen und zeitnahen Ausbau der Bun-desfernstraßen. Ich nenne außerdem ausdrücklich dieEffizienzvorteile, wobei wir sagen müssen, dass dieWirtschaftlichkeit den gesamten Lebenszyklus „Planen,Bauen, Betreiben“ betrifft.Die ÖPP bieten bemerkenswerte Optionen. Es ist des-halb völlig richtig, alle Beschaffungsvarianten unvorein-genommen zu beurteilen und ihnen die gleichen Chan-cen einzuräumen. Ideologische Vorbehalte gehören hiernicht hin.
Wo besteht noch Handlungsbedarf? Dass die ÖPPmittelstandsfreundlich weiterentwickelt werden, ist füruns ein ganz zentraler Punkt. Mittelständische Unterneh-men sollen sich mit einem höheren Investitionsvolumen anÖPP-Projekten, sprich am Fernstraßenausbau, beteiligenkönnen. Folglich bitten wir darum, geeignete Rahmenbe-dingungen zu schaffen, um eine verstärkte Beteiligung desMittelstandes am Fernstraßenausbau zu erreichen.
Die Richtigkeit der These „Mehr Transparenz schafftAkzeptanz“ hat die christlich-liberale Bundesregierungschon bei der Realisierung des Finanzkreislaufs Straßenachgewiesen. Bei den ÖPP wollen wir nicht nur einbisschen, sondern deutlich mehr Transparenz. Wir schla-gen Ihnen daher vor, bei ÖPP-Projekten eine frühzeitigeInformation und Beteiligung der Öffentlichkeit und eineweitreichende Transparenz, auch in der Betriebsphase,durch regelmäßige Berichte an den Deutschen Bundes-tag sicherzustellen, mit der steten Nachfrage: Ist das,was zugesagt wurde, auch erreicht worden?Es ist erfreulich, dass die deutsche Bauwirtschaft imHerbst letzten Jahres zu mehr Transparenz bei ÖPP auf-gerufen hat. Den wilden Spekulationen über Vergabeund Vertragsinhalte wird damit der Wind aus den Segelngenommen. Deutlich mehr Transparenz und die Effi-zienznachweise führen zu mehr Vertrauen; hiermit kannideologischen Vorbehalten entgegengetreten werden.Das ist Zielführung. Dafür treten wir ein.
Transparenz endet aber dort – das ist ein Stück Wahr-heit –, wo es um schützenswerte Interessen der Projekt-beteiligten und um die wirtschaftlichen Interessen desStaates geht. Dahin gehend darf sie das ErfolgsmodellÖPP nicht seiner Vorteile berauben.Schauen wir schließlich auf die Vergleichbarkeit imHinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Die Rechnungshöfeführen an: ÖPP-Projekte basieren auf konkreten Aus-schreibungs- und Verhandlungsergebnissen. Bei der kon-ventionellen Methode hingegen seien es überwiegendKostenschätzungen und Erfahrungswerte. Folglich wirdeine bessere Vergleichbarkeit gefordert.Ferner kann mit der obligatorischen Eignungsprü-fung, die ich hier ausdrücklich nennen möchte, bereits ineinem frühen Stadium die grundsätzliche Eignung einesÖPP-Projekts geprüft werden. Daher fordern wir, diesesInstrument der Projektsteuerung künftig zu standardisie-ren und zu verbreiten.Ja, wir wollen eine bereits erfolgreiche Beschaffungs-variante ausdrücklich stärken, eine Variante mit mehrMittelstand, vor allem beim Fernstraßenausbau, mitdeutlich mehr Transparenz und Kommunikation und mitvergleichbaren Wirtschaftlichkeitsnachweisen.Leider – auch das ist ein Stück Wahrheit – erleben wirbei ÖPP-Projekten unter rot-grünen Landesregierungenzurzeit den großen Verschiebebahnhof: Es soll überprüftund nochmals geprüft werden. Ich sage Ihnen: Wenn ineinem konkreten Einzelfall längst feststeht, dass ÖPPbesser sind, dann sollten ÖPP hier auch den Zuschlagbekommen.
Was die Oppositionsanträge angeht, kann ich nur fest-stellen: Die Sozialdemokraten zögern und zaudern. Beiden Grünen stehen wieder einmal ideologische Vorbe-halte gegen Zukunftsoptionen.Herr Dr. Hofreiter, dadurch, dass Sie die Vorwürfe ei-nes Schattenhaushalts und eines Verstoßes gegen dieSchuldenobergrenze wiederholen, werden diese Vor-würfe nicht besser.
Die Verpflichtung zur Zahlung des Entgelts an den Auf-tragnehmer stellt keine Kreditaufnahme im Sinne desArt. 115 Grundgesetz dar. Es ist also keine Umgehungder Schuldengrenze. Das bestätigt uns der Bund-Länder-Ausschuss. Ähnlich hat sich der Bundesrechnungshofgeäußert. Ich bitte, das bei Gelegenheit doch einmal zurKenntnis zu nehmen.
In der gegenwärtigen Haushaltssituation können wires uns gar nicht leisten, ideologische Vorbehalte gegenÖPP aufrechtzuerhalten. Wir möchten diese Variantestärken. Es ist eine Beschaffungsvariante, die es zu prü-
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29676 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Reinhold Sendker
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fen gilt. Wir wollen ihre Anwendung unterstützen – mit-telstandsfreundlich, wirtschaftlich und transparent.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache17/12700 mit dem Titel „Stabilität, Wachstum, Fort-schritt – Den starken deutschen Mittelstand weiter zu-kunftsfest machen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antragist mit der Mehrheit der Koalition gegen die Stimmender Opposition angenommen.Unter dem Tagesordnungspunkt 3 b wird interfraktio-nell die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache17/12771 an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno-logie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Tagesordnungspunkt 3 d. Hier geht es um die Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Druck-sache 17/13155. Hierzu liegt mir eine schriftliche Erklä-rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-nung des Kollegen Groß vor.1)Ich lasse zunächst über die Beschlussempfehlung un-ter Buchstabe a abstimmen. Da empfiehlt der Ausschussdie Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSUund FDP auf der Drucksache 17/12696 mit dem Titel„Öffentlich-Private Partnerschaften – Potentiale richtignutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transpa-renz erhöhen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlungzu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den vorhin genanntenMehrheiten angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der SPD-Fraktion auf der Drucksa-che 17/9726 mit dem Titel „Für einen neuen Infrastruktur-konsens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieseBeschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hausesangenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/5258 mit dem Titel „Transparenz in Public Pri-vate Partnerships im Verkehrswesen“. Wer stimmt derBeschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mitMehrheit angenommen.Unter dem Tagesordnungspunkt 3 e geht es um dieBeschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zumAntrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rekom-munalisierung beschleunigen – Öffentlich-Private Part-nerschaften stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf der Drucksache 17/6515, denAntrag der Fraktion Die Linke abzulehnen. Wer stimmtdieser Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Hier geht esum die Abstimmung über den Antrag der SPD-Fraktionauf der Drucksache 17/13224 mit dem Titel „BesserePolitik für einen starken Mittelstand – Fachkräfte si-chern, Innovationen fördern, Rahmenbedingungen ver-bessern“. Wer stimmt für diesen Antrag der SPD-Frak-tion? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineBätzing-Lichtenthäler, Elke Ferner, AnetteKramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDeutschland 2020 – Gerecht und solidarisch– Drucksache 17/13226 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes über die Festset-
– Drucksache 17/12857 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten TabeaRößner, Memet Kilic, Dr. Tobias Lindner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENMit einem Nationalen Aktionsplan die Chan-cen des demografischen Wandels ergreifen– Drucksache 17/13246 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-1) Anlage 2
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29677
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, DianaGolze, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEMehrheitswillen respektieren – GesetzlicherMindestlohn jetzt– Drucksachen 17/8026, 17/9613 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolbe) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEFür soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftli-cher Spaltung – Bilanz nach 10 Jahren Agenda2010– Drucksachen 17/12683, 17/13182 –Berichterstattung:Abgeordneter Markus KurthNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Frak-tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Was hat Deutschland stark ge-macht? Ganz unzweifelhaft die industriellen Fertigkeitenund unsere industrielle Wettbewerbsfähigkeit, unzwei-felhaft unser sehr starker Mittelstand mit einem besonde-ren unternehmerischen Ethos, unzweifelhaft eine sehrgute Forschungslandschaft, universitär und außeruni-versitär, die duale Ausbildung – das konnte ich geradeam Sonntag wieder feststellen, als ich erlebte, wie1 110 Jungmeisterinnen und Jungmeister von der Hand-werkskammer in Düsseldorf ihre Urkunden erhalten ha-ben – und die soziale Partnerschaft.Aber Deutschland hat noch mehr stark gemacht, zumBeispiel das Aufstiegsversprechen für alle tüchtigen undfleißigen Bürgerinnen und Bürger oder die Chance aufeinen besseren Bildungsabschluss, als ihn die Eltern hat-ten, oder die faire Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolgoder intakte Kommunen, die Leistungen für diejenigenbereitstellen, die sich Bildung, Sport, Kultur, Sicherheitund Kinderbetreuung nicht privat leisten können, oderauch der Sinn für Maß und Mitte, für Anstand und Fair-ness oder ein, wenn man so will, rheinischer Kapitalis-mus, also eine soziale Marktwirtschaft, die genau er-kannt hat, dass der soziale Ausgleich die wesentlicheVoraussetzung ihrer Existenzberechtigung ist.Was ist nun der Befund heute? Deutschland ist zwei-fellos nach wie vor ein starkes Land, aber nicht alle ha-ben Zugang zu Teilhabe. Viele sehen ihre Leistung ebennicht anerkannt, geschweige denn angemessen belohnt.6,8 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohnvon weniger als 8,50 Euro, 1,4 Millionen sogar für weni-ger als 5 Euro. Fast 1,5 Millionen Menschen zwischen25 und 35 Jahren haben keinen Schul- und keinen Be-rufsabschluss. 71 von 100 Akademikerkindern gehen andie Hochschule, aber nur 24 von 100 Kindern aus Arbei-terfamilien. Frauen verdienen im Durchschnitt 22 Pro-zent weniger als Männer. Staat und Politik befinden sichin einem Schraubstock, ausgelöst durch die Finanz-marktkrise, in der Gewinne privatisiert und Verluste so-zialisiert werden. Sie sind erpressbar geworden. DerSteuerzahler ist zum Garanten in letzter Instanz gewor-den. Bezahlbares Wohnen wird inzwischen nicht nur inBallungsräumen zu einem Problem.Wir haben es deshalb inzwischen in meinen Augennicht nur mit Parallelgesellschaften in den oberen Etagenbis hin zum Penthouse unseres gesellschaftlichen Ge-bäudes zu tun, sondern auch mit Parallelgesellschaftenunten, mit Menschen, die sich deklassiert und ausge-grenzt fühlen, die sich nicht mehr zugehörig fühlen. Wirhaben es nicht nur mit einem Unverständnis vieler Bür-gerinnen und Bürger zu tun, dass die persönliche Leis-tung immer weniger wichtig und immer weniger wertist. Wir haben es mit Engpässen dahin gehend zu tun, öf-fentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge für denüberwiegenden Teil unserer Bürgerinnen und Bürger zufinanzieren.Aber es ist mehr als das. Wir haben es mit unverhält-nismäßigen Boni zu tun, die in keinem Verhältnis zurLeistung stehen, mit gefälschten Doktorarbeiten, mitLobbygesetzen und auch dem lässigen Umgang mitSteuerbetrug. All dies tritt Werte wie Anstand, Ehrlich-keit und Fairness mit Füßen. So empfinden das vieleMenschen.
Ich glaube, wir laufen Gefahr, dass Teile der deut-schen Eliten und auch politische Beliebigkeit das bürger-liche Wertefundament unterminieren könnten. EhrlicheBankkaufleute sind inzwischen Zocker, und Geiz wirdals „geil“ dargestellt und verkauft. Während eine Kassie-rerin wegen einer Wertmarke für 50 Cent ihren Job ver-lieren kann, bleiben millionenschwere Steuerbetrügerentweder in der Anonymität oder werden gar nicht ersterkannt, oder sie kommen mit einer Nachzahlung davon.Wie wirkt das auf den überwiegenden Teil der Bürgerin-nen und Bürger?
Aus aktuellem Anlass sage ich: Nicht der Fall Hoeneßist das eigentliche Problem,
sondern die vielen unentdeckten Fälle von Steuerbetrugsind das eigentliche Problem, bei dessen BekämpfungSie nicht besonders hilfreich gewesen sind.
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29678 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Peer Steinbrück
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Nicht nur die vielen unentdeckten Fälle von Steuer-betrug sind das Problem, sondern auch die legale Steuer-vermeidung von Konzernen, die die nationalen Steuer-systeme gegeneinander ausspielen. Nicht der FallHoeneß allein ist das Problem, sondern es sind dieSteueroasen, die Briefkastenfirmen zulassen. Es sindBanken, die Geschäftsmodelle und Dienstleistungen an-bieten, mit denen man Steuerhinterziehung und Steuer-betrug betreiben kann. Es sind vor allen Dingen auch dieLänder, die sich nach wie vor einem automatischen In-formationsaustausch verweigern.Noch einmal klar festgestellt: Die Bundesregierunghat den Elan, den wir 2009 mit Frankreich und mit derOECD entfacht haben, um Steuerbetrug und Steuerhin-terziehung auf internationaler Ebene zu bekämpfen,nicht genutzt. Sie haben eingeschlafene Füße gehabt!
Sie wollten uns ein Steuerabkommen mit der Schweizpräsentieren, das die Steuerbetrüger in der Anonymitätbelassen hätte und mit einem Ablass hätte davonkom-men lassen. Das ist das, was Sie uns nach wie vor alsvorbildlich verkaufen wollen. Sie sind nicht einmal inder Lage gewesen, für Deutschland denselben Informa-tionsaustausch herauszuverhandeln, den die USA bezo-gen auf ihre Steuerbürger in der Schweiz bekommen ha-ben. Sie versuchen, uns diesen Entwurf, der vonseitender SPD und von den Grünen abgelehnt worden ist, bisheute mit kranken Argumenten schönzureden.
Wenn wir die Auflösung und Relativierung von Wer-ten wie Anstand, Fairness, Ehrlichkeit und soziale Ba-lance weiter dulden, dann sage ich voraus, dass unseregesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung über dieSchnödigkeit im Umgang mit diesen Fragen – um einenBegriff von Theo Sommer, dem früheren Herausgeberder Zeit, aufzugreifen – in eine Krise geraten wird, weildie Menschen den Eindruck haben, dass bestimmte Re-geln wie Anstand, Fairness und Ausgleich nicht mehrgelten.Dann hilft es nicht, im Einzelfall bloß enttäuscht zusein, wie wir das gerade bei Frau Merkel erlebt haben,
sondern man muss sich als Regierungschef oder Regie-rungschefin gefordert sehen, das Wertefundament vonPolitik und Wirtschaft zu erneuern. Das vermisse ich beidieser Bundeskanzlerin.
Es geht der SPD in diesem Zusammenhang nicht umirgendeine Sozialromantik, und es geht auch nicht da-rum, im 150. Jahr unseres Bestehens die nostalgischeBeschwörung von Werten zu betreiben. Ich bin vielmehrdavon überzeugt, dass nur eine gerechte Gesellschaftauch eine starke Gesellschaft ist.
Ich bin davon überzeugt, dass Gerechtigkeit und einsozialer Ausgleich eine der wesentlichen Voraussetzun-gen für wirtschaftlichen Erfolg sind.
Ich bin überzeugt, dass umgekehrt auch gilt, dass derwirtschaftliche Erfolg eine Voraussetzung ist, um sozia-len Ausgleich zu betreiben. Ich bin davon überzeugt,dass sich eine ungerechte Gesellschaft am Ende für nie-manden rechnet, auch nicht für die Wohlhabenden.
Es ist kein Geringerer als der amerikanische Ökono-mienobelpreisträger Joseph Stiglitz gewesen, der einBuch mit dem Titel Der Preis der Ungleichheit geschrie-ben hat, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Ermacht deutlich, dass der Preis der Ungleichheit nicht nurin einem Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhaltesbesteht, sondern dass die Ungleichheit auch einen öko-nomischen Preis hat. Deshalb scheue ich mich nicht, voneiner Ökonomie der Gerechtigkeit zu sprechen. Ich binüberzeugt, dass Gerechtigkeit nicht nur für den gesell-schaftlichen Zusammenhalt von zentraler Bedeutung ist,sondern sich auch für alle rechnet und für alle rechnenmuss.
Ich will das an einigen wenigen Beispielen deutlichmachen. Die Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeits-markt, wenn sie Kinder haben wollen, ist nicht nur indi-viduell ungerecht, sondern sie ist auch volkswirtschaftli-cher Unsinn, insbesondere wenn man sich dieDemografie unseres Landes anschaut und weiß, dassjunge Frauen inzwischen bessere schulische, beruflicheund akademische Abschlüsse machen als Männer.Dumpinglöhne vernichten Arbeitsplätze bei den ver-antwortungsbewussten Unternehmen, die sich anständigverhalten.
Und dann sind wir auch noch in der Verlegenheit, denMenschen, die Dumpinglöhne bekommen, mit Auf-stockerbeträgen zulasten der Steuerzahler helfen zu müs-sen, was an die 10 Milliarden Euro kosten dürfte.Ein Bildungssystem, in dem nicht Anstrengung undLeistung, sondern das Einkommen oder die Beziehun-gen der Eltern für den Aufstieg sorgen, ist für die ge-samte Gesellschaft und für den Erfolg unserer Volkswirt-schaft schädlich.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29679
Peer Steinbrück
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Gerade wegen der demografischen Entwicklung gilt:Wir dürfen kein Kind zurücklassen.
In der Schule muss ebenso wie im Berufsleben und inBezug auf Existenzgründungen gelten: Wir braucheneine zweite Chance.Finanziell marode Kommunen und verwahrlosteStädte produzieren auch verwahrloste Seelen und Köpfe.Sie integrieren sich nicht mehr sozial und kulturell,sondern sie fühlen sich ausgeschlossen. Sie sind desinte-griert, und das verursacht Folgekosten. Das läuft daraufhinaus, dass wir es anschließend mit sozialen Folge-kosten zu tun haben, im Zweifelsfall bis hin zu Verwahr-losung und Kriminalität, weil wir unsere Kommunennicht in den Stand versetzt haben, soziale Brennpunktezu vermeiden.
Eine ungerechte Gesellschaft verursacht Sozial-kosten: Immer mehr Menschen werden von einer Auf-stiegschance ausgeschlossen. In der Folge werden siezwangsläufig resignieren und zu reinen Beziehern vonSozialleistungen. Das ist der Grund, warum wir in einenvorsorgenden Sozialstaat statt in einen reparierenden So-zialstaat investieren müssen.
Ein höherer Beitrag derjenigen, die stärkere Schulternhaben, zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, die Ein-führung eines gesetzlichen Mindestlohns, die gleicheBezahlung von Frauen und Männern, die angemessenefinanzielle Ausstattung von Kommunen oder auch derAusbau der Kinderbetreuung anstelle des Betreuungs-geldes sind daher nicht bloß Einzelentscheidungen, diehier im Berliner Politikbetrieb quasi aus wahl- undmachtarithmetischen Überlegungen getroffen werdensollten. All das sind vielmehr Entscheidungen, denen ausmeiner und aus SPD-Sicht eine klare Idee zugrunde lie-gen muss, wie das Miteinander in unserer Gesellschaftorganisiert werden soll, wie wir gesellschaftliche Teil-habe organisieren, wie wir in einem modernen Deutsch-land für Gleichberechtigung sorgen können.
Es ist die Idee von einer Gesellschaft, in der die Bür-ger sich belohnt fühlen. Es ist die Idee von einer Gesell-schaft, in der Bürger morgens aufstehen und antreten. Esist die Idee von einer Gesellschaft, in der man bereit ist,sich anzustrengen und gegebenenfalls auch Opfer inKauf zu nehmen. Es ist die Idee von einer Gesellschaft,die Leistung honoriert, die gegen die großen Lebens-risiken wie Krankheit, Altersarmut und Arbeitslosigkeitabsichert, die aber auch allen Menschen eine zweite, ge-gebenenfalls sogar eine dritte Chance gibt. Es ist dieIdee von einer Gesellschaft, in der Reichtum nichtverteufelt wird, in der Armut aber auch nicht der Caritaszugeführt wird.
Es ist die Idee von einer Gesellschaft, die individuelleLebensentwürfe ermöglicht und sich gleichzeitig demGemeinwohl verpflichtet sieht.Es geht nicht nur um den Preis für eine solidarischeGesellschaft, sondern es geht in meinen Augen vor allenDingen um den Wert einer solidarischen Gesellschaft.Deshalb will ich sagen: Wettbewerbsfähigkeit und Wert-bindung gehören in einem modernen Deutschland nachAuffassung der SPD zusammen. Genau das ist derGrund für Deutschlands Erfolgsgeschichte. Genau dasmacht die Stärke Deutschlands aus, und genau darumwird es am 22. September dieses Jahres gehen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für dieBundesregierung Frau Bundesministerin Dr. Ursula vonder Leyen. – Bitte schön, Frau Bundesministerin.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrSteinbrück, so jämmerlich, wie Sie Deutschland sehen,ist es nicht.
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“Das ist ein Wort, das Kurt Schumacher der SPD schonvor Jahrzehnten ins Stammbuch geschrieben hat. Be-trachten wir einmal die Wirklichkeit von heute:Noch nie hatten wir so viel Arbeit in Deutschland.
Wir haben heute 29 Millionen sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigte; das sind 2,6 Millionen mehr, seit-dem Angela Merkel Kanzlerin ist.
Es ist gute Arbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhält-nisse ist seit 2005 stärker gestiegen als die Zahl deratypischen Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl derälteren Erwerbstätigen über 55 ist um 1,8 Millionen ge-stiegen, seit Angela Merkel Kanzlerin ist.
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29680 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in ganzEuropa. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit 2007 um40 Prozent gesunken.
Heute sind eine viertel Million Kinder weniger inHartz IV. Das ist die Wirklichkeit in dem Land, in demAngela Merkel seit sieben Jahren regiert. Die Erfolge amArbeitsmarkt kommen bei den Menschen an.
Ja, Herr Steinbrück, ich habe den Antrag, zu dem Siehier heute eigentlich reden sollten, im Gegensatz zu Ih-nen gelesen. Von Steuerpolitik steht in dem Antrag derSPD nichts.
Aber in dem Antrag steht, dass die Einkommensscherein Deutschland auseinandergegangen ist.
Ja, das stimmt. Die Einkommensschere ist durch dieAgenda 2010 auseinandergegangen. Aber seit den letz-ten drei Jahren schließt sie sich wieder, und zwar dankder guten Wirtschaftslage und dank der guten Tarifab-schlüsse.
Es ist richtig, dass der Arbeitsmarkt durch die Agenda2010 geprägt ist; auch das gehört mit zum Betrachten derWirklichkeit.
Sie von der SPD schaffen es, hier einen Antrag einzu-bringen – über diesen debattieren wir hier –, in dem Sieauf 14 Seiten wortreich eine Agenda für 2020 darlegen,ohne auch nur mit einem einzigen Wort die Agenda 2010zu erwähnen, geschweige denn, dass Sie die Urheber-schaft dafür haben.
Was ist eigentlich mit Ihnen los? Schämen Sie sich da-für, oder was ist mit Ihnen passiert?
Das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt fle-xibler zu machen und Menschen in Beschäftigung zubringen, die vorher keine Chance hatten. Das wurde er-reicht.
Aber die rot-grüne Agenda war handwerklich so lausiggemacht, dass sie schwere Gerechtigkeitslücken gerissenhat, die wir hinterher alle flicken mussten.
Wir mussten die Konstruktionsfehler der Agenda2010 beheben. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnendie Jobcenterreform um die Ohren gehauen. Wir muss-ten die Jobcenter auf feste Füße stellen. Hätten wir dasnicht getan, gäbe es heute in Deutschland keine Job-center.
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen Ihre Hartz-IV-Reform um die Ohren gehauen. Rot-Grün hat die Hartz-IV-Regelsätze teilweise geschätzt. Wir haben sie berech-net und verfassungsfest gemacht.
Am schlimmsten ist, dass Rot-Grün die Kinder inHartz IV vollständig vergessen hat.
Keinen einzigen Cent für den Zugang zu Teilhabe undBildung der Kinder haben Sie bei der Berechnung vonHartz IV hineingerechnet. Das hat Ihnen das Verfas-sungsgericht ins Stammbuch geschrieben. Wir haben dasBildungspaket eingeführt, weil uns die Chancengerech-tigkeit der Kinder am Herzen liegt. Sie reden, wir han-deln. So sieht das aus.
Rot-Grün hat die Zeitarbeit vollständig dereguliert.Wir halten Zeitarbeit für richtig, aber es muss dabei fairzugehen. Deshalb haben wir den Mindestlohn in derZeitarbeit eingeführt. Wir haben die Drehtürklausel zumSchutz der Beschäftigten eingeführt. Rot-Grün redet vonGerechtigkeit, wir handeln, wir setzen sie durch.
Herr Steinbrück, ich habe zwei Forderungen heraus-gehört, die Sie in Ihrem 14-seitigen Antrag, den Sie ebendebattieren sollten, erheben. Die eine Forderung lautet:Steuern rauf! Die andere Forderung lautet: Wir wollenden Mindestlohn im Parlament diktieren und die Tarif-autonomie nicht mehr respektieren!
Wir gehen einen anderen Weg. Die Zeit der Massen-arbeitslosigkeit ist Gott sei Dank vorbei. Fachkräfte-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29681
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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sicherung, das ist das große Thema in Deutschland. Wirwollen benachteiligte Jugendliche in Ausbildung brin-gen, und zwar jetzt, da sich die Situation auf dem Ar-beitsmarkt dreht. Auf dem Ausbildungsmarkt ist das An-gebot an Ausbildungsplätzen derzeit größer als dieNachfrage. Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. Der Aus-bildungspakt ist auf genau diese Jugendlichen konzen-triert worden; denn sie brauchen jetzt eine Chance.
Wir kümmern uns auch um die 25- bis 35-Jährigen,liebe Kolleginnen und Kollegen, die in der Regierungs-zeit von Rot-Grün nicht nur die Schule geschmissen,sondern auch ihre Ausbildung abgebrochen haben.
Diese Menschen sind jetzt ohne Abschluss in Hartz IV,und sie brauchen eine zweite und eine dritte Chance.Diese geben wir ihnen, und zwar mit unserer Initiative„AusBILDUNG wird was – Spätstarter gesucht“. In dennächsten drei Jahren wollen wir 100 000 dieser jungenMenschen zwischen 25 und 35 Jahren zu einem Ab-schluss führen. Ich freue mich, dass die SPD diese Initia-tive, die wir auf den Weg gebracht haben, so gut findet,dass sie sie, nur unter einem anderen Namen, selbst inihr Programm schreibt. Sie reden, wir handeln. Hiersieht man es wieder.
Das setzt sich bei den Frauen fort. Sie haben eben dasThema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ angedeu-tet. Wie war denn die Geschichte der besseren Verein-barkeit von Beruf und Familie?
Wer hat denn 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kin-dergartenplatz eingeführt?
Es ist die Union gewesen.
Wer hat denn dafür gesorgt, dass es ab 2013 den Rechts-anspruch auf einen Krippenplatz gibt? Es ist die Uniongewesen. Sie reden, wir handeln. Wir sorgen für einegute Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Wer hat denn den Mindestlohn in der Pflege einge-führt? Es ist diese Regierung gewesen. Vom Mindest-lohn in der Pflege profitieren insbesondere Frauen,meine Damen und Herren. Sie reden, wir handeln. Dasist das, was sich hier und heute herauskristallisiert.
Ich bin der festen Überzeugung: Wir brauchen die Äl-teren am Arbeitsmarkt. Ich habe vermisst, dass Sie zudiesem Thema etwas sagen. In Ihrem Antrag steht dazuetwas, wenn auch in verklausulierter Form. Warum ha-ben Sie darüber nicht gesprochen? Wir debattieren heuteschließlich Ihren Antrag.Es haben noch nie so viele Ältere über 55 Jahre Ar-beit in Deutschland gehabt wie heute.
Rot-Grün sieht die Älteren immer nur vom Defizit her;Sie sehen nur, was sie nicht können, und sagen nur, wasSie ihnen nicht zutrauen.Wir machen das anders. Wir sind der Meinung, dassältere Menschen Lebenserfahrung und Stärken haben.Wir brauchen sie am Arbeitsmarkt. Deshalb ist uns darangelegen, nicht nur dafür zu sorgen, dass sie länger in denBetrieben bleiben, sondern jetzt auch dafür zu sorgen,dass gerade die arbeitslosen Älteren bessere Chancen be-kommen, eingestellt zu werden. Wir begleiten die älte-ren Menschen bis in die Betriebe hinein, um ihnen einePerspektive zu geben, aus der Arbeitslosigkeit herauszu-kommen.
Auch schwerbehinderte Menschen haben aufgrundder guten Arbeitsmarktsituation eine große Chance– auch dazu habe ich von Ihnen nichts gehört; auch wasdieses Thema angeht, haben Sie zu Ihrem Antrag nichtsgesagt –, aber sie profitieren nicht so stark wie alle an-deren Gruppen. Deshalb müssen wir noch mehr An-strengungen unternehmen, um dafür zu sorgen, dassMenschen mit Behinderung besser in den ersten Arbeits-markt integriert werden.
Die Bundesagentur für Arbeit nimmt gezielt 2,5 Milliar-den Euro pro Jahr in die Hand, um diesen Menschen denSchritt ins Arbeitsleben zu erleichtern. Im Rahmen der„Initiative Inklusion“ haben wir weitere 100 Millio-nen Euro alloziert, um dazu beizutragen, dass geradejunge Menschen mit Behinderung den Weg in die Aus-bildung und den ersten Arbeitsmarkt schaffen.
Meine Damen und Herren, entlarvend ist, dass dieSPD
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29682 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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in ihrem 14-seitigen Papier über Deutschland 2020 keineinziges Wort über Zuwanderung oder Integration ver-liert. Das ist nicht unser Zukunftsbild von Deutschland!
Wir brauchen die Gruppe der Zuwanderer und der Mi-granten am Arbeitsmarkt, und wir schätzen sie, meineDamen und Herren.
Deshalb haben wir die Anwerbestoppausnahmeverord-nung, dieses aufgeblähte Monster, ersatzlos gestrichen.Wir haben stattdessen die Bluecard eingeführt und dieBeschäftigungsverordnung im Hinblick auf Facharbeiterneu geordnet. Für uns zählt nicht, woher jemand kommt,
sondern für uns zählt, ob er oder sie gemeinsam mit unsdieses Land voranbringen wird. Das ist unsere Haltungim Hinblick auf Deutschland 2020.
Meine Damen und Herren, das SPD-Papier – über dasder Kandidat hier leider nicht debattiert hat, das aber aufder Tagesordnung steht – zeigt, dass die SPD nach dervollständigen Deregulierung im Rahmen der Agenda2010
mit ihrer Agenda 2020 jetzt eine maximale Regulierungerwartet und anstrebt. Und wie wir eben gehört haben:Sie reden das Land schlecht. Sie gehen von einem Ex-trem ins andere.Wir gehen den Weg der Fairness und der wirtschaft-lichen Vernunft,
wir gehen den Weg der Mitte.Vielen Dank.
Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist unser
Kollege Klaus Ernst. Bitte schön, Kollege Klaus Ernst.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist schon bemerkenswert, wie sich hier zweiParteien, die sich eigentlich – wie ich in den letzten achtJahren im Bundestag erlebt habe – bei sehr vielen Aktio-nen im Prinzip einig waren, jetzt darüber streiten, wervon ihnen eigentlich der Schlimmere war.Ich möchte noch einmal feststellen, Frau von derLeyen: Das, was Sie eigentlich erreichen wollten – mehrBeschäftigung in Deutschland –, haben Sie nicht er-reicht. Ausschlaggebend ist nämlich nicht, ob mehrLeute im Niedriglohnbereich beschäftigt sind – da gibtes natürlich einen Zuwachs – oder ob mehr Leute in be-fristeter Beschäftigung sind – da gibt es auch einen Zu-wachs –, sondern das wirkliche Maß kann nur die Zahlder geleisteten Arbeitsstunden sein.
Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hat in der Bun-desrepublik Deutschland trotz der Deregulierung am Ar-beitsmarkt nicht zugenommen. Das müssen Sie einmalnüchtern zur Kenntnis nehmen, Frau von der Leyen!
Die Arbeit ist billiger geworden, die Arbeit ist un-sicherer geworden, und die Arbeitsverhältnisse habensich für viele Menschen dramatisch verschlechtert.Ich möchte heute vor allen Dingen etwas zu dem An-trag der Linken zum Mindestlohn sagen. Wir hättenheute die Chance, gemeinsam – mit Ihnen von den Re-gierungsfraktionen – eine riesige Ungerechtigkeit in die-sem Lande zu beseitigen. Um was geht es? Es geht umnicht weniger als die Einhaltung unserer Verfassung. InArt. 1 des Grundgesetzes steht:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-lichen Gewalt.Es gehört zur Würde, meine Damen und Herren, dassMenschen, die vollzeitbeschäftigt sind, von ihrer Arbeitleben können und nicht hinterher zum Amt gehen müs-sen, weil das Geld nicht reicht. So etwas entspricht nichtunserer Verfassung.
Diejenigen, die 3 oder 4 oder 5 Euro die Stunde ver-dienen, sind insbesondere Frauen. Mich freut ja Ihr En-gagement, Frau von der Leyen – wir haben Sie dabei jaunterstützt, auch wenn Ihnen Ihre eigene Partei von derFahne gegangen ist –, für mehr Frauen in Führungsposi-tionen. Aber wo bleibt Ihr Engagement für die vielenFrauen in diesem Land – es betrifft überwiegendFrauen –, die zu niedrigsten Löhnen arbeiten müssen? Indieser Frage, Frau von der Leyen, haben Sie völlig ver-sagt, da haben Sie null Engagement gezeigt.
Frau von der Leyen, ich möchte Ihnen noch einmal in allerKlarheit sagen: Sie haben einen Eid auf die Verfassung ge-leistet – und nicht auf das Programm der Arbeitgeberver-bände, die die Mindestlöhne eigentlich verhindern wollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29683
Klaus Ernst
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Sie regieren mit Ihrer Haltung gegen Mindestlöhnegegen das Volk. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-ger will Mindestlöhne: Laut Emnid sind es 86 Prozentder Bürgerinnen und Bürger. Übrigens ist auch eineMehrheit in Ihrer Partei für Mindestlöhne. Auch dieMehrheit der SPD-Wähler ist für einen Mindestlohn. Ichgarantiere Ihnen: Sie werden in dieser Frage schnellerrückwärts laufen, als Sie nach rückwärts gucken können.Sie werden noch merken – auch bei den Wahlen; dashoffe ich sehr –, dass Sie eine Mehrheit in diesem Landegegen sich haben. Übrigens sind auch die Selbstständi-gen, Herr Brüderle, für die Einführung eines Mindest-lohns. Sie sehen: Auch Ihre Klientel ist in dieser Frageweiter als Sie selbst.
Die Koalition hat sich auf die Fahne geschrieben:Leistung soll sich lohnen. – Ich frage: Lohnt sich denntatsächlich eine Leistung bei einem Stundenlohn von3 oder 4 Euro?
Wenn man zum Aufstocken zum Amt gehen muss, lohntsich diese Leistung nicht. Ein Viertel der Beschäftigtensind Niedriglöhner. 1,4 Millionen Menschen verdienenweniger als 5 Euro die Stunde; die Zahlen haben wir hierdes Öfteren diskutiert. Lohnt es sich denn tatsächlich füreinen Rettungssanitäter – das sind die, die uns von derStraße auflesen, wenn uns etwas passiert ist –,
etwas zu leisten, wenn er dafür weniger als 9 Euro dieStunde bekommt? Ist das tatsächlich eine Entlohnung,die dem angemessen ist, was dieser Mensch leistet? Ichsage: Die Mehrheit der Menschen ist für einen vernünfti-gen Mindestlohn, weil ein Mindestlohn etwas mit Ge-rechtigkeit zu tun hat. Mit aller Klarheit: Wer einen Min-destlohn ablehnt, wie Sie das tun, der hat mit derMehrheitsmeinung in diesem Land und dem Gerechtig-keitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger nichts mehram Hut.
Sie werden nicht müde, negative Beschäftigungswir-kungen bei der Einführung eines Mindestlohns zu kon-statieren. Es gibt weltweit keine einzige Studie – keineeinzige! –,
die Ihnen mit Ihrer Position recht gibt. Ich möchte bitteschön gerne einmal wissen, wo Sie diesen Unfug eigent-lich herhaben. Die Realität ist ganz anders. Selbst inEngland, wo der Mindestlohn schon seit Jahren gilt, sagendie Unternehmerverbände: keine negativen Auswirkungen.
Daneben führen Sie gerne das Argument Frankreichan und sagen: Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit sohoch, weil es dort einen Mindestlohn gibt. – Wissen Sie,was das Problem ist? Durch das Lohndumping in derBundesrepublik, dadurch, dass wir keine Mindestlöhnehaben und die Löhne sinken, sind wir Mitverursacherder Arbeitslosigkeit in Frankreich und bei anderen euro-päischen Nachbarn. Deshalb müssen wir vor dem Hin-tergrund der internationalen Lage auch bei uns einenMindestlohn einführen.
– Weil ich mich immer freue, wenn Sie sich so aufregen,will ich natürlich auch noch etwas zur Tarifautonomiesagen:Dass Sie sich zum Schutzpatron der Tarifautonomiemachen, ist wirklich interessant. Ich kann mich noch anIhre Vorschläge erinnern, das Streikrecht einzuschrän-ken. Hat das die Tarifautonomie gefördert oder eher be-hindert? Ich kann mich auch noch an Rogowski erin-nern, den Arbeitgeberpräsidenten. Der war Ihrem Lagereh bei weitem näher als jedem anderen hier im Haus. Erwollte Tarifverträge verbrennen. Und Sie machen sichzum Schutzpatron von Tarifverträgen! Darüber kann ichnicht einmal mehr lachen. Das glaubt Ihnen doch keinMensch.
Sie argumentieren, dass die Tarifautonomie letztend-lich eingeschränkt werden würde, wenn wir einen Min-destlohn auf einem unteren Level festlegen würden.Merkwürdigerweise sind die Gewerkschaften, also dieTräger dieser Tarifautonomie, selber dafür, dass Min-destlöhne eingeführt werden. Diese sehen darin also kei-nen Versuch, die Tarifautonomie einzuschränken. Sie tundas aber.
Glauben Sie nicht, dass die Gewerkschaften selberwissen, was für ihren Job wichtiger ist? Glauben Siewirklich, sie brauchen Sie dazu? Glauben Sie wirklich,die Gewerkschaften brauchen den Rat der FDP dafür,wie die Tarifautonomie zu verteidigen ist? Das wäre ge-nauso, als wenn der FC Bayern Ihren Rat dafür brauchenwürde, wie man besser Tore schießt.
Die braucht er überhaupt nicht.Genauso wenig brauchen die Gewerkschaften IhrenRat dafür, wie man Tarifverträge verteidigt; denn ichsage Ihnen: Sie haben mit Tarifautonomie eigentlichnichts am Hut. Wenn Sie im Kern Ihrer Gedanken wirk-lich für Tarifautonomie wären, dann würden Sie dazubeitragen, dass die Tarifautonomie gestärkt wird.Was müssten Sie dann machen? Sie müssten dann da-für sorgen, dass wir starke Gewerkschaften haben, die
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sich für höhere Löhne einsetzen. Ist das Ihre Position?Das würde mich wundern. Seit wann ist die FDP fürstarke Gewerkschaften? Sie müssten dann auch für eineAusweitung des Streikrechts eintreten, weil ein starkesStreikrecht die Voraussetzung dafür ist, dass die Ge-werkschaften im Rahmen der Tarifautonomie auch tätigsein können. Sie sind mit Ihrer Politik doch mitverant-wortlich dafür, dass es in der westlichen Welt nur nochzwei Länder gibt, in denen weniger gestreikt wird als inder Bundesrepublik, nämlich die Schweiz und den Vatikan-staat. Darauf können Sie stolz sein.Darum sage ich: Wenn Sie sich um die Tarifautono-mie kümmern, dann habe ich immer leichte Bedenken.
Durch die Politik, die wir hier heute auch diskutieren,sind die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt worden:Dafür war natürlich die Einführung von Hartz IV ver-antwortlich, weil die Leute dadurch Angst vor Arbeits-losigkeit haben, was die Kampfkraft der Gewerkschaftennatürlich nicht stärkt. Daneben nenne ich die Deregulie-rung der Arbeit, die Tatsache, dass Beschäftigte befristeteingestellt werden, die Leiharbeit und die Werkverträge,Frau von der Leyen.Sie nehmen die Gewerkschaften hier immer in diePflicht, das vernünftig zu regeln. Gleichzeitig tun Sieaber nichts dafür, dass die Leiharbeit wieder beschränktwird, dass die befristete Beschäftigung eingedämmt wirdund dass der Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen,egal wie sie bezahlt wird, beseitigt wird. Wenn das sobleibt, dann schwächen Sie die Gewerkschaften. Des-halb traue ich Ihnen beiden nicht über den Weg, wennSie die Tarifautonomie verteidigen. Sie werden es mirnachsehen.
Ich kann Ihnen auch sagen, dass trotz der Tarifver-träge niedrige Löhne gezahlt werden: im Fleischerhand-werk 6,19 Euro pro Stunde, in der Floristik 5,26 Europro Stunde, im Garten- und Landschaftsbau – imWesten – 6,25 Euro pro Stunde. Trotz der Tarifverträge!Warum – Sie können hier auf die bösen Gewerkschaf-ten schimpfen; die haben das abgeschlossen – ist das so?Es ist so, weil die Voraussetzung für die Durchsetzungeines vernünftigen Tarifvertrags ist, dass man stark istund streiken kann. Sonst sind Tarifverhandlungen nichtsals kollektives Betteln. Ich habe das oft erlebt. Ich sagenIhnen: Wir müssen, wenn wir Tarifautonomie undStreikrecht verteidigen wollen, alles tun, um die entspre-chenden Gesetze zu ändern – und das tun wir leidernicht.Ihre Politik ging in die Richtung: Gewerkschaftenschwächen, Löhne senken, und dann sollen es die Ge-werkschaften über die Tarifautonomie wieder richten. –Das haut nicht hin. Meine Damen und Herren, das, wasSie eigentlich tun, ist die Verteidigung von Niedriglöh-nen. Damit ist die seit Jahren praktizierte Haltung derParteien CDU, CSU und FDP mitverantwortlich fürLöhne, von denen Menschen nicht mehr leben können.Heute hätten wir die Möglichkeit, das zu korrigieren.
Meine Damen und Herren, ich komme aber nicht um-hin, noch einmal anzusprechen, warum dieses Problemüberhaupt vorhanden ist. Kanzler Schröder hat explizitgesagt, er möchte die Einführung eines Niedriglohnsek-tors, und hat sich dafür selber gelobt. Dafür wird er vonder SPD auch heute noch auf den Sockel gestellt.Es wird immer wieder behauptet, die SPD habe da-mals den Mindestlohn nicht eingeführt, weil die Ge-werkschaften dagegen gewesen seien. Das ist eine inte-ressante Argumentation. Die Gewerkschaften waren jaauch gegen die Agenda 2010, und trotzdem hat die SPDsie durchgesetzt. Die Gewerkschaften waren auch gegendie Rente mit 67, und trotzdem hat die SPD sie durchge-setzt. Die Gewerkschaften waren gegen die Deregulie-rung des Arbeitsmarktes, und trotzdem hat die SPD siedurchgesetzt. Zu sagen „Die Gewerkschaften warenschuld, dass wir den Mindestlohn nicht eingeführt ha-ben“, das ist wirklich pure Heuchelei.
Ich bin trotzdem froh, dass Sie zumindest in dieserFrage auf den Pfad der Tugend zurückgekommen sind.Deshalb werden wir dem Entwurf eines Gesetzes überdie Festsetzung eines Mindestlohns zustimmen, obwohlich der geplanten Mindestlohnhöhe eigentlich nicht zu-stimme; 8,50 Euro sind zu wenig. Das wäre ein Lohn zu-lasten Dritter. Jeder, der einen solchen Lohn sein ganzesLeben bekommt, ist später auf Grundsicherung im Alterangewiesen. Das wollen wir nicht. Deshalb sind wir füreinen Mindestlohn von 10 Euro.Danke fürs Zuhören.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine große Inszenierung war geplant. Die SPD-Fraktionverfasst, wie ich jetzt feststellen muss, mit heißer Federeinen Antrag „Deutschland 2020 – Gerecht und solida-risch“. Der Kanzlerkandidat gibt den Arbeiterführer.Wenn das, was Sie, lieber Peer Steinbrück, heute Mor-gen hier abgeliefert haben, Ihr Ziel ist, dann muss ich sa-gen: Das war einfach blamabel.
Es ist deutlich geworden, warum Sie bei den Menschenin diesem Lande nicht ankommen: weil das, was Sie sa-gen, abgehoben wirkt. Sie stehen nicht für das, was Siesagen. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen erläutern.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Sie reden viel über Chancengerechtigkeit; aber alsKanzlerkandidat stehen Sie für eine Politik der Umver-teilung. Das ist ein Widerspruch. Das passt nicht zusam-men. Das muss man hier sehr deutlich feststellen. – Um-verteilung, das ist die Sozialpolitik der Gleichheit. Dasmag für Sie noch gelten. Aber Chancengerechtigkeit, dasist die Sozialpolitik der Freiheit, lieber Peer Steinbrück,und damit hat die SPD und damit haben Sie persönlichnichts am Hut. Das will ich hier einmal sehr deutlich sa-gen.
Immerhin hat er es geschafft – das muss ich einräu-men –, zu dieser Debatte zu kommen. Als wir heuteMorgen über den Mittelstand gesprochen haben, den Sie,lieber Peer Steinbrück, in Ihrer Rede ja so hoch gelobthatten, da konnten Sie Ihre Anwesenheit offensichtlichnicht einrichten. Ich weiß nicht, ob Sie keine Lust oderkeine Zeit hatten oder ob einfach das schlechte GewissenGrund für Ihre Abwesenheit gewesen ist. Schließlichwissen Sie natürlich, was Sie dem Mittelstand mit ihrensteuerpolitischen Vorhaben zumuten. Das geht an dieWurzel unserer Volkswirtschaft. Den kleinen und mittel-ständischen Unternehmen, den Handwerksbetrieben, denkleinen Einzelhändlern, den Freiberuflern wollen Sie ansZeug,
und damit werden Sie eine erfolgreiche Wirtschaft nichtauf- und ausbauen können.
Wer die Wörter „Bildung“ und „Bildungsgerechtig-keit“ in den Mund nimmt – nichts „hätte, hätte, hätte“,lieber Peer Steinbrück –, der muss sich auch fragen las-sen, wie es er bzw. die Parteifreunde, die Genossinnenund Genossen, dort halten, wo sie die Mehrheit haben.Bildung findet dadurch statt, dass Unterricht in Schulengegeben wird. Wie sieht es denn in einem Land wie Hes-sen, schwarz-gelb regiert, aus? Da werden in diesemSchuljahr 2 000 Lehrer neu eingestellt.
In Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün vor kurzem dieMacht übernommen hat, werden 7 000 Lehrerstellen ab-gebaut.
– Sie können gleich etwas dazu sagen, GuntramSchneider. – Das ist das Gegenteil von Bildungsgerech-tigkeit und Bildungschancen. Das hilft jungen Menschennicht weiter.
Wer das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde führt, dermuss sich auch fragen lassen, wie er es mit der Leis-tungsgerechtigkeit hält. Da ist das Thema „kalte Pro-gression“ eines, das wir hier auf den Tisch bringen müs-sen, und wir tun das auch heute; denn die SPD war es,
die im Bundesrat verhindert hat, dass die Vorschlägezum Abbau der kalten Progression Gesetz werden. Siehaben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – derKrankenschwester, dem Handwerker, dem Facharbeiter –nicht gegönnt, dass sie, wenn sie eine Lohnerhöhungoder Gehaltserhöhung erhalten, von dieser auch wirklichprofitieren. 3,5 Milliarden Euro wären das für die Men-schen in diesem Lande gewesen.
Die SPD, die einmal von sich behauptet hat, sie seidie Partei der kleinen Leute,
hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss gegendiese Vorhaben votiert.
– Das ist wahr, liebe Kollegin Ferner. Da können Sie hiergestikulieren, wie Sie wollen. Das wird mit Ihnen amEnde dieser Legislaturperiode nach Hause gehen.
Wir wollen die Menschen entlasten, wir wollen, dasssie mehr Netto vom Brutto haben. Da, wo wir es konn-ten, haben wir es getan: Durch die Senkung der Renten-versicherungsbeiträge haben wir eine Entlastung um10 Milliarden Euro realisiert. Da, wo wir Sie brauchten,haben Sie die Hand verweigert.
Sie wollten die Menschen in diesem Lande nicht entlas-ten,
und es ist schändlich, dass Sie sich so verhalten haben,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das, was Sie sagten, lieber Peer Steinbrück, hat des-wegen nicht verfangen, weil schon Ihr Ansatz der fal-sche ist. Sie mussten ja selbst einräumen: Deutschlandist ein starkes Land. – Ja, und auch die letzten vier Jahresind gute Jahre für Deutschland und für die Menschen inDeutschland gewesen,
mit guten Arbeitsplatzchancen, mit guten Lohn- und Ge-haltssteigerungen. Deswegen können Sie hier dann nicht
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29686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Heinrich L. Kolb
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den Miesmacher geben, was Ihnen offensichtlich IhrePartei so aufgeschrieben hat. Wenn Sie also noch einmalden Arbeiterführer versuchen, sollten Sie dies unbedingtauch mit einem neuen Redenschreiber angehen.
Das ist mein Rat, den ich Ihnen hier noch einmal sehrdeutlich mitgeben will.
Nein, das, was die SPD hier präsentiert, ist politischeBeliebigkeit. Ich habe Ihren Antrag gelesen und sehe esso ähnlich wie die Ministerin. Ich habe gedacht: Nachder Agenda 2010 kommt jetzt ein großer Wurf, Deutsch-land 2020. – Aber es ist wirklich viel heiße Luft. Ichsage es Ihnen noch einmal: Bei einem zweiten Aufgusskommt, wenn Sie sich einen Kaffee kochen, nur nocheine dünne Brühe heraus. Genau das ist der Antrag derSPD, der heute hier in Rede steht.
Damit können Sie nicht erfolgreich sein.Vier gute Jahre haben verdient, in die Verlängerungzu gehen. Deswegen werden wir bis zum 22. Septemberdafür kämpfen und auch gewinnen. Deutschland hat vierweitere gute Jahre verdient.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unsere Kollegin Frau Katrin Göring-Eckardt.
Bitte schön, Frau Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Frau von der Leyen, letzte Woche haben alle darauf
gewartet, dass Sie hier etwas sagen würden. Diese Wo-
che haben Sie geredet – um Ihr politisches Überleben.
Sie hatten nichts zu sagen, die eigenen Leute sind nicht
dagewesen, und Beifall haben Sie höchstens dünnen be-
kommen.
Das muss man vielleicht einmal klar und deutlich sa-
gen: Das, was Sie denjenigen vorwerfen, die die Agenda
2010 mit dem klaren Ziel auf den Weg gebracht haben,
zu fördern und zu fordern, haben Ihre Leute im Bundes-
rat gemacht,
egal ob es um die Leiharbeit ging, egal ob es um das im-
mer weitere Herunterschrauben der Regelsätze ging. Das
waren Sie, das waren nicht SPD und Grüne. Sie sind die-
jenigen gewesen, die das verschlimmbessert haben,
gerade für die Arbeitslosen, gerade für die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer. Aber dann behaupten Sie
hier, Sie handelten.
Frau von der Leyen, letzte Woche haben Sie weder
geredet noch gehandelt; aber das sei einmal dahinge-
stellt.
Ansonsten sind Sie nichts weiter als eine große Ankün-
digungsministerin, auch heute wieder. Sie haben die Le-
bensleistungsrente angekündigt. Wo ist sie denn? Sie ha-
ben die Bekämpfung der Altersarmut angekündigt.
Nichts ist passiert. Sie haben angekündigt, als alle davon
redeten, dass der Stress am Arbeitsplatz zunimmt, Sie
machten eine Antistressverordnung. Nichts! Sie haben
Verbesserungen der Werkverträge angekündigt. Nichts!
Sie haben sich für den Mindestlohn eingesetzt. Nichts ist
passiert.
Entgeltgleichheit, Quote – wir könnten jetzt eine Stunde
lang darüber reden, was Sie nicht gemacht haben. Das ist
peinlich, und das ist nicht im Sinne der Menschen.
Reden wir über die Realität. Herr Rösler hat diese
Woche seiner Partei gesagt, sie möge doch bitte einmal
beim Thema Mindestlohn die Lebensrealität der Men-
schen in den Blick nehmen. – Wir stellen fest: Die FDP
regiert seit vier Jahren, und zwar nach eigenen Angaben
seit vier Jahren an der Lebensrealität vorbei.
Was ist die Realität?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Kolb?
Sehr gerne.
Bitte schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29687
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Liebe Frau Kollegin Göring-Eckardt, wären Sie be-
reit, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute in Deutschland
– Stichtag 25. April 2013 – für rund 4 Millionen Men-
schen Mindestlöhne gelten
und dass diese branchenbezogenen Mindestlöhne auf der
Basis von Tarifverträgen eingeführt wurden?
Wären Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
der weit überwiegende Teil dieser Mindestlöhne, näm-
lich für 3,8 von 4 Millionen Menschen, unter schwarz-
gelben Regierungen eingeführt wurde,
1996 im Baubereich beginnend und in dieser Legislatur-
periode für 2,1 Millionen Menschen fortgesetzt? Das
zeigt, dass wir die Realität der Menschen längst im Blick
haben und dass wir da, wo es erforderlich ist, entspre-
chend reagieren.
Was uns von Ihnen unterscheidet, ist, dass Sie glau-
ben, mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohn die Menschen glücklich machen zu können. Ich
sage Ihnen – ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen –:
Es ist eben nicht vorstellbar, dass ein gleiches Lohnni-
veau in der Oberlausitz, im Bayrischen Wald, in Ost-
friesland genauso Gültigkeit haben kann,
wie das beispielsweise im Rhein-Main- oder im Rhein-
Neckar-Raum, in Hamburg, Düsseldorf oder München
der Fall ist.
Das geht nicht. Aber wir haben immer gesagt: Branchen-
bezogene Mindestlöhne gehen. Das ist der Weg, den wir
in Nürnberg weiter ins Auge fassen wollen.
Das ist Ihre Frage.
Herr Kolb, ich meine, Sie müssen mit Ihrem Partei-vorsitzenden darüber reden, warum er jetzt sagt, die FDPmüsse einmal die Lebensrealität zur Kenntnis nehmen.Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.
Ich kann Ihnen aber sagen, wie die Situation tatsäch-lich ist: 6,8 Millionen Menschen in Deutschland arbeitenfür einen Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das sind diejeni-gen, die arbeiten und dann aufstocken müssen.
Das sind diejenigen, bei denen nicht mehr von Leis-tungsgerechtigkeit die Rede ist, sondern die zu echtenHungerlöhnen in Deutschland arbeiten. Das sind zumTeil übrigens auch diejenigen, die in Branchen mit bran-chenspezifischen Mindestlöhnen arbeiten. Wissen Sie,was passiert? Sie bekommen Löhne von zum Teil unter5 Euro.
Davon kann man nicht leben. Da kann man auch nichtmehr davon reden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeberauf Augenhöhe miteinander verhandeln.Diese Woche, sehr geehrter Herr Kolb, haben wir dasgesehen, von dem Sie behaupten, dass es nicht funktio-niert: Diese Woche hat das Friseurhandwerk einen Min-destlohn von 8,50 Euro verabredet.
Sie behaupten immer: In einem solchen Fall gehen dieArbeitsplätze flöten. – Sie sind auf dem völlig falschenDampfer, Herr Kolb. Sie haben nicht in den Blick ge-nommen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn für alle Ge-rechtigkeit bedeutet.
Mit einem Mindestlohn bekommt man Fachkräfte undvermeidet einen Flickenteppich in Deutschland nachdem Motto: Die einen so, die anderen so. Wir sorgen da-für, dass es eine gesetzliche Untergrenze gibt. Das hatmit Gerechtigkeit zu tun. Das hat mit Leistungsgerech-tigkeit zu tun. Das hat damit zu tun, dass man endlichanerkennt, was die Leistung der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer wert ist, Herr Kolb.
Ich will gerne bei der Lebensrealität bleiben. DreiViertel der über 7 Millionen Minijobberinnen und Mini-jobber in Deutschland arbeiten für einen Stundenlohnvon weniger als 8,50 Euro. Das hat mit Leistungsgerech-tigkeit nichts zu tun. Ein Viertel der Erwerbstätigen sindinzwischen atypisch beschäftigt. Sie können mir dochnicht sagen, dass Leiharbeit, dass befristete Beschäfti-gung, dass geringfügige Beschäftigung, wie sie im Ar-muts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufge-listet werden, jedenfalls in dem Teil, den Sie mitunterschrieben haben, irgendetwas mit einer Verbesse-rung der Situation am Arbeitsmarkt zu tun haben. DasGegenteil ist der Fall.
Insbesondere die Situation der Frauen – da muss manwieder Frau von der Leyen in den Blick nehmen – ist einDesaster. Fast jede dritte Frau in Deutschland arbeitet füreinen Niedriglohn. Die Zahl der Frauen, die von ihrerArbeit nicht leben können, hat sich seit 2005 verdoppelt.Das ist doch keine Erfolgsbilanz, Frau von der Leyen.Das ist definitiv das Gegenteil.
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29688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Katrin Göring-Eckardt
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Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Lebensrea-lität in Deutschland, was Leiharbeit, Mindestlöhne, diees nicht gibt oder die viel zu gering sind, und die Situa-tion gerade der Minijobberinnen angeht, hat mit dem,was Sie behaupten, nichts zu tun. Minijobberinnen be-kommen in der Regel keinen Einstieg in eine reguläreBeschäftigung. Sie, meine Damen und Herren von denKoalitionsfraktionen, behaupten zwar ständig, Minijobsseien eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. Aber dieFrauen, die heutzutage Minijobs haben, kommen zumallergrößten Teil nicht in reguläre Beschäftigung. Sielanden entweder wieder zu Hause, in einer kleinen Teil-zeitstelle oder in irgendwelchen Überbrückungsmaßnah-men. Sie sind außerdem nicht abgesichert. Deswegenbrauchen wir zuallererst eine Gleichbehandlung derMinijobs, wenn es beispielsweise um Arbeitslosigkeit,Pflegebedürftigkeit und Urlaubsansprüche geht.
Entsprechende Sofortmaßnahmen würden den Mini-jobberinnen und Minijobbern helfen und sie nicht längerals Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasseerscheinen lassen. Das sind sie heute tatsächlich. Diemeisten haben nur einen Minijob und nichts anderes.
Was mich am meisten aufregt, ist, dass Sie gerade dieArbeitslosen in Deutschland, diejenigen, die arbeitenwollen, zunehmend so behandeln, als ob diese nichtmehr in Ihrem Fokus stünden. Sie haben beim Eingliede-rungstitel immer weiter gekürzt. Nun wird wieder dieDiskussion aufkommen, ob pro Kopf gekürzt wurdeoder nicht. Ich sage Ihnen: Ja, Sie haben etwa ein Vierteldes Geldes für jede und jeden, die bzw. der in Deutsch-land leistungsberechtigt ist, gekürzt. Das hat nichts mehrmit Fördern zu tun. Gleichzeitig werden so viele Sank-tionen ausgesprochen wie nie zuvor. Sie gängeln dieArbeitslosen, anstatt ihnen zu helfen, wieder auf demersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Eine Alleinerzie-hende, die Kinder unter drei Jahre aufzieht, brauchtnatürlich Unterstützung und Hilfe. Deswegen sage ichIhnen ganz klar: Ihre Kürzungen gehen zulasten derLeistungsberechtigten und der Arbeitslosen. Dabeibrauchen wir diese Menschen dringend als Fachkräfte inunserem Land.
Damit sind wir beim Fachkräftemangel. EricSchweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- undHandelskammertags, hat gesagt, wir müssten jeden Mo-nat 10 000 Einwanderer in Deutschland aufnehmen, umdem Fachkräftemangel zu begegnen. Wir brauchen drin-gend eine vernünftige Einwanderungspolitik, die das an-geht. Ja, wir brauchen mehr Frauenerwerbstätigkeit. Ja,wir brauchen mehr und besser ausgebildete Jugendliche.Ja, wir brauchen eine Kultur gegen Altersarbeit. All dasbrauchen wir.Ich will abschließend sagen: Es geht nicht nur darum,dass wir endlich dafür sorgen müssen, dass Arbeitneh-mer und Arbeitgeber wieder auf Augenhöhe sind,sondern auch darum, ob Deutschland wettbewerbsfähigist, ob Fachkräfte hierherkommen und hierbleiben. Diesoziale Frage ist in ökonomischer Hinsicht mindestensgenauso entscheidend wie alles andere. Da haben Sieversagt. Das müssen Sie sich in das Stammbuch schrei-ben lassen. Auch darüber wird am 22. September ent-schieden.
Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU ist
Kollege Karl Schiewerling. Bitte schön, Kollege Karl
Schiewerling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man reibtsich verwundert die Augen und fragt sich: Schauen wirauf die Realität, oder stehen wir mitten in einer Nebel-wolke? Was Sie bislang hier abgeliefert haben, ist nichtsanderes als Nebelkerzen, die dazu dienen, den Blick aufdie Realität völlig zu verstellen.
Die Bundesarbeitsministerin hat vorhin in aller Deut-lichkeit dargelegt, wie sich die Arbeitsmarktsituationentwickelt hat. Es gibt mehr sozialversicherungspflich-tige Beschäftigte. Wollen Sie uns eigentlich ankreiden,dass 29,8 Millionen Menschen sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt sind? Wollen Sie uns wirklich an-kreiden, dass nun insgesamt fast 42 Millionen Menschenin Beschäftigung sind? Wollen Sie uns Rekordüber-schüsse in den sozialen Sicherungssystemen ankreiden?Wollen Sie uns eigentlich dafür ausschimpfen, dass esden Menschen in unserem Land besser geht? Was ist dasdenn für eine Mentalität, wie Sie über Deutschlandreden? Nutzen Sie den 1. Mai als Gelegenheit, um denArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen: Nochnie in den vergangenen Jahren haben die Menschen lautUmfragen so wenig Angst um ihren Arbeitsplatz gehabtwie heute. – Das ist die Realität, in der wir leben.
All dies haben wir übrigens erreicht, obwohl uns zuBeginn dieser Koalition vorgeworfen wurde, wir würdenmassiv in Rechte der Arbeitnehmer eingreifen wollen.Nichts ist passiert. Der Kündigungsschutz wurde nichtgelockert. Es hat keine Benachteiligung oder Hintanstel-lung der Gewerkschaften gegeben. Trotzdem oder ge-rade deswegen haben wir eine hervorragende Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt und in unserer Wirtschaft.Ich denke, das sind die Botschaften, die wir hier auszu-senden haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29689
Karl Schiewerling
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Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit unsererBundesarbeitsministerin ein Dankeschön dafür, dass siees ist, die immer wieder auf die Situation der Kinder undJugendlichen hinweist,
dass sie es ist, die immer wieder das Urteil des Bundes-verfassungsgerichtes zur Frage der Teilhabe von Kin-dern und Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben auf-greift und umsetzt.
Ich verschweige auch nicht, Herr Kollege Heil undalle anderen, dass wir diese Dinge im Vermittlungsaus-schuss, in der gemeinsamen Runde zwischen Bundestagund Bundesrat, verhandelt haben. Es war ein mühsamesRingen. Aber die Initiative, den richtigen Weg einzu-schlagen, hat die Bundesarbeitsministerin ergriffen.
Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt än-dert nichts daran, dass es in Deutschland Branchen gibt,in denen es der einen oder anderen Firma schlecht geht,zum Beispiel Opel in Bochum, wo die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz bangen.Heute diskutiert der Landtag in Nordrhein-Westfalen ineiner Aktuellen Stunde über die Situation von Opel inBochum. Ich habe mich doch sehr gewundert, dass derzuständige Landesarbeitsminister nicht an seinem Ar-beitsplatz in Düsseldorf ist, sondern sich hier befindet.
Kommen wir zum Inhalt Ihres Antrages. Dort heißtes: „Die Gesellschaft driftet auseinander.“ Hätten Sieden viel zitierten Armuts- und Reichtumsbericht gele-sen, dann hätten Sie gesehen, dass die verfügbarenEinkommen steigen. Unter Rot-Grün ist die Einkom-mensschere auseinandergegangen. Seit 2005 geht dieEinkommensspreizung zurück, und gerade die realenHaushaltseinkommen der unteren 40 Prozent der Ein-kommensbezieher sind stärker als beim Rest der Bevöl-kerung gestiegen.
Das ist die Wahrheit. Auch wenn das, was Sie verkün-den, etwas anderes aussagt: Es stimmt nicht. Vor diesemHintergrund stellen Sie sich jetzt hin und sagen: Wirmachen alles noch gerechter, wir ändern dieses und jenesund machen es solidarischer. Dabei gerät bei Ihnen im-mer wieder die Zeitarbeit in den Mittelpunkt.Ich kann es nur wiederholen: Die Änderungen in derZeitarbeit sind ohne den Bundesrat und ohne die Beteili-gung der Union passiert. Rot-Grün hat in den Hartz-Gesetzen die Zeitarbeit so flexibilisiert, dass sie dieseEntwicklung genommen hat.
Ich kann nur sagen: Wir haben die Schlecker-Drehtür-klausel eingeführt, um die Dinge gerechter zu machen.Wir haben die Tarifpartner dazu gebracht, einen Min-destlohn zu vereinbaren.
Wir sind diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass dieMenschen in diesem Bereich nach und nach Equal Paybekommen, was übrigens den Gewerkschaften sehr ge-nutzt hat. Vor kurzem haben uns noch Gewerkschafts-vertreter gesagt, dass sie gerade aus der Zeitarbeit vieleneue Mitglieder gewinnen konnten,
weil die Menschen gemerkt haben, dass die Gewerk-schaften für sie vieles erreicht haben. HerzlichenGlückwunsch! Wir freuen uns darüber. Das ist der rich-tige Weg und eine gute Botschaft zum 1. Mai.
Jetzt wollen Sie doch wohl bei 29,8 Millionen sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten, von denen geradeeinmal 800 000 als Zeitarbeiter arbeiten, nicht dasblanke Elend Deutschlands beschwören. Sie wollendoch wohl nicht die blanke Verelendung Deutschlandsan diesen 800 000 Menschen festmachen, die auch nochLöhne erhalten, die die Gewerkschaften ausgehandelthaben,
und zudem noch sukzessive Equal Pay bekommen. Ichhalte das für ein starkes Stück, was Sie den Deutschenhier vorführen.
Lassen Sie mich einen Satz zu den Minijobs sagen,weil Frau Göring-Eckardt gerade darauf eingegangen ist.Auch dieses Thema ist dazu geeignet, riesige Nebel-wolken zu erzeugen. 6,9 Millionen Menschen arbeiten inMinijobs.
Davon sind fast 20 Prozent Jugendliche bzw. Schülerund Studenten. Dazu kommen 20 bis 25 Prozent Rentne-rinnen und Rentner. Die Aufstockungsmöglichkeitenund die Minijobs, die sich dann ausgeweitet haben– auch das will ich Ihnen klar sagen, Frau Göring-Eckardt –, sind ohne Zutun der CDU/CSU und der FDP2003/2004 in den Hartz-Gesetzen verankert worden.
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Karl Schiewerling
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Sie haben die Möglichkeit eröffnet, dass man nichtnur ein normales sozialversicherungspflichtiges Be-schäftigungsverhältnis haben kann, sondern darüberhinaus auch einen Minijob, der dann steuerlich nicht an-gerechnet wird. Das haben nicht wir gemacht, sondernSie. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Minijobsexplosionsartig um 2,3 Millionen angestiegen. Auch dasgehört zur Wahrheit. Stellen Sie es hier nicht anders dar!
Wir haben die Opt-out-Regelung eingeführt,
sodass die Menschen, die jetzt einen Minijob haben,rentenversicherungspflichtig arbeiten, es sei denn, sie er-klären sich gegen die Versicherungspflicht. Das hat dazugeführt, dass wir mittlerweile einen deutlichen Anstiegder Zahl der rentenversicherungspflichtigen Minijobberverzeichnen können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchtenoch kurz einen Satz zum Mindestlohn sagen.
Auch hier ist wirklich eine Nebelkerze geworfen wor-den. Wir wollen den tariflichen Mindestlohn. Wir wolleneinen Mindestlohn, den Arbeitgeber und Gewerkschaf-ten gefunden haben. Wir wollen den Mindestlohn, dervor allen Dingen dort eingeführt wird, wo keine ordentli-chen Tarifverträge bestehen.
Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von Arbeitgebernund Gewerkschaften erarbeitet wird. Das ist etwas völliganderes als ein hier im Parlament kurz vor den nächstenBundestagswahlen im Wettbewerb zwischen SPD, Lin-ken und den Grünen nach oben getriebener Mindestlohn,der jetzt bei der SPD bei 8,50 Euro liegt und bei den Lin-ken bei 10 Euro. Ich bin gespannt, womit andere nochkommen werden, ob er weiter nach oben getrieben wird.Das ist keine ordentliche Arbeitsmarkt- und Sozialpoli-tik. Diese Politik würde zu einer Zunahme der Jugend-arbeitslosigkeit führen; denn es ist eine Politik der Ar-beitsplatzvernichtung, wie wir in einigen LändernEuropas beobachten können.
Aber ein Mindestlohn, den die Tarifpartner finden, istvernünftig, ist sachgerecht und orientiert sich an derLebenswirklichkeit der Menschen.Meine Damen und Herren, für diese ordentliche,sachgerechte Politik werden wir uns weiter einsetzen.Dafür werden wir kämpfen.
Das ist Politik der Union. Wir verstehen unter sozialerGerechtigkeit, Menschen auch teilhaben zu lassen. –Achten Sie darauf, dass Sie die Welt nicht so schwarzmalen, dass Sie hinterher selbst nicht mehr durchbli-cken!Herzlichen Dank.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist der Minis-ter für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nord-rhein-Westfalen. – Bitte schön, Herr Guntram Schneider.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Herr Kollege Schiewerling, eine Bemerkung: InNordrhein-Westfalen gibt es einen Arbeitsminister, derauch etwas von Wirtschaft versteht,
und es gibt einen Wirtschaftsminister, der auch etwasvon Arbeit versteht.
Wir arbeiten da im Team, und machen Sie sich keineSorgen über die Präsenz des Wirtschafts- und desArbeitsministers bei der heutigen Plenardebatte in Düs-seldorf zum Thema Opel.
Im Übrigen hat ja Ministerpräsident Rüttgers schon ein-mal durch persönliche Anwesenheit
in Detroit Opel in Bochum gerettet. Ich habe mir sagenlassen, er ist kaum über das Pförtnerhäuschen hinausge-kommen.
Auch dies gehört zu den Realitäten.Verehrte Frau Bundesministerin, Sie haben den Bei-trag von Herrn Steinbrück als jämmerlich bezeichnet.
Ich muss Ihnen eines sagen: Es ist jämmerlich, wie Sie,obwohl noch im Amt, mit der Sozialgeschichte um-gehen.
Es waren doch nicht Sie, die den Mindestlohn in derZeitarbeit eingeführt haben. Dieses Thema ist im Rah-men der Verhandlungen zum Bildungs- und Teilhabe-paket verhandelt worden,
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Minister Guntram Schneider
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und wir haben Ihnen dies abgerungen. Da waren Sienoch gar nicht so weit,
und die Herren Schiewerling und Kolb waren auch intel-lektuell noch nicht so weit,
um zu verstehen, dass dies notwendig ist.Ähnlich war es auch mit der Schulsozialarbeit. Auchda haben wir einen großen Wurf gelandet. Jetzt geht esdarum, hier Anschlussregelungen zu finden, weil sichherausgestellt hat: Die Benachteiligung von armen Kin-dern kann man nicht nur mit Geld ausgleichen, sondernman muss vor allem die Strukturen verbessern. Dabeispielt die Schulsozialarbeit eine herausragende Rolle.Meine Damen und Herren, natürlich gibt es in unsererGesellschaft nicht nur Armut. Auch der nordrhein-west-fälische Armuts- und Reichtumsbericht – wir waren daschneller als die Bundesebene; wir brauchten nicht soviel nachzuarbeiten –
zeigt auf: In unserer Gesellschaft gibt es immer mehrMenschen, denen es gut bis sehr gut geht; andererseitsgibt es immer mehr Menschen, denen es schlecht geht,die arm sind. – Wir verkleistern da nichts; das überlassenwir anderen.
700 000 arme Kinder in Nordrhein-Westfalen, das istskandalös.
Wir halten uns an die alte Maxime: Politik beginnt da-mit, dass man sagt, was Sache ist,
und nicht mit schöngeistigen Verkleisterungen, die dafürsorgen, dass die Realitäten nicht zum Vorschein kom-men.Es gibt also immer mehr Armut. Natürlich haben wirauch mehr versicherungspflichtige Beschäftigung. Aberich sage Ihnen nochmals: Sozial ist nicht, was Arbeitschafft
– Sie haben es immer noch nicht begriffen! –, sondernsozial ist, was gute Arbeit schafft.
Zur guten Arbeit gehört, dass man mit dem Einkommensein Auskommen hat. Weil das in immer weniger Berei-chen der Fall ist, brauchen wir einen allgemeinen gesetz-lichen Mindestlohn.
Sie wollen im Grunde genommen das Gegenteil. Siewollen eine Regelung, die zu einem Flickenteppich füh-ren würde.
Sie reden immer noch davon, dass die Höhe der Ein-kommen entscheidend dafür ist, welche Qualität undGüte Arbeitsplätze haben. Nach dieser Logik müssteMecklenburg-Vorpommern eine blühende Wirtschafts-landschaft sein und München das Armenhaus der Repu-blik. Bekannterweise ist das nicht so. Natürlich spielt dieHöhe der Einkommen eine Rolle; aber das ist nicht ent-scheidend.Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, einem Indus-trieland; da funktioniert die Tarifautonomie noch.
Aber wir haben auch Unternehmen, in denen der Kran-kenstand höher ist als der gewerkschaftliche Organisa-tionsgrad. Da können Sie nicht erwarten, dass es über dieTarifvertragsparteien zu ordentlichen Mindestlöhnenkommt. Deshalb brauchen wir gesetzliche Regelungen.
Wir beginnen hier mit 8,50 Euro.
Wir wollen keine parteipolitische Auseinandersetzungum die Höhe des Mindestlohns.
Wir wollen ein Modell in Anlehnung an das, was inGroßbritannien praktiziert wird. Da gibt es eine Kom-mission, die unter Einbeziehung der Preissteigerungs-rate, der Lohnentwicklung und der allgemeinen Produk-tivitätsentwicklung – das ist das Entscheidende –Vorschläge für die Fortentwicklung des allgemeinen ge-
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Minister Guntram Schneider
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setzlichen Mindestlohns macht. Auf diesem Wege sindkeine Arbeitsplätze gefährdet worden.Natürlich kann man Mindestlöhne nicht nach Gutdün-ken festsetzen.
Mindestlöhne müssen auch durch wirtschaftliche Leis-tung untersetzt werden.
– Das ist kein Widerspruch in sich. Wenn das ein Wider-spruch in sich wäre, dann hätten wir in 21 Ländern in derEuropäischen Union wirtschaftliche Hasardeure.
– Die haben doch keine hohe Arbeitslosigkeit wegen derMindestlöhne.
Vereinfachen Sie doch nicht das Problem!
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:Über 80 Prozent der Menschen wollen einen allgemei-nen gesetzlichen Mindestlohn. Sie sollen nicht die Letz-ten sein, die ihn bekommen; ich stelle dies so fest. WennSie weiter argumentieren wie bisher, dann werden Sie zuden letzten ökonomischen Exoten in diesem Land gehö-ren. Deshalb noch einmal: Passen Sie auf! Sie werdennicht darum herumkommen, hier zu handeln.
Die Frau Bundesministerin hat ein wichtiges Stich-wort genannt: Einwanderungspolitik. Sehr richtig. Auchich bin davon überzeugt, dass wir eine organisierte Ein-wanderung brauchen. Aber wenn Sie dies durchsetzenwollen, Frau von der Leyen, dann haben Sie in Ihrer ei-genen Partei noch viel Aufräumarbeit zu leisten. Ich er-lebe das in NRW jeden Tag.
Die Konservativen haben immer noch nicht verstanden,dass wir ein Einwanderungsland sind. Ich warne davor,mit stumpfen Ablehnungen gegenüber allem, wasfremdartig ist, unsere Möglichkeiten für eine organi-sierte Einwanderung zunichtezumachen.
Das passt nicht zusammen. Ich erlebe das beim ThemaRoma. Der nordrhein-westfälische Oppositionsführerwill sie ausweisen, obwohl das nach der EU-Gesetzge-bung gar nicht geht. Die Einwanderungspolitik der CDUist: Raus, raus, raus! – Dies muss ich leider sehr oft zurKenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, ich sprach von der gutenArbeit. Dazu gehört die Zurückdrängung befristeter Ar-beitsverhältnisse. Es ist skandalös, wenn unter 25-Jäh-rige kaum mehr die Möglichkeit haben, ein unbefristetesArbeitsverhältnis einzugehen. Das geht nicht so weiter.
Wir brauchen eine neue Regulierung der Leiharbeit. Wirwollen sie nicht abschaffen. Wir wollen sie zurückführenauf ihren eigentlichen Sinn. Wir brauchen generell eineOffensive für bessere, auch gesunderhaltende Arbeit.Wenn die Menschen länger im Erwerbsprozess bleibensollen und müssen, dann müssten wir eine breite Offen-sive zur Humanisierung der Arbeit starten, wie sie HansMatthöfer, der ehemalige Leiter der Bildungsabteilungder IG Metall, ins Leben gerufen hat.
Herr Landesminister, –
Ich bin gleich fertig.
– ich möchte nur sagen: Wenn Sie Abgeordneter wä-ren, würde ich Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.Aber Sie sind Landesminister und haben hier Rederecht.
Vielen Dank dafür.
Gut, dass der Föderalismus dies vorsieht.Die Menschen müssen länger gesund im Erwerbspro-zess verbleiben können. Dies wird eine große Aufgabefür die nächste Wahlperiode sein.Herr Kolb, Sie sprachen von Arbeiterführern. Arbei-terführer haben, soweit es sie noch gibt, im Allgemeinenkeine Redenschreiber.
Sie sagen, was in der Gesellschaft passiert.
– Ja, das ist die liberale Abart von Arbeiterführern. Da-rüber kann man reden. Das ist aber nicht unser Vorge-hen; das wollen wir nicht. Seien Sie sich, was die Mehr-heiten in diesem Lande angeht, nicht so sicher. Am13. Mai letzten Jahres war die Landtagswahl in NRW.
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Minister Guntram Schneider
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Am 1. Mai schien noch alles verloren. Passen Sie auf!Seien Sie nicht so selbstzufrieden! Wir werden schon dierichtigen Mehrheitsverhältnisse für eine soziale und de-mokratische Zukunft herbeiführen können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Landesminister. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Johannes Vogel. Bitte schön, Kollege Johannes
Vogel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte mit einem Zitat von Ihnen, Herr Steinbrück, be-ginnen. Sie haben vor einiger Zeit in der Zeit geschrie-ben:
Wenn die SPD unter dem Druck von Identitätspro-blemen … diesen Reformprozess– Sie meinten die Agenda 2010 –abbrechen oder bis zur Unkenntlichkeit – und damitUnwirksamkeit – verdünnen sollte, dann verlöre sienach meiner Überzeugung mehr als die Regierungs-fähigkeit. Sie verlöre ihren … Anspruch, … einePartei der Veränderung im Sinn ihrer Grundwertegewesen zu sein.Herr Steinbrück, kann es sein, dass Sie heute hier so lust-los gesprochen haben, weil im Wahlprogramm der SPDgenau das steht, was Sie beklagt haben?
Kann es sein, dass das Ihr Motivationsproblem ist?Frau Göring-Eckardt, Sie haben uns eben fachpoli-tisch mit dem Thema Minijobs beglückt. Ich will nur da-rauf hinweisen, dass die Minijobs kein gutes Beispielsind, um die angebliche Verderbtheit am Arbeitsmarktdarzustellen. Drei Viertel aller Minijobber wollen genaudas, nämlich einen Minijob. Sie bekommen im Übrigennetto alles andere als einen Niedriglohn. Das zeigt inmeinen Augen vor allem, dass Sie mit fachpolitischenArbeitsmarktdebatten sonst nicht viel zu tun haben.
Kann es sein, dass Sie hier davon ablenken wollen, dassvonseiten Ihrer eigenen Partei bemerkenswerte Sätzekommen? Ich habe hier ein Zitat von Herrn Palmer, dersich vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonn-tagszeitung mit Blick auf Ihr Wahlprogramm folgender-maßen äußerte:In der Summe machen wir damit die Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig,
auf die wir früher zu Recht stolz gewesen sind –weil sie vielen Menschen einen Job verschafft hat.
Kann es sein, dass Sie deshalb hier so lustlos gesprochenhaben, weil Sie wissen, dass das, was in Ihrem Wahlpro-gramm steht, und die Realität in Deutschland – guteArbeitsmarktlage und gute Perspektiven für die Men-schen – nicht zusammenpassen?
Wir, die Kollegen und die Ministerin – das wurdeschon dargestellt –, haben für bessere Perspektiven fürdie Menschen in Deutschland gesorgt. Es waren viergute Jahre für die Menschen in Deutschland. Deswegenwerben wir dafür, dass diese vier guten Jahre um vierweitere gute Jahre unter schwarz-gelber Verantwortungverlängert werden.
Ich möchte auch ein bisschen auf Nordrhein-Westfa-len eingehen, weil ich selber von dort komme und weilein nordrhein-westfälischer Landesminister hier gespro-chen hat. Herr Steinbrück, Sie sprachen gerade von dervorsorgenden Sozialpolitik – das ist die große Über-schrift, unter die die Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens von der SPD ihre Politik stellt – und habenIhren Antrag damit begründet. Die Ministerin hat ebenzu Recht darauf hingewiesen, dass sich diese Koalitionsehr wohl Gedanken darüber macht, was jetzt kommenmuss und wie eine Agenda 2020 für Deutschland aus-sieht. Ein wesentlicher Bestandteil muss natürlich – HerrSteinbrück, da gebe ich Ihnen recht – der Punkt „Auf-stiegschancen durch Bildung“ sein. Schauen wir unsdoch einmal an, was Nordrhein-Westfalen in diesem Be-reich tut! Herr Schneider, Sie haben eben von Gerechtig-keit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen leben 22 Pro-zent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.Die Neuverschuldung Ihrer Landesregierung macht aber60 Prozent aller Neuverschuldungen der Bundesländeraus.
Das kann vieles sein; aber mit Generationengerech-tigkeit hat das nichts zu tun.
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29694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Johannes Vogel
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Ich möchte noch etwas ausführlicher auf diesesThema eingehen, da es etwas über Ihre Politik aussagtund zeigt, was unter Ihrer Verantwortung im größtenBundesland passiert: Obwohl Sie in Nordrhein-Westfa-len so viele Schulden machen, wurde die Anzahl derStellen aller Landesministerien um 70 erhöht.
Das geschah übrigens nicht nach Bedarf, sondern ein-fach per Quorum, auf alle Landesministerien verteilt.
Anstatt zu sparen und den Staat effizienter zu machen,geben Sie Geld aus, das Sie sich zulasten der jungen Ge-neration gepumpt haben, Herr Minister.
Wenn es allerdings darauf ankommt, dann kürzen Sie.Gerade erst haben Sie wieder einen Kürzungsvorschlaggemacht. Die Schulministerin in Nordrhein-Westfalenhat kürzlich angekündigt, beim Vertretungsunterricht zukürzen, Herr Minister.
Der Verband Bildung und Erziehung in Nordrhein-West-falen sagt, das entspreche einer Kürzung von500 Lehrerstellen. Herr Minister Schneider, lieber HerrSteinbrück, so stellen wir uns vorsorgende Sozialpolitiknicht vor – ganz sicher nicht.
Haben Sie Ihre Redezeit im Auge?
Ich komme zum letzten Satz. – Dem steht eine
schwarz-gelbe Bundesregierung gegenüber,
die 1 Milliarde Euro mehr für Bildung und Weiterbil-
dung in der Arbeitsmarktpolitik ausgibt, obwohl es
1 Million weniger Arbeitslose gibt als zu Ihrer Zeit, und
die auch sonst sehr erfolgreich für Einstiegs- und Auf-
stiegschancen auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Wir können
darüber in den nächsten Monaten gerne diskutieren und
die Bevölkerung bei der Bundestagswahl darüber ent-
scheiden lassen. Ich bin mir sicher: Die Wählerinnen
und Wähler werden entscheiden, dass es vier weitere
gute Jahre mit einer schwarz-gelben Bundesregierung
geben wird.
Vielen Dank.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion von CDU und CSU der Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Im Matthäus-Evangelium heißt es: „An ihren Früchtensollt ihr sie erkennen.“ Wohlgemerkt: Nicht an ihrenwohlklingenden Reden und nicht an ihren wohlformu-lierten Anträgen im Bundestag, an ihren Früchten solltihr sie erkennen.
Insofern muss man in einer solchen Debatte, wennman sie ehrlich führt, auf die rot-grüne Regierungszeitunter Gerhard Schröder zurückkommen. GerhardSchröder hat am 28. Januar 2005 vor dem Weltwirt-schaftsforum in Davos Folgendes gesagt:Wir haben einen der besten Niedriglohnsektorenaufgebaut, den es in Europa gibt.Das war die große Botschaft von Rot-Grün: Wir habenden größten Niedriglohnsektor, den es je in Deutschlandgegeben hat, aufgebaut. – Alle Probleme, die HerrSteinbrück, Herr Schneider und Frau Göring-Eckardthier angesprochen haben, alle Probleme, die in den An-trägen, die hier vorliegen, beschrieben werden, sindFrüchte rot-grüner Politik. „An ihren Früchten sollt ihrsie erkennen.“
Es ist in der Tat beschämend, dass keiner der Redne-rinnen und Redner zu dieser Verantwortung gestandenhat. Ihre Glaubwürdigkeit ist Ihr größtes Problem. DerUnterschied zwischen Reden und Handeln ist bei Rot-Grün so groß, dass ich allen Wählerinnen und Wählernin Deutschland nur zurufen kann: Traut denen nicht, dienicht zu ihren Taten stehen, die heute anders reden!
Es ist eben so: Sie haben für eine Deregulierung derZeitarbeit gesorgt. Wir haben erste Regulierungen wie-der eingeführt. Die Einkommensspreizung – schauen Sieim Armuts- und Reichtumsbericht nach! – hat ausge-rechnet in der rot-grünen Regierungszeit massiv zuge-nommen. Jetzt wird dies langsam wieder korrigiert. Un-ter Rot-Grün gab es Massenarbeitslosigkeit; heute habenwir die geringste Arbeitslosigkeit in Deutschland seit derWiedervereinigung. Ich könnte weitere Punkte aufzäh-len, auch was das Thema Lohn anbelangt. Heute gibt eszwölf branchenbezogene Mindestlöhne in Deutschland.Nur ein einziger davon wurde in der rot-grünen Regie-rungszeit in Kraft gesetzt, elf unter der Verantwortungeiner christdemokratischen Kanzlerin. „An ihren Früch-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29695
Peter Weiß
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ten sollt ihr sie erkennen“, nicht an dem hohlen Gerede,dem keine Taten folgen.
Auch uns reichen zwölf branchenbezogene Mindest-löhne nicht aus. Deswegen haben wir von der Union vor-geschlagen, einen allgemeinen tariflichen Mindestlohnin Deutschland einzuführen.
Aber es gibt einen Unterschied zu den Vorschlägen derSozialdemokraten und der Grünen und zum hier vorlie-genden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wir wollen,dass die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervertreter, dieGewerkschaften und die Arbeitgeberorganisationen, denMindestlohn in einer Kommission miteinander aushan-deln
und die Bundesarbeitsministerin anschließend diesesVerhandlungsergebnis für allgemeinverbindlich erklärt,sodass es in ganz Deutschland zwingend durchzusetzenist.
Auch im Gesetzentwurf des Bundesrates ist eine Kom-mission vorgesehen. Aber diese Kommission soll erst ta-gen dürfen, wenn der Bundestag einen Beschluss gefassthat, dass der Mindestlohn zum Beispiel 8,50 Euro betra-gen muss. Dann darf diese Kommission über die Weiter-entwicklung des Mindestlohnes beraten. Wenn das Bera-tungsergebnis dem Bundesarbeitsminister nicht passt,darf er dieses Beratungsergebnis in den Papierkorbschmeißen und machen, was er machen will. – Es istdoch eine Verhöhnung der Gewerkschaften und der Ar-beitgeberverbände, sie einzuladen, in einer Kommissioneinen Mindestlohn auszuhandeln, und anschließend dasVerhandlungsergebnis in den Papierkorb zu schmeißen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlagist in Wahrheit ein Vorschlag zur Stärkung der Tarifauto-nomie. Herr Steinbrück hat die Frage aufgeworfen: Washat Deutschland stark gemacht? Ich sage: Deutschlandhat stark gemacht, dass starke Gewerkschaften undstarke Arbeitgeberverbände gute Tariflöhne für die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land ver-einbart haben.
Es ist doch für einen Arbeitnehmer nur dann interessant,in eine Gewerkschaft einzutreten, wenn er weiß: DieseGewerkschaft handelt tatsächlich einen Lohn aus.
Herr Kollege Weiß, Sie haben es gesehen: Es gibt
eine Zwischenfrage des Kollegen Klaus Ernst.
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Weiß, Sie haben gerade die Gewerkschaften an-
gesprochen. Wie erklären Sie sich eigentlich, dass sich
die Gewerkschaften, die Sie in ihrer Tarifautonomie stär-
ken wollen, explizit für den Mindestlohn aussprechen?
Glauben Sie, dass die nicht wissen, was sie tun? Oder
könnte es nicht sein, dass sie vielleicht besser wissen,
was ihnen guttut?
Zweitens. Wenn in einer Kommission nur dann ein
Ergebnis zustande kommt, wenn sich beide, also Arbeit-
geber und Arbeitnehmer, einig sind, eine Seite aber er-
klärterweise kein Interesse an der Einführung eines Min-
destlohnes hat, wie man es bei der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände erkennen kann, be-
deutet das dann nicht, dass die eine Seite der Kommis-
sion ein Vetorecht in Bezug auf die Einführung des Min-
destlohns hat? Ist dann nicht das Ergebnis, dass kein
Mindestlohn zustande kommt bzw. einer, der so niedrig
ist, dass man darauf auch verzichten könnte?
Drittens. Sind Sie nicht auch der Auffassung, Herr
Weiß, dass die Voraussetzung dafür, dass die Gewerk-
schaften ihre Tarifautonomie ausüben können, ein star-
ker gewerkschaftlicher Organisationsgrad ist? Wir haben
aber eine abnehmende Tarifbindung und abnehmende
Organisationsgrade zu verzeichnen und müssen konsta-
tieren, dass immer schlechtere Tarifverträge bei den Ver-
handlungen herauskommen. Es gibt Tarifverträge, in de-
nen eine Bezahlung von weit unter 8,50 Euro vereinbart
wurde. Müssen wir als Bundestag nicht eingreifen, um
die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu sichern?
Fazit: Ist es nicht besser, die Tarifautonomie dadurch
zu stärken, dass man einen Mindestlohn einführt, auf
dessen Grundlage die Gewerkschaften über vernünftige
Löhne verhandeln können? Dadurch würden die Ge-
werkschaften gestärkt. Das wäre besser, als den Gewerk-
schaften den Mindestlohn zu verweigern.
Herr Kollege Ernst, ich nehme Ihre Frage gerne zumAnlass, Ihnen unser Konzept noch einmal zu erläutern.Erstens. Der Vorschlag der Unionsfraktion sieht vor,dass man sich einigen muss, notfalls durch Schlichtung;sprich: Die Mindestlohnkommission muss zu einem Er-gebnis kommen.
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Peter Weiß
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Sie kann eine Einigung nicht auf ewig vertagen.Zweitens. Wenn für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer klar ist, dass der Mindestlohn durch dasParlament festgesetzt wird und nicht durch die Gewerk-schaften, warum sollen sie dann noch in eine Gewerk-schaft eintreten?
Wenn klar ist, dass der Mindestlohn durch den Bundes-tag festgesetzt wird und nicht durch die Arbeitgeber-organisationen, die mit den Gewerkschaften verhandeln,warum sollen die Unternehmer dann in einen Arbeitgeber-verband eintreten? Die Erosion der letzten Jahre in denBereichen Gewerkschaftsmitgliedschaft und Tarifbindungder Unternehmen würde weiter zunehmen.
Unser Vorschlag ist: Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände verhandeln den Mindestlohn. Er wird spätervon der Regierung in Kraft gesetzt. Das bedeutet, dassich als Arbeitnehmer in die Gewerkschaft eintretenmuss, um sie für die Verhandlungen stark zu machen. Ichmuss als Unternehmer in den Arbeitgeberverband eintre-ten, um die Interessen meines Unternehmens bei denVerhandlungen geltend zu machen. – Unser Vorschlagführt im Gegensatz zu dem, was der Bundesrat vor-schlägt, tatsächlich dazu, dass die Gewerkschaften undArbeitgeberverbände wieder stark werden, wodurch dieTarifautonomie in Deutschland insgesamt gestärkt wird.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um es noch ein-mal klar zu sagen: Wir wollen einen allgemeinen tarif-lichen Mindestlohn und damit die Tarifautonomie stärken.Das ist die Botschaft, mit der wir in den Bundestags-wahlkampf gehen. Wir wollen aber noch mehr. Wir wol-len, dass der Respekt vor geleisteter Arbeit durch eineErneuerung des Aufstiegsversprechens aus der Wirt-schaftswunderzeit gestärkt wird. Wer arbeitet, wer sichqualifiziert, muss im Normalfall ein existenzsicherndesEinkommen erwarten dürfen. Das ist ein breiter Wohl-standsbegriff im Sinne Ludwig Erhards. Voraussetzungdafür ist vor allem eine wettbewerbsfähige Wirtschaft.Diese entwickelt sich natürlich nicht mit Dumping-löhnen, sondern mit hervorragend qualifizierten Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern. Wir wollen noch mehrals bisher eine Gesellschaft, in der alle entsprechend ih-ren Fähigkeiten und Neigungen – ungeachtet ihrer Her-kunft – gute Bildungschancen und damit Möglichkeitenzu persönlicher Entfaltung und sozialem Aufstieg haben.Sozialer Aufstieg durch Bildung und Arbeit, das ist un-sere Agenda, auf die wir setzen.
Wir sind es, die zum Beispiel den Bildungsetat diesesBundeshaushaltes – beim Abtritt von Schröder 2005 wa-ren es rund 9 Milliarden Euro – auf über 13 MilliardenEuro gesteigert haben. „An ihren Früchten sollt ihr sieerkennen.“
Wir sind diejenigen, die die Arbeitslosigkeit massiv ab-gebaut haben, die dafür gesorgt haben, dass seit 200740 Prozent der Langzeitarbeitslosen, die es besondersschwer haben, wieder in Arbeit gekommen sind.Wir wollen nach der Bundestagswahl unsere erfolg-reiche Arbeit für mehr Aufstiegschancen für alle inDeutschland durch Bildung und Arbeit fortsetzen. „Anihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“Vielen Dank.
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ist unsere Kollegin Brigitte Pothmer. – Bitte
schön, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrWeiß, habe ich Sie richtig verstanden: Sie unterstützendiese niedrigen Löhne, um auf diese Weise die Gewerk-schaften zu stärken?
Das ist eine Verelendungsstrategie, die mir noch ausmeiner Studierendenzeit vom KBW bekannt ist.
Dass Sie diese jetzt verfolgen, ist allerdings neu.Es wurde gerade sehr viel über Gerechtigkeit geredet.Das zentrale arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitskonzeptist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Er stehtnicht nur symbolisch für Wert und Würde der Arbeit. Zudieser Frage müssen Sie von der Regierungskoalitionsich verhalten.
Nicht nur heute, sondern auch in den vergangenenJahren haben Sie nichts weiter gemacht, als die immergleiche Behauptung zu wiederholen, flächendeckendeMindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten. FrauMerkel hat sich in einem Bild-Interview sogar zu derThese verstiegen, die Arbeitslosigkeit in vielen europäi-schen Ländern sei deswegen so hoch, weil es zu hoheMindestlöhne gebe. Ich frage mich, anhand welcherLänder sie diese These verifizieren will.
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Meint sie vielleicht Großbritannien? Es hat seit 1999Mindestlöhne, und es gibt keinerlei negative Beschäfti-gungseffekte. Oder meint sie vielleicht die Niederlande?Sie haben einen Mindestlohn von 9,18 Euro und eine Ar-beitslosenquote von 6,4 Prozent.
Nein, die höchste Arbeitslosigkeit in Europa haben wirderzeit in den Ländern, in denen der Mindestlohn amniedrigsten ist.
– Sie haben doch inzwischen selbst erkannt, dass esbeim Mindestlohn Handlungsbedarf gibt. Sie nennen dasProjekt verschämt „Lohnuntergrenze“. Ich finde diesesKonzept falsch; denn mit diesem Konzept würden Sieweiterhin Ausbeutung mit Tarifvertrag zulassen. Daswollen wir nicht.
Aber Sie sollten hier im Bundestag überhaupt einmaletwas vorlegen.
Sie sind die Regierung, Sie müssen handeln. Sie reden,wir handeln!
Von Ihnen kommt nichts. Wenn überhaupt etwas kommt,dann wird das in Ihr Wahlprogramm entsorgt. Sie habenhier noch keinen einzigen Vorschlag vorgelegt.
Sie wollen weiterhin zulassen, dass wir in Deutsch-land 1,4 Millionen Menschen haben, die mit Löhnen vonunter 5 Euro pro Stunde brutto abgespeist werden. Siewollen, dass Betriebe weiterhin das ALG II in ihreLohnkalkulation einbeziehen und damit den Wettbewerbüber Lohndumping verzerren.
Wenn Sie das korrigieren wollen, dann braucht es jetztkeine halsstarrig geführte ordnungspolitische Debatte,sondern dann braucht es einen vernünftigen Gesetzent-wurf, und zwar jetzt. Dieser liegt heute hier vor, und zudiesem müssen Sie sich verhalten.
Jetzt noch ein paar Sätze zur FDP.
Es ist an Heuchelei wirklich nicht zu überbieten,
wenn ausgerechnet Sie hier das Hohelied der Tarifauto-nomie singen. Es ist noch nicht lange her, dass Sie dieGewerkschaften mit allen Ihnen zur Verfügung stehen-den Mitteln bekämpft haben.
Ich erinnere Sie nur an eine Aussage Ihres ehemaligenParteivorsitzenden, Herrn Westerwelle. Er hat gesagt– ich zitiere –:Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plagein Deutschland…Er hat behauptet – ich zitiere weiter –:Die Politik der Gewerkschaftsfunktionäre kostetmehr Jobs, als die Deutsche Bank je abbauenkönnte.Finden Sie, dass Sie sich mit diesen Aussagen wirklichals Freunde der Gewerkschaften bezeichnen können?
Herr Rösler hat verstanden und Ihnen empfohlen, denBlick auch einmal auf die Lebenswirklichkeit der Men-schen zu richten. Was hat er gesehen, als er seinen Blickauf die Lebenswirklichkeit der Menschen gerichtet hat?Er hat gesehen, dass Löhne von 3 Euro die Stunde nichtsmit Leistungsgerechtigkeit zu tun haben.
In einer Partei der Blinden ist der Einäugige König! Siehaben in Ihrer Partei sehr viele Blinde, zum BeispielHerrn Brüderle. Er empfiehlt den Niedriglöhnern, diemehr verdienen wollen, tatsächlich, sich einfach einenneuen Arbeitgeber zu suchen.
Sie kennen Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Ich weiß nicht, in welcher Parallelwelt Herr Brüderleunterwegs ist. Eines weiß ich aber genau: dass Gerech-tigkeit ohne Mindestlohn nicht zu haben ist.Ich danke Ihnen.
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29698 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
(C)
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Nächster Redner für die Fraktion der FDP: Kollege
Pascal Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Pothmer, Heuchelei ist das, was Sie tun.Heuchelei ist auch das, was Sie vonseiten der SPD tun.Ich denke an Guntram Schneider. Herr Schneider, Siegeißeln in Ihrer Rede hier befristete Beschäftigungsver-hältnisse – Sie waren, wenn ich richtig informiert bin,DGB-Landesvorsitzender –, und seit 2004 gibt es eineDirektive des DGB-Bundesvorstands, in der eigenenZentrale nur noch befristete Beschäftigungsverhältnissezu vereinbaren.
Im aktuellen Jahresbericht des DGB-Bundesvorstandszeigt sich, dass das kein Versehen war und auch nichtkorrigiert worden ist. Da heißt es auf Seite 145: Der An-teil der befristeten Arbeitsverträge betrug zum Jahres-ende 13 Prozent. Das waren 108 Beschäftigte.
Lieber Herr Schneider, es ist Heuchelei, wenn Sie sichhier hinstellen und etwas sagen, was Ihr eigener Verbandnicht durchzusetzen vermag.
Der Kanzlerkandidat der SPD, der leider schon auf-brechen musste,
stellte sich hierhin und sang das Hohelied der dualen Be-rufsausbildung, weiß aber offensichtlich nicht, dass diegrün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg indieser Woche, am Montag, den 22. April 2013, von derVorsitzenden des Berufsschullehrerverbandes ein ganzschlechtes Zeugnis ausgestellt bekommen hat. Sie sagtewörtlich, die grün-rote Landesregierung würde in Ba-den-Württemberg die Berufsschulen aushungern lassen,weil sie es versäumt, insgesamt 600 Stellen zu besetzen,die für die Berufsschulen dringend nötig wären.
Sich trotzdem hier hinzustellen und das Hohelied der du-alen Berufsausbildung zu singen, ist Heuchelei.
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, hat der Kol-lege Weiß völlig zu Recht aus der Bibel zitiert. Wir wer-den Sie mit Ihrer Regierungsleistung in den Ländernstellen.Frau Göring-Eckardt, Sie sprechen von Gerechtigkeit.Was ist denn das für eine Gerechtigkeit, wenn man im-mer mehr Schulden auftürmt,
wenn man künftige Generationen belastet, anstatt sie zuentlasten? Das ist das, was Sie in Baden-Württembergtun. Die Bayerische Staatsregierung hält sich trotz einesHöchststandes an Steuereinnahmen zurück und zahltüber 1 Milliarde Euro Schulden zurück. In Baden-Würt-temberg hat es die christlich-liberale Landesregierunggeschafft, in den Jahren 2008, 2009 und 2011 schulden-freie Haushalte vorzulegen. Im vergangenen Jahr ver-zeichnete Baden-Württemberg die höchsten Steuerein-nahmen in der Geschichte des Landes, aber die grün-roteLandesregierung hat trotzdem zusätzliche Schulden inHöhe von 3,3 Milliarden Euro gemacht. Das ist wirklicheine Versündigung an der künftigen Generation. Das isteine unverantwortliche Politik und hat mit Gerechtigkeitund Chancengerechtigkeit nichts zu tun.
Sie reden von Chancengerechtigkeit. Schauen wir unseinmal an, wie es damit in Baden-Württemberg aussieht:Die Landesvorsitzende der GEW – das ist auch nichtgerade eine Vorfeldorganisation der FDP – wirft derLandesregierung von Baden-Württemberg vor – Zitat –,
dass sie auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichenspare und ohne klares Konzept bildungspolitischesStückwerk produziere. – Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, es ist Heuchelei, sich hier hinzustellen und von Ge-rechtigkeit zu reden, aber gerechte Chancen für Kinderin den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen, zuverhindern.
Wir hingegen haben in dieser Bundesregierung ge-rade an Kinder, die es schwer haben, gedacht. Wir habenein Paket auf den Weg gebracht, die Offensive „FrüheChancen“, mit der wir gerade Kinder aus benachteiligtenMilieus mit insgesamt 400 Millionen Euro fördern, da-mit Spracherwerb schon vor Eintritt in die Schule gelin-gen kann, damit dort die Chancen wirklich wahrgenom-men werden können und sich Bildungserfolg einstellt.Diese letzten Jahre waren vier sehr gute Jahre fürDeutschland.
Wir werden unsere Politik als christlich-liberale Regie-rung weiter fortsetzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29699
Pascal Kober
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Wir werben dafür, und wir werden am Wahltag – ich er-innere noch einmal an das, was Peter Weiß gesagt hat:„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ – ein entspre-chendes Wahlergebnis von den Wählern zugesprochenbekommen. Denn diese Jahre waren gut für Deutsch-land, und Deutschland hat die Fortsetzung dieser Koali-tion verdient.Vielen Dank.
Nächster Redner für die Fraktion von CDU und CSU
Kollege Dr. Matthias Zimmer. Bitte schön, Kollege
Dr. Zimmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass derKollege Steinbrück bereits die Debatte verlassen hat,nehme ich ihm nicht übel. Sofern er zur Vermessungneuer Fettnäpfchen unterwegs ist, hat er unseren Segen.
Aber dass, wenn wir hier an zentraler Stelle überArbeitsmarkt- und Sozialpolitik diskutieren, vom zu-ständigen Arbeitskreis „Arbeit und Soziales“ der ein-bringenden Fraktion der SPD nur wieder eine ganzkleine illustre Schar da ist, finde ich bezeichnend – nachdem Motto: Den Quatsch, den der uns erzählt, brauchenwir uns nicht noch einmal im Plenum anzuhören.
Sie von den Sozialdemokraten haben den Entwurf ei-nes Mindestlohngesetzes in die heutige Beratung einge-bracht. Also lassen Sie uns über dieses Mindestlohnge-setz sprechen.
In § 1 Ihres Entwurfes wird der Geltungsbereich be-schrieben, und dort ist vorgesehen, dass das Gesetz nurfür vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer gelten soll. Damit das deutlich wird: Für Teil-zeitbeschäftigte soll der Mindestlohn, den Sie vorschla-gen, nicht gelten. Ich kann überhaupt nicht erkennen,warum das der Fall sein soll, warum Sie teilzeitbeschäf-tigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so benach-teiligen, zumal wir ja in der letzten Woche einen Gesetz-entwurf von Ihnen beraten haben, der positiv zur Teilzeitsteht.Eines müsste Ihnen doch klar sein: Im Niedriglohnbe-reich setzen Sie mit einer solchen Maßnahme geradezuAnreize, Vollzeitstellen in Teilzeitstellen umzuwandeln,weil für diese der Mindestlohn ja nicht gelten soll. Dasist nicht nur handwerklich schlecht gemacht, sondern Sieversündigen sich hier auch an Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern.Dann wird es richtig spannend, wenn man in IhrenGesetzentwurf schaut. Peter Weiß hat das eine oderandere bereits dazu gesagt. Wenn sich die Mindestlohn-kommission, die Sie einrichten wollen, nicht einigt, ent-scheidet das Ministerium. Ich kann mir Fälle vorstellen,in denen es sich lohnt, eine Entscheidung der Mindest-lohnkommission zu sabotieren. Mit anderen Worten: DieMöglichkeit des Missbrauchs ist da bereits angelegt.Nehmen wir einmal den wirklich unwahrscheinlichenFall an, dass ein Vertreter der Linken das Arbeitsministe-rium führt.
Herr Ernst lächelt schon – es ist wirklich sehr unwahr-scheinlich –, also nehmen wir einmal an, dass Herr ErnstArbeitsminister ist.
Gibt es dann irgendeinen Grund, warum die gewerk-schaftliche Seite in einer Mindestlohnkommission bei9 Euro zustimmen sollte, wenn im Parteiprogramm derLinken 10 Euro steht? Dann würden die doch sagen:Prima, wir brauchen die Arbeit überhaupt nicht zu ma-chen, das Ministerium soll gleich entscheiden.Wenn sich die Kommission einigt, unterbreitet siedem Bundesministerium für Arbeit und Soziales einenVorschlag. Wenn das Ministerium zustimmt, setzt es denMindestlohn durch Rechtsverordnung um. So weit, sogut. Aber stimmt das Ministerium nicht zu, bestimmt amEnde das Ministerium den Mindestlohn. So steht es inIhrem Entwurf. Nun würde ich, solange das Ministeriumdurch uns geführt würde, da keine Probleme sehen.
Aber Sie von der SPD haben ja gewiss im Hinterkopf,vielleicht selbst einmal wieder das Ministerium zu füh-ren; so viel sportlichen Ehrgeiz traue ich Ihnen durchauszu. Natürlich würde ein SPD-Arbeitsminister oder eineSPD-Arbeitsministerin nach gründlicher Rückkopplungmit den Parteigremien entscheiden. Dann würde alsoletztlich der SPD-Parteivorstand über Mindestlöhne inDeutschland entscheiden.
Damit ist klar, was mit dem Slogan „Das Wir entschei-det“ gemeint ist.
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29700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Matthias Zimmer
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Ich meine allerdings: Den SPD-Parteivorstand über Min-destlöhne in Deutschland entscheiden zu lassen, ist inetwa so klug wie die Ernennung von Dieter Bohlen zumGeneralinspekteur für alle deutschen Mädchenpensio-nate.
Meine Damen und Herren, was mich ärgert, ist Fol-gendes: Über den Gesetzentwurf, über den wir heute dis-kutieren, haben wir bereits vor einem Jahr diskutiert.Schon damals sind Sie auf den Unfug, den Sie damit an-richten würden, hingewiesen worden. Ich meine, einmaleinen Fehler zu machen, ist menschlich. Es hätte Ihnengut angestanden, noch einmal gründlich darüber nachzu-denken. Aber Sie legen diesen Gesetzentwurf wortgleichnoch einmal vor. Sie haben also nichts gelernt. Dass Siemit einer gewissen Starrköpfigkeit auf der DurchführungIhrer Fehler bestehen, das kann ich nur noch psycholo-gisch erklären.Gerade diese Unbeirrbarkeit im Angesicht Ihrer Feh-ler ist es doch, die Zweifel daran aufkommen lässt, dassSie regierungsfähig sind.
Die handwerklichen Fehler vertreten Sie mit unbeirrba-rer Hartnäckigkeit. Aber was die guten und richtungs-weisenden Entscheidungen, die auch Sie einmal getrof-fen haben, angeht – ich denke da an die Reformen desArbeitsmarktes und die Rente mit 67 –, suchen Sie an-dauernd nach einem Notausgang für Helden.So eiern Sie auch in der Arbeitsmarktpolitik herum:Mal sind Sie gegen Teilzeit, mal dafür. Mal sind Lohn-kostenzuschüsse gut, mal sind sie schlecht. Vor einigenJahren hat Gerhard Schröder die neue Mitte entdeckt,jetzt wird der Mittelstand belastet. Die Abschaffung derkalten Progression haben Sie verhindert, und heute mel-den die Zeitungen, Ihre Kindergeldpläne führten geradefür Familien der Mittelschicht zu deutlichen monatlichenBelastungen.
Konsistent, meine Damen und Herren, ist das alles nicht.Der Bürger hat ohnehin längst den Eindruck, dass derSPD-Slogan in Wahrheit heißt: Das Wir entscheidet, dasDu bezahlt. – Aber wenigstens darin sind Sie sich treugeblieben.
Nächster Redner für die CDU/CSU: Kollege Max
Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren heute über verschiedene Vorlagen, zu-vörderst aber natürlich über den Antrag der SPD mitdem etwas aufgeblasenen Titel „Deutschland 2020 – Ge-recht und solidarisch“. Ich möchte dem Kollegen Kolbbeipflichten bzw. seine Bemerkung etwas abschwächen.Kollege Kolb hat ja bereits dargelegt, dass in Ihrem An-trag nur heiße Luft ist. Ich möchte das abschwächen: einlaues Lüftchen; mehr ist da nicht drin.
Das, was hier niedergeschrieben worden ist, ist letzt-endlich ein Horrorprogramm für die Menschen in unse-rem Land. Es beginnt mit einer falschen Analyse. Wennman eine falsche Analyse macht, kann man daraus natür-lich auch keine richtigen Schlussfolgerungen ziehen;auch das muss dargelegt werden. In Ihrem Antrag wirdein Zerrbild von unserer Gesellschaft gezeichnet: alsgäbe es in Deutschland nur noch Niedriglöhner undNiedrigstverdiener, kaum soziale Absicherung und vorallen Dingen keine Bildungsgerechtigkeit, keine Bil-dungschancen und keine Chancengerechtigkeit.Ich bin der Meinung, das ist letztendlich im Hinblickauf die vielen Institutionen, die wir alle in der Politik ge-meinsam geschaffen haben, nicht würdig. Wir habeneine großartige Schulbildung. Vor allen Dingen in Bay-ern gibt es ein Schulsystem, das für die Kinder dieGrundlagen schafft, um später eine gute berufliche Aus-bildung zu erhalten und großartige Zukunftschancen zuhaben. Dass dies in SPD-regierten Ländern nicht der Fallist, sehen wir. Manche Kollegen haben bereits gesagt:„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. Es ist ebeneine Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen und in Ba-den-Württemberg Lehrerstellen abgebaut werden. InBayern und anderen unionsregierten Ländern werden– das ist zukunftsträchtig – Lehrerstellen geschaffen. InBayern werden jedes Jahr 1 000 neue Lehrerstellen ge-schaffen, obwohl es weniger Kinder gibt. Damit schaf-fen wir mehr Chancengerechtigkeit und mehr Bildungs-gerechtigkeit für die jungen Menschen in unserem Land,verehrte Damen und Herren.
Dies ist etwas, womit der Kanzlerkandidat der SPDnicht so viel am Hut hat. Darum hat er die meiste Zeitseiner Rede über Steuern und Steuergerechtigkeit ge-sprochen, vor allen Dingen über das Steuerabkommenmit der Schweiz. Natürlich wäre ein Steuerabkommenmit der Schweiz wesentlich erfolgreicher und ertragrei-cher gewesen, weil dann alle ihre Steuern bezahlt hätten.Ihnen geht es letztendlich ja nur darum, hier Symbol-politik zu betreiben, weil Sie glauben, daraus im anste-henden Wahlkampf Honig saugen zu können. Ich erin-nere in diesem Zusammenhang an Herrn Zumwinkel.Wir können manche Namen austauschen, wenn Sie sowollen; aber ich glaube nicht, dass wir eine Debatte überSteuergerechtigkeit damit voranbringen. Dass auch derKollege Steinbrück nachbessern musste – bei den Anga-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29701
Max Straubinger
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ben zu seinen Reden –, ist ja bekannt. Die Wahrhaftig-keit beginnt meistens bei einem selbst. Da sollte man zu-erst tätig werden.
Ich kann verstehen, warum der Kollege Steinbrücknicht auf das SPD-Papier eingegangen ist. Das liegt da-ran, dass er dieses Papier innerlich eigentlich gar nichtvertreten kann. Er hat in der Vergangenheit letztendlichalle diese Maßnahmen – sei es ein gesetzlicher Mindest-lohn, seien es andere Maßnahmen – abgelehnt, aus fach-lichen und sachlichen Überlegungen. Ich denke, er steht– auch wenn er das jetzt nicht mehr sagen darf – für dieRente mit 67. Unter demografischen Gesichtspunkten istdie Rente mit 67 aber richtig, und ich bin FranzMüntefering ausdrücklich dankbar, dass er diese Reformhier durchgesetzt hat.
Dass die Grundlagen dafür unter dem seinerzeitigenBundesminister Franz Müntefering geschaffen wordensind, ist letztendlich im Sinne einer großartigen Genera-tionenpolitik in der Rente.
Wir wollen daran weiterarbeiten, verehrte Damen undHerren.
Herr Kollege Straubinger, ich habe eine Zwischen-
frage aus der Fraktion der FDP.
Gerne.
Bitte schön, Kollege Kurth.
Herr Kollege Straubinger, wo Sie die Rede von Herrn
Steinbrück analysieren: Hat Herr Steinbrück eigentlich
auch Zugang gefunden zu der berühmten „Thüringer
Friseurin“, von der ich als Thüringer mir hier ständig
erzählen lassen muss? Hat irgendjemand von der Oppo-
sition heute, wie es sonst immer der Fall ist, von den
Löhnen der „Thüringer Friseurin“ gesprochen? Hat ir-
gendjemand von der Opposition gewürdigt, dass Ge-
werkschaften und Arbeitgeber diese Woche für die
„Thüringer Friseurin“ wie überhaupt für das gesamte
Thüringer Handwerk einen Tarifvertrag mit einem Stun-
denlohn von 8,50 Euro abgeschlossen haben? Hat ir-
gendjemand von der Opposition zur Kenntnis genom-
men, dass hier eine Tariflösung gefunden wurde, ohne
dass die gesetzliche Keule nötig geworden wäre?
Leider nein, Herr Kollege.
Aber das ist ja auch verständlich: Sie wollen ja nicht denErfolg der Tarifparteien. Sie wollen grundsätzlich einestaatliche Lohnfestsetzung betreiben.
Deshalb haben Sie diesen Erfolg nicht gewürdigt.Wahrscheinlich geht es auch darum – wie es die Kol-legin Göring-Eckardt getan hat –, in die eigenen Reihenhinein zu predigen. Liebe Kollegin Göring-Eckardt, pre-digen Sie an Ihre Kollegin Bärbel Höhn gerichtet, dasssie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht länger für4,60 Euro beschäftigt.
Die Opposition will einen Erfolg der Tarifparteien garnicht herausstellen; doch das zeigt nur die Richtigkeitunserer Politik.
In den Anträgen geht es viel darum, dass Familienpolitikverbessert werden solle. An dieser Stelle kann ich nursagen: Die Union, besonders die CSU, ist die Familien-partei, die sich dafür einsetzt, dass Familien in Deutsch-land gleiche Chancen bekommen.
Dazu gehören ausreichende Kinderbetreuungsmöglich-keiten: mit Kindertagesstätten, mit Krippenplätzen, aberauch mit dem Betreuungsgeld.
Es ist bemerkenswert, wenn im Antrag der SPD dar-gelegt wird, die Kommunen brauchten mehr finanzielleUnterstützung. In Bayern gibt es derzeit ein Kitaplatz-angebot für 43 Prozent der Kinder. Zum 1. August diesesJahres werden 50 Prozent erreicht werden. Doch dieschöne Stadt München, eine der reichsten Städte in ganzDeutschland, rot-grün regiert – von Herrn Ude –, schafftes nicht einmal, genügend Kindergartenplätze bereitzu-stellen, auf die es bereits jetzt einen Rechtsanspruch gibt.Noch immer fehlen 5 000 Kindergartenplätze und abSommer zusätzlich 7 000 Kitaplätze.
Das zeigt sehr deutlich: Es ist wichtig, dass auch etwasumgesetzt wird.Wir sind in Bayern stolz auf unsere Bürgermeisterin-nen und Bürgermeister, die sich tatkräftig für die Schaf-fung von Kitaplätzen einsetzen. Leider Gottes geht dasaber an der Landeshauptstadt München vorbei. Das zeigtauch sehr deutlich: Selbst wenn es ausreichende Finanz-zusagen gibt – der Freistaat Bayern garantiert ja, dass je-der Kinderkrippenplatz gefördert wird –, ist Rot-Grün
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29702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Max Straubinger
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nicht in der Lage, das umzusetzen. Das zeigt sehr deut-lich, dass Sie von SPD und Grünen beim Fordern immergroßartig sind, aber beim Handeln versagen.Das wollen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern inDeutschland in den nächsten vier Jahren ersparen. Des-halb bin ich überzeugt, dass wir wiederum die Mehrheiterringen werden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Kollege Max Straubinger war der letzte Redner in un-serer Aussprache, die ich deshalb jetzt schließe.Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c. Interfraktionellwird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen17/13226, 17/12857 und 17/13246 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit demTitel „Mehrheitswillen respektieren – Gesetzlicher Min-destlohn jetzt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/9613, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8026 abzu-lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Dassind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – FraktionDie Linke. Enthaltungen? – Fraktionen SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.Tagesordnungspunkt 4 e. Wir kommen zur Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zudem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Fürsoziale Gerechtigkeit statt gesellschaftlicher Spaltung –Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/13182, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/12683 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, SPD-Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Gegen-probe! – Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 f sowiedie Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:45 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie 2011/95/EU– Drucksache 17/13063 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
– Drucksache 17/13223 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfec) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESicherungslücke im Übergang von Arbeitslo-sengeld in eine Erwerbsminderungsrenteschließen– Drucksache 17/13113 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVersorgungsqualität und Therapiefreiheit inder Substitutionsbehandlung stärken– Drucksache 17/13230 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschusse) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht der Bundesregierung zur Bildung für
– Drucksache 17/8099 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungf) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-tarischen Beirat für nachhaltige EntwicklungBericht des Parlamentarischen Beirats für
– Drucksache 17/13064 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für TourismusZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinGriese, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Eva Högl,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNationales Reformprogramm 2013 und Natio-naler Sozialbericht 2013– Drucksache 17/13195 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29703
Vizepräsident Eduard Oswald
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Hans-Christian Ströbele, Tom Koenigs,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür eine Neuorientierung im Umgang mit Ge-walt und Organisierter Kriminalität in Mexikound Zentralamerika – Sicherheitsabkommenunter dem Primat der Menschenrechte gestal-ten– Drucksache 17/13237 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/13195 – Zu-satzpunkt 3 a – soll federführend im Ausschuss fürArbeit und Soziales beraten werden. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 k auf.Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 46 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012über die abschließende Aufteilung des Finanz-vermögens gemäß Artikel 22 des Einigungs-vertrages zwischen dem Bund, den neuen
haltsordnung– Drucksache 17/12639 –Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-ausschusses
– Drucksache 17/13256 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleJohannes KahrsOtto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/13256, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12639 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Das sind alle Frak-tionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand.Enthaltungen? – Auch niemand. Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind alle Kolleginnen und Kollegen. Vorsichtshal-ber: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? –Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen nun – Tagesordnungspunkte 46 b bis46 k – zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses.Tagesordnungspunkt 46 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 572 zu Petitionen– Drucksache 17/13117 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Werstimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand.Die Sammelübersicht 572 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 46 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 573 zu Petitionen– Drucksache 17/13118 –Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Vorsichtshalberfrage ich: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-gen? – Niemand. Sammelübersicht 573 ist angenom-men.Tagesordnungspunkt 46 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 574 zu Petitionen– Drucksache 17/13119 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und sozial-demokratische Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Links-fraktion. Enthaltungen? – Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen. Sammelübersicht 574 ist damit angenommen.Tagesordnungspunkt 46 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 575 zu Petitionen– Drucksache 17/13120 –Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen desHauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-gen? – Niemand. Sammelübersicht 575 ist angenom-men.
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29704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsident Eduard Oswald
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Tagesordnungspunkt 46 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 576 zu Petitionen– Drucksache 17/13121 –Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen, die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.Wer stimmt dagegen? – Niemand. Stimmenthaltungen? –Linksfraktion. Sammelübersicht 576 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 46 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 577 zu Petitionen– Drucksache 17/13122 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-mokraten und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? –Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Nie-mand. Sammelübersicht 577 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 46 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 578 zu Petitionen– Drucksache 17/13123 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-gegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. DieSammelübersicht 578 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 46 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 579 zu Petitionen– Drucksache 17/13124 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Bünd-nis 90/Die Grünen, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? –Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Nie-mand. Sammelübersicht 579 ist angenommen.Tagesordnungspunkt 46 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 580 zu Petitionen– Drucksache 17/13125 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-demokraten. Wer stimmt dagegen? – Linksfraktion undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand.Sammelübersicht 580 ist damit angenommen.Tagesordnungspunkt 46 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 581 zu Petitionen– Drucksache 17/13126 –Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Werstimmt dagegen? – Die drei Oppositionsfraktionen. Ent-haltungen? – Niemand. Sammelübersicht 581 ist ange-nommen.1)Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatz-punkt 4 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgeset-zes– Drucksachen 17/10771, 17/11610, 17/12284,17/13190 –Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van EssenWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das ist nicht der Fall.Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. DerVermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei-ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im DeutschenBundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim-men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung desVermittlungsausschusses auf Drucksache 17/13190? –Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! –Niemand. Enthaltungen? – Niemand. Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-ordnungspunkt 5 a sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf:5 a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDAntrag auf Entscheidung des Deutschen Bun-destages über die Einleitung eines Verfahrenszur Feststellung der Verfassungswidrigkeitder „Nationaldemokratischen Partei Deutsch-lands“ gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grund-gesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. desBundesverfassungsgerichtsgesetzes– Drucksache 17/13227 –ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPRechtsextremismus entschlossen bekämpfen– Drucksache 17/13225 –ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKENPD verbieten– Drucksache 17/13231 –1) Erklärungen nach § 31 GO Anlage 3
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29705
Vizepräsident Eduard Oswald
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ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENRechtsextremismus umfassend bekämpfen– Drucksache 17/13240 –Über den Antrag der Fraktion der SPD sowie überden Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP wer-den wir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind alle da-mit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen.Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in un-serer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokra-ten unser Kollege Thomas Oppermann. Bitte schön, Kol-lege Thomas Oppermann.
Danke schön, Herr Präsident. – Meine Damen undHerren! Seit anderthalb Jahren diskutieren wir über einneues Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bun-desverfassungsgericht. Vor vier Monaten hat nach sorg-fältiger Vorbereitung durch die Innenminister von Bundund Ländern der Bundesrat entschieden, einen Verbots-antrag zu stellen. Deshalb ist es heute an der Zeit, dassauch der Bundestag eine Entscheidung trifft.
Wir wollen, dass auch der Bundestag einen Antragstellt, damit die NPD verboten werden kann. Das Grund-gesetz sieht in Art. 21 vor, dass Parteien, die darauf aus-gerichtet sind, „die freiheitliche demokratische Grund-ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, …verfassungswidrig“ sind. Die Väter und Mütter desGrundgesetzes haben diese Bestimmung über das Partei-enverbot in das Grundgesetz aufgenommen, weil siesichern wollten, dass nie wieder die parlamentarischeDemokratie in Deutschland durch Nationalsozialistenzerstört oder durch eine Gewaltherrschaft abgelöstwerden kann.
Deshalb sollte die Demokratie des Grundgesetzes alseine wehrhafte Demokratie ausgestaltet sein. Ich zitieredazu Carlo Schmid aus den Beratungen des Parlamenta-rischen Rates:Ich für meinen Teil bin der Meinung, daß es nichtzum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selbstdie Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.
Mit anderen Worten: Gegen ihre Feinde dürfen sichDemokraten nicht neutral verhalten, meine Damen undHerren.
Deshalb bin ich einigermaßen froh, dass wir alle unsin einer Frage wenigstens einig sind: Die NPD ist eineverfassungsfeindliche Partei. Diese Partei ist antidemo-kratisch, sie ist antisemitisch, sie ist ausländerfeindlich,sie ist in Teilen gewaltbereit. Die NPD steht in der Tradi-tion der nationalsozialistischen Ideologie, und die NPDbekämpft unsere freiheitlich-demokratische Grundord-nung.Ein Kernelement dieser freiheitlich-demokratischenGrundordnung, die universelle Geltung der Grund- undMenschenrechte, ist das, was der SPD als ganz besonde-rer Angriffspunkt vor Augen steht.
Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehregeht die NPD davon aus, dass es minderwertige Men-schen in Deutschland gibt, Menschen, die wegen ihrerHerkunft oder ihrer Hautfarbe aus Deutschland vertrie-ben werden sollen, die kein Recht haben, hier zu leben.Die NPD will diese Menschen aus Deutschland vertrei-ben. Da, wo sie sich stark fühlt, errichtet sie sogenanntenational befreite Zonen und organisiert zusammen mitrechtsextremen neonazistischen Kameradschaften rassis-tische Gewaltakte gegen unschuldige Opfer. Ich mussIhnen sagen, meine Damen und Herren: Ich empfinde esals unerträglich, dass solche Parteiaktivitäten immernoch mit Steuergeldern finanziert werden.
Die Demokratie in Deutschland mag stark genug sein,eine verfassungsfeindliche NPD auszuhalten; die Opferder NPD sind es nicht.
Zu der Aussage von Herrn Rösler, der heute nicht daist, in diesem Zusammenhang, Dummheit könne mannicht verbieten,
kann ich nur feststellen: Es geht hier nicht darum, einpaar dumme Gedanken zu verbieten, sondern darum,eine Organisation, eine Partei zu zerschlagen, die daraufausgerichtet ist und die dazu beiträgt, dass Menschen inDeutschland angegriffen werden.
Trotz allem habe ich Respekt für diejenigen, die heuteunserem Antrag nicht folgen und dafür Argumente nen-nen. Ich kenne diese Argumente; ich teile sie nicht, aberich respektiere sie. Aber ich halte es für nicht inOrdnung, dass monatelang versucht worden ist, dieserEntscheidung auszuweichen.
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29706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Thomas Oppermann
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Jetzt werden wir auch noch dafür kritisiert, dass wirdiese Debatte erzwungen haben. Jetzt sollen wir auchnoch dafür verantwortlich gemacht werden, dass heutemöglicherweise bei der Abstimmung über unseren An-trag ein uneinheitliches Abstimmungsbild entsteht, dasfür den Antrag des Bundesrates nicht vorteilhaft wäre.Meine Damen und Herren, was ist das für eine verquereLogik?
Wenn unser Antrag heute keine Mehrheit findet, dannliegt das doch nicht an denjenigen, die den Antraggestellt haben, sondern an denjenigen, die den Antragablehnen.
Liebe Renate Künast, Sie haben gesagt, dies sei einShowantrag.
Herr Kollege Oppermann!
Danke, ich habe zu wenig Redezeit. – Ich muss Ihnen
ganz ernsthaft sagen – –
– Dann bitte sehr.
Sie möchten die Zwischenfrage von Herrn Montag
zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Oppermann, danke, dass Sie die Frage
zulassen. Ich verlängere damit Ihre Redezeit; seien Sie
also dankbar.
Das habe ich noch rechtzeitig gemerkt.
Gut, das stimmt. – Zu meiner Frage. Sie haben, Herr
Kollege Oppermann – jetzt komme ich zum Ernst der
Sache zurück, was angemessen ist –, Ihren Antrag aus-
führlich begründet. Ich stimme jedem Satz von Ihnen zu:
Die NPD ist eine rassistische, eine verfassungswidrige
Partei.
Das Problem, vor dem wir stehen, ist: Der Deutsche
Bundestag hat nach der Verfassung nicht das Recht, Par-
teien zu verbieten. Wenn wir das Verbot aussprechen
könnten, hätten wir eine andere Situation. Wir diskutie-
ren ausschließlich über die Frage: Sollen wir einen ent-
sprechenden Antrag an ein Gericht stellen oder nicht?
Dabei müssen wir uns, ob wir wollen oder nicht, zu der
Frage verhalten: Halten wir den Antrag für aussichts-
reich oder für nicht aussichtsreich? Es braucht ja eine
rationale, vernünftige Begründung, wenn man vor Ge-
richt ein Risiko eingeht.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, was
Sie eigentlich veranlasst, heute namentlich über Ihren
Antrag abstimmen zu lassen, statt ihn in die Ausschüsse
zu geben. Viele Kollegen – dazu gehöre auch ich – sind
in der Sache ganz nahe bei Ihnen, können Ihnen aber
nicht folgen, da Sie heute eine Stellungnahme von uns
verlangen. Ich persönlich möchte gerne als Mitglied des
Rechtsausschusses im Rechtsausschuss eine Sachdebatte
auch mit Sachverständigen darüber führen können,
welche Erfolgsaussichten – rechtlich und faktisch – ein
solches Verbotsverfahren hätte. Da können wir Argu-
mente austauschen.
Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Der Bundesrat wird
erst im Juni oder im Juli entscheiden. Warum verlangen
Sie von uns heute eine Stellungnahme in Form einer
namentlichen Abstimmung zu der Frage: „Welche
Aussichten hat der SPD-Antrag beim Bundesverfas-
sungsgericht?“, ohne dass wir Gelegenheit hatten, da-
rüber in den Ausschüssen zu reden?
Lieber Kollege Montag, was die Erfolgsaussichtendieses Verfahrens betrifft, gehen wir davon aus, dass dieInnenminister von Bund und Ländern sie sehr sorgfältiggeprüft haben. Wir setzen auf die Fakten und auf dieKraft der Argumente. Die Fakten besagen, dass die NPDin aggressiv-kämpferischer Weise Menschenrechtsver-letzungen in Deutschland organisiert und betreibt.Es ist in der Tat nicht erwiesen, dass die NPD bei derVorbereitung und Durchführung der schweren Terror-straftaten durch den „Nationalsozialistischen Unter-grund“ eine Rolle gespielt hat. Aber es ist doch bei allenBeteiligten völlig unstreitig, dass die NPD den geistigenNährboden dafür geschaffen hat, dass solche schlimmenTaten in Deutschland geschehen konnten.
Wir haben im Januar einen Antrag in den Bundestageingebracht, in dem wir darum gebeten haben, dass derInnenausschuss eine Empfehlung für das Plenum erar-beitet. Das, finde ich, war ein seriöses Vorgehen. Das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29707
Thomas Oppermann
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war kein Showantrag. Allerdings ist dieser Antrag kom-plett ignoriert worden. Es hat im Innenausschuss nichtdie Arbeit stattgefunden, die wir wollten.
Wir wollten auch nicht so lange warten, bis das Verfah-ren vor dem Bundesverfassungsgericht auf Antrag desBundesrates beginnt, sodass wir dann hinterherlaufen.Jetzt ist die Zeit, über diesen Antrag zu entscheiden.Deshalb haben wir ihn heute eingebracht.
Es mag unangenehm sein, jetzt Farbe bekennen undsich entscheiden zu müssen. Aber diese Unannehmlich-keit kann ich Ihnen nicht ersparen. Nachdem Ihre Kolle-gin, Frau Künast, in diesem Zusammenhang gesagt hat,das sei ein Showantrag,
muss ich Ihnen als Sozialdemokrat sagen: Dieser Antragist vor dem Hintergrund des historischen, des politischenund des demokratischen Selbstverständnisses der Sozial-demokratischen Partei
für uns eine Angelegenheit von ganz großer Ernsthaftig-keit. Davon können Sie ausgehen.
Für sein Abstimmungsverhalten muss jeder selbst dieVerantwortung tragen.Immer wieder wird behauptet, eine Partei dürfe nurverboten werden, wenn sie unmittelbar vor der Macht-übernahme stehe. Das ist eindeutig unzutreffend; dennein solches Kriterium hat weder das Bundesverfassungs-gericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte formuliert. Und die Lehre aus der Geschichtezeigt doch, dass man solchen Parteien frühzeitig entge-gentreten muss.
Schließlich ist ein NPD-Verbot leider auch nicht des-halb überflüssig geworden, weil diese Partei durch Mit-gliederschwund, Finanzdebakel und schlechte Wahler-gebnisse schwächer geworden ist. Das ist doch nicht vonselbst gekommen. Das ist doch ganz klar eine Folge des-sen, dass wir mit der Verbotsdebatte den Druck auf diesePartei systematisch erhöht haben.
Der permanente Beobachtungs- und Fahndungsdruckseit Aufdeckung der NSU-Morde hat die rechtsextremeSzene in Deutschland erkennbar verunsichert. DiesenDruck, meine Damen und Herren, dürfen wir jetzt nichtzurücknehmen. Deshalb bitten wir Sie, unserem Antragzuzustimmen.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Günter Krings.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Für die heutige Debatte halte ich es in der Tatfür besonders wichtig, gleich zu Anfang sehr klar zu un-terscheiden zwischen der Einigkeit über das Ziel der Be-kämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland undden offensichtlichen Meinungsunterschieden über diedazu richtigen und notwendigen Mittel.Meine Damen und Herren, einig sind wir uns im gan-zen Hause auch darin, dass die NPD eine verabscheu-ungswürdige Partei ist, die nie in dieses Parlament ein-ziehen darf und die auch aus allen Landtagenverschwinden sollte.
Die Aussagen führender Politiker dieser Partei gegenAusländer sowie der Rassismus und die Fremdenfeind-lichkeit, die daraus sprechen, widersprechen den Grund-werten unseres Landes massiv. Geradezu unerträglichwird es dann, wenn der Holocaust geleugnet oder relati-viert werden soll. Wir treten einer solchen Verhöhnungder Opfer bei jeder Gelegenheit mit aller Entschieden-heit entgegen.
Ich habe aus diesen Gründen keine Zweifel, dass dieNPD eine menschenfeindliche und demokratiefeindlichePartei ist. Ich stimme in großen Teilen Ihrer Rede, insbe-sondere dem Analyseteil, zu, Herr Oppermann. DieseFeststellung sagt aber noch nichts darüber aus, ob diesePartei auch aggressiv-kämpferisch im Sinne der Krite-rien des Bundesverfassungsgerichts agiert, und sagt vorallem nichts darüber aus, ob ein Verbotsverfahren gegendiese Partei politisch klug ist. Ich stimme dem renom-mierten Düsseldorfer Parteienrechtler Martin Morlok,den Sie sicherlich mindestens genauso schätzen wie ich,zu, wenn er sagt: „Ein Parteiverbot löst das Extremis-musproblem nicht.“ Meine Damen und Herren, mankann eine Partei verbieten. Aber man kann weder einerechtsextreme Gesinnung noch rechtsradikale Menschenper Hoheitsakt verbieten. Da braucht es eben mehr En-gagement.
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Dr. Günter Krings
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Dieses Engagement bei der Bekämpfung des Rechts-extremismus und der NPD beschreiben und fordern wirals Koalitionsfraktionen mit unserem Antrag. Wir wol-len den Rechtsextremismus vor allem politisch ent-schlossen bekämpfen. Unser Kampf gründet auf fünfSchwerpunktbereiche. Ich will nur zwei, drei Beispieleherausgreifen.Wir wollen mit der Fortführung bestehender und derAuflage neuer Programme das zivilgesellschaftlicheEngagement fördern. Ich betone allerdings: Dabei mussder Kampf gegen den Rechtsextremismus aus der gesell-schaftlichen Mitte und nicht von ihren politischenRändern her aufgenommen werden.
Wir brauchen attraktive Programme zum Ausstieg ausder rechtsextremen Szene, sowohl staatliche wie privateProgramme wie das Projekt EXIT, das wir jetzt alleinmit Bundesmitteln weiter fördern.Wichtig ist des Weiteren eine effektive Arbeit unsererSicherheitsbehörden für erfolgreiche Prävention, abereben auch für die notwendige konsequente Strafverfol-gung. Hier braucht es vor allem eine gute und in Teilennoch bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Län-dern bei Polizei und Verfassungsschutz. Ich bedankemich ausdrücklich bei unserem Innenminister Friedrichfür viele Verbesserungen, die er angestoßen und erreichthat. Aber es bleibt auch noch das eine oder andere zutun. Für das Erreichte aber erst einmal herzlichen Dank.
Es ist jedenfalls gut, dass zur Bekämpfung desRechtsextremismus im Bundeshaushalt – das reicht vomBundeskriminalamt bis zur Bundeszentrale für politischeBildung – insgesamt dieses Jahr etwa 25 Millionen Euromehr investiert werden.Meine Damen und Herren, das alles sind Maßnahmenund Programme, die natürlich weniger spektakulär alsein Verbotsantrag gegen die NPD sind. Aber sie sindeben auch viel erfolgversprechender im Kampf gegenden Rechtsextremismus.Die Bundesregierung hat sich nach intensiver Prüfunggegen einen Antrag auf ein Parteiverbot entschieden. Ichbin der festen Überzeugung, dass sich die Bundesregie-rung diese Entscheidung mindestens ebenso schwer ge-macht hat wie der Bundesrat seine Entscheidung. Natür-lich kann sich der Deutsche Bundestag grundsätzlichanders entscheiden. Es gibt keinen Automatismus, dasswir entweder dem Bundesrat oder der Bundesregierungfolgen. Aber ich weise auch darauf hin: Der DeutscheBundestag ist der einzige von drei im Grundgesetz vor-gesehenen Antragstellern, der nicht über eigene nach-richtendienstliche Erkenntnisse verfügt und deshalb aufInformationen insbesondere aus dem Bereich der Bun-desregierung angewiesen ist. Wenn sich der Bundestaganders entscheidet als die Bundesregierung, dann musser dafür schon besonders gute Gründe und besondere ei-gene Erkenntnisse haben, die in eine andere Richtungweisen. Die FDP, meine Fraktion und auch große Teileder Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen sehen diese be-sonderen abweichenden Erkenntnisse und Gründe nicht.Die SPD-Fraktion hat diese, mit Verlaub, in der Sacheauch nicht vorgetragen.
Man kann natürlich, wie die SPD es heute tut, einenVerbotsantrag auch um seiner politischen Wirkung wil-len stellen. Aber auf eines sollten Sie achten: Sie solltenbei diesem Verbotsantrag nicht Opfer Ihrer eigenen Rhe-torik werden. Man kann den Verbotsantrag aus politi-schen Gründen stellen. Entschieden wird über den An-trag aber nach streng juristischen Kriterien. Ich finde esschon ein wenig fahrlässig, wenn die SPD die hohenHürden für ein Parteiverbot ganz aus ihrem Bewusstseinverdrängt.
Der Kollege Oppermann hat nämlich leider recht, alser in der letzten Debatte zu diesem Thema am 1. Februar2013 gesagt hat:Die Rechtsprechung zu den Parteienverboten ist60 Jahre alt. Ich bin sicher: Das Gericht wird diesesVerfahren nutzen, um zeitgemäße Verbotskriterienzu entwickeln.Herr Oppermann, genau das fürchte ich auch. Ich darfhierzu nochmals den Parteienrechtler Morlok zitieren:In den 1950er Jahren war die bundesrepublikani-sche Demokratie in einer ganz anderen Bedro-hungssituation: Es gab noch Millionen ehemaligerNSDAP-Mitglieder …Fazit: Die Anforderungen an ein Parteienverbot werdenheute eben nicht einfacher, sondern strenger zu bewertensein.Selbst die Richter, die 2003 das damalige NPD-Ver-fahren gerne fortgeführt hätten, haben in einem Sonder-votum klar zu erkennen gegeben, dass in einem solchenVerfahren dann natürlich auch die strengeren Kriteriendes Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurAnwendung kommen und leider für höhere Hürden sor-gen. Das heißt insbesondere, dass die zu verbietendePartei eine hinreichend bedrohliche, unmittelbar bevor-stehende Gefahr für die Demokratie darstellen muss.Das ist einmal bejaht worden für eine Partei, die 25 Pro-zent der Stimmen bei den Wahlen erreicht hatte und38 Prozent in Umfragen. Bei Wahlergebnissen vonglücklicherweise unter 2 Prozent für die NPD sieht dieLage ganz anders aus. Offenbar glauben Sie von derSPD selbst nicht so recht daran, dass diese Mindestan-forderungen für das Verbot erfüllbar sind; denn nur sokann ich Ihre Einlassung in der letzten Parlamentsde-batte, Herr Oppermann, verstehen. Wörtlich sagten Sie:Dass die NPD … nicht in der Lage ist, den Bestandder Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, liegtauf der Hand.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29709
Dr. Günter Krings
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Meine Damen und Herren, wer ernsthaft und effektivdie NPD und ihr unsägliches Gedankengut ausmerzenwill, muss klug vorgehen und vor allem politische Mittelwählen. Es kommt ja nicht häufig vor, dass ich mich ei-ner Formulierung des Kollegen Beck bediene, aber ichfinde es sehr treffend, dass Sie, Herr Beck, gesagt haben,es gehe bei einem Verbotsantrag nicht um eine verfas-sungspolitische Mutprobe. Damit ist es eben nicht getan.Wir brauchen vielmehr Mut für den gesellschaftlichenund politischen Kampf gegen die NPD, hier im Bundes-tag vielleicht etwas weniger als in vielen Kommunen,gerade in den neuen Ländern, wo diese Partei ihr Unwe-sen treibt. Diesen Mut müssen wir aufbringen. Wir soll-ten daher nicht zu viel Energie auf Antragsverfahren inKarlsruhe verwenden, sondern uns umso intensiver ge-meinsam an die politische Arbeit zur Verteidigung unse-rer Demokratie machen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Ulla Jelpke hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! KollegeKrings, man muss sich ja fragen, was Ihre Kollegen imBundesrat, die ja dem Antrag zugestimmt haben bzw.das Verbotsverfahren einbringen wollen, dazu sagen,dass Sie sie hier ganz offensichtlich für unqualifiziertund nicht durchblickend erklären. Das ist schon sehr be-zeichnend, finde ich.
Meine Damen und Herren, wir sind uns offensichtlicheinig, dass die NPD eine zutiefst verfassungswidrigePartei ist, die für demokratische Werte nur Verachtungübrig hat. Wir konnten in den Materialsammlungen zumBeispiel Folgendes lesen: Die NPD nennt sich selbst„völkisch-national“, sie gibt Parolen aus wie „Ja zuDeutschland! Ja zum Reich!“, sie will Menschenrechtenur jenen zugestehen, die die „richtigen“ biologischenAnlagen haben, und die NPD lässt keinen Zweifel daran,dass sie Verhältnisse wiederherstellen will, wie wir sieim Faschismus hatten. Es ist die Aufgabe aller Demokra-tinnen und Demokraten, dafür Sorge zu tragen, dassdiese Partei oder so eine Partei in Deutschland keinenPlatz hat und niemals Fuß fasst.
Wie streiten ja heute in der Tat über die Mittel derWahl. Als Argument gegen ein Verbotsverfahren wirdvon den Regierungspolitikern und von den Grünen im-mer wieder vorgebracht, die NPD schwächele, sie sei na-hezu pleite, ein Verbot sei ohnehin nicht ausreichend be-gründet usw. Das ist – mit Verlaub gesagt – eine banaleArgumentation. Die Linke hat hier im Bundestag Dut-zende von Anträgen eingebracht, um die Bekämpfungdes Rechtsextremismus zu befördern. Ein NPD-Partei-verbot war immer nur eines von mehreren Mitteln. Esgibt aber keinen Grund, auf dieses Mittel, also das Ver-bot, zu verzichten.
Denn, meine Damen und Herren, die NPD ist eben keinebeliebige Partei. Sie ist vielmehr die einzige bundes-weite und damit wichtigste rechtsextreme Kraft inDeutschland; ihre Bedeutung geht weit über ihre Wahl-ergebnisse hinaus. Ich will dafür einige Beispiele nen-nen.Die NPD fungiert als Rückgrat für militante Nazi-kameradschaften. Die versammeln sich beispielsweise inihren Parteilokalen, nutzen Parteiinfrastruktur, könnenihre Nazikonzerte auf Grundstücken der NPD machen.Wenn sie ihre rechten Aufmärsche anmelden, stehen sieunter dem besonderen Schutz des Parteienprivilegs. Dieenge Verflechtung der NPD mit den gewalttätigen Ka-meradschaften zeigte sich erst im letzten Jahr wieder. InNordrhein-Westfalen hat beispielsweise der Innenminis-ter drei Kameradschaften verboten. Was passierte? – DerNPD-Vorsitzende Holger Apfel reiste sofort ins Ruhrge-biet, um seine Solidarität mit diesen Nazischlägern zubekunden. Man muss ganz klar sagen: Die Kamerad-schaften sind diejenigen, die Gewalt ausüben und Men-schen terrorisieren, die anders denken, wie beispiels-weise Migrantinnen und Migranten. Sie stehen mit ihrenKnüppeln vor deren Haustüren und Ähnliches mehr. ImKreis Unna wurde beispielsweise eine Hausdurchsu-chung bei den Kameradschaften durchgeführt. Und wasfand man? – NPD-Plakate, Materialien ohne Ende. Hiermuss man ganz deutlich sagen, dass die Kameradschaf-ten so organisiert sind, dass sie im Grunde genommenversuchen, über die NPD auch den Schutz des Parteien-privilegs in Anspruch zu nehmen. Dass die NPD dafürauch noch Steuergelder bekommt, ist wirklich ein Skan-dal.
Deswegen sage ich: Wir können das nicht hinnehmen.Ein weiteres Beispiel: In vielen Regionen Ostdeutsch-lands fordert die NPD ihre Mitglieder auf, die Zivilge-sellschaft zu unterwandern. Sie gehen in die FreiwilligenFeuerwehren, in Sportvereine, in Musikvereine, inSchulbeiräte, um dort ihr braunes Gift zu verbreiten.Aus all diesen Gründen träfe ein Verbot der NPD na-hezu die gesamten rechtsextremen Strukturen inDeutschland. Ohne die NPD wären die Kameradschaftennur halb so gut organisiert.
Angesichts der Gefahren, die von diesen Kameradschaf-ten und Schlägertruppen ausgehen – nicht nur abstraktfür die Demokratie, sondern auch sehr konkret für An-dersdenkende, Obdachlose und Migranten, die angegrif-fen werden –, dürfen wir nicht zögern, die NPD zu
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29710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ulla Jelpke
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verbieten; denn damit würden wir auch die Kamerad-schaften treffen.
Nahezu jede Umfrage zeigt uns: In der deutschen Be-völkerung haben Fremdenfeindlichkeit, Ausländerfeind-lichkeit und Antisemitismus leider hohe Zustimmungs-werte; denn die sogenannte Mitte der Gesellschaft istnicht immun gegen diesen Ungeist. Auch ein ThiloSarrazin beispielsweise schwadronierte über den Zusam-menhang von Erbanlagen und dem gesellschaftlichenWert eines Menschen. Es ist völlig unverständlich, dassso ein Mensch noch in den Reihen der SPD verbleibendarf,
wo doch gerade die Vereinten Nationen seine Äußerun-gen als rassistisch verurteilt haben.
Das sind Brandstifter aus der Mitte dieser Gesellschaft.Ich sage Ihnen: Es ist unglaubwürdig, wenn man solcheLeute in seinen Reihen lässt.Nicht zuletzt hat auch der Asylkompromiss vor20 Jahren gezeigt, wie mit Menschenrechten und Men-schenwürde umgegangen wurde – das war zu einer Zeit,als Asylbewerberheime in Deutschland brannten.Ich betone das, weil es eines klarmacht: Der Kampfgegen Rechtsextremismus hört nicht beim Kampf gegendie NPD auf. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und An-tisemitismus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem,und deswegen müssen wir es auch aus der Mitte herausbekämpfen.
Rechtsextremisten müssen geächtet werden. Um denNazis das Wasser abzugraben, wäre die Unterstützungeines Verbotsantrags hier von immenser Bedeutung,meine Damen und Herren.
In der Tat, es bleiben noch einige Fragen offen. DieLinke hat das Material gesichtet und immer wieder klippund klar gesagt, dass die Innenminister unbedingt eineverbindliche schriftliche Erklärung abgeben müssen,dass das Material nicht wieder V-Leute-verseucht ist, da-mit das Verbot nicht deswegen wieder scheitert. Zudemfordern wir die Bundesregierung auf, Informationenüber die Verflechtungen von NPD und Kameradschaf-ten, über ihre Gewaltbereitschaft bzw. ihre Gewalttatenzusammenzustellen und ebenfalls an die Gerichte zu ge-ben, damit diese entsprechendes Material haben.
Frau Kollegin!
Nicht zuletzt treibt uns die Sorge, dass das Verfahren
gegen die NPD als Alibi missbraucht wird; denn man
muss sagen: Es könnte damit auch sehr leicht abgelenkt
werden von den enormen Skandalen, die wir im NSU-
Verfahren aufgedeckt haben, was die Sicherheitsbehör-
den und den Verfassungsschutz angeht.
Frau Kollegin!
Ich komme zum letzten Satz. – Ich kann jetzt nur
noch sagen, dass wir dem Antrag der Koalitionsfraktio-
nen nicht zustimmen werden, weil er vor lauter Eitelkeit
wirklich überhaupt nichts mehr zum NPD-Verbot sagt.
Frau Kollegin!
Die Linke will dieses NPD-Verbotsverfahren.
Wir müssen endlich Nägel mit Köpfen machen. Ich sage
zum Schluss nur noch: Auschwitz gedenken heißt NPD
verbieten.
Danke schön.
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Stefan
Ruppert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen.Ich empfand Ihren letzten Satz, Frau Jelpke, offen ge-sagt, als etwas schlicht in der Argumentationsführung.Ich glaube, alle Kolleginnen und Kollegen – das solltenwir uns hier nicht absprechen – machen sich die Ent-scheidung heute nicht leicht.
Vielleicht ist es sogar die wirksamste Form der Verteidi-gung der Demokratie, wenn wir in einer solchen De-batte, statt uns abzusprechen, dass wir in diesen Punktenauf demselben Fundament stehen, gerade die Gemein-samkeit aller Demokraten in den Vordergrund stellenund betonen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29711
Dr. Stefan Ruppert
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Wir sind nach reiflicher Abwägung aller Argumenteder Auffassung: Der Bundestag sollte keinen eigenenNPD-Verbotsantrag stellen. Die Risiken sind hoch. DerAusgang ist ungewiss. Auch das Problem des Rechts-extremismus wird durch ein NPD-Verbotsverfahrennicht gelöst. Aufgrund dieses Dreiklangs wollen wir kei-nen eigenen Verbotsantrag stellen.Die NPD – ich habe das selbst als wissenschaftlicherMitarbeiter beim letzten NPD-Verbotsverfahren erlebt –ist eine zutiefst widerliche rechtsradikale Partei. Sie wi-derspricht all dem, was mir als Demokrat, aber auch alsChrist wichtig ist. Sie spricht Menschen ihre Würde ab.Von daher sollten wir der NPD überall entschlossen ent-gegentreten.
Für mich als Liberaler ist das zuallererst die Aufgabeder Gesellschaft. Ein wirksames Präventionsprogrammgegen Rechtsextremismus ist, wenn wir in Vereinen, inFeuerwehren, in kulturellen Einrichtungen, im Freundes-und Gesprächskreis, in unserem unmittelbaren Umfeldkeinerlei Toleranz für Intoleranz zeigen,
sondern dem rechtsextremen Gedankengut überall dort,wo es auftritt, wirksam entgegentreten.
Heute steht eine politische Entscheidung an. Wir wol-len und müssen politisch entscheiden, ob wir einen eige-nen Antrag stellen. Herr Oppermann hat gesagt, wir hät-ten uns damit zu viel Zeit gelassen. Die Grünen werfenuns vor, wir würden überhastet handeln, was dieses Ver-botsverfahren angeht. Ich finde schon – ich respektieredie Haltung der SPD –, es stünde den Grünen gut an,heute eine Entscheidung in der Sache zu treffen und ihreHaltung, sei es dafür oder dagegen, zum Ausdruck zubringen. Bei der politischen Bewertung einer solchenFrage ist Enthaltung nicht das adäquate Mittel.
Wir Liberale singen gerne das seit dem Vormärz undden Zeiten der Französischen Revolution in Deutschlandgesungene Lied: Die Gedanken sind frei. Wir hoffen da-rauf, dass es demokratische, gute, idealistische Gedan-ken sind, die frei sind. Wenn wir über diesen Satz nach-denken, müssen wir aber auch feststellen, dass staatlicheMittel gegenüber rechtsextremem Gedankengut, gegen-über der Überzeugung von Rechtsextremen leider relativwirkungslos sind. Was nicht wirkungslos ist, sind dieMittel der Strafverfolgung. Darin sind wir uns alle einig.Dort, wo Rechtsextreme Straftaten begehen, wo sie denBoden des Strafgesetzbuches und die Werte unserer Ge-sellschaft verlassen, wo sie andere Menschen missach-ten, sie gegebenenfalls sogar verletzen oder töten, mussmit aller Härte dieses Rechtsstaates dem Rechtsextre-mismus entgegengetreten werden. Deswegen ist eswichtig, dass wir in solchen Fällen immer unsere Solida-rität zeigen.Am Anfang habe ich gesagt, die Risiken sind hoch,die Erfolgschancen ungewiss und die zu erzielenden Er-folge relativ klein. Das sage ich auch in dem Wissen,dass wir im damaligen NPD-Verbotsverfahren dazu bei-getragen haben, dass die NPD im Zusammenhang mitdem Scheitern durchaus neue Mitglieder gewonnen hat,weil wir sie zu Märtyrern gemacht haben. Wir sollten dieMitglieder dieser Partei nicht zu Märtyrern machen. Wirsollten ihnen dort entgegentreten, wo wir ihnen begeg-nen: jeder in seinem Alltag und gemeinsam als Demo-kraten. Ich glaube, damit erreichen wir mehr als mit ei-nem NPD-Verbotsverfahren.Herzlichen Dank.
Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Wir sind uns im Deutschen Bundestag einig:Die NPD ist eine menschenverachtende, rechtsextremis-tische und verfassungsfeindliche Partei, die auf die Ab-schaffung der freiheitlich-demokratischen Grundord-nung ausgerichtet ist. Aus der Materialsammlung desBundes und der Länder geht das zweifelsfrei hervor. DieNPD ist antisemitisch, rassistisch, islam- und menschen-feindlich. Sie lehnt das demokratische System der Bun-desrepublik Deutschland ab und will es beseitigen. Siewill ihre Rolle als Partei nutzen, um Demokratie undRechtsstaatlichkeit – im NPD-Jargon heißt das: das Sys-tem – zu überwinden. Alle Mitglieder unserer Fraktionwürden es lieber heute als morgen sehen, dass es dieNPD nicht mehr gibt, weil sie verboten ist oder weil siepolitisch oder finanziell Bankrott anmelden muss.
Udo Voigt, der ehemalige Vorsitzende der NPD,sagte: „BRD heißt das System – morgen soll es unterge-hen!“ Die NPD lehnt die Werte des Grundgesetzes– Gleichheit und Freiheit – grundsätzlich ab. KarlRichter, ein NPD-Funktionär und Stadtrat aus München,formuliert ganz rassenbiologisch:Toleranz ist Manipulation des Natürlichen … Tole-ranz wird eingefordert für Fremde, Homosexuelle,Aidskranke … wo die Toleranz gegenüber Abwei-chendem, Lebens-Unrichtigem überhand nimmt aufKosten der normalgebliebenen Mitglieder des Ge-meinwesens, nimmt die Überlebensfähigkeit desGanzen Schaden … weil der Patient …– die weiße Menschheit –vor dem Exitus steht.
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29712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Volker Beck
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Hier wird gegen Minderheiten gehetzt. Deshalb mussman sich der NPD mit allen demokratisch legitimen Mit-teln überall entgegenstellen.
Es gibt Verbindungen der NPD zu verbotenen rechts-extremistischen Organisationen und neonazistischenStraf- und Gewalttätern. Es gibt eine perfide Koopera-tion mit den Freien Kameradschaften, den sogenanntenFreien Kräften. Diese Freien Kräfte bieten dem rechts-extremen Spektrum Flexibilität, Mobilisierungsfähig-keit und Aktionsorientierung. Die NPD versucht wäh-renddessen, den Schutz durch das Parteienprivileg fürsich zu reklamieren. Karl Richter hat dazu gesagt, dassdas zwei Herangehensweisen, zwei Seiten der gleichenMünze, zwei Scheiden der gleichen Klinge sind. Aberunter dem Strich zählt, dass der Hieb, der mit dieserKlinge geführt wird, auch sitzt.Was die NPD will, ist ganz klar. Deshalb ist sich un-sere Fraktion einig: Wenn ein Verfahren zum Verbot derNPD große Chancen hätte, würden wir mit fliegendenFahnen sofort alle gemeinsam Ja sagen. Es gibt aller-dings noch einige Fragen. Ich finde es wirklich bedauer-lich, Kollege Oppermann, dass wir diese Fragen nicht ineinem ordentlichen Verfahren in den Ausschüssen, auchmithilfe von Sachverständigen, klären können. Das istzum Beispiel die Frage nach den V-Leuten. Ich habe ges-tern zum zweiten Mal das Innenministerium gefragt,welche Innenminister denn das Testat, dass das MaterialV-Mann-frei ist, wieder zurückgezogen haben. Die Re-gierung antwortet einfach nicht
und verweist auf einen IMK-Beschluss. Hinzu kommt:10 Prozent des Materials wurden entfernt, weil es quel-lenbelastet war. Was das für das Verfahren heißt, kannniemand hier im Hohen Hause aus eigenem Wissen alsBundestagsabgeordneter letztgültig beurteilen.
In meiner Fraktion gibt es viele, die darauf setzen,dass die offensichtliche Nähe der NPD zum National-sozialismus und zu den gewalttätigen Kameradschaftensowie ihre Entschlossenheit, Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit – die Grundsätze der Bundesrepublik Deutsch-land – abzuschaffen, ausreichen, um das Bundes-verfassungsgericht und europäische Gerichte von derMöglichkeit eines Parteiverbots zu überzeugen. Es gibtandere, die fragen: Kann man mit diesem Material tat-sächlich nachweisen, dass die NPD für den Bestand vonDemokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepu-blik Deutschland eine ernsthafte Gefährdung darstellt?
Das sind keine trivialen Überlegungen, sondern sieverdienen eine ernsthafte Erörterung. Deshalb sage ich:Wenn wir als Deutscher Bundestag – ein Verfassungs-organ, das weder der Bundesregierung noch dem Bun-desrat zu folgen hat, sondern aus eigener Erkenntnis undEinschätzung sein Urteil zu fällen hat – einen Verbots-antrag stellen, bedarf das einer seriösen und sorgfältigenHerangehensweise.
Das sehe ich in dem heutigen Verfahren in der Tat nicht.Ich verstehe nicht den Sinn darin, dass man hier einenAntrag auf das Stellen eines Verbotsantrages stellt, vondem man – schon aufgrund der Koalitionsmehrheit –weiß, dass er keine Mehrheit findet.
Ich muss Ihnen sagen: Ich möchte dem Bundesrat beiseinem Versuch, die NPD zu verbieten, keine Knüppelzwischen die Beine werfen.
Für mich macht es einen Unterschied, ob der Bundestageinfach nicht von seinem Recht auf das Stellen eines An-trags Gebrauch macht oder ob er hier gezwungen wird,den Antrag auf das Stellen eines Antrages mit Mehrheitabzulehnen. Das halte ich für keine kluge Entscheidung,für kein hilfreiches Signal im Hinblick auf das vom Bun-desrat beantragte Verbotsverfahren, und es wird derErnsthaftigkeit des Sachverhaltes nicht gerecht.
Wir sollten die Frage „Kann man die NPD verbietenoder nicht?“ – nicht die Frage „Will man sie verbieten?“ –nicht parteipolitisch instrumentalisieren.
Mich erinnert das alles ein bisschen an 2003. Es wirktwie ein Wettbewerb: Wer kommt bei der Meisterschaftgegen die NPD am höchsten aufs antifaschistischeTreppchen?
Das ist aber nicht das, was wir brauchen. Wir braucheneine seriöse Diskussion und eine verantwortliche Ent-scheidung in der Sache. Ich habe von dir, Thomas, keinArgument dazu gehört, wie du die entsprechenden Hür-den der Rechtsprechung überwinden willst. Aber das istdie Frage, auf die man vor Gericht antworten muss.
Wir werden uns bei der Abstimmung über die An-träge von SPD und Linken enthalten, weil wir nicht se-hen, dass das entsprechend seriös diskutiert wurde.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29713
Volker Beck
(C)
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Kurz zu unserem Antrag. Wir stellen fest: Unabhän-gig vom Ausgang des NPD-Verbotsverfahrens, das esaufgrund des Antrags des Bundesrates auf jeden Fall ge-ben wird, gibt es Aufgaben im Kampf gegen den Rechts-extremismus. Das staatliche Versagen bei der Aufklä-rung der NSU-Morde darf nicht folgenlos bleiben. Diezivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremis-mus darf man nicht länger in ihrer Arbeit behindern, undsie müssen auf eine dauerhafte finanzielle Grundlage ge-stellt werden. Denn der Kampf gegen den Rechtsextre-mismus wird nicht an einem Tag gewonnen.
Ich komme zum Schluss. Meine lieben Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, Sie beweihräuchernsich in Ihrem Antrag angesichts dessen, was Sie allesTolles gemacht haben, unter anderem, dass Sie die Kür-zungen, die Sie bereits beschlossen hatten, auf Druck derOpposition zurückgenommen haben. Aber Sie sagenkein Wort zu dem, was wir im Bundestag schon be-schlossen haben: dass wir die Hürden beseitigen, dasswir von der kurzatmigen Projektförderung über nur dreiJahre wegkommen und die Extremismusklausel endlichzurücknehmen.
Herr Kollege.
Da würde sich zeigen, ob Sie es ernst meinen.
Ich erwarte von allen – ob Sie jetzt mit Ja, Nein oder
Enthaltung stimmen –, dass wir uns am 1. Mai in Dort-
mund und Berlin sehen, wenn die NPD und Die Rechte
auf die Straße gehen.
Herr Kollege.
Da ist jeder Demokrat auf der Straße gefordert.
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Dr. Hans-
Peter Uhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen undKollegen! Bei der Frage, ob der Bundestag beim Verfas-sungsgericht einen Verbotsantrag stellen soll, sind wiralle in einer schwierigen Situation. Das ist, glaube ich,jedem in der Debatte deutlich geworden. Es gibt be-stimmte Sprecher einer Fraktion, die es bei der Debattebesonders schwer haben; Sie haben es gerade in Gestaltvon Herrn Beck gehört.Ich meine, wir alle miteinander – jeder Redner fürsich – sollten zunächst einmal gemeinsam feststellen,dass das Gedankengut, das die Vertreter der NPD vortra-gen, materiell verfassungsfeindlich ist. Der Antisemitis-mus, den sie vortragen, ist für uns alle unerträglich.
Der Antisemitismus und Rassismus in seiner widerwärti-gen Form, der Ausländerhass, sind das Gegenteil dessen,was wir alle mit unserer Politik verfolgen: eine Integra-tion der Menschen, die zu uns kommen, und der Erhaltdes sozialen Friedens. Mit diesem Gedankengut kannman niemals sozialen Frieden erreichen; er wird dadurchzerstört.Der primitive Führerkult, den NPD-Vertreter vortra-gen, ist das Gegenteil einer pluralen, freiheitlichen De-mokratie. Da sind wir alle uns einig. Lassen Sie unsdoch bitte immer wieder festhalten, dass es diese Einig-keit gibt: Es gibt keinen Dissens, wohin ich auch schaue,von links bis rechts. Das ist das große Verdienst allerhier vertretenen Parteien in den vergangenen Jahrzehn-ten. Wir sollten gemeinsam darauf stolz sein, dass es unsgelungen ist, dieses Gedankengut in unserer Demokratiezu ächten. 99 Prozent der Deutschen wollen mit diesemGedankengut nichts zu tun haben. Darauf sollten wirstolz sein, und das müssen wir erhalten.
Jetzt sind wir beim Kern des Themas. Das Thema lau-tet: Kann oder darf der Staat eine Partei verbieten, dieder Wähler bereits mit überwältigender Mehrheit ächtet,was er an jedem Wahlsonntag wieder unter Beweisstellt? 99 Prozent der Wähler ächten dieses Gedanken-gut. Kann der Staat diese Partei dennoch verbieten?
Der Blick ins Grundgesetz lehrt uns: Die Gedankensind frei, die Gründung einer Partei ist frei, sie unterliegtkeiner staatlichen Aufsicht, sofern nicht gegen Gesetzeverstoßen wird.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist der tragende Ge-danke des Rechtsstaates. Alles, was der Staat tut, mussdem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Die-sen Gedanken auf die NPD angewandt, kommt man zufolgenden Erkenntnissen: Wir haben leider Gottes etwa23 000 Rechtsextreme in unserem Land, nur 5 000 da-von sind in der NPD.
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29714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Hans-Peter Uhl
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Die NPD ist glücklicherweise eine sterbende Partei.Selbst unter Rechtsextremen ist sie nicht attraktiv undnicht anerkannt. Darüber sind wir froh. Es ist auch un-sere Leistung, unser Erfolg, dass das so ist. Das heißt,diese Partei ist für die freiheitlich-demokratische Grund-ordnung ohne Bedeutung. Sie ist widerwärtig, sie istunangenehm, sie muss bekämpft werden, aber für diepolitische Entwicklung in unserem Land ist sie ohne Be-deutung. Sie hat keinen Einfluss bei der Willensbildungdes Volkes.Diese Erkenntnis auf den Verhältnismäßigkeitsgrund-satz angewendet, wird es für das Gericht schwer sein, einVerbot dieser Partei von Staats wegen zu begründen.Aber gerade weil es schwierig bis unmöglich ist, dassder Staat diese Partei verbietet, ist es umso mehr dieAufgabe der gesamten Gesellschaft, das Gedankengut zubekämpfen. Eine Partei nicht zu verbieten, heißt dochnicht, dass man das Gedankengut nicht bekämpft, son-dern gerade deswegen muss es von uns allen bekämpftwerden. Dem dient unser Antrag.Wenn Sie unseren Antrag lesen – er hat übrigens überlange Strecken verblüffende Ähnlichkeit mit dem, wasdie Fraktion der Grünen jetzt noch nachgeschoben hat –,werden Sie feststellen, dass er dem Kampf der gesamtenGesellschaft gegen dieses Gedankengut dient; und dasist gut so.
Das heißt, die gesamtgesellschaftliche Aufgabe wirdsein, weiterhin, wo immer wir sind, Gedanken des Anti-semitismus zu bekämpfen, Gedanken des Rassismus zubekämpfen, Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen undden Führerkult zu ächten. Das ist die Aufgabe von unsallen. Wir haben uns ihr verschrieben, und wir sind ihrbisher mit großem Erfolg nachgekommen.Ich hoffe, dass es bei der Bundestagswahl im kom-menden September wieder dazu kommt, dass nur nullKomma irgendwas Prozent der deutschen Wähler einerPartei mit diesem Gedankengut ihre Stimme geben und99 Prozent der Wähler dieses Gedankengut durch ihreStimme ächten. Ein solches Votum der Wähler ist sehrviel edler: ganz frei, geheim, jeder für sich. Es ist sehrviel wertvoller als ein obrigkeitsstaatliches Verdikt voneinem Gericht, beantragt von Verfassungsorganen. DerWähler soll sagen: Wir wollen damit nichts zu tun ha-ben; wir haben aus der Geschichte gelernt. – Der Wählerhat es bisher getan, er wird es auch weiter tun.Danke schön.
Für den Bundesrat erteile ich jetzt dem Landesminis-
ter Boris Pistorius das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich darf vorwegschicken: Ich binder SPD-Bundestagsfraktion sehr dankbar für die Mög-lichkeit, diese Debatte heute hier zu führen. Nach denDiskussionen der letzten Monate ist sie zum jetzigenZeitpunkt notwendig.
Es stimmt: Die NPD hat in den letzten Jahren Mitglie-der verloren. Es trifft zu: Die NPD befindet sich in finan-ziellen Schwierigkeiten. Sie hat ihre Vorstandsmitarbei-ter entlassen. Diese Entwicklung ist überaus erfreulich.Aber ist deswegen ein NPD-Verbot überflüssig?
Sollen wir darauf hoffen, dass sich das Problem NPDvon alleine erledigt? Sollen wir bis dahin einfach dieHände in den Schoß legen? Wäre das etwa ein Zeichendemokratischer Geschlossenheit?
Die Antwort kann mit Blick auf die Opfer der NPD-Propaganda in Deutschland nur heißen: Nein, wir dürfennicht einfach nur abwarten.
Das von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Einlei-tung eines Verbotsverfahrens zusammengestellte Mate-rialkonvolut, das übrigens zu drei Vierteln aus Materia-lien des Bundes besteht, belegt es eindeutig: Die NPD isteine neonazistische, eine antisemitische und eine rassis-tische Partei.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten undauch heute viel über das Risiko eines solchen Antragsund die Ungewissheit des Ausgangs eines Verbotsver-fahrens gehört. Aber ich frage Sie: Vor welchem Gerichtin Deutschland gibt es hundertprozentige Gewissheit imHinblick auf das, was ich mit meinem Antrag, meinerKlage bewegen will?
Ich hielte es für einen Ausdruck demokratischer Ge-schlossenheit und Entschlossenheit, diesen Antrag auchdann zu stellen, wenn man, wie im Regelfall, nicht hun-dertprozentig sicher sein kann, Erfolg damit zu haben.Wir alle kennen das Sprichwort über Gerichtsentschei-dungen.Es ist schwer zu ertragen, wenn von der NPD als einerDummheit gesprochen wird, die man nicht verbietenkönne.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29715
Minister Boris Pistorius
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Noch schwerer ist es nachzuvollziehen, dass die Bundes-regierung sich dieser Auffassung anschließt. Menschenmit Migrationshintergrund, Angehörige anderer Reli-gionsgemeinschaften – insbesondere Juden und Muslime –,Wohnungslose, Menschen mit Behinderung, Homo-sexuelle: Sie alle werden von der NPD systematisch dif-famiert. Diesen Menschen muss es doch wie Hohn vor-kommen, dass diese widerwärtige Propaganda der NPDzu einem großen Teil mit staatlichen Mitteln finanziertwird.
Allein im Jahre 2011 machten sie 42 Prozent der Ge-samteinnahmen der NPD aus.Als Innenminister eines Flächenlandes, das rechts-extremen Tendenzen sehr kritisch und sehr aufmerksambegegnet, sage ich: Erstens verharmlost es die NPD,wenn man sie einfach nur als Dummheit bezeichnet.
Zweitens muss man gegen Dummheit angehen,
und zwar mit Aufklärung, mit Sensibilisierung, mit Aus-steigerprogrammen und, ja, auch mit einem Parteiver-botsantrag.
Es stimmt ja: Dummheit kann man nicht verbieten.Wohl aber diese Partei. Wenn die Klügeren immer nurnachgeben, dann gewinnen am Ende die Dummen.
Die Demokraten im Bund und in den Ländern müssengeschlossen zusammenstehen. Wir dürfen nicht zulas-sen, dass die Rechten auch nur einen Quadratmeter Bo-den in den Köpfen der Menschen dazugewinnen. Essteht außer Frage, dass die NPD eine verfassungsfeindli-che Partei ist. Für mich steht auch außer Frage: Wir kön-nen und werden das Bundesverfassungsgericht davonüberzeugen, dass die NPD in aggressiv-kämpferischerArt und Weise unsere freiheitlich-demokratische Grund-ordnung beseitigen will.
Wir brauchen für den Nachweis auch keine plakativenAufrufe der NPD zu Gewalt oder lange Straftatenregis-ter. Ein planvolles politisches Vorgehen wird ausrei-chend deutlich anhand einer Vielzahl von Materialien,die auch im Internet einsehbar sind. Auch wenn es mirschwerfällt, zitiere ich aus dem Internetauftritt der NPD:Ein Afrikaner, Asiate oder Orientale wird nie Deut-scher werden können, weil die Verleihung gedruck-ten Papiers ja nicht die biologi-schen Erbanlagen verändert, die für die Ausprägungkörperlicher, geistiger und seelischer Merkmalevon Einzelmenschen und Völkern verantwortlichsind.Welchen Beweises braucht es noch?
Ein Verbot der NPD ist nicht gleichbedeutend mit ei-nem Sieg über den Rechtsextremismus. Diese Illusionhat niemand. Aber ein Verbot der NPD würde denRechtsextremismus dort, wo er immer noch starkeStrukturen hat – zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpom-mern und Sachsen –, ins Mark treffen.
Vor allem aber sendet eine gemeinsame Erklärung zu ei-nem NPD-Verbotsverfahren ein starkes moralisches undpolitisches Signal aus. Deswegen, meine Damen undHerren von der CDU, von der CSU, von der FDP undauch von den Grünen, fordere ich Sie als niedersächsi-scher Innenminister und Vorsitzender der Innenminister-konferenz auf – ich bitte Sie herzlich –: Schließen Siesich dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und demAntrag des Bundesrates an. Wir schulden es den Opfernrechtsextremistischer Gewalt.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Hartfrid Wolffdas Wort.
Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister Pistorius, wir schulden es den Opfern rechts-extremistischer Gewalt, dass wir wirkungsvoll gegenRechtsextremismus vorgehen und hier keine Ablen-kungsdebatten über das NPD-Verbotsverfahren führen.
Für die FDP besteht kein Zweifel: Die NPD ist einerechtsextremistische Partei mit menschenverachtendenInhalten. Natürlich gehört zur wehrhaften Demokratieauch das Parteiverbot. Man muss sich aber die Fragestellen, ob durch ein Verbot nicht einfach nur eine Hüllebeseitigt wird, das Grundproblem aber bestehen bleibt.
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29716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Hartfrid Wolff
(C)
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Gerade für die FDP hat ein wirkungsvolles Vorgehengegen politischen Extremismus höchste Priorität. Auchdie übelste Gesinnung kann man nicht einfach verbieten,und Patentrezepte dagegen gibt es nicht. Jedenfalls istein NPD-Verbot kein Patentrezept, auch wenn die SPDdas hier suggerieren möchte. Selbst wenn die rechts-extremistische Szene durch ein Verbot vorübergehendgeschwächt würde, sind größere Anstrengungen notwen-dig, auch der Länder, Herr Pistorius, und zwar insbeson-dere im Polizeibereich, um den Druck auf diese Szenemassiv zu erhöhen.Auch juristisch ist Vorsicht geboten. Das lehren alleinschon das gescheiterte Verfahren 2003 und die bisherigeRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte zu anderen Parteiverbotsverfahren.Aber nicht nur juristisch gilt es, das Für und Widerabzuwägen. Wir haben vielfach die Erfahrung gemacht:Wenn eine rechtsextreme Organisation verboten wird,gründet sie sich unter anderem Namen neu. Wie oft solldas Spiel denn immer wieder neu beginnen? Verschafftein Verbotsverfahren nicht unnötigerweise einer ParteiAufmerksamkeit, die angesichts ihrer Mitgliederent-wicklung und ihrer Finanzen ohnehin am Boden liegt?Die Länder erwecken mit einem monatelang andau-ernden Verbotsverfahren den Eindruck besonderenEngagements. Tatsächlich haben die Länder aber überviele Jahre hinweg bei der Bekämpfung des Rechtsextre-mismus versagt. Die NSU-Mordserie hat dies sehr deut-lich gezeigt.
Herr Wolff, der Kollege Gysi hat eine Zwischenfrage
an Sie. Möchten Sie sie zulassen?
Hartfrid Wolff (FDP):
Nein. – Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, offenbar wollen Sie auch mit Ihrem Antrag hier im
Bundestag den Eindruck eines besonderen Engagements
erwecken. Wir stehen aber vor anderen Herausforderun-
gen; denn die Morde der Zwickauer Terrorzelle sind die
schwerwiegendste Kette von rechtsextrem motivierten
Gewaltverbrechen, die die Bundesrepublik Deutschland
bisher erlebt hat. Das ist eine Krise in Bezug auf die Si-
cherheitsarchitektur und die -organe.
Es fehlt allerdings nach wie vor der Nachweis eines
unmittelbaren Zusammenhangs mit der NPD als Partei.
Generalbundesanwalt Range sprach davon – angesichts
unserer Ermittlungen im Untersuchungsausschuss wis-
sen wir, dass das sehr plausibel ist –, dass es keinerlei
Anhaltspunkte dafür gebe, dass der NSU quasi als ver-
längerter Arm der NPD angesehen werden könne. Das in
diesem Zusammenhang permanent öffentlich vorgetra-
gene Ansinnen der SPD zum NPD-Verbotsverfahren soll
offenbar einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Doch
mit einem NPD-Verbot wäre in Sachen NSU nichts ge-
wonnen. Durch ein Verbotsverfahren gegen die NPD
darf das öffentliche Interesse nicht von der Aufklärung
der NSU-Verbrechen abgelenkt werden.
Die Diskussion über den dringenden Reformbedarf
unserer Sicherheitsarchitektur darf nicht durch diese
symbolhafte NPD-Verbotsdebatte verdeckt werden. Die
Neuaufstellung der Behörden ist nötig. Hier ist das Boh-
ren dicker Bretter gefragt – und eben keine Ablenkungs-
debatte.
Mit einem schlichten Verbot einer Partei ist es für uns
nicht getan. Die FDP besteht nach wie vor auf der wir-
kungsvollen Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Extremismus insgesamt und einer lückenlosen Aufklä-
rung der NSU-Mordserie. Die FDP wird sich weiterhin
kompromisslos gegen extremistische Ideologien in unse-
rer Gesellschaft, egal wo sie auftreten, einsetzen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi.
Herr Wolff – dasselbe könnte ich zum Vertreter der
Grünen sagen –, mir fallen zwei Dinge auf.
Erstens. Sie tun immer so, als würden wir hier ent-
scheiden, ob es ein Verfahren geben wird oder nicht, und
dies juristisch abwägen. Es wird ein Verfahren geben,
weil der Bundesrat dies entschieden hat. Es geht doch
nur um die Frage, ob der Bundestag den Bundesrat un-
terstützt oder alleinelässt. Das ist die Frage, die wir hier
zu beantworten haben.
Zweitens. Mich stört, dass Sie sagen, ein Verbot nutze
in bestimmten Bereichen nichts. Dass das nicht aus-
reicht, wissen wir alle. Aber glauben Sie nicht, dass ein
Verbot der NPD eine wichtige Hemmschwelle in unserer
Gesellschaft setzt und zugleich dem Ausland signali-
siert, dass wir in Deutschland das Überschreiten einer
bestimmten Grenze bei Rassismus, Antisemitismus und
Ausländerfeindlichkeit nicht zulassen? Wäre es nicht
wichtig, dieses Signal zu setzen?
Herr Wolff zur Antwort bitte.Hartfrid Wolff (FDP):Herr Kollege Gysi, zunächst einmal ist die Frage, obman hinter einem Antrag steht oder nicht, schon bedeu-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29717
Hartfrid Wolff
(C)
(B)
tend. Wenn ich daran denke, wie 2003 das NPD-Verbots-verfahren ausgegangen ist, kann ich Ihnen nur sagen: Esist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Zeichen, dass derDeutsche Bundestag klar erklärt, dass er Rechtsextre-mismus politisch bekämpfen möchte
und von der juristischen Art und Weise, ihn zu bekämp-fen, wie sie auch von Ihnen unterstützt wird, nicht wirk-lich überzeugt ist.
Sie sagen, dass es bei einem NPD-Verbotsverfahrendarum geht, ein Zeichen zu setzen. Aber wenn diese Par-tei tatsächlich verboten werden würde, hätten wir dochnach kürzester Zeit eine andere Partei – solche Parteiengibt es schon in der Parteienlandschaft –, die dann in denGenuss von finanzieller Unterstützung durch Parteien-finanzierung und Ähnlichem käme, falls sie genügendWähler gewinnt.Ich sage Ihnen ganz offen: Das beste Signal gegen dieNPD haben die Wähler in Niedersachsen und auch beider letzten Bundestagswahl gesetzt, indem sie die NPDnur sehr wenig unterstützt haben. Die NPD hatte bei die-sen Wahlen keinen Erfolg. Um wirkungsvoll gegen Ex-tremismus vorzugehen, muss es dieses Wahlverhaltenauf allen Ebenen, auf Kommunal-, Landes- und Bundes-ebene, geben. Die Programme, die die Bundesregierungvorgelegt hat, sind gute Schritte in die richtige Richtung.
Der Kollege Dr. Franz Josef Jung hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich denke, alle Demokraten sollten sich einigsein, dass Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradika-lismus in Deutschland keine Chance haben dürfen
und dass wir alles tun, um das sowohl politisch als auchgesellschaftlich zu bekämpfen.Die menschenverachtende Gesinnung von Rechts-extremisten steht in einem deutlichen Widerspruch zuden Werten unserer Verfassung. Insofern ist es eindeutig– wir haben das, denke ich, auch betont –: Die NPD ver-folgt verfassungsfeindliche Ziele. Wer sich die Nazi-diktatur zum Vorbild nimmt, steht in einem eindeutigenWiderspruch zu den Werten unserer Verfassung und hatunseren Widerstand verdient.
Deshalb sind, denke ich, sowohl Politik als auchGesellschaft gefordert, alle Erscheinungsformen desRechtsextremismus zu bekämpfen. Hierbei geht es unsum einen umfassenden und nicht um einen einseitigenAnsatz.In unserem Antrag haben wir die einzelnen Positio-nen dargestellt. Es geht um Bildung als Beitrag zur Sen-sibilisierung gegen Rechtsextremismus, um die Unter-stützung des zivilgesellschaftlichen Engagements, zumBeispiel durch die Bundesprogramme „Zusammenhaltdurch Teilhabe“ und „Toleranz fördern – Kompetenzstärken“. Es geht aber auch um den Vereinsbereich. ImBereich des Sports beispielsweise gibt es das Programm„Verein(t) gegen Rechtsextremismus“. Außerdem müs-sen wir die Aussteigerprogramme unterstützen und Hilfezur Selbsthilfe geben; immerhin sind in diesem Rahmenschon 100 Personen aus dem rechtsextremistischen Mi-lieu ausgestiegen. Ich glaube, es ist ein wichtiger Punkt,auch in dieser Richtung alles Notwendige zu tun. Wirmüssen die verschiedensten Facetten nutzen, um denRechtsextremismus zu bekämpfen, sowohl politisch alsauch gesellschaftlich, und dies nicht nur mit einem ein-seitigen Verbotsantrag.
Dazu gehören auch die effektive Prävention und diestrenge Repression durch staatliche Stellen: durch Polizei,Justiz, Bundeskriminalamt und die Verfassungsschutz-behörden.Ich will hervorheben: Dort, wo wir die Kompetenzhaben, zu entscheiden, haben wir entschieden. So wur-den in Deutschland beispielsweise zehn extremistischeVereine verboten, wir haben die Verbunddatei gegenRechtsextremismus auf den Weg gebracht und die Zu-sammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden verbes-sert. Das alles sind Punkte, die aus unserer Sicht dazuge-hören.Kollege Gysi, wir haben in unserem Antrag ausdrück-lich formuliert, dass wir es begrüßen, dass das von denLändern in Gang gesetzte Verfahren von der Bundes-regierung unterstützt wird. Aber wir haben Zweifel imHinblick auf die angemessene Berücksichtigung derRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes; das istein Aspekt, den man in dieser Debatte nicht verkennendarf. Die NPD nutzt ein solches Verfahren nämlich, umsich ein Stück weit zu profilieren; das haben wir an eini-gen Anträgen vonseiten der NPD gesehen.Ich glaube, das Kriterium, das wir an den SPD-Antraganlegen müssen, ist die Frage nach der Verhältnismäßig-keit eines Parteienverbotes. Der Europäische Gerichts-hof hat festgestellt: Ein Parteienverbot ist nur dann mög-lich, wenn die Gefahr besteht, dass die Existenz derDemokratie durch die betreffende Partei unmittelbar ge-fährdet ist. – Wir haben angesichts eines Bundestags-wahlergebnisses von 1,5 Prozent Zweifel, dass diesesVorgehen gerechtfertigt ist.
Meine Damen und Herren, bundespolitisch steht diesePartei dort, wo sie hingehört, nämlich im Abseits. Das
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29718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Franz Josef Jung
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wollen wir auch bei den kommenden Wahlen erreichen.Deshalb wollen wir den politischen Kampf gegen denRechtsextremismus nicht einseitig, sondern umfassendführen. Der beim Bundesverfassungsgericht eingereichteAntrag auf Verbot dieser Partei ist lediglich ein Bausteinim Kampf gegen den Rechtsextremismus. Im Falle desScheiterns kann er aber zu einer großen Baustelle wer-den. Wir haben ja gesehen: Als das Verbotsverfahren2003 gescheitert ist, sind die Stimmanteile der NPD ge-stiegen; das muss in dieser Debatte mitberücksichtigtwerden. Genau das wollen wir verhindern. Wir wollendiese Partei bekämpfen, ihr aber nicht die Chance geben,sich zusätzlich zu profilieren.
Meine Damen und Herren, ich denke, unser Antrag istder weitergehende und effektivere Antrag zur Bekämp-fung des Rechtsextremismus. Deshalb bitte ich Sie umUnterstützung unseres Antrags.Besten Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael
Hartmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! In der Tat: Jeder, der zu dem scharfen Schwerteines Parteienverbots greift, muss sich sehr genau über-legen: Ist das gerechtfertigt, und ist das maßvoll? Ist esdas, was wir in einer entwickelten liberalen Demokratietatsächlich wollen? Um darauf Antworten zu finden, willich in aller Kürze ein paar Zitate verlesen.Im Grundsatzprogramm der NPD gibt es ein Kapitelmit der Überschrift „Integration ist Völkermord“. Indiesem Kapitel wird gefordert, dass die deutsche Volks-substanz zu erhalten ist. So lautet der Text.Nun zum gesprochenen Wort; bei der Gesamtabwä-gung geht es ja auch um die aggressiv-kämpferischeGrundhaltung. Da sagt ein hoher Funktionär der NPDbei einer öffentlichen Veranstaltung in Gera in RichtungGegendemonstranten:Wir sagen: Tod, Vernichtung diesem roten Mob.Nicht unser Volk darf sterben, sondern dieser volks-feindliche Pöbel.Dann gibt es eine weitere Veröffentlichung eines NPD-Kandidaten, der auf seiner Homepage die Frage stellt:Sind die „Dönermörder“ verfassungsgemäße Wi-derständler?Was brauchen Sie noch, um zu sagen: „Diese Parteimuss verboten werden!“?
Wir leben in einem Land, das aufgebaut ist auf einemNie-wieder zu nationalsozialistischer Tyrannei. Insofernist es ein Gebot der Staatsräson, diese Partei durch dasBundesverfassungsgericht verbieten zu lassen.
Der Bundesrat hat abgewogen – übrigens in engsterZusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium undmit den Sicherheitsbehörden des Bundes; man war alsoimmer dabei – und ist zu dem Ergebnis gekommen: Ja-wohl, wir wollen es noch einmal wagen und ein Verfah-ren anstrengen.Entgegen dem, was zum Beispiel der Kollege Wolffvorhin in der Entgegnung auf die Kurzinterventionsagte, ist es nicht wahr, dass das Bundesverfassungs-gericht der NPD jemals attestiert hätte, dass sie verfas-sungsgemäß sei – das Verfahren wurde überhaupt nichtzugelassen.Das neue Verfahren ist gründlich und durchdacht vor-bereitet. Mit dem Antrag der SPD wollen wir die Gele-genheit bieten, dass wenigstens dieses Verfassungsorganden Bundesrat nicht im Regen stehen lässt, wie es dieBundesregierung – mehr aus koalitionärer Rücksicht-nahme denn aus ernsthafter Abwägung – getan hat.
In diesem Sinne muss man sehr genau überlegen, wieman nun weiter argumentiert, auch seitens des Bundes-innenministers, der an dieser Debatte anscheinend garnicht teilnimmt.Vor gut einem Jahr hat der Minister dankenswerter-weise die „Hilfsorganisation für nationale politische Ge-fangene und deren Angehörige“ verboten. Er hat eineOrganisation verboten, keine Gesinnung. Sie haben da-mals völlig richtig gesagt: Hier zeigt die wehrhafte De-mokratie ihre Zähne. Wir werden solche Organisationennicht dulden. – Was bei einer Organisation mit 600 Mit-gliedern recht ist, kann bei einer Partei wie der NPD mit6 000 Mitgliedern nur recht und billig sein.
Natürlich ist es mit einem Parteiverbot nicht getan.Aber es ist ein Gebot unseres Selbstverständnisses, einVerbot dieser Partei anzustreben. Hinzu kommen müs-sen Förderung und Unterstützung der Zivilgesellschaft.Es muss Schluss sein damit, dass diejenigen, die gegenrechts kämpfen, sich am Schluss mit einer Extremismus-klausel herumschlagen müssen.
Es muss auch Schluss sein damit, dass die Bekämpfungdes Rechtsextremismus vermischt wird mit der Bekämp-fung des Linksextremismus und mit der Bekämpfungdes Salafismus. Nein, Rechtsextreme sind ein besonde-res Übel und müssen von unseren Sicherheitsbehördenmit eigenständigen Ansätzen verfolgt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29719
(C)
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Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende.
Wenn das Demokratieverständnis durch diese Debatte
tatsächlich gestärkt wird, ist immerhin etwas erreicht.
Als letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Die SPD
geht nicht taktisch mit dieser Frage um. Die SPD hat in
der Zeit des Widerstands gegen die Hitlerei einen hohen
Blutzoll geleistet. Es ist Teil unseres Selbstverständ-
nisses, dass die Rechten – auch als Partei – nie mehr in
Deutschland Fuß fassen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Helmut Brandt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Debatte über den richtigen Um-
gang mit dem in Deutschland zweifellos vorhandenen
Rechtsextremismus ist schwierig: Obwohl – darüber bin
ich sehr froh – alle in diesem Hause die Notwendigkeit
sehen, gegen diese Bestrebungen wirksam vorzugehen,
besteht Uneinigkeit hinsichtlich der Wahl der Mittel.
Ausgangspunkt für unsere heutige Debatte ist unter
anderem die schreckliche Erkenntnis, dass eine rechte
Terrorzelle, die sich selbst den Namen „Nationalsozialis-
tischer Untergrund“ gab, Menschen mit ausländischen
Wurzeln getötet hat, sowie der Beschluss des Bundes-
rates, beim Bundesverfassungsgericht ein erneutes Ver-
botsverfahren gegen die NPD einzuleiten.
Seit der erste Verbotsantrag im Jahre 2003 vor dem
Bundesverfassungsgericht scheiterte, haben sich alle
– sowohl der Bund als auch die Länder – bemüht, die
Ursachen für dieses Scheitern zu beseitigen, um so bei
einem möglichen zweiten Anlauf aufgrund des V-Leute-
Problems nicht ein neues Fiasko zu riskieren. Die Frage
stellt sich mithin, ob wir heute einen Punkt erreicht ha-
ben, der ein neues Verfahren notwendig und erfolgver-
sprechend macht.
Herr Kollege, der Kollege Ströbele möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Wenn er sonst nicht reden darf.
Herr Kollege, ich habe mich gemeldet, weil Sie jetzt
auch zu dem Punkt Stellung nehmen, zu dem der Kol-
lege Gysi, der im Augenblick nicht da ist, vorhin schon
geredet hat.
Geben Sie mir recht, dass der Deutsche Bundestag in
den Jahren 2001 bis 2003 – der Antrag war 2001 gestellt
worden – schon einmal versucht hat, durch einen Ver-
botsantrag gegen die NPD ein Signal gegen die NPD zu
setzen, dass dies aber total schiefgegangen ist, weil es
eher ein Signal in die falsche Richtung gewesen ist und
auch für die Bevölkerung im Inland ein falsches Signal
war? Geben Sie mir weiter recht, dass der Deutsche Bun-
destag heute – das haben Sie ja bereits angesprochen – ge-
nauso wenig wie in dem früheren NPD-Verbotsverfahren
in der Lage ist, die Validität des vorgelegten Materials zu
überprüfen und die V-Mann-Freiheit zu garantieren, und
dass es deshalb mit diesem Signal des Deutschen Bun-
destages diesmal wieder genauso schiefgehen könnte
wie beim letzten Mal?
Herr Ströbele, es ist selten der Fall, aber ich muss sa-gen: Ich kann Ihren Ausführungen im vollen Umfang zu-stimmen. Ich möchte aber hinzufügen – auch im Hin-blick auf das, was Herr Gysi eben gesagt hat –: Es darfund kann bei dieser Frage keinen Automatismus geben,wonach der Bundestag, wenn eines der beiden Verfas-sungsorgane Bundesrat und Bundesregierung einen sol-chen Antrag stellt, diesem dann zwangsläufig auch fol-gen muss.Gerade das Scheitern 2002/2003 – da gebe ich Ihnenausdrücklich recht – zeigt doch – das haben auch meineVorredner deutlich gemacht –, dass mit einem solchenAntrag, den wir als Abgeordnete nicht hundertprozentigauf Validität überprüfen können, das hohe Risiko einge-gangen wird, dass damit das Gegenteil von dem bewirktwird, was wir alle wollen. Deshalb werden wir ihn ab-lehnen.
Die Länder sind bei der Beratung zu der Überzeugunggelangt, dass die Voraussetzungen für ein solches Ver-fahren beim Bundesverfassungsgericht vorliegen.Ebenso wie die Bundesregierung werden auch wir dieLänder bei ihrer Antragstellung nach besten Kräften un-terstützen. Dennoch haben wir als Bundestag das Rechtund auch die Pflicht, uns zu fragen, ob wir selbst ein sol-ches Verbotsverfahren als erfolgversprechend einschät-zen und ob wir diesem Verfahren beitreten wollen.Die Verfassungswidrigkeit der NPD ist zwischen al-len Fraktionen unstreitig. Wir alle wissen jedoch mit
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Helmut Brandt
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Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte, dass ein Antrag nur erfolgreich sein wird, wenndie Antragsteller nachweisen können, dass die NPD einekonkrete Gefahr für die freiheitlich-demokratischeGrundordnung darstellt. Selbst angesichts der Verflech-tungen zwischen der NPD und anderen rechtsextremisti-schen Gruppierungen wird es schon im Hinblick auf dieabnehmende Mitgliederzahl der NPD und auf ihrensonstigen Zustand augenscheinlich schwer werden, einesolche konkrete Gefahr nachzuweisen.Seit 2003 hat die NPD kontinuierlich an Mitgliedernund an Bedeutung verloren. Immer mehr rechtsextremis-tisch Gesinnte haben sich anderen Gruppierungen zuge-wandt – bis hin zu der neu gegründeten Partei DieRechte. In meinen Augen zeigt das, dass rechtsextremis-tische Strömungen und Verbrechen mit einem Verbots-verfahren gegen die NPD nicht wirksam zu bekämpfensind. Als Jurist teile ich die Zweifel all derer, darunterauch namhafter Verfassungsrechtler, die sich gegen ei-nen Verbotsantrag ausgesprochen haben. Mehr nochfürchte ich sogar, dass wir mit dem angestrebten Verfah-ren dem rechten Spektrum mehr nutzen als schaden.Meinungsfreiheit ist in Deutschland zu Recht ein sehrhohes Gut. Eine Demokratie muss – das wissen wir alle –falsche Lehren, gerade auch grobe Dummheiten aushal-ten können. Die Auseinandersetzung mit unterschiedli-chen Meinungen und die Gleichwertigkeit von Meinun-gen sind das Wesensmerkmal einer Demokratie. Ausgutem Grund stellt deshalb in einer wehrhaften Demo-kratie ein Parteiverbot die Ultima Ratio dar.Ich sage sehr deutlich –
Herr Kollege.
– ich komme gleich zum Schluss –: Unser System
muss sich permanent mit dem Thema Rechtsextremis-
mus beschäftigen. Auch deshalb ist der Antrag, den wir
hier eingebracht haben, dazu dienlich, genau diesen Auf-
trag überall zu erfüllen.
Letzter Gedanke. Ich komme aus Nordrhein-Westfa-
len. Da gibt es sehr viele Städte, die mit dem Rechts-
extremismus zu kämpfen haben. Überall dort, wo Bürge-
rinnen und Bürger sich dagegen aufgelehnt haben, ist
dieser Rechtsextremismus zurückgegangen.
Herr Kollege.
Diesen Menschen danke ich, und sie möchte ich wei-
ter unterstützen.
Es liegen eine ganze Reihe Erklärungen nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor.1)
Das Wort zu einer mündlichen Erklärung gebe ich
jetzt der Kollegin Sevim Dağdelen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stimme heute für den Antrag, ein NPD-Verbotsver-
fahren einzuleiten, weil auch ich es unerträglich finde,
dass die NPD weiterhin über 300 000 Euro pro Quartal
an Steuergeldern bekommt – Gelder, die unter anderem
von Migrantinnen und Migranten gezahlt werden, von
Menschen, gegen die diese menschenverachtende Partei
Hetze und Propaganda betreibt,
Gelder, die für den Unterhalt der NPD-Schlägertruppen
verwendet werden, deren Opfer vor allem Migrantinnen
und Migranten sind.
Ich stimme heute für die Einleitung eines NPD-Ver-
botsverfahrens, weil die NPD mit ihrer staatlichen För-
derung auch den Boden für rassistische Gewalt an Mi-
grantinnen und Migranten bereitet.
Letztes Jahr wurden 521 rechtsextreme und fremden-
feindliche Gewalttaten verübt, davon allein 121 in mei-
nem Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo viele Men-
schen mit Migrationshintergrund leben.
Ich stimme für die Einleitung eines NPD-Verbotsver-
fahrens, weil Faschismus, Rassismus und Antisemitis-
mus keine Meinung sind, sondern ein Verbrechen,
ein Verbrechen, dem nicht nur Millionen in der Zeit der
Nazidiktatur zum Opfer gefallen sind, sondern das bis
heute vielen Menschen, vielen Migrantinnen und Mi-
granten das Leben gekostet hat. Deshalb stimme ich
heute für den Antrag, die NPD zu verbieten, und stelle
mich damit solidarisch an die Seite aller Selbstorganisa-
tionen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland,
die diese Forderung schon seit langem erheben.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13227 mit demTitel „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundes-tages über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststel-lung der Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokrati-schen Partei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 21) Anlagen 4 bis 9
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, § 43 ff. desBundesverfassungsgerichtsgesetzes“.
– Es handelt sich um einen Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/13227.Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion der SPDüber den Antrag namentlich ab. Ich weise darauf hin,dass im Anschluss noch eine weitere namentliche Ab-stimmung folgen wird.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ih-ren Platz einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Dasist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimmkarte nicht abgeben konnte? – Das ist nicht derFall. Dann schließe ich diese Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen.1)Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktionender CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/13225mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen be-kämpfen“. Auch hierzu ist namentliche Abstimmungverlangt. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das istder Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.Sind Mitglieder des Hauses anwesend, die ihreStimmkarte noch nicht abgeben konnten? – Das ist nichtder Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bittewiederum die Schriftführerinnen und Schriftführer, mitder Auszählung zu beginnen.2)Ich komme jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13231 mitdem Titel „NPD verbieten“. Ich frage: Wer stimmt fürdiesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Dieser Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmungdurch die Fraktion Die Linke und die Fraktion der SPD.Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Bünd-nis 90/Die Grünen haben sich enthalten.Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13240mit dem Titel „Rechtsextremismus umfassend bekämp-fen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Damit ist der Antrag ebenfalls abge-lehnt, bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dagegenhaben CDU/CSU, FDP und SPD gestimmt. Die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen hat für ihren Antrag ge-stimmt.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes über Maßnahmen zur Beschleuni-gung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze– Drucksache 17/12638 –– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Energiewirtschaftsgesetzes– Drucksache 17/11369 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/13258 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareißb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Hubertus Heil , DirkBecker, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDDie Strom-Versorgungssicherheit in Deutsch-land erhalten und stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten RolfHempelmann, Hubertus Heil , UlrichKelber, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDDen Netzausbau bürgerfreundlich und zu-kunftssicher gestalten– zu dem Antrag der Abgeordneten OliverKrischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAusbau der Übertragungsnetze durch Deut-sche Netzgesellschaft und finanzielle Bürge-rinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen– Drucksachen 17/12214, 17/12681, 17/12518,17/13258 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas BareißZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegenein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, ein ge-meinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen derSPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-battieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dannverfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeThomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Mit der heutigen zweiten und drittenLesung des Entwurfs eines Bundesbedarfsplangesetzesgeben wir den Startschuss für das größte Infrastruktur-1) Ergebnis Seite 29723 D2) Ergebnis Seite 29726 C
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Thomas Bareiß
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projekt seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir set-zen damit den entscheidenden Baustein für das Gelingenunserer Energiewende; denn die Energiewende ist mehrals nur der Aufbau von Solarenergieanlagen und Wind-energieanlagen, mehr als Energieeffizienz – diese ist unssicherlich enorm wichtig – sowie Forschung und Ent-wicklung im Speicherbereich. Die Infrastruktur wird derentscheidende Baustein sein, der die Energiewende zumGelingen bringt. Diesen bringen wir heute entscheidendvoran.
Wir brauchen diesen Baustein deshalb, weil wir inden nächsten Jahren die Erzeugerkapazitäten komplettneu gestalten. Allein in den nächsten sieben Jahren wer-den in Schleswig-Holstein neue Windkraftanlagen miteinem Leistungsvermögen von 9 Gigawatt aufgebaut.Die Leistung der Offshorewindenergieanlagen wird sichvon null auf 3 Gigawatt erhöhen. Wir werden eine Ver-dreifachung der Onshorewindleistung erleben. In Nie-dersachsen wird sich die Onshorewindleistung auf14 Gigawatt verdoppeln. Dort werden wir offshore vonnull auf 8 Gigawatt zubauen. In den norddeutschen Län-dern werden in den nächsten sieben Jahren neue Kapazi-täten im Umfang von 27 Gigawatt auf dem Strommarktentstehen. Das ist ein Fünftel der bisherigen Stromkapa-zitätsleistungen. Das heißt, hier wird in den nächstenJahren eine enorme Integrationsleistung zu erbringensein. Wir werden aber gleichzeitig in den starken Last-zentren im Süden unseres Landes 10 Gigawatt verlieren,die wir Stück für Stück durch Windenergie ersetzenmüssen.Die Stromnetze werden also zukünftig im Infrastruk-turbereich eine enorm wichtige Rolle spielen. In denletzten Jahren lag die Distanz zwischen Erzeuger undVerbraucher bei durchschnittlich 40 Kilometer. In dennächsten Jahren wird sich diese Distanz Stück für Stückerhöhen. Wir werden sicherlich in 10, 15 Jahren erleben,dass die Distanz zwischen Erzeuger und Verbraucher200 oder sogar 300 Kilometer betragen wird. Das heißt,wenn wir nicht entsprechende Netze aufbauen, wird dieEnergiewende nicht gelingen. Deshalb ist ein Netzaus-bau dringend notwendig.Die Herausforderungen sind groß. Wir brauchen Än-derungen und Beschleunigungen im Planungsrecht. Wirbrauchen auch neue Technologien. Wir brauchen abervor allen Dingen Akzeptanz für neue Leitungen und einegeschlossene Zustimmung zu unserem Projekt, zumBundesbedarfsplangesetz. Deshalb bin ich etwas ent-täuscht – das muss ich offen sagen –, dass sich dieGrünen schon wieder ein Stück weit von unserem Zielverabschieden. Im Entschließungsantrag der Grünen istzu lesen:Es entsteht der Eindruck, viele der im Bundesbe-darfsplangesetz vorgesehenen Leitungen dientennicht der Energiewende, sondern allein dem Exportvon Strom aus Braunkohlekraftwerken …
Wenn Sie so argumentieren und vor Ort den Eindruckerwecken, wir brauchten neue Leitungen gar nicht, dannwerden wir keine Akzeptanz vor Ort finden. Dann wer-den wir für alle Projekte ein Türchen offenhalten. Sowird die Energiewende nicht gelingen. Deshalb fordereich Sie auf, gemeinsam mit uns dem Entwurf eines Bun-desbedarfsplangesetzes zuzustimmen, die Bedarfe, diewir zusammen mit den Ländern definiert haben, zu ak-zeptieren, gemeinsam mit uns vor Ort für die Energie-wende zu kämpfen und den Bau der Leitungen Stück fürStück zu ermöglichen. Das ist ein ganz wichtiger Bau-stein. Das sollten Sie akzeptieren.
Was machen wir? Wir werden in den nächsten Jahrenüber 2 800 Kilometer neue Stromtrassen in Deutschlandbauen. Wir werden über 2 900 Kilometer Leitungen er-tüchtigen und ausbauen. Wir werden insgesamt 36 Aus-bauvorhaben in Deutschland vorantreiben. Wir habendazu umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Die Übertra-gungsnetzbetreiber haben in den letzten Monaten einenNetzentwicklungsplan vorgelegt und haben diesen mitden Beteiligten vor Ort abgestimmt. Die Bundesnetz-agentur hat den Bedarf geprüft. Die Bundesregierung hatnun den Entwurf eines Bundesbedarfsplangesetzes vor-gelegt, den wir heute in letzter Lesung verabschiedenwerden.Wir werden die 36 Ausbauvorhaben zügig vorantrei-ben. Dabei werden neue Technologien zum Einsatzkommen. Acht Hochspannungs-Gleichstrom-Übertra-gungsnetze, sogenannte HGÜ-Leitungen, sind geplant,mit denen sich der Strom verlustarm und schnell vomNorden in den Süden transportieren lässt. Es sind zweiErdverkabelungen vorgesehen; auch das ist eine neueTechnologie, die dafür sorgen soll, dass wir vor Ort dienötige Akzeptanz finden.Eines der geplanten Vorhaben ist das Hochtempera-turseil, mit dem wir Strom verlustarm in den Südentransportieren können. Dadurch wird die Energiewendeein Technologieprojekt. Damit schaffen wir es auch,Produkte und Innovationen zu entwickeln, die letztend-lich nicht nur in Deutschland die Energiewende voran-bringen, sondern darüber hinaus auch in andere Länderverkauft werden können und hoffentlich zu Exportschla-gern werden.Mit diesem Bundesbedarfsplan betreten wir pla-nungsrechtliches Neuland. 15 länderübergreifende Pro-jekte wurden definiert. Die Planungshoheit dafür habenwir der Bundesnetzagentur zugewiesen, um auch überLändergrenzen hinweg voranzukommen. Ich sage hierauch ein klares Dankeschön an die Länder; Vertreter derLänder sind leider nicht im Saal. Sie haben ebenfallsdazu beigetragen, dass wir die Planung vereinfachenkönnen, Dinge schneller vorangehen und wir nicht etwaFehler machen, wie beispielsweise zwischen Schwerinund Hamburg, wo wir über ein Jahr lang keine Genehmi-gung für eine dringend notwendige Leitung bekommenhaben.Wir wollen Verfahren beschleunigen. Wir verkürzenden Rechtsweg auf eine Instanz. Das heißt, es gibt nicht
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weniger Bürgerbeteiligung, sondern schnellere Entschei-dungen und damit auch eine schnellere Lösung derFrage, ob wir beim Leitungsausbau vorankommen.Wenn wir alle diese Vorhaben voranbringen und an ei-nem Strang ziehen, werden wir es schaffen, die Zeit fürdie Planung und Realisierung dieser Trassen von zehnauf vier Jahre zu reduzieren. Damit schaffen wir es, dieKapazitäten, die in den nächsten Jahren im Norden auf-gebaut werden, in unser Stromnetz zu integrieren unddie Leistungen, die im Süden in den KernkraftwerkenPhilippsburg, Grafenrheinfeld, Gundremmingen, Neckar-westheim und Isar 2 wegfallen, Stück für Stück zu erset-zen. Wir sorgen dafür, dass auch der Süden weiterhinStrom aus Deutschland bekommt, der regenerativ undsomit zukunftssicher ist.Dies wird nur dann gelingen, wenn alle mitmachen.Es wird kein Selbstläufer sein. Das sieht man bei demEnLAG-Projekt, bei dem wir bestehende Trassen nichtso schnell voranbringen, wie es gewünscht wird. Alleindie EnLAG-Projekte sind zwischenzeitlich vier bis fünfJahre im Verzug. Das darf kein Beispiel für das Bundes-bedarfsplangesetz sein. Wir haben – auch das ist mir zuBeginn der Debatte wichtig – bestehende Ängste undSorgen ebenfalls aufgenommen. Wir haben im parla-mentarischen Verfahren Veränderungen in das Gesetzbzw. in die Begründung mit aufgenommen.
Wir haben keine Flexibilisierung der Netzverknüp-fungspunkte vorgenommen. Wir haben uns in Bezug aufdie Nebenanlagen, die notwendig sind und die vor Ortfür Furore sorgen, für eine weitestgehende Flexibilisie-rung ausgesprochen, um vor Ort Akzeptanz zu erreichenund die beste Lösung für die Menschen vor Ort zu fin-den.
Auch das war, glaube ich, notwendig und wird uns hel-fen, die Leitungen zu realisieren.Zusammenfassend: Wir haben die Anfangs- und End-punkte definiert. Wir haben die Verfahren verkürzt unddie Zahl der Instanzen reduziert. Wir haben neue Tech-nologien eingebaut. Das heißt, wir werden in den nächs-ten Jahren den Leitungsausbau wesentlich beschleunigenund werden damit die Energiewende zu einem Gewin-nerprojekt machen. Die Ideen, die von der Opposition inBezug auf die Deutsche Netzgesellschaft kommen, se-hen wir mit Interesse. Sie wissen, dass wir dazu eben-falls schon Überlegungen angestellt haben. Ich glaube,dass diese Punkte zwar überlegenswert sind, uns abernicht bei der Beschleunigung helfen werden. Insofernsind die von uns getroffenen Maßnahmen die richtigen,um uns voranzubringen.Das ist für uns der Einstieg in die Energiewende. Ichkann Sie nur auffordern, bei diesem Projekt mitzuma-chen und heute diesem Gesetz zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Ich gebe Ihnen zwischendurch die von den Schrift-führerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisseder beiden namentlichen Abstimmungen bekannt, zu-nächst zum Antrag der Fraktion der SPD – es geht umden „Antrag auf Entscheidung des Deutschen Bundesta-ges über die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellungder Verfassungswidrigkeit der ‚NationaldemokratischenPartei Deutschlands‘ gemäß Artikel 21 Absatz 2 desGrundgesetzes“ auf Drucksache 17/13227 –: abgege-bene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 211, mit Neinhaben gestimmt 326. Es gab 40 Enthaltungen. Damit istder Antrag abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 577;davonja: 211nein: 326enthalten: 40JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra Hinz
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias Miersch
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29724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Franz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatThomas NordJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENCornelia BehmAgnes BruggerHarald EbnerBettina HerlitziusThilo HoppeUwe KekeritzSusanne KieckbuschSylvia Kotting-UhlNicole MaischKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeFriedrich OstendorffBrigitte PothmerElisabeth ScharfenbergDorothea SteinerMarkus TresselDaniela WagnerWolfgang WielandfraktionsloserAbgeordneterWolfgang NeškovićNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco Luczak
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29725
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Daniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Sebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundHagen ReinholdDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
DIE LINKERaju SharmaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENViola von Cramon-TaubadelUte KoczyStephan KühnMonika LazarJerzy MontagHans-Christian StröbeleArfst Wagner
Dr. Valerie WilmsEnthaltenCDU/CSUGünter LachDIE LINKEHalina WawzyniakBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Birgitt BenderEkin DeligözKatja DörnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsOliver KrischerRenate KünastMarkus KurthDr. Tobias LindnerDr. Konstantin von NotzOmid NouripourDr. Hermann E. OttLisa PausTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDr. Wolfgang Strengmann-KuhnDr. Harald TerpeJürgen TrittinJosef Philip Winkler
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29726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Dann komme ich zum Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Rechtsextremismusentschlossen bekämpfen“ auf Drucksache 17/13225:Hier wurden ebenfalls 577 Stimmen abgegeben.Mit Ja haben gestimmt 318. Mit Nein haben ge-stimmt 259. Es gab keine Enthaltung. Dieser Antragist angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 577;davonja: 318nein: 259JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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FDPJens AckermannChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Sebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundHagen ReinholdDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra Hinz
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine Leidig
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Ralph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatThomas NordJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulSusanne KieckbuschMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan KühnRenate KünastMarkus KurthMonika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerfraktionsloserAbgeordneterWolfgang NeškovićJetzt kommen wir zu unserer Debatte zurück. Ichgebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann für dieSPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Zwei Jahre nach dem Netzausbaubeschleunigungs-gesetz haben wir jetzt ein Bundesbedarfsplangesetz vor-liegen. Immerhin! Es war viel Arbeit, vor allen Dingenfür die Übertragungsnetzbetreiber und die Bundesnetz-agentur. Nach allem, was man über die Plattform „Zu-kunftsfähige Energienetze“, in die wir ja eingebundenwaren, und über Gespräche zum Beispiel mit Nichtregie-rungsorganisationen mitbekommen konnte, war das Ver-fahren insgesamt vergleichsweise transparent und dieBeteiligung angemessen – jedenfalls in weiten Teilendes Verfahrens. Das ist gut so, und das kann man heutein der Tat auch loben.Auch die Länder haben sich in diese Verfahren kon-struktiv eingebracht. Ich glaube, dass es zumindest eineBemerkung verdient, dass das mittlerweile im Wesentli-chen rot-grün regierte Länder sind. Hier ist also einehohe Bereitschaft zur Kooperation selbst mit dieser Bun-desregierung.Gerade ist gesagt worden, dies sei ein wichtigerSchritt zum Ausbau der Infrastruktur. Ja, in der Tat, es istein Schritt; aber wir müssen uns auch klarmachen, dassnoch vieles fehlt. In diesem Falle beschränken wir unsauf die Übertragungsnetze, wohl wissend, dass wir er-hebliche Bedarfe auch im Bereich der Verteilnetze ha-ben, zum Beispiel wenn ich an den qualitativen Ausbauder Verteilnetze denke, den wir gerade auch im Hinblickauf die intelligenten Netze brauchen angesichts dessen,dass die Nachfrageseite flexibler werden soll.Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zu-stimmen.
Wir werden das aus einem ganz einfachen Grund ma-chen – nicht weil dieses Gesetz in allen Teilen perfektwäre; es ist verbesserungsbedürftig; wir werden diesbe-züglich Anträge vorlegen –: Es wäre für die Investoren,für die Übertragungsnetzbetreiber, für die finanzieren-den Banken ein schlechtes Signal, wenn wir sie kurz voreiner Wahl im Zweifel lassen würden, ob denn die SPDnach der Bundestagswahl möglicherweise eine 180-Grad-Wende in Sachen Netzausbau plant. Das planen wirnicht. Wir wollen, dass für den gesamten Sektor Pla-nungssicherheit besteht, und deswegen senden wir dasSignal: Ja, wir unterstützen dieses Gesetz prinzipiell undin den meisten Teilen. – Deswegen, wie gesagt, stimmenwir zu.
Im Übrigen unterscheiden wir uns dadurch ganz er-heblich von der Regierungskoalition,
die zurzeit am Ruder ist. Denn Sie haben im Jahr 2000genau das Gegenteil gemacht.
Sie haben, als Rot-Grün ein Atomausstiegsgesetz vorge-legt hat und darüber mit den Marktakteuren verhandelt
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Rolf Hempelmann
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hat, angekündigt: Wenn Sie einmal an die Regierungkommen, werden Sie das komplette Gegenteil tun.
Damit haben Sie in den gesamten Sektor Planungsunsi-cherheit gebracht und gerade beim Netzausbau, aberauch ansonsten im gesamten EnergiesystemumbauAttentismus verursacht. Genau das machen wir nicht.
Die Anträge die wir gestellt haben, will ich kurz imEinzelnen begründen. Der erste Antrag – gemeinsam mitBündnis 90/Die Grünen – zielt darauf ab, dass wir eineDeutsche Netzgesellschaft einrichten wollen. Im Übri-gen haben Sie das in Ihrem eigenen Koalitionsvertragvor nur drei Jahren auch gesagt. Offensichtlich habenSie sich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist sozusa-gen eine weitere 180-Grad-Wende nach der, die Sie zwi-schenzeitlich auch vorgenommen haben: erst die Verlän-gerung der Laufzeiten, anschließend das Sich-Einfügenin das Konzert derjenigen,
die den Atomausstieg wollen.2009: Ja, wir wollen eine Deutsche Netzgesellschaft.2013: Nein, wollen wir eigentlich lieber nicht. – IhreVerbraucherschutzministerin Aigner hat vor wenigenMonaten gesagt, dass sie eine solche Deutsche Netzge-sellschaft unterstützt. Sie hat auch den Zusammenhangerkannt, nämlich dass man auf diese Art und Weise dasverhindern kann, was Sie vor wenigen Monaten verur-sacht haben, dass nämlich immer dann, wenn etwasschiefgeht, immer dann, wenn Regressforderungen kom-men,
die Haftung verschoben wird: weg von den Marktakteu-ren und hin zu den Endkunden. Das genau wollen wirnicht.
Deswegen hat Frau Aigner recht. Wörtlich sagte sie:Die Wähler verstehen nicht, warum sie über höhereStrompreise für die Risiken der Energiewende haftensollen, während die Netzbetreiber eine hohe garantierteRendite auf ihr Eigenkapital einstreichen.
Dem ist nichts hinzuzufügen.Das Zweite, was wir wollen, sind Bürgernetze. Wirwollen den Bürgern die Möglichkeit geben, sich an derFinanzierung der Netze zu beteiligen. Beteiligte habenkein Problem mehr mit der Akzeptanz von Energieinfra-strukturen. Deswegen ist das der beste Weg.Wir machen uns aber Sorgen bei dem, was zurzeit imKapitalanlagegesetzbuch geplant ist. Dadurch werdenGenossenschaften nicht mehr in der Lage sein, genausolche Infrastrukturen mitzufinanzieren. Wir begrüßenes daher, dass es mittlerweile einen Antrag der Fraktio-nen von Schwarz-Gelb gibt, dies jedenfalls bei der Aus-gestaltung des Kapitalanlagegesetzbuchs zu verhindern.Wir werden das unterstützen.Drittens geht es um die Netzverknüpfungspunkte– Herr Bareiß hat das gerade angesprochen – und in derTat nicht um die Positionierung der Verknüpfungs-punkte, sondern um die der sogenannten Nebenanlagen.Dieser Begriff ist vielleicht etwas irreführend. Man stelltsich dabei etwas Kleineres, zum Beispiel ein Toiletten-häuschen, vor; es geht aber zum Teil um riesige Anla-gen, große Konverter, Doppelkonverter möglicherweise.Das kann in der Nähe von Wohnbebauung schon etwassein, was die Bürger auf die Palme bringt, was zum Wi-derstand gegen solche Infrastrukturen geradezu anreizt.Deswegen begrüßen wir, dass Sie aufgrund der Anhö-rung, die wir gemeinsam durchgeführt haben, jetzt sa-gen: Wir wollen genau diese Konflikte verhindern, unddeswegen wollen wir mehr Flexibilität bei der Alloka-tion dieser sogenannten Nebenanlagen.Nur, die Art und Weise, wie Sie das sicherstellen wol-len, läuft ins Leere. Sie wollen das in die Begründungdes Gesetzes schreiben. Die Fachjuristen sagen: Daswird nicht reichen; Sie müssen es ins Gesetz schreiben. –Wenn man Ihnen abnehmen soll, dass die Absicht ehr-lich ist, dann folgen Sie bitte unserem Petitum undschreiben Sie das ins Gesetz!
Das Vierte ist der Gesetzentwurf des Bundesrates, derdarauf abzielt, dass wir das erreichen, was wir eigentlichschon vor Jahren wollten, unter anderem auch in derGroßen Koalition, nämlich dass die 110-kV-Erdverkabe-lung zur Regel wird. Wir unterstützen auch diesen Ge-setzentwurf.
Er ist im Bundesrat im Übrigen mit sehr großer Mehrheitverabschiedet worden, und auch Schwarz-Gelb war da-bei nicht ganz unbeteiligt. Insofern: Vielleicht hören Sienoch einmal in Ihre Länder hinein und folgen uns auchbei diesem Vorhaben!Meine Damen und Herren, ich habe es gerade ange-deutet: Das Bundesbedarfsplangesetz ist ein Schritt zumAusbau der Infrastruktur. Wir brauchen aber auch erheb-liche Fortschritte im Bereich der Verteilnetze, im Be-reich der intelligenten Netze. Da geht es auch um intelli-gente Tarife, um eine flexible Nachfrage anreizen zukönnen. Es geht um mehr Flexibilisierung auch auf derindustriellen Nachfrageseite. Da haben Sie einen erstenSchritt mit der Abschaltverordnung gemacht. Aber mankann da sehr viel kreativer sein und weitere Schritte un-
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ternehmen, um sozusagen eine Batteriefunktion, in Tei-len jedenfalls, für die energieintensiven Industrien si-cherzustellen. Wir brauchen mehr Speicherforschung,damit wir die Speicher wenigstens dann, wenn wir siebrauchen, zur Verfügung haben. Sie haben die Mittel indiesen Bereichen reduziert.Dann brauchen wir etwas, was noch ein bisschenkomplizierter ist. Deswegen haben Sie sich mit dieserFrage, jedenfalls öffentlich, überhaupt noch nicht be-fasst. Sie kündigen immer etwas an, nämlich auf der ei-nen Seite eine Reformierung des EEG, auch eine andereVermarktung von erneuerbaren Energien, und auf der an-deren Seite einen neuen Marktrahmen für die Erzeugungvon Strom aus konventionellen Energieträgern. Wir hät-ten es begrüßt, wenn Sie sich mit dieser komplexen Ma-terie, Herr Minister, befasst hätten und verhindert hätten,dass stattdessen Ihr Kollege aus dem Umweltministe-rium zur Ablenkung eine oberflächliche Debatte über dieStrompreisbremse initiiert. Stellen Sie sich den eigentli-chen Herausforderungen! Die sind komplex. Aber wirsind bereit, Ihnen dabei die entsprechende Hilfestellungzu geben.
Wir brauchen die Systemintegration der erneuerbarenEnergien. Wir brauchen aber auch den Systemumbau,damit das System aufnahmefähiger für volatilen Stromwird. Wir brauchen einen Marktrahmen für beide Ener-gien, für erneuerbare wie konventionelle, der gleichzei-tig für Versorgungssicherheit, für das Erreichen der Aus-bauziele bei den erneuerbaren Energien, aber auch fürBezahlbarkeit sorgt. Das ist möglich. Man muss nur be-ginnen.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung hat das Wort der Bundes-minister Dr. Philipp Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Abgeordnete! Wir alle wissen, leistungsfähigeNetze sind entscheidend für die Versorgungssicherheitim Rahmen der Energieversorgung in Deutschland. Wirbrauchen zur Netzstabilisierung bei einem zunehmendenBeitrag der erneuerbaren Energien zur Stromversorgungein leistungsfähiges Netz im Bereich der Verteilnetze ge-nauso wie im Bereich der Fernübertragung. Wir werdenaber auch weiterhin in der Umstellungsphase neue Netzefür die Energieerzeugung durch konventionelle Energie-träger und die Integration der erneuerbaren Energienbrauchen.Deswegen ist es gut, dass wir heute über das Bundes-bedarfsplangesetz diskutieren und Sie es hoffentlichnach der zweiten und dritten Lesung auch beschließen.Damit kommen wir beim Netzausbau ein gutes Stückvoran. Wir zeigen: Wir sind im Plan. Es ist ein wesentli-cher Beitrag zur erfolgreichen Umsetzung der Energie-wende in Deutschland.
Ich finde es gut, dass auch die Sozialdemokraten be-reit sind, diesem Gesetz zuzustimmen. Ich glaube, beiden Grünen ist das nicht der Fall. Das bedauere ich sehr;denn sie könnten ein Versäumnis wiedergutmachen, dasihnen unterlaufen ist, als sie damals den Ausstieg aus derKernenergie beschlossen haben.
Sie haben sich nämlich nur mit dem Ausstiegsbeschlusszufriedengegeben, aber in der weiteren Umsetzungnichts, aber auch gar nichts für einen beschleunigtenNetzausbau in Deutschland getan. Das zeigt, dass Sie esmit dem Umbau der Energieversorgung in Deutschlandnie ernst gemeint haben.
In kürzester Zeit sind wir gut vorangekommen. Es hatmit dem sogenannten Netzentwicklungsplan angefan-gen. Hier wurden die ersten Strukturen aufgezeigt. Esging nicht nur um das grobe Aufzeigen, sondern es gingim ersten, frühen Stadium darum, mit den betroffenenBürgerinnen und Bürgern vor Ort über den konkretenAusbaubedarf zu diskutieren. Dieses Beteiligungsver-fahren ist beispielhaft für viele Infrastrukturmaßnahmen.Denn es hat sehr frühzeitig begonnen, und zwar schonauf der Ebene der Übertragungsnetzbetreiber, in derFolge auch bei der Bundesnetzagentur.Ich habe den Beitrag von Herrn Hempelmann so ver-standen, dass mit dem Lob an die Übertragungsnetz-betreiber und an die Bundesnetzagentur vor allem dieBeschäftigten gemeint waren; denn sie haben bei derAufstellung des Netzentwicklungsplans in kürzester ZeitEnormes geleistet. Er ist die Grundlage für das Bundes-bedarfsplangesetz. Wir alle sollten uns, denke ich, beiden Kolleginnen und Kollegen bedanken.
Vor allem aber ging es darum, sich mit den Menschenüber die künftigen Netzausbauvorhaben zu unterhaltenund zu erklären, warum wir diese neuen Strukturen brau-chen und warum wir nur in wenigen Fällen die finanziel-len Möglichkeiten für Erdverkabelungen haben. Wer et-was anderes verspricht oder fordert, der schummelt. Dieswäre heute weder Stand der Technik, noch wäre es seriöszu finanzieren. Deswegen ist es richtig, dass man mit denbetroffenen Menschen – es gab über 3 000 Eingaben – ge-sprochen hat. Man hat versucht, die Dinge auf den Wegzu bringen, indem man sie ihnen erklärt hat, um vonvornherein Akzeptanz zu erreichen und Widerstände zuvermeiden.
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Es ist gelungen, den Zeitplan einzuhalten, um dasBundesbedarfsplangesetz auf den Weg zu bringen. Ichmöchte mich bei Herrn Abgeordneten Bareiß bedanken,der darauf hingewiesen hat, dass das Bundeskabinettgestern die dazu passende Planfeststellungszuweisungs-verordnung beschlossen hat.
Hinter diesem etwas komplexen Begriff verbirgt sich dieBereitschaft der Länder – ich möchte mich bei allen Län-dern ausdrücklich dafür bedanken –, dem Bund die Zu-ständigkeit nicht nur für die Fachplanung, sondern auchfür die konkrete Planfeststellung einzelner großer Tras-senvorhaben zu übertragen. Bisher kam es beim Strom-netzausbau über Ländergrenzen hinweg zu erheblichenVerzögerungen. Deswegen ist es richtig, dass die großenraumbedeutsamen Trassen, auch die grenzüberschreiten-den Trassen, künftig in die Zuständigkeit der Bundes-netzagentur, also in die Zuständigkeit des Bundes, fallen.Das hat einen erheblichen Beschleunigungseffekt zurFolge. Gleichzeitig liegt die Zuständigkeit nur noch beieinem Gericht, nämlich beim Bundesverwaltungsge-richt. Auf diese Weise kommen wir unserem gemeinsa-men Ziel, den Netzausbau in Deutschland deutlich zubeschleunigen, näher.Wir haben bisher Planungs- und Bauzeiträume vonzehn Jahren.
Mit diesem Gesetz und der dazu passenden Verord-nung wird es gelingen, die Bauzeiträume von derzeitzehn Jahren auf vier Jahre zu reduzieren. Das ist das er-klärte Ziel dieser Regierungskoalition.
Ich verstehe Ihre Einlassung so, dass Sie nicht nurdiesem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden, sonderndass Sie vor Ort Widerstand gegen den notwendigenNetzausbau zum Ausstieg aus der Kernenergie leistenwollen.
Das ist Ihre „Glaubwürdigkeit“: Zwar fordern Sie denAusstieg aus der Kernenergie. Aber wenn es soweit ist,kneifen Sie und zeigen Widerstand beim Netzausbau fürDeutschland.
Eines ist klar; das haben die Diskussionen gezeigt:Nur gemeinsam – gemeinsam mit allen 16 Bundeslän-dern, dem Bund und Europa – wird es gelingen, denNetzausbau in Deutschland voranzutreiben. Das ist jetztin Form des Bundesbedarfsplangesetzes für die Übertra-gungsnetze gelungen. Das muss im Hinblick auf die Ver-teilnetze genauso gelingen. Das wird der nächste Schrittsein.
Lassen Sie uns Folgendes festhalten: Wir liegen ak-tuell im Zeitplan, so wie sich das für diese Regierungs-koalition gehört. Das ist ein guter Tag für die Energie-wende. Das ist ein guter Tag für den Netzausbau inDeutschland.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kollegen, ich konnte nicht absehen, dass der
Herr Minister seine Redezeit nicht ausschöpft. Ich ver-
suchte gerade, ihn auf Ihre Zwischenfrage oder Bemer-
kung aufmerksam zu machen.
– Wir debattieren aber jetzt nicht hier im Plenum da-
rüber, wie sich das Präsidium verhält. Dafür haben wir
Regeln.
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Heute geht es um den Netzausbau beimStrom.
Großkonzerne erwarten fette Profite, und die Stromkun-den befürchten steigende Preise. Ständig tönt es vonCDU, CSU, SPD und Grünen: Der Netzausbau ist alter-nativlos. Denn im Norden weht der Wind, und der Wind-strom muss nach Süden. Dafür braucht es zusätzlicheLeitungen. Dann klappt es aus deren Sicht mit der Energie-wende. Wirklich?
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29732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ralph Lenkert
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Bei der Stromeinspeisung in die Netze gibt es eineReihenfolge: Zuerst dürfen die Erneuerbaren ran. Da-nach gilt: Je teurer ein Kraftwerk Strom produziert,desto eher wird es abgeschaltet. Im Norden und Ostengibt es viele Kohlekraftwerke. Weitere sind geplant:Moorburg, Jänschwalde, Profen und andere. Derzeitkönnen diese Kohlekraftwerke Strom für 3 Cent je Kilo-wattstunde anbieten. Im Süden gibt es Strombedarf.
Dort stehen umweltfreundliche Gaskraftwerke; zumBeispiel in Irsching. Dort kostet der Strom 5 Cent je Kilo-wattstunde. Aber: Netzausbau und Stromtransport querdurchs Land wären zu vermeiden.Wie sieht die Realität heute aus? Wir haben einenEngpass im Stromtransport zwischen Nord und Süd.Weht viel Wind im Norden, geht der Windstrom übersNetz. Für den Kohlestrom fehlt der Platz, und Irschingkann umweltfreundlichen Strom liefern. KlimafeindlicherKohlestrom wird abgeschaltet.Wenn die neuen Stromtrassen von der Küste bis zuden Alpen reichen, ist Folgendes zu befürchten: Wind-kraftanlagen speisen weiterhin ihren Strom ins Netz ein;sie haben Vorrang. Für den Restbedarf an Strom brum-men die Kohlekraftwerke. Das Kraftwerk Irsching wirdabgeschaltet, es geht pleite. Dann fehlt aber nachts beiWindstille der Gasstrom. Deshalb bekommt IrschingGeld, damit es in Bereitschaft bleibt, und die Stromkun-den zahlen doppelt. Irsching wird dann über Netzent-gelte bezahlt. Von Netzentgelten sind Großkunden be-freit. Sie profitieren damit vom Netzausbau. Alleanderen bezahlen.Fließt Strom von der Nordsee nach München, gibt esbei 700 Kilometern Weg 20 Prozent Übertragungsver-luste. Auch das wird über Netzentgelte bezahlt.
Wer macht bei diesem Netzausbau Kasse? Finanzinves-toren. Sie erhalten 9 Prozent Rendite für jede Investitionin Netze. Wo findet man so etwas heute noch, bei diesergarantierten Sicherheit? Natürlich machen auch die Bau-firmen und die Kohlekraftwerke Kasse. Und wer zahlt?Handwerkerinnen und Handwerker, kleine und mittlereUnternehmen, Verbraucherinnen und Verbraucher.
Deshalb lehnt die Linke diesen Netzentwicklungsplanab.
Der Bedarf, der diesem Netzausbauplan zugrundeliegt, wurde wie folgt ermittelt: Die maximal erzeugbareMenge an Strom aus Windenergie wird mit der maximalmöglichen Einspeisung von Strom aus Photovoltaik, derkompletten Menge an Strom aus Biomasse und der kom-pletten Menge an Strom aus konventioneller Erzeugungaddiert, sodass auch die letzte Kilowattstunde abtrans-portiert werden könnte. Diese Rechnung dient nur demmaximalen Netzausbau.In eine realistische Netzplanung müssen für die Linkefolgende Punkte einfließen: Die künftige Stilllegung vonAtom- und konventionellen Kraftwerken wird einge-rechnet. Die Erzeugung von Strom aus Biomasse wirdumgestellt, sodass sie nur erfolgt, wenn Wind und Sonnenicht genug Energie liefern. Stromsteuerungsmaßnah-men wie beispielsweise die Verknüpfung von Fern-wärme- mit Stromnetzen müssen vorgenommen werden.Ein öffentlicher Hochspannungsnetzbetreiber ohne Inte-resse an Profit aus dem Leitungsbau ersetzt die jetzigenvier Profitgesellschaften.
Die Technologie, Strom über Gas zu speichern und zutransportieren, wird genutzt. Die Beteiligung großerStromerzeuger an den Netzkosten ist umzusetzen. Diemaximal mögliche Einspeisung von Strom aus Wind-energieanlagen ist auf 80 Prozent der theoretisch mög-lichen Strommenge zu reduzieren. Dabei verliert mannur 0,4 Prozent der jährlichen Windenergiemenge, spartaber 20 Prozent Anschlussleistung. Bei Berücksichti-gung dieser Punkte erhält man einen realistischen Bedarffür den Netzausbau. Aber der Gesetzentwurf, den Sievorlegen, gefährdet die Energiewende, weil Kohlekraft-werke gefördert werden, umweltfreundlicher Gasstromverliert und regionale, verbrauchsnahe Stromerzeugungvor Ort unterbleibt.Die Bürgerinnen und Bürger haben sowohl in Meer-busch-Osterath als auch in Hessen und Thüringen mit ih-rer Ablehnung der Ausbaupläne recht. Sie täten gut da-ran, die entsprechenden Initiativen ernst zu nehmen.Bürgerinitiativen erkannten als Erste die Gefahren derAsse. Bürgerinitiativen korrigierten über VolksbegehrenFehler, etwa bei Kitas in Thüringen oder bei der Wasser-versorgung in Berlin.Bürgerinnen und Bürger werden notwendige Netzaus-bauten nur dann akzeptieren, wenn der entsprechendeBedarf transparent und nachvollziehbar ermittelt wirdund die Belastungen gerecht verteilt werden. Anderen-falls wehren sie sich. Ohne einen nachvollziehbaren Be-darfsplan wird die Linke Netzausbauten ablehnen, sei esder Konverter in Meerbusch-Osterath oder die 380-kV-Leitungen in Hessen, im Thüringer Wald oder in derUckermark. Wir wollen die Energiewende – preiswertfür die Menschen, mit Gewinnen für die Umwelt statt fürKonzerne.
Nun hat der Kollege Oliver Krischer für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Rösler, ich kann es, ehrlich gesagt, nicht mehr hö-ren: Bei jeder Energiedebatte erzählen Sie uns hier, wirwären verantwortlich dafür, dass es mit dem Netzausbaunicht vorangeht, weil wir bis 2005, als hier Grüne Regie-rungsverantwortung getragen haben, nicht dafür Sorgegetragen hätten.
Meine Damen und Herren, ich sagen Ihnen eines: Seitacht Jahren tragen Wirtschaftsminister von der Unionund der FDP in der Bundesregierung die Verantwortung.In acht Jahren kann man alles bewegen, kann man allesvoranbringen. Dass beim Netzausbau im Rahmen derEnLAG-Projekte heute nur 268 Kilometer von 2 000 Kilo-metern verwirklicht sind, das ist Ihre katastrophale Bi-lanz beim Netzausbau.
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, zu schauen,was Sie denn in den Jahren 2000 bis 2005 hier zumThema Netzausbau vorgelegt haben, wenn Sie doch da-mals angeblich schon so weit voraus waren. Es gibtnichts, keinen einzigen Antrag von Union und FDP zumThema Netzausbau. Sie singen nur Lobeshymnen auf dieAtomkraft, schwadronieren über Windindustriemonsterund bekämpfen den Ausbau erneuerbarer Energien. Daswar Ihre Energiepolitik in dieser Zeit. Darüber sollteman reden, wenn Sie schon auf die Vergangenheit ver-weisen.
Eines ist völlig klar: Gerade für eine Energiewendemit dezentralen Strukturen und einem Weg weg vonKohle und Atom braucht man Netzausbau und Netzopti-mierung auf allen Spannungsebenen. Deshalb haben wir2009 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in demwir gefordert haben, dass man einen Bedarfsplan ausar-beitet und dass anhand des Energieszenarios ermitteltwird, wie das Netz weiterentwickelt werden muss. AberSie haben sich zwei Jahre lang nicht mit diesen Fragenbeschäftigt. Wir haben von Ihnen nur ein Schwadronie-ren über Laufzeitverlängerungen gehört. Erst als Sie da-mit nicht weiterkamen, haben Sie sich dem Thema Energie-wende gewidmet.
– Frau Homburger, das waren zwei verlorene Jahre, indenen wir hätten weiterkommen können.
Jetzt, am Ende der Legislaturperiode, legen Sie einenPlan vor. Das führt zu der Erkenntnis: Wir sind erst amAnfang des Weges.
Es ist noch kein Kilometer Netz ausgebaut worden. Esgibt zunächst nur einen Plan. Die Arbeit fängt geradeerst an. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund zurSelbstbeweihräucherung, Herr Bareiß und Herr Rösler.
Das Bundesbedarfsplangesetz, das vom Grundsatzher richtig ist,
soll Legitimität und Akzeptanz für den Netzausbauschaffen. Der Bundesrat hat Ihnen dazu etwas insStammbuch geschrieben. Er hat Beschlüsse gefasst,durch die genau diese Akzeptanz erhöht werden soll;denn Sie haben in dem Gesetz eine Reihe von Maßnah-men verankert, die die Akzeptanz und damit das Kern-element des Gesetzes untergraben.Zum Beispiel das Thema Erdkabel. Sie beschränkenden Erdkabelausbau auf zwei Pilotprojekte. Das ist auf-grund der Erfahrungen mit dem EnLAG-Projekt nichtverantwortbar, weil nicht zu vermitteln ist, warum man-che Menschen Erdkabel bekommen und manche nicht.Damit untergraben Sie die Akzeptanz und provozierenden Widerstand der Menschen.
Zum schönen Thema Meerbusch-Osterath. Aus demdortigen Planungsdesaster haben Sie überhaupt nichtsgelernt. Es grenzt an Volksverdummung – ich kann Ih-nen das nicht anders sagen –,
wenn Sie jetzt nicht den Beschluss des Bundesrates– den haben wir im Wirtschaftsausschuss zur Abstim-mung gestellt – statt nur in die Gesetzesbegründung inden Gesetzestext aufnehmen, der vorsieht – das ist das,was Sie wollen; zumindest reden Sie davon –, dass esAlternativenprüfungen für Nebenanlagen geben soll.Auch das untergräbt die Akzeptanz des Themas Netz-ausbau.Als dritter Punkt ist die Verkürzung des Klagewegeszu nennen. Sie glauben doch selbst nicht, dass die Redu-zierung auf eine Instanz wirklich dazu führt, dass dasGanze schneller geht. Die eine Instanz ist dann überlas-teter, die Verfahren dauern länger, und das genau ist dieErfahrung aus dem EnLAG-Projekt. Das ist eine Schein-verkürzung. Das führt nur dazu, dass sich die Menschenwieder übergangen fühlen und dass wir am Ende wiederAkzeptanz verlieren. Dazu darf es aus unserer Sichtnicht kommen. Sie machen hier einen Fehler. NehmenSie die Bürger ernst, und kommen Sie nicht mit Rechts-wegverkürzungen, die die Akzeptanz am Ende wiedernur zerstören.
Wir haben gemeinsam mit den Kollegen der SPD ei-nen Antrag vorgelegt, mit dem wir eigentlich Punkte ausdem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umsetzen wollen,nämlich eine Deutsche Netz AG zu gründen. Wir haben
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Oliver Krischer
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dazu konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben vier Jahrelang überhaupt nichts getan. Sie haben sich von diesemZiel verabschiedet.
Wir schlagen vor, dass wir die Probleme lösen, diewir beim Netzausbau mit einzelnen Übertragungsnetzbe-treibern haben. Von Ihnen kommt an der Stelle garnichts.
Sie sind einfach nur dagegen und kommen deshalb beidem Thema überhaupt nicht weiter.
Wir brauchen den Netzausbau. Das Bundesbedarfs-plangesetz verfolgt einen richtigen Ansatz, den wir aus-drücklich unterstützen, ich möchte das hier noch einmalbetonen. Doch leider schaffen das diese Bundesregie-rung und diese Koalition trotz klarer Hinweise aus demBundesrat nicht. Sie bräuchten nur das aufzugreifen, wasder Bundesrat beschlossen hat, um glaubwürdig zu wer-den und Akzeptanz zu erreichen. Aber am Ende wird dieGlaubwürdigkeit wieder untergraben.Wenn Sie die Beschlüsse des Bundesrates aufgegrif-fen hätten, hätten wir diesem Gesetz gerne zugestimmt.
Aber so bleibt uns am Ende nur, uns zu enthalten.
Sie haben eine Chance verpasst.
Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Sie erweisen dem Netzausbau einen Bärendienst, und
damit untergraben Sie die Akzeptanz der Energiewende
und der Ziele, die Sie damit verfolgen. Am Ende können
und wollen Sie die Energiewende nicht erfolgreich vo-
ranbringen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Da-mit die Zuhörer auf den Tribünen die letzten beiden Re-den verstehen können, muss man einmal generell erklä-ren, was hier los ist:
Wir haben noch vier Sitzungswochen bis zur Bundes-tagswahl, und hier läuft nichts anderes als Wahlkampf.Ihre Schuldzuweisungen von vorhin, Herr Krischer,sind nichts anderes als platter, plumper Wahlkampf. Daswird dem Thema aus meiner Sicht deshalb nicht gerecht,weil ich der Auffassung bin, dass wir hier an einem ge-meinsamen Projekt arbeiten, nämlich an der Energie-wende.
Man sollte sich klarmachen, dass diese Schuldzuwei-sungen und das Schlechtreden nicht nur bei einer Seite inder Politik hängenbleiben, sondern die Menschen dadraußen allgemein irritieren.
Sie stellen jede Lösung, die angeboten wird, sofort in-frage und können nicht auch einmal über den eigenenparteipolitischen Schatten springen.
Sie sind nicht in der Lage, zu sagen: Im Grundsatz istdas, was uns hier vorgelegt wird, ein gutes Gesetz, weiles zeigt, wie man den Netzausbau in Deutschland voran-treiben kann.
Ich hätte erwartet, dass Sie an dieser Stelle Folgendeswürdigen: die Planung.
– Es ist ein Plan. Was Sie vorgetragen haben, war eherein bisschen wie Die Sendung mit der Maus.
– Zumindest auf den Zwischenruf des Kollegen muss ichreagieren. – Das ist ein intensiv, auf Basis mehrerer Sze-narien ausgearbeiteter Entwicklungsplan für die Netze,die wir brauchen. Ich hatte gehofft – das wäre richtungs-weisend gewesen –, dass zumindest die Grünen sagen,dass wir diese Netze brauchen.
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Dr. Georg Nüßlein
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Denn ein System der Energieversorgung, bei dem, wieSie es wollen, die Erneuerbaren im Zentrum stehen, wirdimmer Überkapazitäten haben müssen. Wenn man dasweiß und die Energieversorgung in diese Richtung aus-baut, muss man doch auch einmal ganz klar formulieren,dass wir in größerem Umfang Netze bauen müssen.
– Ich sage gleich etwas zur Akzeptanz. Warten Sie esdoch ab, Frau Höhn. Seien Sie nicht immer so nervös.Es hat doch keinen Sinn, Erneuerbare-Energien-Anla-gen mangels Netzkapazitäten abzuschalten. Es müsstedoch Ihr Anliegen sein, die Netze möglichst zügig aus-zubauen, weil es keinen Sinn hat, Anlagen auszuschaltenund den theoretisch produzierten Strom zu vergüten, ihnaber nicht zur Verfügung zu haben. Deshalb muss mandieses Thema doch unterstützen.
Dieser Plan ist deshalb nicht trivial, weil er nichtstatisch, sondern dynamisch sein muss. Denn es gehtletztendlich darum, die derzeit ungesteuerte und vomVerbrauch unabhängige Stromproduktion bei den Erneu-erbaren zu integrieren. Außerdem müssen wir mit tech-nischen Innovationen rechnen, die heute noch nicht imDetail planbar sind.Dazu gibt es die angesprochenen Pilotprojekte. HerrKrischer, wenn Sie schon sagen, es gebe zu wenig Pilot-projekte, hätten Sie wenigstens dazusagen können, dassuns diese Pilotprojekte immerhin im Bereich Forschungund Entwicklung voranbringen können. Es sind deshalbPilotprojekte, weil sie nicht Stand der Technik sind. Beiden Pilotprojekten kann man deshalb nicht sehr vielmehr fordern.
Dieses Thema ist deshalb dynamisch, weil wir nochnicht kalkulieren können, welche Rolle die Speicherungletztendlich spielt.Beim Netzausbau geht es natürlich zunächst einmalum die Frage der Akzeptanz. Ich habe gerade gesagt,dass die Parteien einen Beitrag zur Erhöhung der Akzep-tanz leisten können, indem sie sagen, dass das alles not-wendig ist. Ich glaube, dass wir die Akzeptanz auch da-durch erhöhen können, dass wir mehr Transparenzschaffen; das tun wir. Ich glaube, dass wir auch dadurchmehr Akzeptanz geschaffen haben, dass wir klar gesagthaben, dass die Bestandsertüchtigung oberste Prioritäthat. Wenn der Netzausbau trotzdem nicht akzeptiertwird, dann ist die Rechtswegverkürzung eine Möglich-keit, um schnell Rechtssicherheit zu schaffen. Das istnun einmal so. Es geht darum, schnell Rechtssicherheitzu schaffen, und nicht darum, irgendjemandem Rechtezu nehmen.Jetzt sage ich etwas, was Sie überraschen wird: Ichbin der festen Überzeugung, dass wir über das ThemaErdverkabelung noch einmal diskutieren müssen,
und zwar bezogen auf die 110-Kilovolt-Leitungen.
– Erstens stehen in dem Antrag des Bundesrates nochmehr Dinge. Zweitens besitzt diese Koalition selbst ge-nügend Weisheit, um im richtigen Moment die richtigenDinge zu entscheiden. Wir müssen nicht darauf warten,dass uns der Bundesrat irgendetwas vorlegt. Das ist voll-kommen unnötig.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Bezug aufdie 110-Kilovolt-Leitung eine Abwägungsentscheidungtreffen müssen. Wir müssen uns die Kosten, die Akzep-tanz und den Nutzen anschauen, aber auch genau prüfen,was das bezogen auf die Kilowattstunde kostet; dennletztendlich kommt es darauf an. Damit will ich nicht ir-gendjemandem in die Parade fahren. Ich meine nur, dassdies ein ganz wesentliches Thema ist, um die Akzeptanzzu erhöhen.Wir haben jetzt die Grundlage dafür geschaffen, dassdie Planungen in unserem föderalen Staat etwas einfa-cher laufen können. Bei länderübergreifenden Vorhabentritt eine Zentralisierung der Zuständigkeiten an dieStelle paralleler Raumordnungsverfahren. Auch das wirduns erheblich nutzen und die Realisierung der Maßnah-men erleichtern, die immerhin – ohne Erdverkabelung –10 Milliarden Euro kosten werden. Das ist ein stattlicherBetrag. Er ist aber zu stemmen. Dieser Betrag ist finan-zierbar, und die Maßnahmen sind somit letztendlichauch umsetzbar. Damit die Leute sicher sind, dass dieEnergiewende funktioniert – das ist unser Anliegen –,muss man das immer wieder betonen. Wenn man immeralles infrage stellt, sogar das, was man selbst vorgeschla-gen hat, wird das natürlich nichts, Herr Krischer.Nichtsdestotrotz müssen wir als Koalition unser Au-genmerk stärker auf Themen jenseits des Netzausbausrichten. Es ist klar, dass das EEG Teil eines Markteinfüh-rungskonzeptes ist und nur dann Teil eines Marktdurch-dringungskonzeptes werden kann, wenn man es fortent-wickelt. Auch das muss man gemeinsam machen. Ichhoffe, dass wir diesbezüglich weniger Blockade als Un-terstützung seitens des Bundesrates erfahren. Es kommthierbei auch auf den Bundesrat an. Auch er muss ein In-teresse daran haben, dieses Thema voranzubringen.
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Dr. Georg Nüßlein
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Letztlich wird es darauf ankommen – das ist entschei-dend –, dass wir ein neues Marktdesign entwickeln.Hierzu hat die Koalition gute Vorarbeit geleistet. Letzt-endlich wird es darum gehen, die Fixkosten zu finanzie-ren, und zwar sowohl die Fixkosten, die im konventio-nellen Bereich entstehen, als auch die Fixkosten, die imBereich der erneuerbaren Energien entstehen.
Dafür braucht man neben dem Markt für elektrische Ar-beit einen Leistungsmarkt. Einen solchen Leistungs-markt schnell einzuführen, ist genauso wichtig wie dasVoranbringen des Netzausbaus. Das sage ich aber nuram Rande.Ich bin der Überzeugung, dass der heutige Tag einenMeilenstein in Sachen Netzausbau und damit einen Mei-lenstein in Sachen Energiewende darstellt. Ich hätte mirgewünscht, dass das aufseiten der Opposition nicht nurdie SPD erkennt.Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den Abstimmungen. Mir liegt eineErklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Ge-schäftsordnung des Kollegen Heveling vor. Die nehmenwir zu Protokoll.1)Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Geset-zes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzaus-baus Elektrizitätsnetze. Der Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/13258, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 17/12638 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion ge-gen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen und des Kollegen Heveling inzweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke beiEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und desKollegen Heveling angenommen.Wir sind immer noch beim Tagesordnungspunkt 6 aund kommen zur Abstimmung über die Entschließungs-anträge.Entschließungsantrag der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/13276. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beiEnthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD undBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13277. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan-trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/13278. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Auch dieser Entschließungsantrag istmit dem gleichen Abstimmungsverhalten wie die beidenvorherigen abgelehnt.Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 a.Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundes-rates zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. DerAusschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt un-ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/13258, den Gesetzentwurf des Bundesrates aufDrucksache 17/11369 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung dieweitere Beratung.Tagesordnungspunkt 6 b. Wir setzen die Abstimmun-gen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-schaft und Technologie auf Drucksache 17/13258 fort.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/12214 mit dem Ti-tel „Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutschlanderhalten und stärken“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktionund die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Linken angenommen.Darf ich einen Hinweis Richtung Regierungsbank ge-ben? Im Moment habe überwiegend ich das Wort. WennSie mit den Dingen, die Sie zu besprechen haben, nichtins Protokoll kommen wollen, wäre es sicherlich sinn-voll, die Lautstärke einzuschränken.
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 6 b.Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/12681 mit dem Titel „Den Netzausbau bürger-freundlich und zukunftssicher gestalten“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die SPD-Fraktion bei Enthaltung der Linken und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/12518 mit dem Titel „Ausbau der Übertra-gungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finan-zielle Bürgerinnen-/Bürgerbeteiligung voranbringen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der SPD-Fraktion und der Linken angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineZimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKELohndumping im Einzelhandel stoppen – Ta-rifverträge stärken, Entgelte und Arbeitsbe-dingungen verbessern– Drucksache 17/13104 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologieb) Erste Beratung des von den Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Kerstin Andreae, MarkusKurth, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-zes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlas-sung
– Drucksache 17/13106 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und Technologiec) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten AnetteKramme, Ottmar Schreiner, Josip Juratovic,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDErosion der Tarifvertragssysteme stoppen –Sicherung der Allgemeinverbindlichkeits-regelung von Tarifverträgen– zu dem Antrag der Abgeordneten JuttaKrellmann, Sabine Zimmermann, DianaGolze, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKETarifsystem stabilisieren– zu dem Antrag der Abgeordneten BeateMüller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, FritzKuhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTarifvertragssystem stärken – Allgemein-verbindliche Tariflöhne und branchenspezi-fische Mindestlöhne erleichtern– Drucksachen 17/8459, 17/8148, 17/4437,17/10220 –Berichterstattung:Abgeordnete Jutta KrellmannNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die meisten von uns kennen sie doch, die net-ten, freundlichen und zuvorkommenden Frauen undMänner, die auch nach 20 Uhr ganz selbstverständlichgute Miene zum bösen Spiel machen, etwa wenn ge-nervte und gestresste Abgeordnete auf dem Weg nachHause vielleicht noch schnell einige Besorgungen erledi-gen wollen.Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sichanfühlt, auch um 22 Uhr noch dort sitzen zu müssen,selbst am Samstag oder, je nach Bundesland, an vier bisacht Sonntagen im Jahr? Haben Sie sich schon einmalfür die Arbeitsbedingungen dieser Kolleginnen und Kol-legen interessiert? Was wissen Sie alle eigentlich überNiedriglöhne und das Lohndumping in dieser Branche,in der fast 3 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen,arbeiten? Wir, die Linke, haben uns das gefragt. Wir ha-ben mit Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaf-ten gesprochen. Deshalb fordern wir in unserem Antraggesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Tarifver-träge.Nur falls es noch nicht jeder in diesem Saal weiß: ZuBeginn dieses Jahres haben die Arbeitgeber des Einzel-handels in fast allen Bundesländern die Manteltarifver-träge gekündigt. Sie wissen: Die Manteltarifverträge re-geln die wesentlichen Arbeitsbedingungen für dieseBranche. Sie regeln auch die Eingruppierung und dieHöhe der Zuschläge für besonders ungünstige Arbeits-zeiten. Kurz gesagt: Sie regeln den Wert einer Arbeit,den wir alle schätzen sollten, liebe Kolleginnen und Kol-legen.
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Sabine Zimmermann
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Aber all das stellen die Arbeitgeber nun auf den Prüf-stand. Diesen Generalangriff, wie ihn die GewerkschaftVerdi zu Recht nennt, können und dürfen wir in diesemHaus nicht schweigend hinnehmen.
Schauen Sie sich die Lage der Beschäftigten im Han-del an: Die Ladenöffnungszeiten wurden massiv ausge-dehnt. Viele Verkäuferinnen arbeiten inzwischen rundum die Uhr. Es gibt immer mehr unsichere Jobs. Die Be-schäftigten arbeiten teilweise auf Abruf. Wissen Sie ei-gentlich, was es heißt, auf Abruf zu arbeiten? Das heißtnichts anderes als weitgehenden Verzicht auf eigene Le-bensgestaltung. Die Betroffenen können nicht einmalmehr einen Kinobesuch einplanen; denn der Arbeitgeberkönnte sie ja zurückrufen.Wird so viel zusätzliche Flexibilität aufseiten der Be-schäftigten überhaupt honoriert? Nein, überhaupt nicht.Im Gegenteil: Während den Beschäftigten immer mehrabverlangt wird, sind Niedriglöhne auf dem Vormarsch.Jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnbereich. VersuchenSie gar nicht erst, Ihre Hände in Unschuld zu waschen,liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU/CSU,Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Sie haben hier in die-sem Hause die unsägliche Agenda 2010 beschlossen undeine Lohnspirale nach unten in Gang gesetzt, die aufge-halten werden muss.
– Doch, Herr Lehrieder, genau so sieht es in der Arbeits-welt draußen aus.
Die Agenda 2010 hat die Löhne massiv gedrückt; daskann man mit Zahlen belegen.Die Linke schlägt vor, bestehende Hürden für eineAllgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abzubauen.Wir wollen dafür sorgen, dass für alle Beschäftigten undArbeitgeber einer Branche verlässliche Regeln geschaf-fen werden können.
Auch viele Arbeitgeber müssen nämlich davor geschütztwerden, dass der Wettbewerb in der Arbeitswelt über dieLöhne und über die Arbeitsbedingungen geführt wird.Die Damen und Herren FDP-Kollegen – der HerrVogel telefoniert jetzt – wollen uns wieder glauben ma-chen, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber würdendas alles auch ohne Einflussnahme von außen mit großerVernunft regeln. Ich frage Sie, Herr Vogel: Was ist ver-nünftig daran, dass die Arbeitgeber vor gut zehn Jahrenihre Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeit von Ta-rifverträgen aufgekündigt haben? Was ist vernünftig da-ran, wenn die Löhne im Handel so niedrig sind, dass derStaat jährlich 1,5 Milliarden Euro fürs Aufstocken zurVerfügung stellen muss? Das ist unzumutbar und dasmuss abgeschafft werden.
Wir schlagen vor, dass alle repräsentativen Tarifver-träge für allgemeinverbindlich zu erklären sind, auchwenn sie bisher nicht für die Hälfte der Beschäftigtengelten. Den Arbeitgebern soll zudem das Vetorecht ent-zogen werden. Wir wollen, dass ein gesetzlicher Min-destlohn eingeführt wird, sodass nur die Tarifverträgewirksam werden, die über diesem gesetzlichen Mindest-lohn liegen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unions-
fraktion.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Erfolgsmo-dell soziale Marktwirtschaft und die Sozialpartnerschaftin Deutschland gründen in der Tat darauf, dass wir einhochentwickeltes System von Tarifverträgen haben, dieArbeitgeber und Gewerkschaften miteinander aushan-deln und mit denen sie den Lohn und viele andere Dinge– die Arbeitszeit usw. – regeln und mitgestalten.Wir Bundestagsabgeordnete sollten tunlichst die Fin-ger davon lassen, uns da einzumischen; denn – um eskurz zu sagen – Arbeitgeber und Gewerkschaften regelndas untereinander besser, als es der Bundestag regelnkönnte.
Bei dem, was die Kollegin Zimmermann vorgetragenhat, muss man den Eindruck bekommen, dass sie garnicht von Tarifautonomie spricht.
Sie hat davon geredet, dass wir – der Bundestag, diePolitiker – uns einmischen sollten und per Gesetz – stattdurch die Tarifpartner – ein Mindestlohn in Deutschlandfestgelegt werden sollte. Mit dem Antrag, der hier ge-stellt wird, ist offensichtlich nicht das gemeint, um wases angeblich geht – in Wahrheit ist staatliche Einmi-schung in die Lohnpolitik gefordert.
Staatliche Einmischung in die Lohnpolitik – das zei-gen sämtliche Beispiele aus Europa – führen in der Re-gel zu schlechteren Ergebnissen für die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer als Tarifverträge, die im Rahmender Tarifautonomie frei verhandelt wurden. Deshalb set-
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Peter Weiß
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zen wir uns für eine Stärkung der Tarifautonomie ein. Inder Tat haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehntenerlebt, dass Flächentarifverträge infrage gestellt wordensind. Spätestens die Bewältigung der Finanz- und Wirt-schaftskrise 2008, 2009, 2010 hat aber gezeigt: Deutsch-land – die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer, die deutschen Betriebe – wäre nicht so schnell undso gut – besser als alle anderen Industrienationen Euro-pas – aus dieser Krise herausgekommen, wenn es nichtdie Tarifautonomie gäbe. Wenn Arbeitgeber und Ge-werkschaften nicht Vereinbarungen über Kurzarbeit ge-troffen hätten und wenn wir als Staat die Kurzarbeitnicht massiv unterstützt hätten, wäre uns das nicht ge-lungen. Gerade die Krisenbewältigung zeigt: Die Tarif-autonomie ist der beste Weg, um gute Lösungen für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zuschaffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Jahr2011 arbeiteten etwa 54 Prozent der westdeutschen und37 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben,die an einen Tarifvertrag gebunden sind.
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung der Kollegin Zimmermann?
Bitte schön.
Vielen Dank, Kollege Weiß, dass Sie die Frage zulas-
sen.
Sie kennen ja sicherlich die Callcenterbranche. Darin
arbeiten 500 000 Beschäftigte. Die Gewerkschaft Verdi
will für diese schon lange einen Tarifvertrag aushandeln,
aber auf der anderen Seite gibt es keinen Arbeitgeberver-
band. Ich frage Sie: Was machen wir mit diesen Kolle-
ginnen und Kollegen dort – es sind immerhin 500 000 –,
die unter Lohndumping leiden und schwere Arbeitsbe-
dingungen haben? Sie erhalten teilweise Löhne von 5, 6,
7 Euro in der Stunde.
Meine Frage an Sie: Wie können wir hier die Tarif-
autonomie walten lassen?
Frau Kollegin Zimmermann, ich habe mich mehrmalsmit Betriebsräten in der Callcenterbranche unterhaltenund habe große Sympathien dafür, dass wir zu einem Ta-rifvertrag für diese Branche kommen. Richtig ist: Dazumuss es auf der anderen Seite einen Verhandlungspartnergeben. Ich gehe aber davon aus, dass die sehr konse-quenten und, wie ich finde, inhaltlich auch gut vorgetra-genen Argumente der Betriebsräte irgendwann zu die-sem Erfolg führen werden.Solange es den Tarifvertrag noch nicht gibt, bräuchtenwir für die Callcenter eigentlich eine Mindestlohn-regelung. Sie wissen, dass von einer Arbeitnehmer-organisation ein solcher Antrag nach dem Mindest-arbeitsbedingungengesetz gestellt worden ist. Leider istdieser Antrag im Hauptausschuss unter Leitung vonHerrn von Dohnanyi abgelehnt worden. Ich habe denEindruck, dass er vor allem deshalb abgelehnt wurde,weil er von der falschen Gewerkschaft gestellt wordenist,
was zeigt: Es wäre besser, man würde beim Thema Min-destlöhne nicht die Organisationsinteressen gegeneinan-der ausspielen, sondern wirklich in der Sache handeln.Ich hätte mich gefreut, wenn der Antrag auf eine Min-destlohnregelung für die Callcenterbranche im Haupt-ausschuss bewilligt und eine entsprechende Regelung inKraft gesetzt worden wäre.
Ich habe gerade vorgetragen, wie viele Beschäftigtein einer Branche arbeiten, die einen Tarifvertrag hat.Hinzu kommen etwa 7 Prozent der westdeutschen undrund 12 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, die in einem Betrieb arbeiten, der ei-nen Firmentarifvertrag hat. Das heißt zusammengerech-net: Für 39 Prozent der Beschäftigten im Westen und für51 Prozent im Osten gibt es keinen Tarifvertrag. Das istin der Tat ein Rückgang gegenüber früher.Allerdings kommt jetzt etwas anderes hinzu: Für rund20 Prozent der westdeutschen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer und rund 25 Prozent der ostdeutschen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird im Betrieb einTarifvertrag angewandt, obwohl der Betrieb gar nicht ta-rifgebunden ist.
Hier haben die Zahlen zugenommen. Das zeigt doch,dass in Deutschland nach wie vor die Tarifverträge fürdie große Mehrheit der Arbeitgeber die Orientierungs-punkte bei der Bezahlung sind.Man kann meines Erachtens in der Tat die Frage stel-len, ob bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen dafürgegeben sind, einen Tarifvertrag für allgemeinverbind-lich zu erklären, ihn also auch auf die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer in den Betrieben zu erstrecken,die gar nicht tarifgebunden sind, auch die faktische An-wendung eines Tarifvertrags berücksichtigt werdenkönnte; denn es ist natürlich gut, wenn man in einem Be-trieb arbeitet, der tarifgebunden ist, und es ist schön,wenn man in einem Betrieb arbeitet, der sich wenigstensan einen Tarifvertrag hält, obwohl er gar nicht tarifge-bunden ist, da er keiner Arbeitgeberorganisation ange-hört, aber eigentlich könnte man die faktische Anwen-dung des Tarifs hier mitzählen. Natürlich wäre eswünschenswert, dass in mehr Bereichen Tarifverträgeabgeschlossen und für allgemeinverbindlich erklärt wer-den.
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Peter Weiß
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist heuteMorgen in der Debatte schon vorgetragen worden, aberich will es hier wiederholen: Es ist schon ein bemerkens-werter Fortschritt, dass es die Arbeitgeber und Gewerk-schaften in einem Bereich, der in fast jeder Bundestags-debatte für besonders niedrige Löhne an den Prangergestellt worden ist, dem Friseurhandwerk, geschafft ha-ben, eine Verabredung für einen bundesweit gültigen Ta-rifvertrag zu finden, und dass sie angekündigt haben,dafür eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu bean-tragen. Glückwunsch an das Handwerk! Es wäre einetolle Sache, wenn weitere Branchen es den Friseurennachmachen würden.
Das gilt natürlich auch für den Einzelhandel. FrauZimmermann hat hier verschwiegen, dass es jetzt überzwei Jahre intensive Gespräche und Bemühungen gege-ben hat, auch im Einzelhandel zu einer Vereinbarung zu-mindest über einen Mindestlohn oder aber über einenTarifvertrag zu kommen, für den die Allgemeinverbind-lichkeit beantragt werden könnte. Es ist schade, dass dasden Tarifpartnern bis zur Stunde nicht gelungen ist. Aberwir als Bundestagsabgeordnete können den Verhand-lungspartnern diese Arbeit nicht abnehmen. Ich willdeutlich sagen: Ich wünsche den Verantwortlichen imEinzelhandel, dass sie diese Gespräche wieder aufneh-men und versuchen, eine klare, eindeutige und gute tarif-liche Vereinbarung zu finden; das wäre dringend not-wendig.
Ich bin etwas verwundert darüber, dass die Linkenauch noch das Thema Kontrolle ansprechen. Es ist ihnenentgangen, dass ausgerechnet CDU/CSU und FDP in ih-rer jetzt bald vierjährigen Regierungszeit jedes Jahr dieZahl derjenigen Mitarbeiter der Finanzkontrolle, die fürdie Aufdeckung von Schwarzarbeit und für die Kontrollevon Mindestlöhnen zuständig sind, um 100 Personenaufgestockt haben.
– Ja. Jedes Jahr ging diese Zahl um 100 nach oben. –Entgangen ist ihnen auch, dass CDU/CSU und FDP dieAnzahl der Kontrolleure der Bundesagentur für Arbeitum 30 Prozent aufgestockt haben.Damit haben wir deutlich gemacht: Wir sind daran in-teressiert, dass es in der deutschen Wirtschaft für Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer und für Unternehmengute vertragliche Regelungen gibt.
Wir sind auch bereit, sie zu kontrollieren.Insofern ist klar und deutlich: Wir sind diejenigen, diefür Tarifautonomie stehen, die die Tarifautonomie stär-ken. Aber wir sollten bitte nicht per politischer Direkti-ven in die Tarifautonomie eingreifen. Das führt nur insVerderben.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Josip Juratovic
das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Lieber Kollege Peter Weiß, ich möchte Sie da-ran erinnern, dass auch Aufstockung eine Art von staatli-cher Einmischung in Lohnpolitik ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es vergeht kein Tag,an dem wir nicht in der Presse von Menschen erfahren,die von ihrer Arbeit nicht leben können. Unser Land iststolz auf seine soziale Marktwirtschaft. Die Entwicklungauf dem Arbeitsmarkt mit Niedriglöhnen, Befristungen,Leiharbeit und Werkverträgen zeigt jedoch, dass die so-ziale Marktwirtschaft aus dem Gleichgewicht geratenist. In unserem Wirtschaftssystem geht es zunehmenddarum, den Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftig-ten auszutragen. Die Unternehmer konkurrieren immermehr darum, den billigsten Preis anzubieten, sei es durchNiedriglöhne ohne Tarif oder durch schlechte Arbeitsbe-dingungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Billiglohnkon-kurrenz ist schlecht für die Arbeitnehmer, und sie istauch schlecht für unser Land; denn unsere Wirtschaftwird sich nicht zukunftsweisend weiterentwickeln, so-lange es einigen Unternehmern nur um Strategien geht,wie sie möglichst wenig Lohn zahlen. Wir brauchen da-gegen einen Wettbewerb um die besten Ideen und Inno-vationen. Dafür braucht man gute und fair bezahlte Mit-arbeiter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Wettbewerbum Innovationen und nicht die Konkurrenz um Niedrig-löhne zu fördern, ist ein funktionierendes Tarifvertrags-system notwendig. Tarifverträge sind ein elementarerBestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Denn dadurchwerden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitneh-mern unter einen Hut gebracht. So kann sich die faireund soziale Marktwirtschaft in unserem Land weiterent-wickeln.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur möglich,wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen stimmen.Zu diesen Rahmenbedingungen gehört die Tarifautono-mie. Leider gibt es jedoch immer mehr Unternehmen, indenen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert. Im-mer mehr Unternehmer sind entweder gar nicht mehr inArbeitgeberverbänden, oder sie haben eine OT-Mitglied-schaft, also eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Inmanchen Branchen wiederum sind die Arbeitnehmerver-treter und die Gewerkschaften inzwischen nicht mehrstark genug, um Tarifverhandlungen durchzusetzen unddurchzuführen.
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Josip Juratovic
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Ein Blick nach Europa zeigt, dass die Tarifbindung inDeutschland deutlich niedriger ist als in den meisten an-deren Ländern. Deshalb ist die SPD-Forderung nach ei-nem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn mehrals berechtigt.
Aber es ist auch die Aufgabe der Politik, die Rahmenbe-dingungen für eine wirkliche Tarifautonomie mit Ver-handlungen der Tarifpartner auf Augenhöhe zu schaffen.Wir müssen das Tarifvertragssystem stärken und zu-allererst die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Ta-rifverträgen erleichtern, wie wir Sozialdemokraten inunserem Antrag fordern. Wir dürfen die Tarifvertrags-parteien nicht alleine lassen mit ihrer Tarifautonomie,sondern müssen sie gesetzlich und politisch unterstüt-zen.Die Bundesregierung fällt beim Thema Tarifautono-mie leider in ihre gewohnte Haltung: Sie lobt die Tarif-partner in Sonntagsreden. Politisch tut die Regierungaber überhaupt nichts, um die Tarifautonomie tatsächlichauch zu stärken. Mir ist es unverständlich, dass die CDUim Ausschuss für Arbeit und Soziales sagt, es müssegrundsätzlich auch Unternehmen ohne eine sogenannteUnterwerfung unter einen Tarifvertrag geben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, faire Tarife sind dieGrundlage der sozialen Marktwirtschaft. Wir dürfennicht die Unternehmer in unserem Land politisch för-dern, die sich von der sozialen Marktwirtschaft verab-schiedet haben, sondern wir müssen die Unternehmerfördern, die faire tarifliche Löhne zahlen.
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifver-trägen sind auch im europäischen Kontext wichtig; dennnur allgemeinverbindliche Löhne sind nicht nur für diedeutschen Arbeitnehmer bindend, sondern auch für Ar-beitnehmer aus Europa, die bei uns arbeiten. So sorgenwir dafür, dass Menschen – vor allem solche aus Ost-europa – nicht bei uns ausgebeutet werden, und wir sor-gen dafür, dass sich die Arbeitnehmer in unserem Landnicht vor Billigkonkurrenz fürchten müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge-meinsam dafür sorgen, dass die Gesetze, die in unseremLand im Tarifvertragssystem gelten, insbesondere dasArbeitnehmer-Entsendegesetz, auch wirksam sind.
Momentan kann dieses Gesetz gar nicht richtig ange-wandt werden, weil es extrem schwierig ist, Tarifver-träge für allgemeinverbindlich zu erklären. Bislang müs-sen 50 Prozent aller unter den Geltungsbereich desTarifvertrags fallenden Personen bei tarifgebundenenArbeitgebern beschäftigt sein, damit ein Tarifvertrag fürallgemeinverbindlich erklärt werden kann. Dieses Krite-rium wollen wir ersetzen. In Zukunft soll ein Tarifver-trag für allgemeinverbindlich erklärt werden können,wenn er repräsentativ ist.
Es ist doch nicht sinnvoll, ein Gesetz zu haben, daskaum angewandt werden kann. Eine Umsetzung des Ge-setzes muss möglich sein. Auch deshalb ist es dringendgeboten, das Tarifvertragssystem zu reformieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und,da ich in diesem Bereich aktiv bin, Kolleginnen undKollegen der Gewerkschaften und in den Betrieben: DieSPD setzt sich dafür ein, dass die Tarifautonomie mitfairen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Ar-beitnehmern wieder zur Regel in unserem Land wird.Ich bitte um eure Unterstützung und danke für IhreAufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutschland hat einen Niedriglohnsektor, ja, und zwarals Ergebnis einer politischen Entscheidung der rot-grü-nen Bundesregierung.
– Ja, das muss aber immer wieder gesagt werden. Ver-antwortung muss da abgeladen werden, wo Verantwor-tung auch besteht.
Die Kehrseite – ich mache das ja sehr fair und vollstän-dig – dieses Niedriglohnsektors war, dass Rot-Grün ge-sagt hat: Wenn niedrige Löhne gezahlt werden, die nichtreichen, um den eigenen Bedarf zu decken, dann sollaufgestockt werden können. Beides gehört zusammen.Sie wollten dies damals so; heute bekennen Sie sichnicht mehr so richtig dazu.
Aber immerhin, es hat gewirkt. Als Sie diese Ent-scheidung getroffen hatten, hatten wir 5 Millionen Ar-beitslose in Deutschland. Heute haben wir 3 MillionenArbeitslose, und jeder Mensch, der einen neuen Arbeits-platz gewonnen hat, hat ein Stück Autonomie und auchdie Möglichkeit gewonnen, eigene Chancen zu nutzen.Oft sind Niedriglöhne ja auch nur eine Durchgangssitua-tion.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Auch das muss man sehen: Sie bieten die Möglichkeit,nach dem Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt Fuß zufassen. Deswegen stehen wir auch heute noch zu denEntscheidungen, die Sie damals getroffen haben, heuteaber nicht mehr wahrhaben wollen. – Das ist das Erste.Das Zweite: Tarifautonomie wirkt und Tarifvertrags-politik funktioniert. Das haben wir bei den Friseuren indieser Woche gesehen. Ich gebe zu, es war schwer er-träglich, im Bereich der Friseure immer wieder auf Ta-rifverträge verwiesen zu werden, die aus dem Jahr 1998stammten. Es ist wirklich gut und zu begrüßen, dass dieBranche jetzt auch auf öffentlichen Druck reagiert hatund einen gestuften Tarifvertrag abgeschlossen hat, be-ginnend im August dieses Jahres mit 6,50 Euro im Ostenund 7,50 Euro im Westen und einem anschließendenSteigerungsziel. Das zeigt: Die Branche hat die Signaleverstanden. Es gibt überhaupt keinen Anlass für die Poli-tik, in ein funktionierendes Tarifvertragsgeschehen ein-zugreifen.
Das Dritte, was ich ansprechen will, ist: Wir habenein gut funktionierendes und auch ausgereiftes Instru-mentarium im Bereich der Tarifvertragspolitik. – Sieschütteln den Kopf, Frau Müller-Gemmeke, aber es istdoch so. Als Sie regiert haben, haben Sie es auch nichtverändert. Wir haben bei Branchen mit einer sehr hohenTarifbindung, also über 50 Prozent der Beschäftigten,nach dem Tarifvertragsgesetz die Möglichkeit, nicht nuruntere Lohnlinien, sondern ganze Lohngitter für allge-meinverbindlich zu erklären.Wir haben mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz dieMöglichkeit, jedenfalls nach Maßstab unseres Handelns,mit einer etwas abgesenkten Anforderung, nämlich beiRepräsentativität der Tarifverträge, eine Lohnunter-grenze einzuziehen. Wir haben auch die Möglichkeit, inpraktisch nicht organisierten Bereichen mit dem Min-destarbeitsbedingungengesetz einen von einer Kommis-sion oder einem Fachausschuss ermittelten Lohn alsLohnuntergrenze zu benennen. Das muss man beobach-ten, das funktioniert bisher anscheinend noch nicht sogut. Das habe ich jedenfalls von Herrn von Dohnanyi ge-hört. Aber das zeigt insgesamt: Wir haben wirklich füralle Fälle die Möglichkeit, zu handeln.Ich bin nicht bereit – das sage ich hier sehr deutlichfür meine Fraktion –, auf das Votum des Tarifausschus-ses zu verzichten. – Es gibt den Wunsch nach einer Zwi-schenfrage, Frau Präsidentin.
Völlig überraschend möchte Ihnen die Kollegin
Zimmermann eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen. Sie lassen diese natürlich auch zu. – Bitte, Kol-
legin Zimmermann.
Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. – Ich schätze Sie sehr.
Aber mich interessiert wirklich: Was wäre bei Ihnen die
Lohnuntergrenze? Wo würde sie liegen? Ich habe es
nicht gelesen und auch noch keine Meinungsäußerung
von der FDP dahin gehend gehört, wo für die FDP die
Lohnuntergrenze liegt.
Ja, ich habe es verstanden.
Sie wissen, die Niedriglohnschwelle liegt bei
10,36 Euro. Das ist keine Zahl der Linken, sondern eine
Zahl vom Statistischen Bundesamt. Mich interessiert
wirklich, wie die FDP das sieht. Das finde ich jetzt rich-
tig spannend.
Zunächst – so viel Zeit muss sein, Frau KolleginZimmermann – will ich mich bei Ihnen und auch über-haupt bei den Kollegen der Linken einmal ausdrücklichbedanken. Es funktioniert immer sehr gut: Meine Aus-führungen führen dazu, dass es bei Ihnen Nachfragebe-darf gibt, Herr Kollege Ernst, Herr Kollege Birkwald,wer auch immer.
Das finde ich sehr erfreulich, weil es zeigt, dass von dereinen Seite des Plenarsaals zur anderen ein kommunika-tiver Draht besteht. Herzlichen Dank dafür!
Der zweite Punkt – Sie wollen mich natürlich aufsGlatteis führen; das werde ich nicht zulassen – ist: Wennich Ihnen eine Zahl nennen würde, würde ich genau indiesen Über- oder Unterbietungswettbewerb einsteigen,den wir gerade nicht wollen. Tarifautonomie heißt füruns: Der Staat hält sich raus. Deswegen nennen wir kei-nen Wert. Es ist auch nach dem Mindestarbeitsbedingun-gengesetz vorgesehen, dass nicht der Staat eine Lohn-höhe festsetzt, sondern ein Fachausschuss, der nach derFeststellung von sozialen Verwerfungen vom Hauptaus-schuss eingesetzt wird.Diese Zahl ist der Referenzwert. Er ist nicht politischgesetzt, sondern wird der Politik von fachlich Betroffe-nen nahegelegt. Das ist eben etwas ganz anderes als das,was in dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einesMindestlohns des Bundesrates vorgesehen ist. Der Kol-lege Zimmer hat heute Morgen zu Recht auf die Mecha-nismen hingewiesen: Wenn nämlich die Tarifpartnernicht handeln, dann soll der Staat selbst Zahlen nennen.Wenn innerhalb einer bestimmten Frist kein Vorschlagerarbeitet wurde, soll der Staat selbst einen Wert festset-zen. Das ist für uns Liberale absolut inakzeptabel. Wirwollen keine staatlich festgelegte Lohnhöhe, sondernwir wollen, dass die fachlich Betroffenen in den Bran-chen ihre Dinge regeln, weil sie selbst die beste undnächste Anschauung dessen haben, was in den Betrieben
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Dr. Heinrich L. Kolb
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tatsächlich gezahlt werden kann. Vielen Dank für dieFrage.
Es gibt ein Instrumentarium. Wir sind nicht bereit, aufdie Mitwirkung des Tarifausschusses im Rahmen derAVE zu verzichten, weil der Tarifausschuss eben einegesamtwirtschaftliche Perspektive herstellt. Die Erfah-rung aus den letzten dreieinhalb Jahren zeigt: Es ist in je-dem einzelnen Fall, teilweise mit erheblichen Geburts-wehen – das gebe ich zu –, gelungen, ein entsprechendesVotum zu erzielen, mit dem das in der Regel von uns al-len gewünschte Ziel erreicht werden kann. Daran haltenwir fest. Es sollte zudem immer eine Kabinettsentschei-dung geben und nicht allein das federführende Ressortdie Möglichkeit haben, per AVE zu handeln. All das istsinnvoll und richtig.Ich finde, wir haben ein gutes Instrumentarium.
Es ist Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben, dasswir auf unserem Nürnberger Parteitag am übernächstenWochenende darüber nachdenken werden, an welchenStellschrauben im Rahmen des bestehenden Systemsnoch nachjustiert werden muss.
In der nächsten Sitzungswoche können wir Ihnen wahr-scheinlich schon sehr viel Konkreteres zu unserer Nach-justierung berichten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmekefür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! In der Arbeitswelt läuft so einigesschief. Heute geht es stellvertretend um den Einzelhan-del. Verkäuferin ist ein Knochenjob, und das bei schlech-ter Bezahlung. 38 Prozent der fast 3 Millionen Beschäf-tigten im Einzelhandel arbeiten inzwischen imNiedriglohnbereich. Das sind zu viele. Bei dieser Ent-wicklung ist der Verweis von Ihnen, meine Damen undHerren von den Koalitionsfraktionen, auf die Tarifauto-nomie einfach zu wenig.
Früher hatten viel mehr Beschäftigte – gerade auchim Einzelhandel – sozialen Schutz durch allgemeinver-bindlich erklärte Tarifverträge. Heute aber wechseln zuviele Arbeitgeber in Mitgliedschaften ohne Tarifbin-dung. Edeka und Rewe gliedern Filialen aus an selbst-ständige Kaufleute. Gleichzeitig gibt es immer mehrzweifelhafte Werkvertragskonstruktionen. In der Folgewird der Einzelhandel immer mehr zu einer Brancheohne Betriebsräte. Vor allem aber funktioniert das wich-tige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nichtmehr, weil die Tarifbindung zu gering ist. Durch dieseunterschiedlichen Formen der Tarifflucht wird der jahr-zehntealte gesellschaftliche Konsens der Sozialpartner-schaft aufgekündigt. Nehmen Sie das endlich zur Kennt-nis!
Ich bin auch überzeugt, dass die Tarifbindung insge-samt weiter abnehmen wird. Unterstützung bei der Tarif-flucht gibt es einmal mehr im Internet. So bietet bei-spielsweise die Haufe-Akademie ein Seminar an unterdem Titel „Wege aus der Tarifbindung“ – ich zitiere –:Praxisorientiert … lernen Sie, welche Möglichkei-ten es gibt, Personalkosten zu sparen, flexibler zuwerden … und den Einfluss von Gewerkschaftenzu reduzieren.Praktische Handlungsempfehlungen … zeigen Ih-nen, wie Sie die Lösung aus tariflichen Bindungenam besten umsetzen.Die FDP sollte ruhig einmal zuhören. – Dann wird nochdie ganze Palette aufgeführt: OT-Mitgliedschaft, Wech-sel des Arbeitgeberverbandes, Branchenwechsel, Um-strukturierung und Gestaltung der Arbeitsverträge. Es istunsäglich. Das hat nichts mehr mit Sozialpartnerschaftzu tun. Hier geht der Anstand verloren.
Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions-fraktionen, Sie halten immer die Tarifautonomie hoch,wie wir gerade wieder gehört haben. Sie müssen sichaber langsam entscheiden, was Sie damit meinen undwas Sie wollen. Wenn es Ihnen nur um die negative Ko-alitionsfreiheit geht, dann sagen Sie das endlich ehrlich.Dann wissen die Beschäftigten, was sie von Ihnen zu er-warten haben, nämlich gar nichts. Oder verstehen Sieunter Tarifautonomie, dass den Tarifvertragsparteieneine wirtschafts- und sozialpolitische Ordnungskompe-tenz eingeräumt wird? Dann müssen Sie aber auch re-agieren, wenn sich Arbeitgeber von dieser Verantwor-tung verabschieden. In der Konsequenz müssten Siedann, wenn auch nicht in allen Details, so doch zumin-dest im Grundsatz die vorliegenden Vorlagen unterstüt-zen.
Wir brauchen erstens einen flächendeckenden gesetzli-chen Mindestlohn, zweitens mehr branchenspezifischeMindestlöhne, und drittens muss die Allgemeinverbind-licherklärung von Tarifverträgen erleichtert werden;denn wenn die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert,
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Beate Müller-Gemmeke
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dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestütztwerden.
Wir Grüne bringen heute noch einen kleinen Entwurfeines Gesetzes ein, das unserer Meinung nach durchausgroße Wirkung erzielen kann, und zwar gegen zweifel-hafte Werkvertragskonstruktionen. Wenn ein Schein-werkvertrag gerichtlich festgestellt wird, dann ist dasverdeckte Leiharbeit – mit allen Konsequenzen: EinBußgeld wird verhängt, die Sozialversicherungsbeiträgewerden nachgefordert, und die Beschäftigten haben au-tomatisch ein Arbeitsverhältnis mit dem Werkvertrags-besteller. Eine Erlaubnis für Leiharbeit schützt dieBetriebe aber vor diesen Rechtsfolgen. Diese Gesetzes-lücke im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wollen wirschließen; denn manche Betriebe nutzen das schamlosaus. Sie vergeben ihre dubiosen Werkverträge nur anFremdfirmen mit einer Erlaubnis für Leiharbeit. Damitkönnen sich die Unternehmen absichern und die Rechts-folgen von Scheinwerkverträgen abmildern. Wir forderndeshalb, dass die Erlaubnis nur für echte Leiharbeit gilt.Wer mit Scheinwerkverträgen Löhne absenkt und Tarif-flucht begeht, der soll künftig immer auch die rechtli-chen Konsequenzen tragen. Das hat abschreckende Wir-kung, und vor allem ist das gerecht, Herr Kolb.
– Sie haben das, glaube ich, einfach nicht verstanden.Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitions-fraktionen, mit allen Anträgen, die heute vorliegen, solldie Sozialpartnerschaft zum Schutz der Beschäftigtengestärkt werden. Aber auch die tariftreuen Betriebebrauchen diesen Schutz, damit sie von Schmutzkonkur-renz nicht vom Markt gedrängt werden. Reden Sie alsonicht nur von Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie,sondern handeln Sie endlich!Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktio-nen, studiert man die von Ihnen eingebrachten und heutezur Debatte stehenden Anträge, so könnte man auf dieIdee kommen, dass es um die arbeitsmarkt- und sozial-politische Lage in Deutschland wirklich schlecht bestelltist.
Aber ich kann Sie beruhigen: Dem ist bei weitem nichtso. Im Gegenteil: Betrachtet man die Entwicklung amdeutschen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren,dann sieht man, dass die Lage eigentlich kaum bessersein könnte.Im vergangenen Jahr waren mit nahezu 42 MillionenBeschäftigten so viele Menschen in Deutschland in Be-schäftigung wie nie zuvor.
Auch die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen ist mit2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahrengefallen. 29,8 Millionen Personen, um die Zahl zu lie-fern, Frau Müller-Gemmeke, waren sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt. Darauf wollen Sie doch hinaus. Ichkenne Ihre Fragen nach mehrjähriger Tätigkeit im Aus-schuss.
In ihrer aktuellen Frühjahrsprognose geht die Bundes-regierung für das laufende Jahr weiterhin von einem An-stieg der Beschäftigung um 200 000 sowie einem Rück-gang der Arbeitslosigkeit auf deutlich unter 3 MillionenPersonen aus. Im europäischen Vergleich steht Deutsch-land, insbesondere was die geringe Jugendarbeitslosig-keit anbelangt, mit Abstand am besten da.
Die Vermittlung in Arbeit verläuft zügiger, und diedurchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist gesun-ken. Das müssen auch Sie, Frau Kollegin Zimmermann,bei aller Kritik zur Kenntnis nehmen. Wir werden im ge-samten europäischen Ausland um unseren soliden undäußerst robusten Arbeitsmarkt beneidet. Das sind die Er-träge erfolgreicher christlich-liberaler Arbeitsmarkt- undSozialpolitik.
– Ich komme gleich dazu, lieber Toni Schaaf.Ihren Anträgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ent-nehme ich eine ausgesprochen pessimistische Sicht aufdie Tarifbindung in Deutschland, die ich in keiner Weisenachvollziehen kann. Auch die Sachverständigen habensich im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales am 6. Februar 2012 mitIhrer Sicht der Dinge sichtlich schwergetan. Zusätzlichzur unmittelbaren Bindung der Unternehmen an Flä-chen- und Branchentarifverträge ist die Zahl der Haus-und Firmentarifverträge deutlich gestiegen. Hinzu
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Paul Lehrieder
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kommt, dass sich ein erheblicher Teil der nicht tarifge-bundenen Unternehmen an bestehende Flächen- undBranchentarifverträge anlehnt.
Darauf wurde von Herrn Kollegen Kolb zutreffender-weise bereits hingewiesen.Legt man diese Fakten zugrunde, kommt man entge-gen Ihrer Ansicht zu dem Ergebnis, dass die Tarifbin-dung in Deutschland im europäischen Vergleich im obe-ren Bereich liegt. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung werden die Arbeitsbedingungenvon 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse immer nochdurch Tarifverträge bestimmt. Diese Zahlen belegen,dass Tarifverträge trotz Ihrer Schwarzmalerei das wich-tigste Element zur Aushandlung und Festsetzung vonArbeitsentgelten, Arbeitsbedingungen und weiteren be-schäftigungsrelevanten Fragen sind.Mit einem Sammelsurium von Forderungen, angefan-gen bei einem flächendeckenden gesetzlichen Mindest-lohn, der in jedem Ihrer Anträge steht, über eine Auswei-tung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes bis hin zueiner Reform der Allgemeinverbindlichkeitserklärungvon Tariflöhnen, versuchen Sie, einem angeblichenMissstand entgegenzutreten.Das Aushandeln von Löhnen muss grundsätzlichAufgabe der Sozialpartner sein. – Ich freue mich, dassKollege Klaus Ernst wieder unter uns ist, der natürlichals alter Gewerkschafter hier von mir abermals hörenmuss, dass es die christlich-liberale Koalition ist, die derTarifautonomie das Wort redet und die Rolle der Ge-werkschaften würdigt und hochschätzt, anders als früherIhre Genossen.
Lassen Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen
Schaaf zu? –
Bitte, Sie haben das Wort.
Sie lehnen den gesetzlichen Mindestlohn ja immer ab
mit dem Hinweis darauf, ein gesetzlicher Mindestlohn
sei eine Einmischung in die Tarifautonomie. Wir bzw.
unsere Vorgänger haben in diesem Haus eine Menge Ge-
setze beschlossen, die sich zum Beispiel damit befassen,
wie viel Urlaub mindestens gewährt werden muss, wie
hoch die Arbeitszeit in der Woche höchstens sein darf.
Wir haben die Betriebsverfassung. Sind das alles Einmi-
schungen in die Tarifautonomie, oder sind das Mindest-
standards, die wir in der sozialen Marktwirtschaft für
richtig halten?
Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie sind Arbeitnehmer-
schützer, genau wie ich.
Wir haben die Interessen der Arbeitnehmer im Fokus.
Gerade vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrück-
lich die Regelungen im Bundesurlaubsgesetz und in den
Arbeitszeitverordnungen betreffend die Urlaubsdauer
und die maximalen Wochenarbeitszeiten, quasi als Min-
destlevel zum Schutz der Arbeitnehmer.
Allein der Umstand, dass wir bereits mehrere Grenzen
eingezogen haben, heißt aber doch nicht, dass wir wei-
tere Grenzen einziehen müssen, die nicht zwingend er-
forderlich sind. Hier müssen wir eine weitere Einengung
der Verhandlungspositionen der Tarifvertragsparteien
gerade nicht vornehmen. Die branchenspezifische Lohn-
höhe können sie doch viel besser selbst aushandeln.
Dass die minimale Urlaubsdauer als Arbeitsschutzrecht
vom Bundesgesetzgeber geregelt ist, ist richtig und auch
zutreffend. Das heißt aber nicht, dass das für alle Bran-
chen einheitlich gemacht werden muss.
Frau Kollegin Zimmermann hat ja den netten Kolle-
gen Kolb suggestiv gefragt: Wo würden Sie denn hier
die Lohnuntergrenze sehen? – Das ist doch etwas, was
von Branche zu Branche von den Tarifvertragsparteien
viel besser ausgehandelt werden kann. Wir sehen es
doch: Hier sind es 8,50 Euro, dort 10 Euro. Vielleicht
kommen wir auch irgendwann einmal zu 9 Euro oder
11,50 Euro.
Wir würden uns hier vor der Bundestagswahl in einem
Überbietungswettbewerb befinden, wer die besseren
Politiker sind, wer mehr Mindestlohn fordert – unabhän-
gig davon, dass wir den Verlust von Arbeitsplätzen dann
gar nicht selber ausbaden müssten.
Lassen Sie uns den Tarifvertragsparteien etwas Ver-
trauen entgegenbringen und ihnen die Aushandlung der
Lohnhöhen in den einzelnen Branchen zugestehen! Das
können die besser als wir. Lieber Toni Schaaf, du weißt
so gut wie ich, dass wir die Tarifvertragsparteien ihr Ge-
schäft machen lassen sollten.
Frau Präsidentin, da ist noch eine Wortmeldung.
Ich habe das gesehen, Kollege Lehrieder. Der KollegeErnst hat sich ebenfalls zu einer Frage oder Bemerkunggemeldet. Ich entnehme Ihrem Hinweis, dass Sie dieseauch zulassen.
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Herr Kollege Lehrieder, es geht mir um das Problem,
das eben angesprochen wurde. Ihre Argumentation
scheint mir nicht sehr schlüssig zu sein. Urlaubsdauer ist
ja etwas anderes als die Frage der Arbeitszeit. Wir haben
bezogen auf die Urlaubsdauer eine Mindestregelung im
Gesetz – 24 Werktage –; trotzdem haben die Tarifver-
tragsparteien die Freiheit, höhere Urlaubszeiten zu ver-
einbaren, zum Beispiel 30 Tage in der Metall- und Elek-
troindustrie. Inwiefern, glauben Sie, hat die Festlegung
einer Mindesturlaubsdauer die Gewerkschaften behin-
dert, höhere Urlaubszeiten zu vereinbaren? Das ist eine
ganz konkrete Frage.
Zweitens. Wir haben ein Arbeitszeitgesetz. In diesem
Arbeitszeitgesetz haben wir Höchstarbeitszeiten verein-
bart. Trotzdem haben sich die Gewerkschaften mit den
Arbeitgeberverbänden – wahrscheinlich zu Ihrer großen
Freude, weil das in die Tarifautonomie fällt – in ver-
schiedenen Branchen auf die 35-Stunden-Woche ge-
einigt. Glauben Sie, dass die festgelegte Mindestar-
beitszeit die Gewerkschaften behindert hat, als sie die
35-Stunden-Woche durchgesetzt haben? Oder war es
nicht so, dass sie auf Basis bestehender Gesetze eine
Verbesserung durchsetzen konnten?
Wenn Sie mir in diesen Fragen recht geben, Kollege
Lehrieder, ist es dann nicht so, dass selbstverständlich
die Gewerkschaften einen besseren Lohn als den Min-
destlohn vereinbaren können, und zwar in den Berei-
chen, in denen sie selbst dazu nicht mehr in der Lage
sind, eine Basis, einen Mindestlohn zu verhandeln, auf
den sie aufsetzen können? Nur so können sie das in An-
spruch nehmen, was Sie hier propagieren, nämlich eine
Tarifautonomie, die über die gesetzlichen Bestimmun-
gen hinaus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bes-
sere Bedingungen bei Lohn, Urlaub usw. gewährt. Ist es
nicht sinnvoll, diesen Mindestlohn
zur Geltung der künftigen Tarifautonomie geradezu
zwingend einzuführen?
Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein. Ich be-gründe das sehr gern. – Lieber Kollege Ernst, bei den an-gesprochenen Regelungen zur Wochenarbeitszeit – wirdiskutieren auf der Brüsseler Ebene derzeit über48 Stunden; diese Arbeitszeitobergrenze soll uns von derBrüsseler Ebene vorgegeben werden – handelt es sichschlicht um Arbeitnehmerschutzrechte. Gesundheit,Wohlbefinden, Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers sindvon staatlicher Seite zu schützen.
Das ist etwas anderes, ein Aliud im Verhältnis zur Lohn-höhe. Bei der Lohnhöhe geht es nicht um Arbeitnehmer-schutz.Beispiel: Urlaubszeit. Jede Mitbürgerin und jederMitbürger braucht bei einer Vollzeitbeschäftigung eineentsprechende Urlaubszeit, um sich wieder zu erholenund die körperliche Fitness zu erhalten. Das ist logisch.Das ist ein Arbeitnehmerschutzrecht. Das ist anders zubetrachten als die Lohnhöhe. Bei der Lohnhöhe geht esdarum: Wie ist die Produktivität in der Branche, an demArbeitsplatz, möglicherweise in der Region? Das istdurchaus differenziert zu betrachten. Da kann es keineEinheitlichkeit geben.Zu Ihrer Frage: Können die Gewerkschaften aus den10 Euro nicht 11 Euro oder 12 Euro machen? Es bestehtdas Risiko, lieber Klaus Ernst, dass tarifvertraglich ver-einbarte höhere Löhne, etwa von 11 Euro oder 12 Euro,auf den Mindestlohn von 10 Euro gesenkt werden. Siegeben den Mitbürgerinnen und Mitbürgern unter Um-ständen Steine statt Brot. Sie dürfen nicht glauben, dassdie Gewerkschaften auf die 10 Euro noch 1 Euro oder2 Euro drauflegen müssen. Es kann genauso passieren,dass bestehende tarifvertraglich vereinbarte Löhne inHöhe von 11 Euro auf den Mindestlohn von 10 Euro ge-senkt werden.Von daher: Ihr Optimismus in Ehren – ich glaube Ih-nen das liebend gern; ich traue den Gewerkschaftenwahrscheinlich mehr zu als Sie –, aber das wird nichtfunktionieren, lieber Klaus Ernst. Die Arbeitszeitrege-lung auf der einen Seite und die Lohnhöhe auf der ande-ren Seite, das ist unterschiedlich zu betrachten. Die Ar-beitszeit und die Lohnhöhe können in Tarifverträgenzugunsten des Arbeitnehmers verbessert werden – da binich bei Ihnen –; aber der Schutz der körperlichen Unver-sehrtheit, der körperlichen Integrität des Arbeitnehmersist ein bisschen anders zu sehen als die Lohnhöhe. Dabitte ich um Verständnis. Das wissen Sie als Gewerk-schafter aber besser als ich.Dass dies funktionieren kann, lieber Klaus Ernst – Siekommen aus Schweinfurt –, wissen Sie. Anfang derWoche ist über dem Dom von Würzburg weißer Rauchaufgestiegen. Man hat sich geeinigt. Die sogenannteWürzburger Einigung der Friseure – unter dem Namenmittlerweile weltbekannt – zeigt, dass die Tarifvertrags-parteien hier tatsächlich eine Lösung erreichen können,die eine Verdopplung von manchen Löhnen zur Folgehaben wird – zugegebenermaßen: erst in eineinhalb Jah-ren. Aber immerhin gibt es ein Ansteigen der Löhne imFriseurgewerbe.
– Fragen Sie mich halt was, Frau Kollegin! Schreien Sienicht einfach dazwischen! – Ein Anstieg der Lohnhöheim Friseurgewerbe von 3,80 Euro oder 4,20 Euro auf zu-künftig 8,50 Euro wäre, glaube ich, ein Supererfolg. Daszeigt, was vernünftige Gewerkschaften in vernünftigenVerhandlungen mit der Arbeitgeberseite erreichen kön-nen – auch mit Erstreckung auf noch nicht tarifgebun-dene Unternehmen. Das Spannende bei den Friseuren istim Übrigen, wie das funktionieren wird, wie die sichfreiwillig bereit erklären, diese 8,50 Euro zu bezahlen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29747
Paul Lehrieder
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– Ja, aber die Christlich-Liberalen haben es erreicht, lie-ber Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, der richtige Weg derLohnfindung – ich habe bereits darauf hingewiesen –sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Für den Fall,dass eine zu geringe Tarifbindung auf Arbeitgeber- oderauf Arbeitnehmerseite das nicht ermöglicht, hat KollegeKolb auf das MiArbG hingewiesen. Das funktioniertnoch nicht. Wir werden genau hinschauen müssen, wiewir es über das MiArbG möglicherweise erreichen, dieKonditionen in den Branchen, in denen die Tarifbindungrecht schwach ist, zu verbessern.Ich würde es begrüßen, wenn man im Einzelhandelähnlich wie bei den Friseuren mit vernünftigen Tarifver-tragsparteien zu einer vergleichbaren positiven Lösungim Interesse der Arbeitnehmer, aber auch im Interesseder Branche kommen könnte. Lassen Sie uns in diesemSinne daran arbeiten!Die vorgelegten Anträge sind in dieser Hinsicht nichtzielführend. Deshalb werden wir sie – da bitte ich umNachsicht – samt und sonders ablehnen.Danke schön.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieseDebatte ist schon eigenartig. Hier wird zum Beispiel ar-gumentiert, bei der Arbeitszeit müsse es einen Schutzgeben – das ist auch richtig –, aber es dürfe keinen ge-setzlichen Schutz gegen Armut geben. Armut ist be-kanntlich so gesund, und deswegen braucht man keinengesetzlichen Mindestlohn.
Dann wird hier allen Ernstes argumentiert, ein Min-destlohn von 8,50 Euro würde dazu führen, dass Löhneauf diesen Mindestlohn gedrückt werden. Wir erleben imMoment, dass durch den fehlenden Mindestlohn Löhnegegen null gedrückt werden. Es ist also geradezu zwin-gend notwendig, dass wir hier eine Grenze ziehen.
Herr Kollege Weiß, Herr Kollege Lehrieder und dieKollegen der FDP, ich finde es interessant, dass bei Ih-nen die Tarifautonomie immer hochlebt, wenn es um dengesetzlichen Mindestlohn oder gesetzliche Neuregelun-gen in diesem Bereich geht. Wir sehen doch an den ge-nannten Beispielen, wie die Tarifautonomie durch dengesetzlichen Rahmen beeinflusst wird. Man könnte jetztausführen, wie der Druck auf die Arbeitsbedingungenund die Tarifverträge in den letzten Jahren entstandenist, und zwar auch durch gesetzliche Veränderungen. Dasbeste Argument haben Sie doch selber geliefert, als Siedie Friseure nannten. Wie kommen die Friseure darauf,zu sagen, dass es in anderthalb oder zwei Jahren einenMindestlohn von 8,50 Euro gibt? Genau das ist zufälligdie Forderung der SPD, der Grünen und zum Teil derLinken.
Hier sieht man doch, wie Debatten über gesetzliche Re-gelungen auch Tarifverträge beeinflussen.Ich wollte aber noch etwas anderes sagen, was in ei-ner solchen Debatte immer untergeht. Wir alle wissen,dass es noch anständige Arbeitgeber mit anständiger Be-zahlung und guten Arbeitsbedingungen gibt.
Die haben es aber immer schwerer, weil es immer mehrBetriebe und Branchen gibt, die die Möglichkeiten derprekären Beschäftigung und der Lohndrückerei nutzen,zum Beispiel über befristete Verträge, Minijobs, Tarif-flucht und Outsourcing. Deswegen habe ich vor einigenWochen gesagt: Amazon ist fast überall. Bei manchen istder Steuervermeidungstrieb stärker ausgeprägt als derSexualtrieb.
Bei manchen ist der Lohn- und Sozialdumpingtrieb stär-ker ausgeprägt als der Trieb zum Überleben. Der Einzel-handel ist ein Beispiel dafür. Insofern hat die Linkerecht, wenn sie dieses Thema anspricht.Man muss auch noch einiges zum Einzelhandel sa-gen, um die Situation zu beschreiben. Im Einzelhandelhaben wir das Problem: immer mehr Fläche, immer län-gere Ladenöffnungszeiten, stagnierender privater Kon-sum aufgrund stagnierender Kaufkraft wegen niedrigerLöhne, ein brutaler Preiskampf und immer wenigerBeschäftigte. Dies kann doch bezogen auf die Arbeits-bedingungen nicht gut gehen. Was passiert also? Manzimmert sich schnell einen Arbeitgeberverband, suchtsich dann eine sogenannte christliche Gewerkschaft, ge-nannt DHV – ich glaube, das heißt Deutscher Handlan-gerverband –,
und schon hat man Leiharbeitslöhne, die um 47 bzw.44 Prozent unter dem Verdi-Tarif liegen. Gleichzeitigbastelt man sich Dienst- und Werkverträge, um auchnoch den Mindestlohn in der Leiharbeit zu unterbieten.Das alles geschieht unter der Überschrift „Tarifautono-mie“. Oder man macht es wie Edeka und Rewe: Mangründet immer mehr Filialen mit sogenannter Privatisie-rung aus. Dann hat man neben dem Tarifvertrag auchnoch den Betriebsrat vom Hals. Was ist das für ein Erfin-
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Klaus Barthel
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dungsreichtum! Ich wünschte mir, das Gehirnschmalzwürde darauf verwendet, etwas für die Kunden zu tunoder es den Frauen zu ermöglichen, Erwerbsarbeit undFamilie zu vereinbaren, statt sich solchen Humbug aus-zudenken.
Wir brauchen andere gesetzliche Regelungen, damit soetwas nicht Schule macht. Wir brauchen Regelungen,wie sie in den heute vorliegenden Vorschlägen zur Ar-beitnehmerüberlassung, Arbeitnehmerentsendung undAllgemeinverbindlichkeit zu finden sind.Zur Allgemeinverbindlichkeit, zum Thema des An-trags der SPD, muss man noch einmal deutlich machen:Wir wollen keine Mindestlohnarbeitswelt, sondern wirwollen allgemeinverbindliche Tarifverträge, die Leistun-gen und Erfahrungen honorieren, die Qualifikation undgute Arbeit honorieren und die Aufstieg ermöglichen.Wir wollen ein Gitter schaffen. Dieses Gitter kann mannicht schaffen, indem sich nicht tarifgebundene Unter-nehmen an bestehende Tarifverträge anlehnen; denndiese Unternehmen – wir alle wissen das – werdensich nur die Rosinen herauspicken, also einen Tarifver-trag à la carte machen. Das kann nicht sein. Wir brau-chen eine Verbindlichkeit der Tarifverträge. Ein Tarif-vertrag ist geltendes Recht und muss im Zweifelsfallauch durchgesetzt werden können.
Dann wird ein Schuh daraus; dann wird Missbrauch un-terbunden, und dann wird es höhere Löhne und Einkom-men geben. Das führt dann dazu, dass die Menschen,Mann und Frau, wieder Geld haben, um im Einzelhandelgute Preise für gute Ware zu bezahlen.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Johannes Vogel
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der zweiten sozialpolitischen Debatte des heutigen
Tages reden wir wieder einmal über das Thema Mindest-
löhne.
– Nein, Frau Kollegin, wir haben Ihre Anträge sehr wohl
gelesen. Der Antrag der SPD beschäftigt sich aber eben
nicht nur mit der Allgemeinverbindlichkeit von Tarif-
verträgen, sondern sieht auch wieder den einheitlichen
gesetzlichen Mindestlohn vor.
Ich will es Ihnen noch einmal erklären. Wir können lei-
der in ganz Europa sehen – Guntram Schneider hat heute
Morgen das beste Beispiel dafür gegeben –, dass ein
Einheitsmindestlohn, der am Ende im Deutschen Bun-
destag festgelegt wird, den Einstiegschancen schadet.
Das sehen wir in Frankreich und anderen Ländern.
Ihr Sozialminister aus NRW hat sich heute Morgen hier
hingestellt und gesagt: Wir wollen eine unabhängige
Kommission; aber es müssen mindestens 8,50 Euro sein,
da fangen wir politisch an.
Das macht doch deutlich, wo Sie hinwollen. Sie wollen
politische Lohnfindung und lassen sich hier im Deut-
schen Bundestag von Klaus Ernst treiben. Das ist aber
falsch.
Wir wollen Tarifautonomie und Lohnfindung durch
die Tarifpartner. Das ist der bessere Weg.
Es ist richtig, dass wir diesen Weg weitergehen, dass wir
sagen: In den Branchen, in denen es Probleme gibt, kann
es Lohnuntergrenzen geben, wenn sich die Tarifpartner
darauf verständigen. Der Mindestlohn im Friseurhand-
werk ist dafür das beste Beispiel.
Kollege Vogel, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Ernst?
Gern sogar, aber eine Frage.
Beides ist nach der Geschäftsordnung möglich.
Sofern ich dann in Addition meiner Redezeit kurz re-
agieren darf, gern.
Die Uhr ist längst angehalten.
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Herr Vogel, glauben Sie wirklich, dass die, die hier
für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten, die staatli-
che Festsetzung aller Löhne befürworten?
Wenn Sie behaupten, wir wären für die staatliche Fest-
setzung der Löhne, dann würde ich Sie bitten, dafür ei-
nen Beleg vorzulegen. Es geht nicht um die Festsetzung
staatlicher Löhne. Ich glaube, dass wir mit unserer Posi-
tion die Tarifautonomie bei weitem mehr verteidigen als
Sie. Natürlich sind wir dafür, dass im Spiel der Kräfte, in
der Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden – was allerdings starke Gewerk-
schaften voraussetzt, wenn dies Erfolg haben soll –,
Tariflöhne entstehen. Aber das ist doch etwas ganz ande-
res als die Sicherung durch eine Untergrenze. Man muss
doch nicht, wenn man für einen gesetzlichen Mindest-
lohn ist, für festgesetzte Löhne sein. Ich weiß nicht, wo-
her Sie diese Position haben. Ich kann nur für alle, die
ich kenne, die für einen gesetzlichen Mindestlohn sind,
sagen: Wir sind für die Tarifautonomie, aber auch für
Lohnuntergrenzen. Das ist etwas anderes.
Lieber Kollege Ernst, erstens sehen wir zum Beispielin Frankreich, dass der Mindestlohn sehr wohl Einflussauf das Tarifgeflecht hat.
– Aber keinen positiven Einfluss, Herr Ernst.
Zweitens. Wir reden hier über Untergrenzen. DieFrage ist: Wer legt die Untergrenzen fest? Sie wollen jaden politischen Einheitsmindestlohn
und leiten auch schon den politischen Überbietungswett-bewerb ein. Man kann schon erkennen, wie die Kollegenvon SPD und Grünen mit Ihren Forderungen auf das,was Sie von der Linkspartei als Zahlen vorgeben, reagie-ren. Die Frage der Lohnuntergrenze ist hochrelevant,weil sie die Einstiegschancen von Menschen tangiert.Deshalb sagen wir, wenn es um Lohnuntergrenzen geht:politischer Einheitsmindestlohn, nein – tarifliche Lohn-untergrenzen, Branche für Branche differenziert, ja. DieFriseure sind doch das beste Beispiel dafür, dass realeProbleme mit diesem Ansatz gelöst werden können.Das ist der bessere Weg – Kollege Kolb hat das schongesagt –; deshalb werden wir ihn weiter verfolgen.
In Ihren Anträgen kommt als Konglomerat so viel zu-sammen – leider auch viel Unsinn –, dass wir ihnen nichtzustimmen können; sie bringen uns in dieser Frage nichtweiter.Ich will zum Abschluss meiner Rede – ich habe ja nurdrei Minuten – noch auf einen Punkt eingehen, den derKollege Barthel angesprochen hat. Herr Kollege Barthel,Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass wir aufden einzelnen Arbeitgeber schauen müssen. Das tun wirja auch. Wir reden viel darüber: Sind tarifliche Lohn-untergrenzen nicht deshalb richtig, weil es natürlich ein-zelne schwarze Schafe gibt? Wenn unanständig niedrigeLöhne gezahlt werden, dann ist das die richtige Antwort.Deswegen hat diese Koalition die Festlegung mehrerer ta-riflicher Lohnuntergrenzen möglich gemacht.Sie haben so schön gesagt: Wir wollen den anständi-gen Arbeitgeber, und wir müssen darauf achten, dassAmazon nicht überall ist. – Das ist ein Anspruch, demwahrscheinlich alle hier zustimmen können. Die Frageaber ist, lieber Kollege Barthel: Sollte man nicht persön-lich mit bestem Beispiel vorangehen?Ich fand es verblüffend oder zumindest bemerkens-wert, was wir in den letzten Tagen lesen konnten, daswar ganz interessant. Uns alle erreichte wahrscheinlich– so hoffe ich – aus dem hohen Norden die Nachricht,dass Verdi für die Beschäftigten der SPD in Schleswig-Holstein Arbeitskampfmaßnahmen angekündigt hat.
Lassen Sie mich zum Abschluss einige bemerkens-werte Sätze des Verhandlungsführers von Verdi zitieren.
„Wer alles gibt, hat mehr verdient!“:
Mit diesem Slogan wirbt die SPD in Schleswig-Holsteinfür gute Arbeit und gerechte Löhne. Der Verdi-Verhand-lungsführer stellt fest:Im eigenen Hause jedoch herrschen andere Gesetz-mäßigkeiten.Das will man sich nicht mehr gefallen lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wiralle wollen anständige Arbeitgeber und keine schwarzenSchafe. Aber wenn man dafür glaubwürdig politisch ein-treten will, sollte man selber mit gutem Beispiel voran-gehen, auch die SPD in Schleswig-Holstein.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist eine durchaus lohnenswerte und auch not-
wendige Debatte, die wir mit Blick auf die Bundestags-
wahl miteinander führen. Es geht um grundsätzliche Fra-
gen, die sich uns Wirtschafts- und Sozialpolitikern in
diesem Land stellen.
Um den Versuch zu unternehmen, neben den vielen
Argumenten, die bereits genannt worden sind, die De-
batte, die wir miteinander betreiben wollen, ein wenig
fortzusetzen: Herr Kollege Schaaf, Sie haben natürlich
völlig recht, wenn Sie sagen, dass es unsere Aufgabe als
Gesetzgeber ist, für die eine oder andere gesetzliche
Schutzfunktion zu sorgen. Das machen wir mit dem
Bundesurlaubsgesetz. Das stellt auch niemand in Frage.
Sie wissen aber genauso gut wie ich und wie wir alle,
dass es einen maßgeblichen Unterschied zwischen den
Urlaubsregelungen und den Entgeltregelungen gibt, die
alljährlich oder auch in einem längeren Zeitraum neu zu
treffen sind. Da gibt es eine ganz andere Dynamik.
Die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes stehen
fest. Es wird sicherlich das eine oder andere Mal eine
Anpassung vorgenommen; der eine oder andere Tarif-
vertrag wird auf den neuesten Stand gebracht, es gibt die
eine oder andere Besserstellung; denn wir müssen ja
auch auf den demografischen Wandel und die längere
Lebensarbeitszeit Rücksicht nehmen.
Bei den Entgeltbedingungen gibt es ständig den Be-
darf, anzupassen: an die Produktivität, an die Inflation
oder an die spezifische Situation einer Branche oder
– wenn es ein Haustarifvertrag ist – innerhalb eines Un-
ternehmens. Das heißt, hier muss – vielleicht nicht all-
jährlich, aber jedenfalls periodisch – in kurzen zeitlichen
Abständen immer wieder überprüft werden: Wie groß ist
der Kuchen, der zu verteilen ist? In welchem Umfang
verteilen wir ihn auf welche Beschäftigtengruppen? Das
findet in Deutschland in einer produktiven und auf eine
ganz tolle Art und Weise funktionierenden sozialpoliti-
schen Auseinandersetzung statt, für die uns viele bewun-
dern.
– Doch, das stellen Sie in Frage, wenn Sie den Gewerk-
schaften und den Arbeitgeberverbänden entscheidende
Möglichkeiten der Gestaltung nehmen wollen, indem
Sie per Gesetz regeln.
Ich will Ihnen etwas sagen: Schon der Begriff „Tarif-
autonomie“ beinhaltet Selbstbestimmung. Wenn Sie die
einschränken wollen, dann sagen Sie das auch offen.
Dann reden Sie aber in der nächsten Woche am 1. Mai
nicht mehr von Tarifautonomie, sondern dann sagen Sie
– die Linken schreibt das in ihren Antrag –: Wir wollen
ein gesetzliches System schaffen.
Wir stehen ohne Wenn und Aber dahinter, dass Ge-
werkschaften und Arbeitgeberverbände diese Dinge al-
leine regeln können.
Damit ist Deutschland gut gefahren, damit sind Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer gut gefahren, und dabei
sollte es bleiben.
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Müller-Gemmeke?
Ja.
Ich habe mich die ganze Zeit zurückgehalten, aberjetzt muss ich doch noch zwei Fragen stellen. Erstens– aber das nur am Rande –: Sie haben schon zur Kennt-nis genommen, dass wir, die Opposition, eine Kommis-sion aus Vertretern von Arbeitgeberverbänden, der Ar-beitnehmerseite und der Wissenschaft wollen, die einengesetzlichen Mindestlohn festsetzen und dann auch dieAnpassungen nach oben vornehmen soll?Meine zweite Frage geht in eine andere Richtung: Siereden die ganze Zeit davon, dass wir Löhne und Lohn-grenzen festsetzen wollen. Uns liegen jetzt aber Anträgevor, bei denen es um etwas anderes geht. Wir habenGesetze wie das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder dasTarifvertragsgesetz, die klare Rahmenbedingungen dazuenthalten, wie entweder Mindestlöhne oder Tarifverträgeallgemeinverbindlich erklärt werden können, sodass alleunter diesen guten Bedingungen arbeiten können.Die entsprechenden Rahmenbedingungen verändernsich. Es gibt Tarifflucht, und wir haben eine niedrigereTarifbindung. Es geht jetzt darum, die genannten Ge-setze und damit die Rahmenbedingungen an die Realitätanzupassen, sodass die Tarifparteien überhaupt wiederMindestlöhne und Tarifverträge für allgemeinverbind-lich erklären lassen können.Es geht um eine Stärkung der Tarifpartner. Wir wollengar nichts festlegen, sondern wir wollen die Tarifpartner
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Beate Müller-Gemmeke
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stärken, und zwar mit dem Ziel, dass nicht die Arbeitge-ber Erfolg haben, die Tarifflucht begehen, sondern dietariftreuen Betriebe und die Gewerkschaften, die Arbeit-geber, die sich wirklich noch um einheitlich gute Ar-beitsbedingungen kümmern.Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis.
Herzlichen Dank für die Anregung. Ich will gernenoch einmal etwas dazu sagen. Indem Sie beginnen, ei-nen gesetzlichen Mindestlohn festzulegen – und daswollen Sie ja offenbar,
das soll wohl nicht infrage gestellt werden, auch wenndie Grünen vor ihrem Bundesparteitag hier noch so man-che Springprozession aufführen; wir warten einmal ab,was sie letzten Endes beschließen –, bekommen Sie au-tomatisch folgenden Effekt, den auch der Kollege Vogelschon angesprochen hat: In dem Moment, in dem Sie einMinimalniveau festlegen, wird das Auswirkungen aufdas gesamte Tarifgefüge darüber haben. Außerdem wirdes, wenn wir uns auf eine solche Geschichte erst einmaleinlassen, selbstverständlich eine politische Debatte inForm eines Überbietungswettbewerbes geben.
Den erleben wir bei Ihnen jetzt schon. Die Grünenwaren vor wenigen Wochen noch bei 7,50 Euro. Mittler-weile haben sie erkannt, dass die Sozialdemokraten bei8,50 Euro sind, sie also aufholen müssen. Sie erhöhenihre Forderung jetzt auch auf 8,50 Euro. Wenn Sie dieSache konsequent durchdenken, müssten Sie irgend-wann die Argumentation der Linkspartei übernehmen,
die sagt: Frühestens ab einem Lohn von 10,00 Euro proStunde ist man nicht mehr auf staatliche Ergänzungsleis-tungen angewiesen.Wenn Sie ganz konsequent sind, werden Sie wahr-scheinlich früher oder später diese Position übernehmen.
– Ich will das schon vor den Wahlen verdeutlichen, beidenen alle wissen sollen, worum es geht.Sie werden sich sehr schnell diesem Überbietungs-wettbewerb anschließen. Der Kollege Barthel hat dasselber sehr deutlich gemacht, indem er in seiner Redeauf unternehmerische Gestaltungen bei Edeka und an-derswo eingegangen ist und gesagt hat, er könne beurtei-len, ob das Humbug ist oder nicht.
Das ist nicht unsere Aufgabe, Herr Kollege Barthelund Frau Kollegin Müller-Gemmeke. Unsere Aufgabeist es, soziale Rahmenbedingungen zu schaffen, die Ar-mut verhindern.
In Deutschland haben wir soziale Rahmenbedingungen,nach denen sich viele Menschen auf der ganzen Erde allezehn Finger lecken.
Dabei bleibt es auch; die stellen wir nicht infrage.Außerdem wollen Sie einige Regelungen aufgrundder von Ihnen behaupteten Tarifflucht und der aus IhrerSicht nicht mehr so starken Wirkung des Tarifvertrags-systems ausweiten. Anknüpfend an das, was Peter Weißschon gesagt hat, will ich Ihnen dazu zwei Dinge sagen:Erstens ist es überhaupt nicht nachgewiesen, dass diefaktische Wirkung von Tarifverträgen in Deutschlandnachgelassen hat. Das völlig unabhängige IAB, auf dasSie sich immer beziehen, hat festgestellt, dass für80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse nach wie vor dieentsprechenden Tarifverträge maßgeblich sind. Dazusage ich Ihnen: Das ist gut so. Das sollte man nicht in-frage stellen. Hören Sie auf, das Tarifvertragssystem inDeutschland schlechtzureden!
Zweitens. Natürlich gibt es immer mal wiederschwarze Schafe. Natürlich gibt es Formen von Tarif-flucht und rechtsmissbräuchliche Gründungen von Ar-beitgeberverbänden – das haben wir alles erlebt –; aberwir haben auch eine Reaktion darauf erlebt – das Rechts-system hat reagiert –: Das Bundesarbeitsgericht hat sol-che Vereinigungen zum Teil für rechtsunwirksam er-klärt.
Das hatte zur Folge, dass entsprechende Nachzahlungenan die Sozialkassen usw. vorzunehmen waren.
Das heißt, Sie werden nie ausschließen können, dass dereine oder der andere eine Regelung missbraucht; aberwir haben funktionierende Mechanismen, bis hin zumBundesarbeitsgericht. Das ist kein Grund, das Systeminsgesamt zu diskreditieren.
Damit sind wir bei den Kernfragen: Was wollen wirim Bereich des Niedriglohnsektors machen, und was istder tatsächliche Grund dafür, dass sich der eine oder dieandere dort befindet? Denn das ist in der Tat nicht unbe-dingt wünschenswert. Wir müssen feststellen: Es verlas-
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Dr. Johann Wadephul
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sen mehr Menschen den Niedriglohnsektor, als Sie im-mer behaupten.
Das IAB hat festgestellt, dass etwa ein Viertel nach ei-nem Jahr den Niedriglohnsektor, den Sektor des SGB-II-Bezugs verlässt.
Das heißt, Wirtschaftswachstum und Stabilität des Ar-beitsmarktes wirken sich auch auf Menschen in diesemSektor aus, und das ist gut so. Das wollen wir so fortset-zen.
Frau Müller-Gemmeke, weil Sie das abschließendnoch einmal angesprochen haben, möchte ich Ihnen vor-halten, was Ihr Parteikollege, Herr Boris Palmer, kürz-lich gesagt hat – das sollten Sie sich bei der Formulie-rung weiterer Anträge vielleicht noch einmal vor Augenführen; ich zitiere wörtlich –:In der Summe machen wir damit die Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes komplett rückgängig, aufdie wir früher zu Recht stolz gewesen sind.
Hört! Hört!
Er sagte abschließend – dem kann ich mich auch nur an-schließen –:Ein Minijob oder eine Beschäftigung als Leiharbei-ter bedeuten mehr Teilhabe an der Gesellschaft alsgar kein Job.
Mit unseren Worten: Sozial ist, was Arbeit schafft. Wirhaben für viel Arbeit in Deutschland gesorgt.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/13104 und 17/13106 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Tagesordnungspunkt 7 c. Wir kommen zur Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Ausschussesfür Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/10220.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/8459 mit dem Titel„Erosion der Tarifvertragssysteme stoppen – Sicherungder Allgemeinverbindlichkeitsregelung von Tarifverträ-gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und derFraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/8148 mit dem Titel „Tarifsystem stabilisieren“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und derSPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/4437 mit dem Titel „Tarifvertragssystem stärken –Allgemeinverbindliche Tariflöhne und branchenspezifi-sche Mindestlöhne erleichtern“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die FraktionBündnis 90/Die Grünen und die Linke bei Enthaltungder SPD-Fraktion angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Stärkung der Innenentwicklung in denStädten und Gemeinden und weiteren Fortent-wicklung des Städtebaurechts– Drucksache 17/11468 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/13272 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter GötzHans-Joachim Hackerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Bettina Herlitzius, DanielaWagner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENBaugesetzbuch wirklich novellieren– Drucksachen 17/10846, 17/13272 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter GötzHans-Joachim HackerZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt jeein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29753
Vizepräsidentin Petra Pau
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und der FDP sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenvor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegePeter Götz für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die heu-tige Beratung freue ich mich ganz besonders. Die ge-plante Fortentwicklung des Bau- und Planungsrechts hateinen längeren Entwicklungsprozess hinter sich. AlsGrundlage für die Beratungen wurden mit sieben Ge-meinden Planspiele durchgeführt. Dies ist eine Praxis,die sich in der Vergangenheit, die sich seit Jahrzehntenbeim Städtebaurecht bewährt hat. In den letzten Wochenund Monaten gab es Zeitpunkte und Wegstrecken, beidenen Zweifel am möglichen Abschluss dieses Projektsaufkamen. Nun soll es aber gelingen. Es wäre ein tollerErfolg für viele, die daran intensiv gearbeitet haben.Ein gemeinsamer Änderungsantrag der Bundestags-fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zu einem Ge-setzentwurf der Bundesregierung ist nicht alltäglich unddeshalb besonders erwähnenswert.Beim Baugesetzbuch ist mir persönlich und vielenmeiner Kollegen daran gelegen, notwendige Änderun-gen auf eine breite politische Basis zu stellen. Denndiese Rechtsmaterie, über die wir heute abschließend be-raten, ist die wesentliche Grundlage für die kommunalePlanungshoheit in Deutschland.
In den Rathäusern arbeiten viele Tausend Menschenmit dem Baugesetzbuch. Es ist eines der wichtigsten Ge-setze, das fast alle ehrenamtlichen Gemeinde- oderStadträte studieren, wenn sie in ihren kommunalen Gre-mien über Bauvorhaben befinden. Für Investoren ist esebenfalls von großer Bedeutung.Die beste Grundlage für eine gute Zukunft von Städ-ten und Gemeinden ist eine nachhaltige Stadtentwick-lung. Wir wollen dafür noch bessere Voraussetzungenschaffen und der Innenentwicklung künftig verstärkt denVorrang vor der Zersiedelung des Umlandes geben. In-nenstädte und Ortszentren sollen wieder Kernbereich derStadtentwicklung werden. Sie bieten den Menschen Hei-mat. Urbanität, Attraktivität und Kultur stärken die Iden-tifikation. Um die Flächeninanspruchnahme im Außen-bereich zu reduzieren und eine Zersiedelung desUmlands zu vermeiden, soll die Bebauung von Wiesen,Äckern oder Waldflächen künftig stichhaltig begründetwerden.Mit diesem Gesetz sollen neben der Stärkung derInnenentwicklung kommunale Selbstverwaltung inDeutschland und kommunale Planungshoheit weiter ge-festigt und ausgebaut werden. Ich denke, dies ist in viel-fältiger Form gut gelungen. So können Kommunen wie-der rechtssicher Erschließungsverträge mit eigenenUnternehmen abschließen. Ein Investitionsstau in Mil-lionenhöhe wird damit aufgelöst.Kindertagesstätten sind künftig in angemessenerGröße in reinen Wohngebieten generell zulässig. DieAnzahl von Spielhallen und Vergnügungsstätten kannauch im nicht beplanten Innenbereich besser als bishergesteuert werden. Ferner wird – ich nenne zusätzlich nureines von vielen Beispielen – die Ausübung des gesetzli-chen Vorkaufsrechts der Gemeinde gegenüber Drittenvereinfacht. Dies beschleunigt auch Investitionen in denStädten und Gemeinden.Für den schwierigen Komplex der Schrottimmobilienhaben wir für die Kommunen eine bessere verfassungs-konforme Regelung gefunden. Verwahrloste Gebäudekönnen jetzt leichter rückgebaut werden. Dabei bekom-men die Kommunen auch die Möglichkeit, Eigentümerin begrenztem und vertretbarem Umfang finanziell amAbriss zu beteiligen. Für viele Städte mit problemati-schen Gebieten kann diese Neuregelung das hilfreicheInstrument sein, mit dem eine nachhaltige Aufwertungganzer Straßenzüge und Quartiere stattfinden kann. Dasist auch für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaftvon nicht zu unterschätzender Bedeutung.Für die Aktivitäten einer klimagerechten Stadterneue-rung werden ebenfalls unterstützende Änderungen vor-genommen. In einem Entschließungsantrag haben wirdie Anregungen aus dem Lebensmitteleinzelhandel auf-gegriffen, die Fragen einer qualifizierten Nahversorgungim Zusammenhang mit der ohnehin anstehenden Diskus-sion über eine grundsätzliche Neuordnung der Ge-bietstypologie der Baunutzungsverordnung zu untersu-chen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen sehr breitenRaum in der öffentlichen und auch internen Diskussionnahm die bestehende Privilegierung der Intensivtierhal-tung im Außenbereich ein. Die vorgenommenen Ände-rungen im Planungsrecht, bei der gewerblichen Tierhal-tung, werden zu einer Stärkung der kommunalenSelbstverwaltung und zu mehr Rechtssicherheit führen.Ab einer bestimmten Größenordnung entscheidet künf-tig der Gemeinderat einer Kommune darüber, ob und wodie Ansiedlung einer großen Tierhaltungsanlage möglichist. Uns war es wichtig, bei diesem sensiblen Thema eineeinvernehmliche Lösung zu entwickeln, die unserer hei-mischen Landwirtschaft den notwendigen Raum für eineWeiterentwicklung lässt. Wir haben es geschafft, überFraktionsgrenzen hinweg in vielen Einzelfragen guteKompromisse zu finden. Dieser wichtige Gesetzentwurfertrinkt somit nicht im parteipolitischen Kleinkrieg.Mein Dank geht – bei allen politischen Unterschieden –an den Kollegen Hans-Joachim Hacker für das in einerwahrlich nicht einfachen Gemengelage kollegiale undkonstruktive Miteinander.
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Peter Götz
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In diesen Dank schließe ich selbstverständlich die vielenKolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ein, die sichaus unterschiedlichen Bereichen im Rahmen dieses Ge-setzgebungsverfahrens engagiert und eingebracht haben.Ich bedanke mich aber auch bei den Kolleginnen der an-deren Fraktionen: bei Petra Müller, bei Bettina Herlitziusund bei Heidrun Bluhm. Sie haben maßgeblich dazu bei-getragen, dass wir heute mit einem überzeugenden Vo-tum des federführenden Ausschusses die Annahme desGesetzentwurfes mit den vereinbarten Veränderungenempfehlen. Ein besonderes Dankeschön sage ich ab-schließend Minister Peter Ramsauer und dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Enak Ferlemann für die kon-struktive Begleitung dieses parlamentarischenVerfahrens.
Ich bitte Sie, diesen Dank an die Mitarbeiter Ihres Minis-teriums weiterzuleiten. Ich weiß sehr wohl: Wir haben esIhnen in den letzten Monaten nicht immer leicht ge-macht.
Meine Damen und Herren, ein wichtiges innenpoliti-sches Gesetzgebungsverfahren findet heute einen gutenund erfolgreichen Abschluss. Ich empfehle deshalb un-eingeschränkte Zustimmung.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Hans-
Joachim Hacker das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Damen und Herren auf derZuschauertribüne! Liebe Kommunalpolitiker inDeutschland! Das ist heute ein guter Tag. Die heutigezweite und dritte Lesung der Baurechtsnovelle könntedie Überschrift tragen: „Ende gut, alles gut“. Die langeGeschichte der Novelle des Bauplanungsrechts, die unsdie ganze 17. Legislaturperiode begleitet hat, geht heutedem Ende entgegen.Herr Götz, ich stimme Ihnen völlig zu: Wir habeneine gute Tradition fortgesetzt, nämlich die, dass anzu-streben ist, Änderungen im Bauplanungsrecht fraktions-übergreifend zu beschließen, wie es in der Vergangenheitimmer dann der Fall war, wenn es vernünftige Kompro-misse gab. Nur dann ist das möglich. Ich denke, wir ha-ben in vielen Punkten gute Kompromisse gefunden. Aufeinzelne Beispiele komme ich noch zu sprechen.Hinter uns liegen 16 Monate eines zähen, harten Rin-gens. Daher möchte ich als Vertreter der Oppositionnoch ein paar kritische Anmerkungen machen – das istin diesem Prozess wohl auch berechtigt –, die aber viel-leicht eher als ein Appell an die Bundesregierung zu ver-stehen sind. Man hätte die SPD und die Opposition ins-gesamt bei diesen Themen eher einbinden können.Einen Streit hätten wir uns ersparen können, HerrMüller: In der Frage, wie weit wir an § 35 Abs. 1 Nr. 4BauGB herangehen, gab es im Hause Aigner eine Blo-ckadehaltung und unnötige Verzögerungen. Man hatteden Eindruck, dass da andere Interessen als die Interes-sen der Allgemeinheit im Blick waren. Wie sonst kames, dass ein Referentenentwurf, der schon in der Öffent-lichkeit war – er lag bei uns in den Fraktionen und beiden Verbänden auf dem Tisch –, innerhalb weniger Stun-den wieder einkassiert worden ist? Sie schmunzeln, HerrMüller: Sie wissen, wer da im Hintergrund gewirkt hat.Das wissen wir alle. Zum Glück kommen wir heute aufeinem guten Weg weiter.Ich will unterstreichen, was Kollege Götz gesagt hat:Die sachliche Grundlage für den Gesetzentwurf – des-wegen ist ein Großteil des Gesetzentwurfs unstreitig ge-wesen – ist in den sogenannten Berliner Gesprächen zumStädtebaurecht und in der Beteiligung der kommunalenSpitzenverbände zu sehen. Das war eine gute Grundlage,das war der richtige Weg – ein Weg, der sich in den letz-ten Jahren bewährt hat. Bei der nächsten Novelle – diesicherlich irgendwann kommen wird – sollte man diesePraxis wieder betreiben.Ich will aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion diePunkte ansprechen, die uns in den Beratungen ganzwichtig waren: Die Regelung zur Intensivtierhaltung warin dem Entwurf aus unserer Sicht nicht ausreichend.Auch bei der Regelung zu den Schrottimmobilien be-stand dringender Handlungsbedarf; über diese Thematikwaren wir mit den kommunalen Spitzenverbänden undmit den Ländern intensiv im Gespräch. Auch im Hin-blick auf Kinderbetreuungseinrichtungen waren Rege-lungen erforderlich.Zu Beginn dieser Legislaturperiode, Anfang 2010,habe ich einen Antrag in den Deutschen Bundestag ein-gebracht. Der Titel lautete: „Kinderlärm – Kein Grundzur Klage“. Die Koalitionsfraktionen haben diesen An-trag damals erwartungsgemäß abgelehnt. Nachdem wireine immissionsschutzrechtliche Regelung schon vorzwei Jahren getroffen haben, werden wir hierzu heuteauch eine baurechtliche Regelung treffen. Das hätten wirschon ein bisschen früher machen können.
Aber so ist das Spiel hier im Parlament: Das ist einDenkprozess. Auch in diesem Punkt sind wir nun auf ei-nem guten Weg.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29755
Hans-Joachim Hacker
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Es gibt noch ein paar kleine Kritikpunkte, auf die ichaber heute im Sinne der Sache nicht weiter eingehenmöchte.Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen undHerren, noch einige Punkte ganz konkret anzusprechen.Das, was wir heute beraten und wo ich empfehle, dassdem Änderungsantrag von CDU/CSU, SPD und FDPalle zustimmen – der Appell richtet sich vor allen Din-gen an Bündnis 90/Die Grünen und an die Linke –, istdas Ergebnis intensiver Verhandlungen.Ganz herzlichen Dank, Peter Götz, für Ihr konstrukti-ves Mitwirken! Die Zusammenarbeit mit den anderenKolleginnen und Kollegen war auch sehr vertrauensvoll.Ganz herzlichen Dank!
Herr Ramsauer, Sie haben die SPD in dieser Legisla-turperiode oft enttäuscht; aber hier haben Sie Stehver-mögen bewiesen gegen Frau Aigner. Das war gut so.Nehmen Sie das Lob ruhig an! Sie sehen, der Staatsse-kretär beglückwünscht Sie auch. Sie haben sich gegenFrau Aigner und gegen die Agrarlobby durchgesetzt; daswar richtig so. Ihren Mitarbeitern – Ihren Mitarbeiterin-nen natürlich auch –, die uns begleitet haben, gilt ebensoein herzliches Dankeschön. Das war ein kollegiales Ver-fahren, Herr Ferlemann. Wenn uns das in anderen Ver-fahren auch so begleiten würde, wäre das ein gutes Aus-hängeschild für den Parlamentarismus in Deutschland.
Die Problematik des § 35 Abs. 1 Nr. 4 – Anlagen zurgewerblichen Intensivtierhaltung im Außenbereich –war tatsächlich der Knackpunkt; das weiß jeder, der di-rekt oder indirekt damit zu tun hatte. Der Entwurf waraus unserer Sicht, wie gesagt, eingangs nicht ausrei-chend. Aber der Widerstand von Frau Aigner – wo mannicht wusste, ob sie sich auf die Seite des Verbraucher-schutzes oder auf die Seite der Lobbyverbände schlägt –ist überwunden worden. Im Außenbereich begrenzennun bereits die unteren Schwellwerte des UVP-Gesetzesden weiteren Zubau von Großställen; sie sind Grundlagefür die Entprivilegierung nach § 35 Abs. 1 Nr. 4, für dieDurchführung einer UVP-Prüfung – da kann man auchBeispiele nennen –: Bei Mastgeflügel ist jetzt statt bei85 000 Stellplätzen bei 30 000 Schluss, bei Puten – umnoch einmal ins Geflügelleben einzusteigen – statt bei60 000 jetzt bei 15 000. So war das auch ursprünglichvorgesehen. Wohlgemerkt, meine sehr verehrten Damenund Herren: Bis heute, nach bisherigem Recht, gab esüberhaupt keine Begrenzung.Wir haben auch für die Kumulierung eine Regelunggefunden, indem wir eine Anpassung an das Umweltver-träglichkeitsgesetz vorgenommen haben. Wir haben da-mit eine rundum abgestimmte Regelung gefunden, undes bestehen auch keine Brüche in der Bundesgesetz-gebung.
Es ist richtig, Peter Götz: Die Entscheidungsbefugnisbezüglich der entsprechenden Anlagen wird jetzt dorthindelegiert, wo sie hingehört, nämlich vor Ort. Die Kom-munalpolitiker bekommen jetzt die Entscheidungsbefug-nis, die ihnen zusteht. Auch deswegen ist das eine guteLösung.Eine gute Lösung haben wir auch bei den sogenann-ten Schrottimmobilien gefunden. Im Regierungsentwurfwar lediglich eine Ausdehnung auf die Gebiete ohne Be-bauungsplan und keine Kostentragungsregelung vorge-sehen. Es gab hier in der Expertenanhörung – es war gut,dass wir eine solche durchgeführt haben – unterschiedli-che verfassungsrechtliche Bewertungen dazu, wie wirdie Kostenproblematik in den Griff bekommen können.Am Ende wird jeder einen noch besseren Vorschlag ha-ben. Ich glaube aber, wir haben eine verfassungssichereLösung gefunden, einen guten Kompromiss: Die Kom-munen können die Eigentümer bis zur Höhe der durchdie Beseitigung der Immobilie erfolgten Wertsteigerungheranziehen. Das muss ein Grundstückseigentümer ge-gen sich gelten lassen, der eine Immobilie verfallen lässt.Das ist ein guter, verfassungsrechtlich sicherer Kompro-miss.Die städtebaulichen Verträge über Erschließungsmaß-nahmen waren ein ganz wichtiger Punkt für die Fraktio-nen – ich nenne hier einmal meine eigene, die SPD –,die ein starkes Herz für Kommunen haben. Viele SPD-Politiker sind in den Kommunen ehrenamtlich oder inFunktionen tätig.
Gerade eine Regelung zu diesem Punkt ist von denKommunen und den kommunalen Spitzenverbändendringend erwartet worden. Wir alle standen hier unter ei-nem moralischen Druck, eine Lösung zu finden. Eineentsprechende Klarstellung ist uns gelungen. Die kom-munalen Spitzenverbände, die Kommunen selber unddie Politiker haben dringend darauf gewartet. Jetzt kön-nen auch Kommunen städtebauliche Verträge über Er-schließungsleistungen mit juristischen Personen ab-schließen. Das ist eine wichtige Klarstellung, die in derVergangenheit durch die Rechtsprechung ein Stück weitausgehöhlt worden ist und unsicher war.
Auch das ist ein gutes Ergebnis.Ich hatte gesagt, die Summe der erreichten Kompro-misse lässt es zu, dass heute alle Fraktionen ihre Zustim-mung geben. Ein gutes Verhandlungsergebnis liegt aufdem Tisch. Deswegen richte ich meinen Appell nocheinmal insbesondere an Sie, Frau Herlitzius. Sie habenauch Vorschläge gemacht und Forderungen gestellt, dieim Änderungsantrag ihren Widerhall finden. Ich denkehier insbesondere an das Problem der gewerblichen In-tensivtierhaltung im Außenbereich auf Grundlage von§ 35 Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch. Wenn Sie, wie auchdie Linken, dem Änderungsantrag zustimmen und damitwichtige Punkte einer Regelung zuführen, dann könnenSie in der Konsequenz dem Gesetzentwurf doch nichtdie Zustimmung versagen.
Gleichwohl wird es keine Gegenstimmen zum Gesetz-entwurf geben.
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Hans-Joachim Hacker
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Auch das Medientheater, das von einigen Kollegen inden letzten Tagen über Agrarzeitungen schon veranstal-tet worden ist – vor allen Dingen von Kollegen, die amDiskussionsprozess gar nicht beteiligt waren –, muss unsnicht irritieren. Es gehört eben auch zum politischen Ge-schäft, Peter, dass man sich mit Lorbeeren schmückt, dieman selber nicht einmal gepflückt hat.
Es handelt sich insgesamt um eine gute Regelung.Der Kompromiss kann sowohl in den Kommunen alsauch bei den Vertretern des Verbraucher- und Tierschut-zes, aber auch – das sage ich nicht zuletzt, sondern dagehört es zuallererst hin – vor den Bürgerinnen und Bür-gern unseres Landes gut vertreten werden.Ich finde, dass die parlamentarischen Beratungen unddie Ergebnisse, die wir hier heute vorgelegt haben, guteBeispiele für die parlamentarische Arbeit im DeutschenBundestag sind: gegen engstirniges Denken, wo immeres aufgetreten ist, auch gegen die Interessen von Lobby-isten, die sich einmischen und versuchen, Parlamentarierzu vereinnahmen. Wenn dies die parlamentarische Ar-beit in diesem Hause stärker prägen würde, ohne damitpolitische Unterschiede zu verkleistern, dann würdenwir für unsere Arbeit noch ein Stück mehr Akzeptanz inder Gesellschaft finden.An die Bundesregierung richtet sich der Appell, HerrRamsauer, die Opposition ernst zu nehmen, uns immerfrühzeitig einzubinden und uns auf Fragen, die wir ha-ben, ordentliche Antworten zu geben.
Diese Antworten sind manchmal kritikwürdig; daskönnte ich Ihnen seitenweise belegen.Hier geht es um das Bauplanungsrecht. Wir habengute Gründe, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Fürmeine Fraktion sage ich: Wir sind ein Stück weit stolzauf das Erreichte, weil wir für bestimmte gesellschaftli-che Gruppen und für Kommunen ein gutes Ergebnis er-zielt haben. Noch einmal ganz herzlichen Dank all jenen,die an diesem Ergebnis mitgewirkt haben. Dir, PeterGötz, ganz herzlichen Dank für deine Mitwirkung. Duhast es in deiner eigenen Fraktion und mit der Landes-gruppe der CSU nicht einfach gehabt.
Herr Kollege.
Dafür meine Anerkennung und alles Gute!
Petra Müller hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit der heutigen Verabschiedung der zweiten Novelledes Baugesetzbuchs gehen wir einen großen und bedeu-tenden Schritt hin zu einem modernen, nachhaltigen undzukunftsorientierten Stadtbaurecht. Ich glaube, das istdie wichtige Botschaft des Tages. Ich will mit dieserRede aber nicht gleich schon enden, nachdem die Kolle-gen uns das bereits so ausführlich erklärt haben.Was ganz wichtig war – das möchte ich auch nocheinmal betonen –: Wir sind diesen Schritt gemeinsamgegangen. Wir haben Kompromisse geschlossen und Lö-sungen gefunden, und das nicht nur in diesem HohenHause, in den Ausschüssen, sondern auch in Gesprächenmit den Fachverbänden – auch das sei noch einmal er-wähnt –, mit der Wohnungswirtschaft, mit den Kommu-nalverbänden, mit den Ländern. Wir haben Planspiele inden Kommunen durchgeführt. Wir haben uns fraktions-übergreifend verständigt.Der Dank der FDP-Bundestagsfraktion geht dahererst einmal an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen hierin diesem Hohen Hause, an den Minister Dr. PeterRamsauer, an die Staatssekretäre, an die Vertreter derLänder, an die Verbandsvertreter und an die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter im BMVBS. Sie mussten für unsteilweise über das Wochenende neue Entwürfe erstellen.Nichtsdestotrotz: Wir haben 16 Monate gebraucht. Vie-len Dank Ihnen allen!
Ich denke, wir alle können mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf sehr zufrieden sein. Er stärkt die kommunaleSelbstverwaltung für die Städte und Gemeinden. Erschafft Rechtssicherheit in vielen Fragen – ich glaube,das ist ein ganz wichtiger Punkt – und, das freut die FDPbesonders, gibt ein wichtiges Signal an Investoren.In der Kürze der Zeit möchte ich einige Punkte he-rausgreifen, die uns besonders wichtig sind, aber zuvornicht vergessen, die Inhalte, die dieses Gesetz ausma-chen, und die damit verbundenen Ziele aufzugreifen: diePrivilegierung der Intensivtierhaltung im Außenbereich,die Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen– auch ein ganz wichtiger Punkt in diesem Gesetz –, dieRegelungen zur besseren Steuerung der Ansiedlung vonVergnügungsstätten durch die Kommunen – dazu gab esauch einmal einen Antrag der Grünen, nicht wahr? –, dieErweiterung der Vorkaufsrechte der Gemeinden zuguns-ten Dritter.Erlauben Sie mir, zu zwei Punkten zu kommen, dieich näher erklären möchte.Es gibt zum einen die Regelung für die sogenanntenSchrottimmobilien in § 179 Baugesetzbuch. Die Ände-rung dieser Vorschrift kommt vielen Händlern, Kaufleu-ten und Besitzern von Immobilien in Innenstädten zu-gute. Denn diese Schrottimmobilien verpesten ihrUmfeld. Sie entwerten dieses Umfeld. Der jetzt vorlie-gende Gesetzentwurf, über den wir nachher abstimmen,regelt das Rückbaugebot auch außerhalb eines Bebau-ungsplanes. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Er regelt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29757
Petra Müller
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aber noch etwas: Er regelt die finanzielle Beteiligung derImmobilienbesitzer. Denn wenn sie beim Rückbau einerSchrottimmobilie einen Gewinn machen, dann werdensie von den Kommunen künftig mit zur Kasse gebeten.Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch imHinblick auf die Eigenständigkeit der Städte und Ge-meinden.Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Lösung, dieich Ihnen gerade vorgestellt habe, ausdrücklich, weil sieim Gegensatz zum Vorschlag des Bundesrates verfas-sungstreu und gerecht ist.
Aber diese Regelung gibt den Kommunen noch mehr:Sie gibt ihnen Handlungsfähigkeit, sie entlastet sie fi-nanziell, wie ich eben ausgeführt habe, und sie sichertsie rechtlich ab. Das Ergebnis wird wachsende Attrakti-vität von Städten und Gemeinden sein. Das ist doch ge-nau das, was wir alle wollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Punkt:Mit der Änderung der Erhaltungssatzung in § 172BauGB stellen wir uns, die FDP-Bundestagsfraktion undauch die christlich-liberale Koalition, an die Seite derWohnungswirtschaft und der Immobilienbesitzer. Hiergeht es um die Erhaltung und die Sanierung von Immo-bilien. Regelungswut und moralische Entrüstung er-reichten ja in den letzten Monaten Höchststände; ichnenne die Stichworte „Luxussanierung“ und „Genehmi-gungsverbote“ und das Beispiel des Pankower Bürger-meisters, der eine Milieuschutzsatzung erlassen hat. Washat er damit erreicht?
– Das mag sein. – Er hat unter anderem erreicht, dassnicht energetisch saniert werden kann. Genau um diesenPunkt haben wir uns gekümmert. Es wurde ein Geneh-migungsanspruch geschaffen, der dem Vermieter er-laubt, bauliche Maßnahmen zu ergreifen, die dem Min-destmaß der EnEV entsprechen.
Damit wird einem sinnlosen Handeln einiger Bürger-meister nicht nur im Berliner Bereich der Riegel vorge-schoben. Ich glaube, auch dies ist eine ganz wichtigeBotschaft dieser Gesetzesnovelle.
Mit der im BauGB getroffenen Regelung haben wir ei-nem wichtigen Anliegen, der Stärkung der Innenstädte,Rechnung getragen.Ziel der schwarz-gelben Koalition war es auch, dieNeuinanspruchnahme von Flächen einzudämmen. Flä-chenverbrauch auf der grünen Wiese wird jetzt weitest-gehend vermieden. Auch dies ist ein wichtiger Punkt,der in diesem Gesetz gelungen ist.
Ich habe eben schon darauf hingewiesen: 16 MonateVerhandlungen. Das macht deutlich, dass wir es unsnicht leicht gemacht haben. Es macht aber auch deutlich,welch hohen Stellenwert dieses Baugesetzbuch frak-tionsübergreifend hat. Es ist eine gute Tradition – PeterGötz und Kollege Hacker haben es eben gesagt –, dassinsbesondere solche Regelungen für Städte und Gemein-den im Konsens getroffen werden, weil sie von großerWichtigkeit sind. Ich hoffe, dass diese Tradition bei dernächsten Baugesetzbuchnovelle, die natürlich erst inzehn Jahren kommen wird, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, auch weiterhin in diesem Haus Bestand haben wird.Ich danke allen Beteiligten und bedanke mich auchfür Ihre Aufmerksamkeit. – Vielen Dank.
Jetzt hat Heidrun Bluhm das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Baugesetzbuch ist die gesetzliche Grundlage für al-les, was in Deutschland geplant und gebaut wird. Es istnicht nur die Fibel für den planenden und bauenden Be-rufsstand sowie die Genehmigungsbehörden der Kom-munen, nein, was wir hier alles zu regeln haben, hat auchAuswirkungen auf das Leben der Menschen, also auchauf die Nutzer des Gebauten, sowie auf die Umwelt.Konkret untersetzt wird das Baugesetzbuch durchländerspezifische Landesbauordnungen, um den regio-nalen Besonderheiten an dieser Stelle auch gerecht zuwerden. Somit ist nicht nur der Bund, sondern sind auchdie einzelnen Bundesländer in besonderer Planungsver-antwortung für ihre Regionen. Die allgemeingültigenStandards aber für das Bauen werden durch das Bauge-setzbuch für alle vorgegeben. Diese Standards sind vonZeit zu Zeit zu überprüfen, sie sind den sich entwickeln-den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen.Das wollen wir mit der heute hier zu verabschiedendenNovelle erreichen.Dabei dürfen wir nicht nur den Wünschen derer nach-geben, die bauen wollen, sondern müssen auch immereine Güterabwägung hinsichtlich der Umwelt und derje-nigen vornehmen, die mit dem Gebauten täglich lebensollen und die auch ertragen müssen, was gebaut ist. Vorallem aber müssen wir die gesamtgesellschaftlichenZiele im Auge haben, auf die wir uns alle gemeinsammehrheitlich verständigt haben. Aus dieser Betrachtungheraus sagt auch die Linke: Ja, wir haben mit den vorlie-genden Änderungen des Baugesetzbuchs den notwendi-gen Änderungsbedarf erfasst.Herr Götz hat gestern im Ausschuss gesagt, Qualitätgehe vor Geschwindigkeit. Er hat damit gemeint, dass
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Heidrun Bluhm
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wir etwas länger gebraucht haben, um zu diesem ge-meinsamen Kompromiss zu kommen. Auch von mirdeshalb an dieser Stelle ein Lob für das Bemühen, dieOpposition auf den Weg zu dieser Novelle, zu diesemEntwurf, mitzunehmen. Umfangreicher kann ich wegender Redezeit meinen Dank nicht ausfallen lassen.
Ja, wir haben bei vielen Fragen einen Konsens gefun-den, so zum Beispiel beim Vorrang der Innenentwick-lung vor der Bebauung des Außenbereichs.Wir haben den Kommunen einen Umgang mit soge-nannten Schrottimmobilien ermöglicht, ihnen die bau-rechtliche Planungskompetenz erleichtert und vor allemstrittige Paragrafen so konkretisiert, dass sie jetzt nichtmehr vor Gericht ausgeurteilt werden müssen. Auch dielängst überfällige Klärung zum Bau und zu dem Betriebvon Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten ist hierschon angesprochen worden. Auch dieser Punkt ist inder Vorlage aufgegriffen worden; das loben wir.Was aber eine wirklich revolutionäre Leistung dieserNovelle des Baugesetzbuches für uns ist, ist, dass wir ex-plizit die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichenin einer ganz neuen Qualität festgeschrieben haben. Dasist etwas Neues. Das ist sicherlich für uns alle ein wichti-ger Moment.
Selbst auf die vieldiskutierte Frage nach Ausmaß undGröße industrieller Tierhaltung wird mit dieser Novelleeine Antwort in die richtige Richtung gewiesen, wennauch die Massentierhaltung in Deutschland damit nochnicht vom Tisch ist. Diesem Vorschlag hat sogar derLandwirtschaftsausschuss zugestimmt.Noch einmal zu Herrn Götz. Er hat sich bei allenFraktionen für den gefundenen Konsens bedankt. Dazusage ich: Bitte schön, Herr Götz, das ist gern geschehen.Ich sage aber auch: Wir haben zu vielen Fragen einenKonsens gefunden, weil sich alle bewegt haben. Leiderist Ihnen das in einer für uns sehr wichtigen und wesent-lichen Frage nicht gelungen. Deshalb können wir uns beider heutigen Abstimmung über die Novelle leider nurder Stimme enthalten.
Mit unserem Antrag „Barrierefreies Bauen im Bauge-setzbuch verbindlich regeln“ haben wir seinerzeit bean-tragt, die von Deutschland unterzeichnete UN-Konven-tion zur Inklusion von Menschen mit Behinderungenauch im Baugesetzbuch sicherzustellen. Diesen Antraghaben Sie abgelehnt; das sind wir allerdings gewohnt.Aber Sie hätten jetzt bei der vorliegenden Novelle dieGelegenheit gehabt, diese selbstverpflichtende Konven-tion aufzunehmen. Mit dem Hinweis, dass das in denLandesbauordnungen geregelt werden kann, haben Sieunsere Bitte abgetan. Damit entziehen Sie sich leider derVerwirklichung des Grundrechts auf Barrierefreiheit aufBundesebene und überlassen das dem Ermessen derLänder.Sie entziehen sich der Verpflichtung, die Rechte undBelange älterer Menschen und von Menschen mit Behin-derung in angemessener Weise zu sichern, und bleibenihnen damit gleichberechtigte Teilhabe deutschlandweitschuldig. Sie entziehen sich der Pflicht, bei Bau- undInfrastrukturvorhaben deren Barrierefreiheit oder Barrie-rearmut sicherzustellen, und schließen somit einenwachsenden Teil unserer Menschen aus. Diese Men-schen teilhaben zu lassen, ist jedoch grundlegende Auf-gabe eines Sozialstaates. Das haben Sie verpasst – leider.
Aber bei der nächsten Novelle – Frau Müller, da wider-spreche ich Ihnen; sie wird nicht zehn Jahre dauern –werden wir dieses Ziel weiter verfolgen.
Für die Bundesregierung spricht der BundesministerDr. Peter Ramsauer.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich persönlich könnte beinahe sagen: Das istfür mich heute eine wirkliche Wohlfühldebatte,
wie sie selten vorkommt. Ich kann mich kaum an eine sol-che Debatte in meinen 23 Jahren im Deutschen Bundestagerinnern. Dazu gehört auch die Feststellung, lieber HerrKollege Hacker – das ist quasi eine Selbstverpflichtungfür uns –, dass wir seitens der Bundesregierung natürlichalle Ihre Fragen immer vollumfänglich beantworten wer-den,
sofern Ihre Fragen zur Beantwortung geeignet sind.
Meine Damen und Herren, es geht uns im Kern beidiesem Gesetz, wie es der Titel des Gesetzes auch be-sagt, um die Stärkung der Innenentwicklung unsererStädte und Gemeinden. In Anbetracht der kommunalenEntwicklung in ganz Deutschland – das kann ich aus jah-relanger Erfahrung in der Kommunalpolitik sagen – so-wie dessen, was sich in den letzten zehn Jahren im Au-ßenbereich getan hat, müssen wir alles dafür tun, dasssich unsere Ortskerne strukturell so entwickeln, dassauch das soziale Herz, das kulturelle Herz eines Ortes iminnerörtlichen Bereich weiter schlagen kann, sich hieralso das wirkliche Leben eines Ortes abspielen kann;
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Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
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denn das soziale und kulturelle Leben sowie Geschäftig-keit und Lebendigkeit eines Ortes kann man nicht an Au-tobahnausfahrten oder auf die grüne Wiese verlagern.Das ist ein wichtiges Kernanliegen.
Der Kollege Franz-Josef Holzenkamp wird gleichnoch die Punkte im Detail beleuchten, die die Landwirt-schaft betreffen. Nur so viel: Wir haben auch zwei wich-tige Anliegen der Landwirtschaft aufgegriffen. So sindwir der in immer stärkerem Maße erhobenen Forderungdes Deutschen Bauernverbandes nachgekommen, denzusätzlichen Flächenverbrauch außerhalb der Orte, alsodie vielen Hektar, die täglich in unterschiedlicher Weisein Anspruch genommen werden, zu reduzieren, indemwir den Kommunen mehr Möglichkeiten der baulichenGestaltung der Innenstädte – ich nenne als Stichworte„Schrottimmobilien“ und „Verdichtung“ – gegeben ha-ben.Als ich als 24-Jähriger zum ersten Mal in den Stadtratmeiner Heimatstadt gewählt wurde, habe ich mir schondamals gedacht, welch fürchterliche Hürden und Hinder-nisse beim flexiblen Bauen im Außenbereich das Bau-recht für die insbesondere für landwirtschaftliche Fami-lien existenzielle Entwicklung bereithält. Ich war immerüberzeugt: Wenn wir den Strukturwandel in der Land-wirtschaft zulassen und ihn den landwirtschaftlichen Fa-milien – so weit gehe ich mit meiner Aussage – zumu-ten, dann müssen wir diesen Familien aber auch imlandeskulturellen Interesse die baurechtlichen Möglich-keiten geben, ihre landwirtschaftlichen Anwesen ordent-lich zu erhalten und ihre familiären Existenzen zusichern.
Das bedeutet oft, eine Umnutzung zur Existenzerhaltungzu ermöglichen. Genau diesen Weg gehen wir. InZukunft werden wir es erleichtern, landwirtschaftlicheAnwesen anders zu nutzen, wenn in etwa die Kubaturund das Äußere eines Gehöfts erhalten bleiben; dennlandwirtschaftliche Anwesen prägen das Gesicht unseresLandes und sind identitätsstiftendes Merkmal unsererdeutschen Kulturlandschaften in all ihren Ausprägun-gen.
Nachdem der Kollege Peter Götz zu erkennen gege-ben hat, dass er dem nächsten Deutschen Bundestagnicht mehr angehören wird, dir, lieber Peter Götz, vonmir persönlich und auch im Namen der Bundesregierungein herzliches Dankeschön oder – wie wir im Süden sa-gen – „Vergelt’s Gott“ für deine großartige Arbeit.
Ich kann mich gut erinnern: Als wir vor 23 Jahren ge-meinsam in den Deutschen Bundestag einzogen, warstdu schon das kommunalpolitische und baurechtlicheHerz und Gewissen unserer Fraktion. Dass wir heute inzweiter und dritter Lesung dieses schwierige Werk überalle Fraktionsgrenzen hinweg abschließen können, istneben dem Verdienst der bereits Genannten vor allenDingen dein großartiges Verdienst. Dafür herzlichenDank.
Das Wort hat jetzt Bettina Herlitzius für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Sie kennen mich auch schon ein paar Jahre. Inso-fern erwarten Sie, glaube ich, jetzt von mir nicht, dassich in diesen schwarz-rot-gelben Honeymoon ein-stimme.
Ich muss leider noch einmal ein Jahr zurückblicken. Vorgut einem Jahr haben Sie uns einen Gesetzentwurf zumBaugesetzbuch vorgelegt, der wirklich grottenschlechtwar.
Wir haben damals lange darüber debattiert. Seitdem istsehr viel Zeit vergangen. Je näher wir aber der Bundes-tagswahl kommen, desto mehr wird Ihnen klar, dass Siemit einem solch schlechten Gesetzentwurf nicht an dieÖffentlichkeit gehen können.Auf unser Drängen und unsere guten Anträge hin ha-ben Sie in einigen Punkten nachgebessert.
Jetzt gibt es endlich eine Klarstellung zur Zulässigkeitvon Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten.
Auch sollen nun die Besitzer an den Kosten für den Ab-riss von Schrottimmobilien beteiligt werden. Das warvor einem halben Jahr für die FDP noch undenkbar.
Zur Massentierhaltung hatte der Kabinettsentwurfeine reine Augenwischerei vorgesehen. Mit dem aktuel-len Änderungsantrag wird nun erstmals ein wirkungsvol-ler Ansatz gewählt. Doch der Durchbruch ist das nochlange nicht.
Den Durchbruch würden Sie erreichen, wenn Sie unse-rem entsprechenden Entschließungsantrag zustimmenwürden. Darin wird deutlich, was wichtig ist und woraufes ankommt. Unter dem falschen Deckmantel der bäuer-lichen Landwirtschaft bleiben weiterhin zahlreicheRiesenställe in Mecklenburg und in Brandenburg privi-
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Bettina Herlitzius
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legiert. Die Haltung von 85 000 Hähnchen in einem Stallist nach wie vor möglich. Unter bäuerlicher Landwirt-schaft verstehen wir Grüne etwas anderes, Herr Minister.
Wir haben heute schon viel Lob über das Verfahrengehört. Sie sind stolz auf die Beteiligung der Kommunenim Planspiel und die umfangreiche Verbändeanhörung.Doch echte Beteiligung sieht anders aus, Herr Götz, FrauMüller.
Beteiligen ist nicht nur einladen. Zum Beteiligen gehörtauch das Zuhören. Haben Sie die Proteste der Verbändegegen den Ersatzneubau im Außenbereich wahrgenom-men?
Alles das, was der Herr Minister gerade als identitätsstif-tende Baukultur bezeichnet hat, haben die Verbände ab-gelehnt.
Vom Bundesrat über den Naturschutzbund bis hin zumBauernverband – selten waren sich Experten bei einemThema im Baugesetzbuch so einig: Der Ersatzneubau imAußenbereich, den Sie vorschlagen, fördert die Zersied-lung; der Ersatzneubau im Außenbereich gefährdet er-haltenswerte Bausubstanz, die identitätsstiftende Bau-kultur kann zerstört werden; und der Ersatzneubau imAußenbereich ist ein Privatwunsch des Ministers, einGeschenk an seinen Wahlkreis.
Eine solche privat motivierte Gesetzesänderung habe ichhier in diesem Hause noch nicht erlebt.
So etwas hat in der Baugesetzbuchnovelle nichts zu su-chen. Das sind politische Geschenke, die uns alle in Ver-ruf bringen. Die Neuregelung zum Ersatzneubau gehörtersatzlos gestrichen.
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir demGesetz nicht zustimmen. Es bleiben zu viele Punkte of-fen. Mit der Novelle wird eine große Chance vertan. DieGemeinden brauchen dringend Instrumente zur qualitati-ven Innenentwicklung. Dazu müssen Mietobergrenzen– ich erinnere an die Debatte hier in Berlin – für Sanie-rungs- und Milieuschutzgebiete wieder zugelassen wer-den. Damit können Bewohner vor Verdrängung aus ih-rem Stadtviertel geschützt werden. Das ist ein richtiger,ein wichtiger Baustein für eine attraktive Städte- undGemeindepolitik.In der letzten Baugesetzbuchnovelle haben Sie ur-sprünglich ein bemerkenswertes Instrument vorgeschla-gen: Sanierungsgebiete für den Klimaschutz. Das ist einso grünes Instrument, grüner geht es gar nicht. Damitkönnte man die neuen Instrumente der Bundesförderungund die bewährten Instrumente der Städtebauförderunggemeinsam für einen sinnvollen Klimaschutz in denKommunen verwenden. Dieser Ansatz war sehr innova-tiv, aber Sie haben ihn buchstäblich in letzter Minute aufDrängen der Lobbyisten wieder zurückgezogen.
Wer macht bei Ihnen eigentlich die Politik? Haus &Grund?
Dabei brauchen die Kommunen bei der energetischenNeuausrichtung unserer Städte und Gemeinden dringendunsere Unterstützung. Aber Sie lassen sie im Städtebau-recht im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen.Ein weiteres Thema, das Sie in Ihrem Koalitionsver-trag groß angekündigt haben, ist die Baunutzungsverord-nung. Aber daraus ist nichts geworden. Papier ist gedul-dig, auch das Papier von Koalitionsverträgen. Das, wasSie uns vorlegen, ist Stückwerk. Sie fordern eine Studiezum Einzelhandel. Dabei wird das der Thematik nichtgerecht. Damit beruhigen Sie höchstens die Einzelhan-delslobby. Doch die Debatte zur Baunutzungsverord-nung darf nicht auf diesen Teilaspekt reduziert werden.Wir brauchen eine zeitgemäße Baunutzungsverordnung,die nicht mehr auf den Leitbildern der 60er-Jahre beruht.
Insgesamt sind wir von der Novelle enttäuscht. Beider Innenentwicklung der Städte und beim Schutz derkleinen Städte und Gemeinden vor Agrarfabriken gibt esnoch viel zu tun.Auch wenn Sie mit Ihrem Änderungsantrag –
Frau Kollegin.
– einen Satz noch? –, den wir unterstützen, einiges
korrigiert haben, so haben Sie mit dieser Novelle – wie
bei vielen anderen Novellen, die Sie in letzter Zeit vor-
gelegt haben – eine Chance einfach verstreichen lassen.
Frau Kollegin.
Nachhaltige grüne Stadtpolitik sieht anders aus.
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Bettina Herlitzius
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Franz-Josef Holzenkamp.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch für michist die heutige Debatte ein absolut freudiger Anlass. Esgeht richtig friedlich und sachlich zu. Das ist nicht unbe-dingt Tagesgeschäft. Ich freue mich insbesondere des-halb, weil es gelungen ist – trotz Vorwahlkampfzeit,wenn man das so sagen darf –, die gute Tradition, eineNovellierung im großen Konsens durchzuführen – diewir gerade beim Baugesetz immer gepflegt haben –,fortzusetzen. Das ist gut für unser Land, das ist gut fürdie Planungssicherheit vor Ort, sorgt für mehr Gestal-tungsfreiheit für unsere Kommunen und letztlich auchfür mehr Investitionssicherheit für unsere Wirtschaft.Auch von mir ein herzliches Dankeschön an alleBeteiligten, an alle Berichterstatter, an alle, die da mit-gewirkt haben – insbesondere an das Ministerium, anBundesminister Peter Ramsauer, aber auch an EnakFerlemann als Staatssekretär. Herr Bundesminister, Siesind heute ja fast schon seliggesprochen worden,
aber in diesem Fall haben Sie es auch wirklich verdient,oder?
Das meine ich jedenfalls.Die Landwirtschaft ist von dieser Novelle in besonde-rem Maße betroffen. Deshalb möchte ich auf ein paarPunkte eingehen.Zunächst einmal möchte ich kurz etwas zum ThemaFlächenverbrauch sagen. Peter Ramsauer hat das ange-sprochen: Wir verbrauchen in Deutschland immer noch80 bis 90 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche proTag. Unser Ziel ist es, den Flächenverbrauch zu reduzie-ren.
Um dies hinzubekommen, bedarf es vieler Stellschrau-ben. Eine Stellschraube nutzen wir mit dem Baugesetz-buch, weil wir die Kommunen verpflichten, genauer zuprüfen, ob zunächst nicht Flächen innerhalb der Kom-mune – Stichwort „Innenentwicklung“ – bebaut werdenkönnen, bevor man in den Außenbereich geht.Des Weiteren müssen die Kommunen künftig dieagrarstrukturellen Belange bei den Kompensationsmaß-nahmen stärker berücksichtigen.Zusammenfassend kann man also sagen: Innenent-wicklung vor Außenentwicklung. Das ist der richtigeWeg, vor allen Dingen angesichts der demografischenEntwicklung in unserem Land.
Damit ist das Flächenproblem natürlich noch nichtkomplett gelöst – das ist richtig –, aber es ist ein guterSchritt nach vorn.Ein Hinweis ist mir noch wichtig, weil ich manchmaldarauf angesprochen werde oder es mir vorgehaltenwird: Dies ist nicht gegen den Naturschutz gerichtet,sondern wir wollen den Naturschutz qualitativ verbes-sern. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten – insbeson-dere mit Geldersatzleistungen.Ich will auch noch einmal das Thema Umnutzungenunterstreichen. Peter Ramsauer hat auch das angespro-chen, und ich bin dem Minister sehr dankbar dafür, dasser sich hier eingesetzt und engagiert hat. Wir können beidem stattfindenden Strukturwandel im ländlichen Raummehr machen. Das bedeutet mehr Erhalt von Gebäude-substanz und mehr Vielfalt im ländlichen Raum. Das istgut für den Erhalt unserer Dörfer.
Bei den Biogasanlagen haben wir mehr Flexibilisie-rung ermöglicht. Künftig kann, und zwar ohne Über-schreitung der zulässigen Jahresmenge, der Strom dannproduziert werden, wenn er tatsächlich gebraucht wird.Das ist wieder ein kleiner Schritt in Richtung mehr Effi-zienz, und deshalb ist es ein guter Schritt.Meine Damen und Herren, ich will auch auf dasThema Privilegierung eingehen. Um es vorwegzuneh-men: Ich denke, es ist gelungen, einen vernünftigenKompromiss zu finden. Einerseits haben die Kommunenmehr Steuerungsmöglichkeit. Sie können künftig einfa-cher entscheiden, ob größere Ställe zu den örtlichenStrukturen passen oder nicht. Andererseits geht es darum– das ist uns im Sinne der Landwirtschaft ein besonderesAnliegen –, dass man kleine, flächenarme Betriebeschützt.Jetzt komme ich zu Ihrem Entschließungsantrag. Ichfinde, Sie müssen neu überlegen; da sollten Sie noch ein-mal tiefer einsteigen.Voraussetzung für eine Privilegierung soll sein – dasschlagen Sie beispielsweise vor –: 50 Prozent des Futtersmuss selbst angebaut worden sein. Das klingt wunder-bar. Aber ein Landwirt kann das Futter dann beispiels-weise nicht mehr vom Nachbarn kaufen; er muss esselbst anbauen.
Was bedeutet dieser Zwang gerade für kleinere, flä-chenärmere Betriebe? Sie verlieren ihren Schutz, ihrePrivilegierung. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nichtzu Ende gedacht. Wenn man das weiterspinnt, führt daszum Schluss zurück zum Großgrundbesitzertum. Ich
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29762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Franz-Josef Holzenkamp
(C)
(B)
denke, wir alle wollen eine solche Entwicklung in unse-rem Land nicht.
Was passiert, wenn dem kleineren Landwirt einePachtfläche gekündigt wird? Der Pachtanteil in Deutsch-land beträgt bis zu 70 Prozent; es ist also ein sehr hoherPachtanteil. Wenn Pachtflächen gekündigt werden, ver-liert der Landwirt seine Privilegierung, und dann fällt erauch als kleinerer Landwirt automatisch in die Gewerb-lichkeit.Da wollen wir einen Schutz erreichen. Deshalb habenwir diesen Kompromiss gemacht. Das war eine langeDiskussion.Wir wollen den Strukturwandel nicht zusätzlich an-feuern. Sie haben die Megaställe insbesondere in Ost-deutschland angeführt.
Herr Kollege.
Auch heute gibt es da schon Steuerungsmöglichkei-
ten. Ich kenne das aus meiner Region, wo schon seit
über zehn Jahren gesteuert wird. Wenn man will, dann
geht das, meine Damen und Herren. Wir haben ein gutes
Verhandlungsergebnis erzielt.
Herr Kollege.
„Kompromiss“ heißt „Es bewegen sich alle“. Es ha-
ben sich alle bewegt. Vielen Dank dafür! Ich bitte um
breite Zustimmung.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkungder Innenentwicklung in den Städten und Gemeindenund weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts.Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/13272, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 17/11468 in derAusschussfassung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen will, der möge dasmit dem Handzeichen deklarieren. – Die Gegenstim-men? – Die Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-wurf in zweiter Beratung angenommen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen; alle übrigen haben zugestimmt.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen will, möge sich bitte erheben. – Die Gegenstim-men? – Die Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist indritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältniswie vorher angenommen.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Ent-schließungsanträge.Zunächst Abstimmung über den Entschließungsan-trag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP aufDrucksache 17/13281. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und Linke angenommen. Gegenstimmen gabes keine. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sichenthalten.Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/13282. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Die Gegenstimmen? – DieEnthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linkehaben zugestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/13272 fort.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10846mit dem Titel „Baugesetzbuch wirklich novellieren“.Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Die Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-fraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen unddie Linke gestimmt. Die SPD-Fraktion hat sich enthal-ten.Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c so-wie Zusatzpunkt 8 auf:9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesBrugger, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine bewaffneten Drohnen für die Bundes-wehr – Internationale Rüstungskontrolle vonbewaffneten unbemannten Systemen voran-bringen– Drucksache 17/13235 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten AgnesBrugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDie Beschaffung unbemannter Systemeüberprüfen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29763
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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– zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäfts-
ordnungTechnikfolgenabschätzung
Stand und Perspektiven der militärischenNutzung unbemannter Systeme– Drucksachen 17/9414, 17/6904, 17/11083 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Reinhard BrandlDr. Hans-Peter BartelsRainer ErdelPaul Schäfer Agnes Bruggerc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Schäfer , Wolfgang Gehrcke, Jan vanAken, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKeine Beschaffung bewaffneter Drohnen fürdie Bundeswehr– Drucksachen 17/12437, 17/12725 –Berichterstattung:Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck Rainer ArnoldRainer ErdelPaul Schäfer Agnes BruggerZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDFür eine umfassende Debatte zum ThemaKampfdrohnen– Drucksache 17/13192 –Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. –Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wirso.Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Brugger fürBündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ver-teidigungsausschuss hat gemeinsam ein Gutachten zu„Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung un-bemannter Systeme“ initiiert. Die Gutachter kamen zudem Ergebnis, dass wesentliche ethische, menschen- undvölkerrechtliche Fragen in Bezug auf den Einsatz be-waffneter unbemannter Systeme zu prüfen und zu disku-tieren sind. Diese Schlussfolgerungen haben wir in unse-rem ersten Antrag vom April 2012 aufgegriffen. In denAusschussberatungen haben Sie, meine Damen und Her-ren von der Koalition, sehr deutlich gemacht, dass Siediese Prüfung nicht wollen. Das halten wir für falsch.
Ein Aspekt, der bisher in der Diskussion um bewaffneteDrohnen zu kurz kommt, ist die absehbare technologischeEntwicklung. Viele Experten halten eine zunehmende Au-tomatisierung dieser Systeme für zwangsläufig. Die De-batte aus den Militärkreisen in den USA weist auch ge-nau in diese Richtung. Deshalb müssen wir in weiserVoraussicht dafür sorgen, dass die Entscheidung überden Einsatz militärischer Gewalt beim Menschen ver-bleibt und nicht auf ein autonom agierendes Systemübertragen wird. Wir müssen uns auf internationalerEbene für die Ächtung autonomer bewaffneter Systemeeinsetzen.
Auch im Hinblick auf diese erschreckende Vorstel-lung, dass bald Programme und nicht Menschen überden Einsatz von Waffengewalt entscheiden, wäre eindeutscher Einstieg in die bewaffnete Drohnentechnolo-gie alles andere als unproblematisch.Aber auch die jetzt verfügbaren bewaffneten Drohnensind nicht einfach eine Variante eines bereits bestehen-den Systems. Bewaffnete Drohnen stellen eine technolo-gische Entwicklung dar, die den Einsatz militärischerGewalt und die Kriegsführung ganz erheblich verändert.Das hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die politi-schen Entscheidungen über ihren Einsatz. Mit der An-sicht, es würde keine Rolle spielen, ob wir über die Ent-sendung von Soldaten oder von Maschinen abstimmen,macht man es sich zu leicht. Dort, wo bewaffnete Droh-nen heute mehrheitlich eingesetzt werden, nämlich fürdie sogenannten gezielten Tötungen durch die USA, er-leben wir doch gerade eine Aushöhlung des Völker- undMenschenrechts.
In einer Untersuchung dieser höchstumstrittenen Pra-xis kommt der UN-Sonderberichterstatter Alston zu demErgebnis, dass zwischen der Technologie und der Ent-scheidung über die gezielten Tötungen ein Zusammenhangbesteht. Die Möglichkeit des risikoärmeren Tötens verleitepolitische Entscheider, die rechtlichen Regelungen überden Einsatz militärischer Gewalt zu weit auszulegen. Mitanderen Worten: Die Verfügbarkeit bewaffneter Drohnenbefördert das Risiko, dass die Hemmschwelle zum Ein-satz von militärischer Gewalt sinkt. Das sollte und darfman nicht einfach ignorieren.
Die Behauptung, das könne uns mit unserer Traditionder demokratischen Kontrolle nicht passieren, ist leicht-gläubig. Oder wollen Sie behaupten, politische Kontrollesei den USA fremd? Natürlich wäre die Beschaffung be-waffneter Drohnen für die Bundeswehr auch ein Signalfür andere Staaten. Wir müssen doch nicht erst in die Ge-schichtsbücher schauen, um uns klarzumachen: Wennman sich nicht rechtzeitig um Regelungen und Begren-zungen für eine neue Waffentechnologie bemüht, son-
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Agnes Brugger
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dern dieser blind hinterherrennt, dann feuert man dengleichen Beschaffungsdrang auch bei anderen an. DieGefahr eines neuen Rüstungswettlaufs, die Gefahr einerneuen Aufrüstungsspirale, ist deshalb nicht kleinzure-den, sondern ernst zu nehmen.
Mit diesen und weiteren Fragen haben wir Grüne unssehr intensiv auseinandergesetzt. Ein Mitglied derUnionsfraktion ließ dagegen Ende März verlauten, dassaus den eigenen Reihen niemand mehr auf eine Ent-scheidung vor den Wahlen drängen werde. Dieser ano-nyme Abgeordnete ließ sich bei tagesschau.de mit denWorten zitieren: „Das würde uns“ – also der Union – „imWahlkampf auf die Füße fallen“; das Thema sei wegender völkerrechtlichen Diskussion emotional zu stark be-setzt.Wenig später erschien die Ankündigung de Maizièresin den Medien, dass eine Entscheidung erst nach derBundestagswahl fallen werde. Meine Damen und Her-ren, das ist doch nichts anderes als ein durchsichtigesWahlkampfmanöver.
Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen desDrohneneinsatzes, nicht zuletzt durch die USA, mit denRisiken einer neuen Aufrüstungsdynamik, mit dem Risikoder Automatisierung und der sinkenden Hemmschwellebei der Entscheidung über den Einsatz von militärischerGewalt lässt für uns Grüne nur einen Schluss zu. Mit un-serem zweiten Antrag fordern wir deshalb, auf die Be-schaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr zuverzichten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Florian Hahn für die CDU/
CSU-Fraktion.
Das ist nicht demokratisch, was Sie hier auf der Besu-
chertribüne tun. Setzen Sie sich bitte hin, und folgen Sie
einfach der Diskussion.
Ich bitte Sie, die Besuchertribüne zu verlassen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wie bereits vor einigen Wochen diskutierenwir auch heute das Thema „Kampfdrohnen für die Bun-deswehr“. Anlass ist übrigens nicht eine konkrete Be-schaffungsanfrage der Bundeswehr, sondern sind zweiAnträge, einer von der SPD und einer von den Grünen.In beiden Anträgen finden Sie die Forderung, dass einegesellschaftliche Debatte zum Thema Kampfdrohnengeführt werden muss. Da kann ich nur sagen: HerzlichenGlückwunsch! Wie immer radeln Sie der Regierung hin-terher; denn diese Debatte läuft bereits. Es war der Ver-teidigungsminister de Maizière, der schon vor Monatendiese Debatte eröffnet hat. Damals wurde er übrigensauch von Ihnen kritisiert. Weil inzwischen auch Sie dieDebatte wollen, sollten Sie ihm heute danken, dass erdiese in Gang gebracht hat.Der Unterschied zwischen den Anträgen ist, dass dieSPD auf der einen Seite tatsächlich ein Für und ein Wi-der diskutieren möchte, während die Grünen auf der an-deren Seite eine Debatte führen wollen, in der nur dieGründe für ein Nein diskutiert werden sollen.
Das sieht man an der Überschrift „Keine bewaffnetenDrohnen für die Bundeswehr“. Das sieht man im Text ander Formulierung, dass es „eine breite Debatte über diedamit verbundenen Risiken geben“ muss. Typisch fürdie Grünen!
Sie machen sich nicht einmal die Mühe, die Chancenund die Möglichkeiten zu beleuchten. Durch ein Auflis-ten von vermeintlichen Gefahren, von zum Teil konstru-ierten oder nichtexistenten Risiken versuchen Sie, denTeufel an die Regierungswand zu malen. „Hauptsacheverhindern“ ist auch bei dieser Debatte einmal mehr IhrMotto.
Natürlich gibt es wie bei jedem Waffensystem Nach-teile. Die wollen wir auch nicht unter den Teppich keh-ren.
Unter bestimmten Umständen Gewalt gegen andere ein-setzen zu müssen, muss immer völkerrechtlich legiti-miert und ethisch abgewogen sein.
Ich fordere Sie nur auf, Herr Ströbele, diese Debattesachlich zu führen. Es geht nicht darum, ob wir in Zu-kunft an völkerrechtswidrigen Einsätzen teilnehmenoder nicht. Um Völkerrecht zu brechen, brauchen Siekeine Drohne. Jedes Waffensystem kann völkerrechts-widrig eingesetzt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29765
Florian Hahn
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Es geht auch nicht um einen Einsatz von vollautoma-tisierten Systemen, die völlig autonom agieren, bei de-nen die Software die Entscheidung trifft, wann oder wogeschossen wird. Unterlassen Sie diese Täuschungsver-suche! Lassen Sie uns sachlich über dieses Thema disku-tieren.
– Ja, ich beginne damit. – Ein Argument ist Ihr Vorwurf,mit einer Beschaffung von Kampfdrohnen würdeDeutschland eine Rüstungsspirale lostreten.
Da muss ich Ihnen ehrlich sagen: Das ist ein bisschennaiv;
denn die weltweite Entwicklung und Produktion läuftbereits. Wir müssen uns tatsächlich die Frage stellen, obwir diese Technologie in Europa selbst beherrschen oderob wir uns im Zweifel von anderen abhängig machenwollen.
Ein anderer Vorwurf von Ihnen: Kampfdrohnen sor-gen dafür, dass die Hemmschwelle zum Einsatz militä-rischer Gewalt bei unseren Soldaten sinkt. – Schon heutesteht der Soldat meistens nicht mehr Face to Face seinemGegner gegenüber. Schon heute ist meistens ein Bild-schirm dazwischen. Ich sehe nicht, dass dies dazu ge-führt hat, dass unsere Soldaten verantwortungslos han-deln. Im Gegenteil: Unsere Soldaten machen in denEinsätzen einen sehr verantwortungsbewussten Job. Da-ran wird eine Drohne nichts ändern. Hören Sie auf, un-sere Soldaten in ein so schlechtes Licht zu stellen! Dashaben sie wirklich nicht verdient.
Ihr nächster Vorwurf lautet – auch meine Vorrednerinhat ihn ins Feld geführt –,
dass die Zurückhaltung bei politischen Entscheidungenüber Militäreinsätze durch den Einsatz von Drohnen auf-geweicht werden könnte, sprich: Wir könnten im Bun-destag leichtfertiger über Mandate entscheiden, weil esDrohnen gibt. Ich muss ehrlich sagen: Es scheint fast so,als wollten Sie sich durch ein Beschaffungsverbot in Be-zug auf Drohnen vor sich selbst schützen, weil dann keinSoldat mehr da wäre, hinter dem man sich versteckenkann.Natürlich ist die Gefährdung der eigenen Truppe einwichtiger Faktor, aber genauso wichtig sind die FaktorenVölkerrecht, Verhältnismäßigkeit, Ethik und andere. Ichhabe großes Vertrauen in die Mehrheit dieses Hauses,dass wir auch in Zukunft Auslandseinsätze wohlüberlegtbeschließen oder auch nicht beschließen werden.Lassen Sie mich abschließend festhalten. Erstens.Auch wenn es nicht um eine eilige Entscheidung geht:Ich stehe grundsätzlich einer Beschaffung bewaffneterKampfdrohnen als zusätzliche Fähigkeit für unsere Bun-deswehr positiv gegenüber;
denn sie schützen unsere Soldaten im Einsatz, sie senkendas Risiko für unsere Piloten, und sie ermöglichen invielen Situationen einen schnelleren, flexibleren undpräziseren Einsatz.Zweitens. Es war richtig, dass der Minister dasThema vor Monaten zur Diskussion gestellt hat und dasswir diese Debatten führen.Drittens. Diese Diskussion hat im Übrigen inzwi-schen dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerungfür eine Beschaffung und einen Einsatz im Notfall ist.Das zeigt eine aktuelle forsa-Studie, die Sie unter ande-rem auf Spiegel Online nachlesen können.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion gebe ich jetzt dem Kollegen
Dr. Hans-Peter Bartels das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, ich stelle fest: Sie haben aufgrund massi-ven öffentlichen Drucks, auch von uns Sozialdemokra-ten, hier in der letzten Plenardebatte, entschieden, jetztnicht über eine Beschaffung von Kampfdrohnen zu ent-scheiden. Sie stellen das zurück. Wir begrüßen das aus-drücklich.Wir hatten Sie vor Schnellschüssen gewarnt. Ihr Koali-tionspartner hat kluge Fragen gestellt, die es zu beant-worten gilt. Selbst Ihre eigene Unionsfraktion hat nach-vollziehbar keine Neigung, ein paar Wochen vor derBundestagswahl eine umstrittene Eilentscheidung überdie Beschaffung dieser oder jener ausländischen Waffezu treffen. Es gibt überhaupt keinen Zeitdruck, eine De-batte über bewaffnungsfähige, unbemannte Luftfahr-zeuge zu führen.
Es gibt keinen Zeitdruck, weil es keine Fähigkeits-lücke gibt: nicht in der NATO, nicht in der EU und nichtin der Bundeswehr. Es gibt keinen Zeitdruck; lassen Siesich das auch nicht von der Industrie einreden – nichtschon wieder über den Tisch ziehen lassen!Wir haben Zeit für eine vernünftige Debatte, eine De-batte über ethische Fragen: Sind Kampfdrohnen ethischneutral? Sind sie wirklich vergleichbar mit Pfeil und Bo-
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29766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Hans-Peter Bartels
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gen, wie der Minister gespottet hat? Wie blockiert maninternational den technischen Trend hin zu autonomenSystemen, bei denen kein Mensch mehr entscheidet?
Wie verhindern wir gegebenenfalls eine völkerrechts-widrige Praxis?
Und wie bekommen wir dieses Thema auf die Tagesord-nung der Rüstungskontrolldiplomatie? Darüber müssenwir reden, bevor hier Beschaffungsvorlagen geschriebenwerden.
Das Motto „Dabei sein ist alles“ ist hier als olympi-sche Weisheit nicht zu gebrauchen. Wir sind auch ge-spannt auf die Antworten der Regierung auf unsereGroße Anfrage zu Kampfdrohnen, die seit einem halbenJahr im Verteidigungsministerium liegt.Eine Frage will ich heute näher betrachten: Was kön-nen eigentlich bewaffnete Drohnen, was herkömmlicheWaffensysteme nicht können? Keine Sorge, meine Ant-wort lautet nicht: nichts. Es gibt etwas, was moderneKampfdrohnen wie Predator, Reaper und auch Heron TPbesser können als andere Waffen:
Mit diesen Apparaten kann man zielgenau einzelne Per-sonen töten, ohne dafür eigenes Personal in die Nähe derZielperson bringen zu müssen. Sie können das zu einembeliebigen Zeitpunkt an einem beliebigen Ort tun, in ei-nem beliebigen Land, in einem scheinbar rechtsfreienRaum.In einer gewissen Weise ähnelt diese Einsatzart desWaffensystems dem Einsatz von Sondereinsatzkomman-dos der Polizei oder militärischen Spezialkommandosbzw. den Geschichten, die man manchmal von Geheim-diensten hört, mit dem Unterschied, dass Polizisten,KSK-Soldaten oder Geheimagenten niemanden, den siegefunden haben, gleich einfach töten dürfen. Sie versu-chen vielmehr, den mutmaßlichen Übeltäter gefangen zunehmen. Das kann man mit einer bewaffneten Drohnenatürlich nicht. Man kann nur beobachten und gegebe-nenfalls zielgenau töten – in der US-Terminologie Tar-geted Killing genannt.Aber auch in den USA gelten diese Missionen inzwi-schen als umstritten. Es darf nämlich nicht darum gehen,wie es auf den Kaffeebechern im Andenkenshop vonGuantánamo steht, den Bösen Böses zu tun. Es geht da-rum, das Böse zu stoppen. Dafür dürfen wir die Prinzi-pien unserer freiheitlichen Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit nicht aufgeben, auch nicht teilweise. Wir lebennicht im permanenten Notstand.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen uns dasGesetz des Handelns nicht von Terroristen diktieren las-sen. Das CIA-Kampfdrohnenszenario kommt für uns inDeutschland nicht infrage.
Wenn das aber der wichtigste Anwendungsfall ist, fürden bewaffnete Drohnen in der Realität heute überwie-gend gebraucht werden, dann brauchen wir sie nicht –dafür nicht.
Da wir uns in der Ablehnung der gezielten Tötungmittels Kampfdrohnen hier im Hause vermutlich partei-übergreifend vollständig einig sind, bleibt die Frage, fürwelchen Anwendungsfall die Bundesregierung dannglaubt bewaffnete Drohnen anschaffen zu sollen. Minis-ter de Maizière erwähnte die Möglichkeit des Schutzesvon NATO-Patrouillen mit deutscher Beteiligung in Af-ghanistan.
Eine Drohne kann den Konvoi lange begleiten, das Um-feld laufend aufklären und, wenn feindliche Kräfte ausdem Hinterhalt schießen, diese aus der Luft sofort wirk-sam bekämpfen.Das hört sich erst einmal plausibel an. Die Amerika-ner haben Dutzende von Kampfdrohnen in Afghanistan,auch im Norden, stationiert. NATO-Konvois sind perma-nent auf den gefährlichen Straßen dort unterwegs. Ichhabe die Bundesregierung gefragt, wie oft es denn vor-kommt, dass US-Drohnen eingreifen, wenn deutscheKräfte beteiligt sind. Die Antwort, die ich bekam, lautet:In den zwölf Jahren der deutschen Präsenz in Afghanis-tan ist das genau zweimal vorgekommen.Im Übrigen gelten für jedes Wirken aus der Luft imNATO-Rahmen die NATO-Einsatzregeln, die wir jaim Kunduz-Untersuchungsausschuss besonders intensivkennengelernt haben. Das sind aus guten Gründen fürDrohnen die gleichen restriktiven Regeln wie für Jagd-bomber oder Kampfhubschrauber, die in Afghanistan zudem gleichen Zweck – Aufklärung und Wirken aus derLuft – auch eingesetzt werden.
Ich will nicht für alle Zeit ausschließen, dass es sinn-volle Einsatzaufgaben für diese neuen Waffensystemegeben mag.
Die beiden eben von mir beschriebenen Anwendungs-bereiche jedenfalls drängen uns nicht zu einer eiligenBeschaffung.
Völlig unbestritten ist dagegen, dass wir unbemannteAufklärungssysteme dringend brauchen. Heron 1 in Af-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29767
Dr. Hans-Peter Bartels
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ghanistan ist sehr nützlich. Eine Verlängerung des Miet-vertrages werden wir unterstützen.Eine echte Fähigkeitslücke ist bei der signalerfassen-den Aufklärung, SIGINT, dringend zu schließen. SeitJahren sind die Bréguet-Atlantique-Flugzeuge außerDienst gestellt. Der Euro-Hawk sollte mit etwas Zeitver-zug die Lücke füllen. Jetzt hören wir von der Bundes-regierung, dass er vielleicht niemals für die Luftwaffefliegen wird. Das erste Exemplar steht seit zwei Jahrenin Manching und bereitet Kummer.Bis zum Ende dieses Haushaltsjahres wird uns dasEuro-Hawk-Abenteuer 688 Millionen Euro gekostet ha-ben. Es gibt keine Zulassung, keine Dokumentation,keine Zertifizierung und keinen Flugbetrieb. Außerdemstellt man in den USA möglicherweise die Produktiondes zugrunde liegenden Global Hawk ein.Dieses Programm, Herr Minister, ist ein Desaster.Über eine halbe Milliarde Euro für nichts! Wieso hat bisheute niemand die Reißleine gezogen?Herr Minister, ich sage Ihnen: Die Zukunft diesesDrohnenprojekts ist möglicherweise doch noch einmalein bemanntes Flugzeug.Schönen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich finde es gut, dass unsere Kollegen von derOpposition darauf bestehen, dass wir eine Debatte überdie Einführung eines neuen technologischen Systems beider Bundeswehr führen.Nur, ich habe Ihr Debattenverhalten beobachtet: Alsder Kollege Hahn von unserem Koalitionspartner seineArgumente vorgetragen hat – ganz unstreitig gehört zueiner Debatte das Vortragen kontroverser Argumente –,haben einige Kollegen von Ihnen weder die Geduld nochdie Höflichkeit besessen, ihm genau zuzuhören, sondernsie haben das, was der Kollege Hahn hier vorgetragenhat, in Bausch und Bogen abgelehnt und als nicht rele-vant bezeichnet. Wenn Sie hier im Hause über diesesThema debattieren wollen, dann gehört eine gewisseForm der Debattenkultur dazu.
– Verehrte Frau Kollegin, ich habe hinreichend Redezeit,um noch das vorzutragen, was ich hier heute zu diesemThema sagen möchte. Im Übrigen führen wir dieseDebatte in diesem Hause nicht zum ersten Mal. Wir be-schäftigen uns schon seit einiger Zeit mit dieser wichti-gen Thematik.Erster Punkt. Ich denke, völlig unbestritten ist, dassder Einsatz von unbemannter Technologie in dem zurzeitlängsten und gefährlichsten Einsatz unserer Soldatinnenund Soldaten eine notwendige Fähigkeit ist, um denSchutz unser Soldatinnen und Soldaten sicherzustellen.Zweiter Punkt. Sie versuchen seit geraumer Zeit – dasadressiere ich insbesondere an einige Kollegen von derFraktion der Grünen –, die Situation in Amerika völligundifferenziert eins zu eins auf die BundesrepublikDeutschland zu übertragen. Aber das wird Ihnen nichtgelingen, weil die Bundesregierung a) so etwas nichtdarf und b) dieses Thema nicht ansteht. Hören Sie auf,die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen, indem Siehier sagen, dass wir an der Schwelle zum TargetedKilling stehen. Sie wissen, dass die Verfassung das ver-bietet, dass das Gesetz das verbietet und auch der politi-sche Wille dieses Hauses.
Jetzt komme ich zu einem in diesem Zusammenhangganz wichtigen Punkt: Die Entscheidung über die Be-schaffung – das gilt für alle Beschaffungsvorschläge desBundesministeriums der Verteidigung – fällt nicht derMinister, sondern das Parlament und die dafür zuständi-gen Ausschüsse.
In diesem Rahmen werden alle notwendigen Debattengeführt.Ich möchte einen weiteren Aspekt nennen – dashaben wir oft genug wiederholt –: Wir brauchen einesaubere sicherheitspolitische Begründung. Wir wollenwissen, was man mit diesem System in Bezug auf dieFähigkeit „Close Air Support“, also Luftnahunterstüt-zung, tun kann, was man mit bereits vorhandenenSystemen nicht tun kann. Das sind Dinge, die die Bun-desregierung im Vorfeld einer Entscheidung selbstver-ständlich darlegen muss.
– Herr Kollege Ströbele, hören Sie doch einfach einmalzu! Sie können sich zu Wort melden und eine Frage stel-len. Dann kann man über alles diskutieren.Eigentlich geht es hier um Folgendes – diesbezüglichsind wir vielleicht viel näher zusammen, als diese Dis-kussion den Eindruck erweckt –: Selbstverständlich wer-den wir uns auf internationaler Ebene darum bemühenmüssen, dass es klare Normen und Regeln für den Ein-satz von unbemannter Technologie in Kampfzonen gibt.Ich betone: in Kampfzonen. Hier haben wir zurzeit einerhebliches Defizit, weil die Definition nicht klar ist:Wer ist in asymmetrischen Szenarien Kombattant? Werist Angreifer? Wer ist als legitimes Ziel im Sinne desVölkerrechts zu identifizieren?Dazu höre ich von Ihnen keine Vorschläge. Ich seheauch nicht, dass Sie versuchen, der Öffentlichkeit auchdie andere Seite der Medaille näherzubringen. Sie sagenzwar, dass Zivilisten umgebracht werden und dass dasschrecklich ist. Aber ich höre von Ihnen nie, dass al-
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29768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Elke Hoff
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Qaida, Taliban, Tahrik-i-Taliban und wie sie alle heißengenau das Gleiche tun und unschuldige Menschen töten.
Jetzt kommen wir zu dem Punkt, um den es geht: Wasist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft? Auf-gabe der internationalen Gemeinschaft ist es, dafür zusorgen – das betrifft auch die Bundesrepublik Deutsch-land –, dass klar definiert wird, wer Gegner ist; auch un-sere Soldatinnen und Soldaten müssen das wissen. Dennauch sie brauchen Klarheit über die Dinge, die von ihnenin asymmetrischen Konflikten erwartet werden. Hiergibt es Defizite.
Frau Hoff?
Ja, bitte?
Herr Nouripour würde Ihnen gerne eine Zwischen-
frage stellen.
Ja, gerne, Kollege Omid Nouripour. Aber ich würde
den Gedanken gerne erst zu Ende führen.
Wenn wir uns dieses Themas gemeinsam annehmen
– ich glaube, dass die Bundesregierung hier noch mehr
Druck machen kann, als das in der Vergangenheit der
Fall war –, dann haben wir auch die Möglichkeit, uns auf
internationaler Ebene auf Standards zu einigen.
Aber eines ist klar – ich sage es noch einmal –: Jetzt
steht keine Beschaffungsentscheidung für ein bewaffne-
tes unbemanntes System an. Es gibt keine Anfrage an
wen auch immer hinsichtlich der Beschaffung eines be-
waffneten unbemannten Systems.
Wenn eine Entscheidung hier ansteht, wird die Bundes-
regierung erklären müssen, was sie mit diesem System
tun will. Last, but not least wird dieses Parlament dann
darüber entscheiden. – Jetzt möchte ich die Zwischen-
frage des Kollegen Nouripour zulassen.
Herr Nouripour, bitte schön.
Danke, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin, Sie
haben am Anfang angemahnt, dass wir eine sachliche
Debatte führen sollen. Ich teile diese Auffassung. Aber
Sie haben hier etwas wider besseres Wissen gesagt. Da-
von gehe ich jedenfalls aus.
Es gab hier viele Debatten zum Thema Afghanistan,
und im Ausschuss haben wir Woche für Woche auch
über die Zahl der zivilen Opfer geredet, die natürlich in
der Mehrzahl von Aufständischen verursacht werden;
darüber sprechen wir hier im Plenum, und darüber spre-
chen wir im Ausschuss. 90 Prozent derjenigen, die in
Afghanistan getötet werden, werden von den Aufständi-
schen getötet. Deshalb ist dieser Einsatz ja auch damals
von diesem Hohen Hause beschlossen worden.
Natürlich ist es sinnvoll, dass wir eine ganz andere
Anspruchshaltung gegenüber unseren eigenen Truppen
haben. Wir müssen natürlich versuchen, die Zahl ziviler
Opfer so weit wie möglich zu reduzieren bzw. dafür zu
sorgen, dass es keine gibt. Finden Sie, dass es ein Bei-
trag zur Versachlichung der Debatte ist, wenn Sie uns
vorwerfen, dass wir nur über diese 10 Prozent der zivilen
Opfer reden würden, die nicht von Aufständischen getö-
tet werden?
Herr Kollege Nouripour, wenn Sie sich an meine
Ausführungen erinnern, wissen Sie, dass ich von einigen
Kollegen Ihrer Fraktion gesprochen habe. Ich nehme Sie
ausdrücklich aus.
– Der junge Mann, der vor Ihnen sitzt – Kollege
Ströbele.
Wir haben oft erlebt, dass unseren Streitkräften per-
manent unterstellt wird, dass sie sozusagen in einem ille-
gitimen Kampf Zivilisten töten.
Das entspricht weder der Wahrheit noch wird dadurch
anerkannt, welchen Anteil die Taliban, al-Qaida und an-
dere Kämpfer an dieser Situation haben.
Ich wünsche mir wirklich sehr, an dieser Stelle auch
einmal einen Vorschlag von Ihrer Seite vorgelegt zu be-
kommen, der aufzeigt, wie man mit dem Problem von
asymmetrischer Kriegsführung umgeht. Man kann über
alles diskutieren. Aktuell wird mit dem Finger immer
nur auf die regulären Streitkräfte gezeigt. Dies habe ich
in dieser Debatte häufig genug erlebt. Das ist meine
Meinung. Sie haben eine andere Meinung.
Ich glaube, ich habe Ihre Frage damit beantwortet.
Frau Hoff, Sie hätten die Gelegenheit, Ihre Redezeit
weiter zu verlängern, indem Sie die Frage von Frau Zapf
zulassen. Möchten Sie das?
Mit Rücksicht auf die anderen Kollegen, auch auf dieKollegen, die hier noch zu anderen Tagesordnungspunk-ten einen Redebeitrag vortragen möchten, möchte ichdie letzten Sekunden meiner Redezeit für ein paar ab-schließende Sätze nutzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29769
Elke Hoff
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(B)
Kollege Nouripour, ich höre gerne, dass Sie zu einerVersachlichung der Diskussion beitragen wollen. Diesist auch dringend geboten. Denn wir müssen unserenSoldatinnen und Soldaten erklären, warum wir das, wasvon dem Minister vorgeschlagen worden ist, nämlich einsolches System ausschließlich zum Schutz der eigenenSoldaten zu beschaffen,
jetzt nicht tun. Aber hören Sie doch auf, uns eineDebatte über die Anwendung dieser Technologie aufzu-zwingen, die in Deutschland de jure ausgeschlossen ist.Wenn Sie das tun, dann kann man über alles reden.Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksam-keit.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-
legin Zapf.
Herzlichen Dank. – Liebe Kollegin Hoff, ich hätte Ih-
nen ja gerne eine Zwischenfrage gestellt. Jetzt frage ich
im Rahmen einer Kurzintervention, ob eine Debatte, die
hier im Deutschen Bundestag schon oft geführt worden
ist, in einer solch merkwürdigen Konstellation stattfin-
den muss.
Sie müssten genauso wie die CDU/CSU und alle
anderen Fraktionen wissen, dass wir schon zwei Exper-
tenanhörungen zu dem Thema im Unterausschuss „Ab-
rüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
durchgeführt haben und dass es eine Große Anfrage der
SPD zu diesem Thema gibt, die leider noch nicht beant-
wortet wurde. Es gab im Unterausschuss die Verab-
redung, dass wir, wenn diese Anfrage beantwortet ist
– dies ist uns jetzt für Mai signalisiert –, eine öffentliche
Veranstaltung durchführen, bei der wir transparent über
das Für und Gegen solcher Anschaffungen diskutieren.
Ich habe im Moment das Gefühl, dass der völker-
rechtliche Aspekt, obwohl er immer wieder betont wird,
nicht klar ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist
überhaupt nicht klar – das hat der Kollege Bartels gerade
erwähnt –, welche Szenarien notwendig sind, um solches
Gerät anzuschaffen. Frau Kollegin Hoff, eine Antwort
auf die Frage, ob man einer asymmetrischen Bedrohung
ausgerechnet mit unbemannten bewaffneten Drohnen
beikommt, würde ich gerne auch einmal von Experten
hören.
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich in Großbritan-
nien gerade verschiedene Initiativen bilden, die sich ins-
besondere für die völkerrechtliche Ächtung automati-
sierter Drohnen einsetzen. Auch diese Unterscheidung
ist wichtig. Darüber sollten wir hier im Deutschen
Bundestag tiefgehend diskutieren. Ich fordere alle auf,
die Anhörung noch in dieser Legislaturperiode durchzu-
führen.
Danke sehr.
Bevor sich Frau Hoff entscheidet, ob und wie sie ant-
wortet, gebe ich zu einer zweiten Kurzintervention dem
Kollegen Ströbele das Wort.
Frau Kollegin, ich habe mit Interesse zur Kenntnis ge-
nommen, dass Sie dem Gedanken der Anschaffung von
Killerdrohnen – ich nenne sie ganz bewusst so, weil das
auch die Amerikaner tun – das Wort reden, mit der Be-
gründung, es gebe eine asymmetrische Kriegsführung
und wir müssten mit den Aufständischen gleichziehen.
Ich sage Ihnen: Sie haben recht. Damit stellen wir uns
auf eine Stufe mit denen, die die alliierten Soldaten in
Afghanistan mit Bombenanschlägen und aus Hinterhal-
ten bekämpfen.
Dann sollten wir darüber auch nicht mehr die Nase
rümpfen und von gemeinen, hinterhältigen Anschlägen
reden. Denn worin besteht der Unterschied zwischen ei-
nem hinterhältigen Anschlag mit einem irgendwo auf
der Straße deponierten Sprengkörper und einer lautlos
operierenden Drohne? Die Folgen für die Menschen sind
identisch.
Nur dann, wenn man keine Killerdrohnen verwendet,
kann man verhindern, dass sie zu solchen Zwecken ge-
braucht oder missbraucht werden, wie es die USA fast
täglich – nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Paki-
stan, im Jemen und in Somalia – tun. Deutschland darf
das auf gar keinen Fall tun.
Frau Hoff, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Ströbele, Sie sind Ju-rist und wissen, dass es im Kriegsvölkerrecht den Be-griff des legitimen Ziels gibt.
– Jetzt bin ich dran, Herr Kollege; ich habe Ihnen dochauch zugehört.
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Elke Hoff
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In dem Moment, in dem erkennbar ein Angriff stattfin-det, wissen wir also, dass auch unsere Soldatinnen undSoldaten darauf reagieren dürfen.Den Begriff „Killerdrohne“ habe ich übrigens nichtverwendet. Zudem kann ich mich nicht daran erinnern,mich in dem Zusammenhang, den Sie skizziert haben,für den Einsatz einer solchen Technologie ausgespro-chen zu haben. Vielmehr habe ich gesagt: Wenn derBundesminister der Verteidigung einen Schutz unsererSoldatinnen und Soldaten in einem ganz besonderenEinsatzsegment durch die neue Technologie für notwen-dig hält, nämlich bei der Luftnahunterstützung – „CloseAir Support“ ist der gängige Begriff –, dann muss er dieGründe darlegen.Wir müssen uns dann die Frage stellen: Können wirunsere Ziele auch durch Verwendung anderer Systemeerreichen? Wenn diese Frage verneint werden muss, seheich, was dieses Szenario – und nur dieses Szenario –angeht, keinen Grund, warum nicht auf dieses Systemzurückgegriffen werden sollte. Das heißt aber auch, dassim Rahmen der sicherheitspolitischen Begründung, diedas Plenum des Deutschen Bundestages schon mehrfachgefordert hat, auch deutlich gemacht werden muss, wo-für diese Waffensysteme nicht eingesetzt werden sollen.Auch für uns Parlamentarier, für die politischen Ent-scheider, muss vollkommen klar sein, um was es geht.Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bundesministerder Verteidigung a) dies tun wird und b) selbstverständ-lich jederzeit in der Lage ist, dies zu begründen.Frau Kollegin Zapf, eine Anhörung ist sicherlichsinnvoll; aber das sind Sachen, die entscheiden wir nichthier. Sie sagten, Sie wollen, dass im Rahmen einer öf-fentlichen Veranstaltung darüber diskutiert wird. Deswe-gen möchte ich die Bemerkung machen: Viel mehrÖffentlichkeit als im Deutschen Bundestag kann man ei-gentlich nicht herstellen. Die Debatte, die in diesem Mo-ment stattfindet, findet in der Öffentlichkeit statt. Das istgut so, das ist richtig so, das war explizit auch von derBundesregierung so gewollt. Fragen, die aus Ihrer Sichtmöglicherweise unbeantwortet geblieben sind, könnenselbstverständlich in einer solchen Anhörung zur Spra-che kommen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass dieDiskussion an irgendeiner Stelle verhindert würde; die-sen Vorwurf kann ich jetzt nicht nachvollziehen.Noch einmal – ich wiederhole das an dieser Stelle ex-plizit –: Mir sind wichtig: eine sicherheitspolitische Be-gründung, eine klare Beschreibung der Fähigkeiten unddes Wofür, eine klare Beschreibung, warum man dasZiel mit anderen Systemen nicht erreichen kann, undeine klare Beschreibung dessen, was mit dem Systemeben nicht gemacht werden soll. Ich glaube, dass wir un-ter Beachtung dieser vier Punkte durchaus auch im Sinnedes Schutzes unserer Soldaten dann, wenn es notwendigist, darüber entscheiden können.
Jetzt hat der Kollege Jan van Aken das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wel-come to the drone zone! Frau Hoff, Sie haben den Ein-satz von Kampfdrohnen in Ihrer Rede eben gerechtfer-tigt mit dem Argument: Wenn die uns umbringen, wiesoll man dann anders reagieren?
Das ist das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, einMord für einen Mord. Dafür sollten Sie sich schämen!
Hier sind sehr viele gute Argumente gegen Kampf-drohnen genannt worden, zum Beispiel dass damit natür-lich ein neues Wettrüsten ausgelöst wird. Es ist schonpeinlich, Herr Hahn, wenn Sie sagen: „Wieso Wettrüs-ten? Das beschaffen doch eh schon alle.“
Sie haben das Prinzip einer Rüstungskontrolle nicht ver-standen. Rüstungskontrolle funktioniert nicht so, dasssich alle eine bestimmte Waffe anschaffen und danach inAbrüstungsverhandlungen eintreten. Rüstungskontrollefunktioniert so, dass – um von vornherein zu verhindern,dass ein Wettrüsten entsteht – diese Waffe gar nicht erstangeschafft wird.
Ein zweites Argument: Es besteht die drängende Ge-fahr, dass die Entwicklung direkt weitergeht hin zu voll-autonomen Kampfdrohnen bzw. Kampfrobotern; dassMaschinen ganz allein über Leben und Tod entscheiden.
Ich finde, das ist eine grauenvolle Vorstellung. Das alleinreicht als Ablehnungsgrund.Drittens. Eine Verletzung des Völkerrechts durch denEinsatz von Kampfdrohnen findet heute schon jeden Tagstatt: durch die USA. Auch deswegen lehnen wir dieseKampfdrohnen ab.Viertens – das ist für mich ein ganz entscheidenderGrund – droht durch diese Kampfdrohnen eine Enthem-mung und eine Entgrenzung des Krieges.
Der Einsatz von Kampfdrohnen führt unweigerlich zueiner Ausweitung von Kriegen und zu einer Enthem-mung bei der Anwendung von Gewalt. Bei Herrn
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29771
Jan van Aken
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de Maizière hört sich das immer einfach an: Wenn ichein Kampfflugzeug mit Pilot losschicke, riskiere ich seinLeben. Wenn ich das gleiche Flugzeug ohne Pilot los-schicke, schütze ich damit deutsche Soldaten.
Das hört sich zwar ganz simpel an; aber das ist kom-plett falsch, und Sie wissen, dass es falsch ist und dass esmit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat.
Kampfdrohnen werden doch nicht da eingesetzt, wo be-waffnete Kampfflugzeuge eingesetzt werden, sondernsie werden doch für ganz andere Einsätze eingesetzt,
für Einsätze, die mit bewaffneten Flugzeugen nie geflo-gen würden, weil sie zu riskant sind.Es ist doch ganz eindeutig – Sie müssen das nur ein-mal an sich heranlassen –: Wer Maschinen für sichkämpfen lässt, entscheidet schneller, andere Menschenzu töten. Wer Maschinen für sich kämpfen lässt, ent-scheidet schneller, Gewalt anzuwenden: weil er das aussicherer Entfernung tun kann.
Das ist die Realität; da können Sie den Kopf schütteln,so viel Sie wollen. Das findet heute schon jeden Tagstatt.Wir brauchen nur nach Amerika zu schauen. Was istdort in den letzten Jahren passiert? Mit der Einführungder Kampfdrohnen hat sich der amerikanische Krieg völ-lig entgrenzt. Tausende von Menschen sind mit diesenKampfdrohnen umgebracht worden, und zwar nicht nurin Afghanistan, sondern auch in Pakistan, auch im Je-men, auch in Somalia. All diese Einsätze wären niemalsmit bewaffneten Kampfflugzeugen geflogen worden.Das wäre für die Piloten viel zu riskant gewesen, und na-türlich schickt man kein bewaffnetes Kampfflugzeugnach Somalia, nach Pakistan oder in den Jemen. Mit die-sen Ländern befinden sich die USA nicht im Krieg.Diese Länder würden nicht hinnehmen, wenn eine be-waffnete Flotte vor ihrer Küste auftauchte. Diese tödli-chen Angriffe sind nur mit Kampfdrohnen möglich, unddas wissen Sie. Das ist für uns ein sehr guter Grund,diese Drohnen abzulehnen.
Herr de Maizière hat gesagt, dass er die Entscheidungim Prinzip schon getroffen hat. Er hat sie jetzt vertagt.Ich finde die Entscheidung falsch; aber seine Aussage istwenigstens ehrlich.Was mich richtig wütend macht, ist das Herumgeeiereseitens der SPD. Sagen Sie endlich einmal konkret, wasSie wollen und was Sie nicht wollen! Alle guten Argu-mente sind hier genannt worden. Sie haben sie selbstvorgetragen, aber Sie sagen nicht, dass Sie gegen eineEinführung von Kampfdrohnen sind. Sie wollen sich biszur Bundestagswahl einfach jedes Hintertürchen offen-halten und hinterher die Dinger dann doch anschaffen.Das finde ich wirklich unehrlich.
Das wirklich einzig Konkrete, das ich von den Sozial-demokraten in den letzten Wochen über Drohnen gehörthabe, hat Herr Arnold von der SPD vor einigen Wochenhier zu Protokoll gegeben, nämlich: wenn schon Kampf-drohnen, dann bitte deutsche oder europäische Kampf-drohnen. Bloß nicht in Amerika kaufen! – Auch Sie,Herr Bartels, haben heute wieder gesagt: Bloß keine aus-ländischen Drohnen anschaffen! Glauben Sie denn, fürMenschen, die an einer Hochzeitsfeier in Pakistan teil-nehmen, macht es einen Unterschied, ob sie von einerdeutschen oder von einer amerikanischen Drohne getötetwerden? Ich finde Sie an dieser Stelle wirklich unsäg-lich.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen mehr exportieren sollte, keine Kampfflug-zeuge, keine Kampfdrohnen, gar nichts.Danke schön.
Jetzt hat der Kollege Bernd Siebert für die CDU/CSU
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Tat: Die heutige Debatte ist die Fortsetzung derDiskussionen der letzten Monate. Im Januar haben wirunsere Argumente bereits ausführlich und, ich denke,zum Teil auch erschöpfend ausgetauscht. Ich muss amEnde dieser Debatte allerdings feststellen: Neue Argu-mente habe ich von der Opposition heute nicht zurKenntnis nehmen können.Der Verteidigungsminister hat die Debatte vor einigenMonaten angestoßen und mittlerweile entschieden, indieser Legislaturperiode keinen Beschaffungsbeschlussfür bewaffnete Drohnen mehr herbeizuführen. Ich kannnach der heutigen Diskussion nur denjenigen zustim-men, die auf die Frage, warum denn diese Debatte jetztgeführt wird, antworten: In den Reihen der Oppositionglaubt man, dass hier ein Wahlkampfthema gefundenwerden kann. – Ich denke aber, Sie täuschen sich. DieMenschen sind weit klüger, als Teile der Opposition mit-unter glauben.
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Bernd Siebert
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– Ich habe von Teilen der Opposition gesprochen. – Eineaktuelle Umfrage zeigt, dass nur 27 Prozent der Befrag-ten bewaffnete Drohnen ablehnen. Über 70 Prozent ste-hen dieser Technologie eher positiv und offen gegen-über.Interessant ist, dass die Stimmen der Vernunft, die beiden Sozialdemokraten und den Grünen bei dieser The-matik in der Vergangenheit meiner Ansicht nach durch-aus zu hören waren, mittlerweile verstummt sind. Selt-sam, denn die Aussagen von geschätzten Kollegen wieRainer Arnold, der noch im Juli vorigen Jahres erklärthat, dass „an der Anschaffung von bewaffneten Drohnenkein Weg“ vorbeiführe, oder von Herrn Nouripour, derebenfalls im Juli vorigen Jahres erklärt hat, es gebe eine„sehr, sehr schmale graue Zone, in der gezielte Tötungenerlaubt sein können, wenn für eine größere Gruppe vonMenschen unmittelbar Gefahr bevorsteht“,
lassen den Schluss zu, dass die Meinungen zu Drohnenunserer nicht ganz unähnlich sind.
– Ich habe das Zitat aus der Frankfurter Rundschau vom30. Juli 2012 vollständig hier, Herr Nouripour. Ich habenicht gelesen, dass Sie sich von diesen Aussagen damalsdistanziert haben.
Ich habe den Eindruck, dass es noch immer den einenoder anderen in der Opposition gibt, die differenziertüber diese Fragen nachdenken. Ich sage ganz offen: Dashat mich eben etwas überrascht. Kollege Hans-PeterBartels hat das Thema an einigen Stellen ja durchaus dif-ferenziert betrachtet. Deswegen denke ich, dass wir,nachdem der Pulverdampf des Wahlkampfes verzogenist, auch über diese Frage wieder konstruktiv in den Dia-log eintreten und dazu beitragen können, dass vernünf-tige Lösungen für die Bundeswehr und für die Verbesse-rung der Sicherheit unserer Soldaten im Einsatzgefunden werden können.All das, was Verteidigungsminister de Maizière undmeine Kollegen von den Koalitionsfraktionen bereits imJanuar gesagt haben, besitzt auch heute noch Gültigkeit:Drohnen, ob groß oder klein, werden längst eingesetzt –auch bei der Bundeswehr. Ihr Einsatz ist günstiger, si-cherer und flexibler als die Nutzung bemannter Maschi-nen. Sie können wesentlich länger über einem Einsatz-gebiet in der Luft bleiben als ein bemanntes Flugzeug.Die deutschen Regularien, die für den Waffeneinsatz be-mannter Systeme gelten, gelten selbstverständlich auchfür Drohnen.Völkerrechtlich bedenkliche Szenarien wie in Nord-pakistan oder im Jemen wären für deutsche Streitkräftemeiner Ansicht nach undenkbar. Die Verantwortung fürdie Nutzung unbemannter Systeme obliegt einem Men-schen. Das Gleiche gilt für die Kontrolle des Fluggerä-tes, wie bei anderen Systemen übrigens auch. Es gibt beiuns keinen „Roboterkrieg“ und keine Automatismen.
Dies heißt, mittelfristig wird auch die Bundeswehrdiese neuartigen Fähigkeiten ausbauen. Das gebietet dieVernunft; denn es ist umständlich, fehleranfällig undteuer, eine unbewaffnete Drohne zunächst aufklären zulassen und dann ein bemanntes Flugzeug oder ein ande-res Waffensystem herbeizuholen, um ein Ziel bekämpfenzu lassen. Diese derzeit in Afghanistan mögliche Optionkann deshalb nur eine Übergangslösung sein, die im Üb-rigen durch eine Entscheidung der Bundesregierung biszum Jahr 2015 gesichert worden ist.Ich selbst sage daher ganz klar, dass eine übereilteBeschaffungsentscheidung zum heutigen Zeitpunkt auchaus dem oben genannten Grund noch nicht notwendigist.
Dafür gibt es viele Gründe. Bei einer technologisch sowichtigen Weichenstellung für die Zukunft geht Sorgfalteindeutig vor Eile. Auch die Diskussion, die wir hierheute führen, muss fortgesetzt werden. Auch das wurdebereits mehrfach gesagt.Abschließend möchte ich noch einmal meiner Hoff-nung Ausdruck verleihen, dass wir uns im Herbst wiederauf eine vernünftige Art und Weise über dieses Themaunterhalten können. Umso wichtiger ist es, dass wir unsheute keine Beschränkungen in Form von Anträgen auf-erlegen. Daher sind die vorliegenden Anträge von unsabzulehnen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kol-
legin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass unbemannte, unbewaffnete Drohnen nützlich seinkönnen, ist doch unbestritten. Ich habe in dieser Diskus-sion eines gehört: Es wird immer wieder der Vorwurf er-hoben, dass die Opposition Kritik anbringt, ohne dassdazu eigentlich ein Anlass besteht.Erster Punkt. Ich weise darauf hin: Die Friedensfor-schungsinstitute werden über dieses Thema der bewaff-neten Kampfdrohnen eine öffentliche Diskussion inGang setzen, die ich für richtig halte. Die Gefahr, dasssich solche Waffensysteme sozusagen automatisieren, istvorhanden, und zwar international. Daher können wirdoch nicht so tun, als hätten wir damit nichts zu tun. ZuRecht hat Harald Müller in einer Diskussion mit Herrnde Maizière vor wenigen Tagen die Frage gestellt: Waspassiert eigentlich, wenn die amerikanische Seite „Dassind Bündnisverpflichtungen“ sagt? – Die Automatisie-rung ist eine echte Gefahr, und deshalb muss man recht-zeitig vor ihr warnen.
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Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Zweiter Punkt. Auch die Proliferation kommt inGang. Es gibt Länder, die Millionen und Milliarden auf-bringen können, um solche Systeme aufzubauen. Washeißt das, wenn es weltweit Praxis wird, dass entspre-chende Aktionen gegen andere Länder durchgeführtwerden? Beispielsweise könnte davon die Zivilbevölke-rung in unserem Land betroffen sein.Dritter Punkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ichsage schon einmal vorbeugend: Auch ich halte die Ent-wicklung solcher bewaffneten Systeme auf europäischerEbene für falsch. Sie kosten Milliarden Euro. Wichtigerwäre ein Signal der internationalen Abrüstung und derÄchtung dieser Systeme sowohl durch Deutschland alsauch durch die Europäische Union.
Europa hat den Friedensnobelpreis nicht dafür erhalten,dass es neue Waffensysteme exportiert, sondern dafür,dass es soziale und ökologische Entwicklungen in dieWelt exportiert, um zu helfen. Daran sollten wir unsorientieren.Vielen Dank.
Herr Siebert, möchten Sie entgegnen? – Das ist nichtder Fall. Dann schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13235mit dem Titel „Keine bewaffneten Drohnen für die Bun-deswehr – Internationale Rüstungskontrolle von bewaff-neten unbemannten Systemen voranbringen“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Zugestimmt haben dem Antrag Bünd-nis 90/Die Grünen und einige Abgeordnete der SPD-Fraktion. Gegen den Antrag hat die Koalition gestimmt.Der überwiegende Teil der SPD-Fraktion hat sich genauwie die Fraktion Die Linke enthalten. Der Antrag ist da-mit abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache17/11083. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/9414 mit dem Titel „Die Beschaffung unbe-mannter Systeme überprüfen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen beiZustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegenwaren SPD und Grüne. Die Fraktion Die Linke hat sichenthalten.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, denBericht des Ausschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäfts-ordnung auf Drucksache 17/6904 zu „Stand und Per-spektiven der militärischen Nutzung unbemannter Sys-teme“ zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Das ist einstimmig angenommen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Keine Beschaffung bewaffneter Drohnenfür die Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/12725, denAntrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12437abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmungdurch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linkewar dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-ten.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/13192 mit dem Ti-tel „Für eine umfassende Debatte zum Thema Kampf-drohnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Dieser Antrag wurde abgelehntbei Zustimmung durch die einbringende SPD-Fraktion.Dagegen waren CDU/CSU, FDP und Linke, enthaltenhaben sich Bündnis 90/Die Grünen.Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 bauf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU, SPD und FDP einge-brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Conterganstiftungsgesetzes– Drucksache 17/12678 –Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend
– Drucksache 17/13279 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus Kurth
– Drucksache 17/13280 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleRolf SchwanitzDr. Florian ToncarRoland ClausSven-Christian Kindlerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, DianaGolze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKELebenssituation der durch Contergan geschä-digten Menschen mit einem Dritten Con-terganstiftungsänderungsgesetz und weiterenMaßnahmen spürbar verbessern
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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– Drucksachen 17/11041, 17/13279 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas JarzombekChristel HummeNicole Bracht-BendtDr. Ilja SeifertMarkus KurthHierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Dazusehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Das Wort gebe ich der Kollegin Dorothee Bär für dieCDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue michsehr, dass wir nach der ersten Lesung und nach einersehr konstruktiven Zusammenarbeit mit fast allen Frak-tionen hier im Deutschen Bundestag heute die Änderun-gen zum Conterganstiftungsgesetz mit einer großenMehrheit verabschieden werden, weil wir alle – deswe-gen noch einmal ganz herzlichen Dank besonders an dieFraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD – er-kannt haben,
dass die Ergebnisse der Studie des Instituts für Geronto-logie der Universität Heidelberg eine unmittelbare undvor allem deutliche Verbesserung der Situation der con-tergangeschädigten Menschen erforderlich machen. Ichfreue mich wirklich sehr, dass wir nicht nur ab heute,sondern rückwirkend zum 1. Januar 2013 die Contergan-renten um jährlich 90 Millionen Euro erhöhen werden.Wir wollen uns im Namen der Koalition ganz herzlichbei den Betroffenen bedanken, die in den letzten Wochenund Monaten ein wirklich konstruktiver Partner waren.Wir wollen gerade wegen der Gespräche mit den Betrof-fenen eine noch wesentlich größere Einzelfallgerechtig-keit gewähren können. Deswegen haben wir auf Wunschder Betroffenen in der Rententabelle, die als Anlage zuden Richtlinien veröffentlicht wird, zusätzliche Scha-densstufen eingeführt. Wir haben für diejenigen, diewirklich mit schwersten Behinderungen leben müssen,die prozentual höchste Anhebung der Renten vorgese-hen. Das heißt, künftig soll mit einem Betrag von monat-lich 6 912 Euro dafür gesorgt werden, den Schwerstge-schädigten ein Stück Unabhängigkeit zurückzugeben,und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, ohne An-tragstellung selbst zu entscheiden, welche Leistungen siebrauchen und was ihrer momentanen Situation am aller-besten entspricht, beispielsweise der behindertenge-rechte Umbau des Autos und der Wohnung oder Hilfenim Alltag.Wir werden zusätzlich 30 Millionen Euro für die De-ckung spezifischer Bedarfe in den Haushalt einstellen,zum Beispiel für Rehabilitationsleistungen, für Heilmit-tel, für Hilfsmittel und – das ist ganz besonders wichtig;das habe ich auch in meiner Rede in der ersten Lesungangesprochen – für zahnärztliche und kieferchirurgischeBehandlungen.Das ist ein wichtiger Schritt. Das sollten wir positivherausstellen. Ich verstehe nicht, Herr Kollege Seifert,warum Sie die ganze Zeit so destruktiv an die Sache he-rangehen, wenn sich sogar Betroffene freuen und sichbedanken.
Das wird weder unserer Arbeit noch dem Anliegen derBetroffenen gerecht. Das finde ich sehr schade.Das von uns gewählte Antrags- und Bewilligungsver-fahren ist sehr gut und vor allem – das ist für mich dasEntscheidende – sehr bürokratiearm. Wenn die vom Arztverordnete Leistung bei den Kassen beantragt wird unddie Erstattung der Leistung abgelehnt wird, dann leitendiese den Antrag direkt an die Conterganstiftung weiter.Dann entscheidet die Conterganstiftung auf Grundlageder Richtlinien des BMFSFJ über den Antrag.Wir haben über die finanziellen Maßnahmen hinausVerbesserungen aufgenommen: zum Beispiel dass unter-haltspflichtige Angehörige von Conterganopfern, die So-zialhilfe beziehen, vom Träger der Sozialhilfe nicht inAnspruch genommen werden können; denn Eltern, Kin-der und Ehepartner von contergangeschädigten Men-schen sind durch die mit der Behinderung verbundenenAnforderungen ohnehin schon belastet. Das ist eine ganzwichtige Maßnahme, um Sicherheit für die Angehörigenzu schaffen, die neben der finanziellen Belastung seitvielen Jahrzehnten eine ganz große physische und psy-chische Belastung zu schultern haben.In diesem Zusammenhang ist eine weitere Änderungkonsequent, die wir im Rahmen eines Änderungsantra-ges vorgenommen haben, nämlich dass das Einkommenund das Vermögen einerseits der Betroffenen selbst undandererseits das ihrer Ehepartner bei der Gewährung deranderen Leistungen des SGB XII, die unmittelbar mitder Behinderung zusammenhängen, wie beispielsweiseHilfen zur Gesundheit, Hilfen zur Pflege, Eingliede-rungshilfe, vollkommen außer Betracht gelassen werden.Natürlich ist uns bewusst, dass mit den Neuregelun-gen nicht allen und nicht jedem einzelnen Wunsch ent-sprochen wird, weil er nicht zu erfüllen war. Das istselbstverständlich, weil kein Gesetz der Welt jedem Ein-zelfall wirklich zu 100 Prozent gerecht werden kann.
Aber ich bin wirklich zuversichtlich, dass diese Neure-gelungen den Menschen mit Conterganschäden helfenwerden, im Alltag selbstständiger und eigenbestimmterzu werden und den Alltag besser zu bewältigen.Deswegen noch einmal vielen herzlichen Dank analle Kolleginnen und Kollegen für die nicht einfache undauch emotionale Arbeit der letzten Wochen und Monate.Noch einmal ein ganz großes Dankeschön nicht nur andie Geschädigten, sondern vor allem auch an deren An-gehörige für den langen Weg, den sie gemeinsam gegan-gen sind.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29775
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Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir werden heute am Ende der Debatte den Entwurf ei-nes Drittes Gesetzes zur Änderung des Conterganstif-tungsgesetzes mit großer Mehrheit, wie ich denke, hierim Parlament verabschieden. Man muss sich natürlichfragen: Was war der Grund für dieses Gesetz? DieseFrage muss man immer dann stellen, wenn etwas schonlange zurückliegt; denn dann vergisst man: Warum müs-sen wir handeln?In den 50er-Jahren gab es ein Medikament, das allge-mein unter dem Namen „Contergan“ bekannt war.Frauen, die es in der Schwangerschaft eingenommen ha-ben, haben schwer geschädigte Kinder zur Welt ge-bracht. Etwas über 10 000 Kinder waren es. Von diesenetwas über 10 000 leben heute noch etwa 2 700 Perso-nen, etwa 2 450 in Deutschland und etwa 250 im Aus-land.Damals gab es noch nicht das, was wir heute unterdem Stichwort „Arzneimittelhaftung“ kennen. Man hateine Lösung gesucht und gefunden. Sie war nicht ein-fach, weder für die Eltern noch, wie ich denke, für diePolitik, die überhaupt nicht abschätzen konnte, was aufsie zukam.Die Firma Grünenthal, die damals das Medikamentauf den Markt gebracht hat, hat 100 Millionen D-Markin einen Fonds eingezahlt und Entschädigung geleistet.Dann wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerkfür behinderte Kinder“ gegründet. Deshalb werden dieAngelegenheiten der contergangeschädigten Menschenim Familienausschuss und nicht im Ausschuss für Arbeitund Soziales behandelt, in dem wir uns üblicherweisemit Angelegenheiten von Menschen mit Behinderungbefassen. Wir sind seither dafür zuständig; denn seit derGründung der Stiftung ist die Bundesrepublik Deutsch-land in die Rechtsnachfolge der Firma getreten. Das darfman nicht vergessen; sonst weiß man nicht, warum wirheute solche Gesetze machen.In all den Jahren hat die genannte Stiftung den betrof-fenen Menschen Entschädigungszahlungen geleistet.Heute verabschieden wir hoffentlich mehrheitlich dasDritte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsge-setzes.
– Es ist sehr schön, wenn Sie mitstimmen, Herr Seifert.
– Wunderbar.Bislang haben wir ein erstes und ein zweites Ände-rungsgesetz verabschiedet. Schon beim zweiten habenwir gedacht, dass wir ganz viel geregelt haben. Aber wirmüssen es erneut revidieren. Es war zwar der richtigeWeg, aber wir sind nicht weit genug gegangen. Wir ha-ben 2008 die Renten der Betroffenen von 545 Euro auf1 090 Euro verdoppelt. Wir haben noch etwas anderesgeregelt – das weiß kaum jemand –: Diese Zahlungendürfen auf keine anderen Leistungen, auf sogenannteTransferleistungen wie das Arbeitslosengeld II, ange-rechnet werden. – Das war ein Riesenschritt. Wir habendes Weiteren eine Regelung zur automatischen Anpas-sung dieser Renten verabschiedet. Damals betrug diedurchschnittliche Rente etwa 982 Euro.Ein weiterer Punkt, über den wir sehr lange debattierthaben, war die Ausschlussfrist. Nach Ablauf dieser Fristkonnte kein Betroffener mehr seine Ansprüche geltendmachen. Diese Ausschlussfrist haben wir aufgehoben.Diese Änderung war im Hinblick auf die damals nochgar nicht abzuschätzenden gesundheitlichen Folgen,zum Beispiel für Gefäße und Nerven, wichtig. So konn-ten auch diese berücksichtigt werden.Wir hatten damals zudem jährliche Sonderzahlungenüber 25 Jahre verabredet. Derzeit werden Sonderzahlun-gen in Höhe von durchschnittlich 2 200 Euro ausgezahlt.Wir haben damals aber noch mehr getan. Wir haben ineinem Antrag festgehalten: Da wir überhaupt nicht wis-sen, wie sich die betroffenen Menschen entwickeln wer-den, wollen wir, dass dazu eine wissenschaftliche Unter-suchung in Auftrag gegeben wird. Damals haben dieBetroffenen gesagt: Wir wollen nicht vermessen werden. –Das haben wir gut verstanden. Aber eine solche Untersu-chung war notwendig; denn erst mit dem Untersu-chungsbericht ist uns in aller Deutlichkeit klar gewor-den, dass es sich bei den gravierenden Veränderungen,die bei den betroffenen Menschen im Laufe der Jahreeingetreten sind, nicht um Einzelfälle handelt. DieseMenschen haben große Bedarfe, um am Leben teilzuha-ben und es zu gestalten.Der Zwischenbericht, der im Sommer letzten Jahresvorgestellt und zu Weihnachten eingebracht wurde undzu dem eine Anhörung mit über 200 Betroffenen im Fe-bruar dieses Jahres durchgeführt wurde, führt nun zurVerabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung desConterganstiftungsgesetzes. Frau Bär hat schon die we-sentlichen Punkte genannt. Ich nenne zur Verdeutlichungnoch einmal die alten Rentenwerte: Von etwa 1 100 Eurogibt es nun eine Steigerung auf bis zu 7 000 Euro monat-lich. Diesen Höchstbetrag erhalten 119 Betroffene. Diedrei- und vierfach Betroffenen werden am meisten be-kommen. Aber alle werden mehr bekommen. Nur dieprozentuale Steigerung fällt unterschiedlich hoch aus.Das alles bringen wir nun auf den Weg. Sollte sichaber herausstellen, dass wir erneut nachjustieren müssen,wird sich der nächste Bundestag sicherlich wieder aufden Weg machen, erneut aus den Erfahrungen und demLeben der Betroffenen lernen und gegebenenfalls Kor-rekturen vornehmen.Wir haben lange auch darüber diskutiert, wie wir dasabdecken können, was die gesetzlichen Sozialversiche-rungen nicht bezahlen, weil sie sich weigern. Deshalbwurde dieser Fonds in Höhe von 30 Millionen Euro jähr-lich eingerichtet. Diese 30 Millionen Euro sollen – FrauBär hat es gesagt – möglichst bürokratiearm in Anspruch
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29776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Marlene Rupprecht
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genommen werden können. Aber Sie wissen ja – so sagtman das bei uns –: Das Teufele steckt im Detail. Um zuverhindern, dass sich einige Sozialversicherungszweige,die zahlen müssten, weigern und die Anspruchsberech-tigten gleich an den Fonds verweisen, muss dem Bun-destag nach zwei Jahren berichtet werden, ob es einenVerschiebebahnhof gibt oder nicht, damit wir feststellenkönnen, ob das Geld wirklich den Menschen zugute-kommt oder ob sich einige der Lasten entledigen, die sieeigentlich tragen müssten.Was man gar nicht so sieht – das ist, denke ich, nebender Rentenerhöhung das Wichtigste –, ist, dass jetztjemand zum Beispiel eine persönliche Assistenz in An-spruch nehmen kann, ohne dass er wie andere Men-schen, die diese in Anspruch nehmen, mit seinem Ein-kommen, seinem Vermögen oder dem Einkommen oderVermögen seiner Angehörigen herangezogen wird. Dasist ein enormer Paradigmenwechsel, der zeigt, dass derBundestag seine Verantwortung, die er gegenüber denMenschen hat, die durch Contergan geschädigt sind,ernst nimmt.Was ich aber auch gelernt habe – jetzt war ich17 Jahre für dieses Thema zuständig –: Wir werden nieaufhören, zu lernen, und wir werden nie aufhören, zu be-greifen, dass wir eine Verantwortung haben und im Not-fall nachjustieren müssen. Wenn die 30 Millionen Euronicht reichen, dann – das sage ich Ihnen – wird der Bun-destag darüber noch einmal nachdenken müssen. Das istdas Leben. Ich wünsche mir, dass heute alle gemeinsamden Gesetzentwurf verabschieden und damit das Signalsetzen, dass rückwirkend ab 1. Januar alle Betroffenenmehr Geld bekommen. Das ist das Wichtigste. Die Be-troffenen stoßen hier im Parlament immer auf offeneOhren, und zwar bei allen Fraktionen.Vielen Dank an die Kollegen dafür, dass es geklappthat.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Essteht außer Frage, dass es die Contergangeschädigtenund deren Eltern waren, die von Anfang an für Gleich-stellung und Teilhabe eingetreten sind. Der Weg beimKampf dieser Eltern für die Rechte ihres Kindes warsteinig. Es war der Kampf gegen den ärztlichen Rat, ge-gen eine behindertenfeindliche Gesellschaft und gegenGrünenthal. Den damaligen gesellschaftlichen Umgangmit Behinderung und Behinderten infrage zu stellen, be-gründete den Weg, der zur gesellschaftlichen Teilhabevon Menschen mit Behinderung führen soll.Diese Teilhabe kostet Geld. Die Rente aus der Con-terganstiftung wird den heutigen Bedürfnissen der Be-troffenen nicht mehr gerecht. Die finanziellen Belastun-gen durch die Folgen der Conterganschädigung nehmenimmer weiter zu, da die körperlichen Einschränkungenimmer größer werden. Mit der Verabschiedung des Drit-ten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgeset-zes wollen wir sicherstellen, dass sich die Lebenssitua-tion der Contergangeschädigten nun endlich ganzentscheidend verbessert.Ich darf ganz ehrlich sagen: Ich freue mich sehr, dasswir bei diesem bewegenden Thema wieder eine sehrbreite Mehrheit im Bundestag erreichen können, überdie Parteigrenzen hinweg. Ich möchte mich hier ganzausdrücklich bei den Betroffenen, bei der SPD und beimBündnis 90/Die Grünen für die konstruktiven Gesprächebedanken. Es ist im Sinne der Geschädigten, dass wir ge-schlossen und schnell handeln.Vor fast genau vier Jahren, am 22. Januar 2009, hatder Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionender CDU/CSU, der SPD und der FDP zugestimmt, dereine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützungder Conterganopfer zum Ziel hatte. Ich zitiere:Die Lebensleistung der Contergangeschädigten ver-langt uns größten Respekt ab. Sie haben sich in be-wundernswerter Weise ihren Platz in Familie undBeruf erkämpft, ihre Selbständigkeit mit großem ei-genen Engagement und Selbstbewusstsein erstrit-ten. Doch jetzt stoßen sie an schmerzliche Grenzen.Den Antragstellern war damals bewusst, dass wir ge-nauere Fakten benötigen, um gegenüber dem Steuerzah-ler eine Lösung zu rechtfertigen, die über den Beschlussvon 2008 deutlich hinausgeht. Es ging damals um dieVerdopplung der sogenannten Conterganrenten. Bereitsdiese Verdopplung war angesichts der eigentlich geplan-ten Erhöhung um circa 5 Prozent ein enormer Schritt. –Frau Rupprecht, Sie nicken. Ich war leider nicht dabei,aber ich weiß es aus Erzählungen.Trotzdem war den Fachpolitikern bewusst, dass die-ser Schritt nicht ausreichen würde, da sich der Gesund-heitszustand der Betroffenen verschlechterte. In diesemgemeinsamen Antrag haben die Fraktionen von Union,SPD und FDP den Auftrag an das Familienministeriumformuliert, eine Studie durchzuführen. Ziel war es, denGesundheitszustand der circa 2 700 Conterganopfer zuuntersuchen, die in den Geltungsbereich des Contergan-stiftungsgesetzes fallen. Die drei Fraktionen wollten ineiner umfassenden, lebensbegleitenden und auf Teilhabeangelegten Längsschnittstudie ein genaues Bild über dieLebenssituation Contergangeschädigter zeichnen, undzwar unter Einbeziehung von Folge- und Spätschäden,mit dem Ziel, geeignete Handlungsempfehlungen fürweitere angemessene Hilfe darzustellen.Fraktionsübergreifend hatten wir das Ziel, ein weite-res Gesetz zu verabschieden, um die Spätfolgen derConterganschädigung abzumildern. Die Ergebnisse die-ser Studie sind erschreckend. Die Spätfolgen der Conter-ganopfer sind gravierender, als Mediziner vorausgesagthatten. Überlastete Gelenke, schwere Beeinträchtigun-gen der Wirbelsäule und vor allem chronische Schmerz-zustände steigern den Hilfe- und Unterstützungsbedarferheblich.
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Nicole Bracht-Bendt
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Die Situation stellt sich weit dramatischer dar, als esauch den Fachpolitikern bewusst war. Inzwischen leiden85 Prozent der Conterganopfer an chronischen Schmer-zen. Die Hälfte von ihnen ist rund um die Uhr pflegebe-dürftig. Viele haben Depressionen. Damit wird auch dieunabhängige Lebensperspektive derjenigen Menschenmit Conterganschäden gefährdet, die trotz aller Widrig-keiten eine stabile Lebenssituation für sich erkämpft ha-ben.Ich finde es bei aller Schwere des Conterganskandalserfreulich, dass wir heute wieder darüber diskutieren, dieLeistungen – sprich: die finanziellen Zuwendungen – andie Opfer zu verbessern. Es ist gut, dass wir die Zustim-mung aller Fraktionen hierzu haben. Dies war mir immerein persönliches Anliegen.Bei allem verständlichen Frust, den die Betroffenenim Hinblick auf die Politik der letzten Jahrzehnte im Be-reich Contergan haben, halte ich das seit dem letztenJahr gemeinsam Erreichte für enorm: Für die Schwerst-betroffenen hat sich seit 2008 die monatliche Rente fastverdreizehnfacht. Hinzu kommen Einmalzahlungen, dieauf andere Sozialleistungen nicht angerechnet werden,und eine bessere medizinische Versorgung.Dabei ist sich die FDP immer bewusst, dass allefinanziellen Leistungen den Schaden für die Gesundheitund die schwere seelische Belastung der Betroffenennicht ausgleichen können. Die Koalition – wir alle –wollen, dass Contergangeschädigte eine gute Lebensper-spektive haben. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen,das muss das Ziel sein.Wir stehen zu unserer Verantwortung. 6 912 EuroHöchstrente statt bislang 1 152 Euro lindern zumindestin finanzieller Hinsicht das entstandene Leid. DieserRentenanspruch wird rückwirkend zum 1. Januar 2013ausgezahlt. Zusätzlich werden anrechnungsfrei anderenotwendige Sozialleistungen gewährt. Im Bereich vonZahnersatz und Reha bekommen die Geschädigten dienotwendigen Therapien über den Leistungskatalog derKrankenkassen hinaus.Trotz der schwierigen Bemühungen, einen strukturellausgeglichenen Bundeshaushalt für 2014 aufzustellen,ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen, für dieConterganopfer die eindrucksvolle Summe von 120 Mil-lionen Euro jährlich dauerhaft zu verankern. Dafürmöchte ich auch einmal Danke sagen.Die Koalition hat vier Jahre lang erfolgreiche undgute Politik für Deutschland gemacht. Auch für die Con-tergangeschädigten können wir heute dieses wirklichdeutliche Zeichen der Hoffnung und Zuversicht und derÜbernahme der Verantwortung setzen.Auch ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank al-len, die wir zusammengearbeitet haben, und ich freuemich wirklich über das Ergebnis. Ich bedauere, dass dieFraktion Die Linke da leider nicht mitmachen konnte.
Der Kollege Dr. Ilja Seifert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu sa-gen, dass wir „leider nicht mitgemacht“ hätten, ist wirk-lich eine Frechheit. Obwohl Sie uns die ganze Zeit ausallen Verhandlungen zu diesem Gesetz systematisch aus-gegrenzt haben, wird die Linke selbstverständlich zu-stimmen, weil es die Lebensbedingungen für viele Con-terganopfer und ihre Angehörigen verbessert.
Das ist in erster Linie ein großer Erfolg des jahrzehn-telangen und sehr engagierten Kampfes der Contergan-geschädigten selbst und ihrer Familien. Und ich meine,auch die Unterstützung der Linken trug dazu bei. Diesbegann mit einer Kleinen Anfrage im Juni 2006 undzieht sich bis zu unserem Antrag durch, der heute eben-falls zur Abstimmung steht.Wir feiern heute einen Erfolg! Ja. Auch ich. Und zwaran der Seite der Betroffenen.
Dennoch ist Kritik angesagt, und sie muss auch einmalausgesprochen werden.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fünf-Parteien-Koalition, hatten – genau wie ich – in den letz-ten Wochen eine Vielzahl von Gesprächen sowie schrift-lichen Kontakten mit den Conterganopfern. Sie lasen dieStudie und die Handlungsempfehlungen der Uni Heidel-berg. Sie erlebten die Anhörung am 1. Februar mit mehrals 200 Teilnehmern. Sie haben die Sachverständigen imnichtöffentlichen Fachgespräch am 15. April angehört.Es gab sehr einleuchtende, sehr vernünftige, kluge Vor-schläge.Die Linke legte bereits im Oktober 2012 ihren Antragvor. Dieser entstand in sehr intensivem Dialog mit denBetroffenen. Es gibt Stellungnahmen und Vorschlägevon verschiedenen Conterganverbänden sowie von derAnwaltskanzlei Menschen & Rechte. Und trotzdem: Sieschusterten – vergleichbar mit dem Gesetzgebungsver-fahren vor der Bundestagswahl 2009 – in unnötigem Eil-tempo einen Gesetzentwurf hin, der viele Fragen offenund viele Probleme ungelöst lässt.Meinen Sie wirklich, dass eine Entschuldigung sei-tens des Bundestages, der Bundesregierung, der Justizund des Landes NRW für ihren Anteil an dem fortwäh-renden Conterganskandal nicht nötig wäre?Meinen Sie wirklich, dass es richtig ist, wenn dieSchadensverursacher – die Firma Grünenthal und diemilliardenschwere Familie Wirtz – nicht angemessen anden Kosten beteiligt werden?Meinen Sie wirklich, dass die Conterganrente, vor al-lem bei wirklich Schwerstgeschädigten mit hohem As-
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Dr. Ilja Seifert
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sistenzbedarf, reicht, um diese aus der Armutsfalle desSGB XII herauszuholen?Meinen Sie wirklich, dass man trotz der Ergebnisseaus der Studie der Uni Heidelberg die Spät- und Folge-schäden weiterhin unberücksichtigt lassen kann?Meinen Sie wirklich, trotz der Deckelung des Fondsfür besondere Bedarfe ein praktikables Verfahren hinzu-bekommen?Meinen Sie wirklich, dass die im Fachgespräch vor-gelegte – nicht erklärbare – Rententabelle gerechter seials ein einheitlicher Wert je Schadenspunkt?Meinen Sie wirklich, dass man ohne strukturelle Än-derungen in der Stiftung den Rechtsfrieden herstellenkann?Meinen Sie etwa, die berechtigten Ansprüche undForderungen der Conterganopfer mit weniger als zehnSchadenspunkten, der von Ausschlussfristen Betroffe-nen sowie der im Ausland lebenden Opfer mit den Ge-setzesänderungen wirklich befriedigend berücksichtigtzu haben?Nein, Sie meinen das nicht wirklich. Das, was Sie hiertun, ist vorsätzliche Unterlassung!
Ja, auch ich teile die Freude auf die zu erwartendeRentenerhöhung. Aber sie wird für rund 20 Prozent derOpfer nicht reichen, um ihnen ein selbstbestimmtes Le-ben oberhalb des Existenzminimums zu ermöglichen.Das betrifft vor allem diejenigen mit hohem Bedarf anAssistenz und Pflege. Es erfolgt eben kein vollständigerSchadensausgleich.Eine Reihe von Fragen wird über Richtlinien geklärt.Hier ist der Bundestag leider nicht beteiligt. Ich verhehlenicht, dass ich der Exekutive gegenüber sehr skeptischbin.Aber ich bin sicher: Was wir heute hier beschließen,darf kein Schlussgesetz sein. Der kommende Bundestagwird sich sehr bald nach seiner Konstituierung – nichterst nach zwei Jahren – erneut mit der Problematik be-fassen müssen und befriedigende Lösungen für all dievon mir genannten und noch etliche weitere Fragen fin-den müssen.Im Zeichen der UN-Behindertenrechtskonventionwird die selbstbestimmte Teilhabe aller Menschen mitden unterschiedlichsten Beeinträchtigungen dazu führen,dass die Regelungen für die Conterganopfer aufgegriffenund weiterentwickelt werden.Einkommens- und vermögensunabhängig. Diskrimi-nierungsfrei.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt
dem Kollegen Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Lieber Kollege Seifert, ich bin seit gut zehn JahrenMitglied des Deutschen Bundestages. Ich muss sagen:Die meisten Gesetze haben es so an sich, dass nicht alleWünsche und Probleme, die damit verbunden sind, aufeinen Schlag damit gelöst werden, sonst müsste man sienicht auch noch manchmal ändern.
Selbstverständlich ist auch uns bewusst, dass nocheine ganze Reihe von Fragen zu beantworten ist. Ichwerde auf die Details gleich noch näher eingehen. Natür-lich muss man sehen, wie das Gesetz umgesetzt wird.Aber das kann doch kein Grund sein, nicht noch in die-ser Legislaturperiode wirklich einen Durchbruch zuschaffen und die Situation der Betroffenen ganz erheb-lich zu verbessern.
Wir können wirklich froh sein, dass an dieser Stelle Ei-nigkeit in diesem Hause herrscht.Die Beharrlichkeit, die viele Kolleginnen und Kolle-gen an den Tag gelegt haben, hat sich gelohnt. Ich nennehier insbesondere Frau Rupprecht. Vor vier Jahren, alsdie Entschädigungszahlungen, gemeinhin auch als Con-terganrente bekannt, verdoppelt worden sind, haben eineganze Reihe von Abgeordneten gesagt: Das ist toll undreicht jetzt. Diejenigen, die sich mit dem Thema intensivbeschäftigt hatten, wussten schon damals, dass die Zah-lungen nicht ausreichen würden. Damals zeichneten sichschon längst die Folgeschäden ab bzw. waren schon vor-handen. Der Prozess der sogenannten Dekompensationhatte eingesetzt. Aufgrund der besonderen Leistungenmit den verbleibenden Gliedmaßen, dem Mund, mit an-deren Hilfsmitteln, die die Geschädigten vollbracht hat-ten, hatte der Verschleiß auch vor vier Jahren schonlängst eingesetzt.Die Studie der Universität Heidelberg fand dann Ein-gang in einen Entschließungsantrag. Deren Ergebnisse,so die Hoffnung vor vier Jahren, würden dazu beitragen,die Situation in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit unge-schminkt zu sehen, und das würde zu einer Anpassungder Entschädigungszahlungen führen. Das ist bis heuteein gutes Stück weit gelungen.
Der Änderungsantrag – deswegen stimmt auch meineFraktion für den Gesetzentwurf, auch wenn sie nicht aufdem ursprünglichen Gesetzentwurf stand – enthält we-sentliche Punkte. Hier sind vor allen Dingen die Nicht-anrechnung von Leistungen der Behindertenhilfe undder Hilfe zur Pflege sowie Einkommen und Vermögenzu nennen. Ich betone ausdrücklich, auch mit Blick aufHerrn Seifert, dass wir auch Veränderungen bei der Con-terganstiftung selbst vorgenommen haben.
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Markus Kurth
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Die Sitzungen der Stiftung sind öffentlich. Die Nicht-öffentlichkeit muss ausdrücklich erklärt werden. Weiter-gehende Änderungen, die etwa die Mehrheitsverhält-nisse betreffen, werden selbstverständlich auch in derkommenden Legislaturperiode weiter geprüft. Aber so-lange öffentliche Mittel in diese Stiftung fließen, wird eskein Finanzminister, egal welcher Partei, zulassen, dasszum Beispiel der Bund nicht auch die Mehrheit hat. Sol-che Rechtsverhältnisse muss man berücksichtigen.Auch die Deckung spezifischer Bedarfe wird hoffent-lich funktionieren. Dabei muss man natürlich daraufachten, dass nicht die vorgelagerten Sozialleistungsträ-ger, insbesondere die Krankenkassen, rundweg alles ab-lehnen und dass die Stiftung die Widerspruchsverfahrenfür die Betroffenen in die Hand nehmen muss. DiesenBereich müssen wir uns sehr genau ansehen.Der Umgang mit den Folgeschäden, die in dem Ge-setzentwurf nicht enthalten sind, verdient in der kom-menden Legislaturperiode eine genauere Betrachtung.Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Firma Grü-nenthal sich das ebenfalls noch einmal ansieht und klarerdie Verantwortung für das übernimmt, was auf ihr ge-schäftliches Verhalten zurückgeht.
Es ist nicht nur der Bund, der gefragt sein wird. Ausdem Bundeshaushalt werden künftig jährlich 155 Millio-nen Euro gezahlt. Wir werden also in einigen Jahren beiden Kosten für die Folgeschäden die Milliardengrenzeüberschreiten. Hinzu kommen die Ausgaben der Sozial-versicherungsträger.Die Firma Grünenthal hat 1972 114 Millionen D-Markbezahlt, 2009 noch einmal 50 Millionen Euro. Wennman sich die Verhältnisse ansieht, ist das geradezu lä-cherlich. Ich weiß, dass man das rechtlich – es gibt Be-schlüsse des Bundesverfassungsgerichtes – jetzt natür-lich nicht mehr revidieren kann. Aber die moralischeVerantwortung der Firma Grünenthal ist unzweifelhaft.Ich bin schon etwas irritiert, wenn ich sehe, dass dieFirma Grünenthal in den vergangenen drei Jahren für100 Millionen Euro an ihrem Standort in der Nähe derUni Aachen den Grünenthal-Campus gebaut und geför-dert, aber für die Geschädigten keine finanzielle Verant-wortung übernommen hat. Uns bleibt hier im DeutschenBundestag leider nur der immer wieder neue Appell. Da-mit, dass wir in diesem Hause gemeinsam Verantwor-tung übernommen haben, können wir erst einmal eini-germaßen zufrieden sein.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Hubert Hüppe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Über Jahrzehnte fühlten sich contergangeschädigteMenschen verraten und verkauft. Sie fühlten sich vonder Firma Grünenthal ausgetrickst, und sie fühlten sichauch von diesem Staat im Stich gelassen. Aus der Öf-fentlichkeit kennen wir Menschen mit Conterganschädi-gungen. Wir kennen Künstler, Paralympics-Gewinnerin-nen und -Gewinner, die ihren Sport inzwischen aberlängst nicht mehr ausüben können und Schmerzen ha-ben. Aber es gibt auch ganz viele Menschen, die wir niegesehen haben. Es sind Menschen – durch die Studiehaben wir gelernt, dass es im Alter immer schlimmerwird –, die jeden Tag, zu jeder Stunde Schmerzen habenund die sich nur mit Schmerzmitteln am Leben erhaltenkönnen. Es sind Menschen, die organische Schäden ha-ben, die ohne Assistenz nicht aus dem Haus kommen.Was viele auch nicht wussten: Es gibt zum Beispielauch Menschen, die aufgrund des Contergans gehörlossind und die einen besonderen Assistenzbedarf haben.Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Arme und wärengehörlos: Sie könnten noch nicht einmal Gebärdenspra-che.Diese Menschen waren immer misstrauisch. Sie wa-ren übrigens auch misstrauisch, als 2009 die Studie inAuftrag gegeben wurde, weil sie gedacht haben, dass diePolitik wieder auf Zeit spielt und hinterher doch nichtsdabei herauskommt. Es gab sogar einige, die zum Boy-kott aufgerufen haben; auch das ist die Wahrheit. Dannkam diese Studie, die zeigte, wie dramatisch die Schädensind, und dass sie zum Teil noch schlimmer sind, alsselbst die Fachleute geglaubt haben.Als wir mit den Betroffenen gesprochen haben – dashaben ja alle Parteien bzw. Fraktionen getan –, zeigtesich, dass es drei Punkte gab, die sie sich gewünscht ha-ben und die ihnen wichtig waren. Das Erste war, dass dieRenten bzw. die Entschädigungsleistungen erhöht wer-den, damit man, ohne jemals einen Antrag stellen zumüssen, selbst bestimmen kann, was man mit diesemGeld macht. Das Zweite war, dass die Sonderbedarfeschnell eingeführt werden. Das Dritte war – KollegeSeifert, es ist kein Problem, sondern es war richtig –,dass diese Leistungen schnell kommen, weil diese Men-schen sagen: Wir haben nicht mehr viel Zeit, uns läuftdie Lebenszeit weg.
Deswegen war es richtig, dass, drei Wochen nachdemdieses Gutachten vorgelegt worden ist, die Koalitions-parteien sofort gesagt haben: Wir stellen über einenHaushalt nachträglich – das bitte ich auch einmal anzu-erkennen – ab dem 1. Januar 2013 zusätzlich 120 Millio-nen Euro jährlich zur Verfügung. Das heißt, hier hat manwirklich einmal für die Betroffenen gesorgt, und alleParteien haben mitgemacht. Das ist auch gut so. Es ge-hört sich, das hier noch einmal zu betonen.
Sicherlich sind nicht alle Forderungen erfüllt worden.Ich habe mit den betroffenen Menschen gesprochen.
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Hubert Hüppe
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Alle erhalten von uns ein Schreiben, jeder hat seinen An-sprechpartner, oft sind es dieselben. Die Betroffenenschreiben, dass sie trotz aller Kritik erst einmal dankbarsind, dass endlich etwas geschehen und auch nachhaltiggeschehen ist.
Ich weiß noch, dass mich jemand anrief und sagte: Ichmuss protestieren! 120 Millionen für die restliche Le-benszeit, das ist viel zu wenig. – Da habe ich gesagt:Nicht für die restliche Lebenszeit, sondern für jedesJahr! – Das war zu Beginn der Diskussion. Da kamennatürlich viele Dinge zusammen. Aber ich denke, dassdie Entschädigungsleistung eine wirklich gute Sache ist;da sie nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, umsomehr.Noch einmal: Die Betroffenen sind dankbar. Ich bindankbar, dass alle Beteiligten dafür gesorgt haben, dasswir zügig handeln konnten. Es ist auch ein Beitrag zurVerbesserung der Glaubwürdigkeit der Politik,
dass wir die Empfehlungen der Studie umgesetzt habenund nicht noch weiter diskutiert haben, vielleicht sogarbis in die nächste Legislaturperiode. Der Gesetzentwurfist vor allen Dingen ein Fortschritt für die Menschen, diedie Hilfe dringend benötigen.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Thomas Jarzombek von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Bevor ich im Jahr 2009 in
den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, war mir
natürlich bekannt, dass es Contergangeschädigte gibt,
aber mit den Einzelheiten dieser Schicksale war ich bis
dahin nicht vertraut. Seit ich im Familienausschuss für
meine Fraktion Berichterstatter zu diesem Thema bin,
habe ich von den Schicksalen vieler Betroffener erfah-
ren. Angesichts der Schilderungen muss ich sagen: Ich
bin wirklich betroffen.
Es sind unvorstellbare Schicksale aus der Sicht von
jemandem, der selber so etwas nicht erlebt hat. Ich kann
nur sagen: Ich habe wirklich großen Respekt vor denje-
nigen, die gelernt haben, mit diesen Schädigungen um-
zugehen, die trotzdem ihr Leben gestaltet haben. Diesen
Respekt zolle ich ihnen heute.
Ich habe bereits in der Anhörung gesagt – ich möchte
das heute wiederholen –: Als ob das Schicksal, das durch
dieses Medikament verursacht wurde, nicht schon schlimm
genug wäre, so sind den Opfern, den Betroffenen, im
Laufe der Jahrzehnte verdammt viele Steine in den Weg
gelegt worden. Manche Art und Weise im Umgang war
unwürdig. Ich finde, wir haben die Pflicht, uns bei allen
Betroffenen dafür zu entschuldigen.
An dieser Stelle möchte ich meinen Dank und meine
Anerkennung auch denjenigen Kollegen aussprechen,
die in der letzten Legislaturperiode mit dem Zweiten
Conterganstiftungsänderungsgesetz viel Gutes auf den
Weg gebracht haben. Ich finde es großartig, dass wir es
hinbekommen haben, das heute mit dem Dritten Con-
terganstiftungsänderungsgesetz fortzuführen, dass wir
den Geschädigten, den Opfern, unkompliziert und ohne
lange Antragsverfahren helfen; und das in einer Haus-
haltssituation, in der es in Anbetracht der Schulden-
bremse so gut wie unmöglich ist – das weiß ich aus
meinen anderen Themenbereichen –, auch nur kleine
Summen für neue Projekte zu erhalten. Wir stellen nun
jedes Jahr 120 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
Wir tun hier einen großen Schritt, um für ein weiterhin
selbstbestimmtes bzw. verbessertes Leben der Geschä-
digten zu sorgen, und darauf kommt es an.
Ich kann dem Kollegen Kurth nur zustimmen: Wenn
sich unser Staat eine Entschädigungszahlung von zusätz-
lich 120 Millionen Euro pro Jahr leistet – ausdrücklich
keine Sozialleistung; das ist mir wichtig; das wurde übri-
gens durch die vorgenommenen Änderungen gewähr-
leistet –, die nicht auf andere Sozialleistungen angerech-
net wird, dann fände ich es nur angemessen, wenn auch
die Firma Grünenthal ihren Beitrag zur Entschädigung
leisten würde.
Man kann auch einen großen Dank an diejenigen
richten, die in der Stiftung viel Gutes getan haben, auch
wenn es manchmal sicher schwierige Situationen gewe-
sen sind. Ich bedanke mich an dieser Stelle und wünsche
mir – auch das im Hinblick auf Änderungen, die wir im
Beratungsverfahren erreicht haben und in die ich große
Hoffnungen setze –, dass öfter öffentlich getagt wird.
Am Ende bin ich stolz, an diesem Gesetzentwurf mit-
gearbeitet zu haben. Selten hat man ein so sicheres Ge-
fühl, genau das Richtige zu tun. Wenn man sich das
Schicksal der Betroffenen anschaut, kommen wir hier
wohl allesamt zu der Überzeugung, heute genau das
Richtige zu tun.
Darauf bin ich stolz, und ich danke allen, die das er-
möglicht haben. Ich hoffe, dass die Betroffenen damit
wieder ein bisschen mehr Mut für ihr Leben fassen kön-
nen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachtenGesetzentwurf zur Änderung des Conterganstiftungsge-setzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undJugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/13279, den Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP aufDrucksache 17/12678 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit einstimmig angenommen.Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauenund Jugend auf Drucksache 17/13279 fort. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion DieLinke auf Drucksache 17/11041 mit dem Titel „Lebens-situation der durch Contergan geschädigten Menschenmit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetzund weiteren Maßnahmen spürbar verbessern“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen derLinken und Enthaltung der Grünen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterievor der Küste Somalias auf Grundlage desSeerechtsübereinkommens der Vereinten Na-tionen von 1982 und der Resolutionen1814 vom 15. Mai 2008, 1816 (2008)vom 2. Juni 2008, 1838 vom 7. Oktober2008, 1846 vom 2. Dezember 2008, 1851
vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009)
vom 30. November 2009, 1950 vom23. November 2010, 2020 vom 22. No-vember 2011, 2077 vom 21. November2012 und nachfolgender Resolutionen desSicherheitsrates der VN in Verbindung mitder Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP desRates der Europäischen Union vom10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Ratesder EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP desRates der EU vom 23. März 2012– Drucksache 17/13111 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dieserAussprache nicht folgen wollen, den Saal zu verlassen,damit die anderen dem Redner folgen können.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. GuidoWesterwelle, das Wort.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrteDamen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Atalantaist eine erfolgreiche Mission. Seit Beginn des Einsatzeskonnte sichergestellt werden, dass über 150 im Auftragdes Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffs-transporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichten.Insgesamt konnte 1 Million Tonnen Nahrungsmittel undHilfsgüter nach Somalia gebracht werden. Das ist der ei-gentliche Grund, warum wir diese Mission begonnen ha-ben. Wir wollen den Menschen helfen.Es ist auch einen Dank wert, dass die Frauen undMänner der Bundeswehr so erfolgreich gearbeitet haben.
Als wir hier vor einem Jahr über Atalanta debattier-ten, waren sieben Schiffe und über 200 Geiseln in denHänden von Piraten. Heute sind es noch zwei Schiffeund 60 Geiseln. Die letzte Entführung eines Schiffesliegt fast ein Jahr zurück. Auch die Zahl der versuchtenKaperungen ist eindeutig rückläufig. Das heißt nicht,dass alles gut ist. Wenn sich die Dinge gut entwickeln,dann sollte man aber einfach einmal einen Augenblickinnehalten und die Geschehnisse Revue passieren lassen.Dabei stellt man fest, dass die Bedenken, die im letztenJahr bezüglich der Anpassung des Atalanta-Mandatesgeäußert worden sind, von der Realität augenscheinlichnicht bestätigt worden sind. Mit anderen Worten: Ichbitte die Opposition, die dem Mandant damals nicht zu-gestimmt hat, weil sie Zweifel an der Ausweitung desMandats hatte, diesem Mandat heute ihre Unterstützungzu gewähren. Die Bedenken, die Sie geäußert haben, wa-ren augenscheinlich nicht zutreffend.
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Das ist eigentlich ein guter Anlass, wieder zu einer ge-meinsamen Haltung des Deutschen Bundestages zurück-zukehren.Das Engagement der Europäischen Union mit deut-scher Unterstützung war erfolgreich. Die Mandatserwei-terung, nach der die Europäische Union bzw. unsere Sol-datinnen und Soldaten jetzt auch Waffen und Ausrüstungder Piraten am Strand zerstören dürfen, war beim letztenMal Gegenstand einer großen Kontroverse. Heute sehenwir: Das war eine wirksame Mandatserweiterung. Ichmeine, das wäre ein guter Anlass, die Verweigerung derZustimmung vom letzten Jahr dieses Mal nicht zu wie-derholen.
Natürlich ist der militärische Einsatz am Horn vonAfrika in einen politischen Gesamteinsatz für Somaliaeingebettet. Bei der Verfolgung der Hintermänner derPiraterie und der Aufdeckung ihrer Finanzen können wirFortschritte verzeichnen. Auf Betreiben der Bundes-regierung erhält dieses Thema auf internationaler Ebenenun deutlich mehr Aufmerksamkeit. Wir haben neueStrukturen geschaffen und die Zusammenarbeit der Poli-zeibehörden verbessert. Das erhöht den Druck auf dieHintermänner der Piraten. Es darf auf keinen Fall ver-gessen werden, dass es nicht ausreicht, die Piraten zu be-kämpfen, indem man sie von ihren unrechtmäßigenHandlungen abhält. Es ist auch wichtig, die Hintermän-ner bei der Ausübung ihres blutigen Handwerks zu stö-ren. Auch diesbezüglich ist durch die politische Arbeiteiniges vorangekommen.Die Sicherheitslage in und um Mogadischu und inTeilen Süd- und Zentralsomalias hat sich deutlich ver-bessert. AMISOM, also die Mission der AfrikanischenUnion in Somalia, hat bei der Verdrängung Al-Schabab-Milizen gute Erfolge erzielt. Die jüngsten Anschläge ha-ben aber auch gezeigt, dass die Lage immer noch fragilist. Das heißt, es ist richtig und geboten, dass wir mit un-serem Engagement zum Beispiel die Schifffahrtsroutenweiter schützen, dass wir als Handelsnation die See-fahrtswege verteidigen, dass wir unsere Staatsbürger,aber auch die Bürger unserer Partner weiter schützen.Beim Aufbau der staatlichen Strukturen in Somaliagibt es ebenfalls Fortschritte. Seit September hat Soma-lia mit Hassan Sheikh Mohamud einen neuen Präsiden-ten und seit November eine vom Parlament bestätigteRegierung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationenhat bereits am 18. September letzten Jahres einstimmigdas Ende der Übergangsphase anerkannt. In vier Jahrensoll es dann zu allgemeinen Wahlen kommen. Ich darfIhnen mitteilen, dass Deutschland seit kurzem wiederdurch eine Botschafterin bei der somalischen Regierungakkreditiert und Deutschland damit wieder vor Ort ver-treten ist. Damit konnten wir eine mehr als 20-jährigePhase ohne förmliche Vertretung beenden. Auch das istAusdruck der Normalisierung der Lage in Somalia.Abermals will ich aber hinzufügen, dass die Lage unver-ändert fragil ist.Es ist also nicht alles gut in Somalia. Es bleibt nochviel zu tun, bevor wir von einer stabilen Staatlichkeit inSomalia sprechen können. Aber wir sind auf dem richti-gen Weg. Wir wollen den eingeschlagenen Weg ent-schlossen fortsetzen: durch politische Unterstützung,durch Entwicklungszusammenarbeit – übrigens auchdurch humanitäre Hilfe, wo sie weiterhin nötig ist – undnicht zuletzt durch unsere Beteiligung an der EU-geführ-ten Operation Atalanta.Die völkerrechtlichen Grundlagen dieses Einsatzesbilden weiterhin die Resolutionen des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen, die Beschlüsse des Rates derEuropäischen Union sowie die Zustimmung der somali-schen Regierung.Für die Bundesregierung beantragen der Bundesver-teidigungsminister und ich hier die Verlängerung desMandats ohne inhaltliche Veränderung. Was wir im letz-ten Jahr beschlossen haben, hatte Hand und Fuß. Es warerfolgreich. Wir sollten es in diesem Jahr fortsetzen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Karin Evers-Meyer.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesverteidi-gungsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSPD-Bundestagsfraktion ist für eine Fortsetzung derEU-geführten multinationalen Operation Atalanta aufSee. Ich wiederhole das noch einmal: auf See. Die Ope-ration ist erfolgreich. Die Bundeswehr hat im Rahmenvon Atalanta mitgeholfen, die Piraten vor der somali-schen Küste zurückzudrängen. Seit Mai 2012 hat es dortkeine Schiffsentführungen mehr gegeben, immerhin ineinem Seegebiet, das größer als der ganze europäischeKontinent ist. Die professionelle Einsatzplanung und daskonsequente Vorgehen der beteiligten Truppen haben be-wirkt, dass sich das Geschäftsmodell Piraterie nichtmehr lohnt. Die Bundeswehr hat ihren Anteil an diesemErfolg, einen großen Anteil.Als SPD-Fraktion hätten wir daher heute gern für eineVerlängerung des Mandats gestimmt. Leider macht dieBundesregierung uns diese Zustimmung erneut unmög-lich.
Wieder verbindet sie in ihrem Antrag die Mandatsver-längerung mit einer Ausweitung des Einsatzes auf dieKüstengewässer und das Staatsgebiet von Somalia ein-schließlich des Luftraums. Dem stimmen wir auch heutenicht zu. Der Auftrag von Atalanta ist der Schutz derSchiffe, die im Rahmen des UN-Welternährungspro-gramms mit Hilfsgütern für Somalia unterwegs sind. DieErfolgsquote von Atalanta liegt bei 100 Prozent. Wir be-zweifeln allerdings nach wie vor den militärischen Nut-zen der Mandatserweiterung.
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Karin Evers-Meyer
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Mit dieser Einschätzung sind wir nicht allein. Im ver-gangenen Jahr wurden nur ein einziges Mal tatsächlichZiele an der somalischen Küste angegriffen.
Über dieses eine Mal hinaus haben die Militärs vor Ortoffensichtlich keine Notwendigkeit für weitere Einsätzean der Küste gesehen. Atalanta und die Bundeswehr sinderfolgreich, ohne dass der Operationskorridor auf Küs-tengewässer hätte ausgedehnt werden müssen.
Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines erweiterten Mandatsfür die Bundeswehr haben daher nicht zuletzt auch Fach-leute aus den Reihen der Bundeswehr selbst.
Noch etwas, verehrte Kolleginnen und Kollegen– seien Sie sich dessen bitte bewusst –: Jede Erweiterungdes Mandats erhöht auch die Risiken für die Soldatinnenund Soldaten im Einsatz. Wollen Sie die Bundeswehr anSomalias Stränden dem Risiko aussetzen, in unüber-sichtliche Gefechtssituationen zu geraten, obwohl sie da-für gar nicht ausgerüstet ist?
Wollen Sie das Risiko eingehen, dass Unbeteiligte vonder Bundeswehr in Kampfhandlungen verwickelt wer-den?
Es ist auch unsere Aufgabe, die Truppe und Zivilistenvor unnötigen Risiken zu schützen. Genau das tun wirals SPD-Fraktion. Wir sind unverändert gegen dieseMandatserweiterung. Wir brauchen sie nicht, um erfolg-reich zu sein. Deswegen werden wir unsere Soldatinnenund Soldaten keinem zusätzlichen Risiko aussetzen.Wir unterstützen ausdrücklich das deutsche Engage-ment am Horn von Afrika, wir unterstützen die Opera-tion Atalanta, aber der Ausweitung des Mandats auf dieStrandgebiete und küstennahe Gewässer haben wir nichtzugestimmt, und wir werden dies auch heute nicht tun.
Wir brauchen die Mandatsverlängerung – die brauchenwir wirklich –, aber wir brauchen keine Mandatserweite-rung.Sehr geehrte Damen und Herren aus den Regierungs-fraktionen, ich werde Sie trotz guter Argumente heute si-cherlich nicht von Ihrer Überzeugung abbringen, dassdie Bundeswehr auch an der somalischen Küste aktivwerden muss. Wenn aber schon das nicht geht, dann er-lauben Sie mir die Frage: Warum stimmen wir über dieMandatserweiterung nicht getrennt von der Mandatsver-längerung ab? Wir haben Ihnen mehr als einmal vorge-schlagen, dies getrennt zu behandeln: eine Abstimmungüber die Ausweitung des deutschen Einsatzes am Hornvon Afrika,
eine Abstimmung über die Verlängerung des Mandatsfür Atalanta.
Sie haben das ohne Angabe von Gründen abgelehnt.
– Das tun wir; das habe ich ja eben gesagt. – Stattdessenlegt uns die Bundesregierung heute einen Antrag vor, derdie Verlängerung des Mandates inklusive der von unsschon beim letzten Mal abgelehnten Ausweitung vor-sieht.Kolleginnen und Kollegen, damit haben Sie keineGröße bewiesen.
Ihre Spielchen gehen doch zulasten der Soldatinnen undSoldaten. Diese haben ein Recht darauf, dass sich ausden Ergebnissen der Abstimmungen des Bundestagesüber die Einsätze der Bundeswehr ein differenziertesBild ergibt.
Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir hier imHause größtmöglichen Rückhalt für ihre Einsätze orga-nisieren.
Mit zwei getrennten Anträgen wären Sie diesen Erwar-tungen gerecht geworden.
Aber das wollten Sie nicht. Das Ergebnis lautet: Mit derVerquickung von Mandatsverlängerung und -erweite-rung haben Sie die berechtigten Erwartungen der Solda-tinnen und Soldaten in Sachen Atalanta enttäuscht.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie ha-ben auch viele Mitglieder dieses Hauses vor den Kopf
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Karin Evers-Meyer
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gestoßen. Denn Sie wissen: Jede Entscheidung über ei-nen Einsatz der Bundeswehr ist für viele Kolleginnenund Kollegen eine schwerwiegende Gewissensentschei-dung.
Meine Fraktion und ich hätten uns gewünscht, dass Sieden Kolleginnen und Kollegen den gebotenen Respektzollen
und ihnen die Möglichkeit geben, das Gute und Richtigevom Unnötigen zu trennen. Einsatzverlängerung und-ausweitung sind zwei Paar Schuhe und nicht zwei Sei-ten derselben Medaille.
Lassen Sie mich nach der Feststellung dieses Ergeb-nisses noch etwas zur Situation in Somalia sagen. Wirsind uns darin einig, dass es in der Region weiter darumgehen muss, Ursachen zu bekämpfen. Symptome zu be-handeln, reicht auf Dauer nicht aus. Die wesentlichenImpulse, durch die die bewaffneten Kämpfer auf See ge-stoppt werden können, müssen aus Somalia selbst kom-men, und da gibt es noch ganz viel zu tun.Seit 1991 versinkt Somalia im Strudel aus Gewalt undChaos. Nicht nur Piraten bereiten Sorge, sondern auchIslamisten der Terrorgruppe al-Schabab, die mit al-Qaidakooperieren. Vornehmlich sind es bisher Soldaten ausUganda und Kenia, die sich den Al-Schabab-Milizenentgegenstellen, sie zurückdrängen und aus den Städtenvertreiben. Eine dauerhafte Stabilisierung der Lage kannnur die somalische Regierung in Mogadischu selbst her-beiführen.Wir können allerdings helfen: bei der Herstellung ei-ner verlässlichen Gerichtsbarkeit, der Errichtung rechts-staatlicher Strukturen und der Eindämmung der Korrup-tion.
Es gibt vieles, bei dem wir mithelfen können, um denPiraten und den Al-Schabab-Milizen das Wasser abzu-graben. Es gibt genug Möglichkeiten, Atalanta durchdurchdachte Maßnahmen an Land zu flankieren. DieAusbildung somalischer Rekruten im Rahmen der Euro-pean Union Training Mission in Uganda ist ein gutesBeispiel dafür. Hier zeigt die Bundeswehr ihre Leis-tungsfähigkeit, unter zum Teil schwierigsten Bedingun-gen. Seit April 2010 haben Soldaten der EU, auch derBundeswehr, etwa 3 000 somalische Soldaten ausgebil-det. Sie sollen helfen, Somalia von innen zu stabilisie-ren.Diesen Weg wollen wir als SPD-Fraktion weiterge-hen. Dafür haben Sie unsere Unterstützung. Wir fordernSie auf, hier endlich entschlossener zu Werke zu gehen,anstatt die Glaubwürdigkeit eines guten und richtigenMandates durch eine nach wie vor fragwürdige Erweite-rung aufs Spiel zu setzen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der BundesverteidigungsministerDr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben in den letzten Wochen und Monaten viel über dieRolle der Europäischen Union im Bereich der Sicher-heits- und Verteidigungspolitik diskutiert. Wir stehenmitten in der Vorbereitung eines Gipfels, auf dem wiruns im Dezember dieses Jahres erstmalig mit der Sicher-heits- und Verteidigungspolitik beschäftigen werden.Wir können in der Sicherheits- und Verteidigungspolitikgemeinsam mehr machen; wie viel mehr, darüber disku-tieren wir. Wir sollten mehr tun. Deswegen fange ichmeine Rede in dieser Debatte über die EU-geführte Ope-ration Atalanta so an.Somalia ist, jedenfalls seit einiger Zeit, ein gutes Bei-spiel dafür, dass der Mehrwert der europäischen Ge-meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nichtdarin besteht, dass man nur auf die Soldaten, das Zivile,die Polizei oder das Ökonomische blickt, sondern darin,dass man im Rahmen eines vernetzten Ansatzes wirkt.Ich sage das deswegen, weil ich – gerade als Verteidi-gungsminister – zu denen gehört habe, die kritisiert ha-ben, dass die ganze Last dessen, was in Somalia zu leis-ten war, auf den Soldaten lag, die Piraten bekämpfthaben, und der Kampf gegen die Hintermänner, das Wir-ken am Strand – dazu komme ich gleich –, die Stabilisie-rung der Regierung, all das vernachlässigt worden war.Seit einiger Zeit ist vieles besser geworden. Darüberfreuen wir uns, und deswegen geht es in Somalia – derAußenminister hat das vorgetragen – auch voran.Das Mandat, über das wir heute diskutieren – Ata-lanta –, ist ein EU-Mandat. Für die gleichen Gewässergibt es aber auch ein NATO-Mandat, in diesen Gewäs-sern agieren auch andere Staaten – ich weiß nicht, ob dasbekannt ist; ich nenne einmal einige dieser Staaten – dieVereinigten Arabischen Emirate, China, Thailand, sogarder Iran, Indien, Malaysia, Russland, Saudi-Arabien,Singapur und Japan. Sie alle versuchen teils mit eigenen,unabhängig operierenden Schiffen Piraten zu bekämpfenund sind erfolgreich dabei.Interessanterweise wird das alles von einer Stelle auskoordiniert. Ich erwähne das nicht nur deswegen, weil eseine gute Zusammenarbeit zwischen EU und NATO
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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gibt, die einen leise fragen lassen kann, ob die Mandatenicht auf Dauer – in welcher Weise auch immer – zu ei-nem Mandat zusammengelegt werden könnten, ich er-wähne das auch deswegen, weil wir es schaffen, mit ein-zelnen Staaten, die sich einem gemeinsamen Anliegenverbunden fühlen, so zusammenzuarbeiten, dass ein gu-tes Ganzes dabei herauskommt.Die Dinge sind nicht nur durch den Einsatz der Solda-ten besser geworden, sondern auch durch eine Verbesse-rung der Ausrüstung der Schiffe und durch – natürlichhaben wir darüber diskutiert, und das ist durchaus zuproblematisieren – die Entsendung privater EscortTeams, die Schutz bieten sollen. Wir haben in der letztenWoche ein entsprechendes Gesetz für deutsche Zertifi-zierungen verabschiedet. Das alles sind Beiträge, die dieSituation verbessert haben, und die zeigen: So ein Ein-satz geht nur gemeinsam.Die nötige Gemeinsamkeit hatten wir auch in diesemParlament. Liebe SPD, als ich Frau Evers-Meyer gehörthabe, musste ich an einen alten Spruch von KonradAdenauer denken: Geht es nicht eine Nummer kleiner?Sie haben behauptet, wir würden das Leben der Soldatengefährden, wenn es um das Wirken am Strand geht, undwir sollten Sie in Ihrer Gewissensnot nicht überfordernmit all dem.Ich will Ihnen einmal sagen: Wir reden über einenWunsch der Soldaten. Es war ein einstimmiger Be-schluss aller EU-Staaten – egal wer dort regiert hat –,den Einsatz so durchzuführen. Wir haben von Anfang angesagt: Das ist keine große qualitative Veränderung, son-dern nicht mehr und nicht weniger als eine nützlichekleine zusätzliche Option.Sie haben da eine riesige Eskalationsgefahr gesehenund haben danach gefragt, ob man Zivilpersonen wieFischer überhaupt von Piraten unterscheiden könne. Eshat einen Vorfall gegeben; Sie haben zu Recht daraufhingewiesen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 2012führte ein solcher Einsatz von Hubschraubern auf demLand zur Zerstörung mehrerer Piratenskiffs und mehre-rer Außenbordmotoren. Es gab keine zivilen Verletzten,aber der Einsatz hatte eine ziemlich abschreckende Wir-kung. Wir wissen ja ganz genau, wo sich die Infrastruk-tur der Piraten befindet, und wir haben beim letzten Malim Ausschuss die Bilder alle gezeigt. Wir können Ihnenjetzt auch Bilder zeigen: Es gibt diese Infrastruktur nichtmehr am Strand; daher muss man sie auch nicht mehrbekämpfen. Deswegen sollten wir aber dieses Mandat– so wie es ist – fortsetzen.
Denn wir haben gezeigt, dass unsere Soldaten mit sol-chen Optionen maßvoll, vernünftig, deeskalierend undim Ergebnis effektiv umgehen. Deswegen wiederholeich: Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?Ich verstehe, dass Sie Schwierigkeiten damit haben,so kurz vor der Bundestagswahl aus einer Ablehnungeine Zustimmung zu machen. Das kann ich politisch ver-stehen. In der Sache ist es jedoch nicht richtig. Bitte ma-chen Sie Ihre Kritik eine Nummer kleiner; das ist aucheine Ermunterung an den nächsten Redner von den Grü-nen, der vielleicht Ähnliches vortragen wollte. Ich bitteSie also für die Bundesregierung – gemeinsam mit mei-nem Kollegen Westerwelle – um die Verlängerung die-ses Mandats.Wir sind uns einig: Das kann nur in einem gemeinsa-men, vernetzten Ansatz funktionieren. Wir alle solltenunsere Soldaten in der ganzen Breite des Mandats unter-stützen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Kathrin Vogler.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Vor beinahe genau 20 Jahren, am21. April 1993, befahl der damalige Verteidigungsminis-ter Rühe von der CDU den Bundeswehreinsatz im Rah-men der Mission UNOSOM II. Ich erinnere mich noch,dass ich damals bei einer Protestaktion vor dem Kanzler-amt in Bonn eine Salami zerschnibbelt habe.
Damit wollte ich darauf hinweisen, dass dieser EinsatzBestandteil einer Salamitaktik ist, um die deutsche Öf-fentlichkeit daran zu gewöhnen, dass deutsche Soldatenwieder in Kriege ziehen.
Diese damalige Salamitaktik ist leider aufgegangen,und auch Sie, Herr Minister, praktizieren sie weiter;denn durch die schrittweise Ausweitung
wollen Sie sozusagen immer weitere Kreise für dieseMilitäreinsätze ziehen.Heute wird die Bundeswehr in aller Welt eingesetzt,als ob das selbstverständlich wäre. Die Kollegin Evers-Meyer hat eine vorsichtige Anfrage zu einem ganz kon-kreten Mandat gestellt und ist hier mit der geballtenMacht der Ministerreden abgestraft worden. Das kanndoch wohl so nicht sein!
Wir müssen heute wieder über die Verlängerung desAtalanta-Militäreinsatzes sprechen, und zwar auch des-halb, weil alle Bundesregierungen seit 1990 immer wie-der auf militärische Lösungen für die Probleme dieserWelt gesetzt haben. Wir müssen uns aber 20 Jahre späterfragen: Welches dieser Probleme ist wirklich gelöst wor-den?
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Kathrin Vogler
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Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, habe ichals Geschäftsführerin einer Friedensorganisation gear-beitet. Dabei habe ich gelernt: Wenn ich staatliche Mittelfür Friedensprojekte haben möchte, dann muss ich sehrüberzeugende Anträge stellen und vor allem begründen,dass die Projekte innovativ und nachhaltig sind. DasGanze muss man evaluieren, um die Wirksamkeit zu be-legen. Sonst gibt es kein Geld.Großzügig sind Sie immer nur dann, wenn es um Mi-litäreinsätze geht. Die Bundesregierung lässt sich diesenEinsatz von 340 Soldaten jedes Jahr mehr als 100 Mil-lionen Euro kosten. Das ist mehr als dreimal so viel, wieSie für alle 300 Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes,die in 40 Ländern der Welt für Frieden und Versöhnungarbeiten, insgesamt ausgeben.
Ihre militärfixierte Politik verschleudert aber nichtnur Geld. Das Schlimme ist: Sie kostet auch Menschen-leben. – Das ist wirklich ein Skandal.
Innovation und Nachhaltigkeit: Wo sind sie in diesemKonzept? Sie greifen immer wieder zum gleichen un-tauglichen Mittel, und wenn dieses Mittel keinen Erfolgbringt, dann erhöhen Sie einfach die Dosis oder definie-ren die Ziele so um, dass es nach Erfolg aussieht.Ich habe im Antrag der Bundesregierung einen ganzrichtigen Satz gelesen. Er lautet:Die nachhaltige Lösung des Piraterieproblems liegt… in der nur langfristig zu erreichenden Stabilisie-rung der Verhältnisse an Land.
Ich muss Sie wirklich fragen: Wie nachhaltig ist das,was wir hier tun? Wie nachhaltig ist es, wenn Sie diesenEinsatz Mal um Mal verlängern? Wir alle wissen näm-lich: Es müsste eigentlich eine politische Lösung geben,die nicht nur auf eine Bürgerkriegspartei setzt, sondernalle Konfliktparteien, die lokalen Autoritäten und die Zi-vilgesellschaft auch in politische Prozesse einbindet.
Tun Sie doch ein einziges Mal das, was Sie von jederkleinen Entwicklungsorganisation verlangen: EvaluierenSie diesen Einsatz!Ich habe hier nur davon gehört, dass alles erfolgreichist. Natürlich ist die Zahl der Piratenangriffe zurückge-gangen, aber auf die Frage, was die konkreten Ursachendafür sind, haben ja selbst die Minister zugegeben, dasssie sich nicht sicher sind, woher das kommt.
Ist das wirklich eine Folge von Atalanta, oder hat dasvielleicht mit der veränderten Situation an Land oder mitdem veränderten Umgang der Reedereien mit den Risi-ken zu tun? Das müsste man doch durch unabhängigeWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einmal or-dentlich evaluieren, bevor man diesen Einsatz hier wie-der verlängert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undvon den Grünen, Sie haben sich letztes Jahr mit teilweiseguten Argumenten gegen die Ausweitung des Mandatesauf das Festland gewandt. Ich hoffe, das haben Sie nochnicht vergessen.Die Linke war jedenfalls von Anfang an gegen diesenMilitäreinsatz,
und so wird es auch bleiben.
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt vonBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Fraktion hat dem Atalanta-Einsatz bis zum letztenJahr immer zugestimmt. Im Auftrag der UNO werdendie Schiffe des Welternährungsprogramms zur Versor-gung der Bevölkerung gegen Piraten geschützt, und derfreie Zugang zur hohen See für die zivile Schifffahrt inder Region wird gesichert. Das ist richtig. Das unterstüt-zen wir ausdrücklich.Aber letztes Jahr hat die Bundesregierung gravie-rende Änderungen am Mandat vorgenommen.
Es war und ist hoch riskant, das Mandat auf Luft-Boden-Operationen über dem Land auszuweiten, und zwar2 Kilometer tief ins Landesinnere auf 3 000 KilometerKüstenlänge.
Das sei unbedingt notwendig, um die Piraterie erfolg-reich zu bekämpfen, wurde gesagt. Da habe ich gedacht,Herr Minister: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?Wir alle wissen: Gerade bei Angriffen aus der Luftdrohen zivile Opfer. Das ist eine bittere Lehre der ver-gangenen Jahre. Das muss nicht, aber könnte die Ge-waltspirale weiter antreiben und eine politische Lösungdes Somalia-Konflikts erschweren.
Solche Einsätze gehen natürlich einher mit zusätzlichenRisiken für die Soldaten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29787
Dr. Frithjof Schmidt
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Das Argument „Es ist bisher nicht passiert, es hat nureinen Einsatz gegeben, und es wird auch weiter nichtspassieren“ überzeugt uns in doppelter Hinsicht leidernicht.
Dass es elf Monate keine entsprechenden Operationengab, heißt ja nicht, dass es sie in den nächsten Monatennicht geben wird oder nicht geben muss.
Und umgekehrt: Die Tatsache, dass es kaum entspre-chende Operationen gab, entkräftet ja Ihr Argument, dieMandatsveränderung sei für eine erfolgreiche Bekämp-fung der Piraterie unbedingt erforderlich gewesen. Dasist ja dann offenkundig nicht so.
Deswegen werde ich meiner Fraktion empfehlen, sichbei der Abstimmung über die Verlängerung dieses Man-dats wie letztes Jahr zu enthalten.
In den vergangenen Monaten haben wir eine zuneh-mende Stabilisierung in Somalia erlebt. Die Piraterie istweiter zurückgegangen. Die Al-Schabab-Milizen wur-den durch den Einsatz der Afrikanischen Union und ins-besondere durch Kenia zurückgedrängt. Der politischeProzess macht Fortschritte, wenn auch sehr kleine. Doches bleibt unklar, welche weiteren Schritte die Bundes-regierung unternehmen will.Wir haben im letzten Jahr einen Evaluierungsberichtzum bisherigen Einsatz gefordert. Ein solcher Berichtliegt wieder nicht vor. Dabei wäre das notwendig, um zusehen, welche Fortschritte oder auch Rückschritte esgibt. Damit meine ich insbesondere den zivilen Bereich.Wir brauchen eine intensive zivile Aufbauarbeit. Wirbrauchen einen Versöhnungsprozess, der lokale Füh-rungseliten aus allen Landesteilen und die Zivilgesell-schaft umfasst. Dazu gehört auch, die neue Regierungunter Scheich Mahmud viel gezielter beim Wiederauf-bau zu unterstützen. Die Weltbank macht es, der Interna-tionale Währungsfonds auch, die Bundesregierung aberleider nicht. Deswegen fordern wir von Ihnen: Füllen Sieendlich Ihr eigenes Somalia-Konzept mit Leben, damitdie Menschen dort die Friedensdividende mehr spüren.Danke für die Aufmerksamkeit.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Als Herr Schmidt ans Rednerpult getretenist, habe ich zunächst einmal die Hoffnung gehabt, dasser den eigenen Argumentationen im Ausschuss und ananderer Stelle, etwa dort, wo sich die Grünen öffentlichzu diesem Thema äußern, folgt und dann zu dem Schlusskommt, diesem Mandat zustimmen zu können. All das,was Sie als Konditionalität hier genannt haben, ist genaudas, worüber vorhin beide Minister gesprochen haben.Nichts anderes hat die Bundesregierung hier getan, alsdie Fortschritte im Rahmen dieser Mission zu beleuch-ten.Ich wiederhole, worum wir gemeinsam mit unsererRegierung bei jeder Mandatsverlängerung bitten: Wir er-klären, dass wir davon überzeugt sind, dass eine rein mi-litärische Lösung nie von Dauer sein kann. Vielmehrsind wir davon überzeugt, dass militärische Komponen-ten Teil einer Lösung sind. Auch deshalb widersprecheich der Linkspartei, die hier sehr engagiert eine Totalab-lehnung vorgetragen hat. Gerade das Beispiel Atalantazeigt doch, wie hoch die Akzeptanz innerhalb der deut-schen Bevölkerung ist, wenn eine Mission nachhaltig er-folgreich ist
und wenn sie in einen größeren politischen Rahmen ein-gebettet ist, wie ihn Herr Schmidt von uns hier so enga-giert eingefordert hat. Es ist doch in der Tat so, dass wir– nicht nur, was den bemerkenswerten Einsatz der Sol-datinnen und Soldaten angeht, sondern auch, was die Ent-wicklungshelfer und das diplomatische Korps angeht –alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen,um Somalia in dieser schwierigen Phase zu unterstützen.Deshalb appelliere ich noch einmal an Sie, HerrSchmidt – Sie haben am Ende gar keine Meinung geäu-ßert; denn Enthaltung ist gar keine Meinung –: GebenSie bitte im Verlauf der Ausschussberatungen IhremHerzen noch einmal einen Ruck und folgen Sie unsererArgumentation. Wir sind ja auch gerne bereit, noch wei-ter mit Ihnen zu diskutieren und dies auch öffentlich zutun; das machen wir ja bei vielen Gelegenheiten. AberIhre Enthaltung an dieser Stelle kann ich nicht nachvoll-ziehen. Da empfinde ich es fast schon als konsequenter,was die Fraktion die Linke macht, die sich hier wie beiallen Mandaten verantwortungslos zeigt und sich dabeiin ideologischen Widersprüchen verheddert.Was ich allerdings am wenigsten verstehe, FrauEvers-Meyer, ist Folgendes: Sie hatten ja hier sehr großvorgetragen, dass Sie von uns die Trennung der Mandateeinfordern.
Es ist zu offensichtlich – Minister de Maizière hat es jaauch angesprochen –, dass Ihr jetziges Verhalten mitdem Wahltermin zusammenhängt;
denn Sie verabschieden sich hier aus einem Mandat, daswir gemeinsam erfolgreich auf den Weg gebracht haben
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29788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Philipp Mißfelder
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und das aus Ihren eigenen Reihen – leider sehe ich HerrnKollegen Bartels gerade nicht – ja sogar gelobt wird.Kollege Bartels lobt nicht das Mandat der Vergangen-heit, vielmehr fand ich als aufmerksamer Leser derKieler Nachrichten vom 16. Januar dieses Jahres Fol-gendes – ich lese Ihnen das vor; ich kann Ihnen das nichtersparen –: Für besonders erfolgreich hält Bartels auchdie laufenden Marine-Missionen. Der Anti-Piraten-Einsatz „Atalanta“ vor der somalischen Küste sei zu Be-ginn belächelt worden. Doch nach und nach sei es gelun-gen, den Piraten das Kaper-Geschäft deutlich zu er-schweren: durch gesicherte Korridore für Handelsschiffeund zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen der Reeder. Inder Folge sind die Angriffe drastisch zurückgegangen.2012 konnten die Piraten nur noch fünf Schiffe in ihreGewalt bringen – nach 25 im Vorjahr.Wenn das Ihre Expertise dazu ist, dann verstehe ichnicht, warum die SPD hier dem Mandat nicht zustimmenwill;
denn Herr Bartels hat recht mit dem, was er gesagt hat,und er spricht hier deutlich von dem aktuellen Mandatund von nichts anderem.
– Ich lasse die Zwischenfrage von Herrn Arnold natür-lich gern zu; darauf freue ich mich.
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Mißfelder, herzlichen Dank, dass Sie
unsere Kollegen immer so gerne zitieren.
Erstens. Ist Ihnen bekannt, dass all das, was Sie vor-
gelesen haben, ausschließlich mit der Aufgabe der Bun-
deswehr auf See zu tun hat? All das, was Sie vorgelesen
haben, hat die Bundeswehr auf See erledigt.
Nein, stimmt ja gar nicht!
Zweitens. Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass der
entscheidende Faktor für den Erfolg der Mission neben
dem großen Engagement der Streitkräfte – das ist wirk-
lich wichtig – die Sicherheitsmaßnahmen der Reeder an
Bord sind? Ist Ihnen bekannt, dass kein einziges Schiff
mehr gekapert wurde, auf dem bewaffnete Sicherheits-
kräfte waren? Deshalb müssen wir auch darüber reden.
Ich stelle eine dritte Frage, Herr Kollege. Man kann ja
darüber reden, was an Land Sinn macht oder nicht. Aber
wenn wir etwas mandatieren, dann muss es doch Sinn
machen.
Ist Ihnen bekannt, dass es in der ganzen Zeit nur ein er-
kanntes sogenanntes Piratencamp am Strand gab? Ist es
Ihnen ein Mandat wert, drei kleine Boote und eine Hand-
voll Außenborder zu zerstören?
Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, dass überhaupt kein
Piratengerödel am Strand liegt, weder vorher noch nach-
her, das bekämpft werden konnte und bekämpft werden
kann, sondern dass die Piraten vor und nach Ihrer
Mandatserweiterung immer alles aus den Dörfern heran-
geschleppt und sofort auf die größeren Schiffe hinausge-
bracht haben?
Das heißt, Herr Kollege: Müssen wir etwas mandatie-
ren, was so marginal ist? Ich glaube, dazu sind unsere
Mandate zu ernsthaft. Darum geht es uns im Kern,
um genau das, was Ihr Minister gesagt hat.
Herr Kollege Arnold!
Ich bin fertig. – Das ist also genau das, was Ihr Minis-
ter gesagt hat: eine Nummer kleiner bei Ihrer Erweite-
rung.
Bleiben Sie bitte stehen, Herr Arnold?
Das Adenauer-Zitat muss Sie sehr getroffen haben,Frau Evers-Meyer, nicht wahr? Aber Adenauer kannman immer gut zitieren. Wir präsentieren Ihnen bei einerder nächsten Debatten noch ein paar Zitate.Ich habe Ihnen dazu nur Folgendes zu sagen, HerrArnold: Wir glauben und sind der festen Überzeugung– ansonsten hätten wir es ja hier gar nicht so eingebracht –,dass beide Komponenten zusammengehören. Wir sinddavon überzeugt – Sie können das gerne anders sehen –,dass die Erweiterung des Mandats dazu beigetragen hat,dass sich die Piraten um ihrer eigenen Sicherheit willendefensiver verhalten. Wir würden es bedauern – das fän-den wir nicht gut –, wenn die Zahl der Zwischenfälle ge-stiegen wäre. Wir sagen: Die Wirksamkeit eines Man-dats macht sich auch daran fest – das haben wir übrigensauch bei anderen Missionen schon diskutiert –, dass dieZahl der Zwischenfälle sinkt. Dies darf unter militäri-schen Gesichtspunkten nicht außer Acht gelassen wer-den.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29789
Philipp Mißfelder
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Wie gesagt, ich habe Herrn Bartels deshalb zitiert, weiler sich auf das Mandat als Ganzes bezieht und hier keineDifferenzierung macht. Das gibt das Zitat eindeutig her,und auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.Wir werben dafür – damit beantworte ich Ihre Frageganz klar –, im Rahmen dieses Mandats die Piraten andiesem Küstenstreifen auch logistisch zu bekämpfen.Ein Detail: Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wirdie Erweiterung des Mandats in unserer eigenen Frak-tion kritisch begleitet haben. Ich habe damals an einerUnterrichtung teilgenommen, die inhaltlich nicht dementspricht, was Sie in Ihrer Frage 2 oder 3 an mich be-hauptet haben. Vielleicht haben wir an unterschiedlichenUnterrichtungen teilgenommen. Aber ich habe das an-ders in Erinnerung und widerspreche Ihnen deshalb indiesem Punkt.Ich bin der Meinung, dass wir das politische Engage-ment für Somalia bzw. für ganz Afrika – das soll meinabschließender Punkt sein – fortsetzen sollten. Wennhier im Plenum nur schlaglichtartig über einzelne Man-date oder einzelne Aktivitäten in Afrika diskutiert wird,dann ist das bedauerlich. Dass ausgerechnet heuteAbend so viele Kolleginnen und Kollegen da sind, findeich eine erfreuliche Tatsache.
Sie zeigt aber auch, dass wir unser Engagement inAfrika auch dann, wenn es um nichtmilitärische Maß-nahmen geht, genauso eifrig angehen müssen.Ich bin deshalb der Meinung, dass die Afrika-Politikinsgesamt einen größeren Stellenwert verdient hat. Un-ser Kollege Hartwig Fischer, der sich auf diesem Gebietin den vergangenen Jahren sehr viel Ruhm erarbeitet hat,macht immer wieder deutlich, dass wir uns dann, wennwir in Afrika nachhaltig erfolgreich sein wollen, dauer-haft verpflichten müssen. Deshalb ist ein militärischerBeitrag, der zeitlich begrenzt ist und der mit einem dau-erhaften Engagement im Idealfall wenig zu tun hat, nureine Komponente.Ich bin Minister Westerwelle außerordentlich dank-bar, dass er in die Debatte die politische Dimensioneingebracht hat, um so unser großes außenpolitischesEngagement für Somalia zu begleiten.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13111 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Michael Groß, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konsens für eine moderne Infrastruktur – Die
Bundesverkehrswege solide finanzieren
– Drucksache 17/13191 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Infra-struktur verfällt. Die Industriebosse in Deutschland ha-ben Angst davor, den großen Standortvorteil, den wirhatten, zu verspielen. Ich glaube, das ist nach vier Jahrenkein gutes Zeugnis für die schwarz-gelbe Regierung,ausgestellt von einer Gruppe, die eher Ihnen zugerechnetwird.In dem Bericht der Kommission „Zukunft der Ver-kehrsinfrastrukturfinanzierung“ wird ebenso die Sorgeum den Wirtschaftsstandort Deutschland zum Ausdruckgebracht. Es ist genau diese Daehre-Kommission, die ei-nen zusätzlichen Finanzierungsbedarf von jährlich7,2 Milliarden Euro für die Straße, die Schiene und dieWasserstraßen sieht. Auch das ist nach vier Jahren keingutes Fazit für die Regierung. Es geht aber nicht nur umArbeitsplätze, Güterverkehre und Logistik, sondern auchum die Lebensqualität in Deutschland, bezahlbare Mobi-lität, Barrierefreiheit und Klimaschutz. Die Akzeptanzvon Infrastrukturvorhaben wird letztendlich vom Nutzenund von der Belastung der Menschen in diesem Land ab-hängen. Der Schutz vor Verkehrslärm beispielsweise istenorm relevant, wenn es darum geht, ob wir die Infra-struktur wie das Straßen- und das Schienennetz weiterausbauen können. Sie haben aber weder beim Klima-schutz noch beim Verkehrslärm noch bei der Barriere-freiheit etwas erreicht. Wir sehen hier eher Rückschrittestatt Fortschritte.
Sie werden mir recht geben, dass NRW eine großeVerkehrsdrehscheibe in Deutschland ist.
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29790 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Michael Groß
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Aus gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichenGründen brauchen wir gerade in Nordrhein-Westfaleneine funktions- und leistungsfähige Infrastruktur ausStraßen und Brücken; sonst sind Auswirkungen auf diegesamte Bundesrepublik und die angrenzenden Länderzu spüren. NRW darf nicht zum Nadelöhr der Bundesre-publik werden. Sonst muss demnächst bei den Progno-sen ein Elefant durch das Nadelöhr. Das gilt es zu ver-hindern.Von den 8,6 Milliarden Euro im Investitionsrahmen-plan der Bundesregierung für den Neu- und Ausbau vonSchienenwegen soll NRW bis 2015 sage und schreibe2 Prozent erhalten. Das sind circa 170 Millionen Euro.So wenig wie noch nie! Das wird dem Bedarf nicht ge-recht. Von den bundesweit rund 7 Milliarden Euro Bun-desregionalisierungsmitteln erhält NRW etwa 16 Pro-zent. Das ist viel zu wenig.Die SPD-Fraktion hat seit drei Jahren Dialoge geführtund einen Infrastrukturkonsens erarbeitet. Die Ergeb-nisse dieses Konsenses sind in unserem Antrag zusam-mengefasst, der Ihnen heute vorliegt. Wir wollen we-sentlich mehr Geld in die Infrastruktur stecken, und zwarzusätzlich circa 2 Milliarden Euro jährlich. Wir brau-chen ein Programm zur Sanierung der Bundesautobah-nen mit dem Schwerpunkt Autobahnbrücken. Wir for-dern ein nationales Verkehrswegeprogramm mit einerklaren Priorisierung und der Beseitigung von Engpässen,Knoten und Staus.
Die Finanzierung muss überjährig für fünf Jahre fixiertwerden, um Planungssicherheit herzustellen. Außerdembrauchen wir eine verkehrsträgerübergreifende Netzpla-nung.Wir brauchen einen verkehrsträgerübergreifendenFinanzierungskreislauf und dürfen die Kommunen nichtalleinlassen.
Es gibt Städte, die im nächsten Jahr nur zwei Straßen sa-nieren können, obwohl sie 21 sanieren müssten. DieBürger müssen in ihren Autos mit 10 Kilometern proStunde über die Straßen fahren, weil Sie die Kommunenalleinlassen, sie nicht unterstützen. Sie sorgen letztend-lich dafür, dass die Menschen keine Lebensqualität mehrin den Städten haben.Herzlichen Dank. Glück auf!
Das Wort hat der Kollege Reinhold Sendker von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dervorliegende SPD-Antrag proklamiert nicht wirklich vielNeues. In der Forderungsliste befinden sich Positionen,die schon vorher bekannt waren. Etliches ist durch dieKoalition längst auf den Weg gebracht worden.
Im Blickpunkt des Antrags Ihrer Fraktion, Herr Kol-lege Groß, steht die Forderung nach zusätzlich 2 Milliar-den Euro für die Verkehrsinfrastruktur.
Ja, wir benötigen dringend mehr Mittel für den Erhaltsowie für den Aus- und Neubau der Verkehrsanlagen.2012 und 2013 haben die Koalitionsfraktionen mit denInvestitionsbeschleunigungsprogrammen I und II fast2 Milliarden Euro zusätzlich erreichen können. Ich fügedem hinzu: Vor dem Hintergrund und den Ansprücheneiner erfolgreichen Haushaltskonsolidierung ist dies einklarer Erfolg der Koalition und des Ministers, der dafürsehr erfolgreich gestritten hat.
Sie sprechen den Substanzerhalt an und fordern Prio-rität für den Erhalt vor Aus- und Neubau mit Blick aufBrückenbauwerke und insbesondere mit Blick auf Auto-bahnbrücken. In dieser Legislaturperiode hat die christ-lich-liberale Koalition dem Erhalt in der Infrastruktur-finanzierung ganz klar Vorrang eingeräumt.
Der Löwenanteil der Haushaltsmittel – hören Sie gutzu! – wird mittlerweile für die Erhaltungsinvestitionenverwandt;
bei den Bundesfernstraßen sind es in 2013 2,5 Milliar-den Euro. Darunter ist aktuell bei Brücken und Tunnelnein Bedarf von 830 Millionen Euro angezeigt, in dennächsten Jahren von 1 Milliarde Euro. Allein diese Zah-len unterstreichen: Die Grunderneuerungen sind unaus-weichlich; Erhalt hat Priorität vor Neubau. Da sind wiruns einig, und da werden wir auch Kurs halten.
Zur Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,LuFV, hat unser Minister gestern im Verkehrsausschussim Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Brücken,Tunneln und Bahnhöfen klar Stellung bezogen. Auch dieInstandsetzung von Schleusen steht längst auf derAgenda.
Allein die Finanzmittel, die im Investitionsbeschleuni-gungsprogramm II für die Bundeswasserstraßen vor-
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Reinhold Sendker
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gesehen sind, fließen zu 54 Prozent – das sollten Siefesthalten – in dringende Erhaltungsmaßnahmen, zu16 Prozent in die Verstärkung laufender Ausbau- undNeubaumaßnahmen und zu 30 Prozent in wichtige Neu-beginne. Aber gerade die Erhaltungsinvestitionen – daslassen Sie mich hier bemerken –
setzen Bestandsaufnahme und teils zeitaufwendige tech-nische Untersuchungen voraus. Insofern sind zeitlicheVerzögerungen nicht unbedingt kritikwürdig.Kritikfähig hingegen ist, dass in früheren Wahlperio-den – lassen Sie uns auch davon einmal sprechen –
unter den SPD-Verkehrsministern eindeutig zu wenig imBereich der Instandhaltung investiert worden ist. Hierliegen die Versäumnisse.
Die SPD fordert in ihrem Antrag ferner, die infra-strukturellen Voraussetzungen für den Deutschland-Taktauf der Schiene zu schaffen. Auch dieser Ansatz befin-det sich bereits in der gutachterlichen Prüfung, wenn-gleich er nach dem Schweizer Modell wohl kaum inDeutschland umsetzbar ist.Die Kapazität des Schienennetzes für den Güterver-kehr wollen Sie bis 2030 verdoppeln. Einerseits, meinelieben Kolleginnen und Kollegen der SPD, fordern SieVorrang für die Erhaltungsinvestitionen und viel Geld,was aber den Spielraum für die Neu- und Ausbauinvesti-tionen weiter deutlich verringert, andererseits wollen Siehier verdoppeln. Wie Sie das machen wollen, bleibtwohl Ihr Geheimnis. Ich stelle fest: Wirklich seriös istdas nicht.
Wenn Sie schließlich das Instrument des Finanzie-rungskreislaufs ansprechen, dann verweise ich auch beidiesem Punkt darauf, dass wir es längst geschaffen ha-ben. Besonders der Finanzierungskreislauf Straße hat zuRecht viel Lob erfahren. Im Gegensatz zu dem von Ih-nen geforderten verkehrsträgerübergreifenden Finanzie-rungskreislauf leisten die Kreisläufe Schiene und Straßemehr Transparenz und verdeutlichen vor allem den Be-darf des einzelnen Verkehrsträgers. Transparenz in derMittelverwendung und Transparenz beim Mittelbedarf –das ist zielführend, und dieser Weg ist richtig.
In Ihrem Antrag geben Sie an, auch die Erschließungder Fläche nicht zu vernachlässigen. Das beantragen Siehier in Berlin. Lassen Sie mich, Herr Kollege Groß, ein-mal vom Landtag von Nordrhein-Westfalen reden. Dort,wo Sie regieren, erhalten wichtige Umgehungsstraßen-projekte in ländlicher Region keine Planungspriorisie-rung. Das passt nun gar nicht zusammen; da sind Sieschlicht unglaubwürdig. Ich darf feststellen, dass auch indieser Beziehung der Antrag nicht gelungen ist.
Also: alles in allem wenig Neues im Antrag der SPD.Er gibt uns aber Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dassdie Koalition in der Schaffung moderner Infrastruktur indieser Wahlperiode
auf gutem Wege ist. Wir werden in Deutschland – lassenSie mich das abschließend feststellen –
als starkem Logistikstandort, als Transitland und alsWachstumslokomotive in Europa dank der christlich-li-beralen Koalition vor allem bei den Güterverkehrennoch enorme Zuwächse zu verkraften haben. Dazu müs-sen wir das Verkehrsnetz insgesamt ertüchtigen. DieseHerausforderung – eine große Herausforderung – istauch in der nächsten Wahlperiode bei der christlich-libe-ralen Koalition in guten Händen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine
Leidig das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen,insbesondere von der SPD, wir Linke haben zu Beginnund nicht zum Ende dieser Wahlperiode bereits einenumfassenden Antrag eingebracht und die grundlegendeNeuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik verlangt,und zwar für Klima- und Umweltschutz, für Barriere-freiheit, für soziale Gerechtigkeit und für neue Arbeits-plätze.Es gibt tatsächlich einige Parallelen zu dem, was dieSPD-Kollegen hier fordern. Vor allem der Ausbau derSchiene und das Ziel, die Bahn in der Fläche so zu ent-wickeln, dass Deutschland-Takt funktioniert, gehörendazu.
Dies gilt auch für den Vorschlag, die Lkw-Maut auszu-weiten. Wir haben vor zwei Jahren beantragt, dass sieauf das gesamte Straßennetz ausgedehnt und in der Höheangehoben wird, wie in der Schweiz. Also: Einverstan-den!Sie wollen den Schutz vor Verkehrslärm deutlich ver-bessern. Das wollen wir auch. Deshalb hatten wir im No-vember letzten Jahres in einem Antrag gefordert, dass
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29792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Sabine Leidig
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alle Menschen gleichermaßen vor Verkehrslärm ge-schützt werden müssen - egal ob sie an Straßen, an Gü-terzugtrassen oder unterhalb der Einflugschneisen vonFlughäfen wohnen. Das soll nicht nur gelten, wenn Stre-cken neu gebaut werden. Es geht um die Gesundheit unddas Wohlbefinden von Hunderttausenden, die schonheute unter Verkehrslärm leiden. Wir verlangen, dass inzehn Jahren an allen bestehenden Strecken Lärmschutzverwirklicht ist und die lautesten Abschnitte in dennächsten fünf Jahren saniert werden.
Die SPD hat übrigens mit den Koalitionsfraktionen ge-gen diesen Antrag gestimmt. Das finde ich sehr schade.Aber das ist nicht der einzige Punkt, den ich hier kritischanmerken will.Klar, was Sie hier vorstellen, ist mit Abstand sinnvol-ler als die Verkehrspolitik aus dem Hause Ramsauer.Aber das ist auch nicht schwer.
Es gibt allerdings berechtigte Zweifel an der Glaubwür-digkeit. Immerhin – darauf wurde gerade verwiesen –hat die SPD elf Jahre lang die Verkehrsminister gestellt.
Die A-Modelle, also die Privatisierung von Autobahnen,sind zum Beispiel auf Ihrem Mist gewachsen.Sie fordern in Ihrem Antrag den Vorrang für dieSchiene. Fehlanzeige! 2001 hat Ihr VerkehrsministerBodewig stolz verkündet, dass die Bundesregierung dieAusgaben für den Straßenbau auf Rekordniveau erhöhthat. Das war übrigens unmittelbar nach dem Klimagip-fel. In der mittelfristigen Finanzplanung der zweitenSchröder-Regierung sind die Straßenbaumittel gegen-über 2003 auf 4,9 Milliarden Euro erhöht, die Investitio-nen in die Schiene dagegen um 10 Prozent auf 4 Milliar-den Euro gekürzt worden. Das ist wirklich skandalös.In einem Kabinettsbeschluss vom August 2000 hatsich die damalige Regierung aus SPD und Grünen übri-gens für einen massiven Ausbau der deutschen Flughä-fen ausgesprochen, um eine Verdopplung des Flugver-kehrs bis 2015 zu ermöglichen. Tatsächlich ist diesehoch subventionierte und umweltschädlichste Verkehrs-art seither um über 50 Prozent gewachsen. Dazu schrei-ben Sie kein einziges Wort. Aber wir brauchen eineWende auch in der Flugverkehrspolitik. Rund ein Viertelaller Flüge könnte relativ zügig auf die Bahn verlagertwerden. Genau das fordern wir mit unserem Konzept,dazu ein ausreichendes Nachtflugverbot von 22 bis6 Uhr mindestens und die Deckelung der Zahl der Flug-bewegungen. Außerdem müssen endlich die direktenund indirekten Subventionen abgeschafft werden. Dannwäre auch mehr Geld da, zum Beispiel für ordentlicheFahrradwege. Auch dazu, werte Kollegen von der SPD,schreiben Sie kein Wort. Wer mit dem Fahrrad oder garzu Fuß unterwegs ist, kommt in Ihrem Verkehrsinvesti-tionskonzept gar nicht vor. Dabei werden die meisten al-ler Wege nicht motorisiert zurückgelegt.Wie der Teufel das Weihwasser scheuen Sie den Be-griff der Verkehrsvermeidung. Damit sind Sie ganz beimBundesverband der Deutschen Industrie. Der will näm-lich mehr öffentliche Mittel für Lärmschutz – das hat derKollege Sendker gerade ausgeführt –, damit die Akzep-tanz für noch mehr Lkws und noch mehr Flugzeugesteigt. Aber auf keinen Fall soll darüber geredet werden,wie man Wohlstand mit weniger Güterverkehr organisie-ren kann. Genau das aber ist unser Ansatz.
Verkehr ist keine Leistung, auf die man stolz sein sollte;Verkehr ist Aufwand, den man möglichst gering haltensollte, und vor allem ist er eine zunehmend unverant-wortliche Last für Menschen und Natur. Davon ist in Ih-rem Antrag leider nichts zu erkennen. Ich sage Ihnen:Hier ist die Linke weiter. Wir wollen Mobilität für allemit weniger Verkehr.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Oliver
Luksic das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mobilität ist Ausdruck von Lebensqualität und wichtigerBaustein für Wirtschaftswachstum. Ja, trotz vielfältigerBemühungen haben wir in der Tat Bedarf, hier noch einStück mehr zu tun. Kollege Groß, Sie haben ein Zerrbildder Realität dargestellt, beispielsweise in den Ländern,in denen Sie mit den Grünen regieren, etwa in Rhein-land-Pfalz. Was passiert denn da bei der Infrastruktur?Die A 1 – der Kollege Schnieder hat mehrfach daraufhingewiesen – soll nicht ausgebaut werden.
Die SPD hat ein bisschen Asphaltallergie. Insofern: Hal-ten Sie sich mit Ihrer Kritik da mal ein bisschen zurück!
Wir haben in der Tat mehr Bedarf. Deswegen werdenwir in der nächsten Wahlperiode mit dieser Koalition zu-sätzliche Anstrengungen unternehmen müssen. Wirbrauchen geschlossene Finanzierungskreisläufe fürStraße und Schiene.Bei der Schiene – Kollege Groß hat es angesprochen –haben wir die Leistungs- und Finanzierungsvereinba-rung, die wir in dieser Woche diskutiert haben. Es ist so,dass nicht alle Gelder, die vorgesehen sind, von der Bahnauch verbaut werden. Insofern gibt es hier ein Stück weitNachholbedarf.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29793
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Herr Kollege Luksic, erlauben Sie eine Zwischen-
frage? – Bitte schön.
Herr Kollege Luksic, nachdem Sie Rheinland-Pfalz
erwähnt haben und Ihrem CDU-Generalsekretär in
Rheinland-Pfalz offenbar auf den Leim gegangen sind,
frage ich Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Koalition in Rheinland-Pfalz klar politisch be-
schlossen hat, dass der Lückenschluss der A 1 zum Bun-
desverkehrswegeplan angemeldet wird?
Lieber Kollege Herzog, ich glaube, die Kollegen derGrünen in Rheinland-Pfalz sehen das massiv anders.
Alle Verlautbarungen dort besagen doch, dass das für dieLandesregierung keine Priorität hat. So ist es auch inzahlreichen anderen Bundesländern: in Baden-Württem-berg das Gleiche, in NRW auch.
Dort, wo Sie mit den Grünen zusammen regieren – derKollege Kühn wird es Ihnen nachher noch einmal sagen –,wollen Sie die Infrastruktur nicht ausbauen. Deswegenist das, was die CDU in Rheinland-Pfalz gesagt hat, ab-solut richtig.
– Die Aufregung zeigt, dass da offenbar ein wunderPunkt getroffen wurde.
Zum Thema Schiene. Nehmen Sie einmal zur Kennt-nis, dass die Bahn nicht alle vorhandenen Mittel ausge-nutzt hat! Deswegen ist es gut und richtig, dass die Bun-desregierung jetzt vorschlägt, 500 Millionen Eurozusätzlich für Bahnhöfe und Brücken auszugeben.
Es ist ein gutes Programm, das wir jetzt auf den Wegbringen.
Wir sehen es anders als Sie, was das Thema der zu-sätzlichen Belastung angeht. Sie wollen in Ihrem Antragunter die 12-Tonnen-Grenze gehen. Sie wollen die Aus-dehnung der Maut auf Landes- und Kommunalstraßen.Unsere Befürchtung ist, dass das, was Sie vorschlagen,insbesondere das Handwerk und den Mittelstand trifft.
Deswegen sind wir dagegen, da bis auf 3,5 Tonnen he-runterzugehen. Das ist der falsche Ansatz.Die Daehre-Kommission hat die Daten vorgelegt; dasist gut und richtig. Das ist eine wichtige Handreichungfür die Kollegen in Bund und Land. Wir, die Verkehrs-politiker aller Fraktionen, sind uns völlig einig, dass wirstärker dafür werben müssen, dass die Infrastruktur alsStandortfaktor wahrgenommen wird.
Die Bodewig-Kommission wird hier mit Sicherheit wei-ter in die richtige Richtung arbeiten.
Entscheidend ist die Planungssicherheit. Herr Groß,Sie sagen, dass wir mehr Geld für die Infrastruktur brau-chen; das teilen wir. Kollege Sendker hat aber absolut zuRecht darauf hingewiesen, dass in der mittelfristigenPlanung von Herrn Steinbrück die Mittel für die Ver-kehrsinvestitionen noch niedriger waren.
9,4 Milliarden Euro waren damals vorgesehen.
Die Große Koalition hat auch ungefähr in dem Rahmengeplant.
Wir haben das Ganze jetzt auf 10 Milliarden Euro er-höht, zusätzlich 1 Milliarde Euro und 750 MillionenEuro in diesem Jahr sozusagen auf den Tisch gelegt.Klar ist: Immer dann, wenn Sie in der Verantwortungwaren, haben Sie durch Steuererhöhungen belastet, aberdie Verkehrsinvestitionen zurückgefahren. Das gehörtzur Wahrheit dazu.
Sie planen in der Tat eine Reihe von Steuererhöhun-gen. Ob davon etwas bei der Infrastruktur ankommt, dahaben wir wirklich große Fragezeichen zu setzen.
Völlig klar ist, Kollege Kahrs, dass das, was Sie uns vor-schlagen, wirklich wenig Substanz hat.
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29794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Oliver Luksic
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Sie haben während Ihrer eigenen Verantwortung wenigerGeld ausgegeben. Insofern sind Sie da leider wenigglaubwürdig. Ich erinnere beispielsweise an die Maut-lüge. Insofern hat die SPD während ihrer Verantwortungden Stau, den sie jetzt beklagt, mit verursacht.Es ist festzuhalten, dass diese Koalition in dieser Le-gislatur einiges vorangebracht hat: lärmabhängige Tras-senpreise, Schienenbonus, Eisenbahnregulierungsgesetz,VZR-Reform, NABEG, Reform der WSV,
BF17, Liberalisierung des Fernbusverkehrs, Planungs-vereinfachung. Das ist wirklich eine beachtliche Bilanz,die wir vorlegen können.Der Investitionshaushalt ist gestiegen. Wir haben zu-sammen mit dem Bundesverkehrsministerium zusätzli-che Gelder erstritten, trotz der Sparbeschlüsse.
Wir haben auf der einen Seite konsolidiert, und auf deranderen Seite wurden die Investitionen angehoben. Wirkönnen sagen, dass wir in Deutschland vier gute Jahre inder Verkehrspolitik hatten und weitere vier gute Jahrehaben werden.Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Stephan Kühn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Als Industrieland sind wir auf hochwertigeVerkehrsnetze angewiesen. Angesichts knapper Staats-finanzen müssen wir aber klug investieren und die Infra-struktur klug anpassen und ausbauen. Deshalb ist eswichtig und richtig, dass wir heute hier zusammensitzen.Allerdings stelle ich fest, dass hier fast nur Verkehrspoli-tiker sind und wenige Haushaltspolitiker; die sollten abereigentlich auch an der Debatte beteiligt sein.Der Abschlussbericht der Daehre-Kommission zeigtdie Baustellen in der Infrastrukturpolitik, die wir in dernächsten Legislaturperiode anpacken müssen. Auch dieErhaltungsbedarfsprognose für das Bundesfernstraßen-netz offenbart einen stark ansteigenden Bedarf für denErhalt in Höhe von jährlich 3,7 Milliarden Euro. Derzeitwerden jährlich nur 2,5 Milliarden Euro für den Erhaltaufgebracht. Die Ursache für den Nachholbedarf ist diesträfliche Vernachlässigung des Substanzerhalts durcheine auf Neubau fixierte Politik der Spatenstiche geradedieser Bundesregierung. Das sogenannte Infrastruktur-beschleunigungsprogramm von Verkehrsminister PeterRamsauer, die sogenannte Zusatzdreiviertelmilliarde imHaushalt, ist genau das: ein Spatenstichprogramm. DerStraßenneubau geht zulasten des Substanzerhalts. Be-reits jetzt fehlen für die laufenden Projekte über 2 Mil-liarden Euro. Sie beginnen neue Projekte, obwohl Ihnendas Geld fehlt und die Finanzierung der Projekte nichtgesichert ist. „Erhalt vor Neubau“ bleibt oft ein Lippen-bekenntnis. Jedes Jahr findet eine Zweckentfremdungvon Bundesmitteln statt, die eigentlich für den Erhaltvorgesehen sind, aber in Neubauprojekte gesteckt wer-den, gerade vor Wahlen. Das führt zum Substanzverzehr.Nach der Grundkonzeption für den nächsten Bundes-verkehrswegeplan soll Investitionen in den Erhalt der In-frastruktur Vorrang vor Neu- und Ausbau eingeräumtwerden. Ohne eine längst überfällige verkehrspolitischeNeuausrichtung der Infrastrukturpolitik bleibt der Rufnach neuen Finanzierungsinstrumenten wirkungslos. Zu-erst brauchen wir eine verbindliche Prioritätensetzungüber Verkehrsprojekte, dann können wir über mehr Geldreden, nicht andersherum.
Es schadet auch der Glaubwürdigkeit von Politik,wenn die Länder immer längere Wunschlisten mit neuenVorhaben einreichen, obwohl jedem klar sein müsste,dass die Kluft zwischen verfügbaren Mitteln und Pro-jektwünschen unüberbrückbar ist. Ich nenne eine Zahl:Das Restvolumen des sogenannten vordringlichen Be-darfs bei der Straße im Bundesverkehrswegeplan beträgt42 Milliarden Euro. Das heißt, der aktuelle Bundesver-kehrswegeplan ist hoffnungslos überzeichnet.
Es besteht keine Chance, all diese Projekte zu realisie-ren. Das gehört zur Ehrlichkeit.
Wir brauchen eine Reform der Bundesverkehrswege-planung, damit der verkehrsträgerübergreifende Ausbaudes Kernnetzes, also die Engpassbeseitigung auf denHauptachsen des Autobahn- und Schienennetzes, end-lich im Vordergrund steht.Nach so viel Übereinstimmung mit dem Antrag derSPD zum Abschluss ein kritischer Hinweis zu Ihrer For-derung, die Erschließung der Fläche nicht zu vernachläs-sigen. Wir haben in dieser Woche die Ergebnisse einervon der grünen Bundestagsfraktion beauftragten Studiezu den regionalwirtschaftlichen Effekten von Straßenbauerhalten. Ergebnis: Es gibt keinen signifikanten Zusam-menhang zwischen neuen Autobahnen und überdurch-schnittlicher regionalwirtschaftlicher Entwicklung. Durchden Bau weiterer Autobahnen lassen sich weder Erreich-barkeitsdefizite mindern noch die daraus resultierendenWachstumsschwächen beseitigen. – Als Instrument zurFörderung der regionalen Wirtschaft taugt Autobahnbaualso leider nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29795
Stephan Kühn
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Trotzdem sollen weitere 1 000 Kilometer Asphaltschnei-sen durch die Republik gezogen werden. MilliardenteureAutobahnprojekte wie die Nordverlängerung der A 14,die Westverlängerung der A 20 oder die A 39 müssenbei der Aufstellung des neuen Bundesverkehrswege-plans infrage gestellt werden.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Karl
Holmeier das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Mit dem uns heute vorliegenden Antrag stellt die SPD-
Fraktion ihren Ministern für die elf Jahre von 1998 bis
2009, in denen sie das Ministerium geführt haben, ein
miserables Zeugnis aus.
Im Antrag werden die Defizite in der Verkehrsinfrastruk-
tur unseres Landes, die die SPD-Verkehrsminister verur-
sacht haben, zutreffend beschrieben. Ich darf der Voll-
ständigkeit halber ergänzen, dass wir dies schon zu
Beginn der Legislaturperiode erkannt haben. So heißt es
in unserem Koalitionsvertrag:
Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfra-
struktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblie-
ben.
Die Schlussfolgerung der SPD ist insofern nicht ganz
korrekt. Es war ihre Politik, die die heutigen Engpässe
verursacht hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsmi-
nister Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und
Tiefensee. Sie haben es über elf Jahre hinweg versäumt,
sich um den Erhalt der Bundesstraßen, der Autobahnen
und zahlreicher Brücken zu kümmern.
Die Straßen und Brücken sind doch nicht in den letzten
drei Jahren so schlecht geworden. Die Versäumnisse ha-
ben schon viel früher begonnen.
Der CSU-Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer muss
nun die Suppe auslöffeln, die ihm die SPD eingebrockt
hat.
Doch anstatt sich in Demut zu üben, schieben Sie die
Schuld auf die jetzige Bundesregierung. So geht es nicht.
Lassen Sie mich das korrekt darstellen: Die SPD war
es, die über Jahre hinweg zu wenig Geld in den Ver-
kehrshaushalt gesteckt hat. Wir hingegen haben im
Jahr 2012 1 Milliarde Euro erkämpft und 2013 750 Mil-
lionen Euro.
Die SPD war es, die die Einführung der Lkw-Maut
verstolpert hat. Ihr Minister hat uns eine Verurteilung
durch das Oberverwaltungsgericht Münster beschert.
Wir müssen das nun mit einem Maut-Änderungs-Gesetz
ausbügeln. Ihr Minister Stolpe hat uns ein Schiedsver-
fahren beschert, weil er dilettantisch verhandelt und
keine klaren vertraglichen Regelungen für den Fall der
verspäteten Mauteinführung getroffen hat. Er hat sich
von Toll Collect über den Tisch ziehen lassen. Das müs-
sen wir heute ausbügeln.
Die SPD war es, die nach der Einführung der Maut
die Mittel im allgemeinen Haushalt abgesenkt hat. Wir
hingegen haben mit dem neuen Finanzierungskreislauf
Straße einen historisch wichtigen Schritt für mehr Unab-
hängigkeit vom Verkehrsetat getan.
Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischen-
frage von Frau Dr. Wilms?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie handhaben ja hiermit allen möglichen Zahlen. Ist Ihnen eigentlich be-kannt, dass wir als Ergebnis der Daehre-Kommissionzwar ein Vermögen in Form der Infrastruktur in Höhevon 1,1 Billionen Euro haben, aber auch einen täglichenVermögensverzehr von 13 Millionen Euro durch unter-lassene Instandhaltung? Wir beschäftigen uns nämlichnur mit Kosmetik. Ich hätte von Ihnen gerne einmal ge-hört, wie Ihr Verkehrsminister damit umgeht. Er machtnämlich nur Spatenstiche und kümmert sich nicht um dieSubstanz.
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29796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
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Wir haben den Etat im Jahr 2012 um 1 Milliarde Euro
und 2013 um über 700 Millionen Euro aufgestockt, und
ein großer Teil dessen wurde für Unterhalt und Sanie-
rung verwendet. Aber das, was Sie sagen, reicht ja in die
Zeit der SPD zurück. Nicht die letzten drei Jahre sind am
Zustand der Straßen schuld.
Die SPD war es, die in den elf Jahren, in denen sie an
der Regierung war, den Bestand sträflich vernachlässigt
hat und sich stattdessen lieber auf dem internationalen
Parkett gesonnt und Verträge für grenzüberschreitende
Projekte mit teuren Verpflichtungen unterschrieben hat.
Wir hingegen legen einen klaren Schwerpunkt auf die
Sanierung des Bestandes der Straßen und sehen dabei ei-
nen erheblichen Nachholbedarf in Westdeutschland.
Ich könnte meine Auflistung beliebig fortführen. Wer
hat denn eigentlich den Verkehrswegeplan 2003 konzi-
piert mit all den falschen Prioritäten, den unzähligen
Projekte, die überhaupt nicht realisiert werden können?
Andere wichtige Projekten wurden nicht aufgenommen.
Ich könnte Bahnlinien usw. aufzählen.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole,
muss ich noch einmal klarstellen: Schuld an der aktuel-
len Misere
ist nicht die christlich-liberale Bundesregierung, schuld
ist die SPD.
Jetzt wollen Sie uns gute Ratschläge geben. Vielen
Dank, auf die können wir verzichten. Wir von der christ-
lich-liberalen Koalition sind auf einem guten, auf einem
sehr guten Weg.
Wir werden es auch nach dem September 2013 sein.
Mit dem neuen Bundesverkehrswegeplan werden wir
die Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf Plus“
schaffen, durch die gewährleistet wird, dass besonders
dringliche Projekte ganz vorne angestellt werden.
Wir werden in der nächsten Legislaturperiode die
Einführung einer Pkw-Maut auf Autobahnen und ausge-
wählten Bundesstraßen angehen, um den Finanzierungs-
kreislauf Straße zu stärken.
– Jawohl. Als ich hingegen den Vorschlag der SPD zum
Thema Maut gelesen habe, wäre ich fast vom Stuhl ge-
fallen. Sie sollten über dieses Thema mit Ihren Mittel-
standspolitikern sprechen. Heute Vormittag haben diese
erklärt, sie wollen den Mittelstand in Deutschland stär-
ken. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen das gründlich
misslingen wird, wenn Sie auf allen Bundes-, Landes-
und Kommunalstraßen eine Lkw-Maut einführen. Die
kleinen und mittleren Handwerksbetriebe werden Ihnen
dann aufs Dach steigen.
Was Sie heute vorschlagen, ist ein Existenzvernich-
tungsprogramm. Ungeachtet der negativen Auswirkun-
gen wird Ihnen jeder, der etwas von diesem Thema ver-
steht, erklären, dass sich der technische Aufwand und
vor allen Dingen der Kontrollaufwand im Zuge der
Mauterhebung auf allen Straßen nicht im Ansatz rech-
net.
Meine Ausführungen zeigen, dass unser Land alles
andere braucht als ein SPD-geführtes Verkehrsministe-
rium und die Ratschläge der SPD.
Daher kann ich Ihnen schon jetzt sagen, dass wir den
vorliegenden Antrag der SPD ablehnen.
Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Johannes Kahrs.
Sehr geehrter Herr Präsident! An dieser Stelle würdeman normalerweise sagen: Sehr geehrter Herr Minister;aber er ist ja nicht da. Wenn wir über den Haushalt dis-kutieren, dann ist er mit seinen fünf Staatssekretären im-mer anwesend. Daran merkt man, welchen Stellenwertman Fachpolitikern in diesem Hause beimisst. Statt fünfStaatssekretären und einem Minister sitzt immerhin derKollege Scheuer hier, den ich sehr schätze.
Bei einem Minister und fünf Staatssekretären ist das al-lerdings ein bisschen ärmlich.Wenn Sie die heutige Debatte verfolgt haben, werdenSie festgestellt haben, dass CDU/CSU und FDP behaup-ten: Wir brauchen mehr Geld, sie hätten mehr Geld he-rangeschafft.
Als Haushälter kann ich nur sagen: Manchmal dient derWahrheitsfindung ein Blick in den Haushalt; denn dannwürden Sie merken, dass der Eckwertebeschluss zu Ih-rem Haushalt – das sollten Sie sich als Fachpolitiker ein-mal näher betrachten – jährlich um 1 Milliarde Euro ab-gesenkt worden ist. In den nächsten vier Jahren werdenSie jedes Jahr 1 Milliarde Euro weniger bekommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29797
Johannes Kahrs
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Das steht in dem Eckwertebeschluss. Lesen Sie das ein-mal nach. All das, was Sie hier erzählt haben, ist in derSache falsch. Ich sehe an Ihren erstaunten Gesichtern,dass Sie noch keinen Blick in den Haushalt geworfen ha-ben.
Angesichts der Tatsache, dass alle von Ihnen getroffe-nen Feststellungen auf der Sachebene falsch sind, solltenSie nachlesen, was in unserem Antrag steht. Wir fordern,dass der Verkehrsetat um 2 Milliarden Euro erhöht wer-den soll, und das gegenfinanziert. Das sagen wir nichtdeswegen, weil die Straßen in einem guten Zustand sind,sondern weil wir alle wissen, in welchem beklagenswer-ten Zustand die Straßen, die Verkehrswege und – auchdarauf muss man hinweisen – die Kanäle, zum Beispielder Nord-Ostsee-Kanal, in Deutschland sind. Wir hattendas Geld zur Verfügung gestellt, wir haben für die Pla-nungsreife gesorgt. Sie haben nichts gemacht, außer dasGeld aus diesem Bereich abzuziehen.
In der Sache wissen wir, dass Sie versagt haben. Hättees die Wahl in Schleswig-Holstein nicht gegeben undhätte das Parlament keinen Druck ausgeübt, dann hättenSie kein Geld für den Nord-Ostsee-Kanal zur Verfügunggestellt. Allein dem Druck der Opposition, unseremDruck, ist es zu verdanken, dass wir jetzt ein Gesamt-konzept hinbekommen.
Ihr Minister ändert alle zwei Wochen seine Meinung. IhrMinister hat im Hinblick auf die Sanierung von einerPerlenkette geredet: eine Maßnahme nach der anderen.
– Es ist ja schön, dass Sie hier herumbrüllen. Trotzdemhaben Sie Ihren Haushalt pro Jahr um 1 Milliarde Euroabgesenkt.Wenn man feststellt, wie Sie bei der Verkehrspolitikversagt haben, dann fragt man sich natürlich, warum Siehier so laut herumhupen.
Ich glaube, dass liegt daran, dass Sie das Versagen der– wie Sie immer so schön sagen – christlich-liberalenKoalition in den letzten dreieinhalb Jahren hier verber-gen wollen.Wir wissen doch, dass wir für die Bundesfernstraßen800 Millionen Euro mehr brauchen. Für die Brückenbrauchen wir 1 Milliarde Euro. Für die Schienenwegebrauchen wir 1 Milliarde Euro. Und bei den Bundeswas-serstraßen brauchen wir sogar 1,5 Milliarden Euro.
Was Sie dem Industriestandort Deutschland bieten,ist, dass Sie pro Jahr 1 Milliarde Euro aus dem Etat strei-chen, und sich dann hier hinstellen und herumhupen.Das ist doch peinlich. Das kann doch gar nicht wahrsein. CDU/CSU haben mit ihrer Politik in diesem Landeversagt.Dass Ihr Minister heute nicht hier ist, kann ich gutnachvollziehen. Ich würde mich an seiner Stelle bei derLeistungsbilanz, die ich hier vorlege, auch schämen.
Weil das so ist, sitzt auf der Regierungsbank nur derarme Kollege Scheuer. Mit ihm kann man es ja machen.Er muss es stellvertretend für all die anderen aushalten.
– Er ist ein feiner Kerl, aber in der Sache wissen wir,dass die Regierung nichts gerissen hat.Wenn man über Haushaltsklarheit und -wahrheit re-det, dann muss man diese Blackbox Verkehrsetat viel-leicht einmal aufbrechen. Vielleicht müsste jede neueMaßnahme über 25 Millionen Euro durch den Fachaus-schuss und den Haushaltsausschuss gehen und einzelnbeschlossen werden, damit nicht die Mitarbeiter imMinisterium, in den Landesministerien entscheiden, wasgebaut wird, sondern eine parlamentarische Kontrollestattfindet. Dann müsste jedes große Projekt individuellim Haushalt abgebildet werden. Dann könnte man jähr-lich den Baufortschritt nachvollziehen. Dann kämen nurnoch Großprojekte in den Haushalt, die durchfinanziertsind. Dann hätte man nicht dieses Elend, das Sie in denletzten drei Jahren verbockt haben.Von der SPD lernen heißt: Alles wird besser.
Senken Sie den Etat nicht um 1 Milliarde Euro proJahr ab, sondern lesen Sie unseren Antrag. Lesen bildet,und Denken hilft.Glück auf!
Das war angesichts der späten Stunde eine muntereDebatte. Vielen Dank.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/13191 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Auf-bewahrungsfristen sowie zur Änderungweiterer steuerlicher Vorschriften– Drucksache 17/13082 –
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29798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/13259 –Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingLothar Binding Dr. Barbara Höll– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/13268 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthlePetra Merkel Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung ein Ge-setz, dessen wesentliche Maßnahmen wir bereits vorknapp sechs Monaten in diesem Haus beschlossen habenund das dann an der rot-grünen Mehrheit im Bundesratgescheitert ist. Deshalb wende ich mich heute ganz be-sonders an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün. Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen wirklichernst mit dem Schließen sogenannter Steuerschlupflö-cher ist.Es besteht in diesem Haus in weiten Teilen Einigkeit,dass es bei der Erbschaftsteuer im Hinblick auf die soge-nannten Cash-GmbHs einen Missbrauchstatbestand gibt.Es gibt deshalb auch eine Vorlage des BFH an das Bun-desverfassungsgericht. Heute können wir eine Regelungbeschließen, die jenen Missbrauch und jene Gestaltungs-möglichkeit ganz massiv einschränkt. Nur zur Steuerver-kürzung gegründete bzw. konstruierte Unternehmenkönnen auf Basis unseres Vorschlags, den wir heute be-schließen, nicht mehr als Vehikel zur Vermögensver-schiebung genutzt werden.Es gibt auch einen Vorschlag des Bundesrats, den Siefavorisieren; aber dieser Vorschlag ist hochgradig ge-fährlich. Der vom Bundesrat vorgeschlagene Verwal-tungsvermögenstest wäre für die Unternehmen ein An-reiz, jegliche Liquidität im Unternehmen zu vermeiden.Das wäre eine dahin gehende Steuerung, dass man Li-quidität aus dem Unternehmen heraushält. Was das fürden betrieblichen Alltag bedeutet, was das gerade in Zei-ten der Krise bedeutet, ist klar: Verlust von Arbeitsplät-zen und Gefährdung des ganzen Unternehmens.Unser Vorschlag, den wir heute hier vorlegen, ist er-heblich besser. Er ist vor allem praxistauglich. Die ver-fassungsrechtlich gebotene Zielgenauigkeit der Vergüns-tigungsregelungen wird mit unserem Vorschlag deutlicherhöht. Indem wir die Zielgenauigkeit deutlich erhöhen,schaffen wir auch die Missbrauchs- und Gestaltungsan-fälligkeit ab. Wenn es Ihnen also ernst ist mit Ihrem An-liegen, Steuergestaltungsmodelle zu verhindern, dannstimmen Sie heute zu.
Sie können heute auch beweisen, ob es Ihnen mit demAnliegen, den Mittelstand von Bürokratie zu entlasten,wirklich ernst ist. Sie werden erklären müssen, warumSie sich hier gegen die Verkürzung der Fristen zur Auf-bewahrung von Unterlagen bei Mittelständlern wenden,
obwohl das einer Entlastung beim Bürokratieaufwand inHöhe von über 2 Milliarden Euro entspricht. Sie wendensich dagegen,
und das, obwohl Ihr Kanzlerkandidat, Peer Steinbrück– ich muss es noch einmal sagen, auch wenn ich weiß,dass das wehtut –, erst vor wenigen Wochen auf einerMittelstandstagung gesagt hat, dass man den Mittelstandvon unnötigen kostenträchtigen Regelungen befreienmuss.
Er hat dabei explizit die Verkürzung der Aufbewah-rungsfristen angesprochen.
Heute können Sie beweisen, ob es Ihnen ernst ist mitdem Wunsch, dass man rechtliche Betreuer und Leistun-gen von Bühnenregisseuren und Choreografen von derUmsatzsteuer befreit.
Wenn Sie wie wir den besonderen Gewerbesteuerzer-legungsmaßstab bei Photovoltaikanlagen tatsächlichwollen, dann stimmen Sie heute zu. Sie werden denMenschen erklären müssen, warum Sie diesen Gesetz-entwurf aufhalten. Sie werden ihnen erklären müssen,warum Sie dadurch die längere Geltungsdauer bei Frei-beträgen im Lohnsteuerabzugsverfahren verhindern, ob-wohl das nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern geradeauch für die Steuerverwaltungen in den Ländern eineVereinfachung bedeuten würde. Sie werden erklärenmüssen, warum Sie das nicht möchten.Eine Frage, die ich Ihnen hier letzte Woche schon ein-mal gestellt habe, muss ich wiederholen:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29799
Olav Gutting
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Glauben Sie, dass zum Beispiel die zivilen Freiwilligen-dienstleistenden Verständnis dafür haben, dass Rot-Gründie von uns gewollte Steuerbefreiung ihres Taschengel-des aufhält, dass Rot-Grün das im Bundesrat weiterhinblockiert? Ich glaube nicht, dass sie dafür Verständnishaben.Nehmen Sie die im Bundesrat aufgehaltenen Steuer-befreiungsvorschriften für die freiwillig Wehrdienstleis-tenden und die Reservisten. Wir wollen sie entlasten.Wir wollen sie steuerlich gerecht behandeln. Hier liegtder Gesetzentwurf. Stimmen Sie zu!
Die Opposition und damit auch die rot-grün regiertenBundesländer müssen sich jetzt ihrer Verantwortungstellen. Sie müssen ihre Blockadehaltung aufgeben, undsie müssen aufhören, für dieses Land wichtige Maßnah-men immer nur mit Blick auf die Bundestagswahl imBundesrat zu blockieren und zu verhindern.
Sie von der Opposition waren es, die im Vermittlungs-verfahren, das die meisten der heutigen Punkte enthielt,den Stock in das laufende Rad gesteckt haben.
Damit haben Sie für den Crash dieses Gesetzentwurfsgesorgt. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass dieserGesetzentwurf nicht noch einmal im Bundesrat scheitert.Stimmen Sie zu, und sorgen Sie dafür, dass die Blockadeim Bundesrat endlich aufhört.
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Ingrid Arndt-Brauer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Gutting,ich weiß nicht so recht, ob mir bei Ihrer Rede die Tränenkommen sollten oder welchen Effekt Sie hier produzie-ren wollten.
– Ja, Sie hätten schon beim Jahressteuergesetz imVermittlungsausschuss zusammen mit dem Bundesratzustimmen können.
Alle Maßnahmen, über die wir heute reden, waren da-bei: die Umsatzsteuerbefreiung für rechtliche Betreuer,Bühnenbildner, Regisseure und Choreografen, die Steu-erbefreiung des Taschengeldes beim zivilen Freiwilli-gendienst,
die Steuerbefreiung für Reservisten und Wehrdienstleis-tende. All diese Personengruppen hätten Sie schon vorsechs Monaten beglücken können.
Sie haben von einem Stock zwischen den Speichen ge-sprochen. Was war das denn? Sie hätten auch noch dieLebenspartnerschaften beglücken können. Sie hätten dasganze Land mit einem Schlag glücklich machen können.Das ging aus irgendwelchen ideologischen Gründennicht.Jetzt werfen Sie uns vor, dass wir Ihr Gesetz verhin-dern. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung derAufbewahrungsfristen, den Sie hier einbringen, ist ledig-lich eine Krücke. Was bedeutet das im Ergebnis?
– Unser Kanzlerkandidat hat das bei einer Konferenz an-gedeutet.
Unser Kanzlerkandidat hat aber nicht angedeutet, dasswir 2,5 Milliarden Euro übrig haben, um diese als Beglü-ckung über die Welt zu schütten. So viel würde diesesGesetz kosten. Dieses Geld haben wir nicht.
Es kommt noch etwas dazu. Welche Konsequenzenhat es, wenn wir die Aufbewahrungsfristen nur verkür-zen, so wie Sie das möchten?
Sie springen nur ein kleines Stück. Sie wollen Bürokra-tieabbau, verzichten aber auf Steuereinnahmen, weil Siedie Maßnahmen, die wir bräuchten, nicht vollziehen. Siewollen nicht mehr Steuerbeamte einstellen. Sie wollennicht mehr Betriebsprüfer einstellen.
– Moment, diese Forderung erheben Sie nicht gleichzei-tig mit diesem Gesetzentwurf. Das müssten Sie aber ehr-licherweise tun. – Sie produzieren hier Steuerausfälle,die nicht zu verantworten sind. Deswegen können wirIhrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Jetzt schieben Sie da unseren Kanzlerkandidaten vornach dem Motto: Der hat das mal angesprochen. – WennSie all das umsetzen würden, was er angesprochen hat,wären wir in dieser Republik schon ein Stück weiter.
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29800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ingrid Arndt-Brauer
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Noch einmal. Ich finde das, was Sie hier tun, sehrscheinheilig.
Sie hätten all die Maßnahmen, die Sie angesprochen ha-ben und die wir bis auf die Verkürzung auch für sinnvollhalten,
schon vor einem halben Jahr umsetzen können. Das ha-ben Sie nicht getan, obwohl Sie im Koalitionsvertragauch Lösungen für die gleichgeschlechtlichen Le-benspartnerschaften angekündigt haben.
Sie haben im Vermittlungsausschuss die ganze Sacheplatzen lassen. Deswegen sitzen wir hier heute Abendnoch einmal. Für uns ist das kein Problem; denn wir sindArbeit am Abend gewohnt.
Aber Sie blockieren hier heute Abend den ganzen Appa-rat. Sie bekommen von uns natürlich keine Zustimmung.Sie glauben, Sie könnten uns hier vorführen, aber jeder,der das verfolgt hat, sieht, wie durchsichtig das ganzeVerfahren ist. Ich finde es schade, dass wir uns allen dashier zumuten.Ich möchte Sie noch einmal ermutigen: Gehen Sie mitvernünftigen Zielsetzungen in den Vermittlungs-ausschuss, dann bekommen Sie auch vernünftige Ergeb-nisse.
Der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ohne mehrSteuerbeamte, ohne mehr Betriebsprüfer und ohne ange-passtes Verhalten können wir nicht zustimmen.
Ich möchte die Debatte hier nicht unnötig verlängern.Ich denke, ich habe alles dazu gesagt. Ich finde esschade, dass Sie so uneinsichtig sind; auch ein Tenor inRichtung Mitleid wird Ihnen nicht helfen.
Wir können leider nicht zustimmen. Es wäre schön ge-wesen, wenn Sie in den letzten vier Wochen eine gutePolitik gemacht hätten. Leider haben Sie das nicht ge-schafft. Das ist eine Sache mehr, die wir machen müs-sen. Wir werden es im September angehen. Einige vonIhnen werden wir dann ja wiedersehen, alle wahrschein-lich nicht. Ich wünsche uns allen einen schönen Sommer.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk von der
FDP-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kollegen von der SPD! LiebeFrau Arndt-Brauer, wir legen heute den Entwurf einesGesetzes zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen vorund beziehen uns damit ausdrücklich auch auf die Aus-sage Ihres Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.
Es ist erstaunlich, wie viel Beinfreiheit Sie Ihrem Kanz-lerkandidaten zugestehen, wenn Sie sich hier hinstellenund sagen, er habe das nur angedeutet.
– Sie können unserem Gesetzentwurf heute zustimmen.Ich möchte nur kurz darauf hinweisen: Ihrem Kanz-lerkandidaten scheint die Verkürzung der Aufbewah-rungsfristen ja nicht so wahnsinnig wichtig zu sein;
denn er nimmt an dieser Debatte noch nicht einmal teil.
Insofern muss man feststellen: Vielleicht haben Sie garnicht so unrecht, dass Ihr Kanzlerkandidat wolkige An-deutungen macht. Aber wenn es wirklich zum Schwurkommt, dann ist er ganz schnell weg. Er macht alsokeine vernünftige Politik für den Mittelstand in Deutsch-land und keine vernünftige Steuerpolitik. Aber das ken-nen wir ja schon aus seiner Amtszeit als Finanzminister.Insofern sind wir auch nicht besonders überrascht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29801
Dr. Daniel Volk
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Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, um ein weite-res Thema aufzugreifen:
Eine Verkürzung der Aufbewahrungsfristen führt in denUnternehmen, insbesondere in den mittelständischenUnternehmen, zu einer Einsparung von Bürokratiekos-ten im Milliardenbereich.
Das kostet keinen einzigen Euro Steuergeld. Es sindwirklich überflüssige Bürokratiekosten, die wir damiteinsparen.
Das Einzige, was Ihnen einfällt, ist, die Bundesregie-rung aufzufordern, mehr Finanzbeamte und mehrBetriebsprüfer einzustellen. Darf ich Sie von der SPDeinmal fragen: Was machen Sie denn in den Bundeslän-dern, in denen Sie dafür verantwortlich sind, dass mehrFinanzbeamte eingestellt werden?
Dazu höre ich von Ihnen nämlich gar nichts.
In Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in Baden-Württemberg höre ich dazu gar nichts von Ihnen.
Insofern: Kommen Sie doch bitte nicht mit diesem Argu-ment! Führen Sie nicht das, was in der Verantwortungder Bundesländer liegt, hier auf Bundesebene als Argu-ment gegen diesen Gesetzentwurf an!Sie sagen natürlich zu Recht, dass wir uns mit denThemen, um die es in unserem Gesetzentwurf geht,schon einmal befasst haben, nicht nur mit der Verkür-zung der Aufbewahrungsfristen, sondern zum Beispielauch mit der Umsatzsteuerbefreiung für Bühnenregis-seure und der Steuerfreiheit des Taschengeldes für dieJugendfreiwilligendienste. Übrigens, dadurch würden80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende entlastet undunterstützt werden.
80 000 Jugendfreiwilligendienstleistende, das ist, denkeich, eine beachtliche Zahl. Die jungen Menschen, diediesen Dienst leisten, müssen wir unterstützen.
Deswegen sollten Sie diesem Gesetzentwurf hier imBundestag zustimmen.Aber Sie haben natürlich vollkommen recht: DieseThemen wurden, wie gesagt, schon im Bundesrat und imVermittlungsausschuss behandelt.
Aus dem Vermittlungsausschuss kam ein Vorschlag zurErbschaftsteuer. Dabei geht es um die sogenanntenCash-GmbHs.
Mit dem Vorschlag, den der Vermittlungsausschuss ge-macht hat – man muss Vorschläge ja auch einmal inRuhe bewerten –, hätte man deutlich über das Ziel hi-nausgeschossen.
Das wäre wirklich ein Angriff auf die Finanz- und Kapi-talausstattung insbesondere von Familienunternehmengewesen.
Deswegen haben wir die Regelung zu den Cash-GmbHseindeutiger, detaillierter, treffsicherer gemacht, und zwarwirklich nur im Hinblick auf missbräuchliche Gestaltun-gen.
Dass Sie an Themen wie der Kapitalausstattung, demBetriebsvermögen und der Bedeutung der Finanzausstat-tung insbesondere für mittelständische Unternehmenüberhaupt kein Interesse haben, sieht man daran, dassSie planen, eine Vermögensteuer einzuführen, die zwin-gend dazu führen würde, dass die Betriebsvermögen unddamit auch die Eigenkapitalausstattung der Unterneh-men reduziert würden.
Sie haben die Bedeutung von Eigenkapital in Unterneh-men offenbar noch immer nicht verstanden.
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29802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Daniel Volk
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Wenn Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gesagt hat,dass eine Vermögensteuer Betriebsvermögen auf jeden Fallnicht treffen würde – oder hat er das nur angedeutet? –,
muss man deutlich darauf hinweisen: Er kann das nichtverhindern, Sie können das auch in Ihrer vollen Prachtund Schönheit als SPD-Fraktion
nicht verhindern: weil eine Unterscheidung zwischenPrivatvermögen einerseits und Betriebsvermögen ande-rerseits nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts nicht möglich ist.
Dementsprechend muss man deutlich sagen: Die Steuer-politik, die Sie vorschlagen und die Sie über IhreBlockademehrheit im Bundesrat vertreten, ist ein Fron-talangriff auf die mittelständischen Unternehmen inDeutschland.
Wir haben in den letzten vier Jahren genau den umge-kehrten Kurs eingeschlagen: Wir haben dafür gesorgt,dass insbesondere die mittelständischen Unternehmengut arbeiten können, dass es genügend Arbeitsplätzegibt. Das waren vier gute Jahre für Deutschland,
und das werden wir fortsetzen.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Dr. Axel Troost.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inmeinen fast acht Jahren Bundestag habe ich in diesemParlament einiges an Mätzchen und Spielchen erlebt.
Die Abläufe im Zusammenhang mit dem Jahressteuerge-setz 2013 bekommen in einer Liste der Absurditäten aufjeden Fall einen Spitzenplatz: Der Bundestag hat gegendie Opposition ein Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetzging an den Bundesrat. Im Vermittlungsausschuss warim Prinzip Konsens hergestellt; doch dann ist alles an ei-nem Punkt gescheitert. Anstatt dass man versuchte, we-nigstens die restlichen Punkte vernünftig abzuarbeiten,wurde ein neuer Vorschlag gemacht. Dieser Vorschlagwurde vom Bundestag verabschiedet, ging wieder anden Bundesrat und lag wieder im Vermittlungsaus-schuss. Jetzt sollen in einem dritten Anlauf noch einmalVeränderungen vorgenommen werden.
Meine Redezeit ist leider begrenzt; aber ich will nocheinmal auf die geplante Verkürzung der Aufbewahrungs-zeiten eingehen. Zurzeit müssen Unternehmen Unter-lagen zehn Jahre aufbewahren. Jetzt wird vorgeschlagen,diese Frist auf fünf Jahre zu verkürzen.
– Es sind je nachdem zehn Jahre oder acht Jahre; es gehtja um unterschiedliche Unterlagen.
Für die Unternehmen ist eine Verkürzung der Aufbewah-rungsfristen natürlich angenehm. Ich habe selbst einUnternehmen und weiß, was für Aktenberge man da auf-bewahren muss.Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf ge-schätzt, dass die Verkürzung der Aufbewahrungsfristenfür den Staat Kosten von 1 Milliarde Euro verursacht.Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie kommtdiese Milliarde zustande? Die Antwort war: Ursächlichist, dass die Auswertung von Steuerunterlagen für Be-triebsprüfungen und Steuerfahndung zeitlich nur einge-schränkt möglich ist.
Zu deutsch: Wenn die Aufbewahrungsfristen verkürztwerden, sind die Steuerprüfer nicht mehr in der Lage, sozu prüfen, wie sie das eigentlich machen müssten, unddadurch entstehen Steuerausfälle von – geschätzt; essind möglicherweise viel mehr – 1 Milliarde Euro. Dasist doch absurd. Haben Sie denn aus dem Fall Hoeneßund aus anderen Fällen überhaupt nichts gelernt?
Sie marschieren genau in diese Richtung weiter.Jetzt sagen Sie: Da müssen die Länder ran, das istdoch deren Problem. Nehmen wir einmal das Land Bay-ern. In Bayern wird ein mittelgroßes Unternehmen imDurchschnitt nur alle 20 Jahre geprüft, ein Kleinunter-nehmen sogar nur alle 40 Jahre.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29803
Dr. Axel Troost
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– Alles ordentliche Steuerzahler, und es gibt keinerleiRückstände. Aber warum sollen dann die Aufbewah-rungsfristen verkürzt werden mit dem Argument, dassdie Unternehmen entlastet werden sollen? Ich muss Ih-nen ehrlich sagen: Es geht nicht nur um die Einnahmen,
es geht in dieser Republik auch um Steuergerechtigkeit.
Was Sie hier machen, hat damit überhaupt nichts zu tun,sondern ist das genaue Gegenteil.
Das Gleiche gilt für die Cash-GmbH im Bereich derErbschaftsteuer. Sie haben sich sozusagen durchgesetztdamit, dass bei der Vererbung von Betriebsvermögen einSonderweg gewählt werden kann.
Jetzt ist aber klar: Der wird, wie immer, bis zum Geht-nichtmehr missbraucht.Sie haben jetzt einen Kompromiss aufgelegt, der aberkein wirklicher Kompromiss ist, weil er das Ganze nureingeschränkt verändert. Der ursprüngliche Vorschlagvom Bundesrat und vom Vermittlungsausschuss hättewesentlich mehr Ergebnisse gebracht. Insofern ist auchdieser Weg für uns nicht akzeptabel.Wegen dieses ganzen Kuddelmuddels werden wir die-sem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wohl wissend, dassdarin zum Beispiel Regelungen für Bühnenregisseureund andere enthalten sind, denen wir gerne helfen wür-den.
Wir können aber nicht zustimmen, wenn das mit solchenKröten verbunden ist.Insofern wird das Gesetz noch einmal in den Vermitt-lungsausschuss gehen, und wir werden dann mit Rot-Rot-Grün und nach Diskussionen mit Ihnen hoffentlichzu einem vernünftigen Ergebnis kommen.Danke schön.
Das Wort hat nun Thomas Gambke für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bei der Vorlage dieses Ge-setzentwurfs hatte ich eigentlich denselben Eindruck wieheute Morgen, als der Herr Minister Rösler hier gespro-chen und sich mit dem Thema Energiewende beschäftigthat.
Er hat gesagt: Wir sind in der Regierung, aber Sie vonder Opposition tragen die Verantwortung dafür, dass wirdas nicht hinkriegen.
Der Satz, Herr Volk, beinhaltet zwei richtige Aussagen.Es ist erstens in der Tat richtig: Schwarz-Gelb stellt dieRegierung.
Die zweite richtige Aussage ist: Sie kriegen das nichthin. – Genau das trifft auch auf den vorgelegten Gesetz-entwurf zu.
Das ist doch kein Gesetzentwurf; das sind Bruchstü-cke eines Jahressteuergesetzes. Wir hatten doch einenfertigen Gesetzentwurf. Den haben Sie gekippt. Jetzt ha-ben wir ein paar Einzelregelungen.
Herr Gutting, als Berichterstatter haben Sie das ja in be-merkenswerter Offenheit geschrieben. Sie haben ge-schrieben – ich darf das zitieren –:Allen sei aber klar, dass dann sicherlich noch an dereinen oder anderen Stelle nachgebessert werdenmüsse.Und das legen Sie uns heute hier vor, einen Gesetzent-wurf, zu dem Sie selber sagen: „Da muss man nachbes-sern“? Das ist doch unmöglich. Das können Sie uns hierdoch nicht vorlegen.Dabei gibt es ein fertiges Vermittlungsergebnis. Demkönnten wir sofort zustimmen. Wir haben den Antraggestellt. Sie haben ihn abgelehnt, nicht wir.
Das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik – Sie haben das sehrschön beschrieben – ist ein Flickenteppich, genauso wieIhr Gesetzentwurf. Sie sagen das ja selber. Er hat Män-gel; das räumen Sie selber ein.
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29804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Thomas Gambke
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Oder, schlicht und einfach: Sie machen Steuerpolitik, in-dem Sie gar nichts tun. Gucken Sie sich doch einmal dieUmsatzsteuerreform an! Da haben Sie versagt. Sie habensie einfach zurückgezogen. Ich kann nur sagen: Erbärm-lich.
Ich will Ihnen ein paar Beispiele aus dem vorliegen-den Gesetzentwurf nennen:Erstes Beispiel: Cash-GmbH. Das, was Sie hier vorle-gen – das ist schon angesprochen worden –, durchlöchertdas Vermittlungsergebnis. Sie nehmen nach unserer Auf-fassung im Prinzip billigend in Kauf, dass das Bundes-verfassungsgericht das wieder kippen wird, und das Ge-meine ist: Sie legen etwas vor, was die Länder am Endeausbaden müssen; denn ihnen steht die Erbschaftsteuerzu. Deshalb wird das wieder im Vermittlungsausschusslanden.
Zweites Beispiel: RETT-Blocker. Wo ist hier die Re-gelung? Das ist ein Steuersparmodell für die Konzerne.Das wollten wir beenden; das war ein Vermittlungser-gebnis. Wo ist die Regelung geblieben? Das ist einfachnicht akzeptabel und geht wieder zulasten der Länder.
Drittes Beispiel: Aufbewahrungsfristen. Wir Grünesind auch sehr für Bürokratieabbau, aber
nicht zulasten des Staates. Sie schreiben hier – ich zitierewieder aus der Beschlussempfehlung –, dass manzu dem Ergebnis kommen könne, dass erheblicheSteuerausfälle entstehen würden.Das wird darin dann auch noch vorgerechnet und bezif-fert: 1,05 Milliarden Euro pro Jahr. Und das legen Sieuns hier vor!
Sie machen in diesem Fall den zweiten Schritt vor demersten. Das ist wirklich toll.
Der erste Schritt wäre doch, dass die Finanzämter soausgestattet werden, dass sie wirklich Betriebsprüfungendurchführen können.
Sie gehen davon aus – Herr Volk hat das sehr schön ge-sagt –, dass alle steuerehrlich sind. Ja, dann schaffen Siedoch die Aufbewahrungsfristen gleich ganz ab, wenn Sieder Auffassung sind: Wir brauchen die nicht,
wir machen sowieso keine Betriebsprüfungen, wir habenkeine Leute, die das regelmäßig prüfen können, sondernsie prüfen nur alle 20 bis 40 Jahre.
– Sie kommen doch aus Bayern, Herr Volk. Ihre Parteiregiert dort doch noch mit.
Wenn ich mich richtig erinnere, gehört die FDP dort derRegierung an. Dann tun Sie doch endlich etwas!
– Nein, Sie tun es nicht.Meine Damen und Herren, das ist eine Regierung, diemanchmal offensichtlich ins Stolpern gerät; sie machtden zweiten Schritt vor dem ersten. Das kann nicht funk-tionieren.
Greifen Sie auf das Vermittlungsergebnis zurück!
Wenn Sie uns hier das Vermittlungsergebnis vorlegen,dann stimmen wir sofort zu. Dann brauchen wir keineZeit mehr zu verschwenden, Zeit, die im Übrigen wederdie Bürger noch die Unternehmen haben. Dann wäreauch die Verunsicherung der Finanzbeamtinnen und -be-amten beendet, und dann hätten wir ein gutes Ergebnis.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf in die-sem Haus seit über zehn Jahren Kulturpolitik machen.Bislang war es in der Kulturpolitik so, dass es einen brei-ten Konsens in allen Fraktionen gab, dass wir Kulturnicht nur als etwas sehen, was uns besonders lieb ist,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29805
Dorothee Bär
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sondern auch als etwas, was uns besonders teuer ist. Wirwaren uns immer einig, dass wir gemeinsam für unserekulturellen Schätze kämpfen. Wir haben den RohstoffGeist.
Wir sind diejenigen, die immer, auch parteiübergreifend,versucht haben, zu guten Lösungen zu kommen, das eh-renamtliche, aber eben auch das oft sehr gering bezahlteEngagement zu unterstützen. Das macht unsere gesell-schaftliche Identität in Deutschland aus. Wir konnten ge-rade für den Haushalt des Kulturbereichs – das war inunserem Haushalt nicht immer üblich – in den letztenJahren bei unseren Haushaltspolitikern immer wieder ei-nen Aufwuchs durchsetzen.
Das macht deutlich, dass es dieser Bundesregierungganz besonders wichtig ist, die Kultur zu fördern.Insofern wundert es mich schon – deswegen darf ichfür meine Fraktion heute hier sprechen –, dass die SPDnun versucht, ganz billig auf Kosten von Kulturschaffen-den Wahlkampf zu machen.
– Hören Sie mir zu! Schreien Sie nicht herein! Sie ver-stehen es hoffentlich dann, wenn ich es Ihnen jetzt er-kläre.
Sie machen Wahlkampf auf Kosten von Theaterregisseu-ren in unserem Land, und Sie machen Wahlkampf aufKosten derjenigen, die sich im FSJ Kultur engagieren.
Alle Obleute aller Fraktionen im Ausschuss für Kul-tur und Medien waren sich nach dem Urteil des Bundes-finanzhofs einig,
dass das geltende Recht im Ergebnis nicht entgegen demWillen des Gesetzgebers ausgelegt werden sollte. Des-halb – jetzt hören Sie gut zu; dann können Sie etwas ler-nen – sollte die Umsatzbesteuerung für Theaterregis-seure gesetzlich geregelt werden. Um hier zu einerklaren Regelung zu kommen, sollten sowohl die Steuer-befreiung für Theaterregisseure als auch die Steuerbe-freiung für das Taschengeld – das Taschengeld! – imFreiwilligen Sozialen Jahr Kultur in das Jahressteuerge-setz 2013 aufgenommen werden.
Mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat haben Sie dafür gesorgt– das ist schofel, und deswegen muss man das hier auchansprechen –, dass das Jahressteuergesetz nicht umge-setzt werden konnte. Das war ein Tritt in den Hintern füralle Theaterregisseure in unserem Land und für alle, diesich im FSJ Kultur befinden.
Sie wussten ganz genau, dass das ein wichtiger Erfolgfür alle Kulturschaffenden in unserem Land war. Geradefür Mitglieder Ihrer Fraktion ist es immer besonderschic, sich wie Buddies bzw. Spezis neben Künstler zustellen und wichtigtuerisch Fotos zu machen.
Ihr Altkanzler Schröder war Meister darin, immer so zutun, als ob er mit Künstlern auf Du und Du ist, ließ sieimmer Wahlkampf für sich machen. Das ist ein uralterTrick der SPD – und jetzt fallen Sie den Künstlern so inden Rücken. Das ist wirklich eine absolute Unver-schämtheit.
Nicht genug damit, dass Sie die bisherige Regelunggekippt haben und allen Theaterregisseuren den besag-ten Tritt in den Hintern gegeben haben: Jetzt besitzen Sieauch noch die Unverfrorenheit, von der Bundesregie-rung – ich zitiere – eine „Klarstellung der Umsatzbesteu-erung freier Regisseure“ zu fordern, obwohl Sie diejeni-gen waren, die diese Klarstellung verhindert haben.
Folglich sind Sie dafür verantwortlich, dass die Frageder Umsatzsteuerbefreiung für Theaterregisseure nochimmer nicht geklärt ist und Kulturschaffende immernoch um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen.
Da muss ich einmal ganz ehrlich sagen: Entweder ha-ben die Kulturpolitiker in Ihrer Partei keine Lobby undkönnen sich in Ihrer eigenen Partei auch nicht durchset-zen, wenn es darum geht, Regisseure und vor allemMenschen im FSJ besserzustellen. Oder Sie haben einsehr kurzes und noch kürzeres Kurzzeitgedächtnis, weilSie von Steuererhöhungen für Reiche reden, aber Steuer-freiheit für Taschengelder verhindert haben. Das istwirklich ein starkes Stück, meine lieben Kolleginnenund Kollegen.
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29806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dorothee Bär
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Da wir aber als christlich-liberale Koalition weiterhinan sachorientierter Politik interessiert sind, gehen wirheute einen ganz neuen Weg, um Theaterregisseure undMenschen im FSJ zu entlasten. Deswegen haben wir un-ser Vorhaben erneut in den Bundestag eingebracht, dies-mal im Rahmen des Gesetzes für die Verkürzung vonAufbewahrungsfristen.
Deswegen heißt es im Gesetzentwurf schlicht und ein-fach:Zu den weiteren entlastenden Maßnahmen gehörenz. B. die Umsatzsteuerbefreiungen für rechtlicheBetreuer, Bühnenregisseure und -choreographensowie die Steuerbefreiung des Taschengeldes bei zi-vilen Freiwilligendiensten.Lassen Sie uns also gemeinsam für die Kulturschaf-fenden und die im Kulturbereich Engagierten heute ein-mal ein Zeichen setzen, indem wir gemeinsam für denGesetzentwurf stimmen. Sollten Sie das nicht tun, weißich genau, was auf den Bühnen dieser Welt los sein wird.
Dann wird nämlich jedem klar, das Sie hier auch nurTheater machen. Schade!
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen von CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
sowie zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Empfehlung
auf Drucksache 17/13259, den Gesetzentwurf der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/13082 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der
zweiten Lesung angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Schutz vor Schiffsunfällen beim Bau der
Fehmarnbelt-Querung sicherstellen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüf-
stand – Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
dem Königreich Dänemark verhandeln
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewer-
ten – Verhandlungen mit dem Königreich
Dänemark über den Ausstieg aus dem
Staatsvertrag über den Bau einer Festen
Fehmarnbeltquerung aufnehmen
– Drucksachen 17/11365, 17/8912, 17/9407,
17/13154 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die feste Feh-marnbelt-Querung ist wieder einmal Gegenstand einerhochspannenden Debatte; darüber freuen wir uns alle.Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der im Wesentli-chen darauf abzielt, eine Reihe von Sicherheitsmaßnah-men im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs im Um-feld der zukünftigen Baustelle auf See zu veranlassen.Die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass vieleForderungen der SPD sich bereits in der Umsetzung be-finden und die Seesicherheit bei den Bauarbeiten ge-währleistet ist. Die Betonung liegt auf: Bauarbeiten. Ichfreue mich, dass die SPD weiterhin zu diesem Projektsteht.
– Herr Hacker, Sie kennen doch die Vorgeschichte. Eswar nicht einfach, Minister Tiefensee überhaupt dazu zubewegen, diese Nummer mitzumachen,
die für uns im Norden sehr wichtig ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29807
Gero Storjohann
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Ich komme zu den beiden Anträgen der Linken undder Grünen und möchte betonen, dass es im Bundestageine breite Mehrheit für die Realisierung des Projektes„feste Fehmarnbelt-Querung“ gibt. Das hat bereits dieDebatte zu den Anträgen gezeigt. Ich halte es auch nichtfür hilfreich, diese Ausstiegsforderung immer wieder zuerheben. Deutschland und Dänemark wollen die festeFehmarnbelt-Querung realisieren, und die Bundesrepu-blik Deutschland wird sich auch an die eingegangeneVerpflichtung halten, die deutsche Hinterlandanbindungzeitgerecht fertigzustellen.
Die Hinweise von Linken und Grünen auf Art. 22 des2008 abgeschlossenen Staatsvertrages über eine festeFehmarnbelt-Querung laufen ins Leere. Es ist auf däni-scher Seite kein Wille erkennbar, nicht einmal ansatz-weise, auf dieses Bauvorhaben zu verzichten. Nur beiübereinstimmender Willenserklärung auf dänischer unddeutscher Seite wäre über einen Ausstieg zu verhandeln;das ist unter angesehenen Juristen völlig unstreitig.Was mir bei Ihrer Betrachtungsweise fehlt, ist der Er-trag, der Mehrwert dieser Baumaßnahme. Das meine ichsowohl wirtschaftlich als auch kulturell.
Es geht beim Bau des Absenktunnels um ein großes eu-ropäisches Projekt, das wir von der Union ausdrücklichbegrüßen. Mit der Fehmarnbelt-Querung schaffen wireine feste Direktverbindung zwischen Skandinavien undKontinentaleuropa,
und zwar als Straßen- und Schienenverbindung.Die Zukunft wird von der Elektromobilität bestimmtsein. Eine neue Schienenverbindung zwischen Däne-mark und Deutschland ist somit nur zu begrüßen. Diewirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellenChancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.
Der 17,6 Kilometer lange Absenktunnel durch den Feh-marnbelt wird Nordeuropa und Zentraleuropa enger zu-sammenwachsen lassen. Das ist auch ein großer Wunschunserer Nachbarn aus Schweden und aus Dänemark.
Die Linken und die Grünen stellen sich gegen diesesProjekt, ein Projekt mit europäischen Dimensionen. Siepräsentieren uns Anträge, in denen sie uns auffordern,aus dem Staatsvertrag quasi auszusteigen.
Aber wie weit sind wir denn jetzt schon?
Die Beratungen haben Folgendes ergeben: Die techni-schen Planungen sind praktisch abgeschlossen.
Die Umweltuntersuchungen sind abgeschlossen. 2015ist mit dem Baubeginn beim Tunnel zu rechnen. Für dieCDU/CSU-Fraktion bestätige ich Ihnen gerne: Wir ste-hen uneingeschränkt zu diesem Projekt.
Deshalb können Sie sich schon ausmalen, was mit IhrenAnträgen passieren wird.Wir wollen dieses Projekt. Wir wollen die 4 000 Ar-beitsplätze, mit denen bei diesem Projekt Jahr für Jahr zurechnen ist, generieren.
500 dieser Arbeitsplätze werden auf deutscher Seite inder Region von Puttgarden entstehen.
Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze fürdie Menschen im Großraum Hamburg und Ostholstein.Die Dänen haben ihre Tunnelprojekte in Krisenzeitenkonzipiert und waren nachher, als die Wirtschaftboomte, rechtzeitig mit den Projekten fertig. Das war ge-nau die richtige Entscheidung für das dänische Staatswe-sen. Das ist ein Vorbild, wie man Geld sinnvoll einsetzenkann.
Linke und Grüne wollen jetzigen und zukünftigenGenerationen diese großartigen Chancen verwehren. Sieverweigern sich der Zukunftsgestaltung. Das machenwir nicht mit. Wir sind inzwischen so weit, dass wir überdie konkrete Ausgestaltung der Hinterlandanbindungauch auf deutscher Seite des Tunnels sprechen. Wirnehmen die Anregungen der Menschen vor Ort auf.Deshalb wird aktuell über den Bau einer sogenannten2 + 1-Trasse im Schienenverkehr diskutiert. Sie könntefestgeschrieben werden, sobald ein entsprechendesRaumordnungsverfahren abgeschlossen wird. 2 + 1 be-deutet: Der Nahverkehr würde weiter über die Bäderortean der Ostsee verlaufen. Zwei neue Trassen würden pa-rallel zur A 1 für den Fern- und Güterverkehr gebautwerden.
Diese neue Trasse muss natürlich noch im Bundesver-kehrswegeplan berücksichtigt werden und muss dazu
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29808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Gero Storjohann
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von Schleswig-Holstein angemeldet werden. Das istaber schon angegangen worden. Insofern können wirsehr zuversichtlich sein, dass die Landesregierung dasmitmacht.Ein wesentlicher Kritikpunkt ist der Schienenlärmdurch die Zunahme des Güter- und Fernverkehrs. Hierhaben wir uns in der Koalition und auch parteiübergrei-fend geeinigt, den Schienenbonus ab 2015 abzuschaffen.
So. Das ist ein gutes Signal für Schleswig-Holstein,auch, Ingo Gädechens, für Ostholstein. Es muss jetzt einbisschen neu geplant werden. Aber das macht, wie ichglaube, die Sache ein bisschen einfacher.Meine Damen und Herren, das, was die Grünen unddie Linken hier vorgelegt haben, ist ein Armutszeugnis.Wir werden der Beschlussempfehlung des Ausschussesunsere Zustimmung geben und damit die Anträge ver-senken.Danke schön.
Das Wort hat Hans-Joachim Hacker für die SPD-
Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Einen herzlichen, schönen Abend zu spä-ter Stunde! Die späte Stunde ist wohl auch der Grund da-für, Herr Kollege Storjohann, dass Sie sich mit demSPD-Antrag überhaupt nicht auseinandergesetzt haben.
Der SPD-Antrag geht nämlich auf ganz wichtige Fragenein, über die wir bereits in Verbindung mit der Ratifi-zierung des Vertrags zwischen der BundesrepublikDeutschland und dem Königreich Dänemark vom3. September 2008 hier in diesem Hause am 18. Juni2009 diskutiert haben. Ich will in Erinnerung rufen: HerrStorjohann, damals waren Abgeordnete der CDU ausMecklenburg-Vorpommern dabei, die gegen den Staats-vertrag gestimmt haben. Nicht, dass Sie versuchen, hierein falsches Bild zu malen. So verlief die damalige Ab-stimmung.
Heute sind wir einen Schritt weiter. Die SPD hat mitihrem Verkehrsminister Tiefensee den Vertrag vom Er-gebnis her gut ausverhandelt. Ob man für das Projekt istoder nicht, darüber kann man lange diskutieren; dieseDebatten führen wir auch. Aber der Vertrag ist hinsicht-lich der finanziellen Belastung für Deutschland vorteil-haft. Deshalb hat am Ende der Deutsche Bundestag die-sen Vertrag ratifiziert.Wir waren uns aber schon vor der Debatte am 18. Junieinig, dass die Planungsphase mit gründlichen Unter-suchungen verbunden werden muss. Ich nenne als Bei-spiele nur Fragen der Schiffssicherheit, Fragen nachAuswirkungen auf Flora und Fauna – in dem infrage ste-henden Bereich der Ostsee gibt es Schweinswale –
sowie die Fragen nach Auswirkungen auf Wirtschaft undTourismus. All diese Fragen werden im Moment von derPlanungsgesellschaft Femern A/S untersucht. Damitwird im Grunde genommen ein Auftrag erfüllt, den derDeutsche Bundestag mit der Ratifizierung des Vertragsverbunden hatte.Genau hier, meine sehr verehrten Damen und Herren,setzt der SPD-Antrag an. Wir wollen, dass der Schutzvor Schiffsunfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querungsichergestellt wird. Dazu hat die SPD-Bundestagsfrak-tion einen ganzen Katalog vorgelegt, der den Inhalt derdamaligen Debatte sinngemäß aufgreift. In diesem Zu-sammenhang soll sich die Bundesregierung für verschie-dene Maßnahmen der IMO, der EU, der Ostseeanrainerund der zuständigen Bundesländer einsetzen. Am Endegeht es der SPD-Bundestagsfraktion darum, mit diesemAntrag die Akzeptanz des Staatsvertrags in der Regionzu erhöhen. Wir möchten, dass Unsicherheiten, die in ei-nigen Teilen der Bevölkerung noch vorhanden sind, aus-geräumt werden. Wir möchten Fragen der Sicherheit imBereich der Baustelle nicht nur stellen, sondern auch vonder Bundesregierung ganz klare Antworten darauf ha-ben.
Ich finde, das liegt nicht nur im legitimen Interesse derBürgerinnen und Bürger in Ostholstein. Vielmehr kom-men wir damit auch einer Verantwortung nach, die wirals Bundestagsabgeordnete, insbesondere als Verkehrs-politiker, tragen.
Die Planungsfirma Femern A/S hat im Januar diesesJahres berichtet, dass sie selber einen Vertrag mit denOrganisationen RINA und SINTEF geschlossen hat, derdie Beurteilung der Sicherheit der Eisenbahnverbindungzum Gegenstand hat und die Konformität mit EU-Vor-schriften prüfen soll. Ich finde, das ist genau der richtigeWeg, den auch die Bundesregierung gehen muss. DieBundesregierung hat Verantwortung dafür, dass dieSicherheitsbelange geprüft und dass die Bürgerinnenund Bürger in diesem Prüfungsprozess mitgenommenwerden. Die Menschen in Schleswig-Holstein dürfennicht den Eindruck gewinnen, dass in Berlin Politik überihre Köpfe hinweg gemacht wird.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Schleswig-Holstein hat zu Beginn des Jahres 2013 das Raumord-nungsverfahren eingeleitet. Hier werden die notwendi-gen Untersuchungen vor Ort angestellt. Herr Ferlemann,
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Hans-Joachim Hacker
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noch ein Appell an Sie: Herr Storjohann hat ja die rück-wärtigen Bahnverbindungen angesprochen. Es ist ja jetztnicht mehr klar, was aus der Sundbrücke werden soll.Die Frage, die ich Ihnen dazu gestellt habe, hat zwar IhrHaus beantwortet. Aber auch Fragestellungen wie Aus-lastung der Sundbrücke und Sanierungsmaßnahmenmüssen in die weiteren Untersuchungen einbezogenwerden. Diese werden wir in den nächsten Jahren nochzu behandeln haben.Kollege Storjohann, vor diesem Hintergrund ist nichtnachvollziehbar, dass Sie sich der Beschäftigung mit ei-ner Thematik widersetzen, über die wir hier bereits 2009diskutiert haben. Dass man sich damit beschäftigt, dassumfangreiche Untersuchungen durchgeführt werden,und zwar auch im Sicherheitsbereich, war jedenfalls fürdie zustimmenden Fraktionen essenziell für ihr Abstim-mungsverhalten. Das erinnert mich ein wenig daran,dass Sie bestimmte Verkehrssicherheitsfragen nicht ernstnehmen. Das hier ist in etwa vergleichbar mit den Si-cherheitsfragen betreffend die Kabinenluft in Flugzeu-gen, Herr Staffeldt. Dafür sind Sie als Freizeitpilot jaSpezialist. Sie gehen mit diesem Thema, mit dem sich jaunser Antrag beschäftigt, ähnlich oberflächlich um wiemit dem Thema der – –
Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Hacker, ich habe den Antrag der SPD
sehr genau gelesen.
Das ist schön.
Er stammt vom November. Wenn man ihn liest,
könnte man meinen, die SPD glaube immer noch, dass
die feste Fehmarnbelt-Querung in Form einer Brücke
ausgeführt werden soll; nur dann spielt das große Thema
der Schiffskollisionen und der Schiffssicherheit im Feh-
marnbelt eine Rolle. Nun soll es aber ein Tunnel werden.
Gleichwohl ist uns die Schiffssicherheit in der Ostsee
genauso wichtig wie in der Deutschen Bucht oder in der
Nordsee.
An dieser Stelle möchte ich gerne einhaken, weil Sie
gerade den Staatssekretär Ferlemann erwähnt und be-
hauptet haben, dass die Regierung die Schiffssicherheit
nicht ernst nehme. Ist Ihnen bekannt, dass so wie auf
Helgoland bereits ein Radar installiert wurde, um die
Deutsche Bucht zu überwachen, die Regierung mittler-
weile veranlasst hat, dass auch ein Radar auf Fehmarn
installiert wird, um nicht nur den Fehmarnbelt, sondern
auch die Kadetrinne zu überwachen und damit eine er-
höhte Schiffssicherheit zu gewährleisten? Das alles ge-
schah im Vorgriff auf die beginnenden Bautätigkeiten.
Deshalb ist Ihr Antrag, Kollege Hacker, eigentlich obso-
let, aber vielleicht wissen Sie nicht, was ich eben er-
wähnt habe.
Herr Gädechens, diese Maßnahme der Bundesregie-rung ist nur zu unterstützen. Ich habe die Bundesregie-rung doch nicht dafür kritisiert, dass sie die Verkehrs-und Bausicherheit nicht gewährleisten würde. DieserAntrag richtet sich doch zuerst einmal an die Fraktionenim Deutschen Bundestag, die gemeinsam die Bundesre-gierung auffordern sollen, etwas zu unternehmen.
Das ist doch die Zielrichtung.Wenn Sie der Auffassung sind, die Bundesregierungsei schon auf einem guten Weg, dann stimmen Sie dochunserem Antrag zu. Wir können die Bundesregierunganregen, noch mehr Verkehrssicherheit zu schaffen, undzwar im Bereich der Baustelle, nicht im Bereich der Brü-cke. Da haben Sie völlig recht. Über die Brücke disku-tiert heute keiner.
Wir sprechen über die Baustelle für den Absenktunnel.
Da gibt es genug zu tun. Sie, Herr Gädechens, haben dieChance, in einer halben Stunde unserem Antrag zuzu-stimmen. Für Ihre Frage bedanke ich mich. Ich hoffe,Sie haben ein bisschen was mitgenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetztkomme ich aber doch zu den beiden Anträgen vomBündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Darauf istan dieser Stelle schon mehrfach eingegangen worden.Sie, Herr Storjohann, haben mit Ihrem Einwand aus-drücklich recht. Das will ich Ihnen attestieren. Sie habenhier Art. 22 zitiert. Jeder, der sich mit der Evaluierungdes Vertrages und dem Ausstieg aus dem Vertrag be-schäftigt, sollte einen Blick in den Vertragstext werfen.In Art. 22 steht ganz klar:Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einverneh-men zwischen den Vertragsstaaten geändert, er-gänzt oder aufgehoben werden.
Das ist unbestritten. Dann verpflichten sich die Vertrags-partner im Weiteren, alles in ihrer Macht Stehende zuunternehmen, um das Projekt gemäß den Annahmen zuverwirklichen.
Mir ist nicht bekannt, dass bei unserem Vertragspart-ner, der Regierung des Königreichs Dänemark, oder imdänischen Parlament Überlegungen angestellt werden,diesen Vertrag zu ändern oder aufzuheben. Die dänische
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Hans-Joachim Hacker
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Seite tut alles, um den Gegenstand des Vertrages, näm-lich die Herstellung einer festen Fehmarnbelt-Querung,umzusetzen. Demzufolge sage ich: Das ständige Wieder-holen, dass eine Ausstiegsmöglichkeit und Nachver-handlungsmöglichkeit gemäß Art. 22 bestehe, führtnicht zum Ziel. Das streut den Menschen in OstholsteinSand in die Augen, weckt bei den Bürgerinnen und Bür-gern dort, die den Vertrag nicht gelesen haben – es mussnicht jeder Bürger jeden Vertrag lesen, den wir hier imDeutschen Bundestag verabschieden –, möglicherweiseHoffnung. Es gibt diese Möglichkeit im Moment nicht.Was wir zu tun haben, ist, die Verpflichtungen ausdem Vertrag für die nächsten Jahre zu prüfen. Hierbeigeht es zum Beispiel darum, die rückwärtigen Anbin-dungen zu ertüchtigen. Genau dort setzt das an, was ichangesprochen habe: Die Bundesregierung hat noch eineBringschuld.Ich bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren,deshalb darum, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktionzu unterstützen – es gibt gute Gründe dafür; das hat jaauch die Frage von Herr Gädechens jetzt noch einmaldeutlich gemacht –, weil wir genau das aufgreifen undumsetzen, was ein wesentlicher Begleitbestandteil derRatifizierung des Vertrages war.Zu den beiden Anträgen vom Bündnis 90/Die Grünenund von der Linken – –
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wilms?
Aber gerne.
Herr Kollege, herzlichen Dank.
Bitte schön.
Herr Kollege, wenn Sie schon auf Art. 22 des Vertra-
ges Bezug nehmen, dann sollten Sie sich diesen Artikel
vielleicht einmal genau anschauen. Da steht nämlich
durchaus noch etwas mehr drin.
Ja.
Ich zitiere einmal:
Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln
als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt
des Abschlusses des Vertrags bekannt ist, werden
die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern.
Dies gilt unter anderem für wesentliche Kostenstei-
gerungen im Zusammenhang mit dem Projekt.
Insofern wundert es mich, wie Sie zu Ihrer Aussage
kommen. Wie können Sie sich das erklären? Also, in
dem Vertrag ist – gerade über den Art. 22 – eine eindeu-
tige Möglichkeit vorgesehen, zumindest in Verhandlun-
gen über einen Ausstieg einzusteigen.
Liebe Frau Wilms, Sie suggerieren erneut, dass eshier Verhandlungsmöglichkeiten und -notwendigkeitengibt. Die dänische Seite hat eindeutig die Kostenlast fürdie Errichtung des Bauwerkes übernommen. Wenn sichdort Kostenentwicklungen ergeben, die für die dänischeSeite nicht Verhandlungsgegenstand sind, dann wirdDänemark mit uns keine Verhandlungen aufnehmen,weil Dänemark dann in eigener Verantwortung eine Kos-tenentwicklung bewertet und darüber entscheidet.Wir sind jetzt genau an dem Punkt, dass in Dänemark– in der Regierung und im Parlament – nicht von einerFraktion und nicht von einem Regierungsmitglied über-haupt eine Diskussion zu Nachverhandlungen geführtwird.Wir erwecken hier mit diesen beiden Anträgen offen-bar den Eindruck, als stünde es kurz vor Nachverhand-lungen. Es gibt diese Grundlage nicht.
doch!)Ich bleibe noch einmal dabei – unter Hinweis auf Art. 22Abs. 1 –:Der Vertrag kann nur im gegenseitigen Einverneh-men zwischen den Vertragsstaaten geändert, er-gänzt oder aufgehoben werden.Dafür gibt es im Moment, soweit ich das beurteilenkann, keine Grundlage. Im Gegenteil,
die bauvorbereitenden Maßnahmen, die Planungsmaß-nahmen, laufen auf Hochtouren. Einiges befindet sich imZeitverzug – darüber haben wir hier vor einem Jahrschon einmal diskutiert –; das ist offenkundig.
Es gibt auch hinsichtlich der Kosten keine Grundlage fürNachverhandlungen.Deswegen, liebe Frau Wilms, haben Sie die Chance,Ihren Antrag zurückzuziehen. Wir können ihm jedenfallsnicht zustimmen, genauso wenig wie dem Antrag derLinken.An die Koalition der Appell: Sie können aus gutemGrund zustimmen, auch wenn Herr Storjohann das andieser Stelle noch nicht erklärt hat. Sie haben jetzt nochdie Chance, das nachzuschieben oder das nachher imAbstimmungsverhalten deutlich zu machen.Vielen Dank.
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Das Wort hat nun Torsten Staffeldt für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was wirgerade hier erlebt haben, war ein wenig das Abbild des-sen, wie es in Schleswig-Holstein in Kiel im Momentzugeht. Dort sagt die Landesregierung: Ja, das Projekt istgut. – Ich zitiere beispielsweise den MinisterpräsidentenTorsten Albig: Ich bin überzeugt, die Feste Fehmarnbelt-Querung bietet neue Perspektiven und große Entwick-lungschancen, besonders für Lübeck und Ostholstein. –
Die Grünen hingegen, die grüne Fraktion im Landtagvon Schleswig-Holstein, versuchen nach wie vor, diesesProjekt zu torpedieren. Das ist doch interessant. Daraufsollte man an der einen oder anderen Stelle immer wie-der hinweisen. Die streiten sich immer noch, obwohl sieeigentlich zu dem Projekt stehen müssten.Die SPD vertritt da klar die Position – wie wir auch –:Die Fehmarnbelt-Querung muss kommen, soll kommen,wird kommen.Die Grünen sind wie immer, wie auch der heute vor-liegende Antrag ausweist, der Meinung: Das soll allestatsächlich – aktualisiert mit Daten, Informationen, zu-sätzlichen Prozessen – zu einem Ausstieg führen. Sokann man den Antrag der Grünen, der recht voluminösist, zusammenfassen. Er sagt im Endeffekt aber nur ei-nes: Alle unsere Ziele machen deutlich, dass wir nichtaussteigen wollen; es soll alles so bleiben, wie es ist.Ähnlich ist es mit dem Antrag der Linken, der einigePunkte anspricht. Da soll das Dialogforum gestärkt wer-den, da soll der Staatsvertrag neu verhandelt werden.Aber am Ende soll als Ergebnis der Ausstieg stehen, undder Güterverkehr soll nach wie vor über die Jütland-Route rollen.
Der einzige vielleicht halbwegs konstruktive Hinweisbei den Linken ist, dass die Bauarbeiten außerhalb derSaison stattfinden sollen.Der Antrag der SPD, dem ich mich jetzt ein wenig in-tensiver widmen werde – da haben Sie Glück, HerrHacker; ich habe das genauso gelesen wie mein KollegeKammer, der gleich noch an der Reihe sein wird –, ist ei-gentlich ein Sammelsurium von „Wünsch dir was“, nachder Devise „Jeder darf schreiben, was ihm dazu einfällt“.Er glänzt – das muss ich als jemand, der sich mit Schiff-fahrt, Häfen und insbesondere Schiffssicherheit ein biss-chen auskennt, ganz klar und eindeutig sagen – durchvöllige Ahnungslosigkeit. Das ist so. Da redet der Blindevon der Farbe.
– Ich bin auch Seemann; da haben Sie Pech gehabt. Ichkann beides.
– Nein, ich bin nicht alles, aber ich bin gelernter See-mann, Herr Hacker. Im Gegensatz zu Ihnen und zur SPDweiß ich, dass AIS zum Beispiel längst Standard ist. Dagibt es eine Vorschrift. Gemäß SOLAS – Safety of Lifeat Sea – sind alle Schiffe ab einer Größenordnung von500 Bruttoregistertonnen heutzutage ohnehin verpflich-tet, diese AIS, diese Automatic Identification Systems,an Bord zu haben.
Wenn Sie so etwas noch fordern, kann ich nur sagen –tut mir leid –: Da besteht völlige Unkenntnis. Sie habenkeine Ahnung von dem, was Sie da schreiben.Auch die Überwachung, die Sicherheit auf den 19 Ki-lometern zwischen Puttgarden und Rodbyhavn gibt esschon längst. Es wurden eben schon die Radarketten an-gesprochen. Wir haben in dem Fall sogar noch eineschwierigere Situation, weil wir eine Staatsgrenze da-zwischen haben. Aber das funktioniert seit Jahren undJahrzehnten glücklicherweise sehr gut, sowohl auf deut-scher als auch auf dänischer Seite.
Denn die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dortist gewährleistet.In Ihrem Antrag finde ich, dass insbesondere die Bau-phase unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Geltungzusätzlicher Sicherheitskriterien erfolgen soll. Da fallenIhnen solch geniale Ideen ein wie: Jedes Schiff soll voneinem Escort-Schlepper begleitet werden. Hallo?! Wis-sen Sie, was das bedeutet? Ob man da über 66 000 oder35 000 Schiffsbewegungen redet: Wenn Sie jedemSchiff, das durch den Bereich fährt, einen Escort-Schlep-per zur Seite stellen wollen, brauchen Sie da keineSchifffahrt mehr.Die Bergungsschlepper gibt es schon jetzt,
und die werden während der Bauphase – da bin ich si-cher – auch garantiert da sein. Es gibt da Verantwortli-che. Zum Beispiel die deutsch-dänische maritime Koor-dinierungsgruppe kümmert sich schon jetzt darum, HerrHacker. Die Bergungsschlepper werden also da sein. Diewerden Stand-by sein, wie sich das gehört, wie das ganznormal ist.Insofern sind Ihre Forderungen – so kann ich nur sa-gen – völlig absurd. Sie gehen ja noch weiter. Sie schrei-ben, dass die Havariekommission mit mehr Personal
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Torsten Staffeldt
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ausgestattet werden soll, dass die Berufsfeuerwehren anLand speziell für den Fall ausgebildet werden sollen,dass auf der Baustelle einmal etwas passiert. HerrHacker, grundsätzlich ist es erst einmal die Verantwor-tung des bauenden Unternehmens, für Sicherheit zu sor-gen, und nicht unsere Verantwortung als Staat, zumal wirnur bis zur Hälfte der Strecke zuständig sind. Nicht wirals Staat haben dort einen Sicherheits- und Rettungs-apparat aufzubauen, den wir an anderer Stelle auch nichthaben.Wir haben jetzt eine ähnliche Diskussion bei den Off-shoreanlagen in der Nordsee und in der Ostsee. Da wirdauch immer verlangt, der Staat müsse alles machen. Esist aber die originäre Aufgabe der Unternehmen, sich da-rum zu kümmern, dass es funktioniert und dass entspre-chende Rettungsketten vorhanden sind. Ich gehe auchfest davon aus, dass es funktioniert, dass es so gemachtwird wie an anderer Stelle auch.
Dann haben Sie noch darauf hingewiesen, HerrHacker, dass angeblich der Vertrag mit Dänemark vonTiefensee so gut verhandelt worden sei. Ich habe durch-aus auch andere Meinungen dazu gehört. Man kann auchin den Anträgen lesen, dass es dazu eine unterschiedli-che Wahrnehmung gibt. Sei es drum!Ich bin sicher, dass Ihr Antrag so überflüssig ist wieein Kropf, weil wir die notwendigen Sicherungssystemelängst haben. Ich habe das an einigen Beispielen be-leuchtet.Ich bin sicher, dass die Fehmarnbelt-Querung kommt.Ich bin genauso sicher, dass wir unseren Part leisten,dass wir die Hinterlandanbindungen, die natürlich not-wendig sind, zeitgerecht, elektrifiziert, zweigleisig, idea-lerweise, wie vom Kollegen Storjohann schon dargestelltwurde, parallel zur Autobahn realisieren, um die Belas-tung der Bürgerinnen und Bürger durch Schienenlärm zureduzieren.Ich bin froh und dankbar, dass wir es in dieser Koali-tion geschafft haben – das wurde schon gesagt –, denSchienenbonus abzuschaffen. Das heißt, solche Neubau-projekte müssen im Endeffekt leise sein.Insofern ist alles auf dem richtigen Weg. Weil allesauf dem richtigen Weg ist und weil die beiden Ausstiegs-varianten der Grünen und der Linken für uns keine Al-ternative darstellen, werden wir Ihre Anträge ablehnen.Ich bin froh, dass wir in den vier Jahren hier Gutes fürDeutschland leisten konnten; wir werden das auch wei-terhin so machen.
Vielen Dank.
Das Wort hat Herbert Behrens für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Viele Arbeitnehmer und auch Unternehmer in Osthol-stein bangen um ihre berufliche Existenz. Sie leben näm-lich davon, dass über 1 Million Touristen die landschaft-liche Schönheit und das gute Klima an Schleswig-Holsteins Ostseeküste schätzen.
Kommt die Feste Fehmarnbelt-Querung, droht ihnenTag und Nacht der Lärm von 80 Güterzügen, und zwarjeden Tag und jede Nacht, entlang der Ostseeküste überdie Insel Fehmarn und durch die Tourismusregionen hi-nauf nach Dänemark. Und diese Lärmbelästigung kostetauch noch unendlich viel Geld. Über 10 Milliarden Eurofür ein Tunnelprojekt mit Hinterlandanbindung, das denLärm überhaupt erst nach Ostholstein bringen soll. Wirwollen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung inOstholstein mit guten touristischen Angeboten und einerguten Verkehrsinfrastruktur. Das geht nicht mit einemMilliardenprojekt, das diesen Teil des Landes zu einerreinen Transitstrecke für Gütertransporte zwischenSchweden und Kontinentaleuropa macht.
Fast 2 Milliarden Euro kostet allein Deutschland derBau der Hinterlandanbindung. Bei diesen Riesenbeträ-gen könnte man denken, in der Region gäbe es keineVerkehrswege. Das stimmt aber nicht. Die Fährverbin-dung als schwimmende Brücke zwischen Lolland undFehmarn bringt schon heute viele Güter und viele Men-schen sicher und schnell über den Belt, egal ob mit demAuto, dem Lkw, dem Personenzug oder dem Güterzugtransportiert wird.
Die Verkehrspolitik der Mammutprojekte vernichtetdas Geld, das wir für Instandhaltung, Lärmschutz undgute Eisenbahnverbindungen zu den Ostseebädern brau-chen. Darum fordern wir den Ausstieg aus dem Projekt,bevor Fakten geschaffen werden.
Das fordern auch viele Betroffene vor Ort.
Bereits vor 15 Jahren gab es große Zweifel, ob dieFehmarnbelt-Querung überhaupt sinnvoll ist. Die Bürge-rinnen und Bürger hatten gute Argumente, um die Pla-
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Herbert Behrens
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nungen schon damals zu stoppen. Da ist zum Beispieldas Nutzen-Kosten-Verhältnis. Das bedeutet, jeder in-vestierte Euro muss mindestens das wieder hereinbrin-gen, was investiert worden ist. Aber von vielen anderenGroßprojekten wissen wir, dass schöngerechnet wird,dass zweifelhafte Annahmen von Planern dafür sorgen,dass diese Bauprojekte überhaupt durchgedrückt werdenkönnen. So ist es auch bei der Fehmarnbelt-Querung.Die Bürgerinitiativen sind beharrlich geblieben. DerBund und das Land Schleswig-Holstein sahen sich ge-zwungen, das Dialogforum einzurichten. Aber sie woll-ten die Bürgerinnen und Bürger damit eigentlich dazubringen, endlich einzulenken. Das ist nicht gelungen. IhrVerständnis von Bürgerbeteiligung ist, dass Bürgerinnenund Bürger ihren Widerstand aufgeben sollen. DiesesKonzept von nachgelagerter Bürgerbeteiligung ist ein-deutig gescheitert.Die Bundesregierung steckt natürlich in der Klemme.Sie hat ein Projekt der letzten Bundesregierung geerbt.Aber heute haben wir die Große Koalition wieder auf-erstehen sehen. Beteiligt waren alle, die dafür sprechen.Heute behaupten Sie immer wieder, der Staatsvertrag seinicht veränderbar. Auch das stimmt nicht. Es gibt eineVerständigungsklausel in dem Vertrag, die schon ange-sprochen wurde, nach der die Vertragspartner Deutsch-land und Dänemark bei gravierenden Veränderungen neuverhandeln können. Es gibt sogar einen gemeinsamenAusschuss, der regelmäßig tagt und in dem solche Fra-gen verhandelt werden können. Da muss nichts aufge-kündigt werden.Es ist nicht hinnehmbar, dass Sie sehenden AugesMilliarden Euro versenken und zusätzlich auch noch dieWirtschaftskraft Schleswig-Holsteins nachhaltig schwä-chen. Schluss damit!
Nach gravierenden Planungsänderungen – von derBrücke zum Tunnel –, der Halbierung der Verkehrspro-gnosen, einer gravierenden Kostenexplosion, tausend-fachen Einwendungen, großen Bürgerprotesten ist dieZeit reif, den Sinn oder den Unsinn dieses Projektes fest-zustellen. Eine ergebnisoffene Neubewertung des Pro-jektes muss her. Noch ließe sich das Projekt stoppen.Noch sind keine Baufahrzeuge angerollt. Die Linke for-dert Neuverhandlungen, nicht gegen den Staatsvertrag,sondern mit den Mitteln, die dieser Staatsvertrag bietet.Sollten Sie heute dazu nicht den Mut aufbringen – das istzu erwarten –, muss die neue Bundesregierung ran. Die-jenigen, die sich schon heute als Regierungsalternativeanbieten, sollten wissen: Die Bürger sind beharrlich.Aber auch die Linke wird den Auftrag, Verkehrspolitikfür die Bürger und mit den Bürgern zu machen, in dieneue Fraktion mitnehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zudieser späten Stunde: Schön, dass noch Besucher anwe-send sind. Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es isteine erstaunliche Debatte. Manche lernen aus Fehlern,manche nicht. Zu Letzteren gehören leider
diese Bundesregierung und scheinbar auch einige ausder Fraktion der SPD.Seit Jahren diskutieren wir über die Risiken vonGroßprojekten.
Wir streiten über Stuttgart 21. Wir erleben im ganzenLand, dass Bürger mehr Mitsprache verlangen. DieMenschen wollen umfassend eingebunden werden,wenn die Politik ihr Lebensumfeld umgestalten will.
– Herr Hacker, genau das ist entscheidend. Das tun wirso nicht.
Große Verkehrsprojekte greifen oft massiv in das Le-ben der Menschen vor Ort ein. Deswegen müssen wirdie Menschen beteiligen und es ihnen erklären. Aber dasreicht nicht. Es muss auch echte Möglichkeiten zur Än-derung der Pläne geben,
sonst fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen.Pseudobeteiligung ist schlimmer als gar keine Beteili-gung; denn da weiß man von Anfang an, dass man nichtsändern kann.
So etwas möchte ja scheinbar eine große Koalitionhier in diesem Hause. Durch den Staatsvertrag hat manall die Erfahrungen mit Großprojekten in den letztenJahren offensichtlich wieder komplett vergessen. DerVertrag wurde geschlossen, das Projekt festgelegt. Erstdann wurden die Bürgerinnen und Bürger als Alibi betei-ligt. Deswegen ist unsere Forderung eine tatsächlicheAbwägung des Nutzens und der Risiken. Wir brauchenendlich einmal einen wirklich ergebnisoffenen Dialog.Ergebnisoffen bedeutet auch die Möglichkeit, aus demProjekt auszusteigen.
Nur wenn wir diese Möglichkeit schaffen und in denProzess ernsthaft einbeziehen, können wir auch dieMenschen vor Ort endlich einbinden. Andernfalls kön-nen wir es bleiben lassen.
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29814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Valerie Wilms
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Denn, werter Herr Storjohann, das ist unser Weg: mitden Menschen, für die Menschen und nicht nur für diehauptamtlichen Politikerinnen und Politiker.
Wir dürfen aber nicht nur über einzelne Projekte dis-kutieren. Das haben wir viel zu lange getan. Die Zukunftder Mobilität muss im Gesamtzusammenhang gedachtwerden. Wir müssen erst festlegen, was wir mit unsererMobilität wirklich erreichen wollen. Wir müssen unsZiele setzen, was unser Verkehrsnetz zukünftig leistenmuss und wie wir das so günstig und umweltschonendwie möglich schaffen. Erst dann dürfen wir uns um dieeinzelnen Projekte und deren Verbindung kümmern.Derzeit machen wir es genau umgekehrt. In der nächstenLegislatur läuft der jetzige, völlig überholte Bundesver-kehrswegeplan aus. Diesen müssen wir endlich zu einemBundesmobilitätsplan weiterentwickeln,
und zwar mit klaren Zielen und eindeutigen Prioritäten.Wenn wir dazu ein Grundkonzept haben, können wirauch wieder darüber reden, auf welchen Wegen wir zu-künftig nach Dänemark kommen.
Die Bundesregierung hat das leider überhaupt nichtverstanden. Stattdessen wurstelt sie weiter herum undbenutzt die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungmit der Deutschen Bahn, um Gelder für die Hinter-landanbindung der Fehmarnbelt-Querung zu parken.Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehenlassen. Es gibt kein vernünftiges Gesamtkonzept für un-seren Verkehr. Es gibt auch keine klaren Vorgaben fürdie Deutsche Bahn, wie sie das Netz mit Steuergeldernerhalten soll. Stattdessen werden ein unfertiges Ver-kehrsprojekt, Fehmarnbelt-Querung genannt, und einehalbgare Vereinbarung mit der Bahn zusammengewor-fen. Es geht zu wie auf dem Jahrmarkt. Das versteht keinMensch mehr.
Dieser Regierung fehlt eine Grundrichtung. Sie kön-nen nicht einfach alles so zusammenwerfen, wie esgerade auf Ihrem Schreibtisch landet. Die Leute in unse-rem Land wollen endlich einmal wissen, ob die Regie-rung weiß, wo sie hinwill. Aber das ist von dieser Bun-desregierung ganz offensichtlich nicht mehr zu erwarten.Abgewirtschaftet hat sie.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! DerKollege Gero Storjohann hat vor knapp einem Jahr undauch heute wieder zu den Anträgen der Linken und derGrünen ausführlich Stellung genommen. Insofern, HerrKollege Hacker, werde ich mich im Wesentlichen mit Ih-rem Antrag beschäftigen, weil er ja doch einige interes-sante Perspektiven aufweist.Herr Behrens, vorab noch einige Worte. Sie sprechenvon einer nachhaltigen Entwicklung, die in Schleswig-Holstein einsetzen muss, und von der Wirtschaftskraft,die dahinterstehen muss. Ich habe Ihren Antrag von vorzwei Jahren bezüglich der Weser-Vertiefung gelesen.Wirtschaftskraft besteht bei Ihnen offenbar darin, dassSie Container mit Kajaks befördern wollen. Das ist dasVerständnis der Linken von Wirtschaftspolitik.
Ihnen, Frau Dr. Wilms, muss ich eines sagen. Sie ha-ben hier ja vehement für Bürgerbeteiligung geworbenund dafür, dass wir das einfordern müssen, dass wir mitden Bürgern etwas machen.
Das finde ich prima. Aber wenn die Ergebnisse nicht sosind, wie Sie das erwartet haben, Beispiel Stuttgart 21,dann zählt für Sie der Bürgerentscheid auf einmal nichtmehr. Da müssten Sie dann konsequent sein.
Nun zum Antrag der SPD-Fraktion, der zwei gute An-sätze enthält. Erstens haben Sie erkannt, dass diese Bun-desregierung auch nach dem Wahltag an der Entwick-lung weiterarbeiten wird. Sie haben richtig erkannt, dassdiese Bundesregierung weitermachen wird.
Zweitens enthält Ihr Antrag ausnahmsweise einmal ei-nen wahren Satz, nämlich dass die Feste Fehmarnbelt-Querung eine große Herausforderung darstellt. Das ha-ben Sie richtig erkannt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29815
Hans-Werner Kammer
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Ich möchte in diesem Zusammenhang lobend erwäh-nen, dass die Sozialdemokraten sehr verlässlich sind.Man kann sich darauf verlassen, dass sie auf Verände-rungen reagieren, und zwar mit Angstmacherei. Sie wol-len Angst schüren, Angst verbreiten. Genau so ist dashier.
Der Staatsvertrag über den Bau der Fehmarnbelt-Que-rung wurde am 3. September 2008 unter Mitwirkung ei-nes sozialdemokratischen Ministers geschlossen, der– das habe ich hier noch stehen – wie kaum einer fürPleiten, Pech und Pannen steht; aber das verkneife ichmir jetzt einmal. Er hat den Vertrag damals geschlossen.Da konnte einem schon angst und bange werden.
– Sie hatten den schwachen Minister zu verantworten.
Gott sei Dank tragen jetzt Bundeskanzlerin Merkelund Peter Ramsauer die Verantwortung für dieses Pro-jekt, sodass Ihre Angst, meine Damen und Herren vonder Opposition, völlig unbegründet ist. Die Fehmarnbelt-Querung ist nicht der BER; das muss man deutlich sa-gen.Diese Bundesregierung wird alles dafür tun, die Be-einträchtigungen für den Schiffsverkehr so gering wiemöglich zu halten.
Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion werdensie dabei unterstützen.
Diese Bundesregierung wird alles tun, um Gefahr fürLeib und Leben der Menschen und für die Natur abzu-wenden. Die Regierungskoalition wird dabei helfen. Wirbrauchen keine Nachhilfe von den Sozialdemokraten.
Das können wir auch so. Wir können es sogar besser.Muss man Angst vor der Fehmarnbelt-Querung ha-ben? Aus meiner Sicht lautet die Antwort: Ja, wenn manein roter Berufspessimist ist.
Für normal denkende Menschen sieht die Sache ganz an-ders aus. Diese Menschen sehen die Chance, die diesesProjekt mit sich bringt. Bei der Planung des Tunnelszwischen Lolland und Fehmarn ist nichts von Dilettan-tismus, Gigantonomie oder möglichen Luxustrends zuverspüren. Das ist übrigens keine Einschätzung derCDU-Pressestelle, sondern dem Hamburger Abendblattvom 20. April dieses Jahres entnommen. Die Zeitung hatrecht: Hier geht es nicht um Prunk und Prestige, sondernum dringend benötigte Infrastruktur, Herr Behrens: In-frastruktur gegen Stau und Stillstand, Infrastruktur fürHandel und Wandel in Europa, Infrastruktur für denFortschritt.Uns ist auch klar, Herr Behrens und Frau Wilms, dasses den Fortschritt nur mit den Anwohnern geben darf,nicht gegen sie. Es ist nachvollziehbar, dass sich dieMenschen auf Fehmarn Gedanken über die Auswirkun-gen der Fehmarnbelt-Querung auf ihre Insel, ihr Umfeldund ihre berufliche Existenz machen. Das sind berech-tigte Fragen. Das verstehen wir. Diesen Fragen habenwir uns gestellt und werden wir uns auch weiterhin stel-len.
Ich glaube, dass gewisse Bedenken ausgeräumt sind. Dieguten Gespräche im Dialogforum Feste Fehmarnbelt-querung haben sicherlich einen Teil dazu beigetragen.Ein sachlicher Dialog kann einiges bewegen.Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer wird sich füreine zweite Bahntrasse an der Autobahn A 1 abseits derFerienorte einsetzen, damit die schweren Güterzügenicht durch die Zentren der Ortschaften auf der Insel rol-len müssen. Die neue Trasse nimmt den Güterverkehrauf, die alte Trasse bleibt zum Wohle der Anwohner undTouristen erhalten. Das ist ein vernünftiger Kompromiss.Das ist die Politik der Union. Das ist Verantwortung fürdie Menschen. So müssen die großen Herausforderun-gen dieses Jahrhundertprojekts gemeistert werden: mitden Menschen für die Menschen. Seien Sie mit uns opti-mistisch: Wir werden das gemeinsam hinbekommen.Ihre Anträge werden wir selbstverständlich ablehnen.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung auf Drucksache 17/13154. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Empfehlungdie Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/11365 mit dem Titel „Schutz vor Schiffs-unfällen beim Bau der Fehmarnbelt-Querung sicherstel-len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung vonLinken und Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/8912 mit dem Titel „Feste Fehmarnbeltquerungauf den Prüfstand – Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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dem Königreich Dänemark verhandeln“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der SPDgegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-nen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9407mit dem Titel „Chancen und Risiken ergebnisoffen be-werten – Verhandlungen mit dem Königreich Dänemarküber den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Baueiner Festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derSPD gegen die Stimmen der Linken und Grünen ange-nommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Richtlinie 2011/89/EU desEuropäischen Parlaments und des Rates vom16. November 2011 zur Änderung der Richt-linie 98/78/EG, 2002/87/EG, 2006/48/EG und2009/138/EG hinsichtlich der zusätzlichen Be-aufsichtigung der Finanzunternehmen einesFinanzkonglomerats– Drucksachen 17/12602, 17/12997 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/13245 –Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerBjörn Sängerb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Förderung und Regulierung einer Hono-
– Drucksache 17/12295 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/13131 –Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Carsten SielingBjörn Sängerc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,Dr. Carsten Sieling, Willi Brase, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPDVerbraucherschutz stärken – Honorarbera-tung etablieren– Drucksachen 17/8182, 17/13131 –Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsDr. Carsten SielingBjörn SängerZum Entwurf eines Honoraranlageberatungsgesetzesliegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen derSPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile KolleginPatricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir dis-kutieren in der aktuellen Debatte unter den Stichworten„Honoraranlageberatung“ sowie „Finanzkonglomerate“und im weiteren Sinne dann auch hinsichtlich der Be-steuerung von Erlöspools in der deutschen Seeschifffahrtgleich mehrere Maßnahmen. Lassen Sie mich zu zweiPunkten Stellung nehmen.Mit dem Gesetz zur Anlageberatung schaffen wirRahmenbedingungen und stärken damit die Finanzbera-tung auf Honorarbasis. Zu oft war im Zuge der Finanz-krise zu beobachten, dass Menschen in diesem Landeinen Schaden davongetragen haben, weil sie unzurei-chend – im schlimmsten Falle sogar falsch – beratenwurden, wenn das Provisionsinteresse des Beraters stär-ker war als das eigentliche Anliegen des Kunden. Ausden genannten Gründen haben wir die provisionsge-stützte Beratung bereits reguliert, unter anderem im An-legerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz sowieim Finanzanlagenvermittlergesetz.Nun wollen wir zusätzlich die Honorarberatung ausihrem Nischendasein herauslösen, um den Kunden einetransparentere Wahlfreiheit als bisher zu geben. Hierfürgehen wir heute einen ersten Schritt. Es ist ein ersterSchritt, weil wir uns, erstens, auf den auch für die Krisemaßgeblichen Finanzbereich konzentrieren. Der Versi-cherungsbereich bleibt in der Tat ausgeklammert. Dashat neben den erforderlichen sehr umfangreichen Vorar-beiten auch einen anderen sehr guten Grund: Denn,zweitens, wir nehmen bei diesem Gesetz erneut paralleleVerhandlungen auf europäischer Ebene zu einem ver-gleichbaren Thema vorweg. Bis zum Ende dieser Ver-handlungen dauert es uns nicht zum ersten Mal zu lange.Deshalb lösen wir einen Bereich heraus, bei dem be-stimmte Inhalte absehbar sind, um wenigstens an einersehr wichtigen Stelle bereits den sprichwörtlichen Fuß indie Tür zu bekommen. Wir schaffen damit eine guteGrundlage. Diese Regulierung ist uns wichtig. Wir wol-len damit ein weiteres Signal setzen.
Absehbar ist bereits, dass es am Ende keine kompletteAbschaffung der provisionsgestützten Beratung geben
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Patricia Lips
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kann. Sie ist und bleibt Bestandteil des Angebots. BeideVarianten, die honorar- und die provisionsgestützte Be-ratung, haben Vor- und Nachteile. Keines der Modelle istfrei von Interessenskonflikten. Viele Menschen habeneinen guten Kontakt zu ihren Vermittlern und Beratern,oft über viele Jahre hinweg. Sie vertrauen ihnen, zumeistauch zu Recht. Es ist deshalb nicht an uns, eine ganzeBranche unter Generalverdacht zu stellen. Unser Ziel istes auch nicht, die Kunden zu bevormunden. Der Beraterauf Honorarbasis soll jedoch in der Wahrnehmung derVerbraucher gestärkt werden. Der Verbraucher soll er-kennen, dass es mehr als eine Form der Anlageberatunggibt.Was sind die wichtigsten Eckpunkte? Die Honoraran-lageberatung wird zu einem Berufsbild mit geschütztemBegriff. Nur wer bestimmte Kriterien erfüllt, darf sichkünftig entsprechend bezeichnen. Das Regulierungsni-veau inklusive der Qualifizierung wird darüber hinausangepasst. Das reicht von der Registrierung über dieAufsicht und die Wohlverhaltenspflichten bis hin zurSachkunde und vielem anderen mehr.Im Gegensatz zur Opposition wollen wir aber nicht,dass dabei einseitig sogenannte Nettofinanzprodukte indie Beratung einfließen. Das würde bedeuten, dass derBerater rundweg gar keine Produkte einbeziehen dürfte,die über einen Emittenten eigentlich mit einer Provisi-onsvergütung versehen sind. Die Nettoprodukte sollennatürlich in erster Linie empfohlen werden. Auch vonuns wird dieser Weg verfolgt. Nur wenn das empfohleneFinanzinstrument nicht provisionsfrei erhältlich ist, darfdieser Weg eingeschlagen werden.Doch auch dann gelten Regeln: Fällt eine Provisionan, darf diese nicht beim Berater verbleiben. Er hat alsokeinen Vorteil davon. Er muss die Provision unverzüg-lich an den Kunden weiterleiten. Es gilt: Am Ende darfein Produkt dem Kunden auf keinen Fall zum Schadengereichen, aber auch nicht zu einem Mehraufwand füh-ren. Für uns gilt aber auch: Nicht das Verfahren undnicht Prinzipienreiterei, die zum Ausschluss von Dingenführen könnten, die für den Kunden vielleicht sogar vonVorteil wären, dürfen am Ende im Mittelpunkt stehen,sondern das beste Produkt für den Kunden.
Ich möchte etwas zitieren:Eine Honorarberaterin bzw. ein Honorarberatermuss aus dem gesamten Bereich von Finanz- undVersicherungsinstrumenten optimale individuelleLösungen für seine Kundinnen und Kunden bereit-stellen können.Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dies ist einZitat aus Ihrem Antrag. Ich hätte es nicht besser formu-lieren können.
Abschließend sage ich: Der vorliegende Gesetzent-wurf steht in einer Reihe mit den Gesetzen aus den letz-ten Jahren, mit denen diese Koalition nicht nur die Fi-nanzbranche stärker reguliert hat, sondern vor allemauch für den Verbraucher ein hohes Maß an Sicherheitund Transparenz schaffen konnte. Er bildet eine Basisfür weitere Schritte. Damit können wir in einem wichti-gen Bereich kurzfristig für mehr Sicherheit und Transpa-renz sorgen.Lassen Sie mich in einem weiteren Teil meiner Aus-führungen ein anderes Thema ansprechen. Es geht umdie sogenannten Schiffserlöspools im Bereich der deut-schen Seeschifffahrt. Diese Pools sind ein Instrument zurgemeinsamen flexiblen Vermarktung der in einem Poolvereinten Schiffe, also im Prinzip eine gute Sache.Die Frage, inwieweit eine Versicherungsteuer fürdiese zur Anwendung kommen soll, ist kürzlich aufge-worfen worden. Das führt zur Verunsicherung. Wir wol-len heute klarstellen, dass für diese Pools weder rückwir-kend noch bis Ende 2015 eine Pflicht zur Zahlung einerVersicherungsteuer entsteht. Damit wird Planungssicher-heit gegeben. In der Folge soll es zu einer umfassendenNeuregelung der Versicherungsteuerpflicht kommen.Letztendlich ergibt sich diese Maßnahme aus den Leh-ren, die wir aus der Finanzkrise seit 2008 gezogen ha-ben. Gerade auf den Schifffahrtsmärkten gab und gibt eslanganhaltende Verwerfungen. Wir wollen unsere mari-time Wirtschaft damit unterstützen.Danke schön.
Carsten Sieling hat für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von derBundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf mit demwunderschönen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur För-derung und Regulierung einer Honorarberatung über Fi-nanzinstrumente“ ist leider ein weiterer Beleg dafür,dass Sie zwar schöne Überschriften formulieren, der In-halt aber selten hält, was die Überschrift verspricht.Weil wir hier schon mehrfach darüber diskutiert ha-ben und die Zeit schon fortgeschritten ist, möchte ich di-rekt sagen, dass es so leider nicht gelingen wird, einevernünftige und nachvollziehbare Alternative zu einerstandardisierten provisionsbezogenen Beratung und zueinem provisionsbezogenen Vertrieb für die Menschenzu schaffen.Ich glaube, man hat bei meiner Vorrednerin sehr deut-lich gemerkt, wie kompliziert und verworren das Kon-strukt ist, das produziert worden ist. Dies hat ja viel mitKonflikten in Ihren Reihen zu tun.
Bundesverbraucherministerin Aigner, die Sie ja jetztwieder zurück nach Bayern schicken, weil Sie dort eineReihe von Ersatzpersonal brauchen – auch gerade nachdem heutigen Tag –,
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Dr. Carsten Sieling
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hat einen umfangreichen Vorschlag gemacht, der in vie-lerlei Hinsicht vernünftige Elemente beinhaltet hat. Dasist dann leider vom Bundesfinanzminister mit tätigerHilfe der FDP zersägt worden.
– Ich bedanke mich für diese Frage. Sie zeigt, mankonnte mir bislang gut folgen.
Ich will Ihnen meine Kritik kurz erläutern.Erstens. Sie ermöglichen eben nicht eine durchgrei-fende und umfassende Beratung. Die Menschen brau-chen Sicherheit, sie brauchen ein breit strukturiertes An-gebot zu unterschiedlichen Produkten.
Darum ist es falsch, dass Sie kein umfängliches Berufs-bild für Honorarberater vorsehen und auch keine pro-duktübergreifenden Anlageberatungen ermöglichen.Zweitens. Sie trennen nicht deutlich zwischen denVertriebskosten und den Produktkosten. Das ist der ent-scheidende Punkt. Die verpflichtende Ausweisung vonNettotarifen wäre ein wichtiges Element. Sie sehen nurvor – das ist der dritte Kritikpunkt –, denen, die etwasverkaufen, die Möglichkeit zu geben, die Provision andie Kunden weiterzuleiten. Damit geben Sie ein völligfalsches Signal und irritieren an einer wichtigen Stelle.
Letztlich schaffen Sie es nicht, die Aufsicht in diesemBereich endlich einmal zu ordnen. Ich finde nach wievor, dass es ein Skandal ist, dass die Industrie- und Han-delskammern und die Gewerbeaufsichtsämter, die in derGastronomie die Bedingungen kontrollieren, sich umdiesen schwierigen Bereich kümmern müssen. Wir ha-ben von Beginn an gesagt, dass das alles von der BaFinkontrolliert werden soll, aber Sie sehen dies wieder nichtvor.Im Ergebnis wird der Beratungssektor weiterhin eineSubkultur bilden. Das ist schade. Das ist wirklich einVerlust für die Sicherheit und für die Perspektiven. Des-halb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab und haben eineneigenen Antrag vorgelegt. Wir bitten um Zustimmungfür diesen Antrag.Ich darf, weil dies eine Debatte ist, in der verschie-dene Punkte thematisiert werden, auch das Thema derSchiffspools und der Versicherungsteuer ansprechen.Frau Kollegin Lips, eines will ich ausdrücklich sagen.Sie haben hier so schön formuliert: Und dann kam daplötzlich irgendwoher der Vorschlag, diese Dinge einerVersicherungsteuer zu unterwerfen. – Nennen Sie dochbitte Ross und Reiter. Dieser Vorschlag ist von Bundes-finanzminister Schäuble gemacht worden, er hat wederHand noch Fuß und ist von Grund auf falsch und auchnicht sachgemäß.
Das hat die Anhörung im Finanzausschuss sehr deutlichgezeigt.Sie haben jetzt versucht, zu reparieren. Ich hatte bisvorgestern noch geglaubt, dass Sie richtig reparieren undeinsichtig geworden sind. Aber nein, Sie trauen sichnicht. Sie machen eine befristete Regelung bis Ende2015.
Damit schaffen Sie nur eine vorübergehende Rechtssi-cherheit. Ich habe heute eine Presseerklärung dazu gele-sen, in der es hieß: „Das Damoklesschwert … ist an dieSeite gelegt worden.“ Richtig, es wird bis Ende 2015 andie Seite gelegt, aber es liegt noch da, um dann wiederaufgehängt zu werden.Meine Damen und Herren, entweder sind diese Poolsversicherungsteuerpflichtig oder nicht. Ein bisschenschwanger geht nicht. Sie legen hier einen solchen Un-sinn vor. Gut, es gibt einen positiven Aspekt dabei: Wirhaben nach dem 22. September, wenn wir regieren, dieAufgabe, daraus etwas Konsistentes zu machen und da-für zu sorgen, dass die Versicherungsteuer an der Stellewirklich der Vergangenheit angehören wird.Angesichts dieser späten Stunde habe ich etwas Rede-zeit eingespart.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Björn Sänger für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Im Zuge der Finanzkrise gab es bei den Verbrauche-rinnen und Verbrauchern, bei den Anlegerinnen und An-legern eine große Verunsicherung. Sie wussten nicht,wie sie mit der Situation umgehen sollten. Misstrauen istentstanden. Diese Regierungskoalition aus CDU/CSUund FDP hat reagiert. Rückblickend kann man mit Fugund Recht feststellen: Es waren vier gute Jahre fürDeutschland im Bereich des Anlegerschutzes.
Wir haben Sicherheit und Vertrauen geschaffen,
indem wir beispielsweise das Anlegerschutzgesetz ver-abschiedet haben. Wir haben die Beratungsprotokolleeingeführt. Wir haben die Produktinformationsblätter
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29819
Björn Sänger
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eingeführt, die wir zukünftig reformieren werden; wirwollen versuchen, sie zu vereinheitlichen. Wir haben un-gedeckte Leerverkäufe verboten und die Kreditverbrie-fungen geregelt. Wir haben eine Initiative zu den Eigen-kapitalquoten im Zuge des Basel-III-Prozesses gestartet.Wir haben den Hochfrequenzhandel und den Deriva-tehandel reguliert.
Jüngst haben wir uns im Ausschuss mit dem AIFM-Umsetzungsgesetz beschäftigt und den grauen Kapital-markt ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Insgesamtkann man wirklich mit Fug und Recht feststellen: Bis-lang waren es vier gute Jahre für Deutschland. Wir ma-chen sie aber noch besser,
und zwar durch das Honoraranlageberatungsgesetz, daswir vorgelegt haben.
Mit diesem Gesetz, meine sehr geehrten Damen undHerren, schaffen wir Wahlfreiheit. Auf die Wahlfreiheitkommt es uns nämlich an. Die Kundinnen und Kunden,die Anlegerinnen und Anleger sollen die Wahl haben, zuentscheiden, wie sie sich in ihren privaten Geldangele-genheiten beraten lassen.
Das ist eben der Unterschied zwischen uns und Ihnen:Bei uns entscheidet der Kunde, bei Ihnen entscheidet dasWir. Wir sind der Meinung, es ist besser, wenn derKunde entscheidet.
Aus diesem Grund haben wir das Berufsbild desHonoraranlageberaters geschaffen. Wir haben klar fest-gelegt, welche Voraussetzungen er erfüllen muss, was ermachen darf und was er nicht machen darf. Vermutlichwird es auch bei der Honorarberatung schwarze Schafegeben. Davor ist man allerdings nie gefeit; auch die pro-visionsgestützte Beratung hat Vor- und Nachteile. Aberjetzt kann der Kunde selbst entscheiden,
und ein Markt kann sich entwickeln.In der Tat ist die Honorarberatung, Kollege Sieling,noch nicht ganz so umfassend geregelt, wie wir es unswünschen würden. Allerdings muss man berücksichti-gen: Im Rahmen der MiFID ist eine europäische Regu-lierung zu erwarten. In etwa zwei Jahren wird es so weitsein, dass sie auch bei uns landet.
Damit wir dieses Gesetz dann nicht werden ändern müs-sen, sondern weiterhin Rechtssicherheit haben, habenwir aus dieser europäischen Regulierungsrichtlinie dasherausgegriffen, was man schon jetzt umsetzen kann.Dabei geht es im Wesentlichen um Wertpapiere, bedau-erlicherweise nicht um Versicherungen. Weil es nochkeinen vernünftigen Markt für sogenannte Nettopro-dukte gibt, also für Produkte, die keinen Provisionsanteilenthalten, haben wir die Vorschrift eingeführt, dass derBerater, wenn das für den Kunden beste Produkte eineProvision beinhaltet, diese Provision an den Kundenweiterleiten muss.Insofern haben wir einen Ordnungsrahmen geschaf-fen, der für mehr Wettbewerb zwischen den Beratungs-formen und für mehr Wettbewerb zwischen den Beraternführen wird. Anbieter, die sagen: „Ich möchte meinenKunden zukünftig Honorarberatung anbieten“, könnendies tun, ohne in zwei Jahren möglicherweise mit einerweiteren Gesetzesänderung rechnen zu müssen. Ichfinde, in Anbetracht sich ständig ändernder Rahmenbe-dingungen ist das eine gute Lösung.Ich fasse zusammen: Der Kunde entscheidet, und wirhaben Wettbewerb geschaffen. Es waren in der Tat viergute Jahre für Deutschland.Herzlichen Dank.
Das Wort hat Harald Koch für die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Verbraucherinnen und Verbrauchern entsteht jedesJahr durch falsche Anlageberatung und schlechte Fi-nanzinstrumente ein Schaden von über 50 Milliar-den Euro.
– Stellen Sie die Frage; dann sage ich Ihnen das.
Mit dem Honoraranlageberatungsgesetz will die Bun-desregierung die Beratung auf Honorarbasis stärken, umwenigstens ein klein wenig für bessere Finanzberatungzu sorgen. Doch das gelingt ihr leider nicht. Das liegtzum einen daran, dass sie zwei entscheidende Gründefür massenhafte Falschberatung im Finanzbereich völligignoriert: die provisionsgestützte Beratung und Vermitt-lung sowie den Vertriebs- bzw. Verkaufsdruck, der oftauf Vermittlern und Beratern lastet. Zum anderen liegt esdaran, dass sie, um die manipulative Finanzlobby nichtzu vergrätzen, nicht den Blick über den Tellerrand wagt.
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Harald Koch
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Aus diesem Grund lehnt die Linke diesen Gesetzent-wurf ab. Wir haben aber zugleich einen Entschließungs-antrag eingebracht, den ich Ihnen allen dringend zurLektüre empfehlen möchte.Es reicht nicht aus, wenn man sich, wie es die SPDund die Grünen mit ihren Anträgen tun, stur auf die Ho-norarberatung stürzt. Ihre Forderungen zur Stärkung derHonorarberatung teilen wir aber weitestgehend.Wir wollen unter anderem, dass der Begriff „Berater“unter Bezeichnungsschutz gestellt wird. Es müssen na-türlich auch Nettotarife für alle Finanzmarktinstrumenteeingeführt werden. Eine bundeseinheitliche Aufsicht füralle Honoraranlageberater hat durch die BaFin zu erfol-gen. Die Vergütung der Beratenden muss zum Schutzeinkommensschwacher Menschen besser geregelt wer-den. Honorarberatung darf auch nicht zum Privileg derReichen werden. Schließlich sollte die Beratung finanz-instrumenteübergreifend erfolgen und zum Beispiel Ver-sicherungen mit einschließen.
Deswegen habe ich Ihre Aussage, Frau Lips, wohlwol-lend zur Kenntnis genommen.Doch nun muss der Blick weiter reichen als von derTapete bis zur Wand: Wir brauchen eine wirklich unab-hängige und flächendeckende verbrauchergerechteFinanz- und Anlageberatung auf einer viel breiteren Ba-sis. Daher müssen neben der Honorarberatung vor allemdie Beratungsangebote der Verbraucherzentralen und derSchuldnerberatungsstellen gestärkt werden, aber auchdie öffentliche Rechtsberatung zum Anlegerschutzrecht.Die Verbraucherzentralen müssen personell, strukturell,rechtlich und finanziell in die Lage versetzt werden, ihrBeratungsangebot und ihre Marktwächterfunktion aus-bauen zu können.Im Gegensatz zu SPD und Grünen will die Linke dasSystem der provisionsgestützten Finanzberatung und -ver-mittlung überwinden.
An dieser Stelle merkt man ganz deutlich, dass auchSPD und Grüne das Problem der Falschberatung nichternst genug nehmen
und der Finanzlobby nicht an den Karren fahren wollen.
Solange es eine provisionsgestützte Finanzberatung gibt,hat die Honorarberatung wenige Chancen.Produktbezogene Verkaufsvorgaben der Kredit- undFinanzinstitute, der Versicherungen und Finanzvertriebesind ebenso gesetzlich zu verbieten. Schließlich brau-chen wir neben einer Verbraucherschutzbehörde fürFinanzmärkte einen Finanz-TÜV, der allen Finanz-marktakteuren, -instrumenten und -praktiken nur bei Un-bedenklichkeit eine Zulassung erteilt.
Ohne Zulassung kein Geschäft, nur so vermeidet man et-liche weitere Verlustgeschäfte für die Bürgerinnen undBürger, die sich in der Folge auch in steigender Alters-armut bemerkbar machen.Alles in allem getraut sich nur die Linke, das GoldeneKalb der Provision zu schlachten. Die Finanzberatungmuss endlich von den Bedürfnissen, Lebensumständenund Anlagezielen der Verbraucherinnen und Verbraucherausgehen, und zwar nur davon. Es bestehen alsonoch große Probleme im finanziellen Verbraucherschutz.Eine deutliche Stärkung der Verbraucherinteressen und-rechte ist dringend notwendig. Nur die Linke ist hierAnwältin der Bürgerinnen und Bürger.Die Zahlen, Herr Brinkhaus, habe ich von ProfessorDr. Andreas Oehler von der Universität Bamberg, nach-zulesen im Handelsblatt vom 27. Dezember 2012.Danke schön.
Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Ziel des Gesetzentwurfes, die Honorarbera-tung in Deutschland zu fördern und zu regulieren – FrauLips hat dieses Ziel schön vorgetragen –, unterstützenwir aus vollem Herzen.
Leider wird dieses Ziel mit dem Gesetzentwurf der Bun-desregierung nicht erreicht. Anstelle eines umfassenden,an den Kundenbedürfnissen orientierten Berufsbildeszur Honorarberatung, das alle Finanzprodukte ein-schließt – Sie haben da aus dem Entschließungsantragder Linken zitiert –, produzieren Sie weiteres Chaos aufdem Markt.Mit Begriffen wie „Honoraranlagenberater“ und „Ho-norarfinanzanlagenberater“, die mitnichten über alle fürdie Verbraucher relevanten Produkte beraten können,schaffen Sie bei den Verbrauchern Verwirrung. StellenSie sich die Situation vor: Sie gehen zu einem Honorar-finanzanlagenberater. Der darf Sie aber nicht dahin ge-hend beraten, dass Sie zum Beispiel erst einmal eineprivate Haftpflichtversicherung oder eine Berufsunfä-higkeitsversicherung abschließen sollten, bevor Sie sichGedanken über Aktien, Sparpläne und geschlosseneFonds machen. Wir finden: Das hat nichts mit umfassen-der Finanzberatung zu tun.
Ich denke, es ist keine Kaffeesatzleserei, wenn ich pro-gnostiziere, dass nur ein kleiner Kundenkreis bereit sein
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29821
Nicole Maisch
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wird, für eine derart eingeschränkte Form der Beratungüberhaupt Honorare zu zahlen.Die Bundesregierung und die Fraktionen von Unionund FDP vergeben die Chance auf einen Paradigmen-wechsel im Markt für Finanzberatung in Deutschland.Wenn Sie einen wirklichen Paradigmenwechsel, einenechten Wettbewerb zwischen Honorar und Provision, ge-wollt hätten, dann wären Sie mutige Schritte gegangen,zum Beispiel mit der Pflicht zur Einführung von Netto-tarifen und der steuerlichen Gleichstellung von Provi-sion und Honorar.
Frau Lips, Sie haben gesagt, die Durchleitung vonProvisionen sei eine Alternative zu den Nettotarifen.Mitnichten! Die Provisionsdurchleitung kann nur einModell für einen Übergang sein. Danach brauchen wirdie Pflicht zur Einführung von Nettotarifen, damit dieVerbraucherinnen und Verbraucher auch wirklich ver-ständliche Alternativen am Markt haben, die sie ohne einÖkonomiestudium miteinander vergleichen können.Das Instrument der Provisionsdurchleitung wurde inder Anhörung hart kritisiert. Damit öffnen Sie neuenFehlanreizen Tür und Tor. Sie erlauben damit eine ver-meintliche Schnäppchenjagd für die Verbraucherinnenund Verbraucher und verlagern Fehlanreize vonseitender Anbieter und Vermittler zu den Verbrauchern. Hierkann man sich nur fragen: Halten Sie das wirklich fürsinnvoll?Meine Damen und Herren, die Kritik aus dem Bun-desrat, aus der Anhörung und vonseiten der Oppositionhaben Sie mit wenigen Ausnahmen ignoriert.
Von Ilse Aigners großen Ankündigungen, die sie 2011 inForm eines durchaus brauchbaren Eckpunktepapiersvorgelegt hat, ist nur wenig übrig geblieben.
Herausgekommen ist dieser Gesetzentwurf, den man,denke ich, mit Fug und Recht als Entwurf eines Hono-rarberatungsverhinderungsgesetzes bezeichnen kann,und so etwas lehnen wir ab.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun Ralph Brinkhaus für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-legin Maisch, ich glaube, das, was Frau Aigner in ihrEckpunktepapier geschrieben hat, ist schon zu großenTeilen umgesetzt worden.
Man muss auch einfach einmal eines sagen: Das, wasdavon in dieser Legislaturperiode umzusetzen war, istauch umgesetzt worden. Wir müssen hier einfach aucheinmal realistisch bleiben.
Die Honoraranlageberatung ist von dieser Bundes-regierung und von dieser Regierungskoalition das ersteMal in der Geschichte der Bundesrepublik gesetzlichverankert worden.
Das Honoraranlageberatungsgesetz steht als ein Elementin einer ganz langen Reihe von vielen Verbraucher-schutzmaßnahmen, die diese Bundesregierung auf denWeg gebracht hat.
Diese Bundesregierung hat so viel für den Verbraucher-schutz im Bereich der Finanzen getan wie keine Bundes-regierung zuvor. Auch das gehört zur Wahrheit.
Um Ihnen das nur noch einmal in Erinnerung zu ru-fen, nenne ich: das Anlegerschutz- und Funktionsverbes-serungsgesetz, das Finanzanlagenvermittlergesetz, dieUmsetzung der OGAW-IV-Richtlinie, die Verbesserun-gen der Aufsichtsstrukturen, das AIFM-Umsetzungsge-setz, das gestern durch den Ausschuss gegangen ist, dieDeckelung der Provisionen bei der privaten Krankenver-sicherung und bei der Lebensversicherung, unsere Mit-wirkung an MiFID II – daran wirken wir noch immermit – und Maßnahmen in Bezug auf die Geldautomatenund Verjährungsfristen.
Ich glaube, wenn Sie in der Zeit, in der Sie Verant-wortung getragen haben, so viel vorzuweisen gehabt hät-ten, dann könnten Sie stolz sein. Das haben Sie abernicht.
Kommen wir zum zweiten Gesetzentwurf, den wirheute hier verabschieden werden. Es geht dort um Fi-nanzkonglomerate. Dazu hat sich noch keiner geäußert.Ich glaube, der Kollege Zöllmer wird sich dieser Auf-gabe gleich annehmen.Ich mache es einmal ganz kurz und bündig: Was istein Finanzkonglomerat? Das ist ein Konzern, in dem
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29822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ralph Brinkhaus
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– ganz grob vereinfachend gesagt – sowohl ein Versiche-rungsunternehmen als auch eine Bank ist. Das bedeutet,dass es da durchaus Probleme geben kann, weil Bankenund Versicherungen getrennt beaufsichtigt werden. Des-wegen ist es notwendig, dass die gemeinsame Aufsichtkoordiniert wird. Deswegen ist es notwendig, dass manbei Organisation und Eigenmitteln besondere Anforde-rungen beachtet.Das Ganze war im deutschen Recht bisher in einigenGesetzen geregelt, aber noch nicht europarechtskon-form. Das wird jetzt nachgeholt. Wir werden europäi-sche Vorgaben umsetzen, und wir werden aus verschie-denen Gesetzen ein neues Gesetz machen: einFinanzkonglomerate-Aufsichtsgesetz, in dem verschie-dene Paragrafen vereint sind. Wir werden auch diesenBereich vernünftig überwachen lassen. Ich glaube, dasist im Wesentlichen unstrittig. Wir haben darauf verzich-tet, in größerem Umfang etwas hinzuzufügen. Dement-sprechend war es in den Ausschussberatungen eigentlicheinhellige Meinung, dass dieses Gesetz ein gutes Gesetzist. Ich bedanke mich bei den Koberichterstattern für dievertrauensvolle Zusammenarbeit.„Was machen eigentlich zwei Gesetze wie das Hono-raranlageberatungsgesetz, also ein Gesetz zum Verbrau-cherschutz, und ein Gesetz zu Finanzkonglomeraten inein und derselben Debatte?“, könnte man sich fragen.Die erste Antwort darauf ist: Wir verabschieden so un-glaublich viele Gesetze im Bereich der Finanzmarktre-gulierung und des finanziellen Verbraucherschutzes,dass wir von unseren Parlamentarischen Geschäftsfüh-rern immer weniger Debattenzeiten für Themen dieserArt bekommen. Dementsprechend müssen wir diese bei-den Gesetzentwürfe an dieser Stelle zusammen beraten.Die zweite Antwort darauf ist: Zwischen diesen bei-den Bereichen gibt es doch eine Verbindung. Wir habengerade sehr viel über den finanziellen Verbraucherschutzgesprochen, über Transparenz, über Informationen, überBeratungen, über Vertrieb, über Provisionen und ähn-liche Dinge. Aber eigentlich ist es so, dass der beste fi-nanzielle Verbraucherschutz stabile Finanzmärkte sind.Genau das hat diese Bundesregierung mit auf den Weggebracht, und zwar durch über 25 Initiativen, Gesetzge-bungsverfahren, Umsetzungen von europäischen Nor-men. Das haben wir eigentlich richtig gut gemacht.
Wir haben dabei ein System gehabt: Wir haben dafürgesorgt, dass bei Finanzinstituten, Banken und Versiche-rungen weniger Fehler gemacht werden. Wir habenFehlanreize bei den Vergütungsstrukturen beseitigt. Wirhaben den Unsinn, der bezüglich Ratingagenturen ge-macht worden ist, abgestellt. Wir haben Verbriefungenund Großkredite reguliert.Wir haben in einem zweiten Schritt dafür gesorgt,dass die Fehlertragfähigkeit dieser Institute größer wird.Das heißt, wir haben Eigenkapital- und Liquiditätsregelngeschaffen. Bestimmte Sachverhalte, bestimmte Ge-schäfte, wie Leerverkäufe, haben wir aus dem Gesetz he-rausgenommen.Wir haben in einem dritten Schritt die Aufsicht ge-stärkt und haben erst einmal Transparenz geschaffen.Bestimmte Informationen sind für die Aufsicht das ersteMal überhaupt sichtbar. Wir haben europäische Auf-sichtsstrukturen verändert, wir haben deutsche Auf-sichtsstrukturen verändert, und – was ganz wichtig ist –wir haben ganz viele Bereiche, die nie reguliert waren,das erste Mal überhaupt in die Aufsicht hineingenom-men: den grauen Kapitalmarkt, Hedgefonds. Das ist et-was, wofür diese Bundesregierung verantwortlich ist.Diese Punkte werden deswegen ein wesentlicher Be-standteil in der Bilanz dieser Bundesregierung und die-ser Koalition nach vier Jahren Regierungszeit sein.Wir haben darüber hinaus Neues auf den Weg ge-bracht, nämlich ein Restrukturierungsregime für Ban-ken. Das ist erstmals in Europa geschehen. Es ist sehrschade, dass es ein solches Restrukturierungsregimenoch nicht auf europäischer, sondern nur auf deutscherEbene gibt. Wir werden in der nächsten Legislatur-periode daran arbeiten, dass sich das ändert.Der letzte Punkt, den wir im Bereich „sichere Finanz-märkte“ umgesetzt haben: Wir waren die Ersten, die da-für gesorgt haben, dass diejenigen, die die Krise verur-sacht haben, sich auch an den Kosten beteiligen.
Wir haben die Bankenabgabe auf den Weg gebracht. Eswar diese Bundesregierung, die es geschafft hat, das In-strument der Finanztransaktionsteuer in den europäi-schen Verhandlungsprozess einzubringen.
Ich schließe meinen Redebeitrag zu dieser nächt-lichen Zeit. Man kann eines sagen: Wir haben eine ziem-lich gute Bilanz im Bereich des finanziellen Verbrau-cherschutzes. Wir haben eine super Bilanz im Bereichder Finanzmarktregulierung. Das Ganze werden wir inder nächsten Legislaturperiode fortsetzen, und darauffreuen wir uns schon.
Letzter Redner in dieser Debatte ist Manfred Zöllmer
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Brinkhaus, hat die merkwürdige Zusam-menlegung der Beratung dieser beiden Gesetzentwürfevielleicht etwas damit zu tun, dass Sie verschleiern wol-len, dass Sie etwa im Bereich des finanziellen Verbrau-cherschutzes und der Honorarberatung inhaltlich gar
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Manfred Zöllmer
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nichts vorzuweisen haben? Kann das nicht der Grundsein? Ich glaube, das ist er.
– Nein, ich habe jetzt noch eine Minute und 36 Sekun-den Redezeit.
Eine Erkenntnis der Finanzkrise war, dass die Auf-sicht über Finanzinstitute verbessert werden muss. DerKollege Brinkhaus hat eben definiert, worum es bei die-sen Finanzkonglomeraten geht. Wir halten es für richtig,dass deren Beaufsichtigung in Deutschland verbessertwird. Wir haben zwar nur relativ wenige solcher Unter-nehmen hier in Deutschland; aber trotzdem können sieim Fall einer Krise systemische Wirkungen entfalten.Sie setzen dabei die europäische Finanzkonglomera-terichtlinie um. Es ist im Wesentlichen eine Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Vorgaben. Ich darf daranerinnern: Sie loben sich hier immer für Gesetzentwürfe,die im Wesentlichen nur Umsetzungen europäischerVorgaben sind.
Das muss man, glaube ich, auch einmal sagen.Sie haben auf der Ebene der Finanzkonglomerate nureinen Stresstest neu eingeführt. Das halten wir in diesemZusammenhang für richtig.
In einem Fachgespräch ist deutlich geworden, dassdieser Gesetzentwurf auch von den Experten insgesamtbegrüßt wird. Es gab Fragen, wie Bundesbank undBaFin bei der Aufsicht eigentlich zusammenarbeiten sol-len, und es gab den Wunsch der Versicherungen, deut-lich zu machen, dass es hier schlanke Strukturen gebensolle und es nicht sinnvoll sei, dass zweimal berichtetwird. Wir hoffen, dass das insgesamt dann auch umge-setzt wird. Doppelte Berichtswege sollten hier vermie-den werden. Wir müssen hier etwas mit weniger Büro-kratie schaffen. Wir werden diesem Gesetzentwurfzustimmen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset-zung der Richtlinie 2011/89/EU des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 16. November 2011 zurÄnderung verschiedener EG-Richtlinien hinsichtlich derzusätzlichen Beaufsichtigung der Finanzunternehmen ei-nes Finanzkonglomerats. Der Finanzausschuss empfiehltin seiner Empfehlung auf Drucksache 17/13245, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/12602und 17/12997 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Ko-alitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung der Lin-ken und Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-vor angenommen.Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-gebrachten Gesetzentwurf zur Förderung und Regulie-rung einer Honorarberatung über Finanzinstrumente.Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/13131, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 17/12295 in der Ausschussfassung anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dieser Empfehlung folgen wol-len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-ratung mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissenwie zuvor angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/13247. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ab-gelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/13248. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen derLinken mit den Stimmen des Hauses abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/13249. Wer stimmt für die-sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon Grünen und SPD bei Enthaltung der Linken abge-lehnt.Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss-empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksa-che 17/13131 fort. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe b seiner Empfehlung die Ablehnung des An-trags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8182 mitdem Titel „Verbraucherschutz stärken – Honorarbera-tung etablieren“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünenbei Enthaltung der Linken angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, BeateWalter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTransparenz bei Steinkohleimporten– Drucksachen 17/10845, 17/12228 –Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. LämmelNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-nen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil fürdie FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Heute fand in Karlsruhe die Hauptversammlung derEnergie Baden-Württemberg AG statt; die von RWEfand vor einer Woche in Essen statt. Beide Veranstaltun-gen haben eines gemein: Sowohl in Karlsruhe als auch inEssen wurde ein kunterbuntes Schauspiel vorgeführt,und zwar von Aktivisten, denen Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, mit Ihrem Antrag hierund heute das Wort reden. Ein paar Kollegen von derSPD machen munter mit.
Dazu bedarf es einer Erklärung. Umwelt-NGOs fah-ren den Häuptling eines indigenen Volkes aus dem Nor-den Kolumbiens, wo Steinkohle abgebaut wird, vonHauptversammlung zu Hauptversammlung der großenEnergieversorger in Deutschland. Dabei inszenieren siedessen Auftritt zur Verfolgung ihrer eigenen Zwecke wieeine Zirkusvorführung mit Trommeln und Federn.Ich finde das aus zwei Gründen unter aller Kritik:Erstens haben wir die Zeiten, in denen es solche plakati-ven Vorführungen aus einer anderen Welt gegeben hat,hinter uns gelassen – Gott sei Dank! Zweitens ziehendiese Organisationen mit solchen Kampagnen im Aus-land das Ansehen deutscher Unternehmen durch denDreck, und damit auch das von Deutschland.
Auch wenn Sie in Ihrem Antrag etwas anderes be-haupten: Der Handel mit fungiblen Commodities – dazuzählt die Steinkohle – wird über organisierte Warenter-minbörsen abgewickelt. Das bedeutet: Einzelnen Rech-nungsposten einen Fußabdruck oder Footprint anzuhef-ten, ist schlichtweg unmöglich. Aber das ist auch garnicht nötig. Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Fi-nanzierung rohstofffördernder Unternehmen berichten.Die deutschen EVU beziehen ihre Kohle von welt-weit aktiven Unternehmen aus der Rohstoffförderung.Diese Unternehmen sind schon durch ihre Eigentümer-strukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten Stan-dards einzuhalten. Lassen Sie mich das erklären: Kapi-talsammelstellen, wie zum Beispiel das CaliforniaPublic Employees’ Retirement System, auch als Calpersbekannt, aber auch andere bekennen sich zu strengen so-zialen und ökologischen Selbstverpflichtungen.
Gemäß dieser Selbstverpflichtungen entscheiden sieüber Veräußerung oder Akquise von Beteiligungen anUnternehmen in Milliardenhöhe.Es ist nicht schwierig, nachzuvollziehen, dass Auf-tritte wie der heutige oder der der vergangenen Wocheauch für deutsche Unternehmen nicht unbedingt hilf-reich sind; denn auch hier achten Investoren mehr undmehr auf ethisch-ökologische Anlagekriterien. Was hilftes zum Beispiel unserem gemeinsamen Projekt, derEnergiewende, wenn wir in der ohnehin schon stark be-lasteten Energiebranche auch noch die Anleger verschre-cken?
Damit machen wir es ihnen doch noch schwerer, in drin-gend benötigte Gaskraftwerke – hören Sie zu, Herr Kol-lege Krischer – oder den Zubau erneuerbarer Energienzu investieren. Das wollen Sie doch.Nachhaltigkeit kann und darf für diese Unternehmenschon aufgrund ihrer Eigentümerstrukturen nicht nureine Worthülse im CSR-Bericht sein. Also müssen vieleAktiengesellschaften nachhaltig wirtschaften, sozialeund ökologische Standards einhalten, allein schon des-halb, um ihre Kapitalgeber bei der Stange zu halten. EinSchelm, wer Böses dabei denkt. Vielleicht ist das aberauch gerade das Ziel dieser NGOs oder Ihres Antrages.Ich sehe zusätzlich einen betriebswirtschaftlichenPunkt, weshalb diese Unternehmen soziale und ökologi-sche Standards einhalten. Sie führen nämlich zu Nach-haltigkeit und damit über sozialen Frieden und wachsen-den Wohlstand in den Förderregionen zu Produktivitätund Verlässlichkeit. Diese Produktivität und Verlässlich-keit liegen doch im Interesse aller.Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben zur Flan-kierung dieser Handelsaktivitäten gemacht. Es gibt welt-weit Initiativen und Abkommen, die der Verbesserungder Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstan-dards dienen. Wir sind in vielen Fällen aktiv eingebun-den. Wir unterstützen die Initiative zur Verbesserung derTransparenz in der Rohstoffindustrie politisch und finan-ziell. Wir sind derzeit Mitglied im internationalen Auf-sichtsgremium. Zahlreiche Staaten haben die formulier-
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Klaus Breil
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ten Standards anerkannt, ebenso eine Reihe vonUnternehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWEund die KfW dazu – eigeninitiativ und ohne Zwang. Dasim Antrag genannte Lieferland Kolumbien ist Mitgliedder International Labour Organization, und es hat dieILO-Konvention 169 ratifiziert. Die Überwachung ob-liegt alleine der ILO. Damit sind die im Antrag erhobe-nen Forderungen entweder unnötig oder bereits erfüllt.Wir unterstützen die betreffenden Länder mit unsererAußen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik. Geradeerst haben wir hier über ein Rohstoffabkommen mit Peruund Kolumbien debattiert. Auch damit wirken wir aufdie Anerkennung und Einhaltung von Umwelt- und So-zialstandards hin. Alles, was darüber hinausgeht, wider-spricht jedenfalls meinem Verständnis von der nationa-len Souveränität einzelner Staaten. Aber diese Bedenkenblenden Sie einfach aus.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Rolf Hempelmann für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Zuerst einmal ein Kompliment, Klaus Breil: Sie haben
gerade in Ihrer Rede einen sehr langen englischen Be-
griff verwendet und haben ihn fehlerfrei vorgetragen.
Das war ganz hervorragend.
Ich fange deshalb auch mit zwei englischen Begriffen
an. Liebe Freunde von Bündnis 90/Die Grünen, mit Ih-
rem Antrag, in dem es letztlich um Transparenz im Roh-
stoffsektor geht, sind Sie nicht First Movers, sondern
Late Followers; denn die SPD hat bereits im Januar 2013
zwei Anträge zu diesem Thema eingebracht: erstens den
Antrag „Transparenz in den Zahlungsflüssen im Roh-
stoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien“
und zweitens den Antrag „Transparenz für soziale und
ökologische Unternehmensverantwortung herstellen –
Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Ar-
beits- und Umweltbedingungen europäisch einführen“.
Im ersten Antrag zur Transparenz der Zahlungsflüsse
im Rohstoffbereich geht es vor allem um die Bekämp-
fung von Korruption und Misswirtschaft in solchen roh-
stoffreichen Ländern, die Gewinne aus dem Bergbau in
erster Linie in die Taschen korrupter Eliten lenken und
dadurch eine Wohlstandsentwicklung bei den zumeist
völlig verarmten Bevölkerungen gar nicht erst zulassen.
Außerdem soll durch Zertifizierung von Minen sicherge-
stellt werden, dass Rohstoffe aus Konfliktregionen nicht
auf die Weltmärkte gelangen und auf diese Weise zur
weiteren Finanzierung bewaffneter regionaler Konflikte
beitragen.
Im zweiten Antrag zur Transparenz von Arbeits- und
Umweltbedingungen finden sich ähnliche Ansätze wie
im heute zu diskutierenden Antrag der Grünen. Aller-
dings beschränkt sich unser Antrag nicht auf einen einzi-
gen Rohstoff, die Steinkohle, sondern adressiert den
gesamten Bereich der energetischen und nicht energeti-
schen Rohstoffe. Das ist uns wichtig, Herr Krischer, weil
erst gar nicht der Eindruck entstehen soll, es gehe uns in
Wahrheit nicht um die Arbeitsbedingungen der Beschäf-
tigten im Minensektor oder die Umweltbedingungen bei
der Förderung, sondern um die Diskriminierung eines
bestimmten Rohstoffes.
Wir fordern in unserem Antrag, die Unternehmen ge-
mäß der OECD-Leitsätze zu verpflichten, vollständige
Informationen zu sozialen und ökologischen Aspekten
ihrer Geschäftstätigkeit entlang der gesamten Lieferkette
abzugeben. Wir verlangen außerdem, dass die Informa-
tionen durch unabhängige Prüfgesellschaften geprüft
und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Aspekte öf-
fentlich verfügbar gemacht werden.
Wir fordern des Weiteren ein europäisches bzw. mög-
lichst internationales Akkreditierungs- und Zertifizie-
rungssystem sowie die gesetzliche Verankerung eines
Indikatorensystems für die verpflichtende Unterneh-
mensberichterstattung. Dieses Indikatorensystem soll
sich an den OECD-Leitlinien, den ILO-Kernarbeitsnor-
men, der ILO-Erklärung für grundlegende Prinzipien
und Rechte bei der Arbeit sowie an der Global Reporting
Initiative – auch das ist englisch – und der ISO 26 000
orientieren.
Der Antrag der Grünen berücksichtigt in Punkt 13 le-
diglich die ILO-Konvention 169 über indigene Völker,
nicht aber die ILO-Konventionen 176 und 182 zum Ar-
beitsschutz in Bergwerken und zur Beseitigung der
schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Das ist uns, ehr-
lich gesagt, zu wenig.
Unsere Anträge sind also in jeder Hinsicht umfassen-
der, weshalb wir uns bei dem Antrag der geschätzten
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
heute leider enthalten müssen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Zunächst einmal muss man feststellen, dassdie Kohle, die Braunkohle und die Steinkohle, im deut-schen Energiemix im Moment eine ganz entscheidendeRolle spielt; denn ansonsten, liebe Freunde von der grü-nen Partei, könnten Sie heute diese Debatte gar nichtführen, weil wir keine Grundlast hätten. Denn die Sonnescheint nicht, auch ist es draußen windstill.
Ohne den Strom aus Kohlekraftwerken und Atomkraft-werken könnten Sie heute diese Debatte überhaupt nichtführen.
Ich danke Ihnen für Ihren Antrag ganz herzlich.Schon auf der ersten Seite kann man eine wichtige Er-kenntnis lesen. Das ist interessant. Da steht der Satz,dass „Deutschland noch für eine längere Zeit weiterhinSteinkohle importieren“ wird.
Sehr gut! Sie haben gelernt, dass wir in Deutschland ei-nen guten Energiemix aus verschiedenen Energieträgernbrauchen. Es hat sich offensichtlich nun auch bei Ihnenfestgesetzt, dass die Steinkohle wie auch die Braunkohleim Energiemix in Deutschland eine sehr wichtige Rollespielen. Das werde ich mir für andere Debatten merken.Wir werden ja gelegentlich wieder darauf zurückkom-men.Dann hört es aber auf, was Erkenntnisse in Ihrem An-trag betrifft. Gefordert wird, wie oft in Ihren Anträgen,die Einführung einer Reihe zusätzlicher Berichtspflich-ten für deutsche Unternehmen. Sie richten die weitereForderung an die Bundesregierung, dass sie sich auf EU-Ebene für noch mehr Bürokratie engagieren soll. AberSie wissen auch ganz genau, dass die deutsche Wirt-schaft nicht mehr Bürokratie braucht, sondern mehr Zeit,um unternehmerisch tätig zu sein.Für uns als christlich-liberale Koalition ist der Büro-kratieabbau Politikziel. Wir haben uns zu Beginn der Le-gislaturperiode das Ziel gesetzt, 25 Prozent Bürokratieabzubauen. Wir stehen kurz davor.
Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, beidem es wieder um mehr Bürokratie geht. Außerdemmuss man auch deutlich sagen: Nicht jedes Problem aufder Welt kann mit deutschen Gesetzen und deutschenVerordnungen gelöst werden. Das wissen auch Sie ei-gentlich ganz genau; denn bei den Förderländern, die Siein Ihrem Antrag aufgeführt haben, handelt es sich umsouveräne Staaten.
Wir sind keine Kolonialmacht, die ihre Verordnungendiesen Ländern aufzwingen kann, um dort für Ordnungzu sorgen.
So etwas würden Sie sich vielleicht wünschen, aber dasgeht eben nicht, Herr Krischer.Bei den aufgezählten Forderungen geht aus meinerSicht jedes Maß verloren. Die Privatautonomie und dieOrganisationshoheit privater Unternehmen haben in Ih-rem Gedankengut keinerlei Bedeutung. Ich will auf allIhre Forderungen gar nicht eingehen; mein Kollege Breilhat dazu schon einiges gesagt.Auf eine Unklarheit Ihres Antrages muss man aberschon hinweisen: Sie wollen die Verpflichtung von Un-ternehmen einführen, „innerhalb ihrer Einflusssphäre“auf Standards zu achten, die sie nicht unmittelbar beein-flussen können. Das ist doch sehr fraglich. Das müssenSie mir einmal erklären. Wie wollen Sie das denn defi-nieren? Wie soll das abgegrenzt werden?
Das ist im Prinzip außerhalb der internationalen Stan-dards, die schon existieren. Sie werden uns sicherlich sa-gen, was Sie damit meinen. Denn Sie wissen ja auch ge-nau, dass es beim internationalen Rohstoffabbau eineUnzahl von NGOs gibt. Die Medien werfen einen sehrgenauen Blick auf die Abbaubedingungen vor Ort –nicht bloß bei der Kohle, sondern auch bei anderen Roh-stoffen.
Insofern ist Öffentlichkeit in großem Umfang herge-stellt. Ich verweise hierzu auch auf den Artikel zumKohleabbau in Kolumbien vom 18. April 2013 in einergroßen Wochenzeitung.Sie versäumen, in Ihrem Antrag zumindest einmal zuerwähnen, was die christlich-liberale Koalition in die-sem Bereich schon geleistet hat.
Deshalb will ich Ihnen das gern noch einmal kurz sagen.
Die Bundesregierung setzt sich bereits im Rahmender G-8- und auch der G-20-Verhandlungen für einebreite internationale Unterstützung der EITI-Initiativeein – das hat ja selbst Kollege Hempelmann schon er-
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Andreas G. Lämmel
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wähnt –, und wir ermuntern Unternehmen ganz intensiv,sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen.
Diese Schwerpunkte sind schon in der Rohstoffstrategieder Bundesregierung von 2010 festgelegt. Hätten Sieeinmal einen Blick hineingeworfen, hätten Sie uns dieseDebatte heute ersparen können. Dann hätten Sie eineMenge Energie gespart und wären auch eher zu Hausegewesen.Ich will nicht noch einmal auf das Thema Rohstoff-partnerschaften eingehen. Denn genau diese Rohstoff-partnerschaften erfüllen ja das, was Sie in Ihrem Antragfordern. Hier geht Deutschland also ganz neue Wege,und es ist, so glaube ich, international auch sehr aner-kannt, dass diese Rohstoffpartnerschaften in den Bezie-hungen zwischen einzelnen Staaten ein völlig neues Ni-veau herstellen.Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh-stoffe – auch das ist nicht unbekannt – führt bereits einPilotprojekt im Rahmen der G 8 zur Zertifizierung vonHandelsketten – in diesem Fall für mineralische Roh-stoffe – durch. Aber Kollege Hempelmann hat ja schondarauf hingewiesen, welche schmale Spur Ihr Antragfährt. Es geht eben nur um die Kohle. Das ist ja sozusa-gen Ihr Hauptangriffspunkt.Ich will damit schließen, dass an Ihrem Antrag auchinteressant ist, dass Sie indirekt beschreiben, dass dasdeutsche Bergrecht und die deutschen Gesetzlichkeitenfür die Rohstoffgewinnung eigentlich hervorragend sind,dass sie das Vorbild sein sollen für die Rohstoffgewin-nung in der Welt.
Dafür bedanken wir uns natürlich sehr; denn Sie ha-ben ja schon in mehreren Anträgen versucht, gegen dasaktuelle Bergrecht und für ein modernes Bergrecht zu ar-gumentieren. Jetzt wollen Sie das in die Welt tragen.Also, Sie müssen sich einmal für irgendeine Varianteentscheiden.
Sie merken, Ihr Antrag ist voller Widersprüche, istsehr schmalspurig, und deswegen können wir ihm heuteleider auch nicht zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind immer noch mitten im fossil-atomaren Zeitalter ge-fangen.
Obwohl wir in Deutschland aus der Atomkraft und ausder Steinkohleförderung ausgestiegen sind, werden im-mer noch 20 Prozent des deutschen Stroms aus Stein-kohle gewonnen. Die Tendenz ist steigend, und Planun-gen für den Bau neuer Steinkohlekraftwerke werdenvorangetrieben.
Zwei Studien haben uns in der letzten Zeit gezeigt,warum eine echte Energiewende mit den großen Ener-giekonzernen nicht zu machen ist. Das SchwarzbuchKohlepolitik von Greenpeace hat die Verfilzung vonPolitik und Kohlewirtschaft aufgedeckt, die den sozial-ökologischen Umbau blockiert.
– Dass Sie das ärgert, glaube ich.Das beste Beispiel dafür ist die STEAG. Für die sechsNRW-Stadtwerke war die Übernahme durch die STEAGein einträgliches Geschäft. Sie werden dieses Jahr mit ei-ner Gewinnausschüttung von 25 Millionen Euro rechnenkönnen.Aber mit der öffentlich-rechtlichen Kontrolle warenauch Hoffnungen auf einen sozial-ökologischen Umbauverbunden. Die wurden bisher enttäuscht. Statt ausrei-chend in die Erzeugung erneuerbarer Energien zu inves-tieren, setzt die STEAG auf fragwürdige Geschäfte imAusland. Vorschläge der Linken vor Ort, über einen Bei-rat aus Kommunalvertretern, Gewerkschaften und Um-weltverbänden mehr Transparenz und mehr Druck füreinen Umbau zu erreichen, werden blockiert.Dabei wäre der Ausstieg aus der Kohleverstromung,wie ihn die Linke fordert, auch wirtschaftlich geboten.
Denn Kohlekraftwerke lassen sich nicht mehr rentabelbetreiben. Selbst für das hochmoderne Kraftwerk Lünen– Herr Kollege, hören Sie zu! –, das diesen Herbst ansNetz gehen soll, lässt sich das nachweisen. Um aber ander Kohleverstromung festhalten zu können, steigt nunder Druck der Lobby auf die FDP – oder die FDP istselbst die Lobby, wie wir gehört haben –, die Energie-wende zu blockieren.Die Konzerne setzen derweil auf den Import von Bil-ligkohle. Das ist Gegenstand der zweiten Studie: Diebeiden NGOs FIAN und urgewald haben recherchiert,woher RWE und andere die Steinkohle für deutscheKraftwerke beziehen, und haben in ihrer Studie „BitterCoal“ Erschreckendes festgestellt: In Kolumbien soll füreinen neuen Tagebau der Ranchería-Fluss umgeleitetwerden, die Lebensader für die dort lebenden Indigenenund für die Landwirtschaft in dieser Region. In den USA
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29828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Eva Bulling-Schröter
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werden in den Appalachen die Bergspitzen wegge-sprengt. Im russischen Kusbass hat die KohleförderungLuft, Böden und Trinkwasser enorm belastet. Im trocke-nen Südafrika bedroht der hohe Wasserverbrauch derKohleminen die Trinkwasserversorgung. Der RWE-Lie-ferant Drummond aus den USA steht in Verdacht, für dieErmordung von zwei kolumbianischen Gewerkschafternverantwortlich zu sein.Der Antrag der Grünen will in einem ersten SchrittTransparenz bei Handelswegen, Zahlungen, Kreditenund den sozialen und ökologischen Standards in den Lie-ferbeziehungen erreichen. Das ist gut so, aber es ist nichtausreichend.
Es geht dabei auch darum, dass über multilaterale undbilaterale Verträge Spielräume wieder eingeschränktwerden. Das wollen wir alle nicht. Deshalb müssenkünftig Menschenrechte, Sozialstandards und Umwelt-schutz Vorrang bei allen Handels- und Rohstoffabkom-men bekommen.
Wenn wir aber mit der umweltzerstörenden und sozialverheerenden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss ma-chen wollen, müssen wir in den Industrieländern begin-nen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas,Kohle und Metallen zu entkoppeln.
An einem Kohleausstieg, der absoluten Senkung desRohstoffverbrauchs und einer fairen Welthandelsord-nung kommen wir deshalb nicht vorbei.Danke schön, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Und nun hat Oliver Krischer für die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbin froh, dass wir diese Debatte heute hier führen, wennauch zu später Stunde, und darf ganz herzlich Gäste ausKolumbien auf der Tribüne begrüßen; Herr Breil hateben schon auf Kolumbien hingewiesen.Ich muss schon sagen, dass Sie, Herr Breil und HerrLämmel, mit Ihren Beiträgen hier ein Bild abgegebenhaben,
das irgendwo zwischen Kabarett und Sarkasmus anzu-siedeln ist.
Wenn Sie sich mit der Situation vor Ort auseinanderset-zen würden – ich möchte am Beispiel Kolumbien deut-lich machen, was die Menschen dort erleben, die vomKohlebergbau betroffen sind –, dann würden Sie, glaubeich, hier anders sprechen.
Kolumbien ist für Deutschland inzwischen zum wich-tigsten Lieferland für Steinkohle geworden. Dort betra-gen die Förderkosten unter 20 Euro die Tonne. Das ge-ben die Unternehmen jedenfalls hinter vorgehaltenerHand zu. Der Weltmarktpreis liegt bei 80 bis 100 Eurodie Tonne. Selbst wenn man Förderzins und Transport-kosten abzieht, ist das ein absolutes Riesengeschäft.Wenn Sie nach Nordkolumbien kommen und sich dieGegend angucken, in der die Kohle abgebaut wird, wer-den Sie feststellen: Das ist das Armenhaus des Landes.Bei den Menschen, die dort in der Region leben, kommtüberhaupt nichts an. Dass Rohstoffsegen in Wahrheit einFluch ist, das können Sie dort besichtigen.
Die Menschen, die das Pech haben, dass sie geradeauf der Kohle leben, die von internationalen Konzernenwie Cerrejón, Glencore, Xstrata, Prodeco und anderen– Drummond, ein amerikanischer Konzern, ist ebenschon erwähnt worden – abgebaut werden soll, trifft esganz besonders hart. Sie müssen erleben, dass sie von ih-rem Land vertrieben werden, dass sie vielfach nicht ent-schädigt werden, weil es in Kolumbien oft keinen Nach-weis gibt, dass man Land besitzt. Wenn sie vielleichtdoch entschädigt werden, bekommen sie ein Haus, aberihre Existenzgrundlage ist weg. Das Ganze endet in denSlums von Städten. Das ist das Ergebnis der Politik desRohstoffabbaus ohne Rücksicht auf Verluste. Das kannuns an dieser Stelle nicht egal sein.
Ich will hier gar nicht über die Naturzerstörung reden.Ich will nicht über die Umweltverschmutzung reden. Ichwill nicht über den Wasserverbrauch reden. Das Aller-schlimmste, das man zur Kenntnis nehmen muss, ist,dass die Verantwortlichen vor Ort, die Unternehmen unddie Regierungsstellen, das alles gar nicht abstreiten. Diesagen: Wir haben ein Riesenproblem. Das findet alles sostatt, wie ich es eben beschrieben habe. – Es gibt dorteine organisierte Verantwortungslosigkeit. Einer schiebtdie Verantwortung auf den anderen. Am Ende guckenalle weg, und das alles nur, um den Gewinn zu maximie-ren auf Kosten von ein paar Tausend betroffenen Men-schen, denen man mit einem verschwindend geringenBetrag zu einer vernünftige Existenz verhelfen könnte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29829
Oliver Krischer
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Dass Sie dies nicht ernst nehmen und hier nicht einmaldarüber reden wollen, finde ich beschämend.
Wir haben den Antrag eingebracht, damit endlich et-was passiert – Herr Kollege Hempelmann, es ist richtig,dass man das alles viel umfassender machen kann; inso-weit haben wir Ihrem Antrag zugestimmt –: Man kannim Kohlebergbau die Verbindung vom Abbau, also demBagger, bis zum Kessel, in dem die Kohle verbranntwird, herstellen. Damit ist auch klar, wer die Verantwor-tung trägt, nämlich dass Unternehmen wie RWE, Eon,STEAG, EnBW und andere, die die Kohle beziehen,Verantwortung für das tragen, was dort passiert. Dortmuss sich etwas ändern.
Wir sind der festen Überzeugung – die EuropäischeKommission ist mit ihrem Richtlinienentwurf schon vielweiter; er wird leider von der Bundesregierung blockiert –,dass nur durch diese Transparenz, dass die Menschen se-hen, woher die Kohle kommt, die im Kraftwerk vor Ortverbrannt wird, erreicht werden kann, dass sich hier tat-sächlich etwas ändert.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss. – Ich glaube und gebe auch
die Hoffnung nicht auf – auch wenn Sie heute den An-
trag wieder ablehnen –, dass wir erreichen, dass die Un-
ternehmen in diesem Land die Verantwortung dafür
übernehmen werden, was dort passiert. Dies kann uns
nicht egal sein. Es zerstört die Existenzgrundlage von
vielen Menschen, die an den Rohstoffen überhaupt nicht
partizipieren. Das müssen wir ändern.
Ich danke Ihnen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-logie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „Transparenz bei Steinkohle-importen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/12228, denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/10845 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonLinken und Grünen bei Enthaltung der SPD angenom-men.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Bundesarchiv-gesetzes– Drucksache 17/12012 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Kultur und Medien
– Drucksache 17/13219 –Berichterstattung:Abgeordnete Johannes SelleAngelika Krüger-LeißnerDr. Claudia WintersteinKathrin Senger-SchäferClaudia Roth
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürKultur und Medien empfiehlt in seiner Empfehlung aufDrucksache 17/13219, den Gesetzentwurf auf Druck-sache 17/12012 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Linken bei Enthaltungvon SPD und Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmenwill, den bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dengleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom29. Juni 2012 zur Gründung einer Assoziationzwischen der Europäischen Union und ihrenMitgliedstaaten einerseits und Zentralamerikaandererseits– Drucksache 17/12355 –Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 17/13176 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerKlaus BarthelHans-Werner EhrenbergWolfgang GehrckeKerstin Müller
1) Anlage 13
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29830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenHans-Werner Ehrenberg für die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Wir sprechen heute zu später Stundeüber das Assoziationsabkommen der EuropäischenGemeinschaft mit Zentralamerika, ein Abkommen, dasseinesgleichen sucht. Wir reden heute nicht über irgend-einen bilateralen Vertrag oder eine x-beliebige Freihan-delszone. Wir reden über ein Assoziationsabkommen,wie es umfassender nicht sein könnte. Ich meine damitwirklich alle Aspekte.Gestatten Sie mir, Ihnen diese Bedeutung ein wenigzu veranschaulichen. Es geht hier nämlich nicht vorran-gig um den wirtschaftlichen Aspekt und um bestimmteZollquotenregelungen, wie das von meinen Kollegenvon der Opposition und von einigen wenigen deutschenHilfswerken behauptet wird.
Jene haben das Abkommen einfach nicht verstanden.Nochmals: Es geht bei dem Assoziationsabkommen vorallem um die Zusammenarbeit mit der EuropäischenUnion in den Bereichen Demokratie, Stärkung der Zivil-gesellschaft, Umweltschutz, Achtung der Menschen-rechte, Schaffung von nachhaltigem Wohlstand, Integra-tion und Frieden.Was ist daran eigentlich auszusetzen, liebe Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition? Welche Geistes-haltung steckt dahinter, dass Sie dieses Abkommen imAusschuss rundweg abgelehnt haben? Dass hierbei auchdie wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Herab-setzung von Handelsbarrieren nicht ausgeklammert wer-den dürfen, versteht sich von selbst. WirtschaftlicheFreiheit und der bessere Zugang zu einem breiten Wa-renangebot und freien Märkten schaffen Wohlstand undArbeitsplätze. Das sind Dinge, die die Länder Latein-amerikas dringend benötigen. Ich finde es geradezu lä-cherlich, wenn bestimmte Hilfswerke und meine Kolle-gen von der Opposition in diesem Zusammenhangbehaupten, durch dieses Abkommen würden Arbeits-plätze in Zentralamerika zerstört.
Ich habe sehr ausführlich mit allen Botschaftern derzentralamerikanischen Länder in Berlin über den Inhaltund die Auswirkungen dieses Abkommens gesprochen.Ich habe vor kurzem Guatemala und Nicaragua besuchtund dort mit Regierungsvertretern diskutiert. Stellen Siesich vor: Die Rückmeldungen waren von allen Seitenpositiv.
Dass die Europäische Union mit Zentralamerika einsolch umfassendes Abkommen nicht nur auf Augen-höhe, fair und ohne Druck verhandelt hat, sondern invielen Punkten sogar in Vorleistung geht, ist für alleZentralamerikaner hochattraktiv.Es ist nicht nur immer wieder zur Sprache gekom-men, dass die EU als Vorbild für Zentralamerika in Sa-chen Integration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratiebetrachtet wird, sondern man ist vor allem stolz darauf,dass es ein Abkommen zwischen zwei Regionen ist;denn das existiert in dieser Form bis dato nur einmal aufder Welt. Darauf sind die Zentralamerikaner stolz. Manspricht sogar von einem Modellcharakter dieses Abkom-mens für andere Regionen.
Die Attraktivität des Abkommens ist de facto so hoch,dass auch die Regierung von Panama die EU gebetenhat, ihm beitreten zu dürfen.Nun hatte ich vor meinem Besuch in Nicaragua ver-mutet, dass speziell die linksorientierte sandinistischeRegierung von Daniel Ortega das Abkommen ablehnenwürde, wie es ja auch von den Linken und anderen abge-lehnt wird. Weit gefehlt. Man versicherte mir nicht nur,dass man Vorteile im Abkommen erkennen könne, son-dern auch, dass man es sogar als erstes Land ratifizierthabe.Auch wenn ich mich wahrlich nicht als Freund sandi-nistischer Politik bezeichnen möchte, frage ich mich,warum meine Kollegen von den Linken eine anderePosition als Ortega vertreten. Sie sollten sich einmal vorOrt mit Ihren Freunden genauer darüber informieren; dashilft.
Wir verpflichten die Länder Zentralamerikas durchdieses umfangreiche Vertragswerk vor allem dazu, einengemeinsamen Wertekonsens zu achten und ihn in Zu-sammenarbeit mit uns weiterzuentwickeln. Deshalb ver-dient Zentralamerika auch in Zukunft unsere Partner-schaft auf Augenhöhe. Jetzt gilt es, von unserer SeiteDruck aufzubauen, damit auch alle anderen EU-Mitgliedstaaten das Abkommen zügig ratifizieren. Hiersehe ich die Bundesregierung auf europäischer Ebene inder Pflicht. Lassen wir die Länder Zentralamerikas, diedie Ratifizierung dieses Abkommens von europäischerSeite dringend wünschen und benötigen, jetzt nicht imStich.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29831
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Das Wort hat nun Klaus Barthel für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Ehrenberg, in Ehren:
Was Sie eben über das Abkommen gesagt haben, hatsich unheimlich schön angehört: Frieden, Freiheit, De-mokratie und Rechtsstaat usw.
Sie haben gesagt, es wäre ein umfassendes Abkommen,aber das können Sie nur Menschen erzählen, die diesesAbkommen nicht gelesen haben.
Deswegen will ich vor allen Dingen darauf eingehen,was in diesem Abkommen wirklich steht.Zunächst einmal wollen wir festhalten, was Assoziie-rung im eigentlichen Wortsinn bedeutet, nämlich Zusam-menschluss, Vereinigung. Assoziierung meint etwas imumfassenden Sinn. Im Handlexikon der EuropäischenUnion von Bergmann, aus dem ich hoffentlich mit Zu-stimmung des Präsidenten zitieren darf, steht dazu:Die Assoziierungsabkommen haben völkerrechts-verbindliche Wirkung, beruhen auf einem Systemwechselseitiger Rechte und Pflichten und sehen ge-meinsame paritätisch besetzte Ausführungsorganevor. … Assoziationsräte, -ausschüsse und Parla-mentarische Assoziationsausschüsse.Assoziierungsabkommen sind also damit eine besondereForm mit politischen, gesellschaftspolitischen und wirt-schaftlichen Dimensionen.Wir müssen uns aber fragen: Genügt dieses Abkom-men den hehren Ansprüchen, die an das Abkommen ge-stellt werden? Um das herauszufinden, müssen wir unserst einmal die Situation in den Partnerländern an-schauen. Ich glaube, dazu wird noch einiges gesagt wer-den.Die zentralamerikanischen Länder haben Diktaturenund Bürgerkriege erlebt, sie sind enorm gewaltintensiv,sie haben hohe Mordraten zu verzeichnen, und als De-mokratien sind sie sehr labil. Honduras, zum Beispiel,hat vor nicht allzu langer Zeit einen Putsch hinter sichgebracht. Das haben Sie von der FDP zwar richtig ge-funden, aber mit Demokratie hatte das wenig zu tun.
Minimalste Menschenrechtsstandards werden in vielendieser Länder überhaupt nicht erfüllt. Man darf nicht nurmit Regierungen reden, sondern man muss sich selbstein Bild von der Lage des Landes machen.
Es ist allgemein bekannt, dass Honduras nach Kolum-bien die höchste Mordrate an Gewerkschafterinnen undGewerkschaftern hat, es ist eine Hochburg von Drogen-handel, Menschenhandel und Geldwäsche. Das alleskann man überall nachlesen, aber auch an Ort und Stellebeobachten.Das Abkommen selber verrät alles. Ja, es ist ein sehrdetailliertes Freihandels- und Marktöffnungsabkom-men, aber die Erwähnung von Menschenrechten, Demo-kratie usw. – Herr Ehrenberg hat das eben beschworen –ist reine Dekoration.Das fängt beim Volumen an. Ein Fünftel dieses Ab-kommens beschäftigt sich mit den hehren Zielen derEinhaltung der Menschenrechte und der Förderung derDemokratie, auch mit Arbeitsrecht, vier Fünftel beschäf-tigen sich mit dem Freihandel und der Wirtschaft.Schauen wir uns die Sprache an. Sie ist verräterisch,wenn es darum geht, zu klären, wie belastbar die Ankün-digungen, für mehr Demokratie zu sorgen, sind. Da heißtes so schön – wer solche Abkommen kennt, der kenntauch die Sprache –, dass man für die Grundsätze derRechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführungeintreten will, dass man die Grundsätze der Demokratie,der Menschenrechte und der Grundfreiheiten achtenwill, dass man zusagt, bei der Armutsbekämpfung zu-sammenzuarbeiten, dass es ein Bewusstsein gibt derNotwendigkeit eines umfassenden Dialogs über Migra-tion, dass es Ziele gibt wie die privilegierte politischePartnerschaft. Und – das muss man sich auf der Zungezergehen lassen – es geht zumindest um die – ich zitierewörtlich –:… Aufrechterhaltung und vorzugsweise Weiterent-wicklung des Niveaus der guten Regierungsführungund der Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen, dassdurch die wirksame Anwendung der internationalenÜbereinkünfte erreicht wird, die zum Zeitpunkt desInkrafttretens dieses Abkommens für die Vertrags-parteien gelten …Das bedeutet zunächst: Künftige Abkommen werdennicht eingehalten. Das heißt auch: Wir verpflichten uns,etwas einzuhalten, wozu wir ohnehin schon verpflichtetsind. Das ist ja sensationell. Dann geht es weiter mit deminstitutionellen Rahmen. Der Assoziationsrat empfiehltund braucht Konsens. Der Assoziationsausschuss unter-stützt, gibt sich eine Geschäftsordnung und beschließt.Dann gibt es noch einen Unterausschuss, der sich aucheine Geschäftsordnung gibt und beschließt. Der Parla-mentarische Assoziationsausschuss erarbeitet Empfeh-lungen.Das kann man alles nachlesen – alles, bloß nichts Ver-bindliches: keine Kontrolle, keine Umsetzung, keineSanktionen. Und das bei der Situation in diesen Ländern.Das geht so bis zu dem Passus im Hinblick auf die „Ach-tung der wesentlichen Grundsätze und Rechte am Ar-beitsplatz, die in den Übereinkommen der Internationa-len Arbeitsorganisation festgelegt sind“.
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29832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Klaus Barthel
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Dann war da noch etwas, was man bei der Debattedieser Tage hervorheben muss – ich zitiere wörtlich –:… erkennen die Vertragsparteien die gemeinsamenund international vereinbarten Grundsätze der gu-ten Regierungsführung im Steuerbereich an und be-kennen sich zu ihnen.Sensationell – bei dem, was wir über die SteueroasePanama gehört haben! Zum Glück für alle Adams undEvas im Steuerparadies Panama sucht man im Abkom-men vergebens nach einer Umsetzung oder gar Kontrolledieses Bekenntnisses.So geht es im ersten Fünftel bis auf Seite 25 weiter.Man könnte sagen: So ist das nun einmal in internationa-len Verträgen – da bekommt man nichts Verbindlichereshin, wenn die Bedingungen so unterschiedlich sind.Aber dann – auf den restlichen rund 70 Seiten –kommt es: Da geht es um Wirtschaft und Handel, und daändern sich Inhalt und Sprache dieses Abkommensplötzlich. Das muss man sich einmal durchlesen. Plötz-lich ist die Rede von Rechten und von Pflichten. ZumBeispiel ist die Rede von der „Schaffung eines wirksa-men, fairen und berechenbaren Streitbeilegungsmecha-nismus“. Einen solchen gibt es im Hinblick auf Men-schenrechte und Demokratie nicht.Anders als bei den Menschenrechten gibt es klare De-finitionen, zum Beispiel dazu, was unter „Tage“ zu ver-stehen ist. Es wird nicht aufgeführt, was unter Demokra-tie und Menschenrechten zu verstehen ist, aber was unter„Tage“ zu verstehen ist, nämlich Werktage. Es wird bisins letzte Detail beschrieben, was unter „Person“ oderunter „Maßnahme“ zu verstehen ist. Da geht es umRechtssicherheit, um Maßnahmen und Verwaltungsver-fahren.Plötzlich lauten die Verben nicht mehr „sollen“ und„streben wir an“, sondern „muss“, „wir verpflichten uns“usw. Da wird es dann plötzlich verbindlich.Da werden branchenweite Marktzugänge und Nieder-lassungsfreiheit, Liberalisierung im elektronischen Ge-schäftsverkehr, bei Dienstleistungen, bei verpflichtendenÜberprüfungen zum Investitionsschutz, bei Kurierdiens-ten, Post, Telekommunikation, Finanzdienstleistungen,im öffentlichen Beschaffungswesen, Urheberrecht usw.bis ins letzte Detail geregelt.Dann kommen zum Schluss noch einmal die Gremienzum Tragen. Die haben bei allen Handelsfragen – bei al-len Handelsfragen! – umfassende Kompetenzen, Kon-trollrechte und Sanktionsmöglichkeiten.Also: Wir gestalten intensiv die Wirtschaft. Regelun-gen zum Alltagsleben, zur Umwelt der Menschen blei-ben im Handelsteil. Da soll die Welt am europäischenWesen genesen. Aber bei den Menschenrechten, der Ar-beit, der Umwelt und den Steuern, da sind wir unheim-lich flexibel, tolerant und geduldig.Deswegen genügt ein solches Abkommen, das sichauch noch Assoziationsabkommen nennt, unseren An-sprüchen nicht. Das hat einfach etwas damit zu tun, dasswir Politik für die Menschen und nicht für die Märktemachen wollen.
Das Wort hat nun Egon Jüttner für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Seit dem in den 1980er-Jahren begründeten Dialogvon San José haben sich die Beziehungen zwischen denLändern der Europäischen Union und den Ländern Zen-tralamerikas stetig intensiviert. Auf dem EU-Lateiname-rika-Gipfel in Guadalajara bekräftigten beide Regionenihren Entschluss, diesen Prozess weiter voranzutreibenund die Beziehungen weiter auszubauen. Die Verhand-lungen zu dem jetzt vorliegenden Abkommen begannenunter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im Oktober2007. Mit dem Assoziationsabkommen stellen die bei-den Regionen ihre langjährigen politischen, wirtschaftli-chen und kulturellen Beziehungen auf eine neue und in-tensivere Grundlage.Durch den Handelsteil des Abkommens werden neueGeschäftsmöglichkeiten geschaffen, die zusätzliche Ar-beitsplätze in Zentralamerika und in der EuropäischenUnion nach sich ziehen. Der Zugang für Produkte ausZentralamerika zum europäischen Markt wird deutlichverbessert. Europa bietet den zentralamerikanischenStaaten einen Absatzmarkt mit rund 500 Millionen Ver-braucherinnen und Verbrauchern. Natürlich spielen hierauch andere Faktoren wie die Wettbewerbsfähigkeit derPreise sowie die Qualität der Produkte eine Rolle. Den-noch stellt das Handelsabkommen einen wichtigenSchritt für die Exportausweitung der zentralamerikani-schen Länder auf den europäischen Markt dar.
Die Rate der Exporte aus der Europäischen Union indie zentralamerikanischen Staaten ist mit rund 0,2 Pro-zent bislang sehr niedrig. Auf der anderen Seite gehenrund 12,3 Prozent der zentralamerikanischen Exporte indie Europäische Union, wobei zwei Drittel davon ausCosta Rica kommen. Die zentralamerikanischen Staatenkommen durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Er-höhung der Importquoten in den Genuss weitreichenderneuer Zugangsmöglichkeiten zum europäischen Markt.In Studien, die für die EU-Kommission durchgeführtwurden, wird der positive wirtschaftliche Effekt für Zen-tralamerika auf 2,6 Milliarden Euro geschätzt. Insbeson-dere bei den wichtigsten landwirtschaftlichen Ausfuhr-erzeugnissen wirken sich die Senkung der Einfuhrzölleund die Erhöhung der Importquoten aus, beispielsweisebei Bananen, Zucker, Rindfleisch, Fisch und Rum.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29833
Dr. Egon Jüttner
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Darüber hinaus gewährt die Europäische Union mitdem Inkrafttreten des Abkommens volle Zollfreiheit fürgewerbliche Erzeugnisse zentralamerikanischen Ur-sprungs. Umgekehrt werden auch die europäischen Ex-porteure, die gewerbliche Erzeugnisse und Fischerei-erzeugnisse nach Zentralamerika ausführen, vollständigvon der Pflicht zur Entrichtung von Zöllen befreit. Euro-päischen Investoren bietet das Abkommen auf dem zen-tralamerikanischen Markt ein stabiles Wirtschafts- undInvestitionsumfeld. So werden für Investoren Anreizegeschaffen, vermehrt in den zentralamerikanischen Län-dern zu investieren.Weiter verpflichten sich die Vertragspartner mit demAbkommen, im Rahmen ihrer HandelsvereinbarungenNachhaltigkeits- und Umweltschutzstandards einzuhalten.Damit wird deutlich, dass dieses Assoziationsabkommenweit über ein herkömmliches Freihandelsabkommen hi-nausgeht. Zentrales Anliegen der Europäischen Unionist dabei auch die Stabilisierung und DemokratisierungZentralamerikas. So bilden die Achtung der Menschen-rechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einen wichti-gen Teil des Abkommens. Weiter thematisiert das Ab-kommen die Zusammenarbeit auf konkreten Gebieten,so etwa beim Kampf gegen Terrorismus, Drogen, Geld-wäsche und organisierte Kriminalität.
Gegner des Assoziationsabkommens kritisieren dieihrer Meinung nach einseitige Akzentuierung der Han-delspolitik in dem Abkommen. Tatsächlich dürfen Men-schenrechte und wirtschaftliche Interessen sich nichtausschließen und kein Hindernis für den Aufbau sozialerWirtschafts- und demokratischer Gesellschaftsstrukturenin den mittelamerikanischen Staaten sein. Die EU mussund wird alles daransetzen, etwa die Beachtung derRechte der indigenen Bevölkerung einzufordern.
Sie wird ihre Möglichkeiten nutzen, etwa im Bereichgroßer Bergbauprojekte oder bei der Abholzung, auf diezentralamerikanischen Staaten so einzuwirken, dass eineVerschärfung bestehender Konflikte, die die Gegner desAbkommens befürchten, vermieden wird.
– Davon gehe ich aus.
Viele politische Akteure in den Staaten Zentralameri-kas, nicht nur Mitglieder der jeweiligen Regierungen er-hoffen sich von diesem Abkommen eine Verbesserungder wirtschaftlichen Situation aller Bevölkerungsschich-ten in ihren Ländern. Wir befürworten deshalb das Ab-kommen zwischen der Europäischen Union und Zentral-amerika, und wir sind überzeugt davon, dass es sich fürbeide Partner positiv auswirken wird. Daher bitte ich Sieum Zustimmung zum Gesetzentwurf der Bundesregie-rung.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir diskutieren zwar heute zu sehr später Stundeüber dieses Assoziationsabkommen, aber das ist nochlange kein Grund, daraus eine Märchenstunde zu ma-chen, wie die Bundesregierung es hier betrieben hat.
Wir haben darauf bestanden, hier über dieses zuschließende Assoziationsabkommen zu debattieren, weilwir die Möglichkeit haben, mit darüber zu entscheiden.Das ist nicht bei vielen Entscheidungen der EU möglich.Dieses Recht müssen wir nutzen. Vor allem haben wirals Parlamentarierinnen und Parlamentarier eine großeVerantwortung, weil wir hier auch über die Zukunft vonMillionen von Menschen in Zentralamerika entscheiden.
Ähnlich wie bei dem Freihandelsabkommen mit Ko-lumbien und Peru, über das wir hier auch sehr kontro-vers diskutiert haben, gibt es viele Vorbehalte. DennFreihandel schafft Vorteile für die Industriestaaten, fürwirtschaftlich starke Staaten, aber nicht für die Länderdes Südens. Deswegen lehnen wir dieses Abkommen ab.
Es wurde bereits erwähnt, dass es in ZentralamerikaStaaten wie Honduras und Guatemala gibt, die zu dengefährlichsten der Welt zählen, in denen es die höchstenMordraten und massive Menschenrechtsverletzungenbei Landkonflikten gibt. Vor allem in Honduras – auchdas wurde schon erwähnt – hat die Zahl der Menschen-rechtsverletzungen seit dem Putsch 2009 massiv zuge-nommen. In diesem Zusammenhang muss ich einen Satzin Richtung FDP sagen: Der Kollege Breil hat vorhin inder Debatte zu den Steinkohlenimporten das Festlegensozialer und ökologischer Standards als Einmischung ininnere Angelegenheiten bezeichnet. Die FDP und dieFriedrich-Naumann-Stiftung haben aber kein Problemdamit, einen Putsch in Honduras zu unterstützen. Ichfrage mich: Was ist denn eine Einmischung in die inne-ren Angelegenheiten der Länder?
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29834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Heike Hänsel
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Da gibt es einen sehr großen Unterschied. Sie pervertie-ren wirklich die Ansprüche an die wirtschaftliche Zu-sammenarbeit.
Ich muss dazu sagen: Wir haben ja bereits Erfahrun-gen mit Freihandel. Zentralamerika hat bereits mit denUSA ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, CAFTA.Dort konnten wir die Folgen solch eines Freihandelsab-kommens sehr genau sehen: Es gibt billige US-Importeim Nahrungsmittelbereich, die regionalen Märkte sindzusammengebrochen, die eigene landwirtschaftlicheProduktion auch. Jetzt sind diese Länder abhängig vonNahrungsmittelimporten. Bei steigenden Preisen führtdas zu mehr Hunger und zu mehr Armut. Dies ist eineGefahr für die Ernährungssicherheit. Das können wir alsEntwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitikernicht verantworten.
Was war die Antwort aus dem Wirtschaftsministe-rium, als wir im Ausschuss darüber diskutiert haben?Die Bevölkerung kann zukünftig nicht nur US-Warenkaufen, sondern auch EU-Waren und EU-Nahrungsmit-tel.
Was ist denn das für eine zynische Logik? Das ist dochkeine Problemlösung, sondern verschärft diese Problem-lage. Wir müssen die eigene Produktion in diesen Län-dern stärken, damit sie zu einer Ernährungssouveränitätkommen.
Das stellt Ihre Argumentation wirklich auf den Kopf.Wir lehnen es ab, dass in diesem Abkommen Privati-sierungen im Wassersektor und im Gesundheitswesenvorgesehen sind, dass die lokale Produktion von Gene-rika erschwert wird und dass die Einführung von Paten-ten auf Saatgut Bäuerinnen und Bauern dazu zwingenwird, ihr Saatgut bei europäischen Konzernen teuer ein-zukaufen. All das können Folgen dieses Freihandelsab-kommens sein. Deshalb lehnen wir es ab.Es gibt noch einen weiteren sehr gewichtigen Grund.Es ist völlig verantwortungslos, dass in Zeiten derFinanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Unionin diesem Abkommen die weitere Liberalisierung vonFinanzdienstleistungen festgeschrieben wird. Das trägtdie Krise nach Lateinamerika.
Deswegen stimmen wir gegen dieses Abkommen.Ich richte meinen Appell an Rot-Grün. Es hängt jetztwirklich davon ab, wie im Bundesrat entschieden wird.Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen, dass ich esgut fand, dass die Grünen aus Rheinland-Pfalz gegen dasAbkommen mit Kolumbien und Peru gestimmt haben, –
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
– aber die SPD hat dies leider nicht getan. Deswegen
lautet mein Appell: Rot-Rot-Grün muss im Bundesrat
beide Abkommen verhindern.
Danke.
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion der
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Handelsabkommen zwischen der Europäischen Unionund ihren Partnerländern sind bisher meist unter hoherGeheimhaltungsstufe ausgehandelt worden. Parlamenta-riern, kritischen Journalisten und NGOs wurden kaumEinblicke gewährt, wohl aber den Wirtschaftsverbändenund den Vertretern großer Unternehmen. Um kaum eineandere Abteilung der Europäischen Kommission schar-ten und scharen sich mehr Lobbyisten als um die DGTrade, um die Generaldirektion Handel. Aber inzwi-schen haben das Europäische Parlament und – das istneu – auch die nationalen Parlamente mehr Mitwir-kungsmöglichkeiten bekommen. Sie sind zwar noch un-zureichend, aber immerhin: Handelspolitik kann nichtmehr in der Dunkelkammer gemacht werden, und das istauch gut so.
Das hat sich auch schon im Deutschen Bundestagausgewirkt. Handelsabkommen werden nicht einfachnur nebenbei zur Kenntnis genommen, sondern es wirdendlich auch in unseren Ausschüssen über sie diskutiert,sie werden auf den Prüfstand gestellt, in Anhörungendurchleuchtet, kritisch hinterfragt und – wenn auch, wiejetzt, zu später Stunde – im Plenum öffentlich debattiert.Da hat sich wirklich schon etwas verändert. Das siehtman auch daran, dass das Freihandelsabkommen der EUmit Peru und Kolumbien hier im Bundestag kürzlich vonder Opposition geschlossen abgelehnt wurde.Spannend wird sein, was im Bundesrat geschieht.Denn dieses Abkommen kann nur dann ratifiziert wer-den und in Kraft treten, wenn auch der Bundesrat zu-stimmt. Dort haben SPD, Grüne und Linke die Mehrheit.Wir warten also gespannt darauf, was am 3. Mai diesesJahres geschieht. Es kann sein, dass dieses Abkommendie erforderliche Zustimmung nicht bekommt. Was dann
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29835
Thilo Hoppe
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geschieht, darüber gibt es unterschiedliche Rechtsauffas-sungen.Nach unserer Meinung – sie wird gestützt durch einneues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes desBundestages und durch Studien von Wirtschaftswissen-schaftlern und Völkerkundlern – tritt dann nicht, wiehier behauptet, der Handelsteil des Abkommens in Kraftund nur die anderen Teile nicht, sondern nach dieserRechtsauffassung muss dann das gesamte Abkommennachverhandelt werden. Das wäre ein starkes Signal inRichtung der DG Trade der EU-Kommission: kein Wei-ter-so in der Handelspolitik, kein Festhalten am Liberali-sierungsdogma um jeden Preis, sondern stärkere Be-achtung von Sozial- und Umweltstandards und vonMenschenrechtskriterien!
Heute geht es um ein Assoziierungsabkommen mitZentralamerika, das genauso umstritten ist wie das Frei-handelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Auch imHinblick auf dieses Abkommen ist zu befürchten, dassdie kleinbäuerliche Landwirtschaft in den Partnerländernunter die Räder kommt und von hochsubventioniertemMilchpulver und anderen Molkereiprodukten aus euro-päischer Überschussproduktion überschwemmt wird.Es ist auch zu befürchten, dass Wirtschaftssektorenstimuliert werden, in denen es schon jetzt zu massivenUmweltschäden, zu Zwangsvertreibungen von Indige-nen und Kleinbauern und zu Menschenrechtsverletzun-gen kommt. Die Debatte über die kolumbianische Stein-kohle, die gerade ausgetragen wurde, haben wir alle janoch im Ohr. Das gleiche Problem besteht auch in Zen-tralamerika. Bestimmte Wirtschaftssektoren, gerade derexzessive Anbau von Palmöl und Bergbauaktivitäten,würden durch dieses Abkommen enorm stimuliert wer-den. Das würde zu Gewinnen für einige wenige führen,hätte aber fatale Folgen gerade für arme Bevölkerungs-gruppen. Sogar die von der EU-Kommission selbst inAuftrag gegebene Nachhaltigkeitsfolgenabschätzungkommt zu dem Ergebnis, dass durch das Abkommen derDruck auf das Land erhöht wird und dadurch auch Land-konflikte – Stichwort „Land-Grabbing“ – weiter ver-schärft werden.Es waren nicht nur einige wenige, sondern mehr als40 Nichtregierungsorganisationen, darunter auch dasevangelische Hilfswerk „Brot für die Welt“ und das ka-tholische Hilfswerk „Misereor“, die dringend an uns ap-pelliert haben, dieses Abkommen in dieser Form nichtzu unterzeichnen. Auch der katholische Bischof vonGuatemala, Bischof Ramazzini – viele Kolleginnen undKollegen aus dem Bundestag kennen ihn –, hat uns beimehreren Podiumsveranstaltungen eindringlich gebe-ten, dieses Abkommen genau zu prüfen und es in dieserForm nicht zu unterzeichnen.Wir könnten ein klares Signal setzen –
Kollege, Sie möchten bitte zum Schluss kommen.
– pardon –, zuerst wir im Bundestag, dann der Bun-
desrat. Müsste dieses Abkommen nachverhandelt wer-
den, könnte es im Sinne einer sozialen und ökologischen
Marktwirtschaft verbessert werden, und zwar dahin ge-
hend, dass genau diese Flankierungen gestärkt werden.
Lassen Sie uns dafür gemeinsam eintreten!
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf – –
– Entschuldigung, es ist schon spät. – Bitte, Herr Kol-
lege Holmeier.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Heute ist wieder einmal einer der seltenen Tage, an de-nen wir im Deutschen Bundestag ein Stück Geschichteschreiben dürfen. Mit der Zustimmung zu dem vorlie-genden Assoziierungsabkommen zwischen der Europäi-schen Union und Zentralamerika schließen wir einenProzess erfolgreich ab, der als Friedensprozess schon imJahr 1984 begonnen hat – unter maßgeblicher Beteili-gung des damaligen Außenministers Hans-DietrichGenscher.
Dieses Abkommen steht ganz in der Tradition der eu-ropäischen Idee, auf der Grundlage wirtschaftlicher Zu-sammenarbeit für Frieden und Stabilität zu sorgen. Esbildet die Grundlage für eine politische, wirtschaftlicheund gesellschaftliche Integration zwischen der Europäi-schen Union und Zentralamerika.Das Abkommen ist aber auch noch aus einem anderenGrund historisch: Es ist das erste biregionale Assoziie-rungsabkommen, das die Europäische Union seit demInkrafttreten des Vertrages von Lissabon unterzeichnethat. Umso bedauerlicher finde ich es, dass sich die Op-position im Deutschen Bundestag nicht zu einer Zustim-mung zu diesem Abkommen durchringen konnte.Wenn man sich dieses Abkommen einmal in seinergesamten Breite anschaut, wird schnell klar, dass es ei-
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Karl Holmeier
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nem übergeordneten Ziel folgt: Es geht nicht darum, ausrein wirtschaftlichem Eigennutz ein Abkommen mitSchwellenländern zu schließen, die ohne Zweifel vieler-orts durch hohe Armut, soziale Ausgrenzung sowie so-ziale und ökologische Instabilitäten geprägt sind. Es gehtvielmehr darum, die politische und gesellschaftlicheEntwicklung in Zentralamerika durch eine enge Zusam-menarbeit und wirtschaftliche Verzahnung positiv zu be-einflussen und zu begleiten. Wer dieses Abkommen aufseine wirtschaftliche Dimension reduziert, hat schlichtnicht verstanden, worum es eigentlich geht.
Dieses Assoziierungsabkommen ist weit mehr als nurein Handelsabkommen: Es bildet die Grundlage für eineprivilegierte Partnerschaft auf der Basis gemeinsamerWerte und Zielvorstellungen.
Der Handelsteil ist der letzte von drei Grundpfeilern desAbkommens. Ihm gehen die Abschnitte „PolitischerDialog“ und „Zusammenarbeit“ voraus. Hierin wirdklargestellt, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit unddie Achtung der Menschenrechte sowie der bürgerlichenund politischen Rechte das Fundament des Assoziie-rungsabkommens mit Zentralamerika bilden. DiesenGrundprinzipien wird eine besondere Bedeutung zuge-schrieben, da sie das Kernstück des gemeinsamen euro-päischen und zentralamerikanischen Wertesystems dar-stellen. Als weitere Ziele werden ausdrücklich genannt:Armutsreduzierung, Bekämpfung von Ungleichheit,nachhaltige Entwicklung sowie Umwelt- und Klima-schutz. Auch die Abrüstung und Nichtverbreitung vonkonventionellen, chemischen und biologischen Waffenfinden sich als Zielvorgabe in diesem Abkommen,
ebenso wie der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus,gegen Drogen, Geldwäsche, Korruption und organisierteKriminalität. Das zeigt, wie umfassend dieses Assoziie-rungsabkommen tatsächlich ist.Angetrieben vom Interesse an einem gegenseitigenHandel und einem weitreichenden Zugang zum europäi-schen Markt, fördert das Abkommen eine politische, so-ziale und gesellschaftliche Integration. Dieser vielver-sprechende Entwicklungsprozess ist nicht nur imInteresse einiger weniger Unternehmen oder politischerund wirtschaftlicher Eliten. Nein, er ist im Interesse derMenschen in Zentralamerika und in Europa. Ich kannSie daher nur um Ihre Zustimmung zu diesem Abkom-men bitten.Danke schön.
Jetzt schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zur Gründung einer
Assoziation zwischen der Europäischen Union und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und Zentralamerika anderer-
seits.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
17/13176, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/12355 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-
men der Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zusammenbruch des Emissionshandels ab-
wenden – Überschüssige Zertifikate aus dem
Markt nehmen
– Drucksache 17/13193 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Das Europäische Parlament hat den Backloading-Vorschlag der Kommission erst einmal abgelehnt.Doch noch sind wir nicht am Ende der Debatte. DasErreichen einer Preissteigerung durch Herausnehmender Zertifikate ist noch nicht endgültig gescheitert.Diese Preissteigerung ist aber nötig, damit der Emis-sionshandel seine Funktion erfüllen kann.Der Umweltausschuss des Europäischen Parla-ments hat nun maximal zwei Monate Zeit, um denKommissionsvorschlag weiter zu beraten und sich ge-meinsam mit dem Europäischen Rat und der Kommis-sion auf einen neuen Kompromiss zu einigen. DiesesErgebnis kann dann dem Plenum erneut vorgelegt wer-den.Aber auch der Positionierung des Rates kommt ent-scheidende Bedeutung zu. Ich unterstütze daherausdrücklich die eindringlichen Bemühungen vonBundesumweltminister Altmaier, innerhalb der Bun-desregierung zu einer einvernehmlichen Positionie-rung zu kommen. Denn die Bundesregierung muss hierein klares Signal setzen. Ich fordere die Bundesregie-rung auf, eindeutig Stellung für ein fest umrissenesBackloading und eine Erhöhung des Reduktionszielsinnerhalb der EU auf 30 Prozent bis 2020 zu beziehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29837
Andreas Jung
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Denn gelingt es nicht, das ETS zu stabilisieren,dann gehen der Europäischen Union für den Klima-schutz die kommenden Jahre bis 2020 verloren. Vondem zu erwartenden Zertifikatepreis für diese Han-delsperiode werden sicherlich kaum klimapolitischeImpulse ausgehen.Die Entscheidung des Europäischen Parlaments inder letzten Woche ist ein herber Rückschlag für die in-ternationalen Bemühungen um ambitionierte Klima-schutzziele.Es geht darum, mit dem Emissionshandel das Herz-stück der europäischen Klimapolitik zu stabilisieren.Der enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zerti-fikaten wird in absehbarer Zeit nicht zu einem signifi-kanten Anstieg der Zertifikatspreise führen.Wir sprechen beim Backloading über eine tempo-räre Reduzierung des immensen Zertifikateüberschus-ses. Das vorgeschlagene Backloading beendet diesenÜberschuss an Zertifikaten nicht, sondern begrenzt ihnlediglich. Nach wie vor hätte es für die Industrie aus-reichend Zertifikate am Markt gegeben, um auch beisteigender Produktion nach der Wirtschaftskrise ohneHärten in den Klimaschutz investieren zu können. Viel-mehr hätte es diese Investitionen möglich gemacht.Allerdings – und das ist das Entscheidende bei dieserDiskussion – hätte das Herausnehmen von 900 Millio-nen Zertifikaten das Signal gegeben, dass es der EUernst ist mit der Umsetzung ihrer klimapolitischenZiele.Dabei kann das Backloading selbst nur ein ersterSchritt sein. Mindestens genauso wichtig wird es sein,sich über eine langfristige Strukturreform des Emis-sionshandels klar zu werden. Die marktorientierte Aus-richtung des Emissionshandels halte ich weiterhin fürrichtig. Allerdings sollte alles dafür getan werden, dieGeburtsfehler und Kinderkrankheiten des Systems wiebeispielsweise eine zu großzügige Zertifikatsaustat-tung am Anfang oder die Bereitstellung von zu vielenZertifikaten aus ökologisch fragwürdigen Klima-schutzprojekten zu beheben bzw. zu heilen.Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diesebeiden Eingriffe. Nur durch die klar definierte Heraus-nahme von Zertifikaten für einen bestimmten Zeitraumund eine daran anschließende grundlegende Refor-mierung der nächsten Handelsperiode kann es gelin-gen, dieses wichtige Steuerelement als Kernelementder europäischen Klimapolitik auf Dauer zu erhalten.Daher muss es neben dem Erhalt des ETS als markt-wirtschaftliches Instrument auch darum gehen, dieMinderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.Die Bundesregierung muss sich geschlossen dafüreinsetzen, dass die Europäische Union ihre Ziele bis2020 auf 30 Prozent erhöht. Mit ihrem selbst gesteck-ten Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zusenken, hat die Bundesregierung wichtige Impulse ge-geben. Darauf gilt es aufzubauen. Auch die EU mussdiesen Schritt gehen. Insgesamt haben wir in der Euro-päischen Union schon jetzt zu einem Großteil unsereReduktionsziele für 2020 erreicht und würden in unse-ren Anstrengungen in den nächten Jahren unnötignachlassen, wenn wir hier nicht nachbessern.Bundesumweltminister Altmaier setzt sich inner-halb der EU zusammen mit einigen seiner Kolleginnenund Kollegen stark für diese Position ein, und ichunterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. DieBundesregierung ist nun am Zug, sich hier klar zupositionieren und den Klimaschutz in Europa voranzu-bringen.
Letzte Woche hat das Europaparlament die Reformdes Emissionshandels abgelehnt. Dies war ein Schockund ein schwarzer Tag für den Klimaschutz. Die kirch-liche Hilfsorganisation Brot für die Welt sprach richti-gerweise von einem „Votum der Unvernunft“. Haupt-verantwortlich waren in der Mehrheit konservativeund liberale Abgeordnete aus ganz Europa.Eine ganz entscheidende Verantwortung trägt aberauch die deutsche konservative Partei und deren Par-teivorsitzende Angela Merkel. Die jahre- und monate-lange regierungsinterne Lähmung hat fatale Signale inRichtung Brüssel ausgesendet. Die Bundesregierunghatte keine einheitliche Position; WirtschaftsministerRösler und Teile der Koalitionsfraktionen haben offen-siv daran gearbeitet, die Reform des Emissionshandelszu verhindern. Bis heute hat die Bundesregierungkeine Meinung, obwohl die Bundeskanzlerin erklärthat, dass sie nach der Abstimmung im Europaparla-ment für eine einheitliche Position sorgen wird.Nach diesem Rückschlag im Europaparlament mussdie Bundesregierung ihre destruktive Rolle aufgebenund retten, was zu retten ist. Wenn es in den nächstenWochen keine Wendung hin zu einer konstruktiven Ent-scheidung geben wird, werden wir bis zum Jahr 2020keinen nennenswerten Preis für CO2 haben. Der Emis-sionshandel würde keinen Anreiz zum Klimaschutz ge-ben und wäre als politisches Instrument praktisch tot.Besonders absurd ist diese Situation, da andere Staa-ten wie Australien oder China in Emissionshandelssys-teme einsteigen wollen. Und die EU, die Pionierin desEmissionshandels mit dem derzeit größten Emissions-handelssystem der Welt, lässt ihr mühsam aufgebautesSystem sehenden Auges kollabieren und sorgt so bei alldenen für Auftrieb, die schon immer gegen marktwirt-schaftliche Instrumente waren.Wir werden nun Debatten über ordnungsrechtlicheLösungen bekommen, wie wir in der Debatte zum An-trag der Linken für ein Kohleausstiegsgesetz gesehenhaben. Es kann ein Mosaik aus nationalstaatlichen Re-gelungen anstelle eines EU-weit einheitlichen Systemsentstehen. Großbritannien hat schon einen gesetzli-chen Mindestpreis für CO2 eingeführt; die Nieder-lande und Spanien haben eine Steuer auf Kohle; Ita-lien debattiert über eine Steuer. Ich habe den Eindruck,dass viele Industrievertreter und konservative Abge-Zu Protokoll gegebene Reden
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29838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Frank Schwabe
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ordnete nicht verstanden haben, was sie angerichtethaben, und dass wir genau das Gegenteil des „levelplaying field“ erhalten werden, von dem die Industrieimmer redet.Die Mehrheit der Europaabgeordneten wollte aberdie Reform des Emissionshandels nicht endgültigscheitern lassen. Mit großer Mehrheit haben die Abge-ordneten dafür gestimmt, die Backloading-Entschei-dung wieder in die Ausschüsse zurückzuüberweisen.Nun hat der Umweltausschuss des Europaparlamentsmaximal zwei Monate Zeit, um den Kommissionsvor-schlag weiter zu beraten und sich mit Rat und Kommis-sion auf einen neuen Kompromiss zu einigen. Noch istunklar, wie solch ein zustimmungsfähiger Kompromissaussehen kann. Das Ergebnis könnte dann wieder demPlenum vorgelegt werden.Dies ist auch der Hintergrund, warum wir unserenneuen Antrag zum Backloading in den Bundestag ein-gebracht haben. Wir wollen eine Abstimmung, aus derklar hervorgeht, wie sich die schwarz-gelbe Koalitionzum Backloading verhält. Die Haltung Deutschlandsist entscheidend, wenn es darum geht, im Rat eineMehrheit zu organisieren. Die irische Ratspräsident-schaft ist auf eine aktive Rolle Deutschlands angewie-sen. Hierzu muss sich die Kanzlerin endlich gegen denWirtschaftsminister durchsetzen.Über die Zukunft des Emissionshandels wird jedochnicht nur in der Backloading-Debatte entschieden,sondern auch in einer weiteren Debatte, nämlich deraktuellen Diskussion, welche Ziele im Klimaschutzsich die EU für die Zeit nach 2020 geben wird. Wennwir ein Klimaziel für das Jahr 2030 wählen, das zudem abnehmenden berechenbaren Reduktionspfad zum2050-Ziel passen soll, so muss dieses Ziel mindestens40 Prozent Minderung bedeuten. Dies hätte mit dembestehenden 2020-Ziel zur Folge, dass die Industriebis 2020 sehr wenig machen muss, nach 2020 aberplötzlich ihre Anstrengungen vervielfachen müsste.Solch ein Bruch kann nicht im Interesse der Planbar-keit von Investitionen sein.Deshalb müssen wir zeitnah, unabhängig von einernoch ausstehenden abschließenden Entscheidung desEuropäischen Parlamentes und des EuropäischenRates zum Backloading, einen Diskurs in den europäi-schen Institutionen über eine ambitioniert ausgestal-tete Handelsperiode nach 2020 führen. Es muss eineLösung angestrebt werden, um über eine ehrgeizigeAbsenkung des Caps umfängliche Innnovationen undInvestitionen und damit Effizienzsteigerungen in denvom Emissionshandel betroffenen Unternehmen anzu-stoßen bzw. zu unterstützen.Die Ausgestaltung muss so sein, dass diese Investi-tionen in die Emissionssenkung auch schon in der lau-fenden Handelsperiode ausgelöst werden. Wichtig isteine zeitige Einigung, sodass auch die gewünschtenInvestitionsziele möglichst bald eintreten können.Ohne einen funktionierenden Emissionshandel mit an-spruchsvollen Emissionsobergrenzen würden die nichtdem Emissionshandel unterliegenden Sektoren Ver-kehr, Haushalte und Gebäude vor Herausforderungengestellt, die kaum zu bestehen sind. Auf diesen Zusam-menhang haben wir in unserem Antrag explizit hinge-wiesen.Nach diesem „Votum der Unvernunft“ wachen nunhoffentlich einige konservative und liberale Abgeord-nete aus ihrem Koma auf und zeigen sich konstruktiv,um noch in letzter Minute eine Lösung zu erreichen.Viel Zeit haben sie nicht mehr. Die Kolleginnen undKollegen der Koalitionsfraktionen können schon ein-mal vormachen, wie es geht, und diesem Antrag zu-stimmen.
Die SPD fordert in ihrem erfreulich übersichtlichenAntrag, dass die Bundesregierung die Position derEU-Kommission unterstützt, zur Stabilisierung desCO2-Preises das sogenannte Backloading anzuwen-den, das heißt Zertifikate in der beginnenden Handels-periode zurückzuhalten. Aber schon im ersten Absatzder Antragsbegründung klingen Sie nicht mehr soüberzeugt von Ihrem Vorhaben und räumen „instru-mentelle Vorbehalte“ ein. Diese Vorbehalte sind in derTat nicht von der Hand zu weisen. Denn Sinn undZweck des Emissionshandels ist nicht ein Mindestpreisfür CO2-Emissionen, sondern die Einhaltung des Cap,das heißt der EU-weit gedeckelten Gesamtmenge anCO2, die emissionshandelspflichtige Anlagen aussto-ßen. Schraubt man willkürlich an der Zertifikatmenge,um einen bestimmten Preis anzupeilen, führt man dasSystem ad absurdum. Zudem basiert das Vertrauen derWirtschaftsakteure in das System auf stabilen Rahmen-bedingungen. Eine willkürliche Änderung dieser Rah-menbedingungen würde das Emissionshandelssystemmehr gefährden als der aktuell sehr niedrige Preis.Ich gebe zu, dass dieser Preis unerfreuliche Seitenhat: Er führt zu einem niedrigeren Anreiz, in neueCO2-arme und nachhaltige Technologien zu investie-ren. Diesen Anreiz aber benötigen wir, wenn die EUnach 2020 das Emissions-Cap absenkt, um auf demKlimaschutzpfad bis 2050 voranzukommen. Danebenbrechen die Einnahmen des Energie- und Klimafondsein, der eine wesentliche Rolle bei der Finanzierungder Energiewende spielt. Zumindest für das aktuelleJahr konnte dank der Verwendung zusätzlicher Ge-winne der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Teil derEinnahmeausfälle des Energie- und Klimafonds kom-pensiert werden. Somit können Programme für inter-nationalen Klimaschutz, die Gebäudesanierung unddie Elektromobilität wie geplant umgesetzt werden.Auch das neu eingeführte Speicherförderprogramm fürdie Photovoltaik wird voll finanziert. Das Markt-anreizprogramm für die erneuerbare Wärme kann im-merhin etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für dieFinanzierungslücke hat die Bundesregierung in die-sem Jahr somit eine gangbare Lösung gefunden.Die Bundesregierung hat in der Nationalen Nach-haltigkeitsstrategie beschlossen, dass sie eine Anhe-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29839
Michael Kauch
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bung des Klimaziels für 2020 auf 30 Prozent befürwor-tet, wenn Deutschland sein nationales 40-Prozent-Zielnicht erhöhen muss und alle EU-Staaten einen ange-messenen Beitrag leisten. Diesen Ansatz sollte mannach dem Scheitern der Backloading-Pläne im Euro-päischen Parlament jetzt noch einmal forcieren. Denndies ist ein systematischerer Ansatz als das doch rechtwillkürliche Backloading.
Man mag zum EU-Emissionshandel, ETS, stehen,wie man will. Fakt ist, dass von der ersten zur drittenHandelsperiode etliche Kardinalfehler behoben wur-den, die das System zutiefst diskreditiert hatten. Sowerden seit diesem Jahr zumindest an die Energiewirt-schaft die geldwerten CO2-Emissionsrechte nicht mehrverschenkt, sondern versteigert. Das Problem der leis-tungslosen Extragewinne wäre also hier vom Tisch.Zudem wurde die Nutzung neuer missbrauchsanfälli-ger CDM-Zertifikate für die dritte Handelsperiode ex-trem eingeschränkt.Leider sind durch die in der Vergangenheit von dereinschlägigen Lobby aufgebrochenen Lücken im ETS– zu denen auch eine Überzuteilung an die Industriegehört – jede Menge überschüssiger Zertifikate aufge-laufen. So macht allein der Zufluss von CDM-Gutschriften aus zweifelhaften Klimaschutzprojektenim globalen Süden etwa 1,6 Milliarden der 2 Milliar-den Überschüsse aus, ist also Hauptursache für dieKrise des Handelssystems. Von diesen 1,6 Milliardensind auch noch die Hälfte faul. Die CDM-Gutschriftenlassen nicht nur die Preise in den Keller stürzen – ak-tuell kostet der Ausstoß einer Tonne CO2 ja nur so vielwie ein Brot beim Bäcker statt der ursprünglich erwar-teten 30 Euro –, sie führen auch zu einem zusätzlichenKlimagasausstoß. Die Wirtschaftskrise tat ein Übrigesfür die derzeitige Zertifikateschwemme.Würde man nun diese ungenutzten, aber leiderübertragbaren Emissionsrechte endgültig stilllegenund würde man zudem den linearen Minderungspfadentsprechend den veränderten Rahmenbedingungenverschärfen, so könnte sich dieses marode Cap-and-Trade-System erstmalig zu einem tatsächlichen Klima-schutzinstrument wandeln.Genau dies hat zumindest die EU-Kommission mitihrem Backloading-Vorschlag im Blick. Das zeitweise„Zurücklegen“ von Zertifikaten über 900 MillionenTonnen CO2, anstatt sie zu versteigern, würde den Zer-tifikatepreis zwar zunächst nur wenig anheben. Denndie Märkte antizipieren ja, dass die Menge 2019 und2020 doch noch in den Markt geht, die 2013 bis 2015bei den Auktionen aufgespart wird. Das Backloadingwürde aber den Weg für eine grundlegende Reform desEmissionshandels freimachen, weil es Zeit schindet.Und die braucht man, da Strukturreformen vor 2015sicher nicht wirksam werden.Diese zwei bis drei Jahre hätten die Mitgliedstaatentatsächlich Zeit; denn das Backloading soll ja genauverhindern, dass ein großer Teil der überschüssigenZertifikate in diesem Zeitraum marktwirksam wird. Siekönnten mit den dann hoffentlich erfolgten Strukturre-formen schließlich endgültig stillgelegt werden – undmit ihnen auch die restlichen Überschüsse. In diesemZug könnten nach einem weiteren Vorschlag der Kom-mission der genannte Minderungsfaktor verdoppeltund jegliche Anrechnungen von Auslandsgutschriftenuntersagt werden.Dieser Fahrplan stand letzte Woche in Straßburg imRaum, als es um die Backloading-Abstimmung ging.Und genau deshalb gab es eine beispiellose Lobby-Ar-beit von Industrie und Energiewirtschaft gegen denVorschlag. Die FDP und der Wirtschaftsflügel derUnion waren ihre parlamentarische Speerspitze. Sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29841
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noch zu einer starken Belastung der sozial-rechtlichenFamilie führen.Deswegen erscheint der Vorschlag des Bundesrates,der sich auf eine Empfehlung des 19. Deutschen Fami-liengerichtstages 2011 beruft, sachgerechter. Danachsollte die biologische Vaterschaft in einem isoliertenVorverfahren nach § 1598 a BGB geklärt werden. DieÜberlegung ist, dass durch die Inzidentprüfung dasUmgangs- und Auskunftsverfahren überfrachtet wird.Ein außergerichtlicher Vaterschaftstest gemäß § 1598 aBGB würde, wenn er für den mutmaßlichen leiblichenVater negativ ausfällt, erst gar nicht zu dem Auskunfts-und Umgangsverfahren führen. Die Inzidentprüfungsetzt im Gegensatz dazu voraus, dass ein Verfahren aufAuskunft und Umgang bereits eingeleitet wird.Die Bundesregierung und der Rechtsausschuss ha-ben jedoch an der inzidenten Prüfung festgehalten.Die Gesetzespraxis wird es erweisen, ob nicht docheine Vorabprüfung gemäß § 1598 a BGB der Situationgerechter wird. Dann kann ja immer noch durch eineNovellierung ein solcher Mangel, wenn er sich wirk-lich herausstellen sollte, behoben werden.Wichtig ist vor allem, dass die Situation der Kinderin solchen rein rechtlichen Ehen wissenschaftlich nä-her untersucht wird, um herauszufinden, welche Fol-gen es für das Kindeswohl hat, wenn der leiblicheVater seine Ansprüche geltend macht.
Wir beraten heute abschließend über den Gesetzent-wurf zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nichtrechtlichen Vaters. Lassen Sie mich Ihnen zunächst ei-nen Überblick über die bislang geltende Rechtslagegeben, bevor ich einige Aspekte aus den Beratungenskizzieren und die wesentlichen Punkte der Neurege-lung zusammenfassen werde.Der leibliche Vaters eines Kindes, der mit der Mut-ter des Kindes nicht verheiratet ist und auch nicht dieVaterschaft anerkannt hat, konnte bisher ein Um-gangsrecht nur unter zwei Voraussetzungen durchset-zen: Er musste eine enge Bezugsperson des Kindessein, für dieses tatsächlich Verantwortung tragen odergetragen haben – also mit ihm in einer sozial-familiä-ren Beziehung stehen. Zusätzlich musste der Umgangdem Kindeswohl dienen. Konnte der leibliche Vater zuseinem Kind keine Beziehung aufbauen, war ihm derKontakt zu ihm bisher verwehrt.Die Gründe, warum keine Beziehung zu dem Kindbestand, waren dabei unerheblich. Selbst dann, wennder leibliche Vater zum Beispiel bereit war, für dasKind Verantwortung zu übernehmen, dies aber auf-grund der Weigerung der rechtlichen Eltern nichtmöglich war, gab es für ihn kein Umgangsrecht. Au-ßerdem hatte der leibliche Vater bisher auch ohneRücksicht darauf, ob der Umgang dem Wohl des Kin-des dient, keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme.Ein leiblicher, nicht rechtlicher Vater hatte darüberhinaus bislang auch nicht das Recht, Auskunft über diepersönlichen Verhältnisse des Kindes zu erlangen.Nach § 1686 Satz 1 BGB kann jeder Elternteil vom an-deren bei berechtigtem Interesse Auskunft über diepersönlichen Verhältnisse des Kindes verlangen, so-weit dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. DiesenAuskunftsanspruch haben jedoch nur die Eltern imrechtlichen Sinne. Der leibliche Vater kann diesen Wegnicht gehen.Ein weiterer Punkt ist das Recht auf Anfechtung derVaterschaft. Dies hatte der leibliche Vater bislang nurdann, wenn zwischen dem rechtlichen Vater und demKind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Außer-dem konnte der leibliche Vater nicht gegen den Willender rechtlichen Eltern die Einwilligung in eine geneti-sche Untersuchung verlangen, um Gewissheit über
eingehen.Der Überblick über die bestehende Rechtslagezeigt, dass das Erscheinen eines – mutmaßlichen –leiblichen Vaters erhebliche Interessenkonflikte her-vorrufen kann. Das geltende Recht räumt in diesemSpannungsverhältnis dem Schutz der bestehenden so-zialen Familie absoluten Vorrang vor der ungewolltenEinmischung des mutmaßlichen leiblichen Vaters ein.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtehat in drei Entscheidungen zwischen 2010 und 2012festgestellt, dass es mit Art. 8 der Europäischen Men-schenrechtskonvention nicht vereinbar ist, den leib-lichen – biologischen – Vater, der keine Bezugspersonfür das Kind ist, von einem Umgang mit seinem Kindund dem Recht auf Auskunft über dessen persönlicheVerhältnisse auszuschließen. Art. 8 der EuropäischenMenschenrechtskonvention garantiert das Recht aufAchtung des Privat- und des Familienlebens.Die Verweigerung des Rechts auf Anfechtung derVaterschaft bei Bestehen einer sozial-familiären Bezie-hung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kindsowie der Ausschluss des – mutmaßlichen – leiblichenVaters aus dem Kreis der Klärungsberechtigen nach§ 1598 a BGB ist im Gegensatz dazu aber mit der Eu-ropäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbaren.So haben nur die rechtlichen Eltern und das Kind ei-nen Anspruch darauf, auf diesem Weg die leibliche Ab-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29843
Ute Granold
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stammung durch eine genetische Untersuchung zu klä-ren.Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des jetzigenGesetzentwurfes, nach den Vorgaben des Gerichts einUmgangs- und Auskunftsrecht für leibliche, nichtrechtliche Väter einzuführen. Dabei muss allerdingsein bestmöglicher Schutz der sozialen Familie erhaltenbleiben. Eine noch weiter gehende Stärkung derRechtsposition des leiblichen Vaters ist nach unsererAuffassung abzulehnen. Diese Position haben so auchdie Experten in den Ausschussberatungen bestätigt.Eine im Rahmen dieser Beratungen auch diskutierteForderung nach einem uneingeschränkten Anfech-tungsrecht des leiblichen Vaters ist auf erheblichefachliche Bedenken gestoßen. Das Argument, die so-zialen Kontakte zwischen Kind und bisherigem recht-lichem Vater würden durch eine Anfechtung der Vater-schaft nicht zerstört, Letzterer bleibe vielmehrweiterhin Bezugsperson für das Kind, ist nicht über-zeugend. Durch die Anfechtung und Feststellung sei-ner Vaterschaft erhielte der biologische Vater die Stel-lung des rechtlichen Vaters und damit auch dieMöglichkeit, das Sorgerecht zu beantragen. Außerdemhätte er dann in jedem Fall auch ein Umgangsrecht.Unterhalts- und Erbansprüche bestünden dann nichtmehr zwischen dem Kind und seinem sozialen Vater,sondern zwischen ihm und seinem biologischen, nunauch rechtlichen Vater. Der bisherige rechtliche Vaterkönnte nur noch als enge Bezugsperson einen Umgangmit dem Kind pflegen. Wenn in der sozialen Familienoch weitere Kinder mit ihren Eltern zusammenleben,wäre dies – vor allem mit Blick auf das Kindeswohl –eine erhebliche Belastung.Ein unbeschränktes Anfechtungsrecht würde außer-dem auf einen Paradigmenwechsel im Abstammungs-recht und auf eine völlige Neubewertung des Span-nungsverhältnisses zwischen rechtlicher, sozialer undbiologischer Elternschaft hinauslaufen. Dieser Para-digmenwechsel wäre so nicht durch die Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichtes zu begründenund wurde auch von der Mehrzahl der befragten Sach-verständigen abgelehnt.Der Bundesrat hatte im Vorfeld der Beratungen umPrüfung gebeten, ob dem mutmaßlichen Vater nichtstatt der im Gesetzentwurf vorgesehenen sogenannteninzidenten Prüfung der biologischen Vaterschaft untereinschränkenden Voraussetzungen auch ein Recht aufKlärung der Abstammung nach § 1598 a BGB einge-räumt werden sollte. Eine „inzidente Prüfung“ bedeu-tet hier eine ausschließliche Prüfung im Rahmen desgerichtlichen Umgangs- und Auskunftsverfahrens. DerBundesrat hatte befürchtet, dass dann gerichtlicheUmgangs- bzw. Auskunftsverfahren auch in Fällen an-gestrengt werden müssten, in denen noch gar nichtfeststeht, ob der Antragsteller tatsächlich der Erzeugerdes Kindes ist. Diese Belastung für alle Beteiligtenkönne vermieden werden, wenn dem mutmaßlichenbiologischen Vater stattdessen gegenüber Mutter undKind ein Anspruch auf Einwilligung in eine genetischeUntersuchung zur Klärung der leiblichen Abstam-mung eingeräumt würde.Eine solche Aufnahme des leiblichen Vaters in dieRegelungen des § 1598 a BGB wäre nach unserer Auf-fassung nicht mit dem Ziel eines bestmöglichen Schut-zes für die soziale Familie zu vereinbaren. Wenn leibli-che Väter neben dem Recht auf Umgang und Auskunftauch ein Recht auf Klärung der Abstammung erhaltenwürden, würden nicht nur diejenigen leiblichen Väterein gerichtliches Verfahren anstrengen, die Umgangoder Auskunft erhalten wollen, sondern auch diejeni-gen, denen es nur um die Klärung der Abstammunggeht. Der Kreis der potenziellen Antragsteller wäredeutlich erweitert, ohne dass daran die vom Bundesratvorgeschlagenen einschränkenden Voraussetzungenetwas ändern könnten. Die Hürden für die Nutzungdieses Klärungsanspruchs wären niedriger als dieHürden zur Geltendmachung der Rechte nach § 1686BGB-E. Außerdem steht – anders als beim Umgangs-verfahren – beim Klärungsverfahren nach § 1598 aBGB nicht das Kindeswohl, sondern das Klärungsinte-resse des Vaters im Zentrum.Die rechtsfolgenlose Klärungsmöglichkeit nach§ 1598 a BGB steht aus gutem Grund neben der Mutternur dem zweifelnden rechtlichen Vater offen. Dieserhat so die Möglichkeit, zunächst die biologische Her-kunft des Kindes durch ein privates Abstammungsgut-achten zu klären. Dann kann er im nächsten Schrittentscheiden, ob er daraus rechtliche Konsequenzenziehen will. Der an seiner Vaterschaft zweifelnde Vaterist damit nicht gezwungen, seine Vaterschaft direktdurch ein Anfechtungsverfahren zu klären.Der mutmaßliche leibliche Vater hat kein vergleich-bares schutzwürdiges Interesse an Klärung der Ab-stammung, da ihn mit dem Kind kein rechtliches Bandverbindet. An die Klärung der Abstammung wärenfolglich auch keinerlei rechtliche Konsequenzen ge-knüpft. Sie würden allein das Klärungsinteresse desVaters befriedigen. Bei Einführung des § 1598 a BGBwurde der leibliche Vater daher bewusst nicht in denKreis der Klärungsberechtigten aufgenommen. Ersollte nicht allein mit seinem – rechtsfolgenlosen – In-teresse an der Klärung der Abstammung Unfrieden indie soziale Familie hineintragen können.Der heute von uns hier abschließend beratene Ge-setzentwurf stärkt die Rechte des biologischen Vatersalso in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll es für dasUmgangsrecht künftig nicht mehr darauf ankommen,ob bereits eine enge Beziehung zwischen dem Kind undseinem leiblichen Vater besteht, sondern vielmehr da-rauf, ob dieser ein ernsthaftes Interesse an seinemKind gezeigt hat und ob der Umgang dem Kindeswohldient. Durch diese im Rahmen der Ausschussberatun-gen präzisierte Formulierung soll den Gerichten er-möglicht werden, im Einzelfall entsprechend des Kin-deswohls zu entscheiden.Zum anderen wird dem leiblichen Vater die Mög-lichkeit eingeräumt, Auskunft über die persönlichenZu Protokoll gegebene Reden
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29844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ute Granold
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Verhältnisse und die Entwicklung seines Kindes zu er-halten. Voraussetzung ist auch hier, dass er ein ernst-haftes Interesse an seinem Kind gezeigt hat und diesdem Kindeswohl nicht widerspricht. Aktuell steht derAuskunftsanspruch nach § 1686 BGB nur den Elternim rechtlichen Sinne zu.Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung soll – auchum die Sonderstellung des biologischen Vaters zu zei-gen – durch die Einführung eines neuen § 1686 a indas Bürgerliche Gesetzbuch, gestützt von entsprechen-den flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungenin § 167 a FamFG, erfolgen. Danach muss der Antrag-steller an Eides statt versichern, der Mutter währendder Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Hier wirdkünftig das Umgangs- und Auskunftsrecht des leibli-chen, nicht rechtlichen Vaters geregelt sein. Von dieserVorschrift sollen aber nur die Fälle erfasst werden, indenen das Kind bereits einen rechtlichen Vater hat.Weiterhin wird das Umgangs- und Auskunftsrechtdes vermeintlichen biologischen Vaters an die Bedin-gung geknüpft, dass der Antragsteller auch wirklichder biologische Vater ist. Dies bedeutet zugleich, dasser die Möglichkeit haben muss, seine biologische Va-terschaft klären zu lassen, ohne dass die Mutter diesvereiteln kann. Der Gesetzentwurf sieht daher die inzi-dente Klärung der Vaterschaft im Rahmen des Um-gangs- und Auskunftsverfahrens vor. Die Vor- undNachteile dieser Lösung habe ich ja bereits ausführ-lich erläutert.Zum Schluss noch eine Anmerkung: Das Bundesjus-tizministerium bereitet derzeit eine Evaluation auchdes Umgangsrechts vor. Es soll vor allem untersuchtwerden, welche Auswirkungen die Durchsetzung vonUmgangsregelungen auf das Eltern-Kind-Verhältnishat. Daneben soll auch das FamFG evaluiert werden,in dessen Buch 2 das Familienverfahrensrecht – undsomit also auch das Verfahren in Umgangssachen –2009 neu geregelt wurde. Im Rahmen dieses Vorha-bens kann dann auch untersucht werden, ob sich dieStärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichenVaters in der Praxis bewährt.Abschließend können wir sicherlich sagen, dass wirmit dem Gesetzentwurf einen guten Weg gefunden ha-ben, der der übergeordneten Bedeutung des Kindes-wohls gerecht wird. Darüber hinaus setzt er das be-rechtigte Interesse des leiblichen Vaters an einemUmgangs- und Auskunftsrecht in einen angemessenenAusgleich mit den Interessen der sozialen Familie aneinem ungestörten Familienleben.
Oft heißt es: Familie kann man sich nicht aussu-chen. Andererseits heißt es auch: Blut ist dicker alsWasser. Wie man es dreht oder wendet, Familie ist ei-nes der wichtigsten, aber auch eines der kompliziertes-ten Dinge in unserem Leben. Familien gibt es mittler-weile in jeder erdenklichen Form und Konstellation.Um diesen Lebenswirklichkeiten gerecht zu werden,müssen wir auch unser Familienrecht immer wiederanpassen und weiterentwickeln.Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, etwasüber ihre Familie und Herkunft zu erfahren. Ob adop-tierte Kinder, die sich auf den Weg machen, das Landihrer Geburt zu besuchen, ihre leiblichen Eltern aus-findig zu machen und mehr über ihre Wurzeln zu erfah-ren; oder Eltern, die versuchen, zu ihrem bis dahin un-bekannten Kind Kontakt aufzunehmen und an seinemLeben teilzuhaben.Letzteres hat unser Familienrecht bisher für einenbestimmten Personenkreis, den der leiblichen, abernicht rechtlichen Väter, nur sehr eingeschränkt vorge-sehen. Zum Schutz der sozialen Familie und des Kin-deswohls haben diese Väter nach derzeitigem Rechtkeinerlei Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechtenoder ein Umgangs- oder Auskunftsrecht einzufordern,wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiärenBeziehung zu dem Kind steht.Es ist richtig, dass die soziale Familie unter einembesonderen Schutz steht. Aber es ist falsch, dass derbiologische Vater in dieser Konstellation keinerleiMöglichkeit hat, zu seinem leiblichen Kind eine Ver-bindung aufzubauen. Wir werden dies heute mit demvorliegenden Gesetzentwurf ändern und damit dieRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes fürMenschenrechte, EGMR, umsetzen. Nach Meinung desEGMR hat der biologische Vater durch sein in Art. 8der Menschenrechtskonvention geschütztes Recht aufdie Achtung seines Privat- und Familienlebens unterbestimmten Voraussetzungen auch ein Recht auf Um-gang mit seinem leiblichen, aber nicht rechtlichenKind. Wir werden daher die Möglichkeit eines Aus-kunfts- und eines Umgangsrechts für diese Gruppe derVäter schaffen und damit ihre Rechte stärken.Einvernehmlich haben wir jedoch sinnvolle Hürdeneingebaut, um die soziale Familie so weit wie möglichzu schützen. Das Bekanntwerden eines leiblichen Va-ters stellt in den meisten Fällen eine enorme Belastungfür die Familie und im Zweifelsfall auch für das Kinddar. Wir haben uns deshalb gegen eine Erweiterungder Regelungen zur Anfechtung der Vaterschaft ent-schieden. Auch wird das Erreichen eines Umgangs-oder Auskunftsrechts über den neuen § 1686 a BGBmöglich sein, wenn bestehende Anfechtungsrechtenoch nicht ausgeschöpft wurden.Bei den Umgangs- und Auskunftsrechten wird es zu-dem einen kleinen, aber sehr wichtigen Unterschiedgeben: Ein Recht auf Umgang soll dem leiblichen Va-ter nur eingeräumt werden, wenn dies dem Kindeswohldient. Denn das Kind ist hiervon direkt betroffen, unddamit muss sein Wohl im Mittelpunkt stehen. Dagegenkann der Vater Auskunftsrechte bereits erhalten, wenndies dem Kindeswohl nicht widerspricht.In jedem Fall muss der Vater ein „ernsthaftes Inte-resse“ an dem Kind gezeigt haben. Wir haben hier denBegriff des „nachhaltigen Interesses“ ausgetauschtund damit eine praxistauglichere Lösung gefunden.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29845
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Die unterschiedlichen Ausgestaltungen von Fami-lienkonstellationen sind in unserer Gesellschaft sehrfacettenreich. Es ist keine Besonderheit mehr, dass einMann und eine Frau gemeinsam ein Kind zeugen, ohnedass beide heiraten oder der Mann die Vaterschaft fürdas Kind anerkennt. Das hat zur Folge, dass der Mannnicht der rechtliche Vater des Kindes ist, sondern nurder leibliche Vater. Dies gilt insbesondere dann, wenndie Frau zum Zeitpunkt der Geburt mit einem anderenMann verheiratet ist .Will der leibliche Vater sein Kind aber sehen undmit ihm Umgang haben, kann er dies nach den Voraus-setzungen des § 1685 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1BGB beantragen. Damit ihm der Umgang gewährtwerden kann, muss der leibliche Vater eine engeBezugsperson für das Kind sein und tatsächlich Ver-antwortung für das Kind getragen haben; der Vatermuss eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind ha-ben. Zudem muss der Umgang des leiblichen Vatersmit dem Kind dem Kindeswohl dienen. Liegen dieseVoraussetzungen nicht vor, kann ein Umgang nicht ge-währt werden.Die erforderliche sozial-familiäre Beziehung kannaber nur entstehen, wenn der Vater regelmäßigKontakt zu seinem Kind hat. Es gibt jedoch Konstella-tionen, in denen die rechtlichen Eltern dem leiblichenVater jeglichen Umgang mit seinem Kind verwehren.In solchen Fällen hat der leibliche Vater nach bisheri-gem Recht keine Chance auf Umgang mit seinem Kind.Darüber hinaus hat ein leiblicher, nicht rechtlicherVater derzeit auch keinen Anspruch auf Auskunft überdie persönlichen Verhältnisse des Kindes. § 1686 BGBgewährt jedem Elternteil einen entsprechenden An-spruch gegenüber dem anderen Elternteil, wenn diesdem Kindeswohl nicht widerspricht. Allerdings giltdies nur für Eltern im rechtlichen Sinne. Folglich stehteinem leiblichen Vater eines Kindes, der weder mit derMutter des Kindes verheiratet ist noch die Vaterschaftüber das Kind anerkannt hat, der Anspruch aus § 1686BGB nicht zu. Der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte, EGMR, hat darin einen Verstoß gegen dieEuropäische Konvention zum Schutz der Menschen-rechte und Grundfreiheiten, EMRK, erkannt. Der vor-liegende Gesetzentwurf soll diesen Missstand beheben.Nachdem die Bunderegierung ihren Gesetzentwurfam 31. Januar 2013 in den Deutschen Bundestag ein-gebracht hat, hat der Rechtsausschuss des DeutschenBundestages am 27. Februar 2013 ein erweitertesBerichterstattergespräch mit sechs externen Expertengeführt. Darin wurden verschiedene Ansätze beraten,wie der Rechtsprechung des EGMR Folge geleistetwerden kann.Ein Vorschlag ging zum Beispiel dahin, dem leibli-chen Vater ohne einschränkende Voraussetzungen dieAnfechtung der rechtlichen Vaterschaft zu ermögli-chen. Ziel dieses Vorschlages ist, dass die leibliche Va-terschaft sich gegenüber der rechtlich-sozialen Vater-schaft immer durchsetzen kann.Eine weitere Anregung sah vor, den leiblichen Vater,der Umgang mit seinem Kind begehrt, auf den Weg derAnfechtung der bestehenden Vaterschaft zu verweisen,anstatt ihm, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, unterengen Voraussetzungen ein Umgangsrecht und einenAuskunftsanspruch einzuräumen. Dies hätte denVorteil, dass dem leiblichen Vater nicht Rechte wieUmgang und Auskunft eingeräumt würden, ohne dassihm gleichzeitig auch Pflichten entstehen.Darüber hinaus wurde die Frage erörtert, den leib-lichen Vater in die Liste der Antragsberechtigten imSinne des § 1598 a BGB – Einwilligung in eine Unter-suchung zur Klärung der Abstammung – aufzunehmen.Nach intensiven Diskussionen haben wir uns in gro-ßer Übereinstimmung der Berichterstatter aller Frak-tionen dafür entschieden, den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf nur an einer Stellesprachlich zu überarbeiten, ansonsten aber unver-ändert zu verabschieden. Die drei im erweiterten Be-richterstattergespräch beratenen Vorschläge wurdenim Ergebnis verworfen. Dafür sprechen folgendeGründe:Das Auftauchen des leiblichen Vaters in einer bisdahin intakten sozialen Familie birgt eine enormeSprengkraft. Insbesondere das Leben des betroffenenKindes kann dadurch in große Unordnung gestürztwerden. Das kann aber nicht gewollt sein. Wir wollen,dass die bislang bestehende soziale Familie so wenigwie möglich beeinträchtigt wird. Steht dem leiblichenVater nach dem neuen Recht ein Anspruch auf Umgangund Auskunft zu, soll die bestehende soziale Familieselber entscheiden können, ob der leibliche Vater dieseRechte frei von Pflichten erhalten soll. So kann zumBeispiel der rechtliche Vater, der überraschend er-fährt, dass er gar nicht der leibliche Vater ist, wenn ernicht mehr für das Kind verantwortlich sein will, seineVaterschaft anfechten. Diese Entscheidung muss aberder sozialen Familie vorbehalten bleiben und darfnicht in die Hände des leiblichen Vaters gelegt werden.Daher muss man die nach der Rechtsprechung desEGMR erforderlichen Änderungen mit dem nötigenAugenmaß und viel Fingerspitzengefühl vornehmen.Der nun vorliegende Gesetzentwurf erfüllt diese Vo-raussetzungen.In § 1686 a BGB neu werden die Rechte des leibli-chen, nicht rechtlichen Vaters geregelt. Voraussetzun-gen für den Umgang des leiblichen Vaters mit seinemKind und den Auskunftsanspruch des leiblichen Vatersüber die persönlichen Verhältnisse seines Kindes sind,dass die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannesbesteht und dass der leibliche Vater ernsthaftes Inte-resse an dem Kind gezeigt hat. Zusätzlich muss derleibliche Vater beim Auskunftsanspruch ein berechtig-tes Interesse an der Auskunft haben. Darüber hinausmuss der Umgang des leiblichen Vaters mit seinemZu Protokoll gegebene Reden
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29846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Stephan Thomae
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Kind dem Kindeswohl dienen. Der Auskunftsanspruchdarf dem Kindeswohl nicht widersprechen.Die FDP-Bundestagsfraktion hat im parlamentari-schen Verfahren gemeinsam mit der Union darauf hin-gewirkt, dass das Tatbestandsmerkmal „nachhaltiges“Interesse aus § 1686 a Abs. 1 BGB neu in „ernsthaf-tes“ Interesse geändert wird. Diese Formulierung wirddem familienrechtlichen Kontext besser gerecht undwird auch von den Familiengerichten besser ausgelegtwerden können.Der Gesetzentwurf nimmt die erforderlichen Ände-rungen mit dem nötigen Augenmaß vor, ohne die beste-hende rechtliche Familie durch die neuen Rechte desleiblichen, nicht rechtlichen Vaters über Gebühr zubelasten. Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzentwurfgemeinsam mit meiner Fraktion zu unterstützen.
Bislang stand einem leiblichen Vater, der nicht mit
der Kindesmutter verheiratet war oder die Vaterschaft
nicht anerkannt hatte, ein Umgangsrecht mit seinem
Kind nur dann zu, wenn er eine enge Bezugsperson ist,
für das Kind Verantwortung trägt oder getragen hat
und der Umgang dem Kindeswohl dient. Auch wenn
der Vater sich um sein Kind kümmern wollte, konnte er
dies bei Weigerung der rechtlichen Eltern nicht tun.
Allen Vätern, die aus welchen Gründen auch immer
eine solche sozial-familiäre Beziehung nicht aufbauen
konnten, blieb der Kontakt zum Kind verwehrt. Das
Umgangsrecht wurde kategorisch ausgeschlossen,
ohne Rücksicht darauf, ob der leibliche Vater eine
Chance zur Verantwortung für das Kind hatte, und
ohne Prüfung etwaiger Auswirkungen auf das Kind.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
sah in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2010 in
dem geltenden Recht in Deutschland eine Verletzung
des Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Insbeson-
dere stellte der EGMR darüber hinaus fest, dass es
jeweils einer Einzelfallentscheidung bedarf, ob der
Umgang mit dem biologischen Vater dem Kindeswohl
dienen würde.
Die Frage, die sich uns als Gesetzgeber aufdrängte,
war, wie die soziale Familie bestmöglich zu schützen
ist. Von daher waren auch die Überlegungen, das Um-
gangsrecht von einer Vaterschaftsanfechtung abhän-
gig zu machen, abzulehnen, da dies darauf hinausge-
laufen wäre, dass der biologische Vater ein
Umgangsrecht nur erlangen kann, wenn er dazu den
rechtlichen Vater aus dessen Rolle verdrängt. Dies
dürfte im Regelfall aber kaum dem Kindeswohl ent-
sprechen. Von daher ist der Verzicht auf eine vorherige
Anfechtungsverpflichtung des leiblichen Vaters sehr zu
begrüßen.
Da jedoch auch der EGMR das Kindeswohl in das
Zentrum der Entscheidung gestellt hat, soll dies auch
höchste Priorität für eine entsprechende Umsetzung
im deutschen Recht sein. Im Interesse des Kindeswohls
waren deshalb die Hürden für ein solches Umgangs-
recht hoch anzusetzen. So muss der leibliche Vater zu-
nächst an Eides statt versichern, der Kindesmutter
während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, um
missbräuchliche Behauptungen auszuschließen. Des
Weiteren muss er ein ernsthaftes Interesse an dem Kind
gezeigt haben, und der Umgang muss dem Kindeswohl
dienen. Dabei sollte es als selbstverständlich gelten,
dass im Falle des Erleidens von Gewalt der Kindes-
mutter durch den leiblichen Vater wegen der damit ein-
hergehenden seelischen Beeinträchtigung der Mutter
auch ein Umgang dem Kindeswohl nicht dienen kann.
Nun gibt es nach wie vor eine Meinung – auch in
meiner Fraktion –, welche ein Umgangsrecht des leib-
lichen Vaters in Abhängigkeit zu seiner Bereitschaft,
Unterhalt zu zahlen, setzen möchte, dies vor dem
Hintergrund der Möglichkeit, dass bei Feststellung der
leiblichen Vaterschaft eine Vaterschaftsanfechtung des
rechtlichen Vaters droht. Allerdings birgt dieser
Lösungsansatz gleichzeitig die Gefahr, dass der finan-
ziell besser gestellte leibliche Vater gegenüber dem fi-
nanziell schlechter gestellten Vater privilegiert würde.
Nach dem Gesetzentwurf ist ein entsprechender An-
trag nur zulässig, wenn der Antragsteller an Eides
statt versichert, der Mutter des Kindes in der
Empfängniszeit beigewohnt zu haben. So werden damit
biologische Väter qua Samenspende ausgeschlossen,
ohne dass dabei plausibel dargelegt würde, weshalb
die in Rede stehenden Begehren von vornherein nur
von Männern erhoben werden können sollen, die
behaupten, mit der Mutter „natürlich“ verkehrt zu
haben. Aber dies dürfte sich im Ergebnis jedenfalls
gegenwärtig nur als theoretisches Problem darstellen
mangels Kenntnissen der entsprechenden Personen-
daten der Beteiligten.
Trotz einzelner Kritikpunkte ist der Gesetzentwurf
in der Fassung des Änderungsantrags im Ergebnis zu
befürworten, weil er das nach der Rechtsprechung des
EGMR bestehende Recht des biologischen Vaters auf
Umgang mit Nachkommen in einer insgesamt überzeu-
genden Weise schützt. Richtig ist insbesondere, dass
das „nachhaltige“ Interesse als Voraussetzung für ein
Umgangsrecht des biologischen Vaters im Änderungs-
antrag durch ein „ernsthaftes“ Interesse ersetzt wird.
Ein grundsätzlicher Ausschluss des Umgangs wird
vermieden; unter gewissen Voraussetzungen wird dem
leiblichen Vater ein solcher Umgang ermöglicht,
wobei gleichzeitig die soziale Familie weitestgehend
geschützt wird.
In dieser Legislaturperiode hat der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in meh-reren Entscheidungen festgestellt, dass das deutscheFamilienrecht nicht der Europäischen Menschen-rechtskonvention entspricht. Auch heute debattierenwir wieder über einen Gesetzentwurf, der die Recht-sprechung des Gerichtshofs umsetzt. Das ist eine ge-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29847
Ingrid Hönlinger
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sellschaftlich notwendige Fortentwicklung unseresFamilienrechts.Wir alle wissen: Es gibt Familienkonstellationen, indenen der leibliche Vater eines Kindes nicht identischist mit dessen rechtlichem Vater. Die bisherige deut-sche Rechtslage sieht vor, dass der leibliche Vater, derkeine enge Bezugsperson für sein Kind ist, kategorischund ohne Prüfung des Kindeswohls vom Umgang mitseinem Kind ausgeschlossen ist. Dies gilt auch dann,wenn ihm der Umstand, dass er bisher keine Bezie-hung zu seinem Kind aufbauen konnte, nicht zuzurech-nen war. Beispielhaft sind die Fälle, in denen die so-ziale Familie, in der das Kind lebt, jeglichen Kontaktzwischen leiblichem Vater und Kind blockiert. DieserVater ist machtlos und rechtlos.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtehat entschieden: Das deutsche Recht muss eine Rege-lung finden, die leiblichen Vätern ermöglicht, eine Be-ziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Voraussetzungist, dass es dem Kindeswohl entspricht.Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,setzt diese Rechtsprechung um: Wenn es dem Kindes-wohl dient, steht dem Vater zukünftig ein Umgangs-recht zu. Wenn es dem Kindeswohl nicht widerspricht,hat er ein Recht auf Auskunft über die persönlichenVerhältnisse seines Kindes. Der leibliche Vater hatjetzt die Möglichkeit, Informationen über sein Kind zuerhalten und eine Beziehung zu seinem Kind herzustel-len. Sachgerecht ist aus unserer Sicht auch, dass derGesetzentwurf eine abgestufte Kindeswohlprüfungvorsieht, orientiert an der Frage, ob der Vater Aus-kunfts- oder Umgangsrechte geltend macht. Und auchfür das Kind ist es wichtig, dass klar geregelte Kon-taktmöglichkeiten für den Vater bestehen. Ermöglichtdies doch dem Kind, Informationen über seine Her-kunft, seine familiären Wurzeln, zu erhalten und imbesten Fall eine Beziehung zu seinem leiblichen Vateraufzubauen. Und auch das Interesse der sozialen Fa-milie, Störungen des Kindesinteresses durch Außenste-hende zu vermeiden, wird berücksichtigt.Wir Grünen begrüßen, dass wir heute fraktions-übergreifend das Familienrecht weiter modernisieren.Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.Allerdings hätten wir uns noch mehr Modernisie-rung gewünscht. Der Gesetzentwurf aus der Regie-rungskoalition regelt die Fälle, die der konkretenRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte zugrunde lagen: Dies waren typische„Seitensprung-Fälle“. Die Regelung, über die wirheute debattieren, hilft Vätern weiter, die der Mutterihres Kindes „beigewohnt“ haben.Vor kurzem hat das „Samenspende-Urteil“ desOberlandesgerichts Hamm für Aufsehen gesorgt. DasGericht hat festgestellt, dass ein Kind, das mithilfe ei-ner Samenspende gezeugt worden ist, das Recht hat,vom behandelnden Arzt Auskunft über die Identität desSamenspenders zu verlangen. Dieses Urteil ist mittler-weile rechtskräftig. Nun sind wir als Gesetzgeberaufgefordert, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dazugehört die Klärung der Rechtsstellung des Samenspen-ders. Er ist es, der in diesem Fall der leibliche Vaterist. Leider blendet der heute beratene Gesetzentwurfden Komplex „Samenspende“ komplett aus. Ebenso istdie Situation des weiblichen homosexuellen Paares,dessen Kind naturgemäß auch einen männlichen leib-lichen Elternteil hat, weiter ungeklärt.Alle diese Fälle haben eines gemeinsam: Sie zeigen,dass Kinder mehr als nur zwei Elternteile haben können.In allen diesen Fällen, seien es Patchworkfamilien mitverschiedengeschlechtlichen Eltern oder Regenbogen-familien, brauchen wir klare Regeln, die die Rechteund Pflichten aller Elternteile normieren.Wir Grünen hätten uns gewünscht, dass Sie, meineDamen und Herren von der Regierungsbank, dieRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fürMenschenrechte zum Anlass nehmen, das Familien-recht insgesamt zu novellieren und konsequent weiter-zudenken. Einen wichtigen Ansatz hierfür haben Sieschon in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. Sie er-möglichen erstmals, dass zusätzlich zum rechtlichenVater ein zweiter Vater gerichtlich festgestellt wird.Dieser zweite Vater ist der leibliche Vater. Ihr Gesetz-entwurf erkennt also an, dass Mehrelternkonstellatio-nen nicht nur im sozialen, sondern auch im rechtlichenSinne möglich sind.Das ist ein Paradigmenwechsel, der bedeutend ist.Er ist aber auch dringend notwendig. Es wird höchsteZeit, dass wir hier im Parlament das Verhältnis vongenetischer, sozialer und rechtlicher Elternschaftgrundlegend neu klären. Denn alle Kinder haben diegleichen Rechte, unabhängig davon, in welcher Fami-lienkonstellation sie aufwachsen und welchen Lebens-entwurf ihre Eltern gewählt haben.Ich freue mich, dass weitere Bewegung in das über-kommene Familienrecht kommt. Nach der Reform desSorgerechts für nicht miteinander verheiratete Paareund der Stärkung der Rechte des leiblichen, nichtrechtlichen Vaters ist es nun Zeit für eine umfassendeModernisierung des Familienrechts. Wir Grünen wer-den uns weiterhin dafür einsetzen, das Familienrechtkonsequent weiterzuentwickeln und an die gesell-schaftlichen Realitäten anzupassen. In der nächstenLegislaturperiode werden neue politische Mehrheitenuns das erleichtern.
Zur Abstimmung liegen mehrere Erklärungen gemäߧ 31 der Geschäftsordnung vor.1)Wir kommen zur Abstimmung.Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache17/13269, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/12163 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der1) Anlagen 11 und 12
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29848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen will, der sollte sich erheben. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damiteinstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Thönnes, Dr. Rolf Mützenich, Christoph Strässer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck , Ute Koczy, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUmfassende Modernisierung und Respektie-rung der Menschenrechte in Aserbaidschanunabdingbar machen– Drucksachen 17/12467, 17/13177 –Berichterstattung:Abgeordnete Joachim HörsterFranz ThönnesMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind dieReden auch hier zu Protokoll genommen.
Aserbaidschan ist für Deutschland und die EU einewichtige Brücke nach Zentralasien. Die politischenBeziehungen zwischen Deutschland und Aserbaid-schan sind gut. Beide Länder unterhalten seit über20 Jahren diplomatische Beziehungen und sprechenalle bilateralen Fragen offen an.Bundesaußenminister Westerwelle hat dies durchseinen Besuch in Baku im März 2012 gewürdigt unddabei auch das deutsche Interesse unterstrichen, dieBeziehungen zwischen beiden Ländern in ihrer vollenBandbreite auszubauen.Für Deutschland ist Aserbaidschan der wichtigsteWirtschaftspartner im Kaukasus und von strategischerBedeutung für eine von Russland unabhängige Versor-gung. Aserbaidschan seinerseits sieht in Deutschlandeinen seiner wichtigsten Partner in Westeuropa.All dies zeigt die Intensität der Beziehungen. Auchdie entwicklungspolitische und kulturelle Zusammen-arbeit ist hervorzuheben, ebenso eine ganze Reihe vonMaßnahmen der finanziellen und technischen Zusam-menarbeit.Aserbaidschan unternimmt seit Jahren Bemühun-gen, sich schrittweise westlichen Demokratie- undRechtsstaatsstandards anzunähern.2001 ist es dem Europarat beigetreten und hat sichdurch seine Mitgliedschaft auch zur Achtung und Ge-währleistung der Grund- und Menschenrechte ver-pflichtet. 2009 wurde Aserbaidschan Gründungsmit-glied der Östlichen Partnerschaft im Rahmen derNachbarschaftspolitik der EU und führt seit 2010 Ver-handlungen mit der EU über ein Assoziierungsabkom-men. Auch dabei spielt die Einhaltung von Grund- undMenschenrechten eine zentrale Rolle.Aserbaidschan hat Fortschritte beim Aufbau einesmodernen demokratischen Rechtsstaates gemacht.Dies bestätigt auch der Europarat. An dieser Entwick-lung hat die Unterstützung durch Deutschland und dieEU erheblichen Anteil.Deutschland begleitet im Rahmen der ÖstlichenPartnerschaft und der Verhandlungen zum Assozi-ierungsabkommen die aserbaidschanischen Reformbe-mühungen. Gleichzeitig erwarten wir weitere deutlicheVerbesserungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,insbesondere bei der Gewährleistung der Grund- undMenschenrechte sowie der Unabhängigkeit der Justiz,Demokratisierung und Medienfreiheit.Unbestreitbar ist, dass hier noch erheblicher Ver-besserungsbedarf besteht. Dies wiederum ist demFortschrittsbericht der EU-Kommission im Rahmender EU-Nachbarschaftspolitik zu Aserbaidschan zuentnehmen. Wir müssen beständig und mit Nachdruckdarauf hinwirken, dass der bisher unbefriedigende Zu-stand in diesem Bereich so schnell wie möglich beho-ben wird.Freilich kann nicht erwartet werden, dass ein Landwie Aserbaidschan mit einer völlig anderen Ge-schichte und Kultur in kurzer Zeit westlichen Maßstä-ben hinsichtlich politischer und rechtsstaatlicher Stan-dards entsprechen kann.Bei der Frage der weiteren positiven EntwicklungAserbaidschans spielt natürlich der Berg-Karabach-Konflikt eine wichtige Rolle. Tatsache ist, dass Arme-nien Teile des Territoriums von Aserbaidschan militä-risch besetzt hält und die aserbaidschanische Bevölke-rung nicht nur aus Berg-Karabach, sondern auch ausden benachbarten Gebieten rund um Berg-Karabachvertrieben hat. Der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-nen hat dies in mehreren Resolutionen verurteilt undden Rückzug der armenischen Besatzungstruppen ge-fordert. Dies ist bis heute nicht erfolgt. Wer vomSelbstbestimmungsrecht der Menschen in Berg-Kara-bach spricht, der muss auch vom Selbstbestimmungs-recht der vertriebenen Aserbaidschaner sprechen.Eine friedliche Lösung dieses Konflikts, die für dieStabilität und Prosperität der Region notwendig ist,erfordert die Bereitschaft beider Seiten zu ernsthaftenund entschlossenen Schritten. Dies hat Bundesaußen-minister Westerwelle bei seinem Besuch in Baku und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29849
Dr. Wolfgang Götzer
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Erivan Mitte März 2012 deutlich gemacht. Die Arbeitder Minsk-Gruppe der OSZE und die Bemühungen derEU leisten einen wichtigen Beitrag zu einer friedlichenLösung.Im Hinblick auf die im Oktober dieses Jahres anste-henden Präsidentschaftswahlen wäre es des Weiterenwünschenswert, dass die angekündigte Reform desWahlrechts vorher noch umgesetzt wird.Abschließend möchte ich feststellen: Uns muss da-ran gelegen sein, Aserbaidschan auf seinem Weg derÖffnung nach Westen, zu Demokratie und Rechtsstaat-lichkeit und der Partnerschaft mit der EU weiter zu un-terstützen. Der vorliegende Antrag dient diesen Zielennicht und wird deshalb von uns abgelehnt.
Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass ich viele
der Anliegen in dem vorliegenden Antrag teile. Der
Antrag nimmt Bezug auf den Bericht zu politischen
Gefangenen in Aserbaidschan, über den die Parla-
mentarische Versammlung des Europarates im Januar
entschieden hat. Auch wenn der Bericht dort insgesamt
nicht die erforderliche Zustimmung erhalten hat,
möchte ich doch hervorheben, dass er eine nahezu ge-
schlossene Unterstützung sowohl von den Vertretern
der antragstellenden Fraktionen der SPD und der
Grünen wie auch von den Vertretern der deutschen Ko-
alitionsparteien in der Parlamentarischen Versamm-
lung erfahren hat. Nicht nur einzelne Mitglieder der
deutschen Delegation, auch Deutschland als Ganzes
ist in diesem Zusammenhang Objekt scharfer und per-
sönlicher Angriffe von Vertretern Aserbaidschans ge-
worden. Für uns sollte dies umso mehr Anlass sein,
hinsichtlich der Wahrung der Grundprinzipien des
Europarates Einigkeit zu demonstrieren.
In diesem Zusammenhang ist auch die Durchfüh-
rung von Wahlen von Bedeutung, gerade auch im Blick
auf die Präsidentschaftswahl, die im Oktober in Aser-
baidschan stattfinden wird. Nach den letzten Parla-
mentswahlen vom November 2010 hat die OSZE-Wahl-
berichterstattermission auf eine Reihe erheblicher
Probleme verwiesen, die infrage stellen, ob es sich da-
bei um eine wirklich kompetitive Wahl handelte. Einer
der wesentlichen Kritikpunkte betrifft das weitgehende
Fehlen freier Medien. Wir sollten allerdings auch nicht
außer Acht lassen, dass der Wahlprozess selbst fried-
lich und ordentlich verlief, unter Beteiligung aller
politischen Parteien des Landes.
Als einen weiteren Punkt möchte ich das Erforder-
nis einer Bewältigung des Berg-Karabach-Konflikts
hervorheben. Dieser Konflikt hemmt die Entwicklung
sowohl Aserbaidschans wie Armeniens. Es kommt
noch immer regelmäßig zu Opfern an der Kontaktlinie.
Flüchtlinge, die nicht zurückkehren können, werden
vieler Lebenschancen beraubt. Und nicht zuletzt kön-
nen wir auch eine – nicht selten aggressive – Vertie-
fung der gegenseitigen Feindbilder beobachten. Der
Fall Ramil Safarov ist dafür ein besonders bestürzen-
des Beispiel. Dabei sind die Verhandlungen über eine
Konfliktlösung in der Minsk-Gruppe weit fortgeschrit-
ten. Die Madrider Prinzipien zeichnen deren Grund-
züge vor. Ich sehe dazu keine Alternative. Es kommt
jetzt darauf an, deren Umsetzung endlich zu konkreti-
sieren.
Wir sollten uns aber auch nicht ausschließlich auf
problematische Entwicklungen beschränken. Aserbaid-
schan bleibt für Deutschland ein wichtiger Partner.
Das betrifft nicht nur die Bedeutung Aserbaidschans
für die Energieversorgung der EU, sondern auch die
Rolle Aserbaidschans in einem schwierigen geopoliti-
schen Umfeld. Und so wenig, wie wir Abstriche an den
Grundprinzipien des Europarates machen sollten, so
wenig sollten wir die schwierige innen- und außenpoli-
tischen Ausgangslage außer Acht lassen, die die Ent-
wicklung Aserbaidschans in den vergangenen 20 Jah-
ren bestimmt hat. Bei allen Problemen ist diese
Entwicklung auch nicht ohne Erfolge geblieben. Von
vielen meiner Gesprächspartner in verantwortlichen
Positionen in Aserbaidschan habe ich den Eindruck,
dass es weder an Problembewusstsein fehlt noch an
der Absicht, die Modernisierung Aserbaidschans in
wirtschaftlicher, aber auch politischer und nicht zu-
letzt rechtsstaatlicher Hinsicht voranzubringen.
Das ist der Punkt, wo mir der vorliegende Antrag zu
einseitig in der Tonlage ist. Kritik ohne Engagement,
Kritik ohne Angebot birgt immer nur die Gefahr, eine
selbsterfüllende Prophezeiung zu werden. Denn wo
wir keine Perspektive zur Zusammenarbeit eröffnen,
können wir auch nicht erwarten, dass unsere kriti-
schen Argumente positive Resonanz finden. Im Gegen-
teil: Wer als Gegner wahrgenommen wird, dessen Kri-
tik wird zwangsläufig auch nur als eine Form von
Angriff wahrgenommen. In dieser Hinsicht fehlt es mir
an Ausgewogenheit.
Bei einer Reihe anderer Punkte hätte ich mir Ge-
spräche über einen gemeinsamen interfraktionellen
Antrag vorstellen können. Dafür hätte es mehr zeitli-
chen Vorlauf und eine rechtzeitige Ansprache ge-
braucht. So spät in der Legislaturperiode ist das jetzt
nicht mehr möglich gewesen.
Grundlage unserer heutigen Debatte ist die Ent-wicklung in Aserbaidschan und der dazu eingebrachtegemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/DieGrünen.Aserbaidschan vollzieht seit seiner Unabhängigkeiteine betont westlich orientierte Außenpolitik und hatenge und vielfältige Beziehungen zur EuropäischenUnion. Seit 2009 verläuft der Großteil dieser Zusam-menarbeit im Rahmen der Östlichen Partnerschaft.Diese Form der europäischen Nachbarschaftspolitikzielt auf eine weitreichende Annäherung zwischen denPartnerländern und unterstützt dort umfassende politi-sche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen.Seit dem Jahr 2010 wird über ein Assoziierungsab-kommen mit dem Ziel einer vertieften partnerschaftli-Zu Protokoll gegebene Reden
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29850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Franz Thönnes
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chen Kooperation verhandelt. Innerhalb der EU istDeutschland einer der wichtigsten Partner für Aser-baidschan. Für die Weiterentwicklung und Vertiefungder Beziehungen und die weitere Stabilität Aserbaid-chans ist aus unserer Sicht aber eine Intensivierungder Aktivitäten für eine umfassende Modernisierungerforderlich. Dies gilt insbesondere im politischen undgesellschaftlichen Bereich.Am 16. Oktober 2013 finden die Präsidentschafts-wahlen statt. Amtsinhaber Ilham Alijew, der schon dieWahlen von 2003 und 2008 gewonnen hatte, tritt zumdritten Mal an. Dies ist nach zweimaliger Wahl für ihnnur möglich, weil durch ein Referendum 2009 dieAmtsbegrenzung des Präsidenten aufgehoben wurde.Im internationalen Beobachterkreis geht man davonaus, dass er auch diesmal wiedergewählt wird.Das Präsidentenamt in Aserbaidschan ist geprägtvon weitreichenden Vollmachten. So ernennt und ent-lässt das Staatsoberhaupt den Ministerpräsidentenund die Minister, die allein ihm verantwortlich sind.Dem Parlament gegenüber muss er sich nicht rechtfer-tigen, ja er kann es sogar auflösen. Und er kannRechtsverordnungen erlassen, hat das Vorschlagsrechtfür die Ernennung aller Richter und setzt die Verwal-tungschefs der 66 Provinzen ein.Die Nationalversammlung wird als ein faktischmachtloses Einkammerparlament mit 125 Abgeordne-ten, die nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt wer-den, eingeschätzt. Hier hat die RegierungsparteiNeues Aserbaidschan, YAP, mit 72 Sitzen die Mehrheit.Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre sowie diestattgefundenen Wahlen zeigen auch vor dem Hinter-grund von Wahlbeobachtungsmissionen, dass es defacto in diesen beiden Jahrzehnten keine freien und un-abhängigen Wahlen gegeben hat. Wir sehen es sehrkritisch, dass weder in den Bereichen Demokratienoch Rechtsstaatlichkeit in der zurückliegenden Zeitwirklich nennenswerte Fortschritte erfolgt sind oderdass nachhaltige Schritte in diese Richtung erkennbargewesen wären. Leider sehen wir mit Sorge zuneh-mend einen autoritären Kurs der aserbaidschanischenRegierung mit systematischer Unterdrückung der Op-position. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 und auchbei der Parlamentswahl 2010 gab es schwerwiegendeVerstöße gegen die internationalen Standards. Die Or-ganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa, OSZE, kritisierte erhebliche Unregelmäßig-keiten und Manipulationen vor, während und nach denWahlgängen. Dies gilt insbesondere für die Einschrän-kung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, dieBehinderung der unabhängigen Berichterstattung unddie Benachteiligung von oppositionellen Kandidatin-nen und Kandidaten.Die von Präsident Alijew 2009 durchgesetzte Mög-lichkeit zur unbegrenzten Verlängerung seiner Amts-zeit ist als schwerer Rückschlag für die Demokratisie-rung Aserbaidschans zu werten.Die internationale Gemeinschaft ist also aufgeru-fen, sich vor den anstehenden Wahlen frühzeitig darumzu bemühen, dass demokratische Verfahren strikt ein-gehalten und durch die OSZE überwacht werden. Lei-der verstärken sich nämlich auch die Anzeichen dafür,dass der Status der OSZE herabgestuft werden soll, umihr das Mandat zur Wahlbeobachtung im Oktober zuentziehen.Aserbaidschan benötigt für eine umfassende Mo-dernisierung eine selbstbewusste und vielfältige Zivil-gesellschaft. Doch auch hier müssen wir feststellen,dass sich die Menschenrechtslage in den letzten Jah-ren weiter verschlechtert hat. Meinungs- und Ver-sammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt, undregierungskritische Kundgebungen werden nicht ge-nehmigt. Proteste werden häufig gewaltsam aufgelöst,die Teilnehmer verhaftet und in verkürzten Verfahrenzu längeren Haftstrafen verurteilt. Immer häufigertrifft es vor allem Jugend- und Menschenrechtsaktivis-tinnen und -aktivisten. Mit großer Sorge sehen wirauch Berichte aus dem Land, die uns über Misshand-lungen und Folter von Inhaftierten, leider auch mit To-desfolge, informieren.Nichtregierungsorganisationen, NGOs, und opposi-tionelle Parteien haben große Schwierigkeiten bei ih-rer Registrierung, was zu faktischer Arbeitsunfähigkeitführt. Seit dem 1. März 2013 müssen nach dem soge-nannten Grant-Gesetz inländische NGOs jede Förde-rung über 200 Manat – das entspricht circa 200 Euro –bei den staatlichen Finanzbehörden anzeigen. Und siedürfen nur von registrierten Organisationen Gelderempfangen. Da aber die meisten internationalen Ak-teure nach wie vor nicht registriert sind, ist eine effek-tive zivilgesellschaftliche Aktivität nahezu unmöglich.Im weltweiten Vergleich in der Rangliste der Presse-freiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen stehtAserbaidschan auf Platz 162 von 179. Fernseh- undRadiosender werden vom Staat umfassend kontrolliert.Behörden behindern Journalistinnen und Journalistenbei ihrer Arbeit. Häufig werden sie mit willkürlichenVerhaftungen und Misshandlungen bedroht, massiv be-drängt; ihre Ausrüstung wird beschlagnahmt oder garzerstört. Ebenso kommt es zu Verurteilungen in unterVorwänden begründeten, politisch motivierten Prozes-sen.Entscheidend für die politische und langfristigewirtschaftliche Modernisierung Aserbaidschans ist dieUnabhängigkeit des Justizwesens, sowohl bei der Aus-wahl der Richter als auch bei der Urteilsfindung. Fürein souveränes, berechenbares und transparentesRechtssystem sind umfassende rechtsstaatliche Refor-men dringend erforderlich.Die notwendige ökonomische Modernisierung so-wie eine breitere Aufstellung seiner Wirtschaft kannAserbaidschan aus eigener Kraft alleine nicht leisten.Unterstützung ist hier geboten; denn wir sind über ver-schiedenste Kooperationen verbunden.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29851
Franz Thönnes
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Für die EU gehört das Land zu den bedeutendstenLieferanten und wichtigsten Transitländern fossilerRohstoffe, und ihre Mitgliedstaaten sind seine wich-tigsten Handelspartner und Abnehmer von Exportgü-tern. Immer noch setzt Aserbaidschan jedoch einseitigauf Abschöpfung von Gewinnen aus dem Rohstoff-export statt auf Nachhaltigkeit. Viele Industrieanlagensind marode; die Infrastruktur ist veraltet; ganzeIndustriezweige liegen brach. Die mangelnde Bekämp-fung von struktureller Korruption und Klüngelwirt-schaft behindern die wettbewerbsorientierte Weiter-entwicklung der Wirtschaft und die internationaleZusammenarbeit in diesem Bereich.Auch in der Bevölkerung ist eine zunehmende Unzu-friedenheit mit der aktuellen Lage zu spüren. Das So-zial-, Bildungs- und Gesundheitssystem in Aserbaid-schan bedarf dringend einer grundlegenden Reform.Hier herrscht ebenfalls Korruption statt sozialer Ge-rechtigkeit und Chancengleichheit. Von den Einnah-men aus den Rohstoffexporten profitiert vor allem einkleiner Kreis autokratischer Eliten. Die Bevölkerunghat so gut wie nichts davon. Die wachsenden privatenBildungsangebote kann kaum jemand bezahlen, unddie Qualität der öffentlichen Bildung sinkt. Die Ge-sundheitsversorgung ist für den Großteil der Bevölke-rung mangelhaft.Schließlich ist der andauernde Konflikt mit Arme-nien um Berg-Karabach eine große Belastung für jeg-liche Modernisierungsbemühungen. Das manifestiertsich durch die massive Aufrüstung und die laufendeKriegsrhetorik der Konfliktparteien. Aus unserer Sichtgilt hier: Nur die Erarbeitung einer langfristigen Frie-denslösung, die Aserbaidschan und den Menschen inder Region Berg-Karabach gerecht wird, kann denKonflikt lösen. Der jahrelange Stillstand der Verhand-lungen gibt jedoch zu Befürchtungen Anlass, dass dieBereitschaft zur Konfliktlösung auf beiden Seiten eherunzureichend hierfür ist.Der derzeitige politische Kurs der aserbaidschani-schen Regierung steht leider dem Ausbau der Zusam-menarbeit mit der EU im Weg. Denn auch nach dem2001 erfolgten Beitritt Aserbaidschans zum Europaratbleiben Zweifel an der Respektierung und Umsetzungder Werte, die in der dortigen Satzung festgeschriebensind. Das Land muss sich, wie alle anderen auch, mes-sen lassen an der Gewährleistung von Grund- undMenschenrechten sowie der Einhaltung von demokra-tischen und rechtsstaatlichen Standards. Eine weitereAnnäherung an die europäische Wertegemeinschaftkann es daher nur mit eingehenden politischen Refor-men und der aktiven Bereitschaft zum gesellschaftli-chen Wandel im Land geben.Im bilateralen wie europäischen Dialog müssen wirdies deutlich entschiedener einfordern. Und die Kräftein Aserbaidschan, die sich zu Demokratie, Rechts-staatlichkeit und Menschenrechten bekennen, verdie-nen unsere Unterstützung durch die stärkere Förde-rung des grenzüberschreitenden Austauschs.Wir haben in unserem gemeinsamen Antrag 18 kon-krete Forderungen an die Bundesregierung formuliert,die zu einer umfassenden Modernisierung und Respek-tierung der Menschenrechte in Aserbaidschan bei-tragen sollen. Darunter sind unter anderem: das ge-meinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten der EU beiMaßnahmen zur Behebung rechtsstaatlicher Defizitesowie Schritte zur Demokratisierung und Stärkung derZivilgesellschaft.Dazu gehört auch das gemeinsame Drängen, dassdie aserbaidschanische Regierung bereits ausgehan-delte Teile des Assoziierungsabkommens mit der EUeinhält bzw. umsetzt. Gemeinsam müssen wir Aserbai-dschan auf seine mit der Mitgliedschaft im Europaratund in der OSZE übernommenen Verpflichtungen hin-weisen; das gilt auch für die Durchführung einerLangzeit-Wahlbeobachtungsmission bei den bevorste-henden Wahlen.Neben einer bilateralen und internationalen Koope-ration zur Förderung der Pressefreiheit müssen wiruns auf höchster politischer Ebene für die sofortigeFreilassung und Rehabilitierung inhaftierter Medien-vertreterinnen und -vertreter und aller politischen Ge-fangenen einsetzen.Und wir sollten unsere Besorgnis über die zuneh-mende Inhaftierung von Jugend- und Menschenrechts-aktivistinnen und -aktivisten, die Einschränkung derMeinungs- und Versammlungsfreiheit sowie über dieMisshandlung durch Staatsbedienstete noch deutlicherausdrücken.Des Weiteren sollte Aserbaidschan mehr Mittel indie öffentliche Bildung investieren, die Korruptionhier ernsthaft und gezielt bekämpfen und die Qualitätinsgesamt für alle steigern. Studierende, die wegen ih-res Eintretens für europäische Werte zwangsexmatri-kuliert wurden, sollten innerhalb der EU Studienmög-lichkeiten und Stipendien erhalten.Zur Förderung intensiverer Kontakte der aserbai-dschanischen Bevölkerung mit EU-Bürgern plädierenwir auf europäischer Ebene für eine Lockerung derVisabestimmungen, um insbesondere den zivilgesell-schaftlichen Austausch und die Begegnungen mit denDemokratien Europas zu fördern. Natürlich bleibenSicherheitsinteressen dabei beachtet. Schon jetzt soll-ten jedoch bei der Visavergabe von den deutschen Aus-landsvertretungen vorhandene Spielräume des gelten-den EU-Rechts offensiv genutzt werden.Den wirtschaftlichen Fortschritt wollen wir durchdie Förderung von Alternativen zum Export fossilerRohstoffe, den Ausbau erneuerbarer Energien und dieErhöhung der Energieeffizienz unterstützen, mit Ko-operationsprojekten sowie Wissens- und Technologie-transfer. Auch in der deutschen Entwicklungszusam-menarbeit muss entschiedener auf Fortschritte imBereich der Menschenrechte, bei der Demokratisie-rung sowie der Rechtsstaatlichkeit gedrängt werden.Zu Protokoll gegebene Reden
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29852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Franz Thönnes
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All dies würde Aserbaidschan und die EuropäischeUnion näher zusammenbringen und der friedlichen,demokratischen Entwicklung zum Vorteil der Men-schen im südöstlichen Teil unseres Kontinents dienen.
Im letzten Jahr haben wir das 20. Jubiläum der di-
plomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und
Aserbaidschan begangen. Deutschland hat sich stets
als konstruktiver Partner Aserbaidschans verstanden,
der auch problematische Entwicklungen offen an-
spricht.
Der Antrag befasst sich sowohl mit der außenpoliti-
schen Rolle Aserbaidschans im Südkaukasus als auch
mit den innen- und menschenrechtspolitischen Proble-
men Aserbaidschans. Sicherlich greift der Antrag
manchen wichtigen Kritikpunkt auf. Allerdings unter-
schlägt er auch sämtliche Anstrengungen der Bundes-
regierung, zu Menschenrechten, Pressefreiheit und
auch wirtschaftlicher Modernisierung in Aserbaid-
schan beizutragen. Das ist nicht akzeptabel.
Ich beginne zunächst mit der Außenpolitik. Was
Deutschlands Rolle beim Berg-Karabach-Konflikt an-
belangt, so fordert die Bundesregierung gemeinsam
mit den EU-Partnern sowie den Staaten der Minsk-
Gruppe beide Konfliktparteien zur Mäßigung und zur
Aufnahme eines substanziellen Dialogs auf. Die ent-
scheidenden Impulse müssen aber von innen heraus
kommen und können nicht von außen erzwungen wer-
den. Dass eine Lösung dieses Konflikts für die Stabili-
tät der Region des Südkaukasus von zentraler Bedeu-
tung ist, darüber besteht innerhalb des Deutschen
Bundestages wohl kein Dissens. Nur: Der Ball liegt
hier bei den Armeniern und Aserbaidschanern.
Nun zum bilateralen Verhältnis zwischen Deutsch-
land und Aserbaidschan: In der entwicklungspoliti-
schen Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und
Deutschland liegen die Schwerpunkte in den Berei-
chen nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft außer-
halb des Öl- und Gassektors, Schutz der Biodiversität,
erneuerbare Energien sowie Kommunalentwicklung
und Rechtsstaatlichkeit. Deutschland ist für Aserbaid-
schan beispielsweise im Bereich der erneuerbaren
Energien ein wichtiger Partner. So wurde 2010 der
erste Windpark in Aserbaidschan unter Beteiligung
von deutschen Unternehmen fertiggestellt; weitere
Projekte sind geplant. Die von SPD und Grünen im
Antrag formulierte Aufforderung, solche Projekte zu
fördern, ist somit überholt.
Schließlich zur innenpolitischen Situation Aserbaid-
schans: Die EU führt mit Aserbaidschan einen Men-
schenrechtsdialog im Rahmen des Unterausschusses
Menschenrechte des Europäischen Parlaments, und
seit seiner Aufnahme in den Europarat 2001 unterliegt
Aserbaidschan einem Sondermonitoring durch das Mi-
nisterkomitee und die Parlamentarische Versamm-
lung. Dass die Regierung Aserbaidschans einen
Besuch des Sonderberichterstatters der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates, dem Bundes-
tagsabgeordneten Christoph Strässer, bisher verhin-
dert hat, ist nicht akzeptabel. Auch die gegen die
deutsche Delegation durch den Vorsitzenden der aser-
baidschanischen Delegation beim Europarat, Elkhan
Suleymanov, vorgebrachten Unterstellungen, unter an-
derem Erpressung und Bedrohung, sind inakzeptabel.
Die Regierung in Baku muss wissen, dass sie durch
Verweigerung eines Dialogs Zweifel an ihrer Men-
schenrechtspolitik nicht ausräumen kann. Aserbaid-
schan hat die Europäische Menschenrechtskonvention
unterschrieben. Jetzt muss es sie auch einhalten.
Auch in bilateralen Gesprächen wird die Menschen-
rechtslage durch Mitglieder der Bundesregierung kon-
tinuierlich angesprochen. Der Menschenrechtsbeauf-
tragte der Bundesregierung, Markus Löning, hat sich
zu Recht mehrfach für die Freilassung von inhaftierten
Demonstranten eingesetzt. Bei seinem Besuch im ver-
gangenen Jahr hat der Bundesminister des Auswärti-
gen, Dr. Guido Westerwelle, sich auch mit Menschen-
rechtsorganisationen getroffen und bei den
entsprechenden Gesprächen die Menschenrechtslage
sowie die Pressefreiheit in Aserbaidschan thematisiert,
ebenso wie viele Mitglieder des Deutschen Bundesta-
ges. Die Begnadigung politischer Gefangener im Jahr
2012 wurde andererseits nicht nur in Deutschland als
ein Signal der aserbaidschanischen Regierung für den
Willen zu mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und zum
Schutz der Menschenrechte gewertet.
Wir haben in diesem Parlament mehr als einmal
deutlich gemacht, dass Aserbaidschan noch einen wei-
ten Weg zu gehen hat und weitere Reformen notwendig
sind. Gerade im letzten Jahr ist diese Diskussion auch
öffentlich intensiv geführt worden. Gleichzeitig hat die
Bundesrepublik Deutschland ein großes Interesse da-
ran, über Kontakte das Bewusstsein für diese Fragen
zu stärken und in Gesprächen immer wieder auf Verän-
derungen zu drängen.
Die Beziehungen zu Aserbaidschan sind vielfältig
und vom Interesse geprägt, die Situation in der Region
zu befrieden, die wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung voranzubringen und zu einer guten, trag-
fähigen und dauerhaften Zusammenarbeit zu kommen.
Mit der einseitigen Beschäftigung des Antrags von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Aserbaidschan
wird man den Anforderungen deutscher Außenpolitik
nicht gerecht. Denn es bleibt festzuhalten, dass auch
andere Länder in der Region, wie beispielsweise Ar-
menien, noch weiteren Entwicklungsbedarf in Fragen
von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten ha-
ben.
Der Bundestag hat sich in den zurückliegenden Jah-ren bereits intensiv mit der Situation der Menschen-rechte in Aserbaidschan beschäftigt. Auch Die Linkehat in dieser Wahlperiode einen eigenen Antrag einge-bracht, der sich ganzheitlich und kritisch mit der Men-schenrechtslage in allen drei Südkaukasus-Republikenauseinandersetzt. Die Situation in Armenien und Ge-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29853
Katrin Werner
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orgien ist nämlich aus unserer Sicht keineswegs zufrie-denstellender als in Aserbaidschan. SPD und Grünehaben seinerzeit unseren Antrag abgelehnt und be-schränken sich in ihrem aktuellen gemeinsamen An-trag auf Aserbaidschan. Darin offenbaren sich nichtnur unterschiedliche politische Herangehensweisen,regionalspezifisch versus länderspezifisch, bei diesemThema. Der rot-grüne Antrag blickt vor allem hoch-gradig selektiv auf die komplexe Situation in Aserbaid-schan, indem er ausschließlich Defizite thematisiert.Dadurch entsteht praktisch der Eindruck, als herrschedort eine der finstersten Diktaturen der Welt, der ir-gendwie zu Leibe gerückt werden müsse. Ein kritischerMenschenrechtsdialog kann so jedenfalls nicht geführtwerden, hierfür müsste eine differenzierte Gesamt-bilanz der Situation gezogen werden.Die gesellschaftlichen Realitäten werden zudem anzahlreichen Stellen fehlerhaft beschrieben. Das liegtunter anderem daran, dass dem Antrag eine zu dünneInformationsbasis zugrunde liegt. Rot-Grün akzeptiertbeim Thema Aserbaidschan bekanntlich nur das, wasder eigenen Weltsicht entspricht. Der Antrag ist somitideologisch gefärbt. SPD und Grüne schenken nurdenjenigen Informationsquellen Glauben, die sie in ih-rer eigenen Meinung bestätigen. Dabei handelt es sichmeist um einzelne Dissidentinnen und Dissidenten, dieim Ausland leben oder Vorträge halten. Natürlich müs-sen auch radikal-kritische Stimmen bei der Informa-tionsgewinnung Berücksichtigung finden, dies alleinreicht allerdings nicht aus. Um sich einen objektivenEindruck von der komplexen Lage in Aserbaidschan zuverschaffen, muss mit möglichst vielen unterschiedli-chen Kräften kommuniziert werden: sowohl mit Vertre-terinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisa-tionen, Gewerkschaften und der konstruktiv-kritischenOpposition, aber auch mit der amtierenden Regierungund regimekonformen Gruppen. Das ist von grund-sätzlicher Bedeutung, nicht nur im Fall Aserbaid-schans. Es ist für Fortschritte bei Menschenrechtenund Demokratie unerlässlich, insbesondere auch mitdenjenigen politischen Entscheidungsträgern zu re-den, die die Situation real beeinflussen können, ebenweil sie an der Macht sind. Das Alijew-Regime istjedenfalls kein monolithischer Block, der nur aus Be-tonköpfen besteht. Anstelle die Türen für Gesprächezuzuknallen, wie dies Rot-Grün macht, müsste mitAserbaidschan ein offener und kritischer Dialog ge-sucht werden. Menschenrechte haben eine zivile Logikund können nur durch innergesellschaftliche Konsens-bildungsprozesse durchgesetzt werden. Deshalb sprichtsich Die Linke auch stets gegen Sanktionen und fürDialog aus. Menschenrechte können nicht von außenaufgepfropft und schon gar nicht mit militärischenMitteln im Rahmen sogenannter humanitärer Interven-tionen erzwungen werden. Und dass sich ausgerechnetSPD und Grüne als Anwältinnen bzw. Anwälte derMenschenrechte in Aserbaidschan profilieren wollen,entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Wer in seiner ge-meinsamen Regierungszeit im eigenen Land mit derAgenda 2010 einen systematischen Raubbau vor alleman den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechtender Schwachen in der Gesellschaft getrieben hat, dersollte sich besser zurückhalten, andere Länder zu be-lehren. Rot-Grün ist menschenrechtspolitisch genausounglaubwürdig wie die amtierende Bundesregierung.Es spricht Bände, wenn Rot-Grün allen Ernstes dieAnsicht vertritt, dass für eine weitere AnnäherungAserbaidschans an die Europäische Union zunächstBedingungen diktiert werden könnten. Woher nehmenSPD und Grüne eigentlich die Gewissheit, dass eineAnnäherung an die EU für Aserbaidschan überhauptPriorität habe? Das Land ist ja nicht nur seit 2011auch offiziell Mitglied der Bewegung blockfreier Staa-ten, sondern verfolgt vor dem Hintergrund seiner ge-wachsenen ökonomischen Stärke bereits seit geraumerZeit eine selbstbewusste, ausbalancierte Außenpolitik.Und angesichts ihres missratenen Krisenmanagementsdürfte die EU erheblich an Attraktivität für andereLänder eingebüßt haben. Worin soll für Aserbaidschander Anreiz liegen, sich der EU weiter anzunähern?Eine Beitrittsperspektive ist nicht vorgesehen, und mitBlick auf die Versorgungssicherheit mit Erdöl und Erd-gas ist die EU jedenfalls Bittstellerin bei Aserbaid-schan und nicht umgekehrt.Hinter dieser unrealistischen Konditionierung dereuropäisch-aserbaidschanischen Beziehungen stecktallerdings die altbekannte politische Vorstellung, dasssich andere Länder der EU möglichst bedingungslosunterordnen und haargenau das europäische Demo-kratiemodell bei sich einführen sollten. Dahinter ver-birgt sich nichts anderes als die wilhelminisch-imperi-ale Maxime von „Am deutschen Wesen soll die Weltgenesen“ – nur in einer zeitgemäß mit Menschenrech-ten garnierten, eurozentrischen Version. Das sind desKaisers neue Kleider, die imperiale Politik ist aller-dings die alte geblieben.Rot-Grün verkennt ebenfalls, dass Demokrati-sierungsprozesse in der Regel längere Zeiträumebeanspruchen. Die postsowjetischen Transformations-länder sind erst seit etwas mehr als 20 Jahren unab-hängig. Auch die heutigen westeuropäischen Demo-kratien haben für die Etablierung von demokratischenund menschenrechtlichen Standards wesentlich län-gere Zeit benötigt. Demokratieentwicklung ist zudemkein geradliniger Prozess. Es kann mitunter auchRückschläge geben, wie dies aktuell am Beispiel desEU-Mitglieds Ungarn beobachtet werden kann. Des-halb müssen bei der Gesamtbeurteilung der Men-schenrechtssituation in TransformationsgesellschaftenErfolge wie Misserfolge gleichermaßen Berücksichti-gung finden und auf überprüfbaren Fakten basieren.Die Beschreibung der wirtschaftlichen und sozialenLage, wonach in Aserbaidschan außerhalb des Ölsek-tors praktisch ganze Produktionszweige brach lägen,hat mit der Realität nichts zu tun. Das Gegenteil istrichtig: Die Volkswirtschaft entwickelt sich sehr dyna-misch, gerade auch außerhalb des Energiesektors.Laut Angaben der Weltbank konnte dadurch der Anteilderjenigen, die unter 1,25 Dollar pro Tag zur Verfü-Zu Protokoll gegebene Reden
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29854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Katrin Werner
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gung haben, bis zum Jahr 2008 auf 4 Prozent gedrücktwerden. Auch der sogenannte Gini-Koeffizient, der diesoziale Ungleichheitsverteilung misst, weist einenrückläufigen Trend auf. Die aktuellen Werte dürftenvermutlich noch deutlich besser sein, da die Weltbankihre Daten seit 2008 nicht aktualisiert hat und in denzurückliegenden drei Jahren die staatliche Sozialpoli-tik nochmals massiv ausgeweitet wurde. Die Armut istdeutlich zurückgegangen, und die Masseneinkommenhaben zugelegt. Obzwar durchaus weitere Umvertei-lungsspielräume existieren, hat sich die wirtschaftli-che und soziale Situation der Menschen spürbar ver-bessert.Anlass zu berechtigter Kritik an Aserbaidschan bie-tet hingegen die Situation bei bestimmten bürgerlichenund politischen Menschenrechten, insbesondere dieEinschränkungen bei der Versammlungs- und Presse-freiheit, die noch nicht ausreichenden demokratischenStandards bei politischen Wahlen und die Defizite beider Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz.Korruption ist ebenfalls weit verbreitet. In diesen Be-reichen sind zweifellos Verbesserungen vonnöten. Be-zeichnenderweise fehlen im rot-grünen Antrag aberAussagen zum bürgerlichen Recht auf Religionsfrei-heit. Aserbaidschan ist eines der wenigen traditionellmehrheitlich muslimisch geprägten Länder, in denender Bau von neuen Kirchen und Synagogen ermöglichtwird. Die säkulare Identität der aserbaidschanischenGesellschaft und das friedliche Zusammenleben derunterschiedlichen Religionen konnten trotz des schwie-rigen geopolitischen Umfelds und der anhaltenden mi-litärischen Besatzung von Teilen des aserbaidschani-schen Staatsgebiets durch Armenien aufrechterhaltenwerden. Das ist keineswegs selbstverständlich undsollte daher mit Nachdruck gewürdigt werden.Insgesamt bestehen zwischen dem rot-grünenAntrag und unserem eigenen Antrag gravierende Un-terschiede in der inhaltlichen Bewertung und strategi-schen Ausrichtung. Die rot-grüne Holzhammer-methode wird auch in diesem Fall versagen. Deshalbkann Die Linke diesen Antrag nur ablehnen.
Mit dem vorliegenden Grünen-Antrag möchten wirdie Zusammenarbeit mit Aserbaidschan stärker vondringend notwendigen politischen, wirtschaftlichenund gesellschaftlichen Reformen abhängig machen.Wir freuen uns, dass sich die SPD diesem Anliegen an-geschlossen hat. Wir sind überzeugt davon, dass dieWeiterentwicklung der Beziehungen zwischen der EUund Aserbaidschan in beiderseitigem Interesse ist.Entscheidend hierfür wird die ernsthafte BereitschaftAserbaidschans zur Demokratisierung des Landes undzur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit sein. Die syste-matische Unterdrückung von Grund- und Menschen-rechten durch die aserbaidschanische Führung mussein Ende haben.Aserbaidschan ist aufgrund seiner Einnahmen ausder Ölförderung kein armes Land. Es ist wirtschaftlichinteressant für Europa. Davon zeugt auch die Eröff-nung einer deutschen Außenhandelskammer in Bakuim November 2012. Die AHK Aserbaidschan vertrittüber 130 deutsche und aserbaidschanische Mitglieds-unternehmen im jeweiligen anderen Land. Sie solltedie Diversifizierung der aserbaidschanischen Wirt-schaft vorantreiben, die bislang nahezu vollständigvom Rohstoffexport abhängig ist. Kooperationspro-jekte zum Beispiel im Bereich erneuerbarer Energienund Energieeffizienz sind denkbar und wünschenswert.Leider beschränkt sich die regierende Elite darauf,die Gewinne aus den Rohstoffexporten abzuschöpfen,während andere Wirtschaftszweige brachliegen oderzunehmend verfallen. Korruption ist systemimmanentund nimmt erschreckende Dimensionen an. Ein erheb-licher Mangel an Rechtssicherheit steht bislang um-fangreicheren ausländischen Investitionen entgegen.Wir wissen, dass der ungelöste Konflikt um Berg-Karabach ein Hemmschuh ist bei der EntwicklungAserbaidschans. Wir bedauern den Stillstand in denVerhandlungen der OSZE-Minsk-Gruppe und fordernhier ein entschlosseneres Engagement Deutschlandsund der EU. Jedoch müssen alle Konfliktparteien ehr-liche Kompromissbereitschaft zeigen, statt sich weiter-hin in der Reproduktion nationalistischer Feindbilderzu überbieten.Am stärksten steht einem modernen und fortschritt-lichen Aserbaidschan jedoch der Umgang mit Grund-und Menschenrechten entgegen. Hier hat sich die Lageim letzten Jahr deutlich verschlechtert. Daher begrü-ßen wir, dass die Parlamentarische Versammlung desEuroparates am 23. Januar 2013 mit großer Mehrheiteine Resolution angenommen hat, die die Mängel imBereich der Demokratie, des Rechtswesens und derKorruptionsbekämpfung aufzeigt. Die Situation derpolitischen Gefangenen, Misshandlungen und Folter,die Einschränkung von Meinungs-, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit werden ebenso kritisiert wieDefizite bei der Gewissens- und Religionsfreiheit.Aserbaidschan hat sich – mit seiner Mitgliedschaft imEuroparat – selbst verpflichtet, europäische Standardseinzuhalten und derartige Defizite zu beseitigen.Bisher aber konnten leider keine Fortschritte in die-sen Bereichen festgestellt werden – im Gegenteil. Wirbeobachten das Austrocknen der Oppositionszeitung„Azadliq“. Des Weiteren beklagt das Institut für dieFreiheit und Sicherheit von Reportern, IRFS, in Bakudie Ergänzungen am Art. 58 der aserbaidschanischenVerfassung, der das Recht auf Gründung von Nichtre-gierungsorganisationen regelt. Dadurch sind NGOs inihrer Existenz bedroht.Am 10. April 2013 wurde die Free Thought Univer-sity, AFU, in Baku ohne Angabe von Gründen durchdie Staatsanwaltschaft geschlossen. Vorlesungen undSeminare zu Demokratie und Geschichte wurden hierseit 2009 durchgeführt. Wir verurteilen die SchließungZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29855
Viola von Cramon-Taubadel
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dieser Einrichtung in aller Schärfe! Denn gerade deröffentliche Bildungssektor muss gestärkt, vor allemnichttechnische Studiengänge von der Regierung ge-fördert werden. Die Korruption im Bildungssektormuss bekämpft werden, um die Teilhabemöglichkeitenderjenigen zu erhöhen, die studieren möchten, hor-rende Bestechungsgelder aber nicht zahlen wollenoder können.Nachdem die aserbaidschanische Regierung durchmassives Lobbying das Zustandekommen einer Ent-schließung der Parlamentarischen Versammlung, PV,des Europarates zu politischen Gefangenen in Aser-baidschan verhindert hat, befinden sich weiterhinzahlreiche Personen aufgrund ihrer politischen Über-zeugung in Haft. Und es werden wieder mehr. So wur-den am 4. Februar 2013 der aserbaidschanische Op-positionsführer Ilqar Mammadow von der REAL-Bewegung und Tofiq Yaqublu von Musavat verhaftet.Amnesty International und Human Rights Watch habendiese Verhaftungen verurteilt; Thorbjorn Jagland, derGeneralsekretär des Europarates, hat Kontakt zu denAnwälten der Inhaftierten aufgenommen.Wir verfolgen die politische Entwicklung in Aser-baidschan mit größter Aufmerksamkeit und zeigen unssolidarisch mit unterdrückten Demokratieaktivistenund -aktivistinnen. Wir müssen deshalb Projekte wieMeydan TV unterstützen, einen unabhängigen Sender,den der bekannte aserbaidschanische Blogger undDissident Emin Milli und andere aserbaidschanischeAktivisten und Aktivistinnen in Berlin ins Leben geru-fen haben. Der Sender soll zunächst über Internet,später über Satellit nach Aserbaidschan senden undeinen „Raum für demokratische Meinungsbildung“bieten, „denn ein freies Fernsehen ist die größte Ge-fahr für eine Diktatur“, so Emin Milli.Am 12. Februar 2013 wurden zwei Aktivisten, diefür das Election Monitoring and Democracy StudiesCenter, EMDS, eine Schulung zur zivilgesellschaft-lichen Wahlbeobachtung durchführten, polizeilich be-droht. Das EMDS ist Mitglied der Initiative EPDE,Europäische Plattform für Demokratische Wahlen. DiePräsidentschaftswahlen in Aserbaidschan sollen am16. Oktober 2013 stattfinden. Da es seit 20 Jahren indiesem Land keine freien Wahlen gegeben hat, ist eineumfassende und langfristige Wahlbeobachtung extremwichtig. Die internationale Gemeinschaft sollte sichfrühzeitig darum bemühen, dass demokratische Ver-fahren strikt eingehalten und durch die OSZE, insbe-sondere im Rahmen einer Langzeit-Wahlbeobach-tungsmission, überwacht werden.Bei der Parlamentarischen Versammlung des Euro-parates haben wir – mit Ausnahme der Linken – frak-tionsübergreifend feststellen müssen, dass es in Aser-baidschan im Bereich der Menschenrechte seitDezember 2011 keine Verbesserung gegeben hat. Zwarwurden im Januar 2013 einige Gefangene amnestiert,aber das ist keine systemische oder strukturelle Ver-besserung. Wir befürchten, dass sich die Situation inAserbaidschan bis zu den Wahlen im Oktober 2013weiter verschlechtern und der Druck auf kritischeStimmen noch zunehmen wird. Daher werbe ich über-fraktionell dafür, die Bundesregierung aufzufordern,eine entschlossenere Haltung gegenüber dem autoritä-ren Kurs der aserbaidschanischen Regierung einzu-nehmen. Dabei sollte sie sich für ein abgestimmtesAgieren der Europäischen Union im Umgang mit Aser-baidschan starkmachen.Deutlich werden muss: Einen weiteren Ausbau derZusammenarbeit kann es nur geben, wenn Grund- undMenschenrechte gewahrt sowie eine ernsthafte Bereit-schaft zu tiefgreifenden Reformen erkennbar wird.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/13177, den An-
trag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12467 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsge-
setzes
– Drucksache 17/12013 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/13270 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesord-
nung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Die Umsetzung einer EU-Richtlinie in deutschesRecht wird oft als komplizierter und bürokratischerVorgang dargestellt. Aus „Brüssel“ kommen die Vorla-gen und Vorschriften, an denen sich „Berlin“ abarbei-ten muss. In manchen Fällen mag das auch durchausder Fall sein. Doch der vorliegende Gesetzentwurf istein Beispiel dafür, dass die Umsetzung einer EU-Richtlinie nicht zwangsläufig ein komplizierter oderunbequemer Vorgang sein muss. In diesem Fall schaf-fen wir damit eine sinnvolle Maßnahme zur Stärkungvon Künstlern und Kreativen, die gleichzeitig für eineHarmonisierung der rechtlichen Bedingungen von Ur-hebern innerhalb der Europäischen Union sorgt.
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29856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ansgar Heveling
(C)
(B)
Wir werden mit der heutigen zweiten und dritten Le-sung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Urhe-berrechtsgesetzes die Richtlinie endgültig umsetzenund somit die Verlängerung der Schutzdauer vonRechten ausübender Künstler und Tonträgerherstellervon 50 auf 70 Jahre beschließen.Mit der Gesetzesänderung erreichen wir vor allem dreiZiele. Zunächst setzen wir die Richtlinie 2011/77/EU überdie Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmterverwandter Schutzrechte um. Sie nimmt die Anpassungeiner im Jahr 2006 vorgelegten Richtlinie vor. Bei derHarmonisierung der Schutzdauer von Musikkomposi-tionen mit Text knüpft die Richtlinie dabei an eine ver-gleichbare Bestimmung zu Filmwerken- und audio-visuellen Werken in der Schutzdauerrichtlinie an.Die vorliegende Gesetzesänderung, die wir heuteabschließend beraten, ist damit im Wesentlichen tech-nischer Natur. So schaffen wir auf EU-einheitlicherEbene ein angemessenes Schutzniveau für Künstler,das in deutschem Recht bisher nicht besteht. Dies isteine sinnvolle Maßnahme zur Stärkung von Künstlernsowie zur Weiterentwicklung des deutschen Urheber-rechts. Bisher erloschen die Rechte 50 Jahre nach derErstveröffentlichung beziehungsweise der ersten öf-fentlichen Wiedergabe. Mit der neuen Regelung erlö-schen die Rechte an den Aufzeichnungen auf einemTonträger nach nunmehr 70 Jahren.Außerdem erhalten die Künstler durch diese Ge-setzesänderung eine bessere Teilhabe an den Einnah-men, die durch ihre ausschließlichen Rechte erzieltwurden. So wollen wir gewährleisten, dass der aus-übende Künstler an den Einnahmen beteiligt wird, dieder Tonträgerhersteller aus der durch die Verlänge-rung der Schutzdauer weiterhin möglichen Verwertungvon Tonträgern erzielt.Schließlich beseitigen wir durch die Umsetzung derEU-Richtlinie Harmonisierungslücken, die zwischenden Mitgliedstaaten bei der Schutzdauer von Urheber-rechten bestanden haben.Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen desGesetzentwurfs gab es noch Änderungsbedarf mitBlick auf die Rechte von Künstlergruppen. FürOrchester etwa war offen, ob und wie sie von einemKündigungsrecht, das für einzelne Urheber besteht,Gebrauch machen können. Daher haben die Koali-tionsfraktionen von CDU/CSU und FDP einen ge-meinsamen Änderungsantrag vorgelegt, um auch sol-chen Künstlergruppen die Kündigungsmöglichkeiteinzuräumen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen ist.Somit haben nun nicht nur einzelne Künstler, sondernauch Gruppen von Künstlern einfacher die Möglich-keit, einen Vertrag mit einem Werkmittler zu kündigen,wenn Werke nicht zum Verkauf angeboten werden.Zudem wird in dem Gesetzentwurf durch die darinvorgesehene Übergangsregelung in § 137 m des Urhe-berrechtsgesetzes sichergestellt, dass der Zuwachs,der bei Musikkompositionen mit Text durch den wie-derauflebenden Schutz von einer bereits gemeinfreienKomponente entstehen kann, dem jeweiligen Urheberzusteht. Das vorgesehene Wiederaufleben der Rechtebeim Urheber kann auch dazu führen, dass zugleichdie vertraglich vereinbarte Übertragung der Rechtewieder auflebt, soweit dies im Vertrag zwischen demUrheber und seinem Vertragspartner, etwa dem Werk-mittler, vorgesehen war.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wirnicht nur eine EU-Richtlinie erfolgreich in deutschesRecht um, sondern erwirken eine sinnvolle Ergänzungbestehender verwandter Schutzrechte im Urheber-recht. Somit erhöhen wir das Schutzniveau für Künst-ler und Kulturschaffende in Deutschland und leistendamit einen Beitrag zur Stärkung der Urheber undKreativen.
Der vorliegende Regierungsentwurf harmonisiertdie Schutzfristen für die Rechte ausübender Künstle-rinnen und Künstler und Tonträgerhersteller anMusikaufnahmen und verlängert diese – basierend aufder Richtline 2011/77/EU des Europäischen Parla-ments und des Rates vom 27. September 2011 zur Än-derung der Richtlinie 2006/116/EG über die Schutz-dauer des Urheberrechts und bestimmter verwandterSchutzrechte – auf 70 Jahre. Gleichzeitig wird dieSchutzdauer für Musikkompositionen mit Text auf70 Jahre festgelegt.Bisher erloschen die Rechte an Aufzeichnungen undDarbietungen ausübender Künstlerinnen und Künstler50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Dieser Schutzverlängert sich jetzt um weitere 20 Jahre. An den Zu-satzeinnahmen, die die Plattenfirmen in dieser Zeit er-zielen, sollen die Künstlerinnen und Künstler partizi-pieren, indem sie zu einem Fünftel daran beteiligtwerden. Diese Teilhabe gilt für alle Tonträger ab dem50. Jahr der Verwertung bis zum Ende der Schutzdauervon 70 Jahren.Darüber hinaus haben ausübende Künstler zukünf-tig das Recht, den Übertragungsvertrag mit der Plat-tenfirma zu kündigen, wenn diese es unterlässt, eineAufzeichnung, die ohne die Verlängerung der Schutz-dauer gemeinfrei wäre, zu verwerten.Gegen Regelungen, die Urhebern und Künstlern zuihren Lebzeiten fortlaufende Einnahmen aus der Ver-wertung ihrer Werke sichern, ist grundsätzlich nichtseinzuwenden. Eben diesen Effekt wird der vorliegendeEntwurf jedoch nicht erzielen. Die Annahme, dass einegroße Anzahl ausübender Künstlerinnen und Künstlervon der Schutzfristverlängerung durch zusätzlicheEinnahmen profitieren wird, trügt – darauf haben vieleUrheberrechtsexperten bereits frühzeitig hingewiesen.In Wirklichkeit können nur sehr wenige Werke50 Jahre nach Erscheinen überhaupt noch kommerziellverwertet werden; die Masse wirft schon nach einemJahr keine nennenswerten Einnahmen mehr ab. Wirwissen daher, dass das Gesetz im Wesentlichen nur denZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29857
Burkhard Lischka
(C)
(B)
großen Plattenlabels, beispielsweise den Inhabern derRechte an den Liedern der Beatles, zusätzliche Ein-nahmen bescheren wird. Damit verpufft das oft ge-nannte Argument, die Schutzfristverlängerung dieneinsbesondere der sozialen Absicherung der Künstle-rinnen und Künstler im Alter.Wir begrüßen allerdings ausdrücklich, dass es ge-lungen ist, für das Kündigungsrecht in Fällen gemein-samer Darbietung mehrerer Künstler – zum BeispielOrchester-, Chor- oder Bandeinspielungen – eineLösung zu finden, die die Ausübung des Kündigungs-rechts durch einen gewählten Vertreter oder Leiter derGruppe ermöglicht und damit in der Praxis handhab-barer macht.
Der Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache
17/12013 setzt die Richtlinie 2011/77/EU des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 27. September
2011 zur Änderung der Richtlinie 2006/116/EG über
die Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter
verwandter Schutzrechte in deutsches Recht um.
Die öffentliche Wahrnehmung des Urheberrechts
hat sich in den vergangenen 15 Jahren drastisch ver-
ändert. Fristete es noch Ende der 90er-Jahre ein Mauer-
blümchendasein, das lediglich von einigen Experten
wahrgenommen wurde, ist es spätestens mit der De-
batte um ACTA und den daraus resultierenden Protes-
ten in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die
Frage, ob die bestehenden urheberrechtlichen Schutz-
fristen angemessen sind, wird dabei immer wieder er-
örtert. Kritiker wünschen sich kürzere Schutzfristen
und somit ein früheres Gemeinfreiwerden der Inhalte.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich sehr, dass die
EU mit der Richtlinie 2011/77/EU ein klares Zeichen
für den Schutz geistigen Eigentums setzt. Die Richt-
linie sieht eine Harmonisierung der Schutzdauer für
Musikkomposition mit Text sowie eine Verlängerung
der Schutzdauer von Rechten ausübender Künstler und
Tonträgerhersteller von 50 auf 70 Jahre vor. Hierbei
muss man berücksichtigen, dass Urheber und Rechte-
verwerter eine Symbiose eingehen. Viele Urheber sind
auf professionelle Unterstützung bei der Verwertung
ihrer Werke durch Werkvermittler angewiesen, da sie
selber oftmals gar nicht in der Lage sind, eine aufwen-
dige Selbstvermarktung vorzunehmen. Die Verlänge-
rung der Schutzfristen für Werkvermittler wirkt sich
mittelbar auch positiv für die Urheber aus. Sie müssen
an den Einnahmen, die von den Werkvermittlern im
Rahmen der verlängerten Schutzfrist erzielt werden,
anteilig beteiligt werden.
Da das deutsche Urheberrecht entsprechende Rege-
lungen bislang nicht enthalten hat, muss es angepasst
werden. Dies wird durch den vorgelegten Gesetz-
entwurf der Bundesregierung erreicht. Die FDP-Bun-
destagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren
gemeinsam mit der Unionsfraktion lediglich eine in-
haltliche Änderung vorgenommen.
In § 80 Abs. 2 UrhG wird die Angabe „§§ 77 und
78“ durch die Wörter „§§ 77, 78 und 79 Abs. 3“ er-
setzt. Dies hat folgenden Hintergrund. Die Richtlinie
räumt ausübenden Künstlern ein Kündigungsrecht ge-
genüber dem Tonträgerhersteller ein, wenn dieser es
unterlässt, 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung des
Werkes Kopien des Tonträgers in ausreichender
Menge zum Verkauf anzubieten oder öffentlich zugäng-
lich zu machen. § 80 UrhG regelt die Rechte mehrerer
gemeinsam ausübender Künstler. Die Norm findet in
der Praxis insbesondere Anwendung auf Orchester
oder ähnliche große Musikgruppen. Mit der Ergän-
zung in § 80 Abs. 2 UrhG wird geregelt, dass eine
Gruppe ausübender Künstler ihr neues Kündigungs-
recht aus § 79 Abs. 3 UrhG-neu nur gemeinsam, ver-
treten durch ihren Vertreter, Vorstand, oder Leiter, aus-
üben kann. Damit stellen wir sicher, dass die Norm
praktikabel bleibt. Die Zusammensetzung eines Or-
chesters kann sich innerhalb von 50 Jahren erheblich
verändern. Müsste man zur Ausübung eines Kündi-
gungsrechts die Einwilligung jedes betroffenen Mit-
glieds einholen, könnte dies in der Praxis zu un-
lösbaren Problemen führen. Es bestünde die Gefahr,
den ausübenden Künstlern Steine statt Brot zu geben,
weil zum Beispiel einzelne Mitglieder des Orchesters,
das einen Tonträger eingespielt hat, nicht mehr auf-
findbar sind. Dieses Problem wird mit der von den Ko-
alitionsfraktionen vorgenommenen Änderung gelöst.
Die Richtlinie 2011/77/EU und damit auch die Um-
setzung in deutsches Recht verfolgen mit der Verlänge-
rung der Schutzdauer das Ziel, den Genuss der
Früchte eines Werkes auch noch den Kindern und Kin-
deskindern des Urhebers zukommen zu lassen. Ich
halte dies für richtig. Anders als bei gegenständlichen
Vermögenswerten wie zum Beispiel Immobilien kann
ein Urheber ohne gesetzliche Schutzfristen nichts an
seine Nachkommen weitergeben. Wir wollen aber ge-
rade Anreize setzen, damit Menschen Zeit und Kraft in
die Entwicklung und die Umsetzung von Ideen und
kreativen Leistungen stecken. Nur so können wir die
kulturelle Vielfalt in Deutschland und Europa erhalten.
Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf gemeinsam
mit meiner Fraktion zu unterstützen.
Ich bekomme immer einen Schweißausbruch, wennich auf der Tagesordnung dieses Hauses das Wort„Urheberrecht“ entdecke, weil ich dann weiß: Jetztkommt wieder ein Versuch, die Rechte der Medienin-dustrie zu stärken, entweder zulasten der Urheberin-nen und Urheber oder zulasten der Rezipientinnen undRezipienten. So auch diesmal. Sie wollen die Fristender Leistungsschutzrechte von ausübenden Künstlernund Tonträgerherstellern verlängern. AusübendeKünstler, also die Interpreten der Lieder, sollen nichthinnehmen müssen, dass noch zu ihren Lebzeiten ihreAufnahmen gemeinfrei werden, sodass sie nichts mehrdaran verdienen. So argumentieren die Befürworterdieses Gesetzentwurfs.Zu Protokoll gegebene Reden
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29858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Petra Sitte
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Sie kennen wahrscheinlich den Song „Twist andShout“, der durch die Beatles bekannt wurde. DieserSong wurde ursprünglich von Phil Medley und BertRussell für die Gruppe Top Notes geschrieben, alsonicht von John Lennon und Paul McCartney. Die Beat-les besitzen an diesem Song keine Urheberrechte, abersie sind damit reich geworden. Warum? Nun, weil sieden Song nachgespielt haben und als Interpreten Leis-tungsschutzrechte an der Aufnahme besitzen. Ebensowie ihre Plattenfirma, nämlich als sogenannter Ton-trägerhersteller.Die Aufnahme der Beatles wurde erstmals am2. März 1964 in den USA veröffentlicht. Sie wäre nachdem alten Recht nur noch bis zum 31. Dezember 2015geschützt gewesen, jedenfalls in Europa; denn in denUSA beträgt die Schutzfrist ohnehin 95 Jahre. Mit derVerlängerung der Leistungsschutzrechte von 50 auf70 Jahre wird sie nunmehr auch in Europa bis 2035geschützt sein.Cui bono? Die meisten ausübenden Künstler verdie-nen an ihren Leistungsschutzrechten ziemlich wenig.Universal, Sony und Warner Music streichen bis zu72 Prozent der Einnahmen aus verwandten Schutz-rechten ein. Das erfolgreichste Fünftel der Künstlererhält weitere 24 Prozent. Die verbleibenden 4 Prozentkommen bei 80 Prozent der ausübenden Künstler an.Diese Zahlen können Sie einer Studie entnehmen, dieunter Federführung des Centre for IntellectualProperty Policy & Management an der BournemouthUniversity entstanden ist.Die Rechte an den Beatles-Songs liegen heute zumgroßen Teil bei Sony/ATV, einem Joint Venture vonSony mit dem Jackson Estate, der das Erbe vonMichael Jackson verwaltet. Anscheinend gilt das auchfür „Twist and Shout“, obwohl ich Ihnen das nicht mitSicherheit sagen kann, da ich die Verträge natürlichnicht kenne. Aber etwas anderes kann ich Ihnen mitSicherheit sagen: dass weder Sony noch die Beatlesam Hungertuche nagen. Die Rechte an Beatles-Aufnahmen werden heute etwa auf das 500 000-Facheder ursprünglichen Wertsumme geschätzt.Wenn Sie Kreative schützen wollen, indem Sie dasSchutzniveau immer weiter hinaufsetzen, dann sind Sieauf dem Holzweg. Schutzfristen zu verlängern oderden Schutzumfang zu erweitern, ihn auf immer kleinereElemente auszudehnen, auf einzelne Wörter oderSoundschnipsel – all das bringt nichts außer gesell-schaftlichen Kollateralschäden. Sorgen Sie stattdessenlieber dafür, dass von dem Geld, das mit Urheber- undLeistungsschutzrechten verdient wird, mehr dort an-kommt, wo es dringend benötigt wird! Nämlich nichtbei den großen Stars und Unternehmen, sondern beiden vielen unbekannten Urhebern und Künstlern, dievon ihrer Arbeit tatsächlich kaum leben können. Stär-ken Sie nicht die Major Labels, stärken Sie die Rechteder Kreativen im Urhebervertragsrecht!
Die Geschichte des Urheberrechts ist auch eine Ge-schichte fortwährender Schutzfristverlängerungen.Die Reformen des Urheberrechts der letzten Jahr-zehnte haben gleich mehrfach zu einer Verlängerungder Schutzfristen geführt. So betrug die Regelschutz-frist urheberrechtlich geschützter Werke Anfang desletzten Jahrhunderts noch 30 Jahre – heute sollen mitdiesem Gesetzentwurf sogar die Schutzfristen der ton-trägerherstellenden Leistungsschutzberechtigten aufnunmehr 70 Jahre angehoben werden.Argumentiert wird bei der wiederholten Verlänge-rung der Schutzfristen von Urhebern und Leistungs-schutzberechtigten häufig mit der gesteigerten Lebens-erwartung, bei Schutzfristverlängerungen post mortemmit dem Urheberpersönlichkeitsrecht oder mit der Ver-gleichbarkeit zum Sacheigentum, bei der heute anste-henden Verlängerung mit einer angeblich nötigen Har-monisierung. Schutzfristen haben zwar einerseits fürdie Mitglieder der Familie des Urhebers die Funktioneiner sozialen Absicherung und bilden oft den Haupt-inhalt des Erbes, das grundsätzlich unter gesetzlichemSchutz steht; andererseits schwindet nach dem Tod derpersonale Bezug zwischen dem Urheber und seinemWerk, weshalb besonders Fristverlängerungen postmortem problematisch sind.Tatsächlich hat die Verlängerung der Schutzfrist fürLeistungsschutzberechtigte, die wir heute diskutieren,deutlich weniger mit der Stärkung der im Musikbe-reich tätigen Künstlerinnen und Künstler zu tun, alsdie Koalition den Anschein zu wecken versucht. Viel-mehr ist sie das Ergebnis konsequenter Lobbyarbeitder Major Labels auf nationaler, supra- und interna-tionaler Ebene. Sie mündete in der Richtlinie 2011/77/EUvom 27. September 2011, welche die Schutzdauerricht-linie 2006/116/EG ändert und von den Mitgliedstaateneine entsprechende Anpassung nationalen Urheber-rechts fordert.So werden mit dem heute vorliegenden Umsetzungs-gesetz auch und insbesondere die Schutzfristen fürleistungsschutzberechtigte Tonträgerhersteller von50 auf 70 Jahre ab Erstveröffentlichung verlängert.Hier zeigt sich mehr als deutlich, dass der Vergleichmit dem Sacheigentum oder dem Urheberpersönlich-keitsrecht hinkt – geht doch die Richtlinie auf Initiati-ven derjenigen zurück, die die Pressrechte an Tonträ-gern von Beatles-Liedern halten und daraus nocheinige Jahre mehr Gewinn erzielen möchten.Wir müssen bedenken, dass alle Schutzfristverlän-gerungen der Gemeinfreiheit neue Grenzen setzen, ob-wohl die Gemeinfreiheit in Wissensgesellschaften vonintegraler Bedeutung ist. Schließlich wird die Durch-setzung der Urheberrechte in der Zeit einer fortschrei-tenden Digitalisierung und Globalisierung immerschwieriger und kollidiert mit datenschutzrechtlichensowie bürgerrechtlichen Vorgaben. Auch geistigeWerke der Literatur und der Musik gehören, mit glei-chem Anspruch auf Achtung, zum geistigen Erbe vonKultur- und Sprachgemeinschaften, ohne dass einzelneZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29859
Jerzy Montag
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Rechteinhaber dies reglementieren oder lizensierendürften. Die Welt der Kultur sähe arm aus, wenn Werkevon Goethe oder Mozart nicht der Allgemeinheit gehö-ren würden, wenn sie nicht gemeinfrei wären.Wir Grünen werden uns daher auch weiterhin aufeuropäischer und internationaler Ebene dafür einset-zen, dass es zu einer Kehrtwende im Bereich derSchutzfristen kommt, um bei gleichzeitiger Stärkungder Urheberinnen und Urheber gegenüber den Ver-wertern mehr Raum für Kreativität und Gemeinsinn zuschaffen und zu verhindern, dass Gesetze lediglich zu-gunsten der großen Plattenfirmen gemacht werden.Immerhin wird den Urhebern als Ausgleich für dieSchutzfristverlängerung eine Beteiligung an den Erlö-sen und ein Kündigungsrecht zugestanden, wenn derTonträgerhersteller es unterlässt, Kopien des Tonträ-gers in ausreichender Menge zum Verkauf anzubieten.Meine Bedenken bezüglich der Ausgestaltung desKündigungsrechts von Künstlergemeinschaften, wel-che ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzent-wurfs geäußert habe, wurden aufgenommen und sindin einen Änderungsantrag der Regierungskoalitioneneingeflossen. So ist sichergestellt, dass das Kündi-gungsrecht beispielsweise von Orchestermitgliedern50 Jahre nach der Aufnahme nicht faktisch leerläuft.Wenn wir heute über den Gesetzentwurf der Bun-desregierung diskutieren, so dürfen wir nicht lediglichals Urheberrechtler, sondern müssen auch als Euro-päer diskutieren. Die EU-Richtlinie, die diesemGesetzentwurf zugrunde liegt, lässt keinerlei Um-setzungsspielraum zu. Sie fordert klar und ohne Inter-pretationsmöglichkeit, die Zahl 50 durch die Zahl 70auszutauschen. Europarechtlich ist dies ein gewollterund aus den europäischen Verträgen resultierenderVorgang der fortschreitenden Vereinheitlichung in derEuropäischen Union.So müssen wir als Europäer auch zur Kenntnis neh-men, dass sich der Umsetzungsauftrag dieser Richtli-nie eben nicht lediglich an die Bundesregierung odernur an die sie tragende Koalition, sondern an das ge-samte Parlament richtet. Dieser europäischen Verant-wortung können und wollen wir Grüne uns nicht ent-ziehen. Deshalb werden wir als Europäer heute diesemGesetz zustimmen, auch wenn wir uns als Urheber-rechtler deutlich gegen Schutzfristverlängerungenaussprechen.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/13270, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12013 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition und der Grünen
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor an-
genommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tag der Befreiung muss gesetzlicher Gedenk-
tag werden
– Drucksachen 17/585, 17/12908 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Auch hier werden die Reden, wie in der Tagesord-
nung ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag derFraktion Die Linke. Die Fraktion Die Linke fordert inihrem Antrag, dass der Tag der Befreiung ein gesetzli-cher Feiertag werden muss.Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehr-macht bedingungslos. Mit der Unterzeichnung der be-dingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmachtwurde der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet.In den Folgejahren wurden zuerst Besatzungszonengebildet, und wenig später, nämlich im Jahr 1949, ent-standen zwei deutsche Staaten. Mit der Bildung derzwei Staaten ging die Etablierung unterschiedlicherLebensformen sowie persönlicher Entwicklungen undErfahrungen einher. Für den Zeitraum der TeilungDeutschlands war ein gemeinsamer Feier- oder Ge-denktag praktisch unmöglich.Unbestritten ist der 8. Mai in zahlreichen LändernEuropas ein Gedenktag. Dabei wird in erster Linie andie bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehr-macht und damit einhergehend an das Ende des Zwei-ten Weltkriegs in Europa erinnert. Auch in der Bundes-republik Deutschland wird Jahr für Jahr an den 8. Maierinnert. Zweifelsfrei ist dies ein Tag der Mahnung,dass Antisemitismus und Rassismus keinen Platz in un-serer Gesellschaft haben dürfen.In der Bundesrepublik Deutschland war der 8. Mai1945 seit der Staatsgründung 1949 zu keinem Zeit-punkt ein Feiertag. In der ehemaligen DDR wurde der
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29860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Manfred Behrens
(C)
(B)
8. Mai bis 1966 und einmalig im Jahre 1985 als Feier-tag begangen.Mit dem vorliegenden Antrag verfolgt die FraktionDie Linke das Ziel, den früheren Gedenktag in der ehe-maligen DDR wieder einzuführen. Aber dies ist untermehreren Aspekten nicht plausibel und politisch damitnicht zu vertreten. Denn der 8. Mai 1945 war für vieleDeutsche auf dem Gebiet der späteren DDR nur be-dingt ein Tag der Freiheit. Denn die Gefängnisse, wel-che bis 1945 mit Opfern des Nationalsozialismus be-legt waren, wurden später mit Kritikern des DDR-Regimes gefüllt. Von daher ist es eine berechtigteFrage, ob der 8. Mai für alle Deutschen als Tag derBefreiung zählen kann.Die CDU/CSU-Bundesfraktion hat in der Beschluss-empfehlung und im Bericht des Innenausschusses ge-gen den Antrag der Fraktion Die Linke gestimmt. DieCDU/CSU sieht keine Notwendigkeit für einen neuenund damit weiteren gesetzlichen Feiertag in der Bun-desrepublik Deutschland. Insbesondere vor der histo-rischen Teilung der deutschen Staaten und der Tatsa-che, dass die Bewohner der ehemaligen DDR erst ab1989 die Chance erhielten, eine Demokratie aufzu-bauen, erscheint der Antrag nicht schlüssig.Final bleibt damit festzuhalten, dass die CDU/CSU-Bundesfraktion den Antrag der Fraktion Die Linke aufBundestagsdrucksache 17/585 ablehnt.
Der 8. Mai 1945 war der Tag, der die nationalsozia-listische Schreckensherrschaft beendet hat, ein Tag,der eine Wende für Deutschland bedeutete.Leider führte das Ende der Zeit der Nationalsozia-listen und das Ende des Zweiten Weltkrieges auchdazu, dass Deutschland geteilt wurde. Diese Trennungkonnte zum Glück mit der Wiedervereinigung beendetwerden.Ganz Deutschland ist heute ein angesehenes, souve-ränes, demokratisches und rechtsstaatliches Land. Eswird respektiert in der ganzen Welt.Der 8. Mai hat für Deutschland zwei Bedeutungen:Zum einen ist der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiungvon einer menschenverachtenden Gewaltherrschaftder Nationalsozialisten; zum anderen ist der 8. Mai1949 der Tag, an dem der Parlamentarische Rat unserGrundgesetz, unsere demokratische, auf den Men-schenrechten basierende Verfassung, beschlossen hat.Seit 1996 ist der 27. Januar gesetzlicher Gedenktag.Es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Natio-nalsozialismus; denn 1945 wurde an diesem Tag dasKonzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Seit2005 ist dieser Tag auch Internationaler Tag des Ge-denkens an die Opfer des Holocaust.Der Deutsche Bundestag erinnert jährlich in einerGedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus;rund um dieses Datum finden zahlreiche Veranstaltun-gen statt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.Und nun wollen Sie von der Linksfraktion, dass der8. Mai auch ein gesetzlicher Gedenktag wird. Doch ichmeine, wir brauchen keinen weiteren Gedenktag; wirbrauchen ein lebendiges Gedenken, und das nicht nuran einem Tag mit besonderer historischer Bedeutung,sondern an jedem Tag.Sie schreiben in der Begründung Ihres Antrags,dass es in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr gäbeund deshalb ein solcher Gedenktag für die gesell-schaftspoltische Diskussion wichtig sei. Das sehen wiranders.Zeitzeugen spielen immer noch eine wichtige Rollebei der Vermittlung der nationalsozialistischen Ver-gangenheit unseres Landes. Doch brauchen wir keinenweiteren Gedenktag, sondern zusätzliche und neueFormen, um junge Menschen über diese dunkelste Zeitder deutschen Vergangenheit zu informieren und überdie Gefahren des Nationalsozialismus und Rechts-extremismus aufzuklären.Richard von Weizsäcker hat in seiner beeindrucken-den Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundes-tag angemahnt, die Erinnerung wachzuhalten: „Wersich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, derwird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“Das müssen und werden wir mit allen Mitteln zuverhindern suchen.Wolfgang Thierse erklärte als damaliger Bundes-tagspräsident zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945:„Die Bewahrung der Erinnerung und das Gedenkenan die Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg – sieverpflichten uns zur Verteidigung der Demokratieheute und zu aktiver Friedenspolitik heute.“Leider gibt es immer noch Menschen in unseremLand, die die Verbrechen der Vergangenheit leugnen,die NS-Schreckensherrschaft glorifizieren, menschen-verachtende Ideologien vertreten und für sie kämpfen,sich von rechtsextremem Gedankengut anstecken las-sen.Das wissen wir nicht erst seit dem Aufdecken derNSU-Morde. Seit 1990 gab es nach Recherchen von„Mut gegen rechte Gewalt“ und der Amadeu-Antonio-Stiftung 183 Morde mit rechtsextremem und rassis-tischem Hintergrund; eine höhere Dunkelziffer ist zubefürchten. Die Zahl der rechtsextremen Straftaten istin 2012 um 4 Prozent auf 17 600 Fälle gestiegen.Unsere Aufgabe als Politik, Staat und Gesellschaftist es, die Erinnerung wachzuhalten. Das ist aber nurdas eine. Wir müssen auch aktiv gegen rechtsextremes,rassistisches, antisemitisches und fremdenfeindlichesGedankengut vorgehen.Wir müssen die Menschen ermutigen, für unsere De-mokratie einzustehen, für sie zu kämpfen. Ohne gesell-schaftliches Engagement werden wir nichts erreichenkönnen. Und wir als Politikerinnen und Politiker, wirmüssen die Hürden für Engagement gegen Rechts undgegen die Verherrlichung der NS-Zeit senken.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29861
Gabriele Fograscher
(C)
(B)
Die seit 2001 von den jeweiligen Bundesregierun-gen durchgeführten Modellprojekte gegen Rechts-extremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlich-keit haben schon einiges erreicht. Doch mit befristetenModellprojekten allein kommen wir nicht weiter. Wirbrauchen eine langfristige Förderung von erfolgrei-chen Projekten, die Streichung der Extremismusklau-sel und die Möglichkeit, auch ohne Kofinanzierungdurch Länder und Kommunen Projekte zu finanzieren.Wir müssen das Bewusstsein und die Sensibilität hin-sichtlich des Rechtsextremismus und seiner Gefahrenfür Vertreter aller Bereiche des öffentlichen Lebensstärken.Die Erinnerung, die Aufklärung und das aktiveHandeln können ein Wiedererstarken des Rechtsextre-mismus verhindern. Ein gesetzlicher Gedenktag ist zuwenig. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linksfrak-tion ab.Schließen möchte ich mit Worten von Richard vonWeizsäcker: „Es gibt keine endgültig errungene mora-lische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land!Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Men-schen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdun-gen immer von neuem zu überwinden.“
Die erste Debatte im Mai 2010 zum heute ab-
schließend zu beratenden Antrag der Linksfraktion de-
monstrierte eindrücklich, wie vielschichtig der 8. Mai
1945 in der deutschen Erinnerungskultur diskutiert
wird und auch betrachtet werden sollte. Abgeordnete
berichteten zum Teil sehr persönliche Erinnerungen
und Eindrücke.
Dr. Lukrezia Jochimsen von der Linksfraktion schil-
derte beeindruckend, wie sie das Kriegsende an die-
sem Tag als neunjähriges Kind in einem Tagebuchein-
trag als „schweren Tag für alle Deutschen“ bezeichnet
hatte. Sie beschrieb ihre Überraschung später in der
Rückschau, dass Ängste vor Rache oder Vergeltung,
die vielleicht aus diesem Tagebucheintrag gesprochen
hatten, für sie unbegründet blieben. Sie sagte: „Fast
ungläubig stellten wir von nun an von Jahr zu Jahr an
jedem 8. Mai fest, wie gut mit uns umgegangen wurde,
wie schonend, wie auf die Zukunft setzend.“ Sie erlebte
des Kriegsende in Westdeutschland, in Frankfurt am
Main.
Joachim Selle von der CDU/CSU-Fraktion be-
schrieb aus eigener Erfahrung, mit welch verzerrter
Wahrnehmung dieser Tag in der DDR begangen
wurde. In der DDR wurde am 8. Mai, dem dort soge-
nannten Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom
Hitlerfaschismus, nicht der Beitrag aller Alliierten zur
Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherr-
schaft gewürdigt. Es wurde nicht berücksichtigt, dass
Stalin zwar entscheidend zum militärischen Sieg über
den Nationalsozialismus beigetragen hatte, wie der
Historiker Hubertus Knabe feststellt, diesen Sieg aber
zur Errichtung einer neuen Diktatur nutzte, die viele
Millionen Opfer forderte. Dieser Teil der Geschichte
wurde in der DDR ausgespart. Stattdessen erging sich
die SED-Einheitspartei in Glorifizierungen der
Sowjetunion und der Roten Armee und nutzte den anti-
faschistischen Gründungsmythos zur Befestigung ihrer
Diktatur. Für 16 Millionen Ostdeutsche kam der demo-
kratische Wiederaufbau erst ab 1989.
Richard von Weizsäcker definierte in seiner bemer-
kenswerten Rede vor dem Deutschen Bundestag zum
40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 den
8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung von dem men-
schenverachtenden System der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft“ für alle Deutschen, für West- wie
für Ostdeutschland und darüber hinaus. Er stellte
auch fest, dass wir im Ende des Krieges nicht die Ur-
sache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen
dürfen, sondern sie in seinem Anfang sehen müssen.
Daran gibt es keinen Zweifel.
Dennoch müssen wir den Tag der Befreiung in sei-
ner Bedeutung für West- und Ostdeutschland vor dem
Hintergrund der unterschiedlichen Geschichte der bei-
den Teile Deutschlands differenziert betrachten. Vor
diesem Hintergrund ist der 8. Mai nicht als gesetzli-
cher, staatlich verordneter Gedenktag geeignet. Das
ändert nichts an der wichtigen Bedeutung dieses Ta-
ges.
Seit der ersten Beratung des Antrags der Linksfrak-
tion im Plenum vor etwa zwei Jahren hat sich unsere
Haltung nicht geändert: Wir Liberale halten die staat-
liche Verordnung eines Gedenktages am 8. Mai nicht
für den richtigen Weg, mit diesem geschichtsträchtigen
Datum umzugehen. Eine lebendige und aktive Erinne-
rungspolitik aus der Mitte der Gesellschaft, wie sie in
vielen gesellschaftlichen Initiativen in jedem Jahr und
nicht nur am 8. Mai zum Ausdruck kommt, ist uns
wichtiger. In unserer Gesellschaft möchten wir die
Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit
und mit dem schweren Erbe fördern, das der National-
sozialismus uns hinterlassen hat. Dieser Verantwor-
tung müssen wir uns täglich neu stellen, ob im Wider-
stand gegen den Rechtsextremismus in unserer
Gesellschaft oder bei der bedingungslosen Aufklärung
der grauenhaften Gewalttaten durch die NSU-Terror-
zelle, an der alle Fraktionen des Deutschen Bundesta-
ges im NSU-Untersuchungsausschuss gemeinsam ar-
beiten.
Bundeskanzlerin Merkel ist in vielen europäischenLändern, die unter dem deutschen Spardiktat leiden, zueiner Hassfigur geworden. Die bittere Medizin, die dieKanzlerin den Krisenländern verabreicht, hat die Lagein fast allen Ländern dramatisch verschlechtert. Denreichen Gläubigern, die in der Regel in Deutschlandleben, wird geholfen, die Schuldner werden ihremSchicksal überlassen. Zum Beispiel bekam Portugal28 Milliarden Euro im vergangenen Jahr an „Hilfsgel-dern“. Davon flossen 0,8 Milliarden Euro in den por-tugiesischen Staatshaushalt, und 27,2 Milliarden Euroflossen an die Gläubiger.Zu Protokoll gegebene Reden
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29862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Gesine Lötzsch
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Mit großer Härte und Hochmut wird eine zerstöreri-sche Politik von der Bundesregierung halsstarrig fort-gesetzt. Auf Demonstrationen in Spanien, Portugal,Griechenland, Zypern und Italien wird gegen die de-saströse Kürzungspolitik demonstriert. Auf Plakatenwird das Gesicht von Frau Merkel mit Hitler-Bärtchenverunstaltet. Darüber kann man sich empören, manmuss aber auch darüber nachdenken.Wir machen uns große Sorgen, dass die Bundes-regierung den guten Ruf unseres Landes vollständigverspielt und Deutschland in Europa und darüber hi-naus isoliert. Wir brauchen einen Bruch mit dieserPolitik. Die Kanzlerin darf nicht länger die selbstherr-liche Oberlehrerin geben.Doch die grundsätzliche Änderung der Politik al-lein reicht noch nicht aus, um den angeschlagenen RufDeutschlands wiederherzustellen. Es bedarf einerdeutschen Geste der Dankbarkeit gegenüber unsereneuropäischen Nachbarn. Jetzt wäre es an der Zeit, eindeutliches Zeichen zu setzen. Wenn Deutschland zei-gen würde, dass es die weltweite Hilfe zur restlosenZerschlagung des schlimmsten Terrorregimes in derGeschichte der Menschheit, des Faschismus, als eineBefreiung begreift, dann würde das auch als ein Aktder Demut verstanden werden.Die Linke hatte 2010 den Vorschlag gemacht, demBeispiel der SPD-Linke-Regierung in Mecklenburg-Vorpommern zu folgen und den Tag der Befreiung zueinem gesetzlichen Gedenktag zu machen. Unser Vor-schlag wurde im Innenausschuss des Bundestages vonallen anderen Parteien abgelehnt. Bemerkenswert ist,dass die Vertreter von SPD und Grünen im Kulturaus-schuss sich der Stimme enthalten haben. Das ändertleider auch nichts an dem Ergebnis.Die Bundesregierung will keinen gesetzlichen Ge-denktag zum Tag der Befreiung. Für sie ist das Endedes 2. Weltkrieges immer noch nur eine Niederlage.Wir könnten am Tag der Befreiung unsere Dankbar-keit gegenüber Menschen und Völkern äußern, die unsdamals befreit haben.Die Bundesregierung vermittelt den Eindruck, alsob Deutschland aus eigener Kraft den Wohlstand er-reicht hätte. Ohne die Befreiung vom Faschismuskönnten wir heute nicht unsere Freiheit genießen.Ohne die Hilfe nach dem 2. Weltkrieg hätten wir jetztnicht den Wohlstand für zumindest zwei Drittel der Ge-sellschaft.Es ist ja nicht nur das Verhältnis Deutschlands zuden EU-Ländern zerrüttet, auch das Verhältnis zwi-schen Russland und Deutschland ist auf einem Tief-punkt. Die Sowjetunion hat ohne Frage den größtenBeitrag zur Zerschlagung des Faschismus geleistet.Diese Leistung wurde von der Bundesregierung nieanerkannt.Mit dem Tag der Befreiung als gesetzlichem Ge-denktag könnten wir einen Neuanfang in den Bezie-hungen zwischen Deutschland und Russland einleiten.Doch das ist von der Bundesregierung nicht gewollt.Wir als Die Linke werden am 8. Mai 2013, wie jedesJahr, mit vielen Menschen den Tag der Befreiung fei-ern. Wir werden der Menschen gedenken, die ihr Le-ben gegeben haben, damit wir heute in Freiheit lebenkönnen.
Dieser Antrag, in all seiner Kürze, ist ein ganz klas-sisches Produkt aus der Geschichtswerkstatt derLinkspartei: formal ziemlich unsinnig, geschichtspoli-tisch einseitig und in der Botschaft deswegen höchstfragwürdig.Das Formale mal vorweg: Dass die Linkspartei im-mer beantragt, dass der Bundestag als Legislativedoch die Bundesregierung als Exekutive ersuchenmöge, einen Gesetzentwurf vorzulegen, daran habenwir uns gewöhnt. Das kann man ja noch rechtfertigen,wenn es um ein kompliziertes Artikelgesetz geht, dakann man ja sagen: Das kann eine Oppositionsparteikaum stemmen, dazu braucht es den Regierungsappa-rat. Das kann man aber bei der Komplexität dieses An-trags wohl kaum ins Feld führen.Aber offenbar überfordert auch die Ausrufung einesGedenktages die Geschäftsordnungskenntnisse derAntragsteller. Denn sie könnten schon wissen, dass esder Bundespräsident ist, der einen Gedenktag prokla-miert, da braucht es kein Gesetz. Das könnten Sie ganzbesonders deshalb wissen, weil die Fraktion Die Linkekürzlich auch die Initiative für einen Gedenktag18. März unterstützt hat, der war nämlich formal – in-haltlich natürlich auch – richtig.Sei es, wie es sei, für uns macht sich die AblehnungIhres Antrags an seinem Inhalt und seiner Begründungfest, nicht an diesen formalen Skurrilitäten.Klar ist: Unsere Ablehnung hat nichts damit zu tun,dass wir nicht auch der Meinung wären, dass der8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Diese richtigeBewertung des endgültigen Endes des Naziregimes hatder damalige Bundespräsident von Weizsäcker 1985 inseiner beeindruckenden Rede in eindrucksvoller Weisegetroffen und hat damit das gesellschaftliche Selbst-verständnis in unserem Land verändert. Was bis dahinviele dachten, was aber die Ewiggestrigen nicht wahr-haben und nicht laut ausgesprochen haben wollten,wurde so zum breit getragenen Konsens.Und das ist eben das Problem mit Ihrem Antrag: Sietun so, als habe es das alles nicht gegeben! Als seiennicht in der Bundesrepublik lange und erfolgreicheKämpfe um die Deutung des Nazisregimes geführtworden, an deren Ende nun wirklich jeder sagt: Daswar ein menschenverachtendes System des Völkermor-des, sein Untergang war eine Befreiung.Sie stellen es in Ihrer Begründung so hin, als sei dasalles umstritten, als würde die ganze Gesellschaft– und nicht nur eine Handvoll Ewiggestrige – denZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29863
Wolfgang Wieland
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8. Mai immer noch als Niederlage bewerten. Die De-batten, die Sie angeblich auslösen wollen, die werdenaktiv geführt. Und die hochbetagten Zeitzeugen insFeld zu führen, ist nun auch ganz billig. Gerade dasGedenken, das sie verkörpern, das Gedenken an dasMordsystem Nationalsozialismus, das ist zu Recht mitdem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar verbunden.An diesem Tag geht es um die Opfer des NS-Regimes,um die Menschen, die unter dem System gelitten habenund in seinen Lagern ermordet wurden. Das ist derrichtige Tag, um die historische Lektion des National-sozialismus in Erinnerung zu behalten.Sie unterstellen etwas, das nicht zutrifft, und forderndann im hohen Ton des historischen Rechthabens ganzdringend eine Korrektur. Das ist die Attitüde diesesAntrags, das wird aber der Sache nicht gerecht, das istnur selbstgerecht!Und es kommt noch schlimmer, es gibt noch eineganz andere Dimension dieser Frage in der Linkspar-tei – darauf hat mich der Kollege Bartsch kürzlich inder Debatte über die Aufarbeitung des SED-Unrechtswieder gestoßen –; Sie verbinden mit dem 8. Mai ganzoffenbar auch, dass er in der DDR als Tag der Befrei-ung begangen wurde. Und auch darauf kochen Sie IhrSüppchen.Den 8. Mai als Tag der Befreiung zu begehen, warzwar richtig. Aber Ihnen dient diese Tatsache als Fas-sade, hinter der Sie verbergen können, dass in derDDR ein System der Unterdrückung und Entrechtungwirkte, das Sie und Ihre Altvorderen zu verantwortenhaben. Es spricht Bände über Ihr Selbstverständnisund Ihr Geschichtsbild, dass Sie auf der einen Seite ei-nen unreflektierten, ja reaktionären Umgang mit derGeschichte in der Bundesrepublik unterstellen undJahrzehnte der Debatte nicht zur Kenntnis nehmenwollen. Auf der anderen Seite nehmen Sie den allzu oftnur oberflächlich wirksamen, staatlich verordnetenAntifaschismus in der DDR für bare Münze und wollensich selbst damit entlasten. Als hätte das verordnete,verquaste, marxistische Geschichtsbild der SED ir-gendetwas mit der Beschreibung der Realität zu tun!Natürlich gab es in der DDR unzählige Naziopferund Antifaschisten, die mit dem neuen Staat eine Über-windung von Entrechtung und Gewalt erkämpfen woll-ten, das ist unbestritten. Aber Sie missbrauchen dieseMenschen, wenn gerade Sie als Nachfolger der SED sotun, als habe das von Ihren Vorgängern betriebene Un-terdrückungssystem irgendetwas mit solchem Idealis-mus zu tun gehabt!
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12908, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/585 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist gegen die Stimmen der Linken mit den Stim-
men der übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Handelsgesetz-
buchs
– Drucksache 17/13221 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Handelsgesetzbu-ches wird ein wichtiger Gesetzentwurf im Interessekleiner Unternehmen und kleiner Unternehmer vorge-legt. Dies ist eine gute Nachricht. Mit dem Änderungs-gesetz zum Gesetz über elektronische Handelsregisterund Genossenschaftsregister sowie das Unterneh-mensregister werden wir entbürokratisieren und dieVerfahrensabläufe bei der Offenlegung von Rech-nungslegungsunterlagen erleichtern.Der Deutsche Bundestag hat 2006 ein Gesetz überelektronische Handelsregister und Genossenschaftsre-gister sowie das Unternehmensregister, das EHUG, be-schlossen, das grundlegende Änderungen des Verfah-rens zur Durchsetzung der Pflichten insbesondere derKapitalgesellschaften zur Offenlegung ihrer Rech-nungsunterlagen mit sich brachte. Durch das EHUGwurde das Bundesamt für Justiz mit der Durchsetzungder Offenlegungspflichten betraut. Seit Inkrafttretendes EHUG können wir feststellen, dass über 90 Pro-zent der betroffenen über 1,1 Millionen Kapitalgesell-schaften ihre Rechnungslegungsunterlagen rechtzeitigoffenlegen.Nachdem inzwischen fünf Jahre seit Einführung desEHUG verstrichen sind, hat der Deutsche Bundestagin seiner Entschließung vom 29. November 2012
festgestellt, dass etwaiger Än-
derungsbedarf an dem seit 2006 geltenden Ordnungs-geldverfahren zu prüfen war. Änderungsbedarf hat derDeutsche Bundestag nunmehr in drei Bereichen festge-stellt.Erstens sollten die Mindestordnungsgelder fürKleinstkapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesell-schaften deutlich gesenkt werden, wenn diese Unter-nehmen am Verfahren der Offenlegung ihrer Rech-nungsunterlagen mitwirken. Nach derzeit geltendemRecht beträgt das Mindestordnungsgeld unabhängigvon der Unternehmensgröße stets 2 500 Euro. Nachdem Gesetzentwurf soll das Mindestordnungsgeld fürKleinstkapitalgesellschaften auf 500 Euro gesenktwerden.
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29864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Stephan Harbarth
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Zweitens werden Fragen zum Verschulden und derWiedereinsetzung in den vorigen Stand geregelt. Damitkönnen unbillige Härten durch knappe Fristen aufge-fangen werden. Das Instrument der Wiedereinsetzungwürde dem Bundesamt die Möglichkeit geben, den Be-sonderheiten des Einzelfalles besser als bisher gerechtzu werden.Drittens sollte ein Verfahren geschaffen werden, umeine einheitliche Rechtsprechung in Ordnungsgeldver-fahren zu erreichen. Zwar sieht das EHUG jetzt schonvor, dass nur das für den Sitz des Bundesamtes für Jus-tiz zuständige Landgericht Bonn über Beschwerdengegen Ordnungsgeldentscheidungen des Bundesamteszu entscheiden hat. Die große Zahl der Verfahren unddie Befassung mehrerer Kammern des Landgerichtshat in den vergangenen Jahren jedoch in wichtigenEinzelfragen zu einer uneinheitlichen Rechtsprechunggeführt. Ziel ist es, ein Verfahren zu schaffen, durchdas beispielsweise bei einer Divergenz zwischen ein-zelnen Kammern eine einheitliche Entscheidung er-reicht wird. Das hilft betroffenen Unternehmen, damitsie sich auf eine möglichst einheitliche Rechtspre-chung verlassen können.Es freut mich sehr, dass die Änderungen zu einerspürbaren Verbesserung der Rechtslage im Bereichder kleinen Unternehmen führen werden. Ich bin da-von überzeugt, dass dies ein richtiger Schritt ist, undfreue mich auf die parlamentarischen Beratungen.
Alle Kapitalgesellschaften und Personenhandelsge-sellschaften ohne haftende natürliche Person, GmbHund Co KG, müssen ihren kaufmännischen Jahresab-schluss im elektronischen Bundesanzeiger offenlegenoder mindestens dort hinterlegen. 90 Prozent der Un-ternehmen kommen diesen Pflichten reibungslos nach.In den letzten Jahren gab es öfter Verdruss, wennkleine Unternehmen gegen diese Pflicht verstoßenhaben. Das Bundesamt für Justiz musste dann nach§ 335 HGB ein Ordnungsgeldverfahren durchführen.Das Ordnungsgeld beträgt mindestens 2 500 Euro undhöchstens 25 000 Euro.Bereits bei den Beratungen zum Kleinstkapitalge-sellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz oder Micro-BilG hatte der Bundesrat geringere Bußgeldhöhen beisogenannten ruhenden Gesellschaften gefordert, dieGrünen haben darüber hinaus in einem Antrag imDeutschen Bundestag mehr Ermessen des Bundesam-tes für Justiz gefordert. Das MicroBilG wurde zwarohne Rücksicht auf diese Änderungswünsche verab-schiedet, aber die Koalitionsfraktionen haben immer-hin die Regierung in einem Entschließungsantrag auf-gefordert, einen Gesetzentwurf mit Erleichterungenhinsichtlich Ordnungsgeldhöhe und Ordnungsgeldver-fahren vorzulegen, hier insbesondere unter Berück-sichtigung der Erforderlichkeit eines Verschuldens undder Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigenStand bis März 2013 vorzulegen, inklusive Regelun-gen, die eine einheitliche Rechtsprechung ermögli-chen.Der Gesetzentwurf setzt diesen Antrag um, aller-dings nicht sehr großzügig: Bei Nichtverschulden gibtes nun die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in denvorigen Stand, das ist gut. Wenn die Unternehmennach Androhung des Ordnungsgeldes, bei der einesechswöchige Frist gesetzt wird, diese zwar über-schreiten, aber die Offenlegung nachholen, bevor dasBundesamt weitere Schritte eingeleitet hat, beträgt dasMindestbußgeld nur 500 Euro bei Kleinstkapital-gesellschaften bzw. 1 000 Euro bei kleinen Kapitalge-sellschaften.Außerdem gibt es gegen die Beschwerdeentschei-dung des Landgerichts nun die Möglichkeit derRechtsbeschwerde zum OLG – aber nur dann, wenndas Landgericht sie zugelassen hat.Der Gesetzentwurf geht eindeutig in die richtigeRichtung, tastet sich aber zu behutsam vor. Ich nehmean, dass das Bundesministerium der Justiz befürchtet,bei genereller Herabsetzung der Ordnungsgelder– auch wenn nicht offengelegt wird – das ganze Ver-fahren zum zahnlosen Tiger werden zu lassen. Ich kannverstehen, wie man auf diesen Gedanken kommt, aberich teile die Befürchtung nicht. Wichtiger wäre esgewesen, im Interesse einer europaweit gültigen Re-gelung die Akzeptanz insbesondere bei den Kleinst-kapitalgesellschaften durch ein vernünftiges Maß beimOrdnungsgeld und einen Schwerpunkt auf nachvoll-ziehbares Verfahren zu fördern.Die Erleichterungen, die der Gesetzentwurf schafft,sind zu gering. Die SPD-Bundestagsfraktion ist insbe-sondere der Auffassung, dass die Rechtsbeschwerdeohne Zulassung möglich sein sollte. Denn auch bei ei-ner Verurteilung in einem normalen Bußgeldverfahrenist die Rechtsbeschwerde ohne Zulassung schon ab ei-nem Bußgeld von 250 Euro zulässig. Hier geht es auchnach der Änderung um mindestens 500 Euro.Beim Mindestbußgeld fragen wir uns, warum Siedie 2 500 Euro nicht auch auf 1 000 Euro herabsetzenund dem Bundesamt für Justiz bei Miniunternehmenoder ruhenden Unternehmen mehr Spielraum gebenkonnten. Wir wissen von vielen kleinen Unternehmen,die mit der Veröffentlichungspflicht ihrer Daten ha-dern – nicht weil sie böswillig ihrer Pflicht nicht nach-kommen wollen, sondern weil sie schlecht informiertsind, den Zwang der Übermittlung sensibler Unterneh-mensdaten an ein privates Unternehmen nichteinsehen, mit den umständlichen und wirklich nutzer-feindlichen Verfahren zur Übermittlung der Jahres-abschlussdaten überfordert sind oder Wettbewerbs-nachteile durch die Veröffentlichung allzu detailliertersensibler Unternehmensdaten fürchten. Sie sollten mitIhrem Gesetzentwurf, den wir im Kern sehr begrüßen,den politischen Spielraum ausnutzen und die Chancewahrnehmen, diesen Unternehmen zu helfen, ihreOffenlegung auf europaweit einheitlichem Niveau vor-zunehmen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29865
(C)
(B)
Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Koali-
tionsfraktionen zur Reform des Ordnungsgeldver-
fahrens des elektronischen Handels- und Unterneh-
mensregisters. Er geht zurück auf eine Entschließung
des Deutschen Bundestages vom 29. November 2012.
Damit wollen wir das Ordnungsgeldverfahren bei Ver-
stößen gegen die handelsregisterrechtlichen Offen-
legungspflichten im Sinne kleiner und kleinster Kapi-
talgesellschaften anpassen und der Lebenswirklichkeit
des Mittelstandes weiter entgegenkommen. Insbeson-
dere wollen wir für diese Gruppe Härtefälle besser in
den Griff bekommen und das Sanktionsinstrumen-
tarium abstufen.
Der Gesetzentwurf zur Änderung des Handelsge-
setzbuches führt konsequent die Ziele des Kleinstkapi-
talgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetzes fort.
Kleine Unternehmen und der Mittelstand insgesamt
werden durch unsere Initiative über die Erleichterung
bei der Bilanzierung weiter entlastet – nunmehr eben
im Bereich des Ordnungsgeldverfahrens. Mit dem vor-
liegenden Koalitionsentwurf haben wir einen ausge-
wogenen Kompromiss zwischen den widerstreitenden
Interessen der Erleichterung für Unternehmen im
Ordnungsgeldverfahren sowie den bewährten Publizi-
tätserfordernissen und der Gefährdung der ausge-
zeichneten Offenlegungsquote von nunmehr 90 Pro-
zent gefunden.
Der Gesetzentwurf greift im Wesentlichen drei An-
liegen auf: Die Ordnungsgelder werden abgesenkt; es
werden die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein-
geführt und eine einheitliche Rechtsprechung durch
ein neues Rechtsmittel gegen die gerichtliche Be-
schwerdeentscheidung gefördert.
Bislang setzte das Bundesamt für Justiz Ordnungs-
gelder in Höhe von einheitlich 2 500 Euro fest. Beibe-
halten wird dies für mittelgroße und große Unterneh-
men; für kleine Kapitalgesellschaften kann künftig
jedoch maximal ein Betrag von 1 000 Euro und für
Kleinstkapitalgesellschaften sogar nur von 500 Euro
festgesetzt werden.
Um jedoch einen gleichbleibend stabilen Offen-
legungsanreiz zu schaffen, müssen die Unternehmen
am Verfahren mitwirken: kleine Kapitalgesellschaften
durch Offenlegung der Bilanz und des Anhangs und
Kleinstkapitalgesellschaften durch elektronische Hin-
terlegung ihrer Bilanz beim Bundesanzeiger. Das ist
schon deshalb notwendig, weil für die Festsetzung des
niedrigen Ordnungsgeldes Bilanzkennzahlen erforder-
lich sind, um zur Qualifizierung als kleine oder
Kleinstkapitalgesellschaft zu gelangen.
Ein Ordnungsgeld kann künftig von Gesetzes wegen
nur dann festgesetzt werden, wenn das Unternehmen
tatsächlich ein Verschulden trifft. Um unbillige Härten
zu vermeiden, kann beispielsweise der Alleingeschäfts-
führer, der an der Offenlegung durch längere Erkran-
kung gehindert war, innerhalb von zwei Wochen nach
Wegfall dieses Hindernisses Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand beantragen.
Einen entscheidenden Beitrag zu mehr Rechts-
sicherheit leistet der Gesetzentwurf mit der Einführung
eines neuen Verfahrens zur Vereinheitlichung der
Rechtsprechung im Ordnungsgeldverfahren. Künftig
soll gegen die Entscheidungen des einzig zuständigen
Landgerichts Köln das Rechtsmittel der zulassungs-
bedürftigen Rechtsbeschwerde zum OLG Köln gege-
ben sein. So können zwischen verschiedenen Kammern
divergierende Rechtsprechungen eingefangen und
grundsätzliche Fragen des Ordnungsgeldverfahrens
geklärt werden.
Mit diesem Gesetzentwurf werden wir künftig un-
billige Härten im Ordnungsgeldverfahren des elektro-
nischen Handels- und Unternehmensregisters vermeiden
und kleine Kapitalgesellschaften sowie Kleinstkapital-
gesellschaften insgesamt stärken.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen die Re-gierungsfraktionen CDU/CSU und FDP die ohnehinschon niedrigen Mindestordnungsgelder für Kleinst-kapitalgesellschaften und kleine Kapitalgesellschaftendrastisch senken, wenn auch nur für Unternehmen, dieinnerhalb von wenigen Monaten nach Fristablaufdoch noch ihre Unterlagen einreichen, Verschuldenund Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regeln so-wie die Rechtsbeschwerde im Ordnungsgeldverfahreneinführen.Wir hatten uns bereits bei der Verabschiedung desKleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechtsänderungsge-setzes am 29. November 2012 dagegen ausgesprochen,dass bei Verstößen gegen die Offenlegungsfrist Ord-nungsgelder verhängt werden können, die so niedrigsind, dass sie keinen Anreiz für die Einhaltung des Ge-setzes bieten. Bereits in meiner Rede am 29. November2012 hatte ich darauf hingewiesen, dass Kapitalgesell-schaften wegen der beschränkten Haftung bestimmtePublizitätspflichten erfüllen müssen, damit sich Gläu-biger ein Bild über die finanzielle Lage machen kön-nen. Außerdem haben kleine Kapitalgesellschaftensechs Monate nach dem Geschäftsjahr Zeit, den Jah-resabschluss zu erstellen. Der dann vorliegende Jahres-abschluss ist innerhalb von weiteren sechs Monatenelektronisch zu hinterlegen. Dieser lange Zeitraum voninsgesamt zwölf Monaten reicht nach meiner langjäh-rigen Erfahrung vollkommen aus – wenn man dieselästige Aufgabe nicht immer wieder verschiebenwürde.Ich hatte aber bereits bei der letzten Beratung imRahmen des Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanzrechts-änderungsgesetzes ausgeführt, dass wir für Härtefall-regelungen sind, mit denen dem Bundesamt für Justizmehr Flexibilität ermöglicht werden soll. Das gilt so-wohl für die Frage nach dem Verschulden bei Über-schreiten von Fristen als auch für die Wiedereinset-zung in den vorigen Stand. Gemeint sind damit dieVerlängerung der Frist zur Einreichung des Jahresab-schlusses und der Verzicht auf Ordnungsgelder in die-sen Fällen. Diesen neuen Regelungen können wir so-mit zustimmen.Zu Protokoll gegebene Reden
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29866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Richard Pitterle
(C)
(B)
Die Regelungen im Handelsgesetzbuch sind jetztklarer und transparenter – auch das freut uns.Die dritte geplante Änderung, nämlich die Einfüh-rung von Rechtsmitteln gegen Entscheidungen des al-lein zuständigen Landgerichts Bonn, sollte nach unse-rer Meinung für jeden Anhänger eines Rechtsstaateseine Selbstverständlichkeit sein. Bisher entscheidetüber Beschwerden gegen Ordnungsgeldentscheidun-gen des Bundesamtes für Justiz ausschließlich dasLandgericht Bonn. Es gibt keine Rechtsmittel gegendessen Entscheidungen.In einem sich selbst Rechtsstaat nennenden Landsollte dagegen immer eine Berufung oder Beschwerdegegen ein erstinstanzliches Gerichtsurteil möglichsein. Dass das jetzt endlich nachgeholt wird, damit ge-gen Willkürentscheidungen vorgegangen werden kannund zu widersprüchlichen Entscheidungen der Kam-mern des Landgerichts Bonn eine einheitliche Recht-sprechung und damit Rechtsanwendung in Ordnungs-geldentscheidungen des Bundesamtes für Justizendlich geschaffen werden soll, halten wir für drin-gend geboten.Aufgrund der seit dem Inkrafttreten des Gesetzesüber elektronische Handelsregister und Genossen-schaftsregister sowie das Unternehmensregister, alsodem EHUG, im Jahre 2006 verstrichenen Zeit wäre esaus meiner Sicht erforderlich gewesen, auch die zwi-schenzeitlich mit der Offenlegungspflicht in der Wirt-schaftspraxis gemachten Erfahrungen bei dem vorlie-genden Gesetzentwurf einzubeziehen.Dann wäre Ihnen aufgefallen, dass sich in einer Be-fragung mittelständischer Unternehmen im Jahre 2011gezeigt hatte, dass durch das EHUG kleine und/odernichtdiversifizierte Familienunternehmen tendenziellbenachteiligt werden. Viele Unternehmen nehmen da-her hohe Kosten in Kauf, um die negativen Wirkungendes elektronischen Bundesanzeigers, in dem die Unter-nehmen ihre Jahresabschlüsse publizieren müssen, zuminimieren. Im Ergebnis wird das EHUG von den mit-telständischen Unternehmen auch unter Anerkennungseiner Vorteile mehrheitlich abgelehnt, das heißt also:obwohl diese Unternehmen nicht nur die Nachteile desEHUG tragen, sondern auch von dessen Vorteilen pro-fitieren. Reformvorschläge der Wirtschaft und mög-liche Alternativen zum elektronischen Bundesanzeigerscheinen die Regierungsfraktionen offenkundig nichteinbezogen zu haben. Warum nicht? Die Regierungs-parteien, insbesondere die FDP, stellen sich doch sonstimmer auf die Seite des Mittelstands und vertreten an-geblich dessen Interessen – hier nicht. Aber nicht nurhier nicht, sondern beispielsweise auch nicht bei derZahlungsverzugsrichtlinie.
Nach dem Kleinstkapitalgesellschaften-Bilanz-rechtsänderungsgesetz folgt nun – nach zahlreicherKritik von Verbänden und Unternehmen – ein Gesetz-entwurf zur Änderung des Handelsgesetzbuches.Lange genug wurden wir auf die Folter gespannt. DieInspiration durch unseren damaligen Antrag ist über-deutlich, das freut uns natürlich. Schade nur, dass dasVorhaben nicht ganz bis zu Ende gedacht wurde. Dochschauen wir uns den Entwurf doch etwas näher an.Das eigentliche Problem blieb vom ursprünglichenEntwurf der Bundesregierung zunächst unberührt: dieunangemessen hohen Ordnungsgelder ab 2 500 Euroaufwärts, die zu entrichten waren, wenn die Rech-nungsunterlagen nicht spätestens zwölf Monate nachAbschluss des Geschäftsjahres beim Bundesanzeigerelektronisch eingereicht wurden und die sechswöchigeAndrohungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelau-fen war.Um zu verstehen, wer von diesen Ordnungsgeldernam stärksten betroffen ist, muss man wissen: In denOrdnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurdenlaut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfragevon uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfah-ren gegen kleine Unternehmen eingeleitet. Aber ge-rade für kleine Unternehmen ist der buchhalterischeAufwand zur Erstellung des Jahresabschlusses schwe-rer zu erfüllen als für mittlere und große Unternehmen.2 500 Euro sind für kleine Unternehmen außerdem einharter Schlag – bis hin zur Existenzbedrohung.Jetzt will Schwarz-Gelb unserem Vorschlag nach-kommen, die Höhe der Ordnungsgelder zu senken.Man könnte fast meinen, unser Antrag wäre plagiiertworden. Aber leider haben die Autorinnen und Autorenes nicht richtig zu Ende geführt. Wenn abschreiben,dann schon richtig! Denn CDU/CSU und FDP gehendavon aus, dass 1 000 Euro für kleine Unternehmendurchaus verträglich seien. Also sagen wir mal so: Na-türlich ist es besser, als alle pauschal mit 2 500 Eurooder mehr zu bestrafen. Aber wir glauben, dass aucheine geringere Summe ausreicht, um Unternehmen zurOrdnung zu rufen. Der Vorschlag geht uns nicht weitgenug.In unserem Antrag forderten wir im vergangenenJahr echte Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapi-talgesellschaften bei der Offenlegung der Jahres-abschlüsse: Wir wollten, dass die Ordnungsgelderan die Größe der Unternehmen angepasst werden.Dabei haben wir als Mindesthöhe für Kleinstunterneh-men 250 Euro vorgeschlagen, für Kleinunternehmen500 Euro. Das ist aus unserer Sicht ausreichend ab-schreckend und kann ja immer noch progressiv gestal-tet werden.Und außerdem ist da noch etwas versteckt, was diegeplante Senkung der Ordnungsgelder gleich wenigerspektakulär erscheinen lässt. Was im aktuellen Gesetz-entwurf der Bundesregierung etwas befremdlich er-scheint, ist vor allem die Tatsache, dass diese geringe-ren Ordnungsgelder nur dann greifen sollen, sofernUnternehmen ihre „Pflicht, wenn auch verspätet“ er-füllt haben. Die Mindesthöhe der grundsätzlich ange-setzten Ordnungsgelder soll demnach für alle Kapital-gesellschaften, gleich welcher Größe, bestehenbleiben – nämlich bei 2 500 Euro. An unserer KritikZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29867
Beate Walter-Rosenheimer
(C)
(B)
ändert sich damit wenig, denn diese Gleichbehandlungaller Unternehmensgrößen ist zu pauschal.Zudem erscheint fraglich, inwiefern sich der Ver-waltungsaufwand durch diese Vorgehensweise erhö-hen würde – denn so wird zunächst die Summe von2 500 Euro angedroht, nur um dann bei verspäteterZahlung zu prüfen, ob nicht doch eine Senkung greifenkönnte und, wenn ja, welche der drei Stufen zutreffenwürde.Ein Versäumnis ist es aus unserer Sicht auch, dieHöhe der Ordnungsgelder auf einem Höchstbetrag von25 000 Euro belassen zu wollen – diese Summe ist fürGroßunternehmen doch vergleichsweise eine Mückegegenüber einem Elefanten. Schauen Sie doch nur ein-mal, was 2 500 Euro für einen kleinen Handwerks-betrieb bedeuten, und überlegen Sie im Gegenzug, was25 000 Euro an Auswirkungen für einen millionen-schweren Großkonzern mit sich bringen. Finden Siedas wirklich verhältnismäßig?Wir wollten in unserem Antrag damals außerdem,dass das Bundesamt für Justiz in Härtefällen ganz vomOrdnungsgeld absehen oder zumindest die Frist ver-längern kann. Ich habe es in der ersten Rede zu diesemThema ja bereits erwähnt: Gerade in kleinen Betriebenist nur eine Person für die Rechnungslegung undBuchhaltung verantwortlich. Vertretungskräfte sindein Luxus, die sich die Kleinen nicht unbedingt leistenkönnen. Im Krankheitsfall kann sich logischerweisedie Einreichung der Bilanz drastisch verzögern.Im Gesetzentwurf wird deshalb nun vorgeschlagen,dass Wiedereinsetzungsverfahren greifen sollen. Zu-nächst muss vonseiten der Unternehmerinnen und Un-ternehmer „glaubhaft“ geschildert werden, dass einwirklich unverschuldetes Hindernis der rechtzeitigenOffenlegung entgegenstand. Wenn das Bundesamt fürJustiz der Erklärung Glauben schenkt, gibt es eine zu-sätzliche sechswöchige Nachfrist, die mit dem Wegfalldes Hindernisses startet. In so einem Fall soll das Ord-nungsgeld entfallen. Fraglich erscheint jedoch, ob dieangedachte Frist, in der ein solcher Wiedereinset-zungsantrag gestellt werden kann, praktikabel ist.Nach dem momentanen Entwurf müssen Betroffenespätestens zwei Wochen nach Ende des Hindernis-grundes einen solchen Antrag stellen. Nach einer lan-gen schweren Krankheit sofort an die rasche Antrag-stellung zu denken, ist womöglich zu rational, zubürokratisch gedacht.Im Fazit stehen wir also einem Gesetzentwurf ge-genüber, der die richtigen Tendenzen aufweist. Er lässtaber den Mut missen, die Erleichterungen sinngemäßzu Ende zu denken. In einem Rundumschlag hätte jetztdie Gelegenheit bestanden, die Kleinsten und Kleinenpraktisch und einfach zu entlasten und die Großen fairzu beteiligen. Einen solchen Entwurf können wirschlecht mittragen, auch wenn uns die Richtung gefal-len hätte.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/13221 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck , Monika Lazar, Beate Walter-
Rosenheimer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ahndung
von Therapien mit dem Ziel der Änderung der
sexuellen Orientierung bei Minderjährigen
– Drucksache 17/12849 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
„Da muss immer jeder für sich entscheiden, glaubeich. Also ich würde jetzt sagen, natürlich kann man dasso oder anders sehen, und würde auch immer akzeptie-ren, dass andere eine andere Position haben“, sozitiert die Zeitung „Die Welt“ am 26. März 2013 dieVorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, KatrinGöring-Eckardt. Diese leicht verschachtelte Antwortgab sie auf die Frage, wie sie zum Gesetzentwurf derFraktion Bündnis 90/Die Grünen stehe, den wir heutein erster Lesung beraten.Die Grünen beantragen damit, einen Ordnungs-widrigkeitstatbestand zu schaffen, wonach „ordnungs-widrig handelt, wer berufs- oder gewerbsmäßig The-rapien anbietet oder durchführt, die das Ziel haben,die sexuelle Orientierung von Minderjährigen zu ver-ändern.“Die leicht schlingernden Einlassungen der Vorsit-zenden von Bündnis 90/Die Grünen zeigen sehr deut-lich, was es mit dem Gesetzentwurf auf sich hat. Eswird plakativ etwas beantragt, wofür es in der Sacheüberhaupt keine Notwendigkeit gibt. Alles das ge-schieht nur, um ein Thema in den Fokus der Aufmerk-samkeit zu rücken, dessen Bedeutung im Einzelnenzwar nicht von der Hand zu weisen ist, bei dem sichaber die Frage nach der Notwendigkeit eines Eingrei-fens durch den Gesetzgeber stellt.Vordergründig ist das Ziel des Antrags, einen Ord-nungswidrigkeitstatbestand neu zu schaffen. Das Ord-nungswidrigkeitenrecht ist vom Strafrecht abgeleitetund hat den gleichen Charakter. Das Strafrecht ist diegleichsam schärfste Waffe des Rechtsstaates, um miss-billigtes Verhalten mit Sanktionen zu ahnden. Dement-sprechend geht der Staat damit in gegebenem Maßeumsichtig um. Denn umgekehrt bedeutet die Tatsache,
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Ansgar Heveling
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dass ein Verhalten von einem Straf- oder Ordnungs-widrigkeitentatbestand nicht umfasst ist, nicht auto-matisch, dass es vom Staat gutgeheißen wird.So verhält es sich auch bezüglich der im Antrag an-gesprochenen Therapien. Ausdrücklich wird daraufhingewiesen, dass auch die Bundesregierung dieseTherapien missbillige. Und ja, zweifelsohne sind sieauch fragwürdig. Aber bedeutet das gleichzeitig, dasses deshalb eines Straf- beziehungsweise Ordnungswid-rigkeitstatbestandes bedarf? Nach Ansicht der CDU/CSU-Fraktion ist dies nicht der Fall.Zunächst geht es hier nicht um Zwangstherapien,sondern um die autonomen Entscheidungen Einzelner.Hier stellt sich die Frage, in welchem Maße es demStaat zusteht, durch gesonderte Vorschriften in dieseEntscheidungen einzugreifen. Sicherlich geht es bezo-gen auf Minderjährige darum, dass diese ihre Ent-scheidung nicht alleine treffen, sondern deren Erzie-hungsberechtigte. Sofern es aber um fragwürdigeEntscheidungen der Erziehungsberechtigten geht unddie Gefährdung des Kindeswohls eine Rolle spielt,finden sich im Familienrecht bereits ausreichende In-strumente, um der – ohne Zweifel gegebenen – Wäch-terfunktion des Staates über das Kindeswohl nachkom-men zu können. Einer eigenständigen Vorschrift bedarfes somit aus diesem Gesichtspunkt nicht.Des Weiteren haben wir mit den Körperverletzungs-vorschriften des Strafgesetzbuches sowie der Vor-schrift des § 228 StGB bereits jetzt entsprechendestrafrechtliche Regelungen, die vor fragwürdigen The-rapien schützen, wenn diese in den Bereich der Kör-perverletzung umschlagen. Gerade bezüglich solcherFragen existiert eine ausdifferenzierte Rechtspre-chung. Auch hier hat der Staat, sogar mit seinemschlagkräftigsten Instrument, dem Strafrecht, Mög-lichkeiten an der Hand, gegen entsprechendes Han-deln vorzugehen, soweit es denn die Schwelle der Kör-perverletzung überschreitet. Dies ist aber ohne Zweifelim Einzelfall zu beurteilen. Die Notwendigkeit einereigenständigen Vorschrift besteht auch in dieser Hin-sicht nicht, da keine Schutzlücke besteht.Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünengreift also in tatsächlicher Hinsicht ein Problem auf,das nicht von der Hand zu weisen ist, für dessen recht-liche Regelung es aber gleichzeitig keinen eigenstän-digen Bedarf gibt. Es besteht keine Schutzlücke, die zuschließen ist. Denn auf verschiedenen rechtlichen Ebe-nen, angesprochen habe ich Familienrecht und Straf-recht, gibt es entsprechende rechtliche Möglichkeitenfür ein Eingreifen. Wir lehnen den Gesetzentwurf da-her ab.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen das An-bieten und die Durchführung von Therapien an Min-derjährigen untersagt werden, die eine Änderung dergleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung verfol-gen.Die Annahme, dass Homosexualität überhaupt ei-ner Therapie bedarf, mutet heutzutage nicht nur äu-ßerst merkwürdig und reaktionär an. Diese Denkweiseist schlichtweg dumm, respektlos und diskriminierend.Seit Jahrzehnten wird Homosexualität in der Medi-zin nicht mehr als Krankheit definiert. Die Diskrimi-nierung wegen der sexuellen oder geschlechtlichenIdentität und Orientierung ist längst gesetzlich verbo-ten. Schritt für Schritt hat in Deutschland das Bundes-verfassungsgericht in den letzten Jahren die Lücken inden Rechtsbereichen geschlossen, in denen homo-sexuelle Menschen gegenüber Heterosexuellen be-nachteiligt wurden.Wir haben in diesem Hause dazu bunte Debatten ge-führt, zuletzt nachdem das Bundesverfassungsgerichtgleichgeschlechtliche Paare im Adoptionsrecht ge-stärkt hat. All die Diskussionen haben gezeigt, dasswir in einem aufgeklärten und toleranten Land lebenund dass es nur noch ein Häuflein von Ewiggestrigenist, den Menschen mit einer von der heterosexuellenabweichenden Sexualität für minderwertig oder garkrank hält. Diese Ewiggestrigen sind es jedoch, die da-für sorgen, dass sich junge Menschen von derartigenTherapien überhaupt angesprochen fühlen, dass sol-che Angebote nicht einfach ins Leere laufen.Dass wir heute über das Verbot dieser Therapien re-den, ist richtig. Solchen Methoden muss aber nicht nurrechtlich Einhalt geboten, sondern auch der ideelleNährboden entzogen werden. Nur ein gesamtgesell-schaftlicher Prozess kann es schaffen, dass unsere Kin-der ohne Angst und Einschränkungen aufwachsen kön-nen.Kinder müssen so gefördert werden, dass sie in al-len Aspekten ihrer Entwicklung die Möglichkeit haben,sich entsprechend ihren Voraussetzungen zu entwi-ckeln, und dass sie zu starken Persönlichkeiten werdenund ihren Weg im Leben finden. Dabei müssen wir ih-nen das Gefühl geben, sich in einer sicheren Welt be-wegen zu können.Es ist auch die Aufgabe der Politik, die Vorausset-zungen dafür zu schaffen. Wenn ein Verbot von gefähr-lichen und dubiosen Therapieangeboten dafür einenBeitrag leisten kann, sollten wir das auch eingehendprüfen und in die Wege leiten.Eine längst überfällige Maßnahme ist in diesem Zu-sammenhang auch, das ausdrückliche Verbot der Dis-kriminierung aufgrund der sexuellen Identität imGrundgesetz zu verankern, wie es die SPD-Fraktionfordert.Alle Menschen haben eine sexuelle Identität, die wirals hetero-, bi-, homo-, asexuell oder wie auch immerbezeichnen können. Menschen, die mit der gesell-schaftlichen Norm Heterosexualität brechen, sindkeine kranken Leute. Daher erübrigt sich auch dieFrage nach einer Behandlung oder Therapie. Was wirstattdessen brauchen, ist Akzeptanz und Toleranz füralle Menschen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29869
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Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass Homo-
sexualität keine Krankheit ist, sondern Teil der
menschlichen Natur und deshalb Therapien grund-
sätzlich nicht zugänglich. Auch ich beobachte mit
Sorge diese Konversionstherapien und die damit ver-
bundenen Aktivitäten, die auch aus meiner Sicht belegt
zu negativen und schädlichen Effekten führen können.
Ich halte dennoch nichts von einer Bußgeldbeweh-
rung eines entsprechenden Angebots. Gegen diese Be-
strebungen muss mit Aufklärung und Hilfe vorgegan-
gen werden, die erfreulicherweise auch bundesweit
angeboten wird. Eine Bußgeldbewehrung erscheint
mir nicht angezeigt. Mir erscheint auch fraglich, ob
die in dem Antrag zitierte Ausarbeitung des Wissen-
schaftlichen Dienstes wirklich alle verfassungsrechtli-
chen Fragen aufwirft und diese auch zutreffend
würdigt. Interessanterweise wird das Grundrecht der
Religionsfreiheit und damit auch einer religiös moti-
vierten kritischen Betrachtung von gleichgeschlechtli-
chen Handlungen und Beziehungen im Antrag nicht
zitiert. Aber auch dieses Grundrecht ist in die Abwä-
gung miteinzubeziehen.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist deshalb klar:
Homosexuelle Menschen bedürfen weder der Therapie
noch einer Umerziehung. Entsprechenden Angeboten
ist mit Aufklärung und Hilfe entgegenzutreten. Einer
Bußgeldbewehrung bedarf es nicht.
Am 7. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorgani-sation, WHO, Homosexualität aus dem Krankheits-katalog. Dieser längst überfällige Schritt hatte eineSignalwirkung und führte zu einem steigenden Respektgegenüber Lesben und Schwulen und einer zunehmen-den Anerkennung ihrer sexuellen Orientierung. Nichtüberall ist dies so. Auch heute noch gibt es Menschen,die Homosexualität als Krankheit auffassen, welcheheilbar wäre. Insbesondere in den USA gibt es christ-lich-evangelikale Gruppen, die verbreiten, dass manMenschen von der Homosexualität „heilen“ könne. Inden USA existiert die Ex-Gay-Bewegung, die ver-meintlich Menschen helfen möchte, indem sie vorgibt,dass sie ihre homosexuellen Neigungen unterdrückenkönnen oder sie gar heterosexuell werden könnten. Siebetrachten Homosexualität als anormal. Auch inDeutschland existieren Gruppen, die sich die Ex-Gay-Bewegung zum Vorbild genommen haben.Natürlich steht es jedem Menschen frei, seinen reli-giösen Überzeugungen nachzugehen oder auch die ei-gene Sexualität als falsch zu empfinden. Versuche, je-manden davon zu „heilen“, sind von vornherein zumScheitern verurteilt, da selbst Krankheiten nur zumTeil heilbar sind. Aber wie die WHO unterstrich, istHomosexualität keine Krankheit. Die sexuelle Orien-tierung gehört zur Identität eines Menschen. Das sexu-elle Begehren ist ein Teil der Persönlichkeit. Menschenkönnen nicht umgepolt werden. Im Gegenteil: Ein An-satz, der Menschen einredet, Homosexualität wäreschlecht, unnatürlich oder Ähnliches, ist gefährlich!Gerade junge Menschen brauchen in der schwierigenPhase der Selbstfindung Rückhalt und Sicherheit undmüssen angenommen werden, wie sie sind. „Heil-versuche“ gefährden diesen Prozess, können schlimmepsychische Folgen haben, im Extremfall bis zumSuizid.Auch die Bundesregierung hat diese Therapiean-sätze in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage vonBündnis 90/Die Grünen für falsch befunden. Umso be-fremdlicher ist es, dass Bundeskanzlerin AngelaMerkel zu Anfang dieses Jahres den Gnadauer Ge-meinschaftsverband für seine Arbeit würdigte. Dieserfordert die „Korrektur“ von Homosexuellen. FrauMerkel plant, am 12. Juli am Landesjugendtreffen der„Apis“ teilzunehmen und dort zu reden. Die „Apis“sind junge Menschen, die im evangelischen Gemein-schaftsverband Württemberg engagiert und zu der fes-ten Überzeugung gelangt sind, Homosexualität seieine veränderbare Persönlichkeitsstörung. Dies ist dasfalsche Signal, Frau Bundeskanzlerin.„Homoheiler“ betreiben wissenschaftlichen Mum-pitz und gefährden junge Menschen.Zum Glück haben evangelikale Gruppen inDeutschland im Gegensatz zu den USA nur eine sehrgeringe Bedeutung, und „Homoheiler“ sind eine ver-schwindend kleine Minderheit. Natürlich müssen wiralles darangeben, dass unsere Kinder vor ihnengeschützt werden und Eltern nicht aus einer falschverstandenen Religiosität ihre Kinder ins Unglückstürzen. Doch der Gesetzgeber sollte nicht neueStraftatbestände schaffen, sondern zunächst prüfen,inwiefern wir dies mit den bestehenden Gesetzen ver-hindern können.Meine Fraktion ist skeptisch, ob der Vorschlag derÄnderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeitender geeignete Weg ist, „Homoheilern“ das Handwerkzu legen. Zunächst sollten wir prüfen, ob nicht das gel-tende Recht ausreichend Möglichkeiten bietet. Hier istzu prüfen, ob nicht die Gewerbeaufsicht der Ämter diesmit Rückgriff auf die Gewerbeordnung unterbindenkann und ob man „Homoheilern“ ihre Tätigkeit nichtuntersagen kann, da sie auf wissenschaftlich haltloserBasis agieren und deshalb Betrug begehen, und ob ihrHandeln nicht im Angesicht der psychischen Folgeneine Körperverletzung darstellt.Des Weiteren ist zu prüfen, ob das bestehende RechtAnwendung findet.Falls dies nicht zum gewünschten Erfolg führt, sokönnen wir über eine Verschärfung des Strafrechtsnochmals nachdenken.Anlässlich der Streichung von Homosexualität ausdem Krankheitskatalog der WHO wird seit dem Jahr2005 der Internationale Tag gegen Homophobie am17. Mai begangen. Ich wünsche mir, dass FrauDr. Merkel an diesem Tag lesbische und schwuleGruppen besucht und damit ein deutliches Zeichen ge-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Barbara Höll
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gen Homophobie in dieser Gesellschaft setzt, statt sichgegen die verfassungsrechtlich gebotene Gleich-behandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft zustellen und „Homoheiler“ zu besuchen.Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Homosexualität ist keine Krankheit. Am 17. Mai1990 hat die WHO dieser Tatsache in ihren RichtlinienRechnung getragen. Man kann deswegen auch nichtvon Homosexualität „kuriert“ oder „geheilt“ werden.Jeder Mensch hat seine eigene sexuelle Identität undpersönliche Entwicklung.Allerdings gibt es weiterhin Menschen, die glauben,die sexuelle Orientierung ließe sich durch Therapienändern. Frei nach dem Motto: „Es kann nicht sein,was nicht sein darf.“ Für bestimmte religiös-funda-mentalistische Gruppen ist der Befund, dass Homose-xualität eine natürliche Ausprägung der sexuellenIdentität ist unerträglich. Sie bieten deswegen Semi-nare und Therapiegruppen an, bei denen vermeintlichKranke und Leidende auf den „richtigen Weg“ geführtwerden sollen. Sie nutzen dabei die Unsicherheit vonMenschen, insbesondere von Jugendlichen und ihrenEltern, aus und versprechen eine Änderung der sexuel-len Identität. Sie changieren dabei in unredlicherWeise zwischen Begriffen und Sphären: Sünde undKrankheit, theologische Überzeugung und scheinbarwissenschaftliche Befunde werden in intellektuell un-zulässiger Weise vertauscht und vermengt.Natürlich ist die Findung der sexuellen Identitätnicht immer einfach, und gerade der Coming-out-Prozess kann schmerzhaft und schwierig sein. Psycho-logische Therapien zur Beratung und Selbstfindunggehen deswegen von einem ergebnisoffenen Therapie-verlauf aus. Einziges Ziel muss Selbstfindung undSelbstversöhnung der Patienten mit sich selbst sein.Diese Form von Beratung und Unterstützung ist wert-voll und hilft den Menschen, ihr Leben erfüllt undglücklich zu gestalten und fördert die Annahme der ei-genen sexuellen Orientierung, sei sie homo-, hetero-oder bisexuell. Nicht der Therapeut gibt hierbei dasZiel normativ vor, sondern er macht sich mit seinemPatienten auf die Suche nach dessen Identität und ver-sucht, die Selbstentfaltungsprozesse zu unterstützen.Im Gegensatz dazu ist das Ziel der von Wüsten-strom, manchen Siebenten-Tag-Adventisten oder demBund Katholischer Ärzte vermittelten bzw. durchge-führten Therapien klar vorgegeben: Homosexualitätwird als negativ und falsch dargestellt. Der Bund Ka-tholischer Ärzte spricht in seiner Stellungnahme zudem heute debattierten Gesetzentwurf zum Beispielausführlich über angeblich stark gefährdende Sexual-praktiken wie Oral- und Analverkehr, die natürlich nurvon Homosexuellen praktiziert würden. Hier zeigt sichdeutlich die Grundeinstellung dieser Leute: Sie begeg-nen den Hilfesuchenden nicht unvoreingenommen,sondern vorurteilsbelastet. Solchen Menschen darfman Jugendliche nicht ausliefern!Denn diese Therapien sind nicht einfach ein sinnlo-ser Zeitvertreib, der schlicht zu nichts führt. Vielmehrsind sie für die behandelten Menschen schädlich undgesundheitsgefährdend. Zahlreiche Gutachten kom-men zu dem Ergebnis, dass die Folgen dieser soge-nannten Therapien Ängste, soziale Isolation undDepressionen sind, die nicht selten zu Selbstmordver-suchen führen. Die American Psychiatric Associationkommt in einem Gutachten für den Senat von Kalifor-nien im Jahr 2007 zu dem Ergebnis, dass die Wirksam-keit von diesen Therapien nicht gegeben sei. Die Orga-nisation hatte Dutzende Studien ausgewertet und dabeiBelege gefunden, dass zu den negativen Nebenwirkun-gen unter anderem der Verlust sexueller Gefühle undSuizidalität zählten. Die American Psychiatric Associ-ation kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass der wissen-schaftliche Nachweis der Wirksamkeit solcherTherapien trotz jahrzehntelanger Bemühungen der je-weiligen Kreise nicht gegeben sei. Im Gegenteil seienBerichte über aufgrund der Behandlung aufgetreteneSchädigungen dokumentiert. Die Organisation deramerikanischen Psychiater lehnt diese Behandlungendeswegen ab.Der Professor für Psychologie der Universität Ba-sel, Herr Professor Dr. Rauchfleisch, kommt zu demErgebnis, dass die Behandlung fehlliefe und zudem„die Änderung im Sexualverhalten häufig mit schwe-ren Depressionen, zentralen Selbstwertproblemen undtiefer Verzweiflung erkauft“ wird und bis „zum Suizidder betreffenden Menschen führen“ könne.Nicht zuletzt hat auch die Bundesregierung die Ge-fährlichkeit dieser Therapien bestätigt. Demnachgründet diese Einschätzung sich „auf die Ergebnisseneuerer wissenschaftlicher Untersuchungen, nach de-nen bei der Mehrzahl der so therapierten Personen
auftraten und die versprochenen Aussichten auf „Hei-
In Kalifornien ist der Gesetzgeber aufgrund all die-ser Erkenntnisse zu dem Ergebnis gekommen, dass sol-che „Heilungsversuche“ für Minderjährige zu verbie-ten seien. Unser Gesetzentwurf, den wir heuteeinbringen, verfolgt dasselbe Ziel. Wir schlagen vor,das Anbieten und Durchführen solcher Therapien alsordnungswidrig zu verbieten.Der Staat kommt damit seiner Pflicht des Jugend-und Gesundheitsschutzes nach, die sich aus dem Art. 2Abs. 2 und des Art. 6 Abs. 2 unseres Grundgesetzes er-gibt. Bei Überschreitung der Grenzen des Elternrechtsdurch kindeswohlbeeinträchtigenden Missbrauch desRechts berechtigt und verpflichtet der Art. 6 Abs. 2Satz 2 zu staatlichen Interventionen zugunsten desschutzbedürftigen Kindes. Der Wissenschaftliche Dienst
land verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen.Der Dienst kommt zum Ergebnis, dass keine solchenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29871
Volker Beck
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Bedenken vorliegen. Die Gefährdung des Kindeswohls,die bei den angesprochenen Therapien zweifelsfrei vor-liegt, stellt eine materielle Anforderung dar, die denStaat verpflichtet, das staatliche Wächteramt auszu-üben.Wir müssen diese Quacksalberei und Scharlatane-rie verbieten!Ich erwarte eine interessante Debatte in den Aus-schüssen und hoffe, dass wir dort zügig zu einem Er-gebnis kommen.
Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf
Drucksache 17/12849 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine ande-
ren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentral-
registergesetzes und anderer registerrechtli-
cher Vorschriften zum Zweck der Zulassung
der elektronischen Antragstellung bei Ertei-
lung einer Registerauskunft
– Drucksache 17/13222 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll gegeben.
Bisher war es grundsätzlich notwendig, persönlichbei der entsprechenden Meldebehörde vorzusprechen,wenn man einen Antrag auf Erteilung eines Führungs-zeugnisses aus dem Zentralregister oder einen Antragauf Erteilung einer Auskunft aus dem Gewerbezentral-register stellen wollte. Wenn der Wohnsitz im Auslandbesteht, war es nach bisheriger Gesetzeslage nach § 30Abs. 3 BZRG sogar notwendig, einen schriftlichen An-trag mit Identitätsnachweis durch Bescheinigung einerdeutschen Konsularbehörde einzureichen.Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird diesesVerfahren nun erheblich erleichtert.Die Regelungen im Bundeszentralregistergesetzwerden dahin gehend geändert, dass zukünftig der An-trag auf elektronischem Wege unmittelbar bei der Re-gisterbehörde gestellt werden kann. Die entsprechendeRegelung enthält der neue § 30 c BZRG.Das Konzept für die Antragstellung auf Erteilungeines Führungszeugnisses soll auf den elektronischenAntrag zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbe-zentralregister übertragen werden. Für die Gewerbe-ordnung wird eine entsprechende Regelung in § 150 eGewO geschaffen.Die Identifizierung des Antragsstellers wird mittelseID erreicht. Ein Abgleich mit dem Melderegister wirdinsoweit entbehrlich. Die Grundlage für den elektroni-schen Identitätsnachweis wurde in § 18 Abs. 2 PAuswGgeschaffen und die entsprechende elektronische Identi-fikation allgemein im Rechtsverkehr zugelassen.Durch dieses Verfahren profitieren vor allem Bürge-rinnen und Bürger und im Bereich der Gewerbeord-nung die Wirtschaft. Das Verfahren wird erleichtert,beschleunigt und verbilligt. Die Antragstellung kannnun online erfolgen. Somit wird Zeitaufwand bei derAntragstellung eingespart.Da die Gebühr im elektronischen Rechtsverkehr we-gen des verkleinerten Aufwandes sicher geringer aus-fällt, findet auch eine Kostenreduzierung statt.Zuerst wird das Angebot sicher eher durch die Wirt-schaft wahrgenommen werden. Um nämlich den elek-tronischen Identitätsnachweis zu führen, bedarf es ei-nes entsprechenden Lesegerätes, das derzeit nurwenige Bürgerinnen und Bürger haben. Die zukünftigeEntwicklung hin zu mehr elektronischem Rechtsver-kehr wird aber dafür sorgen, dass die Möglichkeit derelektronischen Antragstellung auch von Bürgerinnenund Bürgern mehr und mehr genutzt wird. Insbeson-dere bei der Auskunft aus dem Bundeszentralregisterbedarf es nur einer einfachen Identifizierung, sodassdie Sicherheitsschwelle eher gering anzusetzen ist.Auch dies wird dazu führen, dass sich die elektronischeAntragstellung durchsetzen wird.Ebenfalls die Kommunen werden auf Dauer von derelektronischen Antragstellung profitieren. Zwar wer-den die Gebühren nicht mehr den Kommunen, sonderndem Bund zufließen. Die Auskunftserteilung erfolgteben nicht mehr durch die Meldebehörde, sonderndurch die Registerbehörde; mithin fließen die Gebüh-ren direkt an den Bund. Da die Kommunen aber erheb-liche Kosteneinsparungen für Personal und Sachmittelhaben werden, wird in Zukunft ein finanzieller Gewinnder Kommunen zu verzeichnen sein.Der Bundeshaushalt kann mit Mehreinnahmen vonzu Beginn 2,5 Millionen Euro pro Jahr und nach Errei-chen des mittelfristig geschätzten Antragsaufkommensvon rund 10,2 Millionen Euro pro Jahr rechnen.Die voraussichtlichen Kosten, solche, die zu Beginneinmalig anfallen, wie etwa für die Anschaffung dernotwendigen Hard- und Software, und die laufendenKosten, beispielsweise für die Instandhaltung der ITund den Mehrbedarf an Personal, werden durch diegrößer ausfallenden Einnahmen der Registerbehördegedeckt sein; diese gehen nämlich weit über die nöti-gen Beträge hinaus.Unbedingt zu betonen sind die Vorteile, die durchdas neue System entstehen. Neben der erheblichen Er-leichterung des Verfahrens, welches eine Antragstel-lung ermöglicht, ohne persönlich bei der zuständigenBehörde vorstellig werden zu müssen, ist auch diemassive Beschleunigung zu nennen. Bei einer Erspar-
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29872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Dr. Patrick Sensburg
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nis von durchschnittlichen 16 Minuten pro Fall erge-ben sich 128 000 Stunden pro anno, welche für diesenbürokratischen Aufwand eingespart werden können.Neben der Verbesserung für die Bürgerinnen undBürger wird sich auch ein geringerer Verwaltungsauf-wand bei der Registerbehörde selbst beobachten las-sen. Grund dafür ist, dass zukünftig nur noch dieseeine Instanz zuständig ist und ein sogenanntes One-Stop-Shop-System entsteht. Mit der aktuellen, immerweniger zeitgemäßen Regelung sind immer mindestenszwei Instanzen involviert: zum einen die, die den An-trag entgegennimmt, und zum anderen die, welche dieIdentität und Meldedetails bestätigt.Die zuvor genannten Vorteile und Verbesserungenfür viele Teile unserer Gesellschaft überwiegen an-fängliche Herausforderungen, wie zusätzlicher Per-sonalbedarf und neue praktische Prüfaufgaben bei derRegisterbehörde auf Bundesebene. Diese werden zubewältigen sein.Da bereits bundeseinheitliche Regelungen beste-hen, ist die Gesetzgebungszuständigkeit gegeben. DieWahrung der Rechtseinheit, welche im gesamtstaat-lichen Interesse erforderlich ist, kann nur so garantiertwerden. Eine Regelung durch die Länder kann diesnicht erreichen.Im Laufe der Zeit ist durch die weitere Verbreitungdes neuen Personalausweises auch mit einer Zunahmeder elektronischen Anträge zu rechnen. Die Einfüh-rung neuer Anwendungen wird die Attraktivität dereID-Funktion steigern. Auch der vorliegende Gesetz-entwurf trägt dazu bei.Um auch im internationalen Bereich weiter mithal-ten zu können und das E-Government mitzugestaltenund weiterzuentwickeln, braucht die Bundesrepubliksolche modernen und vorausschauenden Gesetzes-änderungen.Die Union ist hier Vorreiter bei einem modernenE-Government und beim Bürokratieabbau. Die Oppo-sition hatte viele Jahre Zeit, etwas zu machen, und hatnichts auf den Weg gebracht. Wir tun was.
Schon 2008 hat die damalige SPD-JustizministerinBrigitte Zypries eine grundlegende Überarbeitung derAllgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführungdes Bundeszentralregistergesetzes vorgelegt, der wirdann auch hier im Parlament zugestimmt haben. Da-mit konnten die Meldebehörden beim Bundeszentral-register das Führungszeugnis elektronisch anfordern.Durch den Übergang von der schriftlichen auf dieelektronische Antragstellung schufen wir die ersteGrundlage dafür, dass Anträge von Bürgerinnen undBürgern auf Erteilung eines Führungszeugnisses we-sentlich schneller bearbeitet werden konnten.Doch die Bürgerinnen und Bürger mussten auchweiterhin einen Antrag auf Erteilung des Führungs-zeugnisses bei der Meldebehörde stellen. Problema-tisch war nämlich der elektronische Identitätsnach-weis.Nachdem mit dem neuen Personalausweis der elek-tronische Identitätsnachweis realisiert wurde, ist nunauch die elektronische Antragstellung durch die Bür-gerinnen und Bürger bei Gewährung des dafür not-wendigen Datenschutzes möglich. Die Datensicherheitmuss natürlich zwingend gegeben sein. Wir wissen jaalle, dass das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung eine besonders hohe Bedeutung genießt.Mit der geplanten Rechtsänderung werden die Ver-fahrensabläufe bei Auskünften aus dem Bundeszentral-register weiter beschleunigt. Durch die Einführung deselektronischen Datenaustauschs können Anfragen derBürgerinnen und Bürger künftig rascher und einfachererledigt werden; denn der Umweg über die Meldebe-hörden entfällt.Die beschleunigte Datenverarbeitung bei der Er-teilung von Führungszeugnissen im Bundeszentral-register kommt vor allem den Bürgerinnen und Bür-gern zugute. Wer ein einfaches oder erweitertesFührungszeugnis aus dem Zentralregister benötigt,zum Beispiel, wenn bei einer Bewerbung ein Füh-rungszeugnis verlangt wird, braucht also künftig nichtmehr wie bisher zum Einwohnermeldeamt zu gehen.Der Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisseskann direkt online beim Bundesamt für Justiz als zu-ständige Registerbehörde gestellt werden.Damit werden auch die Kommunen entlastet. Aller-dings muss auch gesagt werden, dass dann auch ent-sprechend die Gebühreneinnahmen für die bisherigenAntragstellungen wegfallen. Die Umstellung auf dasautomatisierte Verfahren aber verringert den bisheri-gen personellen Aufwand und rationalisiert das Regis-terverfahren.Das elektronische Antragsverfahren beim Füh-rungszeugnis wird nun ermöglicht, weil das Personal-ausweisgesetz den elektronischen Identitätsnachweisallgemein im Rechtsverkehr zulässt. Für Ausländerkönnen auch Aufenthaltstitel, die mit einem elektroni-schen Speicher- und Verarbeitungsmedium versehensind, für die elektronische Antragstellung verwendetwerden.Allerdings ist für die Überprüfung der Angaben zurPerson auch der Geburtsname für die registerrecht-liche Zuordnung von Bedeutung. Erst mit dem neuenPersonalausweis ist die elektronische Übermittlungdes Geburtsnamens möglich. Damit kann die Richtig-keit und Vollständigkeit der Angaben zur Person undzum Wohnort, die bei elektronischer Übermittlung de-nen des Personalausweises entsprechen müssen, durchden Empfänger überprüft werden. Ein Abgleich mitden Daten im Melderegister ist dann nicht mehr erfor-derlich.Das ist erst seit dem 21. Juni 2012 möglich. Umauch Personen, die Dokumente besitzen, in denen derGeburtsname nicht gespeichert wurde, die elektroni-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29873
Dr. Edgar Franke
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sche Antragstellung zu ermöglichen, können sie denGeburtsnamen im Antrag angeben. In diesen Fällenwird die Registerbehörde dann jedoch einen Datenab-gleich mit dem Melderegister vornehmen müssen.Es ist sinnvoll, die elektronische Antragstellungauch zur Erteilung der Auskunft aus dem Gewerbe-zentralregister zu ermöglichen, wie es der vorliegendeGesetzentwurf vorsieht. Auch hier soll der neue Per-sonalausweis eine sichere Identifizierung des Antrag-stellers gewährleisten.Der Petitionsausschuss des Bundestages befürwor-tet die Zulassung der elektronischen Beantragung desFührungszeugnisses. Anders als der Regierungsent-wurf hält er aber eine Gesetzesänderung zur Schaffungdieser Möglichkeit nicht für erforderlich.Nun, das Bundeszentralregistergesetz regelt dieGrundlagen der Organisation, Führung und Verwal-tung des Zentralregisters, ferner Inhalt, Reichweite,Dauer und Tilgung der Eintragungen sowie die Vo-raussetzungen zur Erlangung von Auskünften aus demRegister. Da ist es doch notwendig und sinnvoll, die ef-fiziente und vereinfachte elektronische Antragstellungim Gesetz zu verankern und so an die moderne Infor-mationstechnologie anzupassen.Das Gesetz führt also das zu Ende, was eine sozial-demokratische Justizministerin konzeptionell angelegthatte.
Die Beantragung eines polizeilichen Führungs-
zeugnisses oder die Erteilung der Auskunft aus einem
Register ist für Bürgerinnen und Bürger nach wie vor
nicht einfach und unkompliziert möglich. Begrenzte
Öffnungszeiten in den Ämtern, lange Wartezeiten,
unflexible Bearbeitung, schriftliche Antragstellung:
Diese Dinge machen für Bürgerinnen und Bürger oft-
mals ihre Erlebnisse mit der Verwaltung in Deutsch-
land aus.
Die christlich-liberale Koalition möchte diesen Zu-
stand beenden. Wir möchten, dass zukünftig Bürgerin-
nen und Bürger die Möglichkeit haben, auf verschiede-
nen Wegen mit der Verwaltung zu kommunizieren. Mit
dem E-Government-Gesetz des Bundes haben wir den
Grundstein dafür gelegt. Mit dem Gesetz zur Änderung
des Bundeszentralregistergesetzes möchten wir einen
weiteren Baustein der liberalen Strategie zur Verwal-
tungsmodernisierung setzen. Denn auch in der Verwal-
tungsmodernisierung waren es vier gute Jahre für
Deutschland.
Moderne Verwaltung muss für Bürgerinnen und
Bürger die Möglichkeit bieten, auf verschiedenen We-
gen mit ihr zu kommunizieren. Die Zeiten, in denen
man Nummern in Ämtern ziehen muss, können zu Ende
gehen.
Das Bundeszentralregistergesetz ermöglicht den
Bürgerinnen und Bürgern ab sofort nicht nur persön-
lich die Ausstellung von polizeilichen Führungszeug-
nissen. Auch auf elektronischem Weg können sie zu-
künftig beantragt werden.
Wir werden im Detail noch einmal überprüfen, ob
hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Aber wir
sind der Ansicht, dass mit dem Gesetzentwurf der Bun-
desregierung ein gelungener erster Wurf auf dem Tisch
liegt. Wir prüfen, ob und wie wir diesen Vorschlag
noch weiter verbessern können.
Mit dem neuen Bundeszentralregistergesetz schaf-
fen wir für Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit,
einfach und ohne großen Aufwand die Informationen
beizutreiben, die sie zum Beispiel für Bewerbungen be-
nötigen. Ich würde mich daher freuen, wenn Sie uns
dabei unterstützen.
Im Endspurt der Wahlperiode und bemüht um eineAufbesserung ihrer miesen Bilanz, führt die Koalitionauf ziemlich halsbrecherische Weise einige ihrer frag-würdigen oder sogar gescheiterten Großprojekte imBereich der Informations- und Kommunikationstech-nik, IKT, zusammen. Keine Rolle spielen dabei Gefah-ren für die Daten der Bürgerinnen und Bürger, klareDefizite und systembedingte Sicherheitslecks.Der Zufall hilft manchmal der Wahrheit auf dieSprünge. Wenige Stunden vor der Vorlage der Bundes-tagstagesordnung, auf der der Gesetzentwurf zur Än-derung des Bundeszentralregistergesetzes auftauchte,wurde eine Stellungnahme des Bundesrechnungshofs,BRH, bekannt, in der dieser mit deutlichen Worten be-mängelte, dass es dem Bundesamt für Sicherheit in derInformationstechnik, BSI, in mehr als zwei Jahrennicht gelungen sei, eine zertifizierte Software zur Nut-zung der elektronischen Identität im neuen elektroni-schen Personalausweis zur Verfügung zu stellen.Und wie hängt beides zusammen? Der vorliegendeGesetzentwurf soll die – im Grunde ja wünschenswerte –Nutzung eines elektronischen Zugangs zu Führungs-zeugnissen und Auskünften aus dem Gewerbezentral-register eröffnen. Die bisher unbedingt vorgeschrie-bene persönliche Antragstellung wäre damit hinfällig.Der Bundesrechnungshof schreibt dazu, dass zwarüber 4 Millionen Euro ausgegeben worden sind, einezertifizierte Software für den Identitätsnachweis dernotwendigen Ausweis-App aber nicht vorliege.Was ist die Folge? Nach der Personalausweisver-ordnung sollen die Nutzer dieser Ausweis-App auf ih-rem PC, Laptop oder anderem sicherstellen, dass sienur eine vom BSI zertifizierte Software einsetzen, weildamit hinreichende Sicherheit gegeben sei. Tun sie dasnicht – und das ist das Entscheidende –, gehen sie un-kalkulierbare Haftungsrisiken ein, sowohl was Daten-verluste, als auch was kommerzielle Aktivitäten be-trifft.Laut BRH wurden die Nutzerinnen und Nutzer we-der über die Nichtzertifizierung noch über die damitverbundenen rechtlichen Probleme und Risiken infor-miert. Die Deutsche Rentenversicherung biete gar denelektronischen Zugang auf die Versichertendaten anZu Protokoll gegebene Reden
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Jan Korte
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und verweise – wahrheitswidrig – auf eine zertifizierteAusweis-App des BSI.In einer ersten Zusicherung hatte das BMI die Zer-tifizierung verbindlich zugesagt. Der BRH zitiert sieaber nun in dem Sinne, dass eine Zertifizierung in ih-ren Augen nicht mehr nötig sei, da das BSI bei der Ent-wicklung der Software ja schon alles geprüft habe.„Auftretende Schwachstellen frühzeitig er-
Ich halte es ja tatsächlich für ein Problem, wenn diesoftwareentwickelnde Behörde, hier also das BSI, die-selbe ist, die das Produkt zertifizieren soll. So eine In-teressenkollision haben wir im Gegensatz zu Ihnen im-mer kritisiert und vor den Folgen gewarnt. Dass dieseKonstruktion jetzt aber auch noch dafür herhaltenmuss, eine Zertifizierung ad acta zu legen, auf eine öf-fentlich nachvollziehbare Sicherheitsbewertung zuverzichten und die Nutzerinnen und Nutzer unwissendzu lassen, das ist schon ein ziemlicher Hammer.Dieses Vorgehen entspricht aber – und damit zurückzum vorliegenden Gesetzentwurf und dem nächstenSystemproblem – dem standardisierten fahrlässigenUmgang dieser Bundesregierung mit zum Teil hoch-sensiblen Daten der Bürgerinnen und Bürger: Schonauf der ersten Seite der Gesetzesbegründung wirdnämlich auf die neuen Regelungen des Entwurfs eines„Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwal-tung …“, Bundestagsdrucksache 17/11473, verwiesen.Dieses erst vor wenigen Tagen verabschiedete soge-nannte E-Government-Gesetz basiert auf dem De-Mail-Gesetz und der damit verbundenen unsicherenTechnik: ein hochgefährlicher Systemfehler der ange-strebten elektronischen Verwaltung. Auf der Sachver-ständigenanhörung wurde das ausgesprochen an-schaulich dargestellt. Die Bundesregierung wollte dasnicht ändern und senkte stattdessen die Sicherheits-standards in den Behörden zur Weitergabe von Datenab.Eine kleine Zwischenbilanz: Der vorliegende Ge-setzentwurf zwingt die Bürgerinnen und Bürger, mögli-cherweise unsichere Technik einzusetzen und der Bun-desregierung zu glauben, dass das schon in Ordnunggehe. Derselbe Gesetzentwurf fußt in einer Regelung– zum Umgang mit dem Geburtsnamen – auf dem ge-rade erst verabschiedeten Gesetz zur elektronischenVerwaltung, das wiederum auf der unsicheren De-Mail-Technik basiert.Beide zusammen würden nicht funktionieren, hättedie Bundesregierung nicht das unsichere Projekt dereID auf dem neuen Personalausweis gegen alle Kritikauf Biegen und Brechen ohne jede Notwendigkeitdurchgesetzt.Kaum eines der Versprechen auf optimale Daten-sicherheit in den Großprojekten der Regierung konnteeingehalten werden. Alle – bis auf das in aller Schön-heit gestorbene ELENA – wurden und werden jetzt imEndstadium der Legislaturperiode durchgedrückt, umvollendete Tatsachen zu schaffen und im Dienstewirtschaftlicher Interessen. Ich erinnere hier nur anE-Perso, E-Government, ePass und elektronische Ge-sundheitskarte.Dagegen steht die Vernunft der Bürgerinnen undBürger: 17,5 Millionen Personalausweise mit eID-Funktion wurden bis Oktober 2012 ausgegeben. Bei70 Prozent davon haben klugerweise die Ausweisinha-berinnen und -inhaber die eID-Funktion ausschaltenlassen. Denn noch kann man das, obwohl immerhin130 behördliche und kommerzielle Internetdienste da-mit anzuzapfen wären.Hier zeigt sich korrektes bürgerliches Misstrauen.Die Regierung scheint darauf zu setzen, durch voll-endete Tatsachen und immer mehr per gesetzlichemZwang eingeleitete Angebote dieses Misstrauen ausder Welt schaffen zu können. Ich bin mir sicher, dass essich dann eben anderswo wieder zeigen wird.
Als wir hier vor ein paar Jahren die Einführung deselektronischen Personalausweises debattiert haben,da war ein ganz laut vorgetragenes Argument immer:Damit kann man sich elektronisch identifizieren, dasschafft Sicherheit im Onlinehandel und macht den Um-gang mit staatlichen Behörden ganz einfach.Inzwischen haben wir gelernt: Niemand hat es be-sonders eilig, diese Segnungen für sich nutzbar zu ma-chen. Genau wie bei der elektronischen Signatur istdie meistgestellte Frage: Wozu brauche ich das? Undwie bei der Signatur beantworten die meisten dieseFrage mit einem Schulterzucken. Die Bundesregierunghat das auch bemerkt, und in der Begründung diesesGesetzes festgehalten: Kaum einer will die Identifika-tionsfunktion, und selbst die Bundesregierung erwartetnicht, dass es mehr werden.Kein Wunder, es gibt keine Verwendung für dieseFunktion, nur Risiken. Und weil die Infrastruktur zuteuer ist, wird sich das auch in der Tat nicht ändern.Also nimmt es die Regierung nun auf sich, ein Angebotzu schaffen, das dann auch wieder keiner nutzt.Was sind die Zahlen? Nach zwei Jahren haben17,5 Millionen Menschen den neuen Personalausweis.Bei 75 Millionen Staatsbürgerinnen und Staatsbür-gern, die in Deutschland leben, hat also knapp einViertel den neuen Ausweis. Bei einer Geltungsdauervon fünf bzw. zehn Jahren, bei Verlusten und Ersatz istdas einfach genau die Zahl, die man nach zwei Jahrenerwarten kann. Also kein Run auf den neuen Ausweismit seinen tollen Fähigkeiten.Von diesen 17,5 Millionen neuen Ausweisen ist beinur 30 Prozent – also knapp 4,5 Millionen – die Funk-tion zur elektronischen Identifikation eingeschaltet.Erstes Mysterium: Die Bundesregierung erwartetjährlich 500 000 Anträge auf elektronische Register-auskunft. Nun mag man sagen: Es werden ja mehrAusweise, also auch mehr mit Identifikationsfunktion –stimmt, aber werden die wirklich alle dann einen An-trag elektronisch stellen? Ich habe meine Zweifel. Undnimmt man mal an, dass nur die Hälfte von denen, dieZu Protokoll gegebene Reden
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Wolfgang Wieland
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es könnten, den elektronischen Weg wählt, dann war-ten wir noch eine ganze Weile, bis solche Zahlen er-reicht sind.Das zweite Zahlenrätsel bezieht sich auf die Zahlder Anträge: Es sind jedes Jahr 4 Millionen. Andersgesagt: Knapp jeder Zwanzigste stellt im Jahr einenAntrag. Oder: Jeder nur alle knapp 20 Jahre. Warumsollte ich mir für so eine seltene Notwendigkeit eineelektronische Identifikationsfunktion in meinem Aus-weis anschalten lassen?Mich überzeugen diese Zahlen keinesfalls von derNotwendigkeit, dieses neue Verfahren einzuführen. DieKosten jetzt sind garantiert, der Nutzen wirklich über-schaubar. Keine Bürgerin und kein Bürger wird sich jedarüber beschweren, dass es so umständlich sei, wennman für einen Antrag, den man nur alle 20 Jahre stellt,zum Amt gehen muss – zumal an solchen Anträgen zu-meist ja auch einschneidende Ereignisse wie ein Wech-sel des Arbeitsplatzes hängen; es also nicht darumgeht, die Bürokratiebelastung im Alltag zu reduzieren.Wer die technischen Schwierigkeiten mit dem neuenAusweis kennt, wer weiß, dass alle Projekte dieser Artnoch immer teurer geworden sind als geplant, derfragt sich wirklich, ob es die Millionen an einmaligenKosten wert sind, hier einen elektronischen Zugang zubauen, den ohnehin niemand nutzen will. Und es wirdja bei einer Doppelstruktur bleiben müssen, der papie-rene und persönliche Antrag bleibt ja möglich.Der Entwurf räumt auch jegliche Sicherheitsbeden-ken nonchalant beiseite. Es soll ein einfaches Verfah-ren sein, also können auch schriftliche Nachweise ein-gescannt und zugeschickt werden, und selbst eineVersicherung an Eides statt über die Echtheit derNachweise kann elektronisch abgegeben werden. Allesohne ernstzunehmende technische Sicherung. Wie be-fürchtet, wird die Identifikationsfunktion zur Signaturlight – auch elektronisch, dafür aber nicht sicher.Alles in allem: Ein Projekt, das keiner braucht,technische Mängel absehbar, damit auch Datenschutz-probleme. Aus unserer Sicht die falsche Anwendung ei-nes überflüssigen Ausweises.
Interfraktionell wird Überweisung des Entwurfs auf
Drucksache 17/13222 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine ande-
ren Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Angelika Graf ,
Petra Crone, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Menschenrechte älterer Menschen stärken
und Erarbeitung einer UN-Konvention för-
dern
– Drucksachen 17/12399, 17/13220 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Angelika Graf
Pascal Kober
Katrin Werner
Tom Koenigs
Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Lassen Sie mich mit einer persönlichen Beobach-tung beginnen. Da stehe ich – noch keine 50 Jahre alt –morgens vor dem Spiegel, betrachte die Falten in mei-nen Augenwinkeln und denke: Du solltest es vielleichtmal mit einer Anti-Ageing-Creme probieren. Anti-Ageing-Creme – ein Produkt gegen Falten, das sichdreist damit schmückt, dem Altern vorzubeugen: „Ge-gen-das-Altern-Creme“ hieße sie zu Deutsch. Spracheverrät ja bekanntlich eine Menge über Inhalte und Ab-sichten. Und die Werbesprache ist häufig ein besseresIndiz für gesellschaftliche Normen, als alle politischenDebatten und intellektuellen Diskurse es sein können.Dem Altern kann man nicht vorbeugen. Die Hautkann man pflegen. Um die Fitness kann man sich küm-mern. Doch jeder Mensch wird alle 24 Stunden einenTag älter. C’est la vie – so ist das Leben.Historisch neu und in der Geschichte bisher einma-lig ist, dass wir alle, unsere gesamte Gesellschaft, je-den Tag älter werden. Das Altern der Bevölkerung isteiner der bedeutenden Trends des 21. Jahrhunderts.Der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon schreibt: „Die sozialen und wirtschaftlichen Fol-gen dieses Phänomens sind tiefgreifend und reichen inbeispielloser Weise weit über das Individuum und dieFamilie hinaus bis in die Gesamtgesellschaft und dieWeltgemeinschaft.“ Die weltweiten Zahlen besagen,dass 2050 mit 2 Milliarden Menschen ein Fünftel derMenschen dieser Erde über 60 Jahre alt sein wird. Heuteist es nur ein Neuntel. 80 Prozent der über 60-Jährigenwerden 2050 – das ist der geografische Unterschied –in Entwicklungsländern leben. Die OrganisationHelpAge hat gesagt: „Die Welt wird grau.“Das ist ein gesellschaftlicher Wandel, den es wahr-zunehmen und zu gestalten gilt. Eine Herausforderungnicht nur für die Politik. Das Altwerden ist Teil meinesLebens. Und ich erschrecke, wenn ich das immanenteVorurteil wahrnehme, das da bei mir selber mit-schwingt, indem ich zur Anti-Ageing-Creme greife.Oder besser gesagt: wenn ich diesen Begriff nutze.Wenn schon die tägliche Körperpflege sich mit einemReflex gegen das Altwerden an sich verbindet, dann istdas ein schlechtes Zeichen.Die Haltung, die dahintersteckt, kulminiert in kei-nem Begriff stärker als im Wort „Überalterung“. Fürmich ist dieser Begriff schon eine Diskriminierung insich. Da wird ein gesellschaftlicher Konsens infragegestellt, der den eigentlichen Kitt unseres Zusammen-lebens darstellt: das Miteinander der alten und der
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Frank Heinrich
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jungen Menschen, der sogenannte Generationenver-trag. Hier wird ein Problem – das es ja tatsächlich gib,und dem wir uns stellen müssen –, das Problem des de-mografischen Wandels, einseitig einer Generation an-gelastet, nämlich der älteren.Ich plädiere erneut dafür, hier einen anderen Begriffin die Debatte einzuführen: die „Unterjüngung derGesellschaft“. Wir haben zu wenig Kinder – nicht zuviele alte Menschen. Wir werden nicht nur älter, wirwerden auch weniger. Und das verändert die Gesell-schaft. Herbert Henzler und Lothar Späth schlagen inihrem lesenswerten Buch „Der Generationen-Pakt“sogar einen Paradigmenwechsel vor, im Untertitelheißt es: „Warum die Alten nicht das Problem, son-dern die Lösung sind“. Die Alten, das zeigen die bei-den Autoren an vielen Daten und praktischen Beispie-len, werden gebraucht. Ja, ich möchte verstärken: Siewerden heute mehr gebraucht denn je: die Erfahrungund das Engagement der alten Menschen – welchessich in nicht zuletzt in unzählbaren Stunden ehrenamt-licher Arbeit ausdrückt, deren volkswirtschaftlicherBeitrag sich zu mehrstelligen Milliardensummen sum-miert und deren eigentlicher Wert nicht diesen beein-druckenden ökonomischen Kennzahlen, sondern imsozialen Miteinander sichtbar wird.Um zwei Beispiele zu nennen: Wie oft ist es nichteine wirtschaftliche Maßnahme wie etwa das Eltern-geld – so richtig und wichtig und politisch notwendigdas Elterngeld ist! –, die ein Paar dazu bewegt, denKinderwunsch zu realisieren, sondern es sind ganz an-dere, soziale Gründe. Es sind Oma und Opa und ihreBereitschaft, die junge Familie zu unterstützen und zuentlasten, die Kinder von der Kita oder der Schule ab-zuholen, sie mal abends ins Bett zu bringen oder auchmal den einen oder anderen finanziellen „Zuschuss“zu geben. Oder das andere Beispiel: Wie oft sind esnicht die professionellen Pflegedienste, die sich um dieKranken kümmern, so wichtig es für die Politik ist,Pflege institutionell zu organisieren und – wie das mitder Pflegeversicherung geschehen ist – sie wirtschaft-lich gesund und langfristig stabil aufzustellen. Es sindin überwältigender Mehrheit die Angehörigen, die Le-benspartner, die den Pflegebedürftigen liebevoll undunter großem zeitlichem Aufwand pflegen.Alte Menschen sind ein Schatz und eine Bereiche-rung für eine Gesellschaft. Und das gilt nicht nur fürdie fleißigen und fitten „jungen Alten“, das gilt auchdann, wenn diese älteren Menschen „wunderlich“oder „gebrechlich“ werden, um zwei ältere Adjektivezu bemühen. Ich persönlich habe als Kind 14 Jahremeines Lebens in einem Altenheim gelebt; meine El-tern haben diese Einrichtung mit geleitet. Viele dieserMenschen werde ich nie vergessen. Ich erinnere michan Gesichter, und ich erinnere mich an Begegnungen.Wie ich bereits in meiner letzten Rede erwähnte, erin-nere mich an Oma Berta, wie wir sie alle nannten;schon 99 Jahre alt, war sie doch quicklebendig und einaufmunternder Gesprächspartner für die Menschenum sie herum, nicht nur im Haus selber, sondern auchim Dorf, in dem das Heim stand. Ich erinnere michauch an Opa Walther, der überhaupt kein Problemhatte, sich mit den Jugendlichen zu unterhalten, undder ihnen mit seinem reichen Erfahrungsschatz undseinem breiten Wissen in vielen Diskussionen das Was-ser reichen konnte. Wir jungen Leute hingen an seinenLippen und konnten gar nicht genug von seinen Ge-schichten hören.Ältere Menschen – ich wiederhole mich und werdean dieser Stelle auch nicht müde, mich zu wiederho-len – sind ein sozialer Schatz für unsere Gesellschaft.Sie verdienen unsere Wertschätzung. Daneben brau-chen sie aber auch unseren Schutz. Die Menschen-rechte älterer Menschen stärken und Altersdiskrimi-nierung schon in ihren Ansätzen zu unterbinden: Ja,das müssen wir tun! Hier ist Politik gefordert.Die oben erwähnte Aussage Ban Ki-moons machtdeutlich, dass die demografische Entwicklung ein glo-bales Problem ist. Und doch gibt es dabei große regio-nale Unterschiede. Alleine die Entwicklungen in dernördlichen und der südlichen Hemisphäre gehen weitauseinander. Diesem Umstand trägt der heute zu dis-kutierende Antrag leider zu wenig Rechnung. Er istnicht differenziert genug.Die Lage älterer Menschen hat sich in den Entwick-lungsländern in den letzten Jahren dramatisch ver-schlechtert. Ältere Menschen haben in Afrika, in Asienund auch in Lateinamerika aufgrund ihrer Lebens-erfahrung nicht nur innerhalb der Kernfamilie tradi-tionell einen hohen gesellschaftlichen Status. Siegalten als Lehrer, als „Weise“ und damit als Entschei-dungsträger oder juristische Vermittler in der Ge-meinde bzw. der Gemeinschaft. Dieser Status ändertsich rasant. Zurzeit erleben alte Menschen besondersin Afrika immer häufiger Gewalt und Misshandlungen.Die Gründe dafür zu analysieren, ist eine elementareVoraussetzung dafür, dem Problem wirksam begegnenzu können. Dabei spielen sicherlich existenziellerDruck und wirtschaftliche Notsituationen eine zentraleRolle. Armut oder HIV/Aids sind Gründe für die Ver-schlechterungen, ebenso Analphabetismus und die hö-here Vulnerabilität älter werdender Menschen.Ob diese Probleme durch eine UN-Konvention fürdie Rechte älterer Menschen gelöst werden können, istfraglich. Um diese Frage aber auch wirklich zu beant-worten, hat die „UN Open-ended Working Group onAgeing“ im Dezember 2012 den Auftrag erhalten, dietatsächliche Notwendigkeit einer solchen Konventionund in deren Folge die Einsetzung eines UN-Sonderbe-richterstatters für die Menschenrechte älterer Men-schen zu prüfen und einen Vorschlag dazu zu unter-breiten, welche Punkte eine Vereinbarung zum Schutzder Rechte Älterer umfassen sollte. Da abschließendeErkenntnisse aktuell noch nicht vorliegen, ist der Zeit-punkt, eine solche Konvention zu fordern, eindeutigverfrüht. Diese Einschätzung teilen alle mitberatendenAusschüsse, die den Antrag abgelehnt haben: der Aus-wärtige Ausschuss, der Ausschuss für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend, der GesundheitsausschussZu Protokoll gegebene Reden
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und der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammen-arbeit und Entwicklung.Als Menschenrechtler können wir bereits vor demBericht der UN-Arbeitsgruppe feststellen, dass ent-sprechende völkerrechtliche und menschenrechtlicheVoraussetzungen zum Schutze der älteren Menschenbestehen.Da sind der Internationale Pakt über bürgerlicheund politische Rechte, der Pakt über wirtschaftliche,soziale und kulturelle Rechte sowie die InternationaleKonvention zum Schutz der Rechte aller Wander-arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. Immergeht es in diesen Übereinkünften auch um das Alter,auch wenn es nicht immer explizit genannt wird.Ausdrücklich benennt und verbürgt Art. 25 der 2009in Kraft getretenen Charta der Grundrechte der Euro-päischen Union das Recht älterer Menschen auf einwürdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahmeam sozialen und kulturellen Leben.Alter ist darüber hinaus eines von sechs Merkma-len, die durch das deutsche Allgemeine Gleichbehand-lungsgesetz von 2006 geschützt werden – dort heißt esausdrücklich: Niemand darf aufgrund seines Altersdiskriminiert werden.Nicht die fehlende Rechtsgrundlage ist also das we-sentliche Problem, wenn es darum geht, ältere Men-schen besser zu schützen. Es besteht vielmehr derBedarf, die bestehenden Verträge, die aus diesen Ver-trägen resultierenden Mechanismen besser anzuwen-den.Denn – und da gehen die Fraktionen der Regie-rungskoalition und die Antragsteller konform – es lie-gen große nationale und internationale Herausforde-rungen vor uns.Daher können wir die Forderung unterstützen, dasssich die Bundesregierung im Rahmen von Entwick-lungspartnerschaften und wirtschaftlicher Zusammen-arbeit auch weiterhin für die Umsetzung von Systemendes sozialen Basisschutzes, für sogenannte Social Pro-tection Floors, in Partnerländern einsetzt und aufdiese Länder hinwirkt, im menschenrechtlichen Be-reich ordnungsrechtliche Verantwortung zu überneh-men.Auch in Deutschland ist der Status quo nicht befrie-digend. Auch hier möchte ich erneut einige in meinerletzten Rede genannten Probleme in Deutschland kon-kret ansprechen:Die altersbedingten Krankheiten, die eine Demenzzur Folge haben – in der öffentlichen Diskussion istAlzheimer der bestimmende Begriff –, führen oft zuFremdbestimmung und Entmündigung, zu Altersarmutund Diskriminierung.Es gibt Diskriminierung im Erwerbsleben, beim Ab-schluss von Versicherungen und soziale Isolation.Auch Fälle von Misshandlungen im Pflegewesen wur-den publik: körperliche Misshandlung durch Festhal-ten, emotionale Misshandlung durch Beschimpfungoder in Form von Vernachlässigung.Der angloamerikanische Sprachraum hat für dasPhänomen der Altersdiskriminierung einen Fachbe-griff – analog dem Sexismus – geformt: Ageism. Esexistiert noch keine adäquate deutsche Entsprechung.Geriatrismus vielleicht? Gemeint sind stereotype Ein-stellungen, die zu diskriminierendem Verhalten gegen-über älteren Menschen führen. Ageism beschreibt ei-nerseits die Diskreditierung des Altersprozesses alssolcher – Sie erinnern sich an mein einleitendes Bei-spiel von der Anti-Ageing-Creme? – und andererseitsdie Exklusion von der Teilhabe am gesellschaftlichenLeben all derjenigen, die als „alt“ etikettiert werden.Sie erinnern sich an das von mir zitierte Beispielaus der Tageszeitung „Die Welt“? Sie hat im vergan-genen Jahr in einem Bericht das Beispiel von MargretSchukies, einer attraktiven und unternehmungslusti-gen Dame, 62 Jahre alt, beschrieben. Sie wollte sicheinen Hundewelpen in einem Tierheim abholen; aberdie Leiterin des Tierheims sagte zu ihr, sie sei zu alt.Wir finden nach wie vor diskriminierende Alters-grenzen, Höchstaltersgrenzen genannt, im Ehrenamtund im Kirchengesetz.Wir dürfen daher in unseren Anstrengungen gegendie Altersdiskriminierung nicht nachlassen!Und deswegen ist es mir, neben der klaren Benen-nung der Probleme, auch wichtig, auf die begonnenenMaßnahmen hinzuweisen. Wir brauchen dafür, das for-dern die Antragsteller zu Recht, eine stärkere Einbe-ziehung aller zivilgesellschaftlichen Verbände.Die bereits bestehenden menschenrechtlichenSchutzmechanismen für ältere Menschen habe ich be-reits erwähnt. Darüber hinaus gibt es auf den ver-schiedenen politischen Ebenen Maßnahmen gegen Al-tersdiskriminierung.Das Jahr 2012 ernannte die Europäische Unionzum „Europäischen Jahr für aktives Altern und Solida-rität zwischen den Generationen“. Um eine breiteeuropäische Debatte voranzubringen, wurden anläss-lich dieses Jahres 90 Initiativen auf lokaler, nationalerund europäischer Ebene initiiert und durchgeführt.In Deutschland wurde ebenfalls im vergangenenJahr die Demografiestrategie der Bundesregierungunter dem Titel „Jedes Alter zählt“ auf den Weg ge-bracht. Sie vereint mehrere Zielrichtungen. Eine davonist es, in der Bevölkerung ein Bewusstsein für dasThema zu schaffen. Die Bundesregierung engagiertsich bei der Bekämpfung von Stereotypen bezüglich äl-terer Menschen und setzt sich für eine bessere Lebens-qualität ein.Die Demografiestrategie umfasst sechs Themenfel-der. Um eines davon beispielhaft herauszunehmen:Unter der Überschrift „Selbstbestimmtes Leben im Al-ter“ geht es um die Ziele: selbstbestimmtes Leben, Ak-tivität im Alter, gesellschaftliche Teilhabe, gesundesAltern.Zu Protokoll gegebene Reden
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Zu würdigen in diesem Zusammenhang ist die Ar-beit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit ih-rem Themenjahr 2012 und der Kampagne „Im bestenAlter. Immer.“Als erstes deutsches Bundesland hat Sachsen 2005,und das sage ich als sächsischer Abgeordneter nichtohne Stolz, einen Landesseniorenbeauftragten bestellt.Dieser hat sich seither unter anderem um folgendekonkrete Projekte gekümmert: Förderung der Teilhabeam gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, ins-besondere im ländlichen Raum, oder die altersentspre-chende Anpassung von Bildschirmen und Eingabemas-ken. Diese guten Erfahrungen aus Sachsen lassen sichauf andere Bundesländer übertragen.Ähnliches gilt für die Arbeit der Seniorenbeiräte.Ich unterstütze daher das Anliegen des Antrags, dieBundesregierung aufzufordern, auf die Bundesländereinzuwirken, Seniorenbeiräte in den Ländern undKommunen nach einheitlichen rechtlichen GrundlageneinzurichtenIn meinem Wahlkreis Chemnitz gibt es ein bemer-kenswertes Forschungsprojekt. Im Rahmen der Profes-sur für Arbeitswissenschaft gibt es das Forschungsge-biet über alle Aspekte des demografischen Wandels.Initiiert wurde es von Professorin Spanner-Ulmer.Neben den Fragen zu altersgerechter Prozess- undProduktgestaltung wurde die Simulation von alters-induzierten Leistungseinschränkungen mithilfe trag-barer Alterssimulationsanzüge untersucht. Die Aus-wirkungen dieser Forschungen sind beachtlich: Sieführen zu marktfähigen Produktinnovationen, sindalso ein Wirtschaftsfaktor, und sie führen zu Möglich-keiten der Teilhabe älterer Menschen am wirtschaftli-chen und gesellschaftlichen Leben, sind also zugleichein sozialer Faktor. Hier zeigt sich: Wenn wir im Be-reich Forschung vorne dranbleiben wollen, müssenwir auch in diesem Bereich die älteren Menschen inden Fokus nehmen. Hier sind die Alten ganz praktisch„nicht nur das Problem, sondern die Lösung“.Der Forschungsbedarf ist auch im medizinischenund anderen Bereichen erheblich. Nicht zuletzt in derSozialforschung müssen neue Modelle des Zusammen-lebens evaluiert und gefördert werden, die das Mitei-nander von Jung und Alt verbessern. Sehr erfolgreichwurden die Modellprojekte der Mehrgenerationenhäu-ser entwickelt.Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat vonHenning Scherf, einem Vorreiter für neue Modelle ge-meinschaftlichen Lebens. Die Wichtigkeit, die Bedeu-tung älterer Menschen in unserer Gesellschaft lässtsich kaum positiver und mutmachender ausdrücken,als es dem Bremer Altbürgermeister in seinem Buch„Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist“ gelingt. ZurLebenserwartung der heute 60-Jährigen, die nochdurchschnittlich 30 Jahre Lebenserwartung vor sichhaben, schreibt Scherf:„30 Jahre in wunderbaren Bedingungen, weil wirnämlich eine Rente haben, die uns ernährt, weil wirplötzlich Zeit haben, weil wir noch fit sind, weil wiruns noch interessieren können, einmischen können,weil wir uns noch beteiligen können, ohne immer zufragen: Kriege ich da auch das richtige Gehalt da-für?“
Wir beraten heute abschließend den SPD-Antrag„Menschenrechte älterer Menschen stärken und Erar-beitung einer UN-Konvention fördern“. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, beiIhren Redebeiträgen in der ersten Lesung und im Aus-schuss habe ich zwei Punkte herausgehört, die Sie inunserem Antrag kritisch sehen. Ich kann Ihrer Argu-mentation allerdings überhaupt nicht folgen. Siegestatten deshalb, dass ich mich auch hier mit IhrerKritik beschäftige und sie ausräume.Erstens halten Sie eine Konvention für ältere Men-schen – eine der vulnerabelsten Gruppen überhaupt –für nicht notwendig und möchten daher auch nicht dieEinsetzung eines UN-Sonderberichterstatters unter-stützen. Ihre Argumente, mit denen Sie Ihre Kritikbegründen, haben mich wirklich schockiert: „Eineweitere Konvention brauchen wir doch nicht!“ Siestellen sich tatsächlich die Frage, ob ein Diskussions-prozess und die Beschäftigung der UN mit diesemThema „wirkliche Verbesserungen“ möglich machenwürden, und verweisen auf die EU-Regelungen. Daskönnen Sie eigentlich nicht ernst meinen. Mit einemsolchen Argument könnte man die kompletten Struktu-ren und Instrumente der UN infrage stellen, alle Kon-ventionen für nicht umsetzbar erklären und sich nurnoch mit sich selbst beschäftigen. So bringen Sie deninternationalen Menschenrechtsschutz nicht voran. Siebehindern, im Gegenteil, eine effektive Weiterentwick-lung der internationalen und letztendlich nationalenSchutzmechanismen und lassen erkennen, dass Sie denglobalen Aspekt des Themas nicht begriffen haben.Dabei hat Ihnen unser Kollege Tom Koenigs in sei-ner Rede bei der ersten Lesung den Prozess erklärt:Genau durch solche Konventionen ist die universelleMenschenrechtserklärung in den vergangenen knapp80 Jahren Stückchen für Stückchen weiterentwickeltworden. Nur dank mutiger Vorreiter, die die Situationvon besonders vulnerablen Gruppen in den Fokusrückten, konnte die internationale Gemeinschaft mitder Schaffung von Schutzmechanismen reagieren.Wenn es diese Weiterentwicklung nicht gegeben hätte,stünden wir heute immer noch auf dem Stand von1948. Diese Konventionen beschneiden nicht dieRechte anderer Bevölkerungsgruppen, sondern führenzu mehr Rechten für alle: Die UN-Kinderrechtskon-vention oder die UN-Behindertenrechtskonvention,zum Beispiel, wurden zu Wegweisern und sind für allevon Nutzen. Wir wollen die Lücke bei den älteren Men-schen schließen und in Solidarität mit anderen Teilender Gesellschaft auch hier ähnliche Erfolge erzielen.Deshalb kann ich Ihre ablehnende Haltung nicht ver-stehen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29879
Angelika Graf
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Weil wir von der SPD die Brisanz der Debatte er-kannt haben, fordern wir die Bundesregierung auf,sich aktiv in den Diskussionsprozess auf internationa-ler Ebene einzubringen. Das schafft Öffentlichkeit, dasschafft Aufmerksamkeit und das stärkt das Bewusstseinder Betroffenen und ihrer Vertreter. Vor allem aberdenke ich auch, dass sich Deutschland mit seinen Er-fahrungen im Zusammenhang mit dem Antidiskrimi-nierungsgesetz gut und produktiv einbringen kann undmuss.Als einen weiteren Grund, sich unseren Vorschlägenzu verweigern, nannten Sie die gegenwärtige Situationhier in Deutschland: Hier sei doch alles in bester Ord-nung. Und Sie wurden nicht müde, die jüngsten Aktivi-täten Ihrer Regierung aufzulisten. Ich denke, Sie wi-derlegen sich selbst: Wenn doch alles wunderbar läuft,warum gibt es dann zum Beispiel immer noch – im Üb-rigen durch Studien belegt – Defizite und gravierendeDiskriminierungen älterer Menschen in Deutschland?Und selbst wenn alles so super wäre und wir keinenHandlungsbedarf in Deutschland hätten, weil die Zieleder Konvention schon jetzt so gut wie erfüllt wären,entbände uns das doch nicht von unserer menschen-rechtlichen Verantwortung, auch ältere Menschen inanderen Ländern verstärkt zu schützen und zu unter-stützen. Diese Argumentation schließt nahtlos an Ihrerstes Argument an: „Warum eine neue Konvention?Wir haben doch bereits einen verankerten Schutz inEuropa.“ Ganz abgesehen davon, dass auch in der EUnicht alles wirklich gut läuft für ältere Menschen, findeich diese Scheuklappenhaltung sehr problematisch.Sie müsste eigentlich unter Ihrem intellektuellenNiveau sein.Es ist eines der ehernen Prinzipien der Menschen-rechtspolitik in Deutschland, auch die eigene Situationohne rosarote Brille – oder soll ich sagen: schwarz-gelb-gestreifte Tigerentenbrille? – zu reflektieren. Undda stelle ich fest: Eine unvoreingenommene Betrach-tung der Lage in der EU und auch bei uns in Deutsch-land müsste Sie eigentlich zu dem Schluss bringen,dass die Bundesregierung die Problematik der Diskri-minierung Älterer auf nationaler Ebene nicht ernstgenug nimmt. Sprechen Sie doch einmal mit der Leite-rin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, FrauLüders! Diskriminierungen wegen Alters sind eines ih-rer Hauptbeschwerdefelder. Das fängt beim Bankkontound bei Krediten an und hört bei Bürgermeister- oderSchöffentätigkeiten auf. Und was tut die Bundesregie-rung? Eine ihrer ersten Handlungen bei Amtsantritt2009 war, der Antidiskriminierungsstelle des Bundesdie Mittel zu kürzen. Wir fordern die Bundesregierungmit diesem Antrag dazu auf, diese Kürzungen zurück-zunehmen.Wir wollen zudem, dass in Deutschland dieMenschenrechte im Bereich der Pflege effektiver über-wacht werden. Die Heimaufsichtsbehörden und diemedizinischen Dienste müssen besser als bisher in dieLage versetzt werden, ihre Kontrollmöglichkeiten zunutzen. Sanktionen dürfen kein Tabu sein. Unangemel-dete Kontrollen in Heimen müssen eine Selbstver-ständlichkeit werden.Wir wollen mehr darüber wissen, wie dieseKontrollmöglichkeiten genutzt und verbessert werdenkönnen – deshalb regen wir mit unserem Antrag einewissenschaftliche Evaluierung dieser Kontrollmög-lichkeiten an – sowie darüber, wie das Wohn- und Be-treuungsvertragsgesetz und die Heimgesetze der Län-der hinsichtlich dieser Fragestellungen funktionieren.Dies sind nur einige der Knackpunkte, bei denenman in Deutschland eindeutigen Verbesserungsbedarffeststellen kann. Es ist eine Schande, dass Ihre Regie-rung auf nationaler und internationaler Ebene keiner-lei Zeichen für eine entsprechende UN-Konventionsetzt, obwohl die UN 2012 feststellte, dass das Men-schenrechtssystem lückenhaft ist, und explizit anregte,die Rechte zum Schutz Älterer neu zu regeln. Die Bun-desregierung ist – wie auf anderen Themenfeldern –im Zweifel untätig und überlässt Anstrengungen fürVerbesserungen der Zivilgesellschaft.Wir fordern die Bundesregierung daher dringendauf, aktiv zu werden. Unterstützen Sie endlich die UNWorking Group on Ageing bei der Erarbeitung einerUN-Konvention für ältere Menschen sowie bei derBestellung eines UN-Sonderberichterstatters bzw. ei-ner UN-Sonderberichterstatterin, der oder die für dieUmsetzung und Einhaltung dieser zu beschließendenKonvention zuständig ist.
In ihrem Antrag fordert die SPD die Bundesregie-rung auf, sich auf internationaler und nationalerEbene für die Stärkung der Menschenrechte ältererMenschen einzusetzen. Wir müssen daher den Antragzunächst aus zwei Perspektiven betrachten: Zum einenließe sich trefflich darüber diskutieren, wie auf inter-nationaler Ebene bei diesem Thema wirklich Verbesse-rungen möglich sind und wie diese im Rahmen der Ver-einten Nationen ausgestaltet werden könnten.Zum anderen aber ist darauf hinzuweisen, dass einGroßteil des Antrags ausschließlich die nationalenAspekte der Situation der Älteren behandelt. Und damuss man sagen, dass sich diese christlich-liberaleBundesregierung maßgeblich für die Bedürfnisse derälteren Menschen in unserem Land einsetzt. Denn derdemografische Wandel und – mit ihm einhergehend –die Diskriminierung älterer Menschen sind wichtigegesamtgesellschaftliche Herausforderungen und lie-gen der Koalition sehr am Herzen.So hat diese Bundesregierung im vergangenen Jahreine Demografiestrategie auf den Weg gebracht, beider Maßnahmen und Aufgabenfelder konkret benanntund Handlungsziele beschrieben worden sind. Ichmöchte die wichtigsten Aspekte der Demografiestrate-gie aufzeigen; denn daraus wird ersichtlich, wie vielwir für die Rechte Älterer getan haben und weiter tunwerden.Zu Protokoll gegebene Reden
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29880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Pascal Kober
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Erstens stärken wir die Familie als Gemeinschaft.Denn nirgendwo sind Zusammenhalt und gegenseiti-ges Vertrauen stärker als in der Familie. Das gilt ins-besondere bei der Pflege Älterer, auf die ich gleichnoch dezidiert eingehen werde.Zweitens setzen wir uns dafür ein, dass die Men-schen qualifiziert und gesund arbeiten und damit auchim Alter gesünder leben können. In diesem Zusammen-hang werden wir für ältere Arbeitnehmer bessereMöglichkeiten schaffen, Erwerbstätigkeit und Renteflexibel zu kombinieren.Dies ist natürlich auch für die Unternehmen und fürdie jüngeren Generationen von großer Bedeutung.Denn der Erfahrungsschatz der älteren Mitarbeiterwird in der Wirtschaft sehr geschätzt.Drittens macht sich diese Bundesregierung dafürstark, dass die Menschen in unserem Land selbst-bestimmt im Alter leben können. So gehören etwaaltersgerechte Wohnformen, technische Geräte für Äl-tere und die Mobilität der Älteren zu den zentralen Zie-len der Demografiestrategie.Vor diesem Hintergrund werden wir auch die Rah-menbedingungen für das Engagement der Menschenüber die Generationen hinweg verbessern. Dazu zählt,um nur einige Beispiele zu nennen, dass wir Anlauf-stellen und Mehrgenerationenhäuser breiter veran-kern werden.Ein weiterer Punkt ist die Stärkung zukunftsweisen-der Modelle der Mitverantwortung von Bürgerinnenund Bürgern in den Kommunen. Denn dies ist aucheine From gelebter Generationenverantwortung. Dazugehört, dass wir die Pflegeberufe zukunftsgerechtweiterentwickeln und die Pflegeversicherung ein-schließlich des Begriffs der Pflegebedürftigkeit neuausrichten werden.Hier sind im Übrigen bereits erste wichtige Schrittegetan. Denn seit dem 1. Januar 2013 gibt es aus derPflegeversicherung auch Leistungen für Demenzer-krankungen. Das ist sehr wichtig, da zunehmendFamilien bzw. demenzkranke Menschen in der Pflegeauf Unterstützung angewiesen seien. Jetzt gibt es hiernicht nur Leistungen für körperliche Einschränkun-gen. Nun werden auch psychische Einschränkungenwie Demenz unterstützt.Neben diesen finanziellen Leistungen des Bundessind wir gerade dabei, eine nationale Allianz fürMenschen mit Demenz auf den Weg zu bringen und dieBildung regionaler Hilfenetze zu unterstützen. Daherhaben wir auch die Mittel für Selbsthilfegruppen er-höht. Denn da glücklicherweise immer noch derweitaus überwiegende Teil der Pflegebedürftigen inFamilien gepflegt wird, ist es wichtig, den Familienan-gehörigen zur Seite zu stehen.Letztlich setzt die Demografiestrategie natürlichauch immer auf die Eigeninitiative und die Kraft derMenschen. Denn wir wollen Vorschläge entwickeln,wie die Bereitschaft, für sich und andere Verantwor-tung zu übernehmen, gestärkt und besser in die konkre-ten Politikfelder eingebunden werden kann.Vor dem Hintergrund dieser Erfolge ist es nicht be-sonders hilfreich und glücklich, dass die SPD in ihremAntrag die internationalen mit den nationalen Interes-sen Älterer vermengt hat. Im Gegenteil wird durch denAntrag die Bedeutung der Interessen Älterer auf derinternationalen Ebene wieder geschmälert, statt aufihre Bedürfnisse einzugehen. Daher ist der Antrag ab-zulehnen.
Im Jahr 2050 wird jede und jeder dritte Deutscheälter als 60 Jahre sein. Das wird aber nicht nur bei unsund in anderen Ländern des Nordens der Fall sein,sondern gilt weltweit. Seriösen wissenschaftlichenPrognosen zufolge werden im Jahr 2050 weltweit etwa2 Milliarden Menschen über 60 Jahre alt sein. Heutesind es gerade einmal 810 Millionen. In praktisch ei-ner Generation wird es insgesamt mehr ältere Men-schen auf der Erde geben als Kinder unter 14 Jahren.Für ein würdevolles Leben im Alter müssen dieRechte älterer Menschen gestärkt werden, weil es sichum eine stetig wachsende Gruppe von Menschen han-delt, die besonders verletzlich ist. Es ist daher richtig,wenn die SPD in ihrem Antrag fordert, der besonderenSchutzbedürftigkeit von älteren Menschen dahin ge-hend Rechnung zu tragen, dass eine eigene UN-Kon-vention verabschiedet und ein zuständiger Sonderbe-richterstatter ernannt werden sollte. Denn was hilft es,wenn eine Konvention vorhanden ist, aber keine ent-sprechende Kontrolle stattfindet? Die Linke unterstütztbeide Forderungen ausdrücklich.Es überrascht mich nicht, dass die Bundesregierungvehement gegen die Verabschiedung einer UN-Kon-vention ist. Wer gleich zu Beginn seiner Regierungs-zeit, wie dies Schwarz-Gelb 2009 getan hat, ausge-rechnet bei der nationalen Antidiskriminierungsstelleden Rotstift ansetzt, zeigt damit, dass er auch bei denälteren und kranken Menschen die neoliberale Politiksozialer Grausamkeiten durchexerzieren will. Die so-zial Schwachen und die besonders verwundbarenGruppen sind immer die Ersten, die es trifft. Darauf istbei dieser Bundesregierung immer Verlass gewesen.Um von der sozialen Kahlschlagpolitik auch in die-sem Bereich abzulenken, hat Schwarz-Gelb ein Pla-cebo präsentiert: Es ist die „Demografiestrategie“,die eine Fülle von unverbindlichen, wohlklingendenAbsichtserklärungen enthält, ohne dabei konkrete Ak-tionspläne und Instrumente zu präsentieren. Das ken-nen wir schon zur Genüge aus anderen Bereichen.Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber älterenMenschen schreien auch bei uns zum Himmel: Es gibteinen akuten Pflegenotstand. In Alters- und Pflegehei-men fehlen examinierte Altenpflegerinnen und Alten-pfleger. Stress und Überlastung bestimmen den Ar-beitsalltag vieler Beschäftigten, die mit 8,50 Euro proStunde abgespeist werden. Niemand sollte in einemZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29881
Katrin Werner
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solchen verantwortungsvollen Beruf unter 10 Euro proStunde arbeiten müssen. Das fehlt im Antrag der SPD,der nur sehr allgemein bessere Arbeitsbedingungenund einen gesetzlichen Mindestlohn für die Beschäftig-ten fordert, ohne eine konkrete Höhe zu nennen. DieLeidtragenden dieser kaltherzigen, neoliberalen Ar-beitsethik sind die alten und pflegebedürftigen Men-schen, die zu wenig menschliche Zuwendung erhaltenund häufig nicht einmal ausreichend zu trinken bekom-men. Ruhigstellungen durch Medikamente, Zwangs-ernährung mittels Magensonden und Fixierungen anHänden und Füßen sind ebenfalls keine Seltenheiten.Das sind schwere Einschränkungen in das Selbstbe-stimmungsrecht der betroffenen Menschen.Der Großteil der Pflege, etwa zwei Drittel, spieltsich in der Familie ab. Viele Angehörigen kümmernsich aufopferungsvoll um ihre alten und kranken Fami-lienmitglieder, obwohl dies oft nur schwer mit dem Be-ruf zu vereinbaren ist. Sie benötigen mehr gesellschaft-liche Anerkennung und stärkere Unterstützung durchdie Politik. Auch das Heimrecht müsste den gesell-schaftlichen Realitäten stärker Rechnung tragen. Da-rauf geht der SPD-Antrag leider überhaupt nicht ein.Ein heute schon absehbares Problem wird die künf-tige Altersarmut sein. Durch den von Rot-Grün mit derAgenda 2010 eingeführten Niedriglohnsektor drohenvielen heutigen Erwerbstätigen im Alter Minirenten,die keinen menschenwürdigen Lebensabend mehr ga-rantieren. Frauen werden davon besonders betroffensein, da sie infolge von Kindererziehungszeiten undmehr prekärer Beschäftigung häufiger unterbrocheneErwerbsbiografien aufweisen als Männer und dement-sprechend geringere Rentenansprüche erwerben.Hinzu kommt ihr längeres Lebensalter. Bereits jetztkommen bei den über 80-Jährigen 100 Frauen auf61 Männer. Daraus lässt sich ableiten: Die künftigeAltersarmut wird ebenso wie die Pflegebedürftigkeitvor allem ein weibliches Gesicht tragen.Das wird auch in anderen Bereichen zu ernsthaftenProblemen führen, die der SPD-Antrag vernachlässigt.Wie verhält es sich beispielsweise, wenn aufgrund derRentenkürzungspolitik der Bundesregierung bei gleich-zeitiger Preistreiberei auf dem Wohnungsmarkt dieSeniorinnen und Senioren künftig größere Schwierig-keiten haben werden, ihre Mieten zu bezahlen? DerZugang zu bezahlbarem und angemessen ausgestatte-tem Wohnraum ist ein Menschenrecht, das auch Älte-ren zusteht. Und wie steht es um die Finanzierung vonaltersgerechtem Wohnraum, wenn aufgrund der weiterzunehmenden Lebenserwartung der Menschen auchder Bedarf steigt und gleichzeitig bei der öffentlichenWohnungsbauförderung Ebbe herrscht, weil die Kom-munen klamm bei Kasse sind und die Vorgaben derSchuldenbremse einhalten müssen? Hier muss eindeu-tig in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängengedacht werden, was die Auswirkungen der neolibera-len Sozialkahlschlagpolitik der letzten zehn Jahre be-trifft, die sich vor allem gegen die Schwächsten derGesellschaft richtet. Wenn diese Entwicklung nichtendlich gestoppt wird, dann wird in Deutschland wo-möglich schlimmstenfalls Altersarmut sogar bald mitphysisch bedrohlicher Ernährungsarmut einhergehen.Ein weiteres Problem ist die Altersdiskriminierung.Es ist völlig inakzeptabel, wenn Menschen aufgrundihres Alters von sozialer, politischer und kulturellerTeilhabe ausgeschlossen werden, indem bei Ehrenäm-tern, Partei-, Vereins- oder Kirchenmitgliedschaftenvon vornherein Altersgrenzen existieren oder einge-führt werden sollen oder sie trotz guter Gesundheit zuOpfern fremdbestimmter Vormundschaft gemacht wer-den.Im neoliberalen Gesellschaftsentwurf werden ältereMenschen primär zu einem „Kostenfaktor auf zweiBeinen“ degradiert, denen im Rahmen eines „aktivie-renden Sozialstaats“ bestenfalls Almosen zustehen.Die Linke stellt sich dieser menschenverachtendenDenklogik entgegen: Für uns ist jedes Menschenlebenvon materiell unermesslichem Wert.Ältere Menschen sind eine Bereicherung für die Ge-sellschaft: Gerade wegen ihrer Lebenserfahrung kön-nen sie wichtiges Wissen an jüngere Generationen wei-tergeben, sich um die Miterziehung ihrer Enkelkinderkümmern und häufig auch lange Zeit noch selbst aktivihre Interessen und Hobbys bestreiten. Ältere Men-schen sind auch das historische Gedächtnis einer Ge-sellschaft. Wo stünden wir heute als Demokratie undals Gesellschaft ohne ihre persönlichen Erfahrungenaus der Zeit des Hitlerfaschismus, des Zweiten Welt-kriegs und der jahrzehntelangen Lebensrealitäten inzwei unterschiedlichen politischen Systemen als Folgeder Teilung Deutschlands? Darauf können und dürfenwir als Gesellschaft um unserer selbst willen nicht ver-zichten.Die älteren Menschen benötigen bessere gesell-schaftliche Rahmenbedingungen, um in der Mitte un-serer Gesellschaft in Würde alt werden zu können. Dasist die Aufgabe der Politik. Der SPD-Antrag lieferthierfür einige wichtige Anregungen; er bleibt aller-dings in etlichen Punkten zu oberflächlich, auch weildie SPD innerlich immer noch nicht aus ihrer neolibe-ralen Sackgasse herausgekommen ist, in die sie sichunter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders selbst hin-einmanövriert hat. Aus diesem Grund kann sich DieLinke bei dem Antrag auch nur enthalten, betrachtetihn allerdings als einen wichtigen Impuls für die ge-sellschaftspolitische Debatte, die bei diesem Themakeinen Zeitaufschub mehr duldet.
Das Leben wird länger. Wir werden immer älter. DieAnzahl der älteren Menschen wächst. Bis 2050 wirdsich die Zahl der über 60-Jährigen fast verdreifachen:von knapp 740 Millionen auf 2 Milliarden Menschen.Vor allem in den Industrieländern werden 2050 etwaein Drittel der Menschen älter als 60 Jahre sein.Diese demografische Verschiebung bedeutet für unseinen Gewinn, für die gesellschaftlichen KapazitätenZu Protokoll gegebene Reden
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29882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Tom Koenigs
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eine Herausforderung. Es sind Gesetze und Maßnah-men nötig, die auf den demografischen Wandel zuge-schnitten sind.Alt sein heißt nicht krank sein. Viele ältere Men-schen tragen zu unserer Gesellschaft bei. Wir müssenlernen, wo wir sie besonders fördern können, aberauch, wie wir sie besser schützen können. Das ist Auf-gabe der Staaten. Deshalb muss die internationale Ge-meinschaft Grundsätze und Regeln für die Menschen-rechte Älterer erarbeiten.Bereits 1982 beriefen die Vereinten Nationen inWien die erste Weltversammlung zur Frage des Alternsein. Acht Jahre später hat die Generalversammlungdie Resolution 45/106 verabschiedet. Sie war dieGrundlage für einen internationalen Aktionsplan. Der1. Oktober wurde als „Internationaler Tag der älterenMenschen“ ausgerufen – zu mehr hat das allerdingsnicht geführt.Unter den Schlagwörtern „Unabhängigkeit“, „Par-tizipation“, „Fürsorge“, „Selbstverwirklichung“ und„Würde“ nennt die VN-Resolution 46/91 konkreteRichtlinien für die nationalen Aktionspläne. Das hatdie Bundesregierung erst 2007 zur Kenntnis genom-men und daraufhin einen nationalen Aktionsplan ent-worfen. Die Maßnahmen und ihre Umsetzung warenund sind bis heute dürftig.Die Wahl der Bundesrepublik in den VN-Menschen-rechtsrat im Dezember 2012 bietet Deutschland dieGelegenheit, einen neuen Anlauf zu machen. Deutsch-land soll eine Konvention zu den Rechten der Alteneinbringen. Solche Konventionen gibt es schon für an-dere schutzbedürftige Gruppen in der Gesellschaft,wie zum Beispiel die VN-Kinderrechtskonvention oderauch die Behindertenrechtskonvention. Schon die Dis-kussionen zu den Konventionen haben etwas gebracht.Im Antrag wird gefordert, einen VN-Sonderbericht-erstatter einzusetzen. Dem kann ich nur zustimmen.Mit dieser Institution würde man nicht nur problem-orientiert handeln, sondern auch deutlich machen,dass man den demografischen Wandel ernst nimmt undauf die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaf-ten eingeht. Der Bericht im Juli 2007 von VernorMuñoz, Sonderberichterstatter für das Menschenrechtauf Bildung, war ein Erfolg. Er hat deutliche Miss-stände im deutschen Bildungssystem aufgezeigt, wiezum Beispiel die Chancenungleichheit von Kindernvon Migranten oder Kindern mit Behinderung. SeinBericht löste damals eine längst notwendige Diskus-sion in der BRD über Chancengleichheit im Bildungs-system aus.Ein VN-Sonderberichterstatter sollte nicht davorzurückschrecken, jede Bundesregierung auf die beste-hende Altersdiskriminierung hinzuweisen. Der Son-derberichterstatter für die Menschenrechte ältererMenschen sollte regelmäßige, unabhängige Berichteliefern, Missstände aufzeigen und konstruktive Kritikäußern. Er soll positive Umsetzungsbeispiele, bestpractices, auflisten, an denen sich ein handlungs- undnicht nur schönwetterbezogener Aktionsplan orientie-ren kann.Eine VN-Konvention würde nicht nur die Situationder Älteren in der Bundesrepublik ändern. Wir könntenein weltweites Zeichen setzen. Der 69-jährige kolum-bianische Bauer im Hochland sollte dieselben Rechteauf Älterwerden in Würde haben wie der 69-jährigeBundestagsabgeordnete. Unser Leben ist sehr ver-schieden verlaufen, an Würde sind wir jedoch immergleich gewesen – in jedem Alter.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13220, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12399 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von SPD und
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Öko-Landbaugesetzes
– Drucksache 17/12855 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Rechtsausschuss
Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Umetikettierung von Pferdefleisch auf europäischerEbene und mutwillige Falschdeklaration vermeintli-cher Bioeier in Deutschland: Die aktuellen Lebensmit-tel- und Haltungsskandale machen deutlich, dassTransparenz und Rückverfolgbarkeit fundamentale Be-standteile eines wirksamen Verbraucherschutzes sind.Das gilt sowohl für Produkte des konventionellenLandbaus als auch im Ökobereich.Den Ökokontrollstellen wird hierbei eine wichtigeAufgabe zuteil. Sie überprüfen die Einhaltung der Vor-gaben der EG-Öko-Basisverordnung aus dem Jahr2007. Die Durchführungsverordnung Nr. 426/2011 derEU gilt seit dem 1. Januar 2013 und hat einen stärke-ren Verbraucherschutz zum Ziel. Demnach müssen allevon den Ökokontrollstellen registrierten Unternehmenin öffentlichen Verzeichnissen geführt und im Internetder Bevölkerung zugänglich gemacht werden. In wei-ten Teilen entsprechen die Vorgaben der EU-Durch-führungsverordnung bereits den aktuellen Bestimmun-gen des Öko-Landbaugesetzes. Lediglich dieInformationen der Kontrollstellen über kontrollierteUnternehmen, die nicht zur Biokennzeichnung berech-tigt sind, sowie die Angabe der Geltungsdauer derKontrollbescheinigungen sind nicht in der nationalen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29883
Hans-Georg von der Marwitz
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Gesetzgebung verankert und sollen mit EU-Recht har-monisiert werden.Um Verbrauchern mehr Informationen zu ermög-lichen, hat die Konferenz der Kontrollstellen für denökologischen Landbau e. V., KdK, auf freiwilliger Ba-sis eine zentrale Internetplattform bereitgestellt, diedie Verzeichnisse und Bescheinigungen der Datenban-ken der einzelnen Kontrollstellen bündelt. Die Platt-form wurde Ende 2012 ins Leben gerufen, führt aberbisher nur die Aktivitäten der KdK-Mitglieder auf.Hiermit werden circa 90 Prozent der ökologisch be-wirtschafteten Landwirtschaftsfläche abgedeckt. EineVervollständigung der zentralen Plattform wird ange-strebt und scheint mir vor dem Hintergrund, dass dieentscheidenden Informationen ohnehin von den einzel-nen Kontrollstellen bereitgestellt werden müssen, auchohne besonderen Mehraufwand oder Gegenwehr reali-sierbar. Außerdem könnten weiterführende Ergänzun-gen und Verpflichtungen in den Zulassungsbescheidenfür die Kontrollstellen aufgeführt werden.Die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung be-trachte ich in Anbetracht des zusätzlichen Verwal-tungsaufwands kritisch, zumal nach der EU-Durch-führungsverordnung keine einheitliche Datenbankvorgeschrieben wird. Jedoch sollte gerade der sensibleBereich der Kontrollstellen, die im Zuge der aktuellenLebensmittelskandale mehr und mehr in den Mittel-punkt rücken, eindeutig, einfach und verpflichtend ge-regelt sein. Die Abwägung zwischen neuen bürokra-tischen Zwängen und Sicherheit für den Verbraucherfällt nicht immer leicht. Vorsätzliche Betrügereien Ein-zelner lassen sich nicht durch Gesetzesänderungenvermeiden.Die Lebensmittelbranche ist auf Akzeptanz und Ver-trauen der Verbraucher angewiesen. Gleichermaßenfordert der Verbraucher zum Beispiel einen transpa-renten Produktionsprozess, um sich von der verspro-chenen Qualität des Produktes überzeugen zu können.Skandale müssen lückenlos aufgeklärt und die Verur-sacher benannt werden können. Hierzu sind verpflich-tende Maßnahmen innerhalb der Produktions-, Han-dels- und Kontrollkette von großer Wichtigkeit. Esmuss eindeutig festgestellt werden können, welchesGlied seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist.Das gilt insbesondere zum Schutz der Erzeuger, diehäufig als Sündenbock an den Pranger gestellt wer-den, jedoch wenig Einfluss auf die folgenden Akteurein der Wertschöpfungskette haben. Die Kontrollstellenhaben eine zentrale Stellung im Kontext des Verbrau-cherschutzes. Vor diesem Hintergrund halte ich dieGesetzesänderung für eine gangbare Lösung.
Die landwirtschaftliche Intensivtierhaltung in ihrerjetzigen Form hat umfassende negative Folgen für unsund unsere Umwelt. Das hat die Gesellschaft längsterkannt. Das hat auch die Wirtschaft in weiten Teilenerkannt. Darauf weisen wir Sozialdemokraten seitJahren hin. Einzig die Bundesregierung hinkt mit ihrengroß angekündigten Aktionsplänen und Werbemaß-nahmen hinterher. Dies wirkt angesichts der bestehen-den Probleme fast grotesk. Um nur einige zu nennen:Langzeitschäden für die Umwelt, gefährliche Boden-und Luftimmissionen, Klimawandel, Bodenerosiondurch falsche Bewirtschaftung, Gefährdung der Arten-vielfalt, schlechte Arbeitsbedingungen, mangelhafteErnährung und Krankheiten bei Mensch und Tier. Wasich neben den gesundheitlichen, ökologischen und so-zialen Aspekten besonders hervorheben möchte, ist diemillionenfache Tierquälerei. Auch die Lebensmittel-und Verbraucherskandale 2013 scheinen endlos zusein. Diese reichen von Ehec-Erregern im Gemüseüber Dioxin im Schweinefleisch bis hin zu BSE in derRinder- oder Antibiotika in der Geflügelproduktion.Allein wegen der Skandale wäre es daher nur einelogische Konsequenz die bisherige Politik infrage zustellen und umzustellen. Denn die strukturellen Ursa-chen liegen oftmals in der derzeitigen Form der land-wirtschaftlichen Intensivtierhaltung und der schlech-ten Politik der Bundesregierung. Wir Verbraucherhaben Besseres verdient und wollen auch Besseres.Wir haben einen Anspruch auf qualitativ hochwertigeProdukte, bei denen wir uns sicher sein können, dasssie unbelastet sind und unter besseren Bedingungenhergestellt wurden. Immer mehr Verbraucherinnenund Verbraucher ernähren sich deswegen bewussterund achten beim Lebensmittelkauf auf den Tierschutzund die Qualität der Produkte.Die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten steigtständig. Das Wachstum in der Biobranche spiegeltdiese bewusste Entscheidung wider: Allein letzes Jahrwuchs der Biomarkt um 6 Prozent, der Umsatz lag so-gar erstmals über 7 Milliarden Euro. Der Bioanteil amgesamten Lebensmittelumsatz in Deutschland erhöhtsich damit auf 3,9 Prozent. In den letzten 10 Jahren hatsich das Volumen verdreifacht. Momentan liegen wirflächenmäßig bei 6,3 und bei der Zahl der Betriebe beirund 8 Prozent. Deutschland ist derzeit weltweit Bio-land Nummer zwei hinter den USA.Das größte Problem bleibt indes offensichtlich: DieUmsatzsteigerungen ergeben sich zu einem guten Teilaus Preissteigerungen infolge der Angebotsknappheit.Mit anderen Worten: Die Nachfrage übersteigt schonjetzt das Angebot, weil die vorhandenen Potenzialenoch lange nicht ausgeschöpft sind. Trotz der enormsteigenden Nachfrage nach Biofleisch im letzten Jahr,die zum Teil nicht befriedigt werden konnte, wuchs derAnteil der ökologisch bewirtschafteten Flächen nur ummagere 2,7 Prozent. Das hat zur Folge, dass viele Bio-produkte noch immer importiert werden müssen, waslange Transportwege nach sich zieht und damit dieNachhaltigkeit infrage stellt.Zwischen Angebot und Nachfrage besteht eine der-art große Diskrepanz, dass wir unbedingt handelnmüssen. Denn damit kommen wir nicht nur den Ver-braucherinnen und Verbrauchern entgegen; wir unter-stützen auch die ökologischen Landwirte selber, derenBemühungen sich lohnen müssen. Vor allem müssenZu Protokoll gegebene Reden
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29884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Heinz Paula
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wir aber auch handeln, um die gesamte Ernährungs-wende zu unterstützen, hin zu mehr Nachhaltigkeit,Tierschutz und Umweltbewusstsein.Dass Nachhaltigkeit auch in der Praxis erreichtwerden kann, zeigen die unzähligen erfolgreichenBiounternehmen in Deutschland, die den Spagat zwi-schen wirtschaftlichem Erfolg, fairem Umgang mit Ar-beitnehmern und Kunden sowie höchster Qualität derökologischen Lebensmittel hinbekommen. Die Bio-landwirte sowie die Verarbeiter und Händler entspre-chen damit nicht nur dem Wunsch des Verbrauchers,sondern sind auch den notwendigen politischen Schrit-ten voraus.Die Bundesregierung tut zu wenig für den Ökoland-bau. Dies zeigte sich auch bei den Verhandlungen überdie Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EU-Ebene. Statt die Zahlungen aus Brüssel an konkreteökologische Maßnahmen und Leistungen zu koppeln,wird gezögert und gezaudert. Ein Schelm, wer dabeinicht die große Agrarlobby im Hintergrund jubelnsieht.Angesichts aller Probleme muss aber selbstSchwarz-Gelb endlich Farbe bekennen und den Schrittzu mehr Ökolandbau wagen. Die letzte große Studiedes Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts hat bestä-tigt, dass ein großer Teil der Landwirte angesichts derfehlenden Rechtssicherheit und der komplizierten Ver-fahren verunsichert ist, wenn es darum geht, auf ökolo-gische Landwirtschaft umzusteigen. Hier kann dieBundesregierung direkt Abhilfe schaffen. In bewährterManier wird stattdessen gezögert und abgewartet.Der Bundesrat hat indes mit rot-grüner Mehrheitden richtigen Vorschlag einer gemeinsamen Internet-datenbank gemacht. Der Gesetzentwurf begleitet undpräzisiert die Auflagen des EU-Rechts durch eine na-tionale Regelung. Was die Bundesregierung also wei-terhin hinausschiebt, packt der Bundesrat jetzt an:eine klare und einheitliche Rahmenregelung, dieRechtssicherheit bietet und allen Beteiligten im Inter-net Zugang zu den Daten verschafft. Damit wollen wirmehr Transparenz schaffen und die Kontrolle erleich-tern. Künftig könnte sogar die Papierdokumentationdurch eine elektronische Dokumentation der Zertifi-kate ersetzt werden und damit die Arbeit auf betriebli-cher Ebene erleichtert werden. Dies ist zwar nur einBaustein in einer ganzen Reihe von Maßnahmen, dienoch nötig sind, um den Ökolandbau zu stärken, aberein wichtiger. Denn er betrifft direkt die Arbeit vor Ortund stärkt den Verbraucherschutz.Natürlich muss es auch hier weitergehende Verbes-serungen geben. Um eine praktikable Handhabung inden Kontrollstellen zu gewährleisten, könnte man bei-spielsweise die Berichtspflicht so definieren, dass eineAktualisierung auf den folgenden Werktag erfolgt. Au-ßerdem könnte man den Kontrollstellen insofern entge-genkommen, als dass eine Berichtspflicht nicht rück-wirkend, sondern sofort mit dem Tag des Inkrafttretensbesteht.Unsere Landwirte und Kontrollbehörden sind derSchlüssel zu einer nachhaltigen Ernährungswende. Siebrauchen diese Art der Unterstützung und Förderung,damit sie auf ökologische Produktion umstellen kön-nen. Unsere Landwirte sind der Schlüssel für die Lö-sung vieler Probleme, vor denen wir stehen. Stellen wirdie Landwirtschaft endlich auf die Zukunft ein! Dazugehört insbesondere die Unterstützung der ökologi-schen Landwirtschaft bei uns in Deutschland.
In Deutschland sind 20 Kontrollstellen für die Kon-trolle von Ökobetrieben zugelassen. Nach der EU-Öko-Verordnung müssen diese Kontrollstellen aktuelleVerzeichnisse der von ihnen kontrollierten Öko-Unter-nehmen führen und diesen Unternehmen außerdem Be-scheinigungen ausstellen. Seit dem 1. Januar 2013verpflichtet das EU-Recht zusätzlich die Mitgliedstaa-ten, die aktualisierten Verzeichnisse mit den aktuali-sierten Bescheinigungen für die einzelnen Unterneh-mer, unter Beachtung der Anforderungen an denSchutz personenbezogener Daten, im Internet der Öf-fentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Regelungzielt darauf ab, Verbraucherinnen und Verbraucherndie Möglichkeit zu bieten, sich über die Unternehmerund deren Erzeugnisse, die dem Kontrollsystem fürBioprodukte unterliegen, zu informieren.Der Bundesrat hat dem Bundestag einen Gesetzent-wurf vorgelegt, mit dem die EU-rechtlichen Vorgabenfür die Veröffentlichung von Verzeichnissen und Be-scheinigungen der Biounternehmen durch die Kon-trollstellen in nationales Recht umgesetzt und konkre-tisiert werden sollen. Die Bundesregierung ist in ihrerGegenäußerung dem Gesetzentwurf des Bundesratesteilweise gefolgt. Es gibt bereits eine durch den Bundgeförderte Datenbank mit allen relevanten Informatio-nen. Die Konferenz der Kontrollstellen für den ökolo-gischen Landbau e. V. , KdK, bietet bereits eine geeig-nete Internetseite an. Diese Datenbank ist für dieVeröffentlichung der Verzeichnisse der Betriebe unddie zugehörigen Bescheinigungen geeignet. Sie bietetRecherchemöglichkeiten zu allen deutschen Unterneh-men, die dem Kontrollverfahren des ökologischenLandbaus unterliegen. So können bereits jetzt alle ak-tuellen Daten und Informationen aus den angebunde-nen Kontrollstellen abgerufen werden. Das Rad mussnicht ein weiteres Mal erfunden werden.Das Anliegen der Länder, Vorgaben zur Veröffentli-chung in einem Bundesgesetz zu regeln, dient der ver-gleichbaren Transparenz und wird auch von der FDPunterstützt.Zur bundesweiten Bündelung der Verzeichnisse zueinem zentral geführten Verzeichnis schlägt die Bun-desregierung in ihrer Stellungnahme vor, im Gesetz zu-nächst keine Regelungen vorzunehmen. Hier müssenerst die rechtlichen und administrativen Möglichkeitenfür eine solche Bündelung geprüft werden. Diese Ein-schätzung teilt die FDP.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29885
Dr. Christel Happach-Kasan
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Im weiteren parlamentarischen Verfahren will dieFDP insbesondere prüfen, ob die Veröffentlichung al-ler Öko-Bescheinigungen über fünf Jahre hinweg tat-sächlich sinnvoll ist. Als problematisch sehen wir nichtnur datenschutzrechtliche Aspekte an, sondern aucheine mögliche Unübersichtlichkeit bei einer hohen An-zahl von bescheinigungsrelevanten Vorgängen. Wirwollen keinen Datenfriedhof schaffen. Ziel ist dieTransparenz der Kontrollvorgänge, nicht jedoch dasAnsammeln und Veröffentlichen von möglichst vielenBescheinigungen. Dieses erzeugt eine Scheintranspa-renz, die dem Anliegen der Transparenz gerade wider-spricht.Im Übrigen gilt für Unternehmen der Biobranche,was für alle Unternehmen gilt: Sie sind für ihre Pro-dukte verantwortlich. Auch sie müssen vor einer Veröf-fentlichung Gelegenheit bekommen, Verdachtsmo-mente auszuräumen. Bei einem tatsächlichen Verstoßgegen die EU-Öko-Verordnung steht einer Veröffent-lichung der Bescheinigung nichts im Wege. Die Doku-mentation aller Bescheinigungen, die einen Betriebbetreffen, durch die Kontrollstellen bleibt gewährleis-tet. Sie müssen von den Kontrollstellen bereits heutesechs Jahre aufbewahrt und den Behörden zur Verfü-gung gestellt werden. So können Unternehmen, welchehäufig Verdachtsmomente aufweisen, trotzdem risiko-orientiert kontrolliert werden.Die FDP hält eine klare, einheitliche und rechtssi-chere Umsetzung der EU-Veröffentlichungspflicht, imSinne der Verbraucherinformation und im Sinne deram Markt beteiligten Unternehmen, in Form eines Ge-setzes für zweckmäßig und wird sich konstruktiv in dasVerfahren einbringen.
Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf zumÖko-Landbaugesetz, den der Bundesrat eingebrachthat. Worum geht es? Mit diesem Gesetz sollen verbind-liche Regelungen für die Veröffentlichung von Kon-trolldaten im Bereich der Öko-Landwirtschaft im In-ternet getroffen werden. Dieses Vorhaben wird von derLinken unterstützt, obwohl die Kontrollstellen und de-ren Verbund von sich aus bereits auf dem Weg waren,die Internetveröffentlichung voranzutreiben. Aber eineverbindliche gesetzliche Regelung schadet nicht – imGegenteil.Damit wird jeder Betrieb, der ökologische Produkteproduziert und anbietet oder mit ihnen handelt, künftigim Internet zu finden sein. Damit lässt sich dann vonjedem und zu jeder Zeit überprüfen, ob als Öko-Pro-dukte deklarierte Waren tatsächlich dem von der EUvorgegebenem Kontrollsystem der Öko-Landwirtschaftentsprechen. Betriebe, die dort nicht registriert sind,dürfen keine Öko-Produkte verkaufen. Die Gestaltungeiner einheitlichen bundesweit gültigen Internetplatt-form vereinfacht das Auffinden der Betriebe. Einesolche Transparenz ist angesichts der zunehmendenAnteile von Öko-Produkten im Lebensmittelhandelwichtig und auch im Sinne von Verbraucherinnen undVerbrauchern sowie den seriös arbeitenden Erzeu-gungs-, Verarbeitungs- und Handelsbetrieben. Unse-riöse Geschäftspraktiken in der Erzeugung und imHandel mit Bioprodukten werden damit erschwert.Dass diese immer wieder vorkommen, haben zuletztder Skandal um falsch deklarierte Bioeier oder das il-legal als ökologisch gekennzeichnete Futtergetreideaus Osteuropa gezeigt. Nicht nur in der Erzeugung,auch in den Zwischenstufen der ökologischen Lebens-mittelkette gibt es immer wieder Probleme mit Betrug.Ein heute fast überall verfügbarer Internetzugangmacht es den Akteuren auf allen Ebenen vergleichs-weise leicht, zu überprüfen, ob eingekaufte Ware vonBetrieben kommt, die ordnungsgemäß kontrolliert undregistriert sind. Die Voraussetzung dafür ist diePflicht, dass die dafür notwendigen Daten im Netz ver-öffentlicht werden. Ein auf Freiwilligkeit beruhendesSystem weist immer Lücken auf und ist damit anfälli-ger für Betrug. Die von den Bundesländern gefordertegesetzliche Pflicht für die Internetveröffentlichungschließt diese Lücke. Die Veröffentlichung im Internetwäre handhabbar, praxisnah und effizient.Immer wichtiger werden in diesem Kontext die Öko-Kontrollstellen. Dass diese vernünftig und sauber ar-beiten, ist die Voraussetzung für ein vergleichsweisegroßes Vertrauen, das Verbraucherinnen und Verbrau-cher den Bioprodukten entgegenbringen. Das Kon-trollsystem im Öko-Landbau hat sich im Prinzip be-währt, auch wenn es im Zusammenhang mit denKontrollen der Legehennen in Öko-Betrieben Schwä-chen gezeigt hat. Auch die Öko-Branche muss daraufreagieren, dass mit den größeren Marktanteilen unddem steigenden Kostendruck auf die Erzeuger auch dieVersuchung zum Verstoß gegen Richtlinien größer ge-worden ist. Konsequenzen wurden inzwischen gezo-gen, und es bleibt zu hoffen, dass ein Versagen an die-ser Stelle die Ausnahme bleibt.Für die Überwachung der Kontrollstellen ist dieBundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, kurzBLE, zuständig. Sie muss sicherstellen, dass die Stan-dards der Biokontrollen eingehalten werden, und sievergibt die Zertifikate, die die Öko-Kontrollstellen zuihrer Arbeit autorisieren. Über diese Regelungen sinddie Kontrollen letztlich staatlich garantiert. Der ge-samte Warenstrom von Öko-Produkten unterliegt da-mit der Kontrolle, und die Ergebnisse dieser Kontrol-len sind zu veröffentlichen! Das wäre dann nämlichsehr viel umfassender und transparenter als alle ande-ren Kontrollsysteme, die es noch in der Lebensmittel-erzeugung gibt.
Der Bundesrat legt den Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Öko-Landbaugesetzes vor.Hintergrund dieser Gesetzesänderung ist die na-tionale Umsetzung der EU-Verordnung Nr. 426 vom2. Mai 2011. Diese EU-Verordnung sieht vor, dass dieMitgliedstaaten ab dem 1. Januar 2013 „aktualisierteZu Protokoll gegebene Reden
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29886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Minister Johannes Remmel
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Verzeichnisse“ aller „Öko Unternehmen“ – das heißtaller Landwirte, Verarbeiter und Handelsunternehmen,die Ökoprodukte entsprechend der EU-Vorschriften er-zeugen, verarbeiten und mit ihnen handeln – im Inter-net veröffentlichen müssen. In Deutschland sind diesinzwischen 34 000 Unternehmen. Gleichzeitig müssenin diesem Verzeichnis die „Öko Vermarktungs-Be-scheinigungen“ dieser 34 000 Unternehmen aufge-führt werden.In dem im Internet veröffentlichten Verzeichnis sol-len sich Verbraucherinnen und Verbraucher zukünftiginformieren können, ob die gekauften Ökolebensmitteltatsächlich von kontrollierten und zertifizierten Unter-nehmen stammen. Diese größtmögliche Transparenzsoll nicht nur den Käufern helfen, sondern insgesamtder Biobranche einer Nachverfolgung und Absiche-rung aller Warenströme dienen. Nicht zuletzt soll dasumfangreiche Verzeichnis den in Deutschland zugelas-senen 20 privaten Ökokontrollstellen und den in denBundesländern tätigen Überwachungsbehörden beider Betrugsabwehr helfen.Wie so häufig bei EU-Regelungen müssen auf natio-naler Ebene ergänzende Rechtsvorschriften erlassenwerden, um das EU-Recht in Deutschland sinnvoll undgezielt ausführen zu können.Der Bundesrat musste diese ergänzenden Rechts-vorschriften jetzt vorlegen, da die Bundesregierungsich bisher weigerte, solche präzisierenden Regelun-gen im Öko-Landbaugesetz zu erlassen. Unter allenBundesländern bestand hingegen vollständige Einig-keit, dass die generalklauselartigen EU-Vorschriftendurch klare, eindeutige und rechtssichere Durchführungs-regeln zu konkretisieren seien.In ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bun-desrates hat die Bundesregierung am 20. März 2013schließlich eingesehen, dass sie dem wiederholt be-kundeten Willen der Länder nach einer klaren recht-lichen Verankerung im Öko-Landbaugesetz nicht mehrim Wege stehen möchte und hat jetzt einen eigenen Än-derungsentwurf des Öko-Landbaugesetzes vorgelegt.Viele Änderungsvorschläge des Bundesrates greiftdie Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf auf. Aberin einem entscheidenden Punkt weicht der Vorschlagdes BMELV von dem des Bundesrates ab.Die EU-Regelung sieht bedauerlicherweise nichtvor, dass es in jedem Mitgliedstaat ein einheitlichesVerzeichnis geben muss. Der Bundesrat hatte daherausdrücklich formuliert, es müsse ein „bundesweiteinheitliches Verzeichnis“ in Deutschland geben. Die-ser Passus fehlt im Vorschlag der Bundesregierung.Was nützt es den Verbrauchern aber, wenn sie – wie inDeutschland – in vielen verschiedenen Verzeichnissender 20 Ökokontrollstellen prüfen müssen, ob die ein-gekauften Lebensmittel tatsächlich von kontrolliertenUnternehmen stammen? Und wie soll in Betrugsfällendie Biobranche schnell informiert werden, wenn eskein rechtsverbindliches gemeinsames Verzeichnis gibt?Das BMELV hat in seiner Erwiderung auf den Ge-setzesvorschlag des Bundesrates zwar auch eine Bün-delung der bislang zersplitterten Informationsange-bote befürwortet, hält aber anscheinend eine vomDachverband der Kontrollstellen angebotene freiwil-lige und privatwirtschaftliche Lösung für ausreichend.Deshalb möchte ich Sie, sehr geehrte Bundestags-abgeordnete, herzlich bitten, dem Antrag des Bundes-rates zuzustimmen und nicht dem unvollständigen Vor-schlag der Bundesregierung zu folgen. Damit möchteich ein deutliches Signal des ernst gemeinten Verbrau-cherschutzes setzen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll
die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
17/12855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgenommen werden. Gibt es dazu andere Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Gustav Herzog, Sören Bartol, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Organisationserlass zur Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung stoppen – Reform rechts-
sicher gestalten
– Drucksache 17/13228 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung des Bundes ohne Beschlussfassung des
Deutschen Bundestages und Bundesrates ver-
hindern
– Drucksache 17/13229 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Auch hier sind die Reden, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Dieser Antrag der SPD-Fraktion ist der bisher rea-listischste und überzeugendste, den ich in den letztenJahren gesehen habe. Er ist das, was viele Anträge der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29887
Hans-Werner Kammer
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Opposition nicht sind. Er ist visionär. Er ist zukunfts-weisend.Heute, liebe Kollegen von der Union, muss ich dieSozialdemokraten loben: ihren Realitätssinn, ihreExpertise und ihre Fähigkeit, die Zukunft einzuschät-zen. Sie fordern in ihrem Antrag die Bundesregierungdazu auf, nach der Bundestagswahl einen neuenDialogprozess über die zukünftige Struktur der Was-ser- und Schifffahrtsverwaltung zu beginnen. Das istrichtig analysiert. Diese Bundesregierung wird in derTat auch nach der Bundestagswahl Bundesregierungsein. Danke für diese Bestätigung!Ansonsten bieten der SPD-Antrag wie auch der An-trag der Linken inhaltlich wenig Neues. Die Kollegin-nen und Kollegen tun das, was sie bei Reformen undVeränderungen immer tun: Sie schüren Angst – Angstvor dem Neuen, Angst vor dem Ungewohnten, Angstvor dem Besseren.Dabei wäre das Gegenteil richtig. Ein Blick in dieNatur lehrt uns dies. Arten, die sich veränderndenLebensbedingungen nicht anpassen, sterben aus oderüberleben nur in ganz bestimmten, abgetrennten Bio-topen. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Staats-apparat. Er muss sich immer wieder den geändertenLebensverhältnissen anpassen. Sonst verliert er seineLegitimität. Genau deshalb will diese Koalition derWasser- und Schifffahrtsverwaltung das Schicksal derDinosaurier ersparen.Gewandelte Verhältnisse erfordern gewandelteBehördenstrukturen. Lobend erwähnen möchte ich andieser Stelle die Grünen, die den Reformbedarf bei derWSV erkannt haben und die Debatte in den vergange-nen Monaten kritisch, aber konstruktiv begleitethaben. Daran könnte sich die übrige Opposition einBeispiel nehmen.Denn es ist unstrittig, dass die Struktur der WSVveraltet ist. Deshalb richten wir die Generaldirektionfür Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonn ein. Dieswird durch einen Einrichtungserlass unter Wahrungder personalvertretungsrechtlichen Belange gesche-hen. Ein Gesetz brauchen wir dazu nicht.Zum einen gibt es keinen Vorbehalt derart, dass einesolche Organisationsänderung nur durch Gesetz oderRechtsverordnung erfolgen darf. Zum anderen ist siedurch das Selbstorganisationsrecht der Verwaltung ge-deckt. Dies ist auch – zumindest außerhalb der Oppo-sition – nachvollziehbar: Die Verwaltung muss in derLage sein, sich so zu organisieren, dass sie die ihrübertragenen Aufgaben so gut, so schnell und so effi-zient wie möglich erfüllen kann.Das ist auch richtig so: Sonst würden wir im Deut-schen Bundestag einen großen Teil unserer Zeit damitverbringen, über veränderte Organisationsformen vonBehörden zu entscheiden. Das kann nicht Aufgabe desGesetzgebers sein. Das ist nicht Aufgabe des Gesetz-gebers.Insofern wird die Errichtung der Generaldirektionfür Wasserstraßen und Schifffahrt in der angemesse-nen und gesetzlich gebotenen Form erfolgen. So wirdder Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch weiter-hin eine von allen Seiten geachtete Existenz als flexibleund kompetente Behörde mit hochmotivierten Mitar-beitern sicher sein. Warum wollen Sie dies nicht, meineDamen und Herren von der Opposition?Warum wollen Sie verhindern, dass die Wasser- undSchifffahrtsverwaltung mit einer erneuerten Organisa-tionsform fit für die Zukunft wird? Warum wollen Sieverhindern, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwal-tung auch weiterhin attraktive Arbeitsplätze fürhochmotivierte Mitarbeiter schafft? Warum wollen Sieverhindern, dass unsere Wasserstraßen effektiv undhochwertig bewirtschaftet werden?Die Errichtung der Generaldirektion für Wasser-straßen und Schifffahrt ist der erste Schritt in dieModerne der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung.Weitere werden folgen.Es werden aber Schritte in die richtige Richtungsein. Die Kernkompetenzen der Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung werden wir nicht antasten. Das aber,was andere besser können, soll die Wasser- und Schiff-fahrtsverwaltung an andere vergeben. Diese Balancewerden wir halten. Es ist doch ganz selbstverständlich,dass die Erledigung einiger Aufgaben durch Privatenicht zu einem Kompetenzverlust beim Staat führendarf. Um es ganz klar zu sagen: Diese Koalition wirdsich nicht von Oligopolen abhängig machen.Genauso klar ist, dass hoheitliche und sicherheits-relevante Aufgaben auch weiterhin von der WSV erle-digt werden, erledigt werden müssen. Wir wollen kei-nen trägen, verfetteten Staat; wir wollen einen starken,schlanken Staat, einen Staat, der eingreift, wo es nötigist – aber auch nur da.Daher kann ich auch nicht erkennen, dass hier in ir-gendeiner Weise die Kernkompetenzen der Wasser-und Schifffahrtsverwaltung tangiert, geschweige dennvernichtet werden. Das sind Unterstellungen. Es sindUnterstellungen von Leuten, die auch morgen noch imGestern leben wollen.Wir aber wollen und werden in einem zeitgemäßenMorgen leben. Wir nehmen schon heute Kurs auf dieZukunft.
Zum wiederholten Male setzen wir uns heute mit derReform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung desBundes auseinander. Während wir in den vergangenenPlenardebatten versuchten, mit den bösen Gerüchtenüber den Inhalt dieser Reform aufzuräumen, hat dieOpposition des Deutschen Bundestages nun einenneuen Kritikpunkt am Vorgehen um die WSV gefunden.Im Wesentlichen handelt es sich zwar um alten Wein inneuen Schläuchen – da es hier sicher nicht um den Or-ganisationserlass, sondern um die Reform als solchegeht –, aber dennoch möchte ich die erneute ChanceZu Protokoll gegebene Reden
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29888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Matthias Lietz
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nutzen, um zum aktuellen Vorgehen des BMVBS in die-ser Angelegenheit Stellung zu beziehen.Nachdem das Bundesministerium für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung richtigerweise den Länderneinen Entwurf zum Zuständigkeitsanpassungsgesetzvorgelegt hat, wurde dieser vorerst noch nicht in dasPlenum eingebracht. Stattdessen werden nun die ers-ten Schritte der Reform via Ordnungserlass durch-geführt. Dieses Verfahren ruft nun bei Ihnen Kritikhervor, weil Sie selbstverständlich wissen, dass sichdie Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat geändert ha-ben und Sie dieses Vorgehen damit begründen.Tatsächlich aber wehrt sich niemand gegen einAnpassungsgesetz oder den weiteren Dialog darüber.Diesbezüglich muss man erwähnen, dass der Ord-nungserlass und das Gesetz ganz unterschiedlicheRegelungsinhalte haben. Der Entwurf des Zuständig-keitsgesetzes erhielt so keine Organisationsregelung.Davon abgesehen, steht es auch nirgends geschrieben,dass die Bundesregierung zu irgendeinem Zeitpunktdavon ausging, dass die Einrichtung der GDWS einRechtsbereinigungsgesetz benötigt. Und auch in IhrenAnträgen finde ich dazu keinerlei rechtlich begründeteArgumente. Sie halten sich also wieder einmal nicht andie Fakten. Aber das kennen wir aus den vergangeneDebatten um die Reform ja bereits.Und meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegenaus der Opposition, wir wissen selbstverständlich,dass es Kritiker gibt. Die gibt es bei jeder Reform.Deshalb haben wir hier auch nichts von heute auf mor-gen über das Knie gebrochen, sondern einen langenReformprozess beratend und reflektierend begleitet.Wir haben über Jahre hinweg immer wieder an derWSV-Reform geformt und gefeilt. Sie selbst waren bis-her nicht willens dazu, oder im Falle der Linken auchnoch nie in der Regierungsverantwortung, und kriti-sieren deshalb unsere Schritte nur noch um des Kriti-sierens willen.Natürlich ist Kritiküben eine wesentliche Aufgabeder Oppositionsfraktion. Allerdings sollte man nachein paar Jahren vielleicht auch vernünftige Vorschlägeerwarten können. Darauf nämlich warten wir schonlange vergeblich.Und auch die Menschen in der Verwaltung wissen,dass Sie jahrelang nur mit heißer Luft um sich gebla-sen haben, anstatt mal da anzugreifen, wo der Schuhwirklich drückt. Und so sind auch diese Anträge ledig-lich Hilfeschreie, um mit wehenden Fahnen in denBundestagswahlkampf zu ziehen und doch noch daseine oder andere gutgläubige Wählerpotenzial ausfin-dig zumachen. Denn die Notwendigkeit einer Reformist inzwischen vielfach unbestritten.Sollte es sich hier um rein rechtliche Bedenken han-deln, existiert selbstverständlich immer die Möglich-keit, Rechtsmittel einzulegen. Auch ich kann und willhier nicht die Rolle der Justitia übernehmen und vor-schnell urteilen. Dennoch muss ich darum bitten, mitden Gerüchten darüber aufzuräumen, wir würden dieLänder ihrer Stimme berauben und im stillen Kämmer-lein vor uns hin brüten. Vor allem die Länder warenwährend des Prozesses eingeflochten und werden esauch zukünftig weiter sein.Auch sollten sowohl Sie alle hier als auch die Län-der anerkennen, dass es sich um die Bundesverwaltunghandelt. Und die ist nun mal bundeseigen und derHoheit des Bundesministeriums für Verkehr, Bau undStadtentwicklung unterstellt. Ich hege daher auchkeine Zweifel daran, dass das BMVBS seinen Behör-denunterbau selbst durch Organisationserlasse ver-walten darf. Gern können Sie sich hierzu auch imGrundgesetz Art. 86 sachkundig machen.Zum Thema der Ämter und deren Aufgabenspaltungverweise ich auf die Antwort einer Kleinen Anfrageder Kollegin Wilms, Bundestagsdrucksache 17/12624.Zum einen werden die Strukturen hier nochmals ergeb-nisoffen geprüft. Zum anderen ist es ein Ammenmär-chen, zu behaupten, wir würden die Regionen schwä-chen. Denn auf die Stärkung der regionalen Strukturenzielt diese Reform ja ab!Und noch nicht genug der Kuriositäten, denn dieSPD fordert in ihrem Antrag einen Aufschub der Re-form bis zur Bundestagswahl und eine umfassendeAufgabenkritik und Personalbedarfsermittlung. Offen-bar haben die Genossen die fünf Berichte aus demMinisterium nicht gelesen; denn sonst wüssten sie,dass derartige Untersuchungen schon durchgeführtwurden und auf einem guten Wege sind. Auch werdenwir mit dem Aufschub keine kostengünstigere undeffektivere, verlässliche WSV schaffen. Und gerade imBereich des Personals ist es dringender denn je,Lösungen zu erarbeiten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich ver-misse in Ihren Anträgen nachhaltige Konzepte, überdie man sich ernsthaft unterhalten kann. Seit 2001 istIhnen nichts weiter eingefallen, um diese Verwaltungvernünftig zu reformieren.Ihre Anträge gehören daher ins Schaufenster undnicht in dieses Plenum!
Mit den WSV-Plänen ist der Bundesverkehrsminis-ter mächtig vom Kurs abgekommen. Vergeblich hat dieBundesregierung in den vergangenen Monaten ver-sucht, Länder und Verbände bei dem höchst umstritte-nen Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungdes Bundes mit ins Boot zu holen. Am Ende musste siezurückrudern: Nach heftiger Kritik von Ländern, Ver-bänden und der Opposition im Deutschen Bundestaghat sie ihren Gesetzentwurf, mit dem sie die Zuständig-keiten der sieben regionalen Direktionen auf eine neueinzurichtende Zentralbehörde mit Sitz in Bonn über-tragen wollte, wieder zurückgezogen.Ihre Pläne für den Verwaltungsumbau der WSV willdie Regierungskoalition nun an Bundestag und Bun-desrat vorbei per Organisationserlass durchsetzen,Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29889
Uwe Beckmeyer
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der bereits am kommenden Mittwoch in Kraft tretensoll. Eine überzeugende Erklärung für diesen bemer-kenswerten Kurswechsel hat die Bundesregierungnicht. Das Manöver ist aber auch so ziemlich durch-sichtig. Denn auf diese Weise verhindert die Bundes-regierung jede parlamentarische Mitwirkung und eineoffene Debatte über die Zukunft der WSV, eine derwichtigsten Behörden in Deutschland.Wenn die Bundesregierung jetzt das Parlament um-schifft, zeigt dass nur eines: Sie hat selbst nicht mehrdamit gerechnet, dass sie mit ihren Plänen durch Bun-destag und Bundesrat kommt. Nun will sie diese aufBiegen und Brechen noch vor der Bundestagswahldurchsetzen. Diskussion oder gar Kritik lässt sie dabeinicht zu. Der jetzt geplante Verwaltungsumbau imWege eines Organisationserlasses wird zudem zu mas-siver Rechtsunsicherheit führen. Wir als SPD halten esfür höchst bedenklich, dass in Bundesgesetzen defi-nierte Zuständigkeiten von den jetzigen Direktionenper Erlass auf die neue Generaldirektion übertragenwerden sollen, die in den zugrunde liegenden Gesetzennicht einmal erwähnt ist.Doch eine Antwort auf unsere entsprechende An-frage vom 14. März hielt die Bundesjustizministerinnicht für nötig. Erst auf erneute Nachfrage und mitFristsetzung kam die dürre Nachricht aus dem Haus,dass die Anfrage an das Bundesministerium des Innernabgegeben worden sei. Die Antwort, die schließlichvon dort kam, ist – nun ja – bemerkenswert: „Die inIhrem Schreiben erwähnten bestehenden gesetzlichenZuweisungen von Zuständigkeiten an die bisherigenWasser- und Schifffahrtsdirektionen sind lediglich vondeklaratorischer Natur.“ Das zeugt nun allerdings voneinem fragwürdigen Demokratieverständnis – malganz abgesehen von den verfassungsrechtlichen Fra-gen, die das Vorgehen der Bundesregierung aufwirft.Auch wenn zu einem späteren Zeitpunkt eineRechtsbereinigung geplant ist, wie es aus dem Bundes-ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungheißt, bestehen doch über einen Zeitraum von zwölfund mehr Monaten keine klaren Zuständigkeiten – mitrechtlichen Folgen, die derzeit kaum absehbar sind.Denn bisher sind für Planfeststellungsverfahren dieDirektionen zuständig; so ist es im Bundeswasserstra-ßengesetz festgelegt. Wird diese Zuordnung jetzt durchErlass neu geordnet, könnte dies Auswirkungen auflaufende oder künftige Planfeststellungsverfahrennach § 14 ff. Bundeswasserstraßengesetz haben. Wenndie Bundesregierung hier auf das geplante Zuständig-keitsanpassungsgesetz verweist, ist das nicht mehr alsein müder Beschwichtigungsversuch. Denn es ist über-haupt nicht absehbar, wann der neu zu wählende18. Deutsche Bundestag zusammentreten und ein sol-ches Gesetz verabschieden wird. Wir halten einen sol-chen Schwebezustand für nicht tragbar, geht es dochum eine der wichtigsten Behörden in Deutschland, diefür die Unterhaltung und die Sicherheit und Schiffbar-keit unserer Bundeswasserstraßen verantwortlich ist.Das Vorhaben, die WSV zu modernisieren, istgrundsätzlich richtig. Denn in den vergangenen Jah-ren sind viele neue Aufgaben – etwa im Bereich Ökolo-gie und Tourismus – hinzugekommen. Doch der Aus-weitung des Aufgabenprofils und den gestiegenenHerausforderungen bei Bau und Unterhaltung stehtkeine ausreichende Aufstockung der Finanzmittel imBundeshaushalt für die Bundeswasserstraßen gegen-über. Die Folge: Der Anteil der Aufgaben der WSV, diezur Erledigung an private Unternehmen vergeben wer-den, musste deutlich erhöht werden; 2009 hatte derVergabeumfang mit 3 656 Einzelvergaben ein Gesamt-volumen von 1,08 Milliarden Euro. Mit ebendiesemArgument will die Bundesregierung nun begründen,warum die WSV in der bisherigen Größenordnungnicht mehr gebraucht und also dringend reformbedürf-tig sei. Damit verkehrt sie Ursache und Wirkung. Aus-baden müssen das die WSV-Beschäftigten. Bis Ende2013 will das Bundesministerium mindestens zehn Äm-ter schließen, die bisherige Ämterstruktur soll weitge-hend zerschlagen werden. Mindestens ein Viertel allerStellen soll gestrichen werden. Verdi hat vor diesemHintergrund jetzt zur Urabstimmung über einen unbe-fristeten Streik aufgerufen – die Frist läuft noch bismorgen. Es wird sich zeigen, ob es am Ende zu einerAbstimmung mit den Füßen kommt.Für die SPD steht fest: Eine Reform der WSV istwichtig, um die Verwaltung fit für die Zukunft zu ma-chen. Der Organisationserlass leistet das jedoch nicht.Er ist verkehrspolitisch unsinnig; denn die Regie-rungspläne würden die Entwicklung des Wasserstra-ßennetzes behindern, die Verkehrssicherheit gefährdenund die Nutzung der Wasserwege verteuern. Er istwirtschaftspolitisch schädlich, da wichtige Wasser-straßen in Deutschland – insbesondere im Norden –künftig vom Verkehrsnetz abgekoppelt würden, obwohlbereits heute massive Kapazitätsengpässe im Güter-verkehr bestehen. Er ist beschäftigungspolitisch fatal,da ein drastischer Stellenabbau innerhalb der gesam-ten WSV droht und das – siehe oben – auch massiveFolgen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerder verladenden Wirtschaft und der Binnenschifffahrthätte. Er ist verfassungsrechtlich bedenklich, da eineuntergesetzliche Übertragung von gesetzlich festge-legten Zuständigkeiten der Wasser- und Schifffahrts-direktionen auf die neue Generaldirektion zu massiverRechtsunsicherheit führen wird.Wir fordern Sie daher mit unserem Antrag auf, denOrganisationserlass zur Errichtung der Generaldirek-tion für Wasserstraßen und Schifffahrt auszusetzen.Was es braucht, ist ein echtes Zukunftskonzept für dieWSV und eine verlässliche Finanzausstattung der Bun-deswasserstraßen. Wir wollen einen Neustart nach derBundestagswahl – und zwar im engen Dialog mit denBeschäftigten und ihren Interessenvertretungen. EineEntscheidung über die Struktur der WSV kann es erstgeben, wenn eine umfassende Aufgabenkritik und einegrundlegende Personalbedarfsermittlung erfolgt sind.Beides ist bisher nicht der Fall, ebenso wenig wie eineWirtschaftlichkeitsprüfung der Vergabe von Aufgaben,Zu Protokoll gegebene Reden
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29890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Uwe Beckmeyer
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die eine Kostenermittlung für den Fall der Eigenerle-digung durch die WSV einschließt.Mit anderen Worten: Die Bundesregierung fährt aufSicht – und hat dabei leider die falsche Richtung ein-geschlagen. Herr Minister, kehren Sie um, und sorgenSie dafür, dass die Reform, die diesen Namen nicht ver-dient, gestoppt wird!
Sie erinnern sich an den „Herbst der Entscheidun-gen“ im Oktober 2010? Nicht nur der Ausstieg ausdem Atomausstieg wurde ohne jeden vernünftigenGrund von der schwarz-gelben Koalition beschlossen.Auch – weniger beachtet von der Öffentlichkeit – dieWasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes wurdeOpfer einer schwarz-gelben Fehlentscheidung.Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin enttäuscht.Ich bin enttäuscht von den Kolleginnen und Kollegendieser Koalition im eigentlich zuständigen Verkehrs-ausschuss, die dieses Drama in sieben Akten zugelas-sen haben: die sogenannte WSV-Reform, die denNamen „Reform“ nicht verdient und die sich an Un-professionalität, Ignoranz und Inkompetenz kaumüberbieten lässt.Angestoßen von den Privatisierungsgelüsten eini-ger FDP-Abgeordneter nahm das Unheil am 27. Okto-ber 2010 seinen Lauf. Akt eins bis fünf: Fünf Berichtedes Verkehrsministeriums später blicken wir auf einenZickzackkurs, der kaum zu erkennen gibt, wo es eigent-lich hingehen soll. So nebenbei wurde das ungeliebteKind der „Kategorisierung“ geboren: von niemandemgewollt und doch in die Welt der Bundeswasserstraßengesetzt. Gegen alle Widerstände aus der Wirtschaft,aus den Ländern und den Kommunen und wider allefachliche Kritik setzt dieses Ministerium eine tonnage-basierte Kategorisierung durch. Schubladen werdenzur Grundlage von verkehrspolitischen Entscheidun-gen, und Schwarz-Gelb verabschiedet sich damit end-gültig von der verkehrsträgerübergreifenden und ge-staltenden Verkehrspolitik.Eine parlamentarische Legitimation für derart weitin die Zukunft reichende Entscheidungen gibt es nur inForm von Ausschussbeschlüssen. Vor einem eigenenAntrag und einem Gesetz haben sie gekniffen.Ganze Regionen werden mittel- bis langfristig abge-hängt, Wirtschaftsräume ausgetrocknet und Arbeits-plätze gefährdet, Milliardeninvestitionen der Vergan-genheit entwertet, und das Ganze auf der Basis von„Berichten“? Liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP: Damit haben Sie dem Parlamenteinen Bärendienst erwiesen.Akt sechs: Das BMVBS bereitet ein Gesetz zur An-passung der Zuständigkeiten der Direktionen an dieNeuordnung der WSV vor. In einem Vermerk vomDezember 2012 war zu lesen: „Die Arbeit an dem Ge-setzgebungsverfahren hat oberste Priorität“. Ich willIhnen auch nicht vorenthalten, was im Referentenent-wurf stand: „Der Bundestag hat mit Zustimmung desBundesrates das folgende Gesetz beschlossen: …“.Das macht zwei Dinge deutlich.Erstens: Das Verkehrsministerium war der Mei-nung, ein Gesetz sei notwendig.Zweitens: Das BMVBS hat dem Bundesrat ganz ein-deutig ein Mitspracherecht zugestanden.Und dann kam der 20. Januar und mit ihm dieNiedersachsenwahl. Seitdem werden Sie nicht müde,zu beteuern, ein Gesetz sei überflüssig.Hier werden parlamentarische Grundrechte mit Fü-ßen getreten. Sie legen ein Projekt „oberster Priori-tät“ zurück in die Schublade.Selbst Ihre eigenen Fachleute warnen unmissver-ständlich vor Rechtsunsicherheiten, wenn auf ein regu-läres Gesetzgebungsverfahren verzichtet wird. Ichsage Ihnen: Für bereits laufende oder auch zukünftigeVerwaltungsverfahren gilt: Ohne vorherige gesetzlicheZuständigkeitsänderung kann rechtlich nicht sicherge-stellt werden, dass die GDWS rechtmäßige Verwal-tungsakte erlassen kann.Einschlägigen Petitionen der Beschäftigten und ausder Wirtschaft, einstimmigen Beschlüssen der VMKund persönlichen Appellen der Ministerpräsidentenzum Trotz hält Bundesminister Ramsauer an seinemKurs fest und hat dabei längst die Übersicht verloren.Damit kommen wir zu Akt sieben: Ohne Rücksichtwird auf Biegen und Brechen versucht, diese Reformdurchzudrücken. Auf untergesetzlichem Weg wird miteinem Organisationserlass eine Generaldirektion ge-schaffen, gesetzlich zugeordnete Zuständigkeiten derDirektion übertragen und ein Zuständigkeitschaos aus-gelöst, das gefährlich ist für den ganzen Verkehrsträ-ger. Ich gebe zu bedenken: All das geschieht zu einerZeit, in der wir alle Ressourcen darauf verwenden soll-ten, unsere Wasserstraßen auf Vordermann zu bringen.Stillstand am NOK, verrottete Schleusen an der Lahn,in Passau und Schneckentempo beim Ausbau der Mo-sel-Schleusen – hier müssen wir unsere Kräfte bün-deln, um die Güter von der Straße auf das Binnenschiffzu bringen.Stattdessen werden Beteiligungsrechte der Beschäf-tigten auf das Gröbste missachtet, Bundestag und Bun-desrat umgangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen derKoalition, das alles geht auf Ihr Konto. Sie haben daszugelassen, durchgewunken und sich selbst zum Ab-nicker degradiert – obwohl, wie ich weiß, viele von Ih-nen ebenfalls sehr unzufrieden sind. Wir werden nachder Bundestagswahl wieder ändern, was noch möglichist. Wir werden einen neuen Prozess einleiten und Be-schäftigte, Wirtschaft, Länder und Kommunen dabeiaktiv beteiligen.An dieser Stelle möchte ich mich mit den Beschäf-tigten solidarisch erklären. Bis morgen läuft die Urab-stimmung für einen unbefristeten Streik, und ich binzuversichtlich, dass sich die Beschäftigten nicht allesgefallen lassen. Ich mag mir nicht ausmalen, was pas-siert, wenn die WSV bundesweit die Arbeit niederlegt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29891
Gustav Herzog
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Wenn, dann hat der oberste Dienstherr dafür die Ver-antwortung zu tragen.Der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundesein gutes Stehvermögen!
Die bestehenden Strukturen der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes müssen dringend effi-
zienter gestaltet werden, um sie leistungsstark, zu-
kunftsfähig und demografiefest zu erhalten. Hierzu
werden die See- und Binnenwasserstraßen nach ihrer
Bedeutung für den Güterverkehr kategorisiert. Der
Deutsche Bundestag hat dazu Auf- und Abstiegsmög-
lichkeiten beschlossen, die auch umkehrbar sind, da-
mit sie geänderten Güterverkehrsströmen angepasst
werden können.
Die neu zu schaffende Generaldirektion wird zen-
tral die Aufgabensteuerung übernehmen und dadurch
wesentlich zur Beschleunigung von Entscheidungsver-
fahren sowie zur Einsparung von Kosten beitragen.
Der Bundesrechnungshof hat Prioritäten und Mit-
teleinsatz überprüft und untersucht, welche Verfahren
optimiert werden müssen, ein Vorgehen wie in jedem
gut geführten Unternehmen.
Bald können wir ein weiteres Häkchen auf unserer
Liste erfolgreichen Bürokratieabbaus setzen!
Das können und wollen die Kolleginnen und Kolle-
gen von der SPD und der Linken so kurz vor der Bun-
destagswahl natürlich nicht dulden! Von ihnen kommt
nichts als Gegenrede um der Gegenrede willen. Das
bringt uns nun wirklich nicht weiter!
Nicht, dass man Ihnen unterstellen wollte, Sie hät-
ten etwas gegen Leistungsfähigkeit und Kostenerspar-
nis. Aber Ihre Anwürfe sind – mit Verlaub – bestenfalls
plakativ.
Keine Beteiligung des Bundestages und des Bundes-
rates – das hört sich ja ganz schlimm an. Wenn man
Ihre Anträge liest, könnte man meinen, der Rechtsstaat
samt freiheitlich-demokratischer Grundordnung sei
für die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
kurzerhand abgeschafft worden, um einem schreckli-
chen Verwaltungsmonster Tür und Tor zu öffnen. Fakt
ist, dass der Bundesrat in der aktuellen politischen
Konstellation und insbesondere vor entscheidenden
Wahlen den Reformprozess nicht konstruktiv begleitet.
Im Übrigen stellt sich ohnehin die Frage, ob der Bun-
desrat beteiligt werden sollte. Art. 86 des Grundgeset-
zes lässt dies nicht zu. Eine Blockadehaltung aus
durchsichtigen politischen Motiven muss verhindert
werden. Denn auch der Bundesrat muss endlich erken-
nen, dass wir mit der Reform auf dem richtigen Wege
sind!
Hier droht keinerlei Unbill, weder was die Aufga-
benerfüllung noch die Ämterstrukturen betrifft. Ganz
im Gegenteil: Hier wird gute Politik für den Schiff-
fahrtsstandort Deutschland gemacht!
Anders als Sie schlagen wir konkrete Maßnahmen
vor, was man besser machen kann. Denn wir wissen:
Gute Kritik ist nur die, die auch Lösungsansätze be-
inhaltet.
Auch wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern mit
lautem Wahlkampfgetöse etwas anderes einreden wol-
len: Durch die Wasser- und Schifffahrtsreform werden
keine Arbeitsplätze vernichtet. Wer, wie Sie, Ängste vor
betriebsbedingten Kündigungen schürt, agiert in völli-
ger Unkenntnis der Fakten. Kündigungen sind nicht
vorgesehen. Ich sage: Das ist schäbig – noch dazu auf
dem Rücken der Beschäftigten und der Schifffahrt!
Und was würden Ihre Anträge letztlich bewirken?
Einen guten und wichtigen Reformprozess zum Still-
stand bringen.
Wer Ihnen folgt, könnte auch genauso gut dem Rat-
tenfänger von Hameln hinterherlaufen. Das ist es doch
genau, was Bürgerinnen und Bürger so politikverdros-
sen macht – die Vernachlässigung von sachlichen Er-
wägungen und oft leider auch das gänzliche Fehlen
fachlicher Kompetenz.
Ihren Anträgen werden wir deshalb nicht zustim-
men.
Die Menschen wollen mit Politik nichts mehr zu tunhaben, wenn sie merken, dass ihre Argumente nicht ge-hört werden. Sie wenden sich ab von der Demokratie,wenn sie erfahren müssen, dass Entscheidungen ein-fach exekutiert werden. Der Umbau der Wasser- undSchifffahrtsverwaltung ist ein Paradebeispiel für de-mokratiefeindliche Arroganz der Macht. Unbeirrtzieht der Bundesverkehrsminister sein Projekt durch,wischt jeden Vorschlag vom Tisch, der Reform dochnoch eine vernünftige Wendung zu geben.Die Beschäftigten der WSV, die Binnenschiffer,Wirtschaftsverbände und Wassersportler versuchenseit Jahren, mit guten und ernst zu nehmenden Vor-schlägen die Zerschlagung der WSV zu verhindern.Doch selbst eine Allianz von Beschäftigten, Wirtschaftund Fachverbänden konnte nichts bewirken. Die Ver-kehrsminister der Länder protestierten auf ihrer Kon-ferenz vor zwei Wochen dagegen, dass eine Behörde,die in den Bundesländern wichtige Arbeit leistet, ohneihre Mitwirkung zentralisiert wird. Statt auch nur ei-nen ihrer Einwände gegen den WSV-Umbau ernsthaftzu prüfen, weist Staatssekretär Ferlemann die Beden-ken als „unzulässige Einmischung“ der Länder in dieBundespolitik zurück. Das ist schon ein ziemlicherHammer, muss ich sagen.Aber diese Arroganz der Macht beschädigt nichtnur die Demokratie.Am Freitag vergangener Woche hat Bundes-verkehrsminister Ramsauer verfügt, dass die General-direktion für Wasserstraßen und Schifffahrt in Bonngegründet wird und die Wasser- und Schifffahrtsdirek-tionen zu Außenstellen dieser Zentralbehörde degra-Zu Protokoll gegebene Reden
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29892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Herbert Behrens
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diert werden. Wasser- und Schifffahrtsämter verlierenihre Zuständigkeiten, die in den vergangenen Jahrenerarbeiteten Arbeitsstrukturen werden zerschlagen,und das Personal wird in eine ungewisse Zukunft ent-lassen. Mit einem verfassungsrechtlich zweifelhaftenOrganisationserlass drückt der Verkehrsminister seinProjekt durch, ohne den Bundesrat und den Bundestagausreichend zu beteiligen. Das notwendige Gesetzkönne auch im Nachklapp beschlossen werden, heißtes. Das ist ein Skandal.Nach drei Jahren Rumwerkeln an einer sogenann-ten Reform der WSV ist der Schaden groß, für die Ver-kehrspolitik auf dem Wasser und für die Behördeselbst.Mit dem Antrag der Linken ist es möglich, diesendoppelten Schaden abzuwenden. Stimmen Sie für einewirklich ökonomische und ökologische, eine sinnvolleReform der WSV! Die funktioniert aber nur mit denBeschäftigten, das geht nur mit den Fachverbändenund mit den Bundesländern.Wir fordern den sofortigen Stopp der Zerschlagungder WSV, damit es einen Neustart geben kann.Was passiert, wenn sich der Verkehrsminister jetztdurchsetzt? Die Ansprechpartner der Wasser- undSchifffahrtsdirektionen werden zunächst damit be-schäftigt sein, sich überhaupt in das neue Organi-gramm einzusortieren; neue Strukturen in der Zusam-menarbeit müssen gebildet werden. Wir haben beivielen Besuchen von Dienststellen und Bauhöfen dieArbeit der Beschäftigten kennengelernt. Beim Besuchin Emden und Aurich habe ich erfahren, dass Kundender WSV bei manchen Aufgaben künftig drei verschie-dene Stellen anlaufen müssen, wo sie heute alles bei ei-ner Direktion erledigen können.Die Beschäftigten werden sich in neu zusammen-gestrickten Ämtern und Außenstellen wiederfinden.Und sie müssen gleichzeitig in der Lage bleiben, jeder-zeit die Sicherheit auf Flüssen und Kanälen zu garan-tieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition,auch Sie haben bei Ihren Besuchen erfahren können,dass diese Reform kein Fortschritt ist. Auch wenn Siein einzelnen Wahlkreisen eine Behörde sichern konn-ten, nützt das der WSV insgesamt nichts. Wie soll siemit noch einmal 2500 Leuten weniger auskommen?Wie sollen die oft komplizierten Aufgaben von Firmenauf dem freien Markt erledigt werden? Die Reparatureiner Schleuse kann ausgeschrieben werden, wenn siegeplant ist. Aber wir wissen nicht zuletzt durch denzeitweiligen Totalausfall am Nord-Ostsee-Kanal, dassschnelles Eingreifen mit qualifizierten und engagiertenLeuten so schnell auf dem Markt nicht zu finden ist.Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft Verdi ha-ben mit Gesprächsangeboten nicht erreichen können,die Kenner der Materie in die Reform der WSV ange-messen einzubeziehen. Nun stehen sie vor der Situa-tion, dass sie die sozialen Folgen der Zerschlagungder WSV regeln müssen. Damit die Kolleginnen undKollegen wissen, wo sie eingesetzt werden sollen, obsie mit ihren Familien den Wohnort wechseln müssen,fordern sie einen Tarifvertrag. Und selbst in dieserFrage weigerte sich der Bundesverkehrsminister langeZeit, die sozialen Folgen überhaupt zur Kenntnis zunehmen. Mit Warnstreiks und dem Beginn der Urab-stimmung nimmt der Arbeitgeber zur Kenntnis, dassdie Reform direkt in das Leben der Beschäftigten ein-greift.Wir wünschen den Kolleginnen und Kollegen undihrer Gewerkschaft Verdi viel Erfolg bei der Aushand-lung guter Bedingungen. Aber wir versprechen ihnenauch, dass wir auch eine andere Bundesregierung be-arbeiten werden, damit dieser Tarifvertrag nicht ange-wendet werden muss. Es muss eine Reform der Reformgeben, die die Arbeit der WSV und nicht die Privatisie-rung öffentlicher Aufgaben ins Zentrum stellt.
Die Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungmacht deutlich, wie planlos diese Bundesregierungagiert. Noch im Juni 2012 wurde die Reform durchMinister Ramsauer angekündigt, und zwar als Kon-zept, das „Reformstau und 20 Jahre Unsicherheit fürdie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ beenden sollte.So weit, so gut: für uns ein Ziel, das auch wir gerne be-reit sind, zu unterstützen und kritisch zu begleiten.Doch das Ministerium kommt mit der Umsetzung ei-ner im Kern sinnvollen Reform nicht voran. Jetzt istHerr Ramsauer auf dem besten Weg, überhaupt nichtsmehr zu erreichen. Bisher mangelt es im Rahmen derUmsetzung der Reform vor allem bei der Kommunika-tion mit den Mitarbeitern. Ich warne davor: Wenn dasMinisterium seine Reform durchzusetzen versucht,ohne die Belegschaft mitzunehmen, kann das nurschiefgehen. Seit fast einem Jahr warten die Mitarbei-ter in den Ämtern auf ein Ende der Hängepartie. Siemöchten endlich wissen, wie es mit der Reform weiter-geht.Wir stellen uns unter einer guten Verwaltungsreformvor, dass die Organisationsstruktur den heutigen Be-dürfnissen angepasst wird. Eine Verwaltung, wie siebei ihrer Gründung vor 140 Jahren geschaffen wordenist, ist nicht mehr zeitgemäß. Maßnahmen einer klugenVerwaltungsreform sind zum Beispiel der Einsatz einesfunktionierenden Change-Managements sowie einesklugen Personalkonzepts. Doch beides fehlt bisher;das Reformvorhaben dieser Bundesregierung ist einereine Top-down-Veranstaltung. Nur wenn auch die Be-lange der Mitarbeiter vor Ort ernst genommen wer-den, wird dies auch eine erfolgreiche Reform.Ich habe deswegen Zweifel am Erfolg des Reform-vorhabens: Per Organisationserlass, also wieder vonoben herab, soll nun die Reform der Ämterstruktur um-gesetzt werden. Vorgesehen war eigentlich ein Gesetzmit ordentlicher Befassung des Parlaments, doch hierkneift die Bundesregierung. Nach dem Verlust derMehrheit im Bundesrat wurde das Gesetz begraben –Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29893
Dr. Valerie Wilms
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obwohl das Gesetz nicht einmal zustimmungspflichtiggewesen wäre.Lassen Sie mich hier aus der Pressemitteilung desHauses Ramsauer, BMVBS, vom 27. Juni 2012 zitie-ren: „Die rechtliche Umsetzung erfolgt durch eineReihe von Gesetzesänderungen unter anderem im Was-serstraßenG, SeeaufgabenG, SeeunfallUG, Binnen-schifffahrtsaufgabenG. Der Gesetzgebungsprozesswird noch dieses Jahr begonnen.“ Auf meine Anfrage,welcher Zeitplan vonseiten der Bundesregierung fürdas Rechtsbereinigungsgesetz vorgesehen ist, wurdeam 13. November 2012 in Drucksache 17/11460 ge-antwortet: „Mit der Befassung des Deutschen Bundes-tages ist Anfang 2013 zu rechnen.“ Hier ist keinesfallsdie Rede von einem Organisationserlass, und auf dasGesetz warten wir vergeblich. Was ist das Wort dieserBundesregierung eigentlich wert? Damit liegt auf derHand, dass die Bundesregierung bei der Umsetzungder Reform schlampig arbeitet.Wir sind weiterhin für eine konsequente Reform derWasser- und Schifffahrtsverwaltung. Aber aus demHause Ramsauer ist bis zur Bundestagswahl wohlnicht mehr viel zu erwarten. Mal sehen, was aus demErlass wird, ob die neue Behörde tatsächlich arbeitsfä-hig wird und was die Angestellten und Beamten ausder unklaren Situation noch machen. Zu viele Fragensind offen.Wir müssen deswegen jetzt unseren Blick schon aufdie nächste Legislatur richten. Die SPD macht das inihrem Antrag deutlich. Ich freue mich, dass die SPDsich für einen Dialogprozess über die zukünftige Struk-tur der WSV einsetzt, der in enger Abstimmung mit denBeschäftigten und ihren Interessenvertretungen trans-parent und ergebnisoffen geführt werden soll. DieserDialog ist absolut notwendig und fügt sich sehr gut zuunserem Vorschlag zu einer Kommission, die einen Re-formvorschlag mit den Betroffenen erarbeiten soll. Mirscheint, inzwischen haben Sie verstanden, dass es eineReform geben muss. Das begrüßen wir. In der nächstenLegislatur geht es dann an die richtige Umsetzung mitden Menschen vor Ort. Damit müssen wir im Herbstspätestens beginnen. Ich nehme die SPD beim Wort.
Es wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 17/13228 und 17/13229 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine
Einwände. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-
Emissionshandels
– Drucksachen 17/12064, 17/12489 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Bärbel Höhn
Die Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Die Entscheidung des Europäischen Parlaments inder letzten Woche, das sogenannte Backloading zurückan die Ausschüsse zu geben, ist ein Rückschlag für denKlimaschutz. Und eine vertane Chance zugleich. Die-ser einmalige Eingriff in den Emissionshandel solltedafür Sorge tragen, dass eines der wichtigsten Instru-mente der europäischen Klimapolitik stabilisiert wer-den und man über entsprechende Neujustierungen fürdie nächste Handelsperiode nachdenken kann. Dennder enorme Überschuss von über 1,5 Milliarden Zerti-fikaten wird sicherlich in absehbarer Zeit nicht für ei-nen signifikanten Anstieg der Zertifikatspreise sorgen.Das vorgesehene Herausnehmen von 900 Millionenhätte hier für eine gewisse Entspannung der Situationsorgen können.Doch ein generelles Scheitern des ETS, wie es DieLinke in ihrem Antrag darstellt, sehe ich noch nicht.Der Umweltausschuss des Europäischen Parlamentshat nun maximal zwei Monate Zeit, um den Kommissions-vorschlag weiter zu beraten und sich informell mit Ratund Kommission auf einen neuen Kompromiss zu ei-nigen. Das Ergebnis kann dann wieder dem Plenumvorgelegt werden. Ziel muss es weiterhin sein, den euro-päischen Emissionshandel als ein zentrales Klima-schutzinstrument zu erhalten und zu stärken. Denn dieAlternativen wären ordnungsrechtliche Vorschriftenoder Klimasteuern. Ein wie im Antrag gefordertesKohleausstiegsgesetz wäre ein solcher ordnungspoliti-scher Eingriff, den ich aus diesem Grund nicht für ziel-führend halte.Ich unterstütze daher ausdrücklich die eindringlichenBemühungen von Bundesumweltminister Altmaier, in-nerhalb der Bundesregierung zu einer eindeutigen,einvernehmlichen Positionierung zu kommen. Auchich fordere die Bundesregierung auf, hier schnell klarStellung für ein fest umrissenes Backloading und eineErhöhung des Reduktionszieles innerhalb der EU auf30 Prozent bis 2020 zu beziehen.Um das ETS sicher zu stabilisieren, braucht es diesebeiden genannten Eingriffe. Nur durch die klar defi-nierte Herausnahme von Zertifikaten für einen be-stimmten Zeitraum und eine daran anschließendegrundlegende Reformierung der nächsten Handels-periode kann es gelingen, dieses wichtige Steuerungs-element als Kernelement der europäischen Klimapoli-tik auf Dauer zu erhalten. Das Backloading ist hierfürdie erste Voraussetzung.
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29894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Andreas Jung
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Der Handel mit CO2-Zertifikaten ist das Herzstückder EU-Klimapolitik. Dabei ist seine wichtigste Auf-gabe, die Unternehmen dazu anzuregen, in effiziente,emissionsarme Technologien und Verfahren zu inves-tieren. Investiert ein Unternehmen, benötigt es weni-ger Zertifikate, die es sonst zum Teil ersteigern müsste.Der Mechanismus hilft darum, dass Europa seine Füh-rungsrolle bei den zukunftsgerichteten Effizienztech-nologien gegen Wettbewerber halten kann. Und er sollfür einen planbaren, ruhigen Übergang in eine emissions-arme Wirtschaft sorgen. In einem für Investitionen re-lativ knappen Zeitrahmen von circa 35 Jahren musssich die Wirtschaft der EU vom CO2-Ausstoß fast voll-ständig verabschieden. Je länger Europa aber mit demAbschied wartet, desto mehr werden wir dafür inves-tieren müssen. Je steiler der zu erfüllende CO2-Aus-stiegspfad sein wird, desto teurer wird es am Ende.Neben dem Erhalt des ETS als marktwirtschaft-lichem Instrument muss es auch darum gehen, dieMinderungsziele für die CO2-Emissionen zu erhöhen,um so indirekt auf den Emissionshandel einzuwirken.Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass die Eu-ropäische Union ihre Ziele bis 2020 auf 30 Prozent er-höht. Mit ihrem selbstgesteckten Ziel, die Emissionenbis 2020 um 40 Prozent zu senken, hat die Bundes-regierung wichtige Impulse gegeben. Darauf mussjetzt aufgebaut werden. Die EU muss diesen Schritt miteinem Bekenntnis zu einem 30-Prozent-Ziel nachvoll-ziehen. Bundesumweltminister Altmaier setzt sich in-nerhalb der EU stark für diese Position ein, und ichunterstütze seine Bemühungen ausdrücklich. Denn na-tionale Bemühungen allein werden am Ende nicht aus-reichen, um die anvisierten klimapolitischen Ziele zuerreichen.
Die Fraktion der Linken fordert in diesem Antrag,dass im April 2013, also in diesen Tagen, das Scheiterndes Emissionshandels festgestellt wird und die Bun-desregierung im Mai dem Deutschen Bundestag einenGesetzentwurf über den planmäßigen Ausstieg aus derdeutschen Kohleverstromung vorlegt. Spätestens imJahr 2040 soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutsch-land stillgelegt werden. Ab dem nächsten Jahr soll diejährliche Menge an Strom, die in Kohlekraftwerkenerzeugt wird, begrenzt und in den Folgejahren stetigreduziert werden. Mit diesem Antrag bekommen wirgenau die Debatte über die Ablösung des Emissions-handels durch Ordnungsrecht, vor der ich die Gegnerdes Backloading immer gewarnt habe. Offensichtlichwar vielen Industrievertretern und konservativen undliberalen Abgeordneten nicht klar, was sie mit ihremBoykott der Reform des Emissionshandels angerichtethaben. Es ist absurd, dass diejenigen, die massiv fürein marktwirtschaftliches Instrumentarium wie denEmissionshandel eingetreten sind, jetzt dieses Instru-mentarium kaputtmachen. Dadurch entsteht natürlicheine neue Debatte über andere Instrumente der Klima-schutzpolitik, wie zum Beispiel Ordnungsrecht, Grenz-werte für Kraftwerke, Abgaben oder CO2-Steuern.Diese Debatte werden wir nicht nur in Deutschland,sondern in ganz Europa bekommen. Es kann ein Mo-saik aus nationalstaatlichen Regelungen entstehen an-stelle eines EU-weit einheitlichen Systems. Großbritan-nien hat schon einen gesetzlichen Mindestpreis fürCO2 eingeführt, die Niederlande und Spanien eineSteuer auf Kohle, Italien debattiert über solch eineSteuer. Es kann sein, dass wir genau das Gegenteil voneinem „level playing field“ erhalten werden, von demdie Industrie immer redet.Die Bundesregierung trägt eine große Verantwor-tung für die gegenwärtige Situation. Allen Fachleutenwar klar gewesen, was passieren wird und dass eineReform des Emissionshandels dringend notwendig ist.Allen ist klar, dass das Leitinstrument des europäi-schen Klimaschutzes, der EU-Emissionshandel, seineLenkungswirkung verloren hat und unter starkemDruck steht. Backloading, also die vorübergehendeHerausnahme von Zertifikaten, ist nur eine kurzfristigeRettungsmaßnahme, gegen die auch instrumentelleVorbehalte vorgebracht werden können. Konsequentwäre es, eine mittel- und langfristige Perspektive fürdie Jahre 2020 und 2030 aufzuzeigen, die Unterneh-men eine klare Orientierung für ihre Investitionsent-scheidungen gibt. Um Schritte zur Funktionsfähigkeitdes Emissionshandels im Sinne eines effizienten Klima-schutzinstrumentes einzuleiten, auch um das notwen-dige politische Signal zu geben, ist es aktuell notwendig,überschüssige Zertifikate aus dem Markt zu nehmen.Der Vorschlag der EU-Kommission zur kurzfristigenHerausnahme von Zertifikaten löst die bestehendenProbleme nicht, ist aber wegen der Signalwirkung ex-trem wichtig. Bis heute hat die Bundesregierung hierzukeine Meinung. So löblich der Einsatz des Bundesmi-nisters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitsowie der Mitglieder dieses Ausschusses gewesen ist:Am Ende ist diese Bundesregierung nicht in der Lage,eine klare Linie zu fahren. Die Bundeskanzlerin er-klärte, dass sie nach der Abstimmung im Europaparla-ment für eine einheitliche Position sorgen wird. Das istjedoch bis heute nicht passiert. Nach diesem Rück-schlag im Europaparlament muss die Bundesregierungihre destruktive Rolle aufgeben und retten, was zu ret-ten ist. Wenn es in den nächsten Wochen keine Wen-dung hin zu einer konstruktiven Entscheidung gebenwird, werden wir bis zum Jahr 2020 keinen nennens-werten Preis für CO2 haben. Eine weitere Folge davonist, dass ein Teil der Energiewende nicht mehr zu finan-zieren ist, weil die dem Haushalt zugrunde gelegtenZertifikatspreise regelmäßig nicht erreicht werden.Die Linken weisen in ihrem Antrag auf einen wich-tigen Sachverhalt hin: Ohne wirksame Preissignaledurch den Emissionshandelsmarkt wäre die Errei-chung der Klimaschutzziele zunehmend auf ordnungs-rechtliche Maßnahmen angewiesen. Diese Maßnah-men werden keineswegs kostenlos zu haben sein, wieich nebenbei bemerken möchte. Auch deshalb unter-stützen einige Unternehmen der Energiewirtschaft dieReform des Emissionshandels. Ohne das klare Preis-signal im CO2-Markt werden Investitionen in kohlen-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29895
Frank Schwabe
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stoffarme Technologien zurückgehalten oder erfolgengar in CO2-intensive Infrastrukturen, welche später zuhohen Folgekosten führen werden, wenn man es mitKlimapolitik und dem Erreichen des 2-Grad-Zielsernst meint. Dabei zeigt sich auch, um was es bei derDebatte um Backloading wirklich geht: um einen An-griff auf die Klimapolitik an sich. Die Gegner des Kli-maschutzes sehen ihre Chance für einen Rollback zu-rück, als ob es die Klimadebatte der letzten Jahre mitden Berichten des IPCC, den Vorträgen von Al Goreoder den Berechnungen von Sir Nicolas Stern niemalsgegeben hätte. Wie soll eine Verständigung auf ambi-tionierte Klimaziele für das Jahr 2030 möglich sein,wenn nicht einmal eine Mehrheit für solch einen klei-nen Eingriff wie das Backloading möglich ist? Mit al-len Mitteln und einer aggressiven Lobbykampagneverteidigt die Industrielobby ihr veraltetes Geschäfts-modell. Und stößt in Zeiten der Wirtschaftskrise leiderauf viele offene Ohren. Viele Menschen denken, dassjetzt Wirtschaft und Arbeitsplätze ganz oben stehensollten und wissen leider nicht, dass kluge Umweltpo-litik Arbeitsplätze schaffen kann. Staaten wie Grie-chenland oder Zypern sind nicht in der Krise, weil siezu viel für den Klimaschutz gemacht hätten. Ich kannnicht oft genug betonen: Ökologische Industriepolitikist nicht ein Gegensatz und auch keine Ergänzungklassischer Industriepolitik. Sie ist die Industriepolitikdes 21. Jahrhunderts! Sie sichert angesichts knapperRessourcen und wachsender Nachfrage die Zukunftder industriellen Produktion. Deshalb fordere ich dieBundesregierung noch einmal auf, in den nächstenWochen alles zu tun, damit die Reform des Emissions-handels doch noch gelingt. Eine generelle Aufkündi-gung des Emissionshandels, wie sie die Linke in ihremAntrag fordert, kann ich dagegen heute nicht unter-stützen.
Der Preis für CO2-Zertifikate hat einen historischen
Tiefstand erreicht und liegt nun bei circa 3 Euro pro
Tonne. Diese Entwicklung hat zugegebenermaßen un-
erfreuliche Seiten: Der niedrige Zertifikatepreis führt
zu einem niedrigeren Anreiz, in neue CO2-arme und
nachhaltige Technologien zu investieren. Diesen An-
reiz aber benötigen wir, wenn die EU nach 2020 das
Emissions-Cap absenkt, um auf dem Klimaschutz-Pfad
bis 2050 voranzukommen. Daneben brechen die Ein-
nahmen des Energie- und Klimafonds ein, der eine we-
sentliche Rolle bei der Finanzierung der Energie-
wende spielt. Zumindest für das aktuelle Jahr konnte
dank der Verwendung zusätzlicher Gewinne der Kre-
ditanstalt für Wiederaufbau ein Teil der Einnahmeaus-
fälle des Energie- und Klimafonds kompensiert wer-
den. Somit können Programme für internationalen
Klimaschutz, für die Gebäudesanierung und die Elek-
tromobilität wie geplant umgesetzt werden. Auch das
neu eingeführte Speicherförderprogramm für die Pho-
tovoltaik wird voll finanziert. Das Marktanreizpro-
gramm für die erneuerbare Wärme kann immerhin
etwa zu zwei Dritteln realisiert werden. Für die Finan-
zierungslücke hat die Bundesregierung in diesem Jahr
somit eine gangbare Lösung gefunden.
Ich möchte aber auch festhalten, dass der originäre
Zweck des Emissionshandels nicht die Finanzierung
von staatlichen Klimaschutzprojekten ist, sondern die
Einhaltung des Cap, das heißt der EU-weit gedeckel-
ten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflich-
tige Anlagen ausstoßen. – Dieses Ziel wird bislang er-
reicht, von einem Scheitern des Emissionshandels, wie
es der Titel des Linken-Antrags nahelegt, kann also
keine Rede sein. Der Klimaschutz funktioniert.
Zur Stabilisierung des CO2-Preises hat die EU-
Kommission vorgeschlagen, das sogenannte Backloa-
ding anzuwenden, das heißt Zertifikate in der begin-
nenden Handelsperiode zurückzuhalten. Dieser Vor-
schlag ist im Europäischen Parlament gescheitert. Die
Forderung der Linken, diese Zertifikate endgültig still-
zulegen, würde erst recht zu weit führen. Denn die EU-
Kommission würde so ein Instrument aus der Hand ge-
ben, um bei einer Überhitzung des CO2-Zertifikate-
marktes zu reagieren, etwa wenn die europäische Wirt-
schaft wieder an Fahrt gewinnt.
Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der
Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neu-
baus von Kohlekraftwerken. Dies ist Wunschdenken,
das mit der Realität nichts zu tun hat. Wir werden für
eine Übergangszeit auf Kohle nicht verzichten können,
schon alleine aus Gründen der Netzstabilität. Wer den
Bau neuer effizienterer Kohlekraftwerke verhindert,
trägt Schuld am Weiterbetrieb alter ineffizienter
Dreckschleudern und erweist dem Klimaschutz einen
Bärendienst.
Vorhin haben wir über das Scheitern des Backloa-ding debattiert. In meiner Rede vorhin habe ich detail-liert erklärt, warum die Linke den SPD-Antrag unter-stützt, nach dem die Bundesregierung einen erneuertenAnlauf zum zeitweisen Stilllegen überschüssiger Emis-sionsrechte in Brüssel befördern soll. Die Forderungnach Backloading und weiter gehenden Reformen desEmissionshandels sind ja auch Teil unseres eigenenAntrags, den wir jetzt abschließend behandeln.Allerdings wird immer deutlicher, dass wohl wederdas Backloading eine Chance hat, geschweige dennweiter gehende Reformen. Doch letztere sind zwingendnotwendig, wenn der Emissionshandel endlich zumKlimaschutzinstrument werden soll. Darum werden siewohl auch nicht kommen – die Lobby der Energiever-sorger und der Industrie ist europaweit schlicht zustark. Unter dem Strich können wir den Emissionshan-del getrost für tot erklären.Diese Entwicklung hat die Linke abgesehen; dennder Emissionshandel war von Anfang an seiner Klima-schutzwirkung weitgehend beraubt. Er wurde zurGewinnmaximierungsmaschine für Stromkonzerne de-gradiert. Durch kostenlose Zuteilungen an Energie-wirtschaft und Industrie, durch windige Zertifikate ausZu Protokoll gegebene Reden
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29896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Eva Bulling-Schröter
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Auslandsprojekten und durch zu niedrige Caps. Wegendieser Architektur haben wir nun EU-weit mit 2 Mil-liarden überschüssigen Zertifikaten zu kämpfen, diedas Cap aufblähen und die CO2-Preise ins Lächerlicheverfallen lassen, und daran soll sich offensichtlichnichts ändern.Dies ist der Grund, warum wir im selben Antrag alsAlternative ein nationales Kohleausstiegsgesetz for-dern. Leider hat im Ausschuss keine andere Fraktionden vorliegenden Antrag unterstützt. Das liegt offen-sichtlich auch daran, dass sie alle gemeinsam amEmissionshandel hängen, dessen Konstruktion sie ja inden verschiedenen Regierungen zu verantworten hat-ten.Gut, Union, FDP und der NRW- und Brandenburg-Flügel der Sozialdemokraten werden ohnehin einenTeufel tun, die Kohleverstromung planmäßig und zügigbeenden zu lassen. Die anderen Sozialdemokraten unddie Grünen aber möchte ich auffordern: Lösen Sie sichdavon, die fossile Kraftwerkswirtschaft durch den EU-Emissionshandel in die Knie zwingen zu können! Aus-gehöhlt, wie er ist, wird er nie die Zugkraft entwickeln,die etwa das EEG hat. Das ist enorm erfolgreich undhat den Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeu-gung auf ein Viertel nach oben getrieben.Leider sind parallel die Stromexporte gewachsen.Denn Sonne, Wind und Biomasse ersetzen nicht dieKohleverstromung. Die macht munter weiter wie bis-lang; denn der lächerliche Emissionshandel kann sienicht bremsen. Entsprechend stiegen zuletzt auch na-tional die CO2-Emissionen des Kraftwerkssektors wie-der an.Das ist der Grund, warum Greenpeace vor zweiJahren erstmals für ein Gesetz plädierte, nach demKohlekraftwerke Restlaufzeiten erhalten sollen. DieseIdee hat die Linke aufgegriffen: Ab dem Jahr 2014 solldie jährliche Menge an in Kohlekraftwerken erzeug-tem Strom begrenzt und in den Folgejahren stetig undweitgehend linear reduziert werden. Nach unseremAntrag soll dann spätestens 2040 der letzte Meiler vomNetz. Der Neubau von Kohlekraftwerken und Neuauf-schluss von Tagebauen würde sofort untersagt.Hätten wir solch ein Gesetz, so würde DeutschlandEuropa nicht mehr lange mit billigem Kohlestromüberfluten können, wie es gegenwärtig geschieht. EinKohleausstiegsgesetz hätte aber noch eine zweite posi-tive Wirkung: Momentan ist der Netzentwicklungsplandarauf ausgelegt, dass alle Kohlekraftwerke beinahVolllast fahren. Klar, sie haben ja auch das Recht dazu.Nun kommen die geplanten Ökostrommengen dazu. Inder Summe haben wir dann künftig eine Netzausle-gung, die sich an einem Extremszenario orientiert,welches der Energiewende genau genommen wider-spricht. Denn Kohlestrom soll ja eigentlich durchStrom aus Wind und Sonne abgelöst werden.Mit einem Kohleausstiegsgesetz hätten wir alsonicht nur für die Kohleverstromung eine Begrenzung,sondern es wäre auch weniger Netzausbau nötig. Da-rum halten wir das Konzept nicht nur ökologisch, son-dern auch ökonomisch und sozial für eine vernünftigeSache. Ich hoffe, diese Sichtweise werden die anderenParteien schrittweise verstehen und übernehmen.
Wir reden hier heute über einen Antrag der Frak-tion Die Linke, der Konsequenzen aus dem Scheiterndes europäischen Emissionshandels einfordert. Und esist wahr: Der Emissionshandel steht am Rande desAbgrunds. Unzureichende Klimaziele, die europäischeWirtschaftskrise und eine Schwemme billiger Zertifi-kate aus Drittstaaten haben dazu geführt, dass derPreis für Verschmutzungsrechte auf nur noch rund3 Euro je Tonne CO2 eingebrochen ist – viel zu wenig,um Anreize für Investitionen in saubere Technologienzu setzen.Und die Bundesregierung ist nicht bereit, dem amBoden liegenden Emissionshandel wieder auf dieBeine zu helfen. Im Gegenteil! Konservative und Libe-rale haben im Europäischen Parlament die dringenderforderliche Reparatur des europäischen Emissions-handels schon im Ansatz gestoppt. Sie haben das Back-loading, die kurzfristige Verknappung von Emissions-berechtigungen, abgelehnt. Damit bleibt das zentraleInstrument der EU-Klimapolitik auf absehbare Zeitwirkungslos.Die Folgen dieses Politikversagens sind drama-tisch: Klimaschädliche Braunkohle boomt, währendhocheffiziente Gaskraftwerke stillstehen. Die deut-schen CO2-Emissionen steigen wieder an. Auch dieEEG-Umlage steigt, weil Wind- und Sonnenstrommehr Unterstützung brauchen, um mit der verbilligtenKohle konkurrieren zu können. Und im Energie- undKlimafonds der Bundesregierung klafft ein Milliarden-loch.Für diese Entwicklungen trägt BundeskanzlerinMerkel maßgebliche Verantwortung. Bundeswirt-schaftsminister Rösler hat die Emissionshandels-Reform offen bekämpft. Die Kanzlerin hat ihn gewäh-ren lassen. Sie hat stillschweigend hingenommen, dassdie Abgeordneten ihrer Partei dem europäischenKlimaschutz eine Absage erteilten. Keinen Finger hatdie ehemalige „Klima-Kanzlerin“ gerührt. MinisterAltmaier hat hilflose Appelle nach Brüssel geschickt,vor einem Rückschlag für den Klimaschutz gewarnt.Doch seine Parteifreunde haben nicht auf ihn gehört,und auch nicht seine Kanzlerin. Jetzt stehen wir vor ei-nem Scherbenhaufen.Damit wird die Bundestagswahl im Herbst auch zueiner Richtungsentscheidung über den Klimaschutz.Wir Grüne treten ein für die überfällige Anhebung desEU-Klimaziels auf mindestens 30 Prozent Emissions-minderung bis 2020. Wir wollen eine deutlicheVerknappung der Verschmutzungsrechte, um das Über-angebot an Zertifikaten dauerhaft aus dem Markt zunehmen. Und wir wollen eine grundlegende Reformdes Emissionshandels, um den CO2-Preis zu stabilisie-ren.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29897
Bärbel Höhn
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Die Schwächung des europäischen Klimaschutzesmacht verstärkte Anstrengungen auf nationaler Ebenenotwendig. Deshalb werden wir dem Bundestag denEntwurf eines nationalen Klimaschutzgesetzes vorle-gen: Ein Gesetz, das ehrgeizige Klimaschutzziele ver-bindlich festschreibt, eine unabhängige Kontrolle derKlimaschutzmaßnahmen etabliert und bei Abweichun-gen vom Zielpfad ein Gegensteuern der Politik er-zwingt. Ein Gesetz, das klarmacht, dass klimaschädli-cher Kohlestrom in Deutschland keine Zukunft hat,dass wir ihn Schritt für Schritt überflüssig machendurch erneuerbare Energien und Energieeffizienz.Deutschland muss wieder Vorreiter und Antreiberwerden beim Klimaschutz. Wir Grünen stehen dafürbereit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Beschlussempfehlung des zuständigen Aus-
schusses offenbart eine bemerkenswerte Einigkeit bei
der Analyse der Situation. Doch der Mut, daraus Kon-
sequenzen zu ziehen, fehlt den meisten.
Der Antrag der Fraktion Die Linke versucht es noch
im Guten: Zum größten Teil beschäftigt er sich mit den
Möglichkeiten, wie der Emissionshandel doch noch zu
retten sein könnte: Erhöhung des europäischen Klima-
schutzzieles auf minus 30 Prozent, Stilllegung über-
schüssiger Zertifikate und eine entschlossenere jährli-
che Reduktion. Dem Markt soll also eine Chance
gegeben werden, zu zeigen, dass er auch Klimaschutz
kann. Erst wenn das scheitern sollte, wird in letzter
Konsequenz ein ordnungsrechtliches Instrument in Ge-
stalt eines Kohleausstiegsgesetzes gefordert.
Das ist ein großzügiges Kompromissangebot an die
Regierungsfraktionen. Schlagen Sie das nicht aus.
Die Bundesregierung hat es nicht einmal geschafft,
die viel zu vorsichtigen Vorschläge der EU-Kommis-
sion zur Rettung des Emissionshandels zu unterstüt-
zen. Eine solche Bundesregierung muss vom Parla-
ment zum Handeln gezwungen werden.
Als in der Lausitz direkt gewählter Abgeordneter
habe ich ganz konkrete Folgen mangelnden Klima-
schutzes vor Augen; denn die Braunkohlekraftwerke
gehören – in der Lausitz genauso wie im Rheinland –
zu den klimaschädlichsten Anlagen Deutschlands.
Die Landesregierungen in Brandenburg und Sach-
sen lassen sich bereits Gefälligkeitsgutachten schrei-
ben, denen zufolge Braunkohlestrom aus Deutschland
künftig Polen und Frankreich mit Energie versorgen
soll. Die engen Beziehungen der Staatskanzleien in
Potsdam und Dresden zum Vattenfall-Konzern sind le-
gendär. Offensichtlich hat der geringe CO2-Preis zu
diesen Planspielen auf Kosten des Klimaschutzes in-
spiriert. Offensichtlich sehnt mancher in diesen Krei-
sen ein Scheitern des Klimaschutzes in Europa herbei.
Doch für diese Lobbypolitik sollen in meinem Wahl-
kreis Dörfer zerstört und Menschen gegen ihren Willen
umgesiedelt werden. Bei Weigerung, seine Heimat zu
verlassen, kommt die Drohkulisse der bergrechtlichen
Grundabtretung ins Spiel. Deren Verfassungskonfor-
mität ist umstritten und wird demnächst durch das
Bundesverfassungsgericht überprüft.
Aktuell werden die Langzeitprobleme offensichtlich,
die Braunkohleabbau für den Wasserhaushalt verur-
sacht. Die Versauerung des Grundwassers und die
Einträge riesiger Mengen an Eisen und Sulfat in die
Flüsse halten mehr als 100 Jahre nach Beendigung des
Bergbaus an. Jeder neue Tagebau würde diese Pro-
bleme um mehrere Jahrzehnte verlängern. Im Übrigen
erreicht ein Teil dieser Probleme über die Spree auch
Berlin.
Braunkohleverstromung wird den Erfordernissen
der Energiewende mittel- und langfristig nicht gerecht.
Das ist nicht neu, sondern bereits von Enquetekommis-
sionen früherer Legislaturperioden in Energieszena-
rien eindeutig dargestellt worden. Aktuell weist beson-
ders das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
wiederholt darauf hin.
Machen Sie sich also nicht zum Handlanger derje-
nigen, die die Zeit der Braunkohle mit immer neuen
Tricks verlängern wollen. Tragen Sie nicht dazu bei,
besser geeignete Brückentechnologien wie Gaskraft-
werke durch zu geringe CO2-Preise kaputtzumachen.
Man kann nicht lauthals die Energiewende verkün-
den und dann den Klimaschutz absichtlich vor die
Wand fahren. Die deutsche Energiewende steht vor ei-
nem Glaubwürdigkeitstest. Lassen sie ihn uns gemein-
sam bestehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/12489, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/12064 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen dieStimme der Linken bei Enthaltung der Grünen angenom-men.Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGesundheitsversorgung von Menschen mitBehinderung menschenrechtskonform gestal-ten– Drucksache 17/12712 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
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29898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
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Ob wir hier im Deutschen Bundestag eine Debatteüber die Arbeitswelt oder den Sport oder das Wahl-recht oder die wirtschaftliche Entwicklung führen, im-mer sind auch die Belange von Menschen mit Behinde-rung berührt. So ist es auch im Gesundheitswesen.Dieses deckt sogar einen wesentlichen Anteil der Be-lange von Menschen mit Behinderung ab, denn es gilt,das gesundheitliche Wohlbefinden zu erhalten bzw. zustärken oder die Beeinträchtigungen zu lindern oderSchmerzen zu vermeiden oder den gegenwärtigen Ge-sundheitszustand zu stabilisieren, chronische Erkran-kungen oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden bzw. dieBetreuung so zu organisieren, dass ein menschenwür-diges Leben und eine gesellschaftliche Teilhabe mög-lich sind. Das ist nicht nur aus ganz persönlichen Ge-sichtspunkten für erkrankte oder durch einen Unfalldauerhaft verletzte oder von Geburt an mit einer Be-hinderung lebende Menschen wichtig, sondern letzt-lich aufgrund der demografischen Entwicklung einegesellschaftspolitische Aufgabe von uns allen. Das ha-ben wir als Unionsfraktion in vielen immer wieder vor-gelegten Anträgen deutlich gemacht. Und wir haben indieser Legislaturperiode in den jeweiligen Gesetz-gebungsprozessen immer wieder auch Anliegen im In-teresse der Menschen mit Behinderung geregelt. DasThema der Gesundheitsversorgung ist eine perma-nente Aufgabe und immer aktuell. Insofern ist der An-trag von Bündnis 90/Die Grünen durchaus sinnvoll.Auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-rung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-vention ist dem Thema Gesundheitsversorgung einbesonderer Abschnitt gewidmet. Wir wollen einewohnortnahe, barrierefreie und flächendeckende Ver-sorgung mit Präventions-, Gesundheits-, Rehabilita-tions- und Pflegedienstleistungen für Menschen mitund ohne Behinderung. Das bedeutet, dass auch alleÄrztinnen und Ärzte, das gesamte medizinische Perso-nal, ja alle Leistungsanbieter für die Belange vonMenschen mit Behinderung sensibilisiert und fachlichqualifiziert sind. Das bedeutet auch, dass in den kom-menden Jahren weiter daran gearbeitet werden muss,eine ausreichende Zahl an Arztpraxen barrierefrei zu-gänglich zu machen.Es muss nach unserer Ansicht unmissverständlichBedingung sein, bei Neubauten konsequent auf Barriere-freiheit zu achten. Auch Modernisierungsarbeiten inPraxen von gesundheitlichen Leistungsanbietern soll-ten genutzt werden, noch mehr Barrierefreiheit zuschaffen. Dabei ist auf Praxisbesonderheiten entspre-chend den Behandlungsnotwendigkeiten zu achten. Indiesem Kontext ist die ehrenamtliche Arbeit der Stif-tung Gesundheit zu loben. Über ihre transparente Auf-stellung im Internet ist die Orientierung bei der Arzt-suche mit den Suchfunktionen der „barrierefreienPraxis“ leicht möglich. Dieses Angebot schafft zurBarrierefreiheit in Arztpraxen Transparenz und istschon deshalb wertvoll. Es ist eine echte Hilfestellungfür Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen.lch weiß, dass dieses Angebot genutzt wird, weil esauch eine ständige Vervollkommnung erfährt.Aber es geht nicht nur um bauliche Bedingungen.Wir sind uns einig, dass die Fragen der verständlichenKommunikation, zum Beispiel durch Leichte Spracheoder Assistenz bei Taubblindheit, ein unbedingtes Mussfür eine gute individuelle Versorgung sind. Mehr undmehr Arzneimittelhersteller achten auf den barriere-freien Beipackzettel. Und ich selbst habe in Apothekenauch schon Informationsmaterial in Leichter Sprachegesehen. Es ist wirklich etwas in Bewegung gekom-men, seitdem wir über die Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention diskutieren.Ich finde es zumindest untertrieben, wenn die An-tragsteller im Antrag lapidar formulieren, dass im Ers-ten, Fünften, und Neunten Sozialgesetzbuch einigeVorgaben zur Erbringung von Leistungen der Gesund-heitsversorgung für Menschen mit Behinderung ent-halten sind. Vielmehr ist es so, dass wir eine umfas-sende und solidarische Regelung haben. Natürlichstellen wir in der Umsetzung immer wieder auch Defi-zite fest und wir thematisieren diese. Die Zuständigkei-ten dafür sind differenziert. Sie liegen zum Teil bei denLändern, zum großen Teil auch bei der Selbstverwal-tung.Wir Menschen sind von lernenden Systemen umge-ben. Das gilt auch für das System des Gesundheitswe-sens. Deshalb kommt es ja immer wieder zur neuenGesetzgebung. Und wie Sie wissen, ist das gerade imGesundheitsbereich besonders intensiv, weil es sichum ein sehr komplexes und ausdifferenziertes Systemhandelt. Wir Menschen sind ja auch sehr verschieden.Lassen Sie mich auf einige Aspekte von Verbesse-rungen in der medizinischen Versorgung von Men-schen mit Behinderung eingehen.So haben wir im GKV-Versorgungsstrukturgesetz,das zum Jahresanfang 2012 in Kraft getreten ist, im§ 87 im SGB V einen neuen Abs. 2 eingefügt. Danachist im einheitlichen Bewertungsmaßstab für zahnärzt-liche Leistungen zusätzlich zum Wegegeld eine geson-dert abrechenbare Position vorzusehen. Diese soll fürdas Aufsuchen von Pflegebedürftigen und Menschenmit einer Behinderung gelten, die aufgrund ihrer Be-einträchtigung nicht in der Lage sind, eine Zahnarzt-praxis selbst aufzusuchen. Und im Pflege-Neuausrich-tungs-Gesetz ist zehn Monate später die Erweiterungdes einheitlichen Bewertungsmaßstabs nochmals aus-gedehnt worden, und zwar auf Personen mit dauerhafterheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Es wirdeine zusätzliche Leistungsposition zur Abrechnung vonHausbesuchenstätigkeiten durch Vertragsärzte einge-führt, wenn diese im Rahmen eines Kooperationsver-trags nach § 119 b Abs. 1 SGB V erbracht wird. Am17. Dezember 2012 hat der Bewertungsausschuss nun-mehr für zahnärztliche Leistungen beschlossen, mitWirkung zum 1. April 2013 den BEMA den gesetzli-chen Vorgaben entsprechend zu erweitern. Damit ste-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29899
Maria Michalk
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hen seit April dieses Jahres die verbesserten Leistun-gen zur Verfügung.Als weiteres Beispiel für die sich verbessernde me-dizinische Versorgung nenne ich das AMNOG. Danachgilt bei Arzneimitteln für die Behandlung seltener Er-krankungen, sogenannter Orphan Drugs, der sonstnachzuweisende medizinische Zusatznutzen bereitsdurch die arzneimittelrechtliche Zulassung als belegt.Von dieser Regelung profitieren viele Menschen mit ei-ner Behinderung und einer spezifischen Erkrankung.Erinnern will ich auch an die novellierte Heilmittel-richtlinie. Seit 2011 gilt, dass Menschen mit dauer-haften schweren Behinderungen ohne erneute Über-prüfung des Behandlungsbedarfs eine langfristigeGenehmigung von mindestens einem Jahr Heilmittel-behandlungen von ihrer gesetzlichen Krankenkassebekommen können. Kinder und Jugendliche mit einerbesonders schweren und langfristigen funktionellenund strukturellen Schädigung und Beeinträchtigungder Aktivitäten können auch ohne Verordnung einesHausbesuchs eine Heilmittelbehandlung in förderndenTageseinrichtungen außerhalb der Praxis erhalten.Das sichert eine kontinuierliche und qualitätsgerechteBehandlung, weil sie zu Tageszeiten stattfindet, wo dieKinder noch besonders aufnahmefähig sind. Das istviel besser als abendliche Behandlungen, wenn Mutteroder Vater, von der Arbeit kommend, Zeit haben. Da-mit haben wir auch auf die sich verändernden Bedin-gungen der Arbeits- und Familienwelt reagiert.Ferner haben wir zum Januar 2012 mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz im § 32 im Abs. 1 a ver-schiedene Regelungen getroffen, um die Heilmittelver-sorgung von Patientinnen und Patienten mit langfris-tigem Behandlungsbedarf, insbesondere für Menschenmit schweren und dauerhaften Behinderungen, zu er-leichtern. Sie können sich die erforderlichen Heilmittelvon ihrer Krankenkasse für einen geeigneten Zeitraumgenehmigen lassen. Natürlich wird ein Antrag gestellt.Dieser muss von der Krankenkasse innerhalb von vierWochen entschieden sein. Nach Ablauf dieser Frist giltdie Genehmigung als erteilt. Diese speziellen Verord-nungen unterliegen zudem nicht mehr den Wirtschaft-lichkeitsprüfungen, die den behandelnden Ärztinnenund Ärzten oftmals die Entscheidung erschwerten. ZurUmsetzung haben sich der GKV-Spitzenverband unddie Kassenärztliche Bundesvereinigung auf bundes-weit geltende Praxisbesonderheiten für die Verord-nung von Heilmitteln geeinigt, die seit dem 1. Januar2013 in Kraft sind.Meiner Aufzählung der Verbesserungen füge ichnoch zwei weitere Beispiele hinzu:Mit Inkrafttreten des Assistenzpflegegesetzes giltseit Januar dieses Jahres der erweiterte Assistenz-pflegeanspruch für Assistenz nach dem Arbeitgeber-modell für die Situationen, wo es nicht nur um die Un-terstützung im Krankenhaus geht, sondern auch wennstationärer Aufenthalt für Vorsorge und Rehabilitationnotwendig wird.Im Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist noch eineweitere Verbesserung seit dem 30. Oktober 2012 inKraft. Pflegebedürftige, die in vollstationären Einrich-tungen leben, erhalten anteilig auch für die Tage dasvolle Pflegegeld ausgezahlt, an denen sie zu Hause ge-pflegt werden. Dadurch werden die häusliche Pflegesowie der familiäre Kontakt gestärkt. Und diese Rege-lung gilt auch für die Pflege von Kindern und Jugend-lichen mit Behinderung, die zu Hause gepflegt werdenund bislang nur einen Anspruch auf eine Kurzzeit-pflege bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres hatten.Wir in der Koalition haben hier nachgebessert, dasheißt, der Anspruch besteht nunmehr bis zum 25. Le-bensjahr. Wir haben damit den berechtigten Bedürfnis-sen Rechnung getragen.Wie Sie wissen, ist derzeit das Präventionsgesetz inder parlamentarischen Beratung. Auch für die medizi-nische Versorgung von Menschen mit einer Behinde-rung gilt: Vorbeugen ist in jedem Fall besser. Wir ar-beiten daran, dass in der Gesundheitsuntersuchungs-Richtlinie des G-BA die ärztliche Gesundheitsuntersu-chung neben der Früherkennung auch primärpräven-tive Maßnahmen enthält.Die bisher in § 25 Abs. 1 vorgegebene Häufigkeitdes Anspruchs der Gesundheitsuntersuchung von zweiJahren und die untere Altersgrenze von 35 Jahren so-wie die nicht abschließende Aufzählung von Zielkrank-heiten für die Früherkennung entfallen. Der G-BA sollInhalt, Art, Umfang und Häufigkeit der Untersuchun-gen sowie die für die Früherkennung in Betracht kom-menden bevölkerungsmedizinisch relevanten Ziel-krankheiten an den jeweils aktuellen Stand desmedizinischen Wissens anpassen und zugleich alters-und zielgruppengerecht ausgestalten. Hierbei ist auchden besonderen Bedürfnissen von Menschen mitBehinderung Rechnung zu tragen. Diese Gesetzes-begründung zeigt deutlich auf, dass bei aktuellen Ge-setzgebungsverfahren die Belange von Menschen mitBehinderung beachtet und Schritt für Schritt optimiertwerden.Ja, Gesundheit hat einen zentralen Stellenwert inunserer Gesellschaft eingenommen und zählt zu densogenannten Megatrends. Deshalb ist es für uns selbst-verständlich, dass Menschen mit Behinderung auchhier eine echte Teilhabe erfahren und von allen neuenErkenntnissen auf medizinischem Gebiet profitieren.Die Beispiele haben gezeigt, dass viele im Antrag be-nannte Forderungen von der christlich-liberalen Koali-tion bereits umgesetzt wurden bzw. in die aktuelle Ge-setzgebung einbezogen werden.Dass es in individuellen Situationen immer wiederauch Unzufriedenheit oder Klagen der Betroffenengibt, liegt oftmals an unterschiedlicher Auslegungs-praxis der gesetzlichen Bestimmungen vor Ort undnoch öfter an nicht geklärten Schnittstellenfragen. Wirsind uns einig: Verschiebebahnhöfe in der medizini-schen Versorgung, meist aus Kostengründen, zulastenvon Menschen mit Behinderung sind nicht akzeptabel.Und wir sind uns auch einig, dass noch stärker als bis-Zu Protokoll gegebene Reden
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29900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Maria Michalk
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her in der medizinischen Aus- und Weiterbildung fürdie besonderen Erfordernisse von Menschen mit Be-hinderung sensibilisiert werden muss und umfassendeKompetenzen angeeignet werden müssen. Und wirsind uns in einem dritten Punkt einig: Gute, voraus-schauende Gesetze und Verordnungen sind wichtig!Aber ebenso wichtig ist die Kontrolle der Umsetzung.Dies setzt eine zeitnahe und umfassende Informationaller Leistungsanbieter voraus.Da uns alle aber immer wieder auch Beschwerdenüber nicht zufriedenstellende Versorgung erreichen,nutze ich die Gelegenheit, für die Union zu erklären:Wir setzen uns auch weiterhin für eine bedarfsgerechtemedizinische Versorgung von Menschen mit Behinde-rung ein und gehen davon aus, dass alle Leistungs-träger die medizinische Versorgung verantwortungs-bewusst erfüllen. Wir halten am Solidarprinzip fest,das eine kostenmäßige Überforderung durch Zuzah-lungen ausschließt. Die Überforderungsklausel im Ge-setz funktioniert in der Praxis. Auch sind zwischenzeit-lich praktische Umsetzungsstrategien erprobt, die denbürokratischen Aufwand minimieren.Wir nehmen diese Themenstellung nach wie vorernst, da wir wissen, dass in einer älter werdenden Ge-sellschaft die medizinische Versorgung von Menschenmit Mehrfachbehinderungen zunehmen und über einenviel längeren Zeitraum praktisch stattfinden wird. Dassind neue Herausforderungen, an deren Lösungen wirheute bereits arbeiten.
Der heute hier im Plenum behandelte Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen thematisiert den sehrwichtigen Bereich einer inklusiven Gesundheits- undPflegepolitik. Wir sind uns alle einig, dass den Bedürf-nissen und Bedarfen von Menschen mit Behinderungensehr viel stärker Rechnung zu tragen ist. Von einem in-klusiven Gesundheits- und Pflegewesen sind wir nochweit entfernt. Menschen mit Behinderung brauchenviel mehr medizinische Unterstützung.Damit diese umfassende Unterstützung im Gesund-heitswesen auch geschieht, ist Handeln der Politikangesagt. Nicht nur Menschen mit Behinderung brau-chen mehr als Lippenbekenntnisse und Absichtserklä-rungen in Sonntagsreden.Durch die Vielzahl der im Antrag erwähnten Bau-stellen wird klar, wie wenig die aktuelle Bundesregie-rung – für den Bereich Gesundheit BundesministerDaniel Bahr – zur Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention tatsächlich getan hat. DerenUnterzeichnung jährte sich am 26. März 2013 bereitszum vierten Mal. Dabei ist mit der Ratifizierung am26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonventionin der Bundesrepublik Deutschland geltendes Rechtgeworden. Sie verpflichtet insbesondere alle staatli-chen Stellen zu mehr Chancengleichheit beim Zugangund zu mehr Teilhabe und Partizipation in allen Berei-chen.Schon unter Rot-Grün wurde bereits der Paradig-menwechsel von der Fürsorge zur selbstbestimmtenTeilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Ge-sellschaft eingeleitet – mit der Einführung des SGB IX,dem Behindertengleichstellungsgesetz und dem Gleich-behandlungsgesetz. Wir haben noch einen langen Wegzur inklusiven Gesellschaft vor uns, in der alle Rechts-ansprüche aus der UN-Behindertenrechtskonventionumgesetzt sind. Die SPD fordert die Bundesregierungauf, die riesigen Chancen aus der UN-Behinderten-rechtskonvention für eine inklusive Gesellschaft wahr-zunehmen und ihre Politik der kleinen Umsetzungs-schritte aufzugeben. Um die Menschenrechte derbehinderten Menschen auf freie Zugänge, auf Selbst-bestimmung, auf volle Teilhabe in einer inklusiven Ge-sellschaft umzusetzen und Rechtsansprüche in allengesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen, hat dieSPD in dieser Legislaturperiode bereits mehrere Ini-tiativen gestartet.Unser großer SPD-Antrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention „UN-Konvention jetztumsetzen – Chancen für eine inklusive Gesellschaftnutzen“ wurde am 9. November 2012 in zweiter unddritter Lesung hier im Deutschen Bundestag debat-tiert. Wir haben hier benannt, wo für uns Handlungs-bedarf besteht, um allen Menschen mit Behinderungvor Beginn an Teilhabe und Selbstbestimmung zu er-möglichen. Das sind im Bereich von Gesundheit undPflege unter anderem: Der Aufbau von medizinischenZentren für Erwachsene mit Behinderung, in Anleh-nung an die bestehenden Sozialpädiatrischen Zentrenfür Kinder; die Auflage eines Programms für den bar-rierefreien Umbau von Einrichtungen der Gesund-heitswirtschaft, zum Beispiel Arztpraxen, Krankenhäu-ser, Physio- und Ergotherapiepraxen undRehabilitationseinrichtungen. Aus- und Weiterbildun-gen für Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte im The-
Nötig sind die Erweiterung der Ausbildungs- undFacharztweiterbildungsordnungen. Die Sensibilisie-rung zur Gewaltproblematik gegenüber Frauen mitBehinderungen sollte in die Grundausbildung von me-dizinischen und therapeutischen Berufsgruppen aufge-nommen werden. Beratungs-, Hilfs- und Betreuungs-strukturen sind behinderungs-, geschlechts- undkultursensibel zu verbessern. Und Menschen mit geis-tiger, insbesondere aber mit mehrfacher Behinderungsind umfassend in den Ausbau von Gesundheitsförde-rung und Prävention einzubeziehen.Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten gilt: Wir wollen diskriminierungsfreie Zugängezum Gesundheitswesen, wollen gleiche Patientinnen-und Patientenrechte für alle, sodass Teilhabe undSelbstbestimmung für alle auch im Gesundheitswesengilt.Leider ist zu konstatieren: Zwar wollte das Bundes-gesundheitsministerium für 2012, gemeinsam mit denLändern und der gesamten Ärzteschaft, ein Gesamt-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29901
Mechthild Rawert
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konzept vorlegen, um Anreize für einen barrierefreienZugang oder die barrierefreie Ausstattung von Praxenund Kliniken zu gewährleisten. Zwar steht es so – wievieles andere auch – im ersten Nationalen Aktionsplander Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention vom 15. Juni 2011. Geschehenist aber wenig bis nichts. CDU/CSU und FDP habenbei der Umsetzung der Rechte aus der UN-Behinder-tenrechtskonvention, haben bei der Herstellung einesinklusiven Gesundheits- und Pflegewesens versagt.So rückt beispielsweise das Ziel, in den nächstenzehn Jahren eine ausreichende Zahl an Arztpraxenbarrierefrei zugänglich zu machen, in weite Ferne.Das ist schlimm, denn der Handlungsbedarf liegt aufder Hand – allein in Berlin sind rund 80 Prozent derArztpraxen nicht barrierefrei. Für Menschen mit Be-hinderung ist dadurch das Recht auf freie Arzt- bzw.Ärztinnenwahl erheblich eingeschränkt. Als Gesund-heitspolitikerin setze ich mich für das Recht auf einebedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung für jedeund jeden ein. Nur ein auf dem Gedanken der Solidari-tät und Beitragsparität organisiertes Gesundheitswe-sen ist im Interesse von chronisch kranken, älteren, be-hinderten und pflegebedürftigen Menschen.Es existieren Barrieren in vielfacher Hinsicht. Diesesind multidimensional und existieren in struktureller,mentaler und kommunikativer Art. Zu den strukturel-len Barrieren des deutschen Gesundheitssystems gehö-ren neben nicht barrierefreien Arztpraxen und nichtbehindertengerechten Praxisausstattungen die unge-nügende Assistenz in der stationären Versorgung odernicht ausreichende Ausbildungscurricula in den Ge-sundheits- und Pflegeberufen. Von höchster Bedeutungist auch die mangelnde Kommunikation zwischen Arztund Patient, zwischen Ärztin und Patientin: Die einenkönnen sich häufig nicht ausreichend ausdrücken, dieanderen haben nicht gelernt, dass Krankheit und Be-hinderung zwei verschiedene, oftmals aber mit Wech-selwirkungen versehene Aspekte sind. An eine Anam-nese werden vielfache Herausforderungen gestellt, zudenen es besonderer Kompetenzen bedarf.Völlig unverständlich ist mir, warum nicht von An-fang das Motto „Nichts ohne uns über uns“ umgesetztwurde, warum die Vertretungen von Menschen mit Be-hinderung so wenig in den Prozess der Erarbeitungdes Gesamtkonzepts eingebunden sind. Dann wäre mitSicherheit mehr geschehen, und wir wären bei einerinklusiven Gesellschaft, einem inklusiven Gesund-heits- und Pflegewesen sicherlich ein Stück weiter.Für mich, für uns Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten bleibt die grundlegende Herausforderung,für ein grundsätzliches gesellschaftliches und persön-liches Umdenken im Gesundheitswesen zu sorgen. Un-ser Ziel ist es, alle medizinischen und pflegerischenAngebote aus Sicht der Patientenperspektive zu planenund vor Ort anzubieten.Wir werden den heute vorgelegten Antrag im Aus-schuss für Gesundheit weiter beraten. Ich prophezeie,dass Schwarz-Gelb bis zum Ablauf dieser Legislatur-periode aber keine wesentlichen Verbesserungen fürdie Gesundheitsversorgung der Menschen mit Behin-derung umsetzen wird. Nach der gewonnenen Bundes-tagswahl werden wir, wird Rot-Grün dieses Thema mitVerve anpacken und zu mehr Teilhabe, zu mehr Selbst-bestimmung führen.
Menschen mit Behinderung haben ebenso wie Men-schen mit psychischen Erkrankungen das Recht aufgute Gesundheit. Ein diskriminierungsfreier Zugangzu einer guten gesundheitlichen Versorgung leitet sichfür uns schon aus dem Grundgesetz ab und nicht erstdurch die UN-Behindertenrechtskonvention.Mit der Gesundheitsversorgung von Menschen mitBehinderung haben wir uns in dieser Legislaturpe-riode intensiv beschäftigt. Unser Ziel ist eine optimalegesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behin-derung. Das schließt Früherkennung und Präventions-maßnahmen ebenso ein wie Leistungen, die eine Be-hinderung abwenden oder kompensieren.Wir haben in dieser Legislatur eine deutliche Ver-besserung in der zahnärztlichen Versorgung von Men-schen mit Behinderung erzielt. Menschen mit körperli-chen und geistigen Einschränkungen sind häufiger vonZahn- und Zahnfleischerkrankungen betroffen, da so-wohl die Mundhygiene als auch die Behandlung einge-schränkt ist. Ich freue mich daher, dass wir im Versor-gungsstrukturgesetz, das die FDP-Bundestagsfraktiongemeinsam mit dem Koalitionspartner im Bundestagverabschiedet hat, die Vergütung der Zahnärzte ange-messen gestaltet haben. So wird dem erhöhten per-sonellen, instrumentellen und zeitlichen AufwandRechnung getragen. Zahnärzte können bettlägerigeoder schwerbehinderte Menschen nun in der Pflege-einrichtung aufsuchen und vor Ort behandeln.Mit dem Versorgungsstrukturgesetz haben wir zu-dem dafür gesorgt, dass auch zukünftig alle Menscheneine qualitativ hochwertige medizinische Versorgungwohnortnah erhalten.Auch für Menschen mit Assistenzpflegebedarf ha-ben wir Verbesserungen erreicht. Durch unsere Politikkönnen Menschen mit Pflegebedarf ihre privat be-schäftigte Pflegekraft nicht mehr nur ins Krankenhausmitnehmen, sondern zusätzlich auch in stationäre Vor-sorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Für die ge-samte Dauer ihres Aufenthalts erhalten die Betroffe-nen nun weiterhin das Pflegegeld und die Hilfe zurPflege von der Sozialhilfe.Auch die Barrierefreiheit spielt in der Gesundheits-versorgung von Menschen mit Behinderung eine wich-tige Rolle. Menschen, die auf Rollstühle oder Rollatorenangewiesen sind, muss der Zugang zu Arztpraxen,Apotheken oder Physiotherapieräumen erleichtertwerden. Im besten Fall haben Praxen Behinderten-parkplätze am Haus, eine Busstation in der Nähe, eineRampe, elektrische Türöffner auf Hüfthöhe, höhenver-stellbare Behandlungsliegen sowie -stühle und einenFahrstuhl mit Blindenschrift auf den Tasten. LeiderZu Protokoll gegebene Reden
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29902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Gabriele Molitor
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haben immer noch einige Arztpraxen und Kranken-häuser erhebliche Defizite in der Barrierefreiheit,während andere schon viel weiter sind. Deshalb för-dern wir das Projekt „Barrierefreie Praxis“, das in dieArzt-Auskunft der Stiftung Gesundheit integriert ist.Damit können sich Patienten über den Grad der Bar-rierefreiheit bzw. Barrierearmut von Arztpraxen inganz Deutschland informieren.In einer alternden Gesellschaft spielt auch die Ver-sorgung von Menschen mit Demenz eine große Rolle,da diese eine umfangreiche Unterstützung benötigen.Deshalb haben wir mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz die Leistungen für demenziell Erkrankte in derambulanten Versorgung erhöht. Auch die Ausweitungder Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten für Pflegebe-dürftige und ihre Angehörigen ist ein Erfolg. Die er-wachsenen Töchter pflegebedürftiger Menschen sindmit 23 Prozent die größte Gruppe pflegender Angehö-riger: Ihnen Spielräume und weitere Unterstützungs-möglichkeiten anzubieten, war uns ein wichtiges An-liegen.Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der bes-ten der Welt. Darum beneiden uns viele Länder. Dochdarauf können und wollen wir uns nicht ausruhen, son-dern wir wollen unser Gesundheitssystem noch effi-zienter und bedarfsgerechter gestalten, gerade auchfür Menschen mit Behinderung.Jedoch sind nicht alle Fragen rund um die Gesund-heitsversorgung von Menschen mit Behinderung eineAufgabe des Gesetzgebers. So kann es beispielsweisenicht sein, dass Rehabilitationsträger Leistungen ver-wehren, da sie sich nicht einig sind, wer die Kostenträgt. Meist sind die gesetzlichen Rahmenbedingungenschon längst geschaffen, sodass wir auch von den Par-teien der Selbstverwaltung erwarten, dass sie die Be-dürfnisse von Menschen mit Behinderung im Blick be-halten.
Was nützt die beste Gesundheitsversorgung, wenn
man sie nicht erreichen kann? Gar nichts. Die Linke
hat die Bundesregierung in einer Großen Anfrage
nach ihren Kenntnissen bezüglich der barrierefreien
Gestaltung von Praxisräumen und Kliniken gefragt. Es
folgte eine der häufigsten Antworten auf Fragen zum
Gesundheitswesen – nämlich dass der Bundesregie-
rung dazu keine Erkenntnisse vorlägen. Gerne wird
auf die Verantwortung der Länder verwiesen, als ob
der Bund keine Verantwortung für eine ausreichende
gesundheitliche Versorgung der Menschen mit Behin-
derung tragen würde. Das gleiche Ergebnis bei unse-
ren Fragen zur zahnärztlichen Versorgung von Men-
schen mit Behinderung. Menschen mit Behinderung
spielen in der bisherigen Bedarfsplanung, in der Prä-
vention, letztlich in der gesamten Gesundheitspolitik
keine oder nur eine marginale Rolle. Stattdessen voll-
mundige Ankündigungen im Nationalen Aktionsplan,
man würde 2012 gemeinsam mit den Ländern und der
Ärzteschaft ein Gesamtkonzept entwickeln, das dazu
beiträgt, einen barrierefreien Zugang oder die barrie-
refreie Ausstattung von Praxen und Kliniken zu ge-
währleisten. Leere Worte, wie so oft.
Die Linke hat auf die Mängel bei der Barrierefrei-
heit in den entsprechenden Anträgen und Anfragen
hingewiesen und Änderungen gefordert. Den Grünen
gebührt der Dank dafür, eine Vielzahl von Forderun-
gen für eine barrierefreie Gesundheitsversorgung in
einem Antrag zu bündeln. Einen großen Teil der For-
derungen können wir unterstützen, einiges hätten wir
lieber klarer oder auch schärfer formuliert. So reicht
es nicht aus, bei den Ländern auf eine Stärkung der
Barrierefreiheit als Qualitätskriterium in der Kran-
kenhausplanung hinzuwirken. Die Linke fordert seit
geraumer Zeit zur Beseitigung des Investitionsstaus
bei Krankenhäusern 2,5 Milliarden Euro jährlich für
zehn Jahre aus dem Bundeshaushalt. Die Beantragung
dieser Gelder kann an einen Beitrag zur barrierefreien
Ausgestaltung der Kliniken geknüpft werden. So hätte
man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Wir finden es wie die Grünen richtig, bei Neuzulas-
sungen von Praxissitzen die Verpflichtung zur Barrie-
refreiheit festzuschreiben. Hier sind die Barrieren teil-
weise sogar für Menschen ohne festgeschriebene
Behinderung kaum überwindbar. Wie kann es zum Bei-
spiel sein, dass es orthopädische Praxen im vierten
Stock ohne Aufzug gibt? Natürlich werden viele Pra-
xisinhaber darauf bestehen, dass sie auch ihre nicht
barrierefreie Praxis weiterverkaufen können. Der Auf-
kauf der Praxen durch die KV benachteiligt allerdings
diejenigen Praxisinhaber, die selbst für einen barriere-
freien Zugang gesorgt haben; denn der Aufkauf von
Praxen mindert das Honorarbudget der KVen. Hier
müssen schnellstens Regelungen gefunden werden, be-
vor weitere Ärztinnen und Ärzte ihre neuen, unzugäng-
lichen Praxen einrichten, und wir müssen eine Dead-
line benennen, bis wann alle Praxen barrierefrei sein
müssen. Sonst schleppen wir Praxen mit Barrieren bis
ins nächste Jahrtausend.
Es ist auch nicht ausreichend, eine bestimmte An-
zahl von barrierefreien Arztsitzen vorzuhalten, wie es
die Bundesregierung fordert. Es kann doch nicht sein,
dass Menschen mit Behinderung Einschränkungen bei
der freien Arztwahl haben, faktisch Patientinnen und
Patienten zweiter Klasse sind, nur weil Praxissitze
nicht barrierefrei sind. Es mag da Ausnahmen bei be-
stimmten Behinderungen geben, für die Praxen nur mit
großem Aufwand zugänglich gemacht werden können.
Entsprechend sind verbindliche Mindestkriterien für
Praxen, ob für Ärzte oder Heilmittelerbringer, zu be-
nennen. Die Bundesregierung ist gefordert, jährlich ei-
nen Bericht über die Barrierefreiheit in der gesund-
heitlichen Versorgung und die Fortschritte vorzulegen,
statt leerer Versprechungen. Das Nichtwissen, das ja
letztlich aus einem Nicht-wissen-Wollen folgt, muss
aufhören, und es müssen endlich Taten folgen.
Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen Rollstuhl,um sich dauerhaft damit fortzubewegen, und müssenplötzlich Ihrer Krankenkasse erklären, warum Sie mitdiesem Rollstuhl auch zur Bank, zum Optiker und inZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29903
Markus Kurth
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den Buchladen möchten. Denn Ihre Kasse ist der Auf-fassung, sie sei gesetzlich nur verpflichtet, einen Roll-stuhl zu finanzieren, der medizinisch notwendig ist.Stellen Sie sich vor, Sie liegen nach einem Notfall imKrankenhaus, und das gesamte Personal ist nicht inder Lage, mit Ihnen zu kommunizieren: Niemand dortspricht Ihre Sprache, und eine Dolmetscherin ist auchnicht vor Ort. Das ist die Situation von vielen Gehör-losen in diesem Land. Oder stellen Sie sich vor, Siesind blind und möchten zum Hausarzt, dürfen in diePraxis um die Ecke Ihren Blindenführhund aber nichtmitbringen.Menschen mit Behinderung kennen solche Pro-bleme; sie begegnen ihnen immer wieder. Denn unserGesundheitssystem ist nicht für sie gemacht. Wer keineBeeinträchtigung hat, hat vermutlich auch schon vielZeit in Wartezimmern verbracht, musste lange auf ei-nen Termin warten oder hatte Probleme, auf Anhiebdie richtige Anlaufstelle zu finden. Wenn wir hier überdie gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Be-hinderung sprechen – und zu den Menschen mit Behin-derung zählen auch Menschen mit chronischen Er-krankungen, psychischen Beeinträchtigungen oderPflegebedürftigkeit –, dann sprechen wir über wesent-lich gravierendere Probleme.Ich möchte hier kein Bild des Schreckens zeichnen:Es ist richtig, dass sich immer mehr Akteure im Ge-sundheitssystem bemühen, die Bedarfe behinderterMenschen zu berücksichtigen und das System entspre-chend umzugestalten. Es ist aber auch richtig, dass un-ser Gesundheitssystem viel zu stark an den Interessender Kostenträger und Leistungserbringer ausgerichtetist – auf Kosten einer guten Versorgung von Menschenmit Behinderungen und chronischen Erkrankungen.Und die verantwortlichen Akteurinnen und Akteureversichern sich viel zu häufig gegenseitig, dass sie eininklusives System möchten, ohne viel dafür zu tun. Dasmuss sich ändern.Den besonderen Belangen behinderter und chro-nisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen. Dasgeht unzweideutig aus § 2 a des Fünften Buches So-zialgesetzbuch hervor. Wohlfahrtsverbände und Ver-bände behinderter und chronisch kranker Menschenkritisieren seit langem, dass diese Formel leistungs-rechtlich und praktisch kaum Niederschlag findet.Grund sind unter anderem bestehende Spannungsfel-der zwischen dem Fünften und dem Neunten Buch So-zialgesetzbuch. Sie verursachen zahlreiche Problemein der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mitBehinderung. Unser Antrag sieht daher vor, alle Ge-setze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, dieLeistungsansprüche und die Organisation der Gesund-heitsversorgung regeln, auf noch bestehende Wider-sprüche zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch und zurUN-Behindertenrechtskonvention zu überprüfen undim Sinne behinderter Menschen zu beseitigen.Es ist aber nicht allein die Politik gefragt. Die Kas-senärztlichen Vereinigungen sind gesetzlich dazu ver-pflichtet, die ärztliche Versorgung der Versicherten si-cherzustellen. Für Menschen mit Behinderung ist dasnicht gewährleistet, wenn Praxen baulich und tech-nisch nicht barrierefrei sind oder die Kommunikationnicht gelingt. Damit Krankenhäuser entsprechend ge-staltet werden, muss das Ziel der Barrierefreiheit inder Krankenhausplanung der Länder berücksichtigtwerden. Wenn es um die Aus-, Fort- und Weiterbildungin den Gesundheitsberufen geht, kommen unter ande-rem die Universitäten ins Spiel. Zu diesen Bereichenhaben wir entsprechende Forderungen in unseren An-trag aufgenommen. Denn auch wenn die Politik nichtalleine gefragt ist, so halte ich es für wirklich notwen-dig, dass wir politisch größeren Druck machen.Ich war selbst ganz überrascht: Im Rahmen einerVeranstaltung meiner Fraktion zur gesundheitlichenVersorgung von Menschen mit Behinderung warensich Kassen- und Ärztevertreter in ihrer Forderung andie Politik erstaunlich einig. Angesichts der teilweisekonträren Interessen in der Selbstverwaltung dauere esmitunter sehr lange, bis die untergesetzliche Ausge-staltung von Vorgaben Gestalt annehme. Hier sei derGesetzgeber aufgerufen, für eine Einigung Fristen mitSanktionsandrohungen vorzugeben, um Verzögerungs-taktiken zu verhindern. Ich finde, auch darüber solltenwir sprechen.Dass wir konsequenter an einer besseren gesund-heitlichen Versorgung behinderter Menschen arbeiten,gebietet die völkerrechtliche Verpflichtung zur Umset-zung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich freuemich, mit Ihnen in den Ausschussberatungen über un-sere Vorschläge zu diskutieren.
Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12712 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine Ein-wände. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleHiller-Ohm, Angelika Krüger-Leißner, AnetteKramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDBildung und Teilhabe für alle Kinder, Jugend-liche und junge Erwachsene in Deutschlandsicherstellen – Das Bildungs- und Teilhabe-paket reformieren– Drucksache 17/13194 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
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29904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
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Der Komponist Benjamin Britten sagte einst: „Ler-nen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man damitaufhört, treibt man zurück.“ Dieses Zitat lässt sichebenso auf die Bereiche Bildung und Teilhabe übertra-gen. Wir wollen, dass kein Kind in Deutschland „zu-rück treibt“ und alle Kinder und Jugendlichen unab-hängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Elternoder ihrer Herkunft eine Chance auf Bildung und Teil-habe erhalten.Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ermöglichenwir Kindern und Jugendlichen seit 2011 diese Chance.Wir ermöglichen ihnen, an Bildungs- und Freizeitan-geboten mit Gleichaltrigen teilzunehmen und ein war-mes Mittagessen in der Schule, der Kita oder im Hortin Anspruch zu nehmen. Wir haben das Bildungs- undTeilhabepaket infolge des Bundesverfassungsgerichts-urteils vom 9. Februar 2010 rückwirkend zum 1. Ja-nuar 2011 eingeführt.Sie haben diesen Antrag eingebracht und forderndarin vermeintlich soziale Gerechtigkeit. Ich frage Sieganz offen: Wo war Ihr soziales Gewissen gegenüberden Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächerenFamilien, als Sie selbst in der Regierungsverantwor-tung waren?Ich möchte Sie daran erinnern: Mit dem Bildungs-und Teilhabepaket haben wir Kindern und Jugendli-chen erstmals seit Einführung der Hartz-IV-Gesetzedurch Ihre rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005eine echte Chance ermöglicht, an Bildungs- und Frei-zeitangeboten teilzunehmen, so zum Beispiel die Mit-gliedschaft in einem Sport- oder Musikverein, dieMöglichkeit der Lernförderung oder das gemeinsamewarme Mittagessen in Hort, Kita oder in der Schule.Das Bildungs- und Teilhabepaket ermöglicht dieÜbernahme der Kosten für ein- oder mehrtätige Aus-flüge in der Kita oder in der Schule, den persönlichenSchulbedarf in Höhe von 70 Euro jeweils zum 1. Au-gust und in Höhe von 30 Euro jeweils zum 1. Februareines Schuljahres, die Schülerbeförderung, die schul-nahe Lernförderung und, wie bereits erwähnt, ein ge-meinsames warmes Mittagessen in der Schule, in derKita oder im Hort.In Anspruch nehmen können das Bildungs- und Teil-habepaket Kinder und Jugendliche in der Grundsiche-rung nach dem SGB II sowie in der Sozialhilfe nachdem SGB XII. Kinder und Jugendliche, deren ElternWohngeld oder Kindergeldzuschlag erhalten oder un-ter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, werdenebenfalls berücksichtigt.Seit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepa-kets im Jahr 2011 sind inzwischen zwei Jahre vergan-gen. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten wirddas Bildungs- und Teilhabepaket inzwischen gut vonden betroffenen Familien vor Ort angenommen.Das zeigen zum Beispiel die Zahlen, die der Deut-sche Städtetag und der Deutsche Landkreistag im Jahr2012 zur Inanspruchnahme des Bildungspakets vorge-legt haben. Hierfür hatten der Deutsche Städtetag undder Deutsche Landkreistag eine Umfrage bei 70 Städ-ten und 190 Landkreisen in Deutschland zum Bil-dungs- und Teilhabepaket durchgeführt. Laut dieserUmfrage des Deutschen Städtetages stieg die Inan-spruchnahme des Bildungspakets von 27 Prozent imJuni 2011 auf etwa 56 Prozent im März 2012. NachAngaben des Deutschen Landkreistages stieg die Inan-spruchnahme von 30 auf 53 Prozent im gleichen Zeit-raum. Das zeigt eine positive Tendenz.Meine lieben Kollegen von der SPD, ich möchte Siein diesem Zusammenhang an den 21. Februar 2013 er-innern, als Sie dem Gesetzentwurf des Bundesrates zurÄnderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch undanderer Gesetze, Drucksache 17/12036, im DeutschenBundestag zugestimmt haben. Mit der Zustimmung zudiesem Gesetzentwurf wurde nach zwei Jahren Praxis-erfahrung in der Umsetzung des Bildungs- und Teilha-bepakets der Weg für eine Vereinfachung des Bildungs-pakets geebnet. Der Deutsche Landkreistag alsVertreter der Landkreise hat hierfür viele konstruktiveVorschläge zur Verwaltungsoptimierung unterbreitet.So können Leistungen, welche vor einem Schul- oderKitaausflug nicht rechtzeitig erbracht werden, auch imNachhinein erstattet werden. Die Regelung zum Eigen-anteil von Hartz-IV-Beziehern bei der Schülerbeförde-rung und zur Kostenabrechnung von Klassenausflügensollten mit dem Gesetzentwurf praktikabler gefasstwerden, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies wa-ren unter anderem die Vorschläge der kommunalenSpitzenverbände.Umso mehr wundert es mich, dass Sie, verehrte Kol-legen von der SPD, die dem Gesetzentwurf des Bun-desrates im Februar zugestimmt haben, nun einenneuen Antrag vorlegen, der die Reformierung des Bil-dungs- und Teilhabepakets vorsieht.Nicht nur das. Sie fordern auf Seite 3 Ihres Antragsden flächendeckenden Ausbau von Ganztagsbetreuungund Ganztagsschulen, die Deckung des förderpädago-gischen Bedarfs an Regelschulen, Schulsozialarbeit anallen Schulen. Darüber hinaus fordern Sie gebühren-freie Betreuungsangebote, Lernmittelfreiheit und kos-tenlosen Förder- und Leistungsunterricht. Sie forderndiese kostenlosen Angebote, sagen aber nicht, wer dasbezahlen soll, liebe Kollegen der SPD.Weiterhin fordern Sie – ich zitiere – „für alle zu-gängliches Mittagessen in Schulen, Kindertagesein-richtungen, Kindertagespflege und Horten sowie dienotwendige finanzielle Absicherung der zusätzlichenBildungsanstrengungen von Bund und Ländern“.Verehrte Kollegen von der SPD, Sie wissen, dass inunserem föderativen Staat die Kompetenzen für dieschulische Bildung bei den Ländern liegt. Warum fan-gen Sie nicht in den Bundesländern, in denen Sie in derRegierungsverantwortung stehen, damit an und ver-bessern die Möglichkeiten vor Ort?Zu Protokoll gegebene Reden
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Heike Brehmer
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Auf Seite 5 Ihres Antrags fordern Sie in Punkt 4 wei-terhin – ich zitiere –: „Schulen, Kindertageseinrich-tungen, Kindertagespflegestellen und Horte sollen flä-chendeckend eine gemeinsame, gesunde, qualitativeund diskriminierungsfreie Essensverpflegung anbie-ten.“ Ihr Ziel ist es – ich zitiere weiter –: „auf die Er-hebung eines Eigenanteils zu verzichten …“.Ich frage Sie: Was machen Sie für die Familien mitKindern und Jugendlichen, welche keine Leistungenaus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten, für ihreKinder jeden Cent zusammenkratzen und alles selbsterarbeiten müssen? Die Wohltaten, welche Sie hier sogroßzügig verteilen, müssen erst erarbeitet und vor al-lem finanziert werden.In Ihrem Antrag, der sich über fünf ganze A4-Seitenerstreckt, schreiben Sie jedoch an keiner Stelle, wie Siedie geforderten Maßnahmen eigentlich finanzierenwollen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das den Wähle-rinnen und Wählern erklären wollen, verehrte Kolle-gen der SPD.Lernmittelfreiheit, kostenloser Förderunterricht, Neu-festsetzung der Regelbedarfe in der Grundsicherung,Barauszahlung der Mittel für Schulbedarf ohne An-tragstellung – Ihnen geht es doch in Ihrem Antrag nichtdarum, wie wir in Zukunft Kinder und Jugendliche mitdem Bildungs- und Teilhabepaket unterstützen können.Ihnen geht es darum, unter dem Deckmantel der sozia-len Gerechtigkeit fleißig Wahlgeschenke zu verteilen.Ich frage Sie, verehrte Kollegen: Ist das die Art vonnachhaltiger Sozialpolitik, die unsere zukünftigen Ge-nerationen verdient haben? Angesichts der bevorste-henden Bundestagswahlen im September erscheinenmir Ihre Forderungen doch als sehr durchsichtig.Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates, dem auchSie zugestimmt haben, haben wir das Bildungs- undTeilhabepaket optimiert. Die Vorschläge zur Verwal-tungsvereinfachung wurden unter anderem durch denDeutschen Landkreistag eingebracht. Dieser hat dieErfahrungen der Landkreise mit in die Gesprächsrun-den der Runden Tische eingebracht, welche regelmä-ßig von unserer Bundesministerin Dr. Ursula von derLeyen mit den Akteuren rund um das Bildungspaketdurchgeführt werden.Unsere CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat am18. März 2013 unter dem Motto „Probleme und He-rausforderungen im SGB II – Bilanz und Ausblick“ ver-schiedene Vertreter der Arbeitsagenturen und Jobcen-ter aus ganz Deutschland zu einem Fachgesprächeingeladen, um gemeinsam Erfahrungen auszutau-schen, so auch zum Thema der Umsetzung des Bil-dungs- und Teilhabepakets. Wir dürfen nicht vergessen:Die kommunalen Träger leisten eine hervorragendeArbeit vor Ort und sind zuverlässige Ansprechpartnerfür die Betroffenen.Lassen Sie mich nun zum Abschluss meiner Ausfüh-rungen kommen. Ziel des Bildungs- und Teilhabepa-kets ist es, für Kinder und Jugendliche das „Mitma-chen möglich zu machen“. Nach zwei JahrenPraxiserfahrung und dem regelmäßigen Austausch derAkteure vor Ort haben wir das Bildungspaket opti-miert, um die Inanspruchnahme für die betroffenenFamilien zu erleichtern.Die entsprechenden Zahlen zur Inanspruchnahmewerden voraussichtlich Ende des Monats vorliegen.Ich appelliere an Sie, verehrte Kollegen, diese Zahlenim konstruktiven Miteinander auszuwerten und ge-meinsam mit den verschiedenen Spitzenverbändennach Lösungen zu suchen.Wir wollen, dass alle Kinder und Jugendlichen inDeutschland unabhängig von ihrer Herkunft oder demGeldbeutel ihrer Eltern eine Chance auf Bildung undTeilhabe erhalten. Darauf haben die Kinder und Ju-gendlichen in Deutschland ein Anrecht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie ein,dass wir uns mit Engagement und mit aller Kraft fürdie Chancen und Perspektiven dieser Kinder und Ju-gendlichen einsetzen.Ihren Antrag, liebe Kollegen von der SPD, lehnenwir von der CDU/CSU-Fraktion ab.
Schule, Bildung und natürlich gesellschaftlicheTeilhabe von allen Kindern ist ein wichtiges Thema.Wer sich den Antrag der SPD aufmerksam durchliest,merkt aber sehr schnell: Hier geht es nicht um Bil-dungspolitik, sondern hier wird wieder eine Debattezum Betreuungsgeld an den Haaren herbeigezerrt.Auch in diesem Antrag zeigt die SPD erneut, dasssie den Sinn des Betreuungsgeldes in keiner Weise ver-standen hat, dass wir den Eltern auf der einen Seiteeine Garantie für einen Hortplatz geben, auf der ande-ren Seite aber auch die Eltern, die sich die Zeit neh-men, ihre Kinder selbst zu Hause zu erziehen, finan-ziell bei ihrem Einsatz unterstützen. Wir vertrauen denEltern, dass sie die richtige Entscheidung für ihre Kin-der treffen, ob sie die Betreuung im Hort oder zuHause wählen. Wir geben ihnen die Entscheidungs-möglichkeit.Kommen wir zurück auf die Einführung des Bil-dungs- und Teilhabepakets, die eine gute Entscheidungwar. Mit ihr wird Kindern aus finanzschwachen Fami-lien ein Mehr an Teilhabe in unserer Gesellschaft er-möglicht. Denn das Bildungspaket ist weit gestaffelt.Was ist drin im Bildungspaket?Mittagessen in Kita, Schule und Hort: Der verblei-bende Eigenanteil der Eltern liegt bei 1 Euro pro Tag.Lernförderung: Bedürftige Schülerinnen und Schü-ler können Lernförderung in Anspruch nehmen, wennnur dadurch das Lernziel erreicht werden kann.Kultur, Sport, Mitmachen: Bedürftige Kinder sollenin der Freizeit nicht ausgeschlossen sein, sondern beiSport, Spiel und Kultur mitmachen. Deswegen wirdzum Beispiel der Beitrag für den Sportverein oder fürZu Protokoll gegebene Reden
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29906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Ulrich Lange
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die Musikschule in Höhe von monatlich bis zu 10 Euroübernommen.Schulbedarf und Ausflüge: Damit bedürftige Kindermit den nötigen Lernmaterialien ausgestattet sind,wird den Familien zweimal jährlich ein Zuschuss ge-währt, zu Beginn des Schuljahres 70 Euro und imFebruar 30 Euro – insgesamt 100 Euro. Zudem werdendie Kosten eintägiger Ausflüge in Schulen und Kitasfinanziert.Schülerbeförderung: Sind Beförderungskosten er-forderlich und werden sie nicht anderweitig abge-deckt, werden diese Ausgaben erstattet.Außerdem können die Kommunen Schulsozial-arbeiter einstellen.Das sind vielfältige Angebote, die Kinder nutzenkönnen. Ich halte dieses Programm allemal für besser,als den Familien ein erhöhtes Sozialgeld zu geben;denn hier weiß ich genau, dass es den Kindern zugute-kommt. Der Bundesregierung ist es wichtig, dass dieLeistungen direkt beim Kind oder Jugendlichen an-kommen. Das sieht auch die Mehrheit unserer Bevöl-kerung so. Das Prinzip „Sach- oder Dienstleistungstatt Bargeld“ wird von 90 Prozent der Bevölkerungfür richtig befunden; nur 9 Prozent lehnen es ab.Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal aus-drücklich darauf hinweisen, dass der Bund für dieKommunen die vollen Kosten für das Bildungspaketübernimmt. Das finanzielle Gesamtvolumen des Bun-des beträgt 2011 bis 2013 rund 1,6 Milliarden Euro.Darin enthalten sind auch die Kosten, die die Kommu-nen für die Einstellung von Schulsozialarbeitern auf-wenden. Dies erspart auch dem einen oder anderenLand etliche Millionen Ausgaben. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Das Land hat vor Inkraftreten des Paketsnach Angaben des Schulministeriums 17,5 MillionenEuro für das Programm „Kein Kind ohne Mahlzeit“ausgegeben. Weil jetzt der Bund einspringt, wird dieLandesregierung ab dem Sommer nur noch sogenann-ten Härtefällen, zum Beispiel Kindern von Asylbewer-bern, das Essen subventionieren. Für diese Härtefällewerden lediglich 1 Million Euro veranschlagt.Wir sind uns alle darin einig, dass das Bildungspa-ket kein Schulsystem ersetzen kann und auch nicht denweiter notwendigen Ausbau der Kitas. Aber dasBildungspaket ist eine notwendige Ergänzung, damitKinder aus ärmeren Familien bessere Startchancenbekommen.Es ist richtig, dass der Start ein wenig holprig war.Die Zwischenergebnisse zeigen aber, dass das Paketimmer mehr greift. Nach Umfragen des DeutschenStädtetages, DST, und des Deutschen Landkreistages,DLT, bei rund 70 Städten und 190 Landkreisen habendie Eltern bis zum 1. März 2012 im Durchschnitt füretwa 56 Prozent, DST, bzw. 53 Prozent, DLT, der leis-tungsberechtigten Kinder und Jugendlichen Anträgeauf Leistungen gestellt. Im Juni 2011 hatte in Umfra-gen der Verbände die Inanspruchnahme der Leistun-gen noch bei 27 Prozent bis 30 Prozent und im Novem-ber 2011 bei 44 Prozent bis 46 Prozent gelegen.Dies zeigt, wird sind auf einem guten Weg. Ichmöchte auch darauf hinweisen, dass der Staat nichtnur eine Bringschuld, sondern die Eltern auch eineHolschuld für ihre Kinder haben und den Weg auf sichnehmen müssen, die entsprechenden Leistungen zu be-antragen. Wir möchten natürlich, dass noch mehr Kin-der die Teilhabeangebote nutzen. Wir wollen uns auchstärker um Migranten kümmern und die Kinder errei-chen, deren Eltern das Bildungspaket noch nicht ken-nen oder ablehnen. Auf diesen drei Feldern müssen wirbesser werden. Trotzdem lässt sich heute bereits fest-stellen: Das Bildungspaket ist aus dem Gröbsten rausund wird langsam selbstständig.Weitere genauere Daten über die Inanspruchnahmewerden wir aus einer wissenschaftlichen Studie ziehenkönnen. Im Auftrag des BMAS wurde vom Institut fürSozialforschung und Gesellschaftspolitik eine Befra-gung zum Niveau der Inanspruchnahme des Bildungs-und Teilhabepakets durchgeführt, deren ErgebnisseEnde April vorliegen.Wenn diese Daten vorliegen, werden wir das Bil-dungs- und Teilhabepaket unter Berücksichtigung derneuen Erkenntnisse prüfen und bewerten und an dereinen oder anderen Stellschraube drehen. Ich forderealle auf, zugunsten der Kinder und Jugendlichen da-ran mitzuwirken, um das Instrument der gesellschaftli-chen Teilhabe weiter zu verbessern.
Wir debattieren heute über unseren Antrag zum Bil-dungs- und Teilhabepaket. Es geht einerseits darum,wie wir dieses bürokratische Monster schnell undwirksam an die Kette legen können.Andererseits zeigen wir auch unsere mittel- und län-gerfristigen Vorstellungen von mehr Bildungsgerech-tigkeit in Deutschland auf: Wir investieren in dieBildungsinfrastruktur. Deshalb wollen wir flächen-und bedarfsdeckend Kitas und Horte ausbauen undSchulen zu Ganztagsschulen umgestalten – mit Betreu-ungs-, Freizeit- und Lernförderangeboten und Schul-sozialarbeitern sowie diskriminierungsfrei zugängli-cher und gesunder Essensverpflegung.Zu dem Ziel, allen Kindern und Jugendlichen ge-rechte Bildungschancen durch gute barrierefreie An-gebote an Schulen und Kitas bereitzustellen, haben wiruns schon immer bekannt: Bereits unter Rot-Grün ha-ben wir 4 Milliarden Euro in den Ausbau der Ganz-tagsschulen gesteckt, und in der Großen Koalition denAusbau der Kindertagesbetreuung und die Einführungeines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz fürKinder ab einem Jahr ab dem 1. August 2013 durchge-setzt.Die schwarz-gelbe Bundesregierung verfolgt eineandere Strategie. Sie kümmert sich nicht darum, dieBildungsinfrastruktur auszubauen. Stattdessen soll einBetreuungsgeld an diejenigen Eltern gezahlt werden,Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29907
Gabriele Hiller-Ohm
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die ihre Kinder von der Kita fernhalten. Dies ist bil-dungs-, integrations- und gleichstellungspolitisch völ-lig verfehlt und verfassungsrechtlich problematisch.Unterm Strich: eine absolute Fehlinvestition.Der Gesetzgeber schafft damit Anreize, dass KinderBildungsangebote nicht nutzen und Eltern ihre Er-werbstätigkeit einschränken. Das ist genau der falscheWeg.Wir wollen das Betreuungsgeld so schnell wie mög-lich abschaffen und die so gewonnenen rund 2 Milliar-den Euro jährlich zusätzlich in die Bildungsinfrastruk-tur, also in den konsequenten Ausbau von Krippen undKitas, stecken.Gerechte Bildungschancen für alle Kinder und Ju-gendlichen zu schaffen, ist unser Ziel. Gute Bildungvon Anfang an muss für alle möglich sein: von der Kitaüber die Schule bis zu Studium und Berufsabschluss.Die SPD hat als bisher einzige Partei mit dem „Na-tionalen Pakt für Bildung und Entschuldung“ einenumfassenden Vorschlag vorgelegt, die Bildungsfinan-zierung von Bund und Ländern auszuweiten: Wir wol-len für Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahrbereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Län-dern finanziert aus Einsparungen, dem Abbau vonüberflüssigen Subventionen, der Wiedereinführung derVermögensteuer und der Reform der Erbschaftsteuerzugunsten der Länder.Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, das Koope-rationsverbot im Grundgesetz aufzuheben, damit Bundund Länder bei der Bildung wieder zusammenarbeitendürfen. Nur gemeinsam wird es gelingen, Ganztags-schulen und Kitas in Deutschland auszubauen und siebesser auszustatten – Bund und Land Hand in Hand.Auch wenn sich das leider nicht über Nacht errei-chen lässt, gilt: Alle Kinder in unserem Land haben einRecht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen und ge-sellschaftlichen Leben. Leider sieht die Realität viel zuoft anders aus. Insbesondere für Kinder aus Familienmit wenig Geld ist Chancengleichheit nicht gesichert.Deshalb ist es gut, dass das Bundesverfassungsge-richt im Jahr 2010 dem Gesetzgeber ins Stammbuchgeschrieben hat, dass wir bei der Bemessung derGrundsicherung die Teilhabe der Kinder an Bildungund ihr soziokulturelles Existenzminimum sicherstel-len müssen.Bundestag und Bundesrat haben nach langen Ver-handlungen Anfang des Jahres 2011 das sogenannteBildungs- und Teilhabepaket geschnürt. Wir Sozialde-mokratinnen und Sozialdemokraten haben das Bil-dungspaket im Vermittlungsausschuss gemeinsam mitCDU und CSU auf den Weg gebracht – nach intensivenVerhandlungen, in denen die SPD deutliche Verbesse-rungen für die Familien erreicht hat. Wir haben demKompromiss zugestimmt, um den 2,5 Millionen Kin-dern und deren Eltern bessere Bildungschancen unddie dafür notwendigen Finanzmittel zukommen zulassen. Die Alternative wäre sonst gewesen: kein Bil-dungspaket und weniger Gerechtigkeit für die Kinder.Die SPD hat durchgesetzt, dass nicht nur Kinderaus Hartz-IV-Familien an Klassenfahrten, Nachhilfeund Schulessen teilnehmen können und Lernmaterialerhalten. Auch einkommensschwache Familien imKinderzuschlags- und Wohngeldbezug können dasBildungs- und Teilhabepaket in Anspruch nehmen. Dasbetrifft rund 500 000 Kinder zusätzlich.Leider muss beim Bildungspaket aktuell jede Leis-tung einzeln beantragt und abgerechnet werden. Daskonnten wir als SPD in den Verhandlungen nicht ver-hindern. Wir halten dies für unnötig aufwendig – dieBürokratie kostet zudem Geld. Außerdem zeugt dasvon einer pauschalen Misstrauenskultur gegenüberden Eltern. Wir vertrauen den Eltern.Das Bildungspaket ist ein wichtiger Schritt in dierichtige Richtung. Es sind aber – wie es zu erwartenwar und die Erfahrung gezeigt hat – wesentliche Ver-besserungen dringend nötig. Denn wir wollen, dass dieLeistungen bei den Kindern ankommen, und wir wol-len bessere Wege – ohne ausufernde Bürokratie.Das Bildungs- und Teilhabepaket schreckt mit sei-nen bürokratischen Hürden Anspruchsberechtigte ab.Viele Kinder und Jugendliche können daher ihrengrundgesetzlich garantierten Anspruch auf Bildungund Teilhabe nicht wahrnehmen.So kann es nicht gehen. Das Bildungspaket ist Teildes grundgesetzlich garantierten soziokulturellenExistenzminimums.Laut Schätzungen erhalten nur etwa 50 Prozent derKinder tatsächlich Leistungen aus dem Bildungs- undTeilhabepaket. Das bedeutet, dass jedes zweite bedürf-tige Kind leer ausgeht. Sie sehen, wir sind noch sehrweit von echter Bildungs- und Chancengerechtigkeitentfernt.Wie viele Kinder es ganz genau sind, wie viel Geldwo und für welche Leistungen ausgegeben wurde, weißniemand. Die Bundesregierung kann dazu bis heutekeine Angaben machen und verweist darauf, dass erst-mals zum 31. März 2013 Zahlen durch die Länder ge-meldet werden mussten. Aber bis heute wurden diesenicht offiziell bekannt gegeben. Entweder kennt dieRegierung die Zahlen wirklich nicht, oder sie hält siebewusst zurück. Beides wäre ein Skandal.Ursprünglich hat die eigentlich zuständige Sozial-ministerin von der Leyen große Töne gespuckt, dassdurch das Bildungspaket den Kindern neue Zukunfts-chancen eröffnet werden. Über zwei Jahre nachseinem Start kommen diese Chancen aber leider nurbei höchstens jedem zweiten Kind an – eine traurigeBilanz.Die Bundesregierung hat sich weder um vernünftigestatistische Daten bemüht noch versucht, nur diekleinsten Verbesserungen vorzunehmen. Diese Arbeitmussten die Länder machen. Sie haben sich – alle 16 –einvernehmlich auf zumindest kleinere ÄnderungenZu Protokoll gegebene Reden
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29908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Gabriele Hiller-Ohm
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verständigt. So wird etwas Verwaltungsaufwand abge-baut, wovon auch die Kinder und Jugendlichen profi-tieren und somit letztendlich die Inanspruchnahmeverbessert wird. Die Verbesserungen können zum1. August in Kraft treten – dank unserer Länder.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenhaben das Bildungs- und Teilhabepaket von Anfang anintensiv auf den Prüfstand gestellt. In vielen Gesprä-chen mit Praktikern vor Ort, Gewerkschaften und Ver-bänden haben wir uns kritisch mit dessen Umsetzungauseinandergesetzt. Die SPD-Bundestagsfraktion hatletztes Jahr dazu auch ein großes Fachgespräch mitvielen Sachverständigen durchgeführt.Die Ergebnisse legen wir heute in unserem Antragvor. Wir bringen damit ganz konkrete und kurzfristigumzusetzende Verbesserungsvorschläge für wenigerVerwaltungsaufwand für die Betroffenen und Behördenund mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit ein:Die 10 Euro monatlich zur Teilhabe am sozialenund kulturellen Leben in der Gemeinschaft sollen ohneAntrag mit dem Regelsatz ausgezahlt sowie grundsätz-lich überprüft werden. Wie die Regelsätze selbst mussdieser Betrag fortlaufend angepasst werden.Auch das Schulbedarfspaket ist allen Leistungsbe-rechtigten ohne zusätzlichen Antrag mit dem Regelsatzauszuzahlen. Hier wollen wir ebenfalls eine Überprü-fung und regelmäßige Anpassung der Höhe von derzeitinsgesamt 100 Euro.Der Zugang zur Lernförderung soll vereinfacht undmöglichst an den Schulen angeboten werden.An Schulen, Horten und Kitas muss eine diskrimi-nierungsfreie gemeinsame und gesunde Essensverpfle-gung angeboten werden. Auf den Eigenanteil von1 Euro soll verzichtet werden, was zudem Verwal-tungskosten spart. Zur Entbürokratisierung soll derFinanzierungsbeitrag des Bundes pauschal orientiertan der Zahl der Leistungsberechtigten erfolgen.Lediglich Einmal- und Härtefallleistungen sowienur schwer pauschalisierbare Kosten wie für Kita- undSchulausflüge und Beförderungskosten sollen weiter-hin auf unbürokratischen Antrag gewährt werden. Au-ßerdem muss die Direktzahlung an die Eltern ohneGutschein- oder Sachleistungsabwicklung zur Verrin-gerung des Verwaltungs- und Kostenaufwands ermög-licht werden.Mit diesen Vorschlägen können wir das bestehendebürokratische Bildungspaket nachhaltig verbessernund mehr Kinder und Jugendliche erreichen.Aber auch die Kommunen müssen mit in die Umset-zungsverantwortung genommen werden. Sie sindnäher am Geschehen; sie kennen die Angebote undwissen beispielsweise, wie das Mittagessen in Kitasund Schulen organisiert ist.Einerseits müssen wir die Kommunen – wie von unsvorgeschlagen – von unnötiger Verwaltungsbürokratieentlasten. Andererseits müssen sie dann aber auch dieMöglichkeiten nutzen, das Bildungspaket mit ihren be-stehenden Strukturen und Programmen zu verknüpfenund bestmöglich umzusetzen. Anerkannt gute Umset-zungsbeispiele wie der Lübecker Bildungsfonds ausmeinem Wahlkreis können hier als Vorbilder dienen.Deshalb fordern wir die Entwicklung von unbüro-kratischen Verwaltungs- und Verfahrensstandards an-hand von guten Praxisbeispielen. Schließen Sie sichunseren Forderungen an und verweigern Sie unserenKindern nicht weiterhin wichtige Bildungschancen.Wir müssen alle Kinder fördern – nicht nur jedeszweite.
Wieder einmal diskutieren wir über einen Antragzum Thema Bildungs- und Teilhabepaket. Es scheintmir immer wieder, dass Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von SPD und Grünen, dabei vergessen, wiees zur bestehenden Regelung kam.Am 9. Februar 2010 beurteilte das Bundesverfas-sungsgericht die von der rot-grünen Bundesregierun-gen beschlossenen Gesetze zum Arbeitslosengeld II alsverfassungswidrig. Dies geschah unter anderem des-halb, weil bei der damaligen Festlegung der Regel-sätze der Bildungs- und Teilhabebedarf von Kindernund Jugendlichen vollkommen unberücksichtigt blieb.Diese Regierungskoalition hatte dann vorgeschla-gen, die Leistungen für Bildung und Teilhabe zentralüber die Jobcenter zu administrieren und dabei auf dieKenntnisse der Bundesagentur für Arbeit zu vertrauen.Da das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfenund zur Änderung des Zweiten und Zwölften BuchesSozialgesetzbuch im Bundesrat zustimmungspflichtigwar, haben SPD und Grüne diese Idee der sogenann-ten Familienlotsen in den Jobcentern blockiert. Sie ha-ben stattdessen, unterstützt von den Kommunen, dieZuständigkeit für das Bildungs- und Teilhabepaket indie Hände der Kommunen geben wollen. Um zu einemErgebnis im Vermittlungsverfahren zum Wohle der An-spruchsberechtigten zu kommen, haben wir diese Be-dingung vonseiten von SPD und Grünen erfüllt.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ha-ben diesem Kompromiss am Ende sowohl im Bundes-tag als auch im Bundesrat zugestimmt, während sichdie Grünen aus parteipolitischen Gründen in letzterSekunde verabschiedet hatten.Deshalb nur zur Klarstellung für all das, was Sie inIhrem Antrag kritisieren: Die SPD hat sowohl im Bun-destag als auch im Bundesrat die Hand gehoben. Dasmüssen Sie aus Gründen der Redlichkeit den Men-schen auch sagen.Der heute zu beratende Antrag stellt die Tatsachenund Fakten aber bewusst falsch dar. So behaupten Sieauf Seite 3 im zweiten Abschnitt, dass derzeit viele Kin-der, Jugendliche und junge Erwachsene ihren grund-gesetzlich garantierten Anspruch auf Bildung undZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29909
Pascal Kober
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Teilhabe nicht wahrnehmen könnten. Dies ist soschlichtweg falsch.Wahrnehmen kann den Anspruch jeder Anspruchs-berechtigte; es gibt da keine Hürden. Richtig ist aber,dass aufgrund von Anlaufschwierigkeiten, die durchdie zentrale Erbringung der Leistungen durch dieKommunen entstanden sind, die Inanspruchnahme desBildungs- und Teilhabepakets noch ausbaufähig ist.Am kommenden Montag wird Bundesarbeitsminis-terin Dr. Ursula von der Leyen die aktuellen Zahlenzur Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabe-pakets veröffentlichen. Ich bin mir dessen sehr sicher,dass wir eine weitere Zunahme im Vergleich zu denletzten Zahlen vom März 2012 verzeichnen werden.Dennoch wird es gewiss auch weiterhin Luft nach obengeben.Um dies zu erreichen, haben wir am 21. Februardieses Jahres im Deutschen Bundestag ein Gesetzbeschlossen, das zu Änderungen in der Praxis desBildungs- und Teilhabepakets führt. Diese Änderungensind auf die Initiative dieser christlich-liberalenRegierungskoalition zurückzuführen.Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatdirekt nach der Einführung des Bildungs- und Teilha-bepakets einen Runden Tisch gestartet, an dem Bund,Länder und Kommunen gemeinsam über Verbesserun-gen und Nachsteuerungen beim Bildungs- und Teil-habepaket gesprochen haben. Ergebnis der Gesprächewaren die erwähnten Änderungen des Gesetzes.Der Runde Tisch wird auch weitergeführt. So stellenwir sicher, dass weiterhin sehr praxisnah Probleme be-sprochen und dann auch gesetzgeberisch gelöst wer-den können.Sie fordern in ihrem Antrag unter Punkt 4, dass inSchulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespfle-gestellen und Horten flächendeckend Essensverpfle-gung angeboten werden soll. Hierbei übersehen Sie je-doch die praktischen Probleme. Natürlich ist es einZiel, dass jedes Kind eine Essensverpflegung in An-spruch nehmen kann. Sie müssen jedoch auch die Ge-gebenheiten an Gebäuden vor Ort berücksichtigen.Nicht jede Bildungs- oder Betreuungseinrichtung kannMittagessen anbieten. An einigen Stellen fehlen dazuschlichtweg die Räumlichkeiten.Eine große Zahl ihrer Forderungen wäre derzeit ausverfassungsrechtlichen Gründen nicht umsetzbar. Invielen Punkten wollen Sie in die Bildungshoheit derLänder eingreifen. Wenn Sie dies wollen, müssen sieaber auch gleichzeitig einen Gesetzentwurf für eineGrundgesetzänderung einbringen. So kann man IhremAntrag nicht zustimmen, da er, würden wir ihn jetzt be-schließen, verfassungswidrig wäre.
Mit seinem Urteil im Februar 2010 hat das Bundes-verfassungsgericht eine Neuermittlung der Regel-bedarfe für das menschenwürdige Existenzminimumauch für Kinder erzwungen. Bei dieser Neuermittlungwurde ein Teilbedarf von Kindern und Jugendlichen– nämlich spezifische Bedarfe für Bildung und Teil-habe – aus dem Regelbedarf ausgegliedert und inForm eines sogenannten Bildungs- und Teilhabepaketsorganisiert. Grundcharakter dieses Bildungs- undTeilhabepakets ist demzufolge, dass die Bedarfe nichtautomatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungengedeckt werden, sondern erstens beantragt werdenmüssen und zweitens in der Regel als Sach- oderDienstleistung gewährt werden. Die Folge ist, dassdies zum einen extrem bürokratisch ist und dass zumZweiten quasi eine mehrfache Bedarfsprüfung stattfin-det. Das Ergebnis: Das Antragserfordernis führt zueiner völlig unzureichenden Inanspruchnahme derLeistungen, weil Aufwand und Leistung in keinem Ver-hältnis zueinander stehen.Die Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketswar von Anbeginn an ein Fehler. Sie wurde ideologischmit dem Misstrauen gegenüber den Eltern begründet:„Die Gelder müssten tatsächlich bei den Kindern an-kommen.“ Damit wurde gegen alle Erfahrungen undempirische Erhebungen unterstellt, die Eltern würdenzusätzliche Gelder für andere Zwecke – beliebte Bei-spiele: Flachbildschirme und Bier – und nicht für dieBildung und Teilhabe ihrer Kinder verwenden. DieLinke lehnt eine solche Stigmatisierung von Eltern imSGB-II-Leistungsbezug grundsätzlich ab. Dass dieLeistungen des Bildungs- und Teilhabepakets nicht beiden Kindern ankommen, ist nicht das Verschulden derEltern. Es ist vielmehr die realitätsfremde Konstruk-tion des gesamten Pakets, die bewirkt, dass Kindernund Jugendlichen Leistungen vorenthalten werden, dieihnen rechtlich zustehen!Das Bundesverfassungsgericht hat die Leistungenfür Bildung und Teilhabe für Kinder und Jugendlicheals einen Teil des zu garantierenden menschenwürdi-gen Existenzminimums angesehen. Dieser Anspruchbedeutet, dass jedes Kind und jeder Jugendliche dieLeistungen auch bekommen muss. Dass die Hilfe beiden Kindern nicht ankommt, ist das Versagen der Poli-tik und nicht ein Mangel an Engagement von Eltern!Mit dem Geburtsfehler des Bildungs- und Teilhabe-pakets sind mehrere Probleme systematisch verknüpft:Erstens. Da – wie die niedrigen Antrags- und Bewil-ligungsquoten deutlich zeigen – nicht alle Kinder undJugendliche Leistungen aus dem BuT beziehen, dieserBedarf aber bei der Ermittlung des Regelbedarfs nichtberücksichtigt wird, entsteht bei vielen Kindern undJugendlichen eine verfassungsrechtlich bedenklicheUnterdeckung ihres Existenzminimums. Sprich: Sie be-kommen nicht das, was sie brauchen, und auch nichtdas, was ihnen zusteht.Zweitens. Weitere verfassungsrechtliche Bedenkenformulieren Professor Münder und Dr. Becker ineinem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung: Sosehen sie zum Beispiel in der Tatsache, dass lediglichbestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote finanziertZu Protokoll gegebene Reden
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29910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Diana Golze
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werden, einen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit derEltern und Kinder.Drittens. Das Antragserfordernis erfordert einenvollkommen unangemessenen Apparat zur Verwaltungdes BuT. Die Verwaltungskosten wurden allein für denBereich des SGB II mit deutlich über 100 MillionenEuro pro Jahr veranschlagt. Dem stehen veran-schlagte Leistungen in Höhe von 626 bis 661 Millio-nen Euro pro Jahr gegenüber. Dieses Ungleichgewichtsorgt dafür, dass umfangreiche finanzielle Mittel denKindern für ihre Bedürfnisse nicht zur Verfügung ste-hen. Die Linke sagt: Die verfügbaren Mittel müssenden Leistungsberechtigten zugute kommen und dürfennicht die Verwaltungsapparate finanzieren.Es ist sehr zu begrüßen, dass die SPD diese Kritik
weitgehend teilt und in ihrem Antrag
formuliert: „Die Probleme resultieren aus dem indivi-dualisierten und bedürftigkeitsgeprüften Zugang zuBildungs- und Teilhabeleistungen sowie aus der Fo-kussierung auf das Sach- und Dienstleistungsprinzip.“Es ist aber daran zu erinnern, dass die SPD-geführtenLänder im Vermittlungsausschuss für zusätzliches bü-rokratisches Chaos gesorgt haben. Statt das BuT zuverhindern bzw. es in vernünftige Bahnen zu lenken,bestanden sie auf der Durchführung des BuT durch dieKommunen. Die Übertragung der Verantwortung aufdie Kommunen durch den Vermittlungsausschussklingt zwar grundsätzlich vernünftig, in der prakti-schen Umsetzung führt die Entscheidung aber zu zu-sätzlichem Chaos. Der Bund finanziert Leistungen, de-ren konkrete Umsetzung er nicht anweisen, nichteinmal kontrollieren oder prüfen kann. Der Bund kannnicht einmal zuverlässig sagen, wie viele Kinder wel-che Leistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. DerBund ist hier auf Ergebnisse von Befragungen ange-wiesen. So kann ein menschenwürdiges Existenzmini-mum nicht garantiert werden.In der Perspektive der Linken ist klar: Das Bil-dungs- und Teilhabepaket ist gescheitert und mussgrundlegend neu gestaltet werden. Das menschenwür-dige Existenzminimum der Kinder und Jugendlichenist zu gewährleisten. Statt des Bildungs- und Teilhabe-pakets ist dringend notwendig, dass die Leistungen desBildungs- und Teilhabepakets, wo immer sachlichmöglich, in den allgemeinen Regelbedarf der Kinderund Jugendlichen einfließen. Diese regelmäßigenLeistungen sind deutlich anzuheben. Perspektivischbedarf es der Einführung einer bedarfsdeckenden Kin-dergrundsicherung.Darüber hinaus müssen Bedarfe, die nur unregel-mäßig anfallen – wie zum Beispiel Schulausflüge oderKlassenfahrten –, wo dies nicht bereits Praxis ist, alsMehrbedarfe in Form von Geldleistung ausgezahltwerden. Die Praxis, dass Eltern hier in Vorleistung ge-hen müssen, entspricht nicht der Lebensrealität derbetroffenen Familien. Hier müssen Mittel und Wegegefunden werden, die Eltern nicht in finanzielle Not-lagen bringen oder gar Kindern im Zweifel eine Teil-nahme unmöglich machen.Dienst- und Sachleistungen wie Schulverpflegungund Schülerbeförderung sind bei Bedarf allen Schüle-rinnen und Schülern unentgeltlich zur Verfügung zustellen. Auch die Lernförderung aller Schülerinnenund Schüler muss selbstverständliche Regelleistungaller Schulen sein und darf nicht – über das BuT geför-dert – ausgegliedert und privatisiert werden.Und ja: Die Bildungs- und Betreuungsinfrastrukturist – da ist der SPD zuzustimmen – massiv auszubauen.Die SPD verschweigt aber, dass zur Finanzierung ei-nes derartigen Ausbaus der öffentlichen Infrastruktureine deutliche Umverteilung des gesellschaftlichenReichtums notwendig ist. Die Linke hat ein Programmzur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.Ohne die Bereitschaft, von oben nach unten umzuver-teilen, blieben die Forderungen hohle Ziele, weil die fi-nanziellen Mittel letztlich fehlen – und zwar vor Ort!
In der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeitund Soziales hat die Diskussion über das Bildungs-und Teilhabepaket, BuT, einen neuen Tiefstand er-reicht. Auf der Tagesordnung stand die Berichterstat-tung der Bundesregierung zur Inanspruchnahme desBildungs- und Teilhabepakets 2012. Aber das, wasStaatssekretär Dr. Brauksiepe den Mitgliedern desAusschusses vortrug, war eine Brüskierung. Keine ein-zige Zahl wurde genannt. Seit nunmehr zwei Jahrendreht und windet sich die Bundesregierung, weil sienicht einräumen will, was alle, die in der Praxis mitdem BuT vertraut sind, einmütig beklagen: Das BuT istin seiner jetzigen Form ein bürokratisches Ungetüm,das Kindern nur ungenügend Bildungs- und Teilhabe-förderung zuteil werden lässt.Der kommunikative Umgang der Bundesregierungmit dem BuT ist desaströs und zeigt zweierlei: Zum ei-nen scheint es die Bundesregierung nicht zu interessie-ren, ob die Leistungen tatsächlich bei den anspruchs-berechtigten Kindern ankommen. Ministerin von derLeyen hatte vor allem die mediale Inszenierung undweniger die Bedürfnisse der Kinder im Sinn. Zum an-deren weigert sich die Bundesregierung, die offenkun-digen Konstruktionsfehler des BuT einzugestehen.Dass die Bundesregierung die Zahlen zurückhält, dieihr von den Ländern seit dem 31. März 2013 vorliegen,hat vor allem einen Grund: Anhand der Zahlen lassensich die Fehlkonstruktionen des BuT nicht mehr ver-leugnen.Nehmen wir das Beispiel Nordrhein-Westfalen, fürdas mir die Zahlen vorliegen. In NRW wurden insge-samt 87,2 Millionen Euro aus dem BuT abgerufen, dasentspricht 60 Prozent der zur Verfügung gestelltenMittel. Damit liegt NRW sowohl relativ als auch abso-lut über dem Bundesdurchschnitt. Zum Überblick: Vonden 87,2 Millionen wurden die meisten Gelder, näm-lich 36,2 Prozent, für die Mittagsverpflegung in An-spruch genommen. 32,5 Prozent entfielen auf dasSchulbedarfspaket, und 19,8 Prozent wurden fürSchulausflüge und Klassenfahrten verausgabt. Die an-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29911
Markus Kurth
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deren drei Leistungsfelder des BuT, die Lernförderung,die Leistungen der sozialen und kulturellen Teilhabeund die Schülerbeförderungskosten, machten zusam-men nur 10 Prozent aus.Und ich frage mich: Wie kann es sein? Wie kann essein, dass 2,5 Millionen Kinder in diesem Land An-spruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe ha-ben, aber nur gut die Hälfte der zur Verfügung gestell-ten Mittel tatsächlich in Anspruch genommen wird?Daran, dass teure Schulmaterialen oder auch Klassen-fahrten und Schulausflüge von Hartz-IV-Familien pro-blemlos selbst finanziert werden können, wird es wohlkaum liegen. Oder nehmen wir die marginalen Abruf-raten bei der Lernförderung und den Leistungen zursozialen und kulturellen Teilhabe, die eigentlich dasHerzstück des Bildungs- und Teilhabepakets bildensollten: Sie kommen sicher nicht dadurch zustande,dass Kinder aus bildungsfernen Familien oder Kindermit Migrationshintergrund keine Nachhilfe bräuchtenoder anders als andere Kinder nicht mit Freunden imVerein Fußball spielen oder ein Instrument lernenmöchten. Und selbst bei der Mittagsverpflegung, dievon den Ländern insgesamt am stärksten in Anspruchgenommen wird – so das Ergebnis einer Abfrage desNorddeutschen Rundfunks bei den Kommunen; wohl-gemerkt: des NDR, nicht des Ministeriums! –, mussman doch fragen: Warum werden die Gelder auch hiernicht voll ausgeschöpft? UNICEF hat im vergangenenJahr eine Studie zur Kinderarmut in den reichen Län-dern der Welt veröffentlicht. Ein Ergebnis dieser Stu-die war, dass in Deutschland von 20 Kindern eineskeine warme Mahlzeit am Tag bekommt. Das sind fünfProzent der Kinder; aber die Gelder aus dem Bil-dungs- und Teilhabepaket werden nicht genutzt.Die Antwort auf all diese Fragen ist erschreckendeinfach: Die Hürden der Beantragung sind zu hoch,und die Konzentration auf Sachleistungen geht an denErfordernissen der Praxis schlicht vorbei. Denn wasnützt der Zuschuss zum Mittagessen, wenn Schulenkeine Schulküchen haben und private Caterer wegender komplizierten Abrechnung zurückschrecken, so-dass überhaupt kein Schulessen angeboten wird? Sobleiben die Küchen kalt und die Mägen leer. Was nüt-zen monatliche Zuschüsse zu Sportvereinen oder Mu-sikschulen, wenn der Zuschuss nur einen Bruchteil dereigentlichen Kosten deckt und die Familien zusätzlich25 bis 50 Euro im Monat selbst finanzieren müssen?Pro Kind wohlgemerkt. Das Beispiel der Musikschulenwird immer wieder angeführt: Dass Instrumentalun-terricht, selbst dann, wenn es sich um günstigen Grup-penunterricht handelt, nicht unter 35 Euro pro Stundezu haben ist, ist keine Neuigkeit. Das war auch be-kannt, als die schwarz-gelbe Bundesregierung das Bil-dungs- und Teilhabepaket geschnürt hat. Ähnlich ab-surd und weltfremd sind die Vorgaben für dieBewilligung von Lernförderung: Diese wird nur imFall einer unmittelbaren Versetzungsgefährdung unddann auch nur einmalig und kurzfristig gewährt. Dassein langfristiger Lernerfolg Kontinuität braucht, istlandläufig bekannt. Mit maximal 35 Stunden proSchuljahr und Kind kann dieser nicht erreicht werden.Selbst dann nicht, wenn der hohe Aufwand betriebenwird und die Leistungen tatsächlich beantragt werden.Die Bundesregierung rühmt sich, im Jahr 2012knapp 900 Millionen für das BuT bereitgestellt zu ha-ben. Was sie dabei geflissentlich verschweigt, ist, dassein Großteil des Geldes – nämlich 159 Millionen Euro –ausschließlich auf Verwaltungsmittel entfällt. Faktischist es aber noch mehr. Tatsächlich schätzen wir anhandder Zahlen des Verwaltungspersonals den Verwal-tungsaufwand auf mindestens 30 Prozent. Für die ei-gentlichen Sachleistungen wurden also bestenfalls716 Euro Millionen bereitgestellt. Eine sachgerechteVerwendung der Mittel fordern wir Grünen seit lan-gem. In unserem Antrag „Das Bildungs- und Teilhabe-paket – Leistungen für Kinder und Jugendliche unbü-rokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“
– wohlgemerkt dem
ersten zum Reformbedarf des BuT – haben wir dieÜberführung der sogenannten Teilhabepauschale, desSchulbasispakets und der Schülerbeförderung in denmonatlichen Regelsatz gefordert. Außerdem ist es ausunserer Sicht notwendig, die Lernförderung unbüro-kratisch zu gewähren und die tatsächlichen Kosten fürSchulausflüge und Klassenfahrten zu erstatten. Undfür das Mittagessen fordern wir eine Vereinfachungder Abrechnung: Die Kostenübernahme muss denSchulen, Horten und Kindertagesstätten direkt zukom-men.Der Änderungsbedarf am Bildungs- und Teilhabe-pakt ist allgemein konsentiert. Vereine, Sozialver-bände, Stiftungen, Jobcenter, der Deutsche Landkreis-tag und auch die Länder, sie alle sind sich einig: DerBürokratieaufwand muss reduziert und die Leistungs-gewährung so umgestaltet werden, dass die Leistungbei den Kindern ankommt. Der Bundesrat hat einenGesetzentwurf zur Änderung des Zweiten Buches So-
Wohlfahrtsverband hat Praktikerinnen und Praktikerbefragt und die Inanspruchnahme des Bildungs- undTeilhabepakets evaluiert. Die kritische Praxisbilanznennt die drängenden Probleme konkret beim Namenund macht Lösungsvorschläge. Die Vodafone StiftungDeutschland hat die Lernförderung bilanziert und ei-nen Zehn-Punkte-Plan zur Lernförderung vorgeschla-gen. Von allen Seiten werden der Bundesregierung dieLösungen auf dem silbernen Tablett serviert. AberMinisterin von der Leyen zieht es vor, die Inanspruch-nahme selbst zu evaluieren und eine ehrliche Bewer-tung des BuT weiter zu verzögern.Wenn die Ministerin am kommenden Montag vor diePresse tritt und anstelle der Zahlen aus den Länderndie Ergebnisse einer vom BMAS in Auftrag gegebenenBefragung präsentiert, dann wird sie wieder davonsprechen, dass das BuT ein sozialpolitischer Erfolg ist.Und wie schon beim Abschlussbericht des Instituts fürSozialforschung und Gesellschaftspolitik werden dieZu Protokoll gegebene Reden
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29912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Markus Kurth
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Tatsachen sicher auch am 29. April 2013 wieder be-schönigt werden.Frau von der Leyen hat heute im Plenum treffender-weise Kurt Schumacher zitiert: „Politik beginnt mitdem Betrachten der Wirklichkeit.“ Das sollte sie sichselbst ins Stammbuch schreiben und die Zahlen, Fak-ten und Bedürfnisse der Praxis, die ihr vorliegen, ernstnehmen. Die Wirklichkeit von 2,5 Millionen Kindernist, dass sie besseren und umfassenden Zugang zu Bil-dung und Teilhabe brauchen und dass das Bildungs-und Teilhabepaket in seiner derzeitigen Ausformungdazu nur ungenügend beiträgt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13194 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine Ein-
wände. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten
Schneider , Uwe Beckmeyer, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Privatkundengeschäft der Finanzagentur
Deutschland GmbH fortsetzen
– Drucksachen 17/12062, 17/12434 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.
Seit unserer letzten Debatte zum Privatkundenge-schäft der Finanzagentur hat sich gezeigt: Auch nachunserer Ankündigung, Ihren Antrag zur Fortsetzungdes Privatkundengeschäftes der Finanzagentur nichtzu unterstützen, dreht sich die Welt weiter. Wie sollte esauch anders sein? Kunden können ja weiterhin Bun-deswertpapiere erwerben, nur eben nicht mehr überdie Finanzagentur, für deren Minusgeschäft der Steuer-zahler aufkommt.Überdenken Sie doch einfach Ihr Anliegen selbstkri-tisch. Sie fordern, dass die Finanzagentur des Bundesein Produkt weiter anbietet, das jedes Jahr zwischen50 und 70 Millionen Euro Verluste einbringt. DiesesGeld soll dann der Bund, also der Steuerzahler zu-schießen, damit andere über die Finanzagentur Schatz-briefe erwerben können. Warum? Und vor allem:Wieso stellen Sie Ihre Forderung erst jetzt? – Seit Juni2012 wissen die Mitglieder des Bundesfinanzierungs-gremiums – also auch Ihre Vertreter darin –, dass dasPrivatkundengeschäft eingestellt werden soll. Dass esunrentabel ist, wissen Sie schon länger. Da muss ichfragen: Wieso befassen Sie sich erst jetzt damit, wennIhnen angeblich so sehr an diesem Thema gelegen ist?Ich meine: Sie versuchen, die wenigen aktuellenPresseartikel zu dem Thema aufzugreifen, in denen derWegfall der Bundesschatzbriefe bedauert wird, ohnejedoch auf das Verlustgeschäft für den Steuerzahlerhinzuweisen. Suggeriert wird dann, der einfache Spa-rer könne keine Bundeswertpapiere mehr erwerben.Das ist schlicht und einfach falsch: Sie können komfor-tablere und häufig preisgünstigere Erwerbswege nut-zen als den Kauf über die Finanzagentur. Denn das istdoch das Problem und hat zu der Entscheidung ge-führt, das Privatkundengeschäft einzustellen: Bankenhaben vielfach preiswertere Angebote im Sortimentund haben der Finanzagentur hier schlicht und einfachden Rang abgelaufen.Nichts anderes schreibt uns der Bundesrechungshofins Stammbuch. Ein kleiner Blick in den Bericht wäresicher hilfreich gewesen, bevor Sie Ihren Antrag hierzur Debatte gestellt haben. Gewiss werfen Sie demBRH nicht vor, im Interesse anderer Vertriebswege zusprechen – und uns nicht, dass wir Anmerkungen undHinweise des Rechnungshofes ernst nehmen.Nochmals zu Ihrer Kenntnis, falls Sie die entschei-dende Passage des Berichts übersehen haben sollten:„Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfehlungdes Bundesrechnungshofes bis zum Ende des Jahres2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, die es für Pri-vatanleger anbietet. Dieses Privatkundengeschäft istfür die Kreditaufnahme des Bundes bedeutungslos ge-worden, weil Privatanleger seit über 20 Jahren immerweniger Wertpapiere des Bundes kaufen.“ Weiter heißtes: „Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäftsank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 MilliardenEuro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an dergesamten Kreditaufnahme des Bundes reduzierte sichdamit von 40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem ent-standen im Privatkundengeschäft in den letzten JahrenVerluste, teilweise in zweistelliger Millionenhöhe.“Außerdem heißt es: „Der Bundesrechnungshof hat be-zweifelt, dass sich das Privatkundengeschäft mit neuenProdukten oder bei einem höheren allgemeinen Zins-niveau deutlich ausweiten und kostendeckend betrei-ben lässt.“ Abschließend heißt es: „Privatanleger sinddamit nicht von einer Geldanlage beim Bund ausge-schlossen. Sie können weiterhin Wertpapiere des Bun-des über Kreditinstitute erwerben.“Ich nehme an, dass diese Bewertung doch auch Ih-nen zu denken geben müsste. Wollen Sie ernsthaft, dassder Steuerzahler in Millionenhöhe für diejenigen auf-kommt, die ihr Geld verleihen? – Das ist zumindestnicht unsere Vorstellung von Gerechtigkeit. Wenn Siemehr Gemeinsinn einfordern, dann beginnen Sie docheinfach hier im Kleinen und überprüfen Sie mit uns kri-tisch, welche unrentablen Vertriebswege, die zulastendes Gemeinwesens gehen, wegfallen können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29913
Alexander Funk
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Wir jedenfalls werden weiterhin auch im Detailnicht nachlassen, wenn es darum geht, unsere Staats-finanzen nachhaltig zu sanieren. Dass Sie damit nichtviel anfangen können, ist nicht nur bei Ihren großenSteuererhöhungsplänen zu sehen, sondern auch hierim Detail.Lassen Sie uns die richtigen Konsequenzen aus demBericht des Rechnungshofes ziehen und dem Antragder SPD nicht folgen.
Vergangene Woche, am 16. April 2013, hat das ita-lienische Schatzamt für eine „Patriotenanleihe“ Itali-ens so viele Gebote der italienischen Bürgerinnen undBürger erhalten, dass die Bücher zwei Tage vor Endeder Zeichnungsfrist geschlossen werden mussten. „Ita-lien kann sich auf seine Bürger verlassen“, schrieb die„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 17. April. Ita-lien hat so knapp 17 Milliarden Euro eingesammelt –und zwar zu 2,25 Prozent Zinsen, gekoppelt an die ita-lienischen Verbraucherpreise.Italien hat das mitten in einer wirtschaftlich undpolitisch schwierigen Situation geschafft, war zur Auk-tionszeit sogar ohne neue Regierung. Das Beispielzeigt: Staaten können, wenn sie an den Kapital- undFinanzmärkten in eine schwierige Lage geraten, sichselbst daraus befreien, wenn ihre Bürgerinnen undBürger ihnen vertrauen. Die Reformen von Minister-präsident Monti waren sicherlich für viele Italienerschwierig und anstrengend; sie haben sich aber ge-lohnt, weil die Menschen wieder Vertrauen in ihren ei-genen Staat haben.Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist vondieser Erfolgsgeschichte gänzlich unbeeindruckt.Über viele Jahrzehnte war es auch dem Bund möglich,sich direkt bei den Bürgerinnen und Bürgern inDeutschland zu refinanzieren. Bundesschatzbriefe undFinanzierungsschätze hatten in Deutschland einenguten Namen. Gerade die ältere Generation, die dieEinführung der D-Mark im Juni 1948 noch erinnerte,entschied sich oft für diese Anlagen, und sei es als Ge-schenk für die Enkel.Ab dem 1. Januar 2013 hat diese Bundesregierung,hat Herr Schäuble das Privatkundengeschäft der Fi-nanzagentur eingestellt. Ich habe das seit der erstenInformation im Sommer 2012 immer wieder kritisiert.Heute sind die Schulden Deutschlands auf demhöchsten Stand, auf dem sie je waren. Deutschland istmit über 2,1 Billionen Euro, davon über 1,3 BillionenEuro beim Bund, verschuldet. Wir geben gegenwärtigüber 30 Milliarden Euro pro Jahr für Zinszahlungenaus. Nun haben Sie entschieden, die Mittel zur Finan-zierung dieser Schulden künftig vollständig an denFinanz- und Kapitalmärkten aufzunehmen. Damit be-stimmen die großen internationalen Investoren denTon. Dem Bund die Möglichkeit zu nehmen, sich beiseinen Bürgern Geld zu leihen, ist wieder einmal derpuren Marktideologie der FDP geschuldet, und sie istund bleibt ein schwerwiegender Fehler.Sie verstecken diese Ideologie hinter einem Berichtdes Bundesrechnungshofes, der besagt, die Kosten fürdas Privatkundengeschäft überstiegen den Gewinn umüber 50 Millionen Euro. Das trifft zwar zu, Ihre Konse-quenz daraus ist aber falsch. Denn es war diese Bun-desregierung, die nichts unternommen hat, um das zuändern. Sie haben der Finanzagentur untersagt, Wer-bung für Privatanlagen zu machen. Sie haben sichnicht bemüht, über Synergieeffekte und effektivere An-gebote die Kosten zu senken. Sie haben sich einfachausgeruht und zugesehen.Seit zwei Jahren haben wir eine sehr spezielle Situa-tion. Deutschland ist – so paradox das klingen mag –in einem Punkt Profiteur der Finanzmarktkrise. Auf-grund der Finanzmarktkrise, die über marode Bankbi-lanzen zu einer Refinanzierungskrise für einige Staa-ten des Euro-Raums geworden ist, suchen Investorenheute fieberhaft nach sicheren Anleihen. Deutschlandist hier mit die beste Adresse in der Welt. Die Folge da-raus ist, dass die Zinssätze, die wir als Bund zahlenmüssen, gegenwärtig stark gesunken sind – teilweisebis ins Negative. Das ist zwar eine gute Entwicklungfür die Bundesschuld und den Bundeshaushalt. Sie istaber nicht von Dauer und kann sich rasch wieder än-dern. Zudem werden die Zinsen durch die niedrigenLeitzinssätze der Europäischen Zentralbank und dieenormen Liquiditätshilfen an Geschäftsbanken gene-rell auf einem niedrigen Niveau gehalten. Für dieSparerinnen und Sparer jedenfalls in Deutschland be-deutet das eine langsame, schleichende Enteignung,solange die Zinsen auf Ersparnisse unterhalb der In-flationsrate liegen. Auf mittlere und lange Sicht ist dasgefährlich und muss sich ändern. Deshalb muss derBund nicht nur ein sicherer Hafen bleiben, sondernwird perspektivisch auch für Privatanleger wiederökonomisch interessant werden.Das Privatkundengeschäft mit Bundesschuldtitelnfindet seit Januar nur noch über die Geschäftsbankenstatt, über die Privatkunden Schuldtitel des Bundes er-werben können. Das ist verbunden mit Gebühren undanderen Kosten, denn die Banken wollen ja daran ver-dienen. Den Gewinn der Banken aber auch noch mit-hilfe der Bundesschuldenverwaltung zu steigern, darfdoch wirklich nicht unser Interesse sein. Da haben Sie,Kollege Fricke, in der ersten Lesung dieses Antragsrecht gehabt: Ja, wir wollen den Banken diesen Ge-winn auf Kosten der privaten Anleger nicht zubilligen.Sie aber schon. In Klientelpolitik sind Sie einfach un-übertroffen.Wir wollen, dass Sie das Privatkundengeschäft derFinanzagentur umgehend wieder aufnehmen und prü-fen, wie andere, auch längerfristige Wertpapiere zu-sätzlich zu den traditionellen Privatkundenproduktenangeboten werden können. Gemeinsam mit dem Bun-desrechnungshof müssen Möglichkeiten erarbeitetwerden, wie die Kosten minimiert werden und gegebe-nenfalls anfallende Verluste im PrivatkundengeschäftZu Protokoll gegebene Reden
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29914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Carsten Schneider
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an anderer Stelle kompensiert werden können. Und ichfordere Sie auf, Herr Schäuble, gemeinsam mit den an-deren Mitgliedstaaten des Euro-WährungsgebietesMöglichkeiten und Instrumente zu erörtern, um dasEngagement Privater bei der Refinanzierung derEuro-Mitgliedstaaten generell zu erhöhen und lukrati-ver zu gestalten und dadurch mehr Unabhängigkeitgegenüber institutionellen Investoren und anderenFinanzmarktakteuren zu gewinnen.Noch hätten Sie Gelegenheit, das klug zu ändern.Nach dem 22. September 2013 jedenfalls werden wirmal wieder Ihre Arbeit tun müssen.
Wir haben in dieser Debatte über den Antrag der
SPD zur Fortführung des Privatkundengeschäfts der
Finanzagentur Deutschland GmbH bereits mehrfach
Argumente ausgetauscht. Weder an den Fakten noch
an der Wertung hat sich etwas geändert.
Die Bundesregierung hat entschieden, das Privat-
kundengeschäft zum Jahresende 2012 einzustellen.
Der Bundesrechnungshof hat diese Entscheidung un-
terstützt. Die Einstellung des Vertriebs von speziellen
Privatkundenprodukten des Bundes ist aufgrund fest-
gestellter Unwirtschaftlichkeit erfolgt. Das ist im Inte-
resse der Steuerzahler und sollte damit auch im Inte-
resse der privaten Anleger sein.
Als FDP haben wir das Privatkundengeschäft der
Finanzagentur des Bundes stets kritisch begleitet, zu-
mal sich der Staat hier teilweise in Konkurrenz zu pri-
vaten Banken, Sparkassen und Genossenschaftsban-
ken begeben hat.
Die SPD wollte nun, dass weiterhin der Steuerzah-
ler mit 50 bis 70 Millionen Euro belastet wird, um Ka-
pitalanlegern Vergünstigungen zu verschaffen. Je Be-
standskunde kostete die Finanzagentur des Bundes den
Steuerzahler rund 200 Euro. Deutschland sollte also
im Sinne der SPD weiterhin unwirtschaftlich Schulden
aufnehmen.
Auch nach der Beendigung des Privatkundenge-
schäftes der Finanzagentur besteht für jeden Bürger
weiterhin die Möglichkeit, über sein Bankdepot deut-
sche Staatsanleihen zu erwerben. Der international so
beneidete „sichere Hafen“ steht dem Kleinanleger da-
mit weiterhin offen.
Der Antrag der SPD passt gut in die Politik der
SPD, bedeutet er doch in der Konsequenz, dass priva-
ten Banken, Sparkassen und Volksbanken das Geschäft
weggenommen und dem Staat die weitere Verschul-
dung erleichtert wird. Damit fließen Spareinlagen
nicht in Investitionen und privatwirtschaftliche Ent-
wicklungen und damit in die Zukunft unseres Landes,
sondern in die Verschuldung des Staates.
Die christlich-liberale Koalition hat eine nachhal-
tige Politik der Haushaltskonsolidierung erfolgreich
auf den Weg gebracht. Auch in diesem Bereich waren
die vergangenen Jahre vier gute Jahre für Deutsch-
land. Damit sich diese guten Jahre für Deutschland
fortsetzen, macht die christlich-liberale Koalition
auch in diesem Punkt das sachlich Richtige, setzt pri-
vat vor Staat und lehnt daher den Antrag der SPD ab.
Im Juni 2012 hat die Bundesregierung entschieden,das Privatkundengeschäft der bundeseigenen „Bun-desrepublik Deutschland – Finanzagentur GmbH“, Fi-nanzagentur, einzustellen. Das passt in die neoliberalePolitik der Privatisierung und Kommerzialisierung öf-fentlicher Angebote. Es gibt kaum noch einen Lebens-bereich, wo die Bundesregierung nicht versucht, öf-fentliche Angebote durch kommerzielle zu ersetzen.Die Resultate sprechen für sich: Die Angebote werdenteurer und in der Regel schlechter.Im SPD-Antrag wird die Bundesregierung aufgefor-dert, das Privatkundengeschäft der Finanzagenturfortzusetzen. Auch wenn zurzeit keine ökonomischenGründe bestehen würden, das Privatkundengeschäftder Finanzagentur fortzuführen, soll privaten Investo-ren ein direkter Zugang zu Staatsschuldtiteln des Bun-des weiter offenstehen. Der Zugang allein überGeschäftsbanken sei zudem mit Gebühren- oder Provi-sionszahlungen verbunden.Die Bundesregierung soll umgehend prüfen, wie an-dere, auch längerfristige Wertpapiere zusätzlich zu dentraditionellen Privatkundenprodukten der Bundes-schatzbriefe und der Finanzierungsschätze angebotenwerden können. Die Bundesregierung soll aufgefordertwerden, gemeinsam mit dem BundesrechnungshofMöglichkeiten zu erarbeiten, wie die Kosten, die durchdie Bereitstellung der Finanzagentur-Infrastruktur fürPrivate entstehen, minimiert werden und gegebenen-falls anfallende Verluste im Privatkundengeschäft ananderer Stelle kompensiert werden können.Die Linke befürwortet die Fortsetzung des Privat-kundengeschäfts der Finanzagentur. Das Privatkun-dengeschäft der Finanzagentur hat in der Vergangen-heit einen positiven Beitrag zur Senkung derZinskosten des Bundes geleistet und könnte das künftigwieder leisten.Das Privatkundengeschäft der Finanzagentur warden Interessen von Bürgerinnen und Bürgern entge-gengekommen, die bei ihren Anlageentscheidungennicht von Banken über den Tisch gezogen werden wol-len. Die Banken wollten das Privatkundengeschäft derbundeseigenen Finanzagentur kapern, um den Privat-kunden der Finanzagentur im nächsten Schritt dieBundeswertpapiere auszureden und ihnen stattdesseneigene Papiere anzudienen, an denen die Banken mehrverdienen. Dieses Interesse haben Koalition und Bun-desregierung durch die Einstellung des Privatkunden-geschäfts der Finanzagentur bedient.In ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschlandvon der Finanzmarktkrise dadurch profitiert habe,dass Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt wordensind und werden. Diese Feststellung greift zu kurz. Tat-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29915
Dr. Gesine Lötzsch
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sächlich profitierte die deutsche Wirtschaft und einewohlhabende Minderheit in Deutschland lebenderMenschen auf Kosten anderer Staaten und der Mehr-heit der in Deutschland lebenden Menschen vor allemdurch Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge dervon SPD und Grünen durchgesetzten Agenda 2010.Die Zielrichtung im SPD-Antrag, die Sparanlagender Bürger zu mobilisieren, um in Not geratene Staatenbesser refinanzieren zu können, führt dazu, dass dieAuslöser und Profiteure der Finanzkrise aus ihrer Ver-antwortung entlassen werden.Die Linke fordert, die Staatsfinanzierung endlichder Willkür der Finanzmärkte zu entziehen. Neben ei-ner konsequenten Regulierung der Finanzmärkte mussdie Europäische Zentralbank ermächtigt werden, denEuro-Staaten günstige Kredite zu geben – direkt oderüber eine zwischengeschaltete europäische Bank füröffentliche Anleihen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Nach meiner Rede in der ersten Lesung habe ichviele unterstützende Zuschriften von Bürgerinnen undBürgern bekommen, die die Bedeutung des Privatkun-dengeschäfts der Finanzagentur Deutschland erkannthaben. Die Leute sehen nicht ein, warum sie künftigsaftige Bankgebühren zahlen sollen, wenn sie ihr Gelddem Staat über einen bestimmten Zeitraum zur Verfü-gung stellen. Ich finde, diese Menschen haben völligrecht.Als Politikerinnen und Politiker sollten wir unsfreuen, dass viele Bürger ihrem Staat Geld anver-trauen und damit zur Refinanzierung des Gemeinwe-sens beitragen wollen, auch wenn die Rendite ver-gleichsweise niedrig ist. Stattdessen erhöht Schwarz-Gelb mit der Abschaffung des direkten Privatkunden-geschäfts der Finanzagentur nun die Hürden, damitdie privaten Banken keine Konkurrenz mehr fürchtenmüssen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wirbrauchen. Die Bundesschatzbriefe sind immer nochsinnvoller, als wenn die Leute ihr Vermögen in Zocker-papiere an den Finanzmärkten stecken, die zur wirt-schaftlichen Destabilisierung beitragen können.Es mag sein, dass die Bundesrepublik sich derzeitgünstiger Geld am Markt leihen kann, als das über dendirekten Kontakt mit ihren Bürgerinnen und Bürgernmöglich ist. Das liegt aber auch an der Krise der ande-ren Staaten im Euro-Währungsgebiet und dem damitverbundenen niedrigen Zinsniveau für Deutschland.Darauf können wir uns nicht dauerhaft verlassen. Wirbrauchen langfristig solide Verhältnisse, wenn wir unsnicht in die Abhängigkeit der Finanzmärkte begebenwollen. Ein weitsichtiges Schuldenmanagement stehtdeshalb auf mehreren Beinen, und das Privatkunden-geschäft muss ein wichtiges Standbein bleiben.Das Argument, dass private Anleger Bundeswert-papieren grundsätzlich ablehnend gegenüberstündenund der geringe Anteil des Privatkundengeschäfts ander Gesamtverschuldung nicht zu steigern wäre, gehtjedenfalls ins Leere: In den 90er-Jahren lag der Anteilbei rund 15 Prozent und damit mehr als fünfmal sohoch wie heute. Das Interesse an sicheren Geldan-lagen wird in der Bevölkerung insbesondere in denZeiten der Krise seit ein paar Jahren nicht abgenom-men haben. Das Potenzial wäre grundsätzlich alsovorhanden, wenn man es denn richtig ausschöpfenwürde.Das will die schwarz-gelbe Koalition aber offenbarnicht sehen. Ich finde es sehr bedauerlich, dass CDU,CSU und FDP auch im Laufe der Beratungen nichtvon ihren Plänen abzubringen waren. Wenn Lobby-interessen der privaten Banken für Merkels Regierungwichtiger sind als rationale Argumente für die lang-fristige Stabilität der deutschen Finanzen, dann kannauch die Opposition das Ende des Privatkundenge-schäfts der Finanzagentur nicht verhindern. Wer aberein ehrliches Interesse an einem gesunden Schulden-management und einer möglichst geringen Abhängig-keit von den Kapitalmärkten hat, der muss dem vorlie-genden Antrag heute zustimmen und die von Schwarz-Gelb in den zuständigen Ausschüssen durchgedrückteBeschlussempfehlung ablehnen.H
Das Bundesministerium der Finanzen hat im ver-gangenen Jahr entschieden, den Vertrieb von Privat-kundenprodukten zum Jahresbeginn 2013 einzustellen.Diese Entscheidung wurde vor dem Hintergrundausführlicher Beratungen mit der BundesrepublikDeutschland – Finanzagentur GmbH sowie unter Be-achtung verschiedener Gutachten, die der Bundes-rechnungshof zu dieser Frage bereits erstellt hatte, ge-troffen. Auch seitens des Parlaments gab es dieForderung, aus dem Privatkundengeschäft auszustei-gen.Der Bundesrechnungshof stellte fest: „Das Ver-kaufsvolumen im Privatkundengeschäft sank im Zeit-raum von 1990 bis 2011 von 28 Milliarden Euro aufunter 2 Milliarden Euro. Sein Anteil an der gesamtenKreditaufnahme des Bundes reduzierte sich damit von40,9 Prozent auf 0,7 Prozent. Zudem entstanden imPrivatkundengeschäft in den letzten Jahren Verluste,teilweise in zweistelliger Millionenhöhe …Der Bun-desrechnungshof bezweifelt, dass sich des Privatkun-dengeschäft mit neuen Produkten oder bei einem höhe-ren allgemeinen Zinsniveau deutlich ausweiten undkostendeckend betreiben lässt.“Dieser Beurteilung schloss sich das Bundesministe-rium der Finanzen an, nachdem weder die tatsächlicheAbsatzsituation noch die von der Finanzagentur aufge-zeigten Perspektiven für die weitere Entwicklung derAbsatzsituation auf die Möglichkeit eines wirtschaftli-chen Betriebs hindeuteten. Zu den Hintergründen derEntscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben,lassen Sie mich näher erläutern, dass es bis in dasJahr 2002 noch zwei Absatzwege im Privatkundenge-Zu Protokoll gegebene Reden
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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schäft gegeben hatte, nämlich – erstens – den Verkaufüber die Deutsche Bundesbank und – zweitens – denVertrieb über Banken und Sparkassen.Die Deutsche Bundesbank entschied sich im Jahr2002 jedoch, nicht mehr für den Vertrieb von Privat-kundenprodukten des Bundes zur Verfügung zu stehen.Bereits mit Wirkung vom 31. Dezember 2002 wurdeder Verkauf von Bundesschatzbriefen und Finanzie-rungsschätzen eingestellt, im Februar 2003 folgtedann auch die Einstellung des Verkaufs von Bundesob-ligationen ex Emission an Private. Seitdem ist dieDeutsche Bundesbank nur noch bei der Abwicklungdieser Produkte für den Bund tätig.Nach dem Ausscheiden der Deutschen Bundesbankaus dem Verkauf von speziellen Produkten des Bundesfür Privatkunden war nur der Verkauf dieser Produkteüber Banken und Sparkassen sowie der Direktvertriebüber die Finanzagentur verblieben. Die für diese bei-den Vertriebswege anfallenden Kosten waren jedochnicht so zu beeinflussen, dass die Rentabilität des Ver-triebs der Privatkundenprodukte des Bundes hätte si-chergestellt werden können.Ein weiterer, noch gewichtigerer Aspekt kam hinzu,und das waren bzw. sind renditeorientierte Anlegerent-scheidungen. Die übergroße Mehrheit der privaten An-leger hatte sich im mittlerweile heiß umkämpftenMarkt für Privatkundenprodukte gegen die risikofreienBundprodukte mit niedrigen Renditen entschieden undzieht sehr oft Produkte vor, die mehr Rendite für höhe-res Risiko bieten.Auch die Versuche der Finanzagentur und des Bun-desministeriums der Finanzen, das Privatkundenge-schäft nochmals durch ein neues Produkt wie die Ta-gesanleihe des Bundes – begleitet sogar von einerTV-Werbekampagne – zu beleben, konnten den Absatz-rückgang nicht wirklich aufhalten.Die derzeit besonders niedrigen Bundrenditen ha-ben den Niedergang der speziellen Produkte des Bun-des für Privatkunden sicherlich beschleunigt. Aus-schlaggebend war aber nicht die Marktlage an sich,sondern dass die speziellen Produkte des Bundes fürden Privatanleger nicht mehr wettbewerbsfähig wa-ren.Eine Subventionierung von Kapitalanlegern fürZwecke der Kreditaufnahme des Bundes ist jedoch un-ter keinem Aspekt sinnvoll; insoweit war unsere Ent-scheidung im Interesse eines verantwortungsvollenUmgangs mit öffentlichen Geldern ohne Alternative.Ich möchte zum Schluss noch einen weiteren Punktfesthalten und betonen, der in der Debatte manchmaluntergeht: Die Einstellung des Vertriebs von speziellenPrivatkundenprodukten – Bundesschatzbriefen, Finan-zierungsschätzen und der Tagesanleihe – führt keines-wegs dazu, dass diejenigen Privatanleger, für die dieSicherheit der Vermögensanlage an erster Stelle steht,keinen Zugang mehr zu Bundeswertpapieren haben.Eine Beteiligung privater Investoren an der staatli-chen Kreditaufnahme ist dauerhaft auch ohne spezielleProdukte für Privatkunden gewährleistet. Denn Bun-deswertpapiere können ohne Weiteres auch zukünftigvon Privatanlegern, die eine sichere Wertanlage su-chen, zum Beispiel über Banken und Sparkassen, er-worben werden. Der Bundesregierung ist an dem fort-bestehenden Anlegerinteresse sogar sehr gelegen, weiles eine wichtige Grundlage für eine weiterhin rei-bungslose Kreditaufnahme zu wirtschaftlich günstigenKonditionen ist.Der ab und zu vorgebrachte Einwand, beim Wertpa-piererwerb über Banken und Sparkassen fielen Gebüh-ren an, die die Anleger beim Direkterwerb gesparthätten, ist irreführend. Selbstverständlich wurden Di-rektanleger beim Bund an den höheren Kosten des Pri-vatkundengeschäfts beteiligt. Nur geschah dies durcheinen Zinsabschlag auf die Privatkundenprodukte an-stelle der Eintreibung von Kontoführungs- oder ähnli-chen Gebühren. Der Erwerb eines sechsjährigen Bun-desschatzbriefs mit dem üblichen 0,3-prozentigenZinsabschlag für den langfristig orientierten Anlegervon zum Beispiel 10 000 Euro ist selbstverständlichweniger attraktiv als der Erwerb einer Bundesanleihemit sechsjähriger Restlaufzeit zu banküblichen Gebüh-ren.Zusammengefasst: Die Einstellung des Vertriebsvon speziellen Privatkundenprodukten des Bundes istim öffentlichen Interesse erfolgt, und zwar weil dieKreditaufnahme des Bundes dadurch kostengünstigerwird. Das liegt im Interesse aller Steuerzahler – unddaher auch der privaten Anleger. Für Bestandskundenwerden alle bestehenden Einzelschuldbuchkonten vonder Finanzagentur bis zur Fälligkeit der darin verwal-teten Bundeswertpapiere fortgeführt. Eine Quersub-ventionierung des Privatkundengeschäfts auf Dauerwiderspräche dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Haus-haltsrechts und wäre auch nicht sinnvoll.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/12434, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/12062 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-nommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichMaurer, Herbert Behrens, Karin Binder, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEMoratorium für Hartz-IV-Sanktionen als ers-ten Schritt zu deren Überwindung– Drucksache 17/13130 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialesDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29917
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Lassen Sie mich zunächst ein paar kurze Sätze zuraktuellen Lage am Arbeitsmarkt sagen: Die sozialver-sicherungspflichtige Beschäftigung nimmt weiter zuund erreichte im vergangenen Jahr mit über 40 Millio-nen Beschäftigten den höchsten Stand aller Zeiten. DieArbeitslosigkeit sank mit 2,897 Millionen auf denniedrigsten Stand seit 20 Jahren. Trotz der aufgrunddes anhaltenden Winters zunächst noch ausbleibendenFrühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit dennochvon Februar auf März 2013 um 58 000 Personen auf3,089 Millionen gesunken. Die Arbeitslosenquote gingauf 7,3 Prozent zurück. In meinem Landkreis Würz-burg beträgt die Arbeitslosenquote zurzeit lediglich3 Prozent – im vergangenen Jahr lag sie sogar nochdarunter! Per Definition handelt es sich hierbei umVollbeschäftigung!Sie sehen, die Chancen für Langzeitarbeitslose sindderzeit so gut wie nie. Und ich will an dieser Stellenoch mal ganz klar betonen, dass sich die überwie-gende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiert zeigtund wieder in Arbeit kommen will. Die hier immer wie-der heftig diskutierten Sanktionen treffen nur einenkleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen. Im letztenJahr waren lediglich 3,5 Prozent aller Leistungsbe-rechtigten in Ostdeutschland und 3,3 Prozent in West-deutschland von Sanktionen betroffen. Zwar stieg dieZahl der Sanktionen im vergangenen Jahr insgesamtauf über 1 Million – in Anbetracht der Zahlen vermutetdie Bundesagentur für Arbeit aber, dass eine kleineGruppe mehrfach sanktioniert wurde.Der Anstieg im Vergleich zum Vorjahr ist auch aufden Anstieg von Meldeversäumnissen zurück-zuführen – zum Beispiel, wenn ein vereinbarter Terminim Jobcenter nicht eingehalten wurde. Sie stiegen auf705 000 und machten damit 70 Prozent aller Sanktio-nen aus. 13 Prozent der Sanktionen wurden wegen Ab-lehnung einer Beschäftigung, Ausbildung oder Bil-dungsmaßnahme ausgesprochen. 14 Prozent wurdenausgesprochen, weil sich Hartz-IV-Empfänger weiger-ten, Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung mitdem Jobcenter zu erfüllen, also beispielsweise wenninnerhalb einer bestimmten Zeit keine oder zu wenigeBewerbungen geschrieben wurden. Auch wenn Leis-tungsbezieher eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmenoder an einer Fortbildung nicht teilnehmen, müssensie mit Kürzungen rechnen.Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dasses bei der heutigen Debatte keinesfalls um die großeMehrheit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechenhier auch nicht über die Ahndung von vorsätzlichemBetrug, sondern von der Verletzung von Pflichten, wel-che der Gesetzgeber den Unterstützten völlig zu Rechtauferlegt hat. Wir diskutieren über diejenigen Men-schen, die in diesem Land zu Recht Hartz IV beziehen,aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungen er-hält, der muss sich in Kooperation mit seinem Arbeits-vermittler bzw. Fallmanager darum bemühen, mög-lichst rasch wieder eine Beschäftigung zu finden.Unsere Leitphilosophie, die die Kollegen der Frak-tion Die Linke stets zum Dämon der sozialen Kälte stili-sieren, heißt „Fördern und Fordern“. Dahinter stehtdie Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafür aber auchbei der Suche nach einem Job sehr nachdrücklich En-gagement und Eigeninitiative einzufordern. Eine Person,die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsitua-tion unterstützt wird, muss mithelfen, ihre Situationauch wieder zu verbessern.Auch diejenigen, deren Einkommen möglicherweisenur knapp über den Transferleistungen liegt, finanzie-ren mit ihren Abgaben diese Leistungen letztendlichmit. Daher sind wir bei der Verteilung von steuerfinan-zierten Fürsorgeleistungen auch ihnen in besonderemMaße verpflichtet.Nach dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GGhat der Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschen-würdiges Existenzminimum zu sichern. Dem sind wir– unter Bestätigung der Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts – mit der Neubemessung der Re-gelsätze auch nachgekommen. Wir tragen dafür Sorge,dass einem hilfebedürftigen Menschen die materiellenVoraussetzungen dafür zur Verfügung stehen, um seineWürde in Notlagen, die nicht aus eigenen Kräftenüberwunden werden können, durch materielle Unter-stützung zu sichern. Eine Person, die hilfebedürftig ist,weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützungder Gesellschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie aberauch alles daransetzen, um diese Hilfebedürftigkeit zubeenden und ihren Lebensunterhalt wieder selbst be-streiten zu können. Dass der deutsche Sozialstaat des-wegen eine „Disziplinierungsmaschine“ sein soll –liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DieLinke –, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.Die Ausgangslage war – wie bereits erwähnt – nochnie so gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wennnicht in einem konjunkturell guten Umfeld, wie wir esderzeit bei uns in Deutschland vorfinden, sollen Leis-tungsbezieher sonst den Schritt aus der staatlichen Ab-hängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenen wollendies doch auch und bemühen sich redlich, wieder inArbeit zu kommen – das stellt auch niemand in Abrede.Im Schnitt wurden die Leistungen um circa 115 Eurogekürzt, wobei die Kürzung nicht immer den Regelsatzbetraf, der bei 374 Euro lag. Teilweise wurden auchdie Leistungen für Unterkunft und Heizung oder fürden individuellen Mehrbedarf gekürzt. Der Kürzungs-betrag richtet sich nach einem Prozentsatz des maßge-benden Regelbedarfs. Die Minderung bzw. der Wegfallder Leistung dauert drei Monate. Doch selbst bei einerKürzung des Hartz-IV-Satzes ist der Bedarf für Ernäh-rung, Gesundheits- und Körperpflege in Form vonGutscheinen gesichert. Eine vorübergehende Herab-setzung des Regelsatzes widerspricht nicht den verfas-sungsrechtlichen Vorgaben.Natürlich ist es schmerzhaft, wenn man auf einenTeil seines Geldes verzichten muss, aber wenn jemandin unserem Land berechtigterweise Hartz IV bezieht,Zu Protokoll gegebene Reden
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29918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Paul Lehrieder
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hat er selbstverständlich auch Pflichten – das habe ichbereits ausgeführt. Solidarität beruht eben immer auchauf Gegenseitigkeit. Nur so kann unsere Gesellschaftfunktionieren. Die Solidargemeinschaft kann zu Rechterwarten, dass die angebotenen Hilfestellungen undChancen von den Betroffenen auch genutzt werden,was bei der Mehrheit der Arbeitslosen ja ohnehin derFall ist.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken,ein von Ihnen gefordertes Sanktionsmoratorium trägtnicht zum Eintritt bzw. Wiedereintritt in Beschäftigungbei – dies ist durch Studien hinreichend belegt. Hier-durch würden falsche Anreize gesetzt – weswegen wirIhre Forderungen als nicht zielführend erachten.Das Ziel von arbeitsmarktpolitischen Sanktionsin-strumentarien ist es, potenziellen Fehlanreizen im Ar-beitslosenversicherungs- oder Sozialhilfesystem ent-gegenzuwirken und somit zu gewährleisten, dass dieArbeitslosen mit den jeweiligen Angestellten von Ar-beitsagenturen bzw. Jobcentern zusammenarbeiten.Untersuchungen haben gezeigt, dass die Arbeitssuch-intensität nahezu aller Arbeitslosen im Vergleich zuSystemen ohne Sanktionen allein aufgrund einer mög-lichen Sanktionierung höher ist und Anspruchslöhnegeringer sind. Die Arbeitslosigkeitsdauer wird ver-kürzt. Verhängte Sanktionen in der Grundsicherungerhöhen demnach die Beschäftigungswahrscheinlich-keit der sanktionierten Personen. Es ist davon auszu-gehen, dass sich bei einem Wegfall von Sanktionen dieSuchanstrengungen der Leistungsempfänger verrin-gern.Ich plädiere an dieser Stelle noch einmal für diekonsequente Anwendung des bewährten Prinzips„Fördern und Fordern“. Bei der Wiedereingliederungin den Arbeitsmarkt sind wir am erfolgreichsten, wennalle Beteiligten konstruktiv und aktiv auf das gemein-same Ziel hinarbeiten.
Zum Thema Sanktionen im SGB II wurde bereits
vieles, wenn nicht alles gesagt. Wir haben allein in die-
ser Legislaturperiode bereits achtzehn Anfragen und
Anträge dazu diskutiert. Elf davon wurden allein von
der Fraktion Die Linke gestellt. Da wundert es nicht,
dass die vorliegende Initiative extrem dürftig ist: Der
Antrag besteht nur aus drei Sätzen. Trotzdem möchte
ich die Gelegenheit nutzen, um den Sachverhalt noch-
mals klarzustellen.
Sanktionen sind ein unverzichtbares Element der
Strategie des „Förderns und Forderns“. Dass diese
Strategie greift, ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist
aber auch, dass der Schwerpunkt ganz klar auf dem
„Fördern“ liegt. Die durch Sanktionen einbehaltenen
Geldleistungen summierten sich nach den Daten der
Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2012 auf knapp
200 Millionen Euro. Dem standen insgesamt 32,7 Mil-
liarden Euro an Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik ge-
genüber. Darunter waren allein 4,4 Milliarden Euro
für die aktive Arbeitsmarktpolitik bereitgestellt wor-
den. Wer also den Eindruck erweckt, der Sozialstaat
sei eine „Disziplinierungsmaschine“, wie im Antrag
aufgeführt, der erzeugt ein Zerrbild der Daten- und
Faktenlage.
In den vergangenen Jahren habe ich mehrere Job-
center besucht und zudem hier in Berlin viele Gesprä-
che mit Verantwortlichen geführt. Eins ist klar: Die
Mitarbeiter vor Ort sind bestens qualifiziert und hoch-
motiviert. Sie haben nur ein Ziel, nämlich die Arbeits-
losen wieder in Arbeit zu vermitteln und bei Bedarf zu
qualifizieren, um deren Vermittlungschancen zu erhö-
hen. Ein solches System kann aber nur funktionieren,
wenn alle Betroffenen mitarbeiten. In diesem Zusam-
menhang stellen die Sanktionen ein wichtiges Instru-
ment dar. Der Gedanke, bei Fehlverhalten zu sanktio-
nieren, ist ein grundsätzlicher Bestandteil unserer
Gesellschaft. Dieser Ansatz ist genau richtig, um jeden
Einzelnen zu motivieren und der Solidargemeinschaft
insgesamt gerecht zu werden.
Lassen Sie mich drei Argumente herausgreifen, die
von Ihnen immer wieder vorgetragen werden: Erstens.
Sie behaupten, Sanktionen seien nicht verfassungskon-
form. Dieses Argument ist schlicht falsch. Das Einfor-
dern von eigenen Anstrengungen zählt zu den Grund-
prinzipien bedarfsabhängiger und am Fürsorgeprinzip
orientierter Sozialleistungen und ist auch verfassungs-
rechtlich begründbar – vergleiche BSG, Urteil vom
9. November 2010 – B 4 AS 27/AS R.
Zweitens. Sie behaupten weiterhin, dass Menschen,
die mit Sanktionen belegt werden, nicht ausreichend
versorgt seien. Auch das ist falsch. Dazu verweise ich
auf § 31 a Abs. 3 SGB II. Dieser Paragraf beschreibt
die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenz-
minimums im Sanktionsfall. Auf Antrag können Sach-
leistungen zur Deckung des Bedarfs für Ernährung,
für Gesundheitspflege, Hygiene und Körperpflege ge-
währt werden. Sind zudem minderjährige Kinder im
Haushalt, werden diese Sachleistungen von Amts we-
gen erbracht.
Drittens. Sie vermitteln den Eindruck, als würden
sämtliche Grundsicherungsempfänger unter der Sank-
tionspraxis leiden. Das ist eine bewusste Täuschung,
denn Sie kennen die Sanktionsquoten sehr genau:
Mehr als 95 Prozent und damit die überragende Mehr-
heit der Leistungsempfänger hält sich an die Regeln
und ist nicht von Kürzungen betroffen.
Angesichts dieser Fakten sieht die CDU/CSU-Frak-
tion keinen Grund, den vorliegenden Antrag zu unter-
stützen.
Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag zur Bera-tung eingebracht, dessen Thema bereits vielfach Ge-genstand der politischen Auseinandersetzung war: dasSanktionssystem im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.Ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, dass die-ser Antrag in einem gewissen Zusammenhang mit derVeröffentlichung der Sanktionszahlen für 2012 steht,Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29919
Angelika Krüger-Leißner
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welche durch die Bundesagentur für Arbeit am10. April dieses Jahres veröffentlicht wurden. DieseZahlen sind auf den ersten Blick erschreckend, abersie sind auch zu hinterfragen.Ich finde, dieser Antrag sagt eine ganze Menge da-rüber aus, wie Die Linke mit statistischen Zahlen um-geht. So wie Schwarz-Gelb die Realität in diesem Landleugnet und sich eine schöne heile Welt malt – hier seiauf den Armuts- und Reichtumsbericht verwiesen –, somalen Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen derLinksfraktion, immer ein schwarzes, düsteres Bild vonDeutschland und hüllen die gesellschaftlichen Zu-stände in Tristesse und Ausweglosigkeit. Dieser undif-ferenzierte Blick lässt dann auch nicht die richtigeSchlussfolgerung zu.Lassen Sie mich auf die Sanktionszahlen für 2012zurückkommen: 1 024 600 neue Sanktionen – das hörtsich gewaltig an. Ein genauer Blick relativiert die Zahlaber schon wieder. Denn 2012 haben sich im Jahres-verlauf 96,6 Prozent aller rund 4,3 Millionen erwerbs-fähigen Leistungsberechtigten korrekt verhalten, ha-ben die Vereinbarungen eingehalten und wurden durchdie Jobcenter nicht sanktioniert. Lediglich 3,4 Prozentwurden im Jahresverlauf mit Sanktionen belegt. Dasist doch die richtige Schlussfolgerung aus der Statistikder Bundesagentur für Arbeit. Sie heißt: Die überwäl-tigende Mehrheit der Arbeitsuchenden kennt nicht nurihre Rechte, sondern nimmt auch ihre Pflichten wahrund bemüht sich aktiv, die Hilfebedürftigkeit zu been-den, eine Arbeit aufzunehmen oder in eine Fördermaß-nahme zu kommen. Denn diese Einstellung ist derSchlüssel zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitikund die Voraussetzung dafür, dass die Eingliederungs-maßnahmen und -instrumente wirken können.Erst seit den arbeitsmarktpolitischen Reformen derrot-grünen Bundesregierung gibt es den Grundsatz desFörderns und Forderns. Beides gehört zu einer erfolg-reichen Arbeitsmarktpolitik. Mit diesem Gedanken derHilfe zur Selbsthilfe haben wir viele Menschen vom so-zialen Rand in den Fokus der Förderung geholt und ih-nen Chancen zur Teilhabe eröffnet.Schwarz-Gelb hat den Gleichklang aus Fördern undFordern aber in Schieflage gebracht. Mit dem Strei-chen erfolgreicher arbeitsmarktpolitischer Instrumenteund dem Zusammenstreichen des Eingliederungstitelshat diese Regierung die Axt an die Arbeitsmarktförde-rung gesetzt. Erfolgreiche Programme wie der Grün-derzuschuss, der Ausbildungsbonus oder der Einglie-derungszuschuss für jüngere Arbeitnehmer sind keinePflichtleistung mehr oder ganz gestrichen und könnenihre vormals gute Wirkung nicht mehr entfalten. Daswar und ist unverantwortlich. Hier muss endlich um-gesteuert werden und der Gleichklang aus Fördernund Fordern wiederhergestellt werden. Vor dem Hin-tergrund der derzeit noch über 1,2 Millionen Langzeit-arbeitslosen müssen die staatlichen Anstrengungen ver-stärkt werden. Gerade für diese Zielgruppe ist daswichtig. Fakt ist: Derzeit reichen die Anstrengungennicht aus.Wir dürfen das Ziel, dass die Menschen ein selbst-bestimmtes Leben führen können, nicht aus den Augenverlieren. Das muss aber auch von beiden Seiten ge-wollt und ermöglicht werden. Arbeitsuchende, die sichaktiv daran beteiligen, ihre Hilfebedürftigkeit zu been-den, müssen auch aktiv unterstützt werden. Vorsätzli-che Verweigerung wiederholter Art und die Nichtan-nahme von geeigneten Angeboten müssen jedochsanktioniert werden können. Das Sanktionssystemganz abzuschaffen, würden wir darum nicht mittragenkönnen. Auch ein Moratorium fände nicht unsere Zu-stimmung.Jede Sanktion, die mit Repressionen einhergeht,lehnen wir aber ab. Darum bedarf das Sanktionssys-tem einer Überarbeitung. Die Sanktionsdauer von dreiMonaten ist zum Beispiel viel zu starr. Das Sanktions-system muss an einigen Stellen flexibler werden. Dennbei Eintritt der gewünschten Verhaltensänderung beimsanktionierten Arbeitssuchenden muss auch die Mög-lichkeit bestehen, die verhängte Sanktion umgehendaufheben zu können, damit positive Effekte erzielt wer-den können und es nicht ins Gegenteil umschlägt.Ferner gehört das verschärfte Sanktionssystem fürjunge Menschen unter 25 Jahren abgeschafft; das istunser klares Votum. Für dieses verschärfte System gibtes weder pädagogische noch fachliche Gründe. Essteht auch im klaren Widerspruch zu anderen Rechts-systemen, wie zum Beispiel dem Jugendstrafrecht, dasaus pädagogischen Gründen weichere Strafen für Ju-gendliche vorsieht. Die jungen Erwachsenen müssenfür die Mitwirkung gewonnen und hierzu motiviertwerden. Dazu bedarf es eben größerer Anstrengungenin der Arbeitsmarktpolitik. Schwarz-Gelb rennt abersehenden Auges in die falsche Richtung. Das ist jedochleider nichts Neues.Der uns vorliegende Antrag zielt zwar auf ein ge-wichtiges Thema ab, zieht jedoch die falschenSchlüsse. Einer sanktionsfreien Grundsicherung stim-men wir nicht zu. Wir stehen zu dem von uns mit einge-führten Gleichklang des Förderns und Forderns undden daraus erwachsenden Rechten und Pflichten – dasgehört zusammen. Das gilt übrigens auch für anderegesellschaftliche Bereiche.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke for-dert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurfvorzulegen, der ein Moratorium für die Sanktionen imZweiten Buch Sozialgesetzbuch in Kraft setzt. Diesevon der Fraktion Die Linke angestrebte gesetzliche Re-gelung zur Aussetzung der Sanktionen soll den erstenSchritt zur – wie es im Antrag heißt – „Abschaffungdes Hartz-IV-Sanktionssystems“ markieren.Wie die Bundesagentur für Arbeit mitgeteilt hat,wurden im Kalenderjahr 2012 rund 1 024 600 Sanktio-nen gegenüber erwerbsfähigen leistungsberechtigtenPersonen ausgesprochen. Im Vergleich zum Kalender-jahr 2011 entspricht dies einer Steigerung von circa11 Prozent. Die Sanktionen wurden in der überwiegen-Zu Protokoll gegebene Reden
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29920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Sebastian Blumenthal
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den Zahl wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen– circa 705 000 –, was einem Anteil an der Gesamtzahlder Sanktionen von rund 70 Prozent gleichkommt.Rund 13 Prozent der Sanktionen waren in Ablehnun-
Nichteinhaltung der in der Eingliederungsvereinba-rung vereinbarten Pflichten.Die Zahl von 1 024 600 mag zunächst sehr hoch er-scheinen – dementsprechend titelten auch die Vertreterder Printmedien zum Beispiel „Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger erreichen Rekordwert“ wie „Die Zeit“oder auch „Rekordstand bei Hartz-IV-Sanktionen”wie der „Stern“: Tatsächlich muss dieser „Rekord-wert“ sehr differenziert betrachtet werden: Im Durch-schnitt des Kalenderjahres 2012 wurden gegenüberrund 150 300 erwerbsfähigen LeistungsberechtigtenSanktionen ausgesprochen. Das entspricht einem An-teil von lediglich 3,4 Prozent aller erwerbsfähigen Lei-stungsberechtigten. Sowohl dieser geringe Anteil alsauch der Anteil der Sanktionen wegen Meldeversäum-nissen zeigt auf, dass es keine ausgeprägte Neigungder Arbeitsuchenden gibt, vorgeschlagene Arbeit ab-zulehnen. BA-Vorstand Heinrich Alt hat sehr treffenddargestellt, dass eine positive Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt und eine höhere Betreuungsintensität inden Jobcentern sich auf die Zunahme der ausgespro-chenen Sanktionen ausgewirkt haben: Wenn mehr Ar-beitsangebote gemacht und mehr Beratungstermineanberaumt werden, erfolgen auch mehr Meldever-säumnisse.Es bleibt – wie schon erläutert – dabei: Der geringeSanktionsanteil von 3,4 Prozent dokumentiert, dass dieüberwiegende Mehrheit der Arbeitsuchenden – über96 Prozent! – die rechtlichen Vorgaben einhält unddass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in denJobcentern nicht leichtfertig mit Sanktionsmaßnahmenumgehen. Das ist für uns Liberale der richtige Weg.Wer in eine Notsituation geraten ist, muss sich auf so-lidarische Unterstützung verlassen können. Solidaritätberuht aber immer auf Gegenseitigkeit.Die Linke fordert in ihrem Antrag jedoch eine Auf-hebung des Solidarprinzips, indem die Unterstützungin jedem Fall in voller Höhe erfolgen muss – unabhän-gig davon,ob eine leistungsberechtigte Person sich andie rechtlichen Vorgaben hält oder nicht.Diese Forderung lehnen wir ab. Insofern werdenwir von der FDP-Fraktion auch den Antrag der Frak-tion Die Linke ablehnen.
Mit großem Erstaunen haben wir das Märchen vonJürgen Trittin zur Kenntnis genommen, dass die Grü-nen schon immer für einen Mindestlohn gewesen seinwollen. Sie konnten ihn damals unter der Schröder/Fischer-Regierung aber aufgrund der Blockadehal-tung der SPD nie durchsetzen. Diese Märchen hat sichals Lüge herausgestellt.Mit großem Erstaunen nehmen wir nun zur Kennt-nis, dass die Grünen ein weiteres Märchen erfinden.Sie sind für ein Moratorium der Hartz-IV-Sanktionenund versuchen so, gerade noch rechtzeitig vor demWahlkampf den Eindruck zu erwecken, sie seien gegendie Hartz-IV-Sanktionierungen. Jürgen Trittin undKatrin Göring-Eckardt erkennen in „Die Zeit“ vom13. März 2013: Der deutsche Sozialstaat wurde im Be-wusstsein der Menschen zu einer Disziplinierungsma-schine.Das ist ja schon einmal was. Sie fahren fort: „DasGefühl, von sozialem Abstieg bedroht zu sein, reichtheute bis weit in die gut gebildete Mittelschicht.“ AlsKonsequenz daraus fordern sie ein Moratorium für dieHartz-IV-Sanktionen. Das fordert Die Linke ebenso.Aber wir gehen weiter und fordern das als erstenSchritt der Überwindung der Hartz-IV-Sanktionen.Wenn Sie schon feststellen, dass der Wahlkampf naht,ziehen Sie die richtigen Konsequenzen, stimmen Sieder Forderung der Linken zu, und stimmen Sie gegendie menschenverachtende Sanktionierungsmaschinevon Hartz IV! Bekennen Sie endlich einmal Farbe, undsagen Sie, wie Sie es mit Hartz-IV-Sanktionen undHartz IV in Wirklichkeit halten!Wie wollen Sie sich im Übrigen nach der Wahl ver-halten? Sie führen Seite an Seite mit der SPD IhrenBundestagswahlkampf. Was ist denn von den Lager-parteien SPD und Grüne nach der Wahl zum ThemaHartz IV zu erwarten? Die SPD kann sich ja nicht ein-mal zu einem Moratorium der Hartz-IV-Sanktionie-rung durchringen. Setzen Sie sich, liebe Grüne, nachder Bundestagswahl für die Menschen ein, die unterdiesem Hartz-System leiden, oder geben Sie ihre Hal-tung zur Hartz-IV-Sanktionierung nach der Wahl wie-der einfach auf?Gerade vorletzte Woche verstarb in Reinickendorfin einer Wärmestube eine 67-jährige schwerbehin-derte Frau wenige Tage nach der Zwangsräumung ih-rer Wohnung. Die Zwangsräumung war juristischdurch die von Ihnen damals eingeführte Hartz-Gesetz-gebung gedeckt, da die Frau Mietrückstände hatte;aber wo bleibt der Mensch? Gestehen Sie sich bitteIhre Fehler ein, die Sie damals mit der Einführung derHartz-IV-Gesetze begangen haben, und streiten Sie ander Seite der Linken und der Menschen wieder für de-ren Abschaffung!Durch die Hartz-IV-Gesetzgebung werden Men-schen zu Menschen dritter Klasse degradiert. Gesetzesollen für Menschen sein, nicht gegen sie. SelbstHeinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur fürArbeit, konstatierte kürzlich: „Nur Lebenskünstlerkönnen von Hartz IV leben.“Am Montag dieser Woche wurde Inge Hannemann,eine Mitarbeiterin der Bundesagentur für Arbeit inHamburg, bis auf Widerruf freigestellt, weil sie sichweigerte, den Sanktionswahn der ARGE durchzupeit-schen. In ihrem Brandbrief an die Bundesagentur fürArbeit stellt sie die Frage: „Wie viele Tote, Geschä-Zu Protokoll gegebene Reden
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Ulrich Maurer
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digte und geschändete Hartz-IV-Bezieher wollen Sienoch auf Ihr Konto laden? Wie viele Dauerkranke,frustrierte und von subtiler Gehirnwäsche geprägteMitarbeiter wollen Sie in Ihrem Konstrukt ‚Jobcenter-maschine‘ durchschleusen?“ Diese Frage, liebe Kol-leginnen und Kollegen, sollten Sie sich alle in diesemHaus stellen, wenn Sie über unseren Antrag abstim-men.Belassen Sie es nicht bei Ihren Wahlkampf-Mär-chen, sondern entscheiden Sie sich endlich, Politikfür die Menschen zu machen! Bekennen Sie Farbe,und stimmen Sie unserem Antrag „Moratorium fürHartz-IV-Sanktionen als erster Schritt zu deren Über-windung“ zu!
Wir Grünen fordern seit langem ein Sanktions-
moratorium. Die geltenden Sanktionsregeln sind un-
differenziert, unflexibel und wirken oft kontraproduk-
tiv. Insbesondere das verschärfte Sanktionsrecht für
unter 25-Jährige gehört sofort abgeschafft. Für junge
Menschen gelten derzeit viel härtere Regeln als für äl-
tere Arbeitsuchende. Das ist nicht nur verfassungs-
rechtlich bedenklich: Das führt Jugendliche ins Aus
statt in Arbeit.
Wir stellen fest: Die versprochene Balance zwischen
Fördern und Fordern gibt es nicht. Unter Bundes-
ministerin von der Leyen wurden die Mittel für die
aktive Arbeitsmarktpolitik überproportional stark ge-
kürzt. Zeitgleich sind die Zahlen der Sanktionen auf
ein Rekordhoch gestiegen. Von einem Verhältnis auf
Augenhöhe zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern
kann unter diesen Bedingungen keine Rede sein.
Im Jahresdurchschnitt 2012 waren monatlich
150 300 Menschen von Sanktionen betroffen. Gegen-
über dem Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von
11 Prozent. 70 Prozent der Sanktionen wurden wegen
Meldeversäumnissen ausgesprochen.
In Niedersachsen, wo ich herkomme, ist die Anzahl
der verhängten Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger
2012 sogar um 19 Prozent gegenüber 2011 und um
56 Prozent gegenüber 2009 gestiegen. Auch deshalb
macht sich die rot-grüne Landesregierung Niedersach-
sens ebenfalls für ein Sanktionsmoratorium stark und
hat eine entsprechende Bundesratsinitiative angekün-
digt.
Die gestiegene Anzahl an Sanktionen ist auch des-
halb besonders bedenklich, weil davon häufig auch
Angehörige betroffen sind, die gar keine Pflichtverlet-
zung begangen haben. Die enorme Zunahme bei den
Sanktionen liegt vor allem im System begründet und
hat nur selten etwas mit Missbrauch zu tun.
Arbeitsuchende brauchen eine passgenaue Unter-
stützung. Dazu gehören gute Betreuung, Beratung und
Qualifizierungsangebote. Motivation und Bestärkung
sollten im Mittelpunkt stehen; bürokratische Zumutun-
gen und Gängelungen müssen endlich fairen Spiel-
regeln weichen. Die persönlichen Ansprechpartner in
den Jobcentern müssen in die Lage versetzt werden, ei-
nen nachhaltigen und auf die individuellen Stärken
und Schwächen der Arbeitslosen abgestimmten Plan
zu entwickeln, der die Menschen wieder in Arbeit brin-
gen kann. Dies muss partnerschaftlich und auf Basis
eines Vertrauensverhältnisses geschehen. In diesem
Prozess haben weder Scheinangebote zur Überprü-
fung der Arbeitsbereitschaft noch Sanktionsandrohun-
gen und -automatismen Platz.
Was wir brauchen, ist ein qualifiziertes, individuel-
les und umfassendes Fallmanagement. Arbeitsuchende
müssen die Möglichkeit haben, aus verschiedenen
Maßnahmen ein passgenaues Angebot auszuwählen.
All das ist im Moment leider nicht gewährleistet.
Daher fordern wir Grünen, die Rechte der Arbeits-
losen zu stärken. Auch die verstärkten Zumutbarkeits-
regeln müssen korrigiert werden. Insbesondere für
junge Menschen unter 25 Jahren sind Regelungen not-
wendig, die ihrer Entwicklung gerecht werden und
nicht zu starr sind. Dafür brauchen wir gut ausgestat-
tete Jobcenter mit einem besseren Fallmanagement
und unabhängige Ombudsstellen, die bei Konflikten
vermitteln. Die hohen Erfolgsquoten von Widersprü-
chen und Klagen gegen Jobcenterentscheide zeigen,
dass hier ein enormes Verbesserungspotenzial liegt. Es
gibt bereits Jobcenter, die mit Ombudsstellen gute
Erfolge erzielen; daraus kann ein Erfolgsmodell für
alle entstehen.
Ein Sanktionsmoratorium ist also ein notwendiger
Schritt, bis die Rechte der Arbeitsuchenden nachhaltig
und umfassend gestärkt worden sind und die Arbeits-
bedingungen und die Ausstattung in den Jobcentern
stimmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dieser Tage geht der Euphorietaumel um. Bejubeltwird die Agenda 2010. Bundespräsident JoachimGauck lobt Altkanzler Gerhard Schröder für „blei-bende Verdienste“ und findet „die Balance von För-dern und Fordern in der Sozialpolitik sehr wichtig“.Denn: „Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir zu wenigvon uns verlangen.“ Der Grundsatz, von dem die Redeist, lautet „Fördern und Fordern“. Er ist oberstesPrinzip der Hartz-IV-Leistungsvergabe und bedeutet:keine Leistung ohne Gegenleistung. Die Befürworterder Agenda 2010 vergessen einen anderen Grundsatz.Er ist oberstes Prinzip unserer Verfassung und lautet:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Prinzipdes „Förderns und Forderns“ kann für die Garantiedes Existenzminimums keine Geltung beanspruchen.In einem Sozialstaat ist es verfassungsrechtlich ausge-schlossen, die Existenz nur denjenigen zuzugestehen,die im Gegenzug gehorchen. Das ergibt sich auch ausder Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.Mit seiner Entscheidung zu Hartz IV hat das Gerichtein Grundrecht auf ein Minimum staatlicher Leistunggeschaffen: das Existenzminimum. Es umfasst denunbedingt notwendigen Bedarf des Einzelnen zum phy-sischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaft-Zu Protokoll gegebene Reden
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29922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Wolfgang Nešković
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lichen, kulturellen und politischen Leben. Das Exis-tenzminimum muss in jedem Fall und zu jeder Zeitsichergestellt sein.Dieses Verständnis der Menschenwürdegarantierespektiert die Bundesregierung jedoch nicht. „EinePerson, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit fin-det, kann mit der Unterstützung der Gemeinschaftrechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, umihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen“, be-gründet die Regierungskoalition die Leistungskürzun-gen bei Hartz IV. „Wiederholte Verstöße gegen dieSelbsthilfeobliegenheit führen daher folgerichtig zuverstärkten Sanktionen“, schreibt die Bundesregie-rung auf eine Kleine Anfrage. Über 1 Million dieserSanktionen verhängten die Jobcenter in den vergan-genen zwölf Monaten, mehr als je zuvor. Über 10 000Leistungsberechtigte waren im Jahresdurchschnitt2011 „vollsanktioniert“, ihnen wurde im Sanktions-zeitraum kein einziger Euro ausgezahlt. Obwohl siebedürftig sind. Obwohl sie vielleicht von Obdachlosig-keit bedroht sind oder hungern. Aus einem einzigenGrund: weil sie nicht gehorchen. Das ist gerecht,könnte man meinen, wer – noch – einen Job hat, arbei-tet schließlich auch für sein Geld. Es überlebt nur, weretwas dafür tut. Das ist die Gerechtigkeit einer Leis-tungsgesellschaft.Doch es gibt einen Haken. Denn es gibt noch eineandere Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit des Sozial-staats. Sie geht von der gleichen Würde aller Men-schen aus. Gleich, ob sie stark sind oder schwach. Be-reits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißtes: „Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen isteine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmtden Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei esnun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, wel-che arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zu-sichert.“ Im Unterschied zur freien Konkurrenz allergegen alle sind die Menschenwürde und der Sozial-staat auf ewig im Grundgesetz niedergeschrieben. Siemarkieren die Grenze, die in Deutschland nie wiederüberschritten werden darf. Jedes politische und wirt-schaftliche System muss diese Werte achten. Das kannman begrüßen oder ablehnen, ändern kann man esnicht. Weder das „Volk“ noch eine Regierung. Auchder Einzelne kann auf seine Menschenwürde nicht ver-zichten. Die Würde des Menschen kann auch durch dieNichterbringung staatlicher Leistungen verletzt wer-den. Wenn die Menschenwürde des Besitzenden unddes Besitzlosen gleich wiegen, kommt es nicht daraufan, ob dem einen sein Brot genommen oder dem ande-ren keines gegeben wird. In beiden Fällen hungert einMensch. Der Philosoph Ernst Bloch hat vom „aufrech-ten Gang“ gesprochen. Aufrecht gehen kann derMensch nur, wenn er sowohl von Entrechtung undBevormundung als auch von Not und Elend frei ist.Unser Grundgesetz nennt es die Verpflichtung allerstaatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten undzu schützen.Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 inFortführung seiner bisherigen Rechtsprechung ent-schieden, dass die Leistungen nach dem Asylbewer-berleistungsgesetz evident unzureichend sind. Danachoffenbart „ein erheblicher Abstand von einem Drittelzu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften BuchSozialgesetzbuch … ein Defizit in der Sicherung dermenschenwürdigen Existenz“. Entsprechendes mussauch für die Sanktionen bei Hartz IV gelten. Für dieHöhe der staatlichen Leistung muss der Bedarf einesMenschen entscheidend sein. Ihn auszurechnen und zugarantieren, ist Sache des Gesetzgebers; ihn zu be-schneiden, nicht. Das Existenzminimum muss bei glei-chem Bedarf stets gleichermaßen gewährt werden. Dernotwendige Bedarf sinkt nicht dadurch, dass jemandeine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Er sinkt auchnicht, wenn jemand sich nicht regelkonform verhält.Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zurelativieren“. Sie ist auch arbeitsmarktpolitisch nichtzu relativieren. Nicht nur fleißige Arbeitslose, die täg-lich Bewerbungen schreiben und jede unterbezahlteArbeit annehmen, haben das Recht auf eine menschen-würdige Existenz, sondern auch Menschen, die sichder Zusammenarbeit mit den Behörden entziehen, Per-sonen ohne Aufenthaltstitel oder Strafgefangene.Ebenso, wie sie beispielsweise ein Recht auf Leben undkörperliche Unversehrtheit haben.Solange eine staatliche Leistung „freiwillig“ er-bracht wird, ist das Prinzip des „Förderns und For-derns“ eine Frage der politischen Beliebigkeit. Dochim Bereich der unantastbaren Menschenwürde hat esnichts zu suchen; denn dort besteht eine unbedingtestaatliche Leistungspflicht. Das Prinzip der Bundes-regierung „Tausche Gehorsam gegen Existenz“ istverfassungswidrig. Soziale Grundrechte sind unver-käuflich und nicht verhandelbar. Die Abhängigkeit ei-nes Menschenrechts von Bedingungen bedeutet inWirklichkeit seine Einschränkung. Menschenrechtestehen jedoch nicht im Ermessen einer Regierung odereines Sachbearbeiters im Jobcenter.Ein Sanktionsmoratorium, wie hier von der Linkengefordert, ist eine Minimalforderung. Die §§ 31 ff.SGB II gehören abgeschafft. Doch die Mehrheit imBundestag befürwortet weiterhin den Verfassungs-bruch. Wieder einmal wird es das Bundesverfassungs-gericht sein, das irgendwann einschreitet. Bis dahinwerden weiter Sanktionen verhängt, die Menschen innoch mehr Not und Armut stürzen. Bis dahin wird dieMenschenwürde tagtäglich verletzt.Wir könnten dem Einhalt gebieten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/13130 an den Ausschuss für Arbeit undSoziales vorgeschlagen. – Es gibt keine Einwände. Dannverfahren wir so.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29923
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MemetKilic, Dr. Konstantin von Notz, Viola vonCramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN1. zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Ratesüber ein Einreise-/Ausreisesystem
zur Erfassung der Ein- und Ausreisedatenvon Drittstaatsangehörigen an den Außen-grenzen der Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union
2. zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Ratesüber ein Registrierprogramm für Reisende
3. zu dem Vorschlag für eine Verordnung zurÄnderung der Verordnung Nr. 562/2006 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/Ausreisesystems und des Programmsfür registrierte Reisende
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über dieZusammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenheitender Europäischen UnionSmart-Borders-Paket ablehnen– Drucksache 17/13236 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Auswärtiger AusschussAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
Der Schutz der Außengrenzen der EuropäischenUnion ist eine der wichtigsten politischen, aber auchfaktischen Aufgaben zum Erhalt des Raums der Frei-heit, der Sicherheit und des Rechts. Erst durch ihn wirdein Wegfall der Binnengrenzen möglich.Gemäß Art. 77 Abs. 1 AEUV ist durch die Europäi-sche Union eine Politik zu entwickeln, die schrittweiseein integriertes Grenzschutzsystem an den Grenzeneinführt und die eine Personenkontrolle und die wirk-same Überwachung des Grenzübertritts an den Außen-grenzen sicherstellt.Das Europäische Parlament und der Rat können ge-mäß Art. 77 Abs. 2 AEUV Maßnahmen erlassen, diedie gemeinsame Politik in Bezug auf Visa und anderekurzfristige Aufenthaltstitel und die Kontrollen, denenPersonen beim Überschreiten der Außengrenzen un-terzogen werden, betreffen. Auch können Maßnahmenzur schrittweisen Einführung eines integrierten Grenz-schutzsystems an den Außengrenzen getroffen werden.Gestützt auf die vorgenannten Rechtsgrundlagenhat die Europäische Kommission am 28. Februar 2013unter dem Titel „Smart Borders“ ein ganzes Bündel anMaßnahmen für den besseren Schutz der Außengren-zen der EU vorgestellt. Die vorgestellten Verordnungs-entwürfe sollen den Einsatz von neuen Technologienan den EU-Außengrenzen befördern und Bürgerinnenund Bürgern aus Drittländern, die in die EU einreisenwollen, einen reibungsloseren und rascheren Grenz-übertritt ermöglichen. Zugleich soll durch die Einfüh-rung der neuen Technologien auch eine Verbesserungder Sicherheit erreicht werden. Irreguläre Grenzüber-tritte sollen verhindert und Überschreitungen der zu-lässigen Aufenthaltsdauer in der EU schneller aufge-deckt werden.Hierfür gibt es ausweislich der von der EU-Kom-mission vorgestellten Zahlen auch einen erheblichenBedarf. Vorsichtigen Schätzungen zufolge liegt dieZahl der irregulären Zuwanderer in die EU zwischen1,9 und 3,8 Millionen. Dabei wird davon ausgegangen,dass die Mehrheit der irregulären Zuwanderer soge-nannte Overstayer sind, also Personen, die für einenKurzaufenthalt legal – erforderlichenfalls mit einemgültigen Visum – in die Europäische Union eingereistsind, dann jedoch nach Ablauf der zulässigen Aufent-haltsdauer nicht wieder ausgereist sind. Die Gesamt-zahl der aufgegriffenen irregulären Zuwanderer beliefsich in der EU für das Jahr 2010 auf 505 220 Men-schen. Der überwiegende Teil der Overstayer wird so-mit in den Mitgliedstaaten derzeit nicht aufgegriffen.Es ist daher zu begrüßen, dass die EuropäischeKommission sich des Themas der illegalen Zuwande-rung und der Verbesserungen der Grenzkontrollen an-nimmt und versucht, angemessene Lösungen zu finden.Sie folgt damit im Übrigen nicht nur den Zielsetzungendes Stockholmer Programms, sondern auch demausdrücklichen Wunsch des Europäischen Rates vom23. und 24. Juni 2011, der sich für „intelligente Gren-zen“ in Europa ausgesprochen hatte.Für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenmit ihrem eingebrachten Antrag geforderte Blockade-haltung der Bundesregierung gegenüber dem Maß-nahmenpaket besteht somit aus meiner Sicht keinAnlass. Das Gegenteil ist der Fall. Das Thema der il-legalen Zuwanderung kann man nicht einfach ignorie-ren oder bagatellisieren, sondern wir müssen uns aufeuropäischer Ebene sowohl Gedanken zu den erfor-derlichen Rechtsgrundlagen als auch Gedanken zurtechnischen Umsetzung für einen besseren Grenz-schutz machen.Mit der Übernahme des „Schengen-Besitzstandes“in das Gemeinschaftsrecht und dem Erlass mehrerergemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte im Bereich derVisapolitik hat der europäische Gesetzgeber von denihm zugewiesenen Kompetenzen hierzu bereits umfas-send Gebrauch gemacht. Hervorzuheben sind hierbei
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29924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Stephan Mayer
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insbesondere das Visainformationssystem und der Da-tenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visafür einen kurzfristigen Aufenthalt sowie die im Jahr2011 verabschiedete Verordnung über einen Visako-dex.Die vorgestellten Verordnungsentwürfe schließensich nun unmittelbar an die bisher bereits verabschie-deten Maßnahmen in diesen Bereichen an. Ebenso wiedie bereits existierenden Maßnahmen schlagen auchsie den Weg hin zu mehr Mobilität und Sicherheit ein.Ich darf daher für meine Fraktion sagen, dass wirdas vorgelegte Maßnahmenpaket grundsätzlich begrü-ßen. Allerdings könnte man sich durchaus an der einenoder anderen Stelle auch weiter reichende Regelungenvorstellen.Neben dem von der EU-Kommission vorgesehenenEinreise-/Ausreisesystem und dem Registrierpro-gramm für Reisende könnte die vorgestellte Initiativenoch um zwei weitere Komponenten erweitert werden.Zum einen könnten die Grenzkontrollen insgesamt aufein automatisches System umgestellt werden, welchesdann auch nicht nur Drittstaatsangehörige, sondernauch Unionsbürger erfasst. Zum anderen haben dieErfahrungen der USA mit dem neuen elektronischenReisegenehmigungssystem gezeigt, dass dieses erheb-liche Vorteile bei der Sicherheitsüberprüfung einzelnerPersonen haben kann. Es wäre somit zu diskutieren, obdie Einführung eines vergleichbaren Systems auch fürdie Europäische Union von Vorteil wäre. Angesichtsdes zunehmenden Wegfalls von einzelnen Visabestim-mungen könnte es insofern zumindest einen Teilaus-gleich hierfür bieten.Unabhängig von einer möglichen Erweiterung dervorgeschlagenen Komponenten stellen sich aber auchFragen zur technischen und datenschutzrechtlichenUmsetzung der bereits in den Verordnungen angeleg-ten Maßnahmen. Warum sollte das EES nicht bereitsvon Beginn an auch auf biometrische Daten zugreifen?Entsprechende technische Systeme sind bereits entwi-ckelt und beispielsweise bei der Einreise nach Groß-britannien im Einsatz. Sicherlich wird es den einenoder anderen Mitgliedstaat geben, der vor entspre-chenden Investitionen derzeit noch zurückschreckt,aber letztlich werden die sich ständig weiterentwi-ckelnden technischen Möglichkeiten einen solchenSchritt sowieso erfordern. Auch Fragen der Zugriffs-rechte und des Datenschutzes auf die im Einreise- undAusreisesystem gespeicherten Daten sind im parla-mentarischen Verfahren noch zu diskutieren.Die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ver-tretene Auffassung, dass es sich bei der Speicherungvon Daten von Drittstaatsangehörigen um eine anlass-lose Speicherung von personenbezogenen Datenhandle, vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen.Schließlich erfolgt die Überprüfung und Speicherungder personenbezogenen Daten eben sehr wohl anlass-bezogen. Anlass ist die Ein- bzw. Ausreise aus derEuropäischen Union. Auch bisher werden bei Grenz-übertritten entsprechende personenbezogene Datenerhoben und auf ihre Korrektheit hin überprüft.Darüber hinaus erfolgt die Teilnahme am Registrier-programm ausdrücklich freiwillig.Aus datenschutzrechtlicher Sicht wird aber in derTat zu prüfen sein, wie sich die geplanten neuen Daten-banken zu bereits existierenden Datenbanken mit per-sonenbezogenen Daten von Ein- und Ausreisendenverhalten. Mögliche Synergieeffekte sollten gehobenund Doppelerhebungen und -speicherungen vermie-den werden.Beim geplanten Registrierprogramm für Reisendestellen sich aber auch einige technische Fragen, die esnoch im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zuklären gilt. Insbesondere der Mehrwert der Ausgabeeines Tokens sollte aus meiner Sicht noch einmal hin-terfragt werden. Zur Verifizierung der Identität der re-gistrierten Reisenden könnte auch ausschließlich aufeinen vorhandenen E-Pass zurückgegriffen werden.Dies hätte zudem den Vorteil, dass eine zentrale Spei-cherung von biometrischen Merkmalen entfallenkönnte. Ein sicherlich aus datenschutzrechtlicher Sichtwünschenswertes Szenario.Generell gilt für die Umsetzung des Registrierpro-gramms für Reisende, dass auf zusätzliche manuelleDateneingaben so weit wie möglich verzichtet werdensollte, um die Grenzkontrollprozesse nicht zu verzö-gern. Schließlich soll auch nach der Einführung derneuen Systeme eine schnelle und zuverlässige Ein- undAusreise in die Europäische Union möglich sein.Sie merken, es gibt noch viele offene Fragen undThemen, die ausführlich diskutiert werden sollten, be-vor das Smart-Borders-Paket auch tatsächlich in Krafttreten kann. Wir stehen somit erst am Anfang des Dis-kussionsprozesses.Es ist daher auch nicht verwerflich, wenn die Bun-desregierung in ihrer Antwort vom 20. März 2013darauf hinweist, dass sie noch keine abschließendePosition zu den Vorschlägen der EU-Kommission er-arbeitet hat. Im Gegenteil, dies zeugt nur von einersehr sorgfältigen Prüfung des vorgeschlagenen Maß-nahmenpakets, und dies ist mit Sicherheit im Interessealler Beteiligter.Es gilt somit, in den nächsten Monaten offen und inkonstruktiver Art und Weise über die aufgezeigten Fra-gen zu diskutieren. Die entsprechende Ratsarbeits-gruppe hat ihre Arbeit Anfang April aufgenommen,und ich bin zuversichtlich, dass sie zügig arbeitenwird.Viele andere Mitgliedstaaten haben sich bereits beieinem ersten Termin grundsätzlich für eine weitereVerbesserung der Grenzkontrollen und der eingesetz-ten Technologien und Systeme ausgesprochen.Eine schlichte Ablehnung der Vorschläge der EU-Kommission, so wie von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit ihrem Antrag gewünscht, kommt daher füruns nicht in Betracht.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29925
Stephan Mayer
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Aus populistischen Gründen mag so etwas zwar op-portun sein. Einschlägige Webseiten von Abgeordne-ten des Europäischen Parlaments, die bildlich aufGrenzbefestigungen eintreten, entsprechen aber mitSicherheit nicht verantwortungsvoller europäischerInnen- und Rechtspolitik und auch nicht einem demo-kratischen Miteinander.Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein-gebrachte Antrag darf daher aus meiner Sicht keineUnterstützung in diesem Hohen Hause finden.
Wir beraten einen Antrag unserer Kolleginnen undKollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,der das Thema Smart Borders – intelligente Grenzen –zum Inhalt hat. Was kann man sich darunter vorstel-len?Die Europäische Kommission hat Ende Februardieses Jahres ein Verordnungspaket vorgelegt, das so-wohl eine Verordnung über ein EU-Registrierungspro-gramm für Reisende als auch eine Verordnung über einEinreise-/Ausreisesystem der EU und eine entspre-chende Anpassung des Schengener Grenzkodexes ent-hält.Mit dem Registrierungsprogramm für Reisende sollvorher sicherheitsüberprüften Vielreisenden aus Dritt-ländern die Einreise in die EU durch vereinfachteGrenzkontrollen erleichtert werden. Dabei werdenan wichtigen Grenzübergängen automatische Grenz-kontrollsysteme eingesetzt. Diese ermöglichen eineschnellere Abfertigung der vorher registrierten Rei-senden, insbesondere von Geschäftsreisenden, Studie-renden oder Menschen mit Verwandten in der EU.Mit dem zweiten Verordnungsvorschlag, dem Ein-reise- und Ausreisesystem, sollen Einreise und Aus-reise von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außen-grenzen erfasst werden. Zusätzlich dazu soll eineDatenbank eingerichtet werden, die Zeit und Ort derEin- und Ausreise dokumentiert. Dann wird die zuläs-sige Dauer des Kurzaufenthalts automatisch berech-net. Die lokalen Sicherheitsbehörden werden gewarnt,wenn nach Ablauf der zulässigen Frist noch keine Aus-reise erfolgt ist. Das bisherige System mit Stempeln inPässen soll damit ersetzt werden. Das System der in-telligenten Grenzen soll 2017/2018 in Betrieb gehen.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiert indem vorliegenden Antrag die Verordnungsvorschlägeund fordert die Bundesregierung auf, sich bei den Ver-handlungen dafür einzusetzen, dass alle drei Verord-nungen abgelehnt werden.Grundsätzlich ist ein Entry-Exit-System gerechtfer-tigt. Die Reisebewegungen in die Europäische Unionwerden sich erhöhen; insofern ist es auch nachvoll-ziehbar, dass darauf reagiert wird. Das Einreisesystemfür Vielreisende zu vereinfachen, ist ein begrüßenswer-ter Vorschlag. Reiseerleichterungen begründen auchwirtschaftliche Vorteile.Ich kann die datenschutzrechtlichen Bedenken mei-ner Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen durchaus nachvollziehen. Ob es tat-sächlich so kommt, wie erwartet, werden wir sehen.Die geplante Speicherung von Fluggastdaten, die inder Konferenz der Innen- und Justizminister so sehrbegrüßt wurde, ist schließlich gestern im Innenaus-schuss des Europäischen Parlaments abgelehnt wor-den. Hier konnte ein Sieg für die Bürgerrechte errun-gen werden.Die Datenschutzfragen im vorliegenden Fall sindim weiteren Verfahren sehr genau zu prüfen. WennNachbesserungsbedarf besteht, müssen entsprechendeÄnderungen erfolgen. Eine starke Demokratie fußt aufklaren Werten – nicht auf totaler Überwachung.Hartfrid Wolff (FDP):Das geplante EES soll bei Kurzaufenthalten vonDrittstaatsangehörigen die automatisierte Überwa-chung der zulässigen Aufenthaltsdauer erleichtern, diemanuelle Stempelung der Reisepässe ersetzen und auto-matisierte Grenzkontrollverfahren für bestimmte Dritt-staatsangehörige ermöglichen, über die Erfassung vonFingerabdruckdaten bei der Einreise zur Identifizie-rung von Personen beitragen, die die Voraussetzungenfür die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaa-ten oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehrerfüllen, und zwar insbesondere dann, wenn die Be-troffenen nicht im Besitz ihrer Reisedokumente odersonstiger Ausweispapiere sind, sowie die statistischeAnalyse der Ein- und Ausreise erleichtern und somiteine zusätzliche Informationsbasis für die Visumpolitikschaffen.Das Registrierungsprogramm, RTP, richtet sich anDrittstaatsangehörige, die häufig in den Schengen-Raum reisen. Diese Vielreisenden sollen die Möglich-keit erhalten, sich nach einer Vorabkontrolle zentralregistrieren zu lassen, um sodann für einen festgeleg-ten Zeitraum von erleichterten Grenzkontrollen – ins-besondere auch unter Nutzung zeitsparender automati-sierter Grenzkontrollverfahren – an den Schengen-Außengrenzen profitieren zu können. Die Teilnahme andem Registrierungsprogramm ist freiwillig.Zu den Folgeänderungen im Schengener Grenzkodexgehören insbesondere die Aufhebung der Pflicht zurmanuellen Stempelung der Reisepässe sowie die Ein-führung von Erleichterungen bei der Kontrolle von re-gistrierten Reisenden.Der Vorschlag der EU-Kommission sieht für diesesRegelungspaket beim Fonds für die innere Sicherheiteine Gesamtfinanzausstattung in Höhe von 1,1 Mil-liarden Euro vor. Die konkrete Ausgestaltung hinsicht-lich des weiteren Umsetzungsbedarfs der drei Verord-nungsvorschläge wird daher noch vertieft zu prüfensein.Sämtliche Bewertungen sowie Stellungnahmen ste-hen im Übrigen unter nationalem Haushaltsvorbehalt.Perspektivisch sollten sämtliche fachlichen Zugeständ-Zu Protokoll gegebene Reden
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29926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Hartfrid Wolff
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nisse Deutschlands stets nur mit der Maßgabe einerhaushaltsneutralen Umsetzung auf nationaler Ebenein Aussicht gestellt werden.Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundes-tagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischerDaten im Pass, im Personalausweis und an anderenStellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sichum sehr sensible Daten. Deshalb nehmen wir die Kri-tik des Datenschutzbeauftragten ernst. Die FDP setztsich dafür ein, dass mit Daten sorgfältig verfahrenwird und sie nur zu unumgänglichen Zwecken oderwünschenswerten Erleichterungen für die Betroffenengenutzt werden.Das neue System soll den Reiseverkehr beschleu-nigen. Dieses Ziel unterstützen wir. So haben wir inder schwarz-gelben Koalition die Visa-Warndatei auchinsbesondere unter diesem Aspekt geschaffen. Wirmöchten auch, dass überprüft wird, ob die Visa-Warn-datei dieses Versprechen hält.Ob aber die Verordnungsvorschläge überhaupt zurBeschleunigung geeignet sein können, muss noch be-wiesen werden. Gleichzeitig muss man fragen, wie dasVerhältnis der Verordnungsvorschläge zu nationalenRegelungen ist. Datenschutz bedeutet auch, dassMehrfachspeicherungen vermieden werden müssen.Die Überlegung, auch feststellen zu wollen, wannjemand ausreist, möchte ich nicht gleich von der Handweisen: Wir wissen, dass es Leute gibt, die mit einemVisum in den Schengen-Raum kommen, aber nie wie-der ausreisen oder verspätet ausreisen. Es ist nach-vollziehbar, dass die Nationalstaaten auch im Schen-gen-Raum darüber Bescheid wissen sollten. Ob dieVorschläge der Kommission dabei helfen können, mussgeprüft werden. Aber natürlich muss vermieden wer-den, dass jeder, der nach Europa kommt, unter denVerdacht gestellt wird, diesen Umstand auszunutzen,um einfach hierzubleiben. Europa muss sich weltoffenzeigen. Abschottung hilft nicht weiter.
Die EU-Kommission hat in diesem Jahr ihr soge-
nanntes Smart Border Package vorgelegt, mit dem die
Rechtsgrundlage für zwei neue Datenerfassungssys-
teme an den EU-Außengrenzen geschaffen werden soll.
Sie folgt mit diesen Vorschlägen dem Konzept der „in-
telligenten Grenzen“. Doch dieser Begriff ist nichts als
eine Beschönigung. Es geht um die totale Erfassung
aller Daten von Reisenden in die EU, den Zugang von
Strafverfolgungsbehörden auf diese Daten und nicht
zuletzt um 1,1 Milliarden Euro, die auf diesem Wege in
die Taschen der Konzerne strömen. Es sind die glei-
chen Konzerne, die die EU-Staaten auch mit allen
möglichen anderen Technologien zur Grenzüberwa-
chung beliefern: Die großen Rüstungskonzerne EADS,
BAE, Thaies, IAI verdienen sowohl an der Hochrüs-
tung der Grenzuberwachung mit Hubschraubern,
Schiffen und Drohnen als auch an der automatisierten
Ein-und Ausreisekontrolle.
Diesen beiden Vorschlägen ging im letzten Jahr der
Vorschlag für ein EU-System zur Erfassung von Flug-
passagierdaten von Reisenden in die EU voraus, das
EU-PNR. Die Europäische Union nähert sich damit
der schlechten Utopie einer totalen Überwachung von
Drittstaatsangehörigen in der EU. Die beiden aktuel-
len Vorschläge setzen die Erfassung biometrischer Da-
ten der Reisenden voraus. Im Entry Exit System EES
sollen nach dem Vorschlag der EU-Kommission zu-
nächst nur die Daten aus dem Reisepass, die biometri-
schen Daten erst nach einer Übergangsphase von drei
Jahren erfasst werden. Dann müssen alle Reisenden
beim Grenzübertritt ihre Fingerabdrücke hinterlassen,
um bei der Ausreise ihre Identität bestätigen zu kön-
nen. Daneben schlägt die Kommission vor, nach einer
Evaluation nach zwei Jahren zu prüfen, ob auch Straf-
verfolgungsbehörden Zugriff auf diese Daten erhalten
sollen.
Die Bundesregierung im Verein mit einer Reihe an-
derer EU-Staaten drängt bei den Verhandlungen im
EU-Rat darauf, die Fingerabdruckdaten sofort zu er-
fassen und den Strafverfolgungsbehörden den Zugriff
zu geben. Neben dem Visa-Informationssystem und
dem Fingerabdrucksystem für Asylsuchende EuroDAC
wäre das EES das dritte Datensystem, mit dem auf
EU-Ebene massenhaft biometrische Daten von Dritt-
staatsangehörigen gesammelt und den Behörden zu-
gänglich gemacht werden sollen. Auch wenn es aus der
Kommission und aus dem Europaparlament Wider-
stand gegen diese Pläne gibt: Wo Daten in solcher
Menge vorhanden sind, wachsen die Begehrlichkeiten
der Sicherheitsbehörden. Nach den bisherigen Erfah-
rungen ist nicht zu erwarten, dass Kommission und
Parlament diesem Druck standhalten werden.
Die EU-Kommission will sich ihren Traum von der
elektronischen Grenzüberwachung einiges kosten las-
sen. 1,1 Milliarden Euro sind für den Aufbau beider
Datengroßsysteme veranschlagt. Nach den Erfahrun-
gen mit dem Schengener Informationssystem und dem
Visa-Informationssystem dürfte es auch noch einiges
mehr werden. Darin noch gar nicht enthalten sind die
Kosten der Mitgliedstaaten, die nahezu jeden Grenz-
übergang mit der entsprechenden Technologie ausstat-
ten müssen, das alles, um ein paar Menschen zu
schnappen, die die Gültigkeitsdauer ihres Visums über-
ziehen. Das ist vollkommen unverhältnismäßig. Die
Linke lehnt diese Pläne deshalb ab und wird den An-
trag der Grünen-Fraktion unterstützen.
Die Europäische Kommission hat am 28. Februar2013 das „Smart-Borders-Paket“ vorgelegt. Es ent-hält drei Verordnungsvorschläge: einen Vorschlag füreine Verordnung über ein Einreise-/Ausreisesystem,EES, zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten vonNicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern; einen Vorschlagfür eine Verordnung über ein Registrierprogramm fürReisende, RTP, sowie einen Vorschlag zur Anpassungdes Schengener Grenzkodex an EES und RTP. Die Vor-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29927
Memet Kilic
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schläge wurden als Paket vorgelegt, weil ein funktio-nierendes EES Voraussetzung für die geplante voll-automatische Kontrolle registrierter Reisender imRahmen des RTP ist.Mit dem EES sollen die Ein- und Ausreisebewegun-gen von Personen an den Außengrenzen des Schengen-Raums aufgezeichnet und die biometrischen Identitäts-kontrollen auf alle Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgerausgeweitet werden – auch auf diejenigen, die derzeitkein Visum für die Einreise in die EU benötigen –.Dazu soll eine zentralisierte europäische Datenbankaufgebaut werden, in der neben anderen personenbe-zogenen Daten zehn Fingerabdrücke gespeichert wer-den. Die Datenbank soll so eingerichtet werden, dassspäter der Zugriff der Polizei- und Strafverfolgungsbe-hörden darauf möglich ist. Damit würde das zur Ein-reise- und Migrationskontrolle eingerichtete EES ineine Datenbank zur allgemeinen Verbrechensbekämp-fung umfunktioniert. Drei Jahre nach dem Start desEinreise-/Ausreisesystems soll überprüft werden, obder Zugriff durch Polizei- und Strafverfolgungsbehör-den tatsächlich erlaubt werden soll. Auch die Verlän-gerung der Speicherfristen zu Strafverfolgungszwe-cken ist bereits im Gespräch sowie der Zugriff vonDrittstaaten auf die Daten. Mit dem RTP sollen Viel-reisende nach vorheriger Durchleuchtung ihrer finan-ziellen Situation, Familienverhältnisse und andererDaten die Möglichkeit erhalten, als „unbedenklich“eingestuft zu werden und durch automatische Grenz-kontrollen einzureisen.In seinem Nachbericht zum Rat der Justiz- und In-nenminister der EU am 7./8. März 2013 berichtet dasBundesministerium des Innern, BundesinnenministerFriedrich habe die Vorlage des Smart-Borders-Paketsbegrüßt und angeregt, biometrische Daten von Anfangan zu nutzen. Begründet wurde diese Haltung mit derNotwendigkeit der Modernisierung der Außengrenz-verwaltung und der wachsenden Bedrohung durch Ter-rorismus und organisierte Kriminalität. Am 20. Märzbeantwortete das Bundesministerium des Innern meineFrage nach der Vereinbarkeit des Smart-Borders-Pakets mit dem Grundgesetz und den EU-Grundrech-ten nicht inhaltlich. Man prüfe die Legislativvor-schläge noch und wolle dem Ergebnis dieser Prüfungnicht vorgreifen. Ein derart widersprüchliches Verhal-ten wird der Verpflichtung der Bundesregierung nichtgerecht, auf EU-Ebene verfassungskonforme Verhand-lungspositionen zu beziehen. Zudem zeugt die Beant-wortung der Frage abermals davon, dass die Bundes-regierung das verfassungsrechtlich garantierteAuskunftsrecht der Abgeordneten nicht respektiert.Die Umsetzung der Vorschläge des Smart-Borders-Pakets würde extrem hohe Kosten verursachen. DieEuropäische Kommission rechnet bis 2020 mit 1,3 Mil-liarden Euro Kosten für das Smart-Borders-Paket.Ursprünglich geplant war, einen Großteil davon –1,1 Milliarden Euro – aus dem Fonds für innere Si-cherheit zu finanzieren. Mittlerweile geht die Kommis-sion jedoch von einer drastischen Kürzung diesesFonds um rund 800 Millionen Euro aus. Deshalb istdamit zu rechnen, dass die Mitgliedstaaten einen er-heblichen Teil der Kosten selbst aufbringen müssen.Zugleich sind Nutzen und Funktionsfähigkeit vonEES und RTP äußerst zweifelhaft. Es wurde versäumt,die unüberwindlichen Schwierigkeiten der USA bei derEinführung vergleichbarer Systeme in die Überlegun-gen mit einzubeziehen – US VISIT, das immer nochnicht in der Lage ist, automatische biometrische Aus-reisekontrollen durchzuführen.Schließlich widersprechen die vorgelegten Legisla-tivvorschläge deutschen und europäischen Grundrech-ten. Die anlasslose Speicherung personenbezogenerDaten sämtlicher Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgerstellt einen schweren Eingriff in deren Grundrecht aufinformationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i. V. m.Art. 1 Abs. 1 GG, bzw. das EU-Datenschutzgrundrecht,Art. 8 EU-Grundrechtecharta, dar. Die Speicherunghat zudem diskriminierenden Charakter, da sie einemGeneralverdacht gegen Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bür-ger gleichkommt und damit deren Persönlichkeits-rechte aufweicht. Die Vorabüberprüfung Vielreisenderim Rahmen des RTP kommt einer freiwilligen Raster-fahndung gleich, die anschließend vorgesehene Spei-cherung von vier Fingerabdrücken in einem Zen-tralregister stellt ebenfalls einen schweren Eingriff inGrundrechte dar. Diese Grundrechtseingriffe sindnicht zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die EU mitdem Visa-Informationssystem VIS, Eurodac und demSchengener Informationssystem II ohnehin bereitsüber eine Reihe zentraler Informationssysteme verfügt,in denen biometrische Daten gespeichert werden undauf die Sicherheitsbehörden Zugriff haben. Geplant istüberdies die Vorratsdatenspeicherung von Fluggast-daten. Die Erforderlichkeit einer zusätzlichen Zentral-datei ist unbegründet, schafft zusätzliche Gefahren fürden Datenschutz und missachtet die Vorgaben desBundesverfassungsgerichts, das vor jeder neuen an-lasslosen Datenspeicherung die Aufstellung einerÜberwachungsgesamtrechnung fordert, um verboteneRundüberwachung zu verhindern.Wir fordern die Bundesregierung auf, folgende Be-lange bei ihren Verhandlungen durchzusetzen:Erstens. Die Errichtung eines Elektronischen Ein-reise-/Ausreisesystems wird abgelehnt.Zweitens. Die Errichtung eines Registrierpro-gramms für Reisende wird abgelehnt.Drittens. Die Anpassung des Schengener Grenzko-dex an EES und RTP wird abgelehnt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/13236 an die vorgesehenen Ausschüssevorgeschlagen. – Es gibt keine Einwände. Dann verfah-ren wir so.
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29928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten RitaSchwarzelühr-Sutter, René Röspel, WilliBrase, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDChancen der Nanotechnologien nutzen undRisiken für Verbraucher reduzieren– zu dem Antrag der Abgeordneten NicoleMaisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNanotechnologie – Chancen nutzen undRisiken minimieren– Drucksachen 17/8158, 17/9569, 17/13217 –Berichterstattung:Abgeordnete Florian HahnRené RöspelDr. Martin Neumann Dr. Petra SitteKrista SagerDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
Die Titel der hier vorliegenden Anträge ließen ei-gentlich auf eine vielversprechende und interessanteDebatte hoffen. Die Nanotechnologie bietet als eineSchlüsseltechnologie viele neue Chancen in den Berei-chen Klima, Energie, Gesundheit, Ernährung, Mobili-tät, Sicherheit und Kommunikation für unser Land. Esist ein schnell wachsender Markt, auf dem sichDeutschland durch seine herausragende Innovations-kraft einen Namen gemacht hat. Schon heute hängenmehr als 63 000 Arbeitsplätze von der Nanotechnolo-gie ab. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir diesenProzess effektiv begleiten können, um uns auch zukünf-tig auf diesem Markt gut zu platzieren, statt Gefahrenzu suchen, die es nicht gibt.Doch leider kann die Opposition nicht anders, alseben diese Gefahren und Risiken dort zu suchen, wo essie nicht gibt. Ihre Anträge lassen das Thema „Chan-cen der Nanotechnologie nutzen“ links liegen und kon-zentrieren sich lieber auf sinnlose Forderungen.Für die christlich-liberale Koalition hat die Sicher-heit der Bürgerinnen und Bürger höchste Priorität.Wir wollen keine Produkte in Deutschland, die eineGefahr für die Gesundheit der Bevölkerung darstellen.Deshalb gibt es bereits für Chemikalien, Lebensmittel,Lebensmittelkontaktmaterialien und kosmetische Mit-tel Regelungen auf EU-Ebene. Ein von den Grünen ge-fordertes Moratorium ist sinnlos. Alle verwendetenMaterialien müssen bereits jetzt den erforderlichenPrüfungen unterzogen werden.Da wir uns nun dank dieser Anträge mit den Risikender Nanotechnologie beschäftigten, werde ich Ihnengerne Auskunft zu dem bisher Erreichten und den kom-menden Mechanismen zum Schutz und zur Aufklärungder Bevölkerung geben.Die Opposition verlangt die Einführung eines natio-nalen Produktregisters. Dazu kann ich Ihnen Folgen-des sagen: Wir haben einen europäischen Binnen-markt. Ein EU-weiter Ansatz ist jedem nationalenKlein-Klein vorzuziehen. Auf EU-Ebene ist zu diesemThema bereits eine informelle Expertengruppe ausmandatierten EU-Mitgliedstaaten zusammengekom-men, die derzeit die Grundlagen für eine europäischeDatenbank diskutiert.Zu den geforderten Kennzeichnungen ist Folgendeszu sagen: Für Kosmetika, Lebensmittel und Biozidegibt es bereits Kennzeichnungspflichten. Für Kosme-tika tritt diese ab dem 11. Juli 2013, für Lebensmittelab dem 31. Dezember 2014 und für Biozide ab dem1. September 2013 in Kraft. Die Regelungen zur Ein-stufung und Kennzeichnung von Nanomaterialien aufeuropäischer Ebene, die mit der GHS/CLP-Verord-nung eingeführt wurden, greifen schon jetzt – auchohne eine Mengenschwelle. Für alle Stoffe besteht so-mit die Pflicht, die Gefährlichkeit einzuschätzen.Auch tun sich durch die vermehrte Forschung undAnwendung der Nanotechnologie neue Felder auf, dienun abgedeckt werden müssen. Die Detektion vonNanomaterialien, die Entsorgung und die Risikofor-schung sind Bereiche, denen man sich nun verstärktzuwenden muss. Dies haben wir erkannt und förderndie notwendigen Projekte im Rahmen der Hightech-Strategie und des Aktionsplans für Nanotechnologie.Neben der reinen Kennzeichnung bedarf es aberauch der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger.Diese müssen verstehen, dass Produkte, die als nano-haltige Produkte deklariert wurden, nicht gefährlichsind. Dazu möchte ich eine wissenschaftlich fundierteFeststellung hier noch einmal aussprechen: „Nano“per se ist kein Hinweis auf eine besondere Gefährdung.Damit die Akzeptanz und Aufklärung innerhalb derBevölkerung gesteigert werden kann, wurden die Mit-tel für Aufklärung unter der CDU/CSU um 140 Pro-zent auf 14 Millionen Euro erhöht. Anstatt hier undheute die Angst vor der Nanotechnologie zu schüren,lade ich Sie ein, gemeinsam mit der christlich-libera-len Koalition die Zukunft dieser Technologie zu gestal-ten.Die Nanotechnologie bietet eine Menge Potenzial.Wir können hier auf eine Technologie zugreifen, dieneue Chancen und Möglichkeiten eröffnet, von denenwir heute nur träumen können. Sie kann in allen mög-lichen Bereichen einen Mehrwert für Innovationskraft,Produktivität, Gesundheit und eine bessere Umweltschaffen. Lassen Sie uns gemeinsam die Chancen unddas Potenzial nutzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29929
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Nanomaterial ist deshalb so interessant, weil die
Partikel so klein sind und deshalb das Material verän-
derte, optimierte Eigenschaften hat. Mit Nanotechno-
logie kann man selbstreinigende Kleidung herstellen
oder intelligente Verpackungen, die sich verfärben,
wenn die Lebensmittel ablaufen. Aber man kann auch
Nanomaterialien in der Krebstherapie einsetzen, in
der Landwirtschaft, bei Energie- und Rohstoffeffizienz,
bei Umwelt- und Klimaschutz. Gerade hier kann die
Nanotechnologie wichtige Lösungsbeiträge leisten.
Wir sind uns alle einig, dass die Nanotechnologie
eine der wichtigsten Zukunftstechnologien ist. Die
Forschung in Deutschland ist fortschrittlich. Im inter-
nationalen Wettbewerb stehen wir mit unserer Nano-
forschung an der Weltspitze. Deshalb habe ich auch
schon in meiner letzten Rede betont: Die Nanotechno-
logie ist wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutsch-
land, für den Wohlstand unseres Landes und auch für
das Wohlergehen der Menschen.
Die christlich-liberale Koalition setzt sich dabei
stets für einen nachhaltigen und verantwortungsbe-
wussten Verbraucherschutz ein. Die Gesundheit und
Sicherheit der Menschen steht dabei für uns an erster
Stelle. Wir wägen Chancen und Risiken von neuen
Technologien sorgfältig ab; denn wir wissen, dass ein
übereilter Einsatz von neuen Technologien mit Risiken
für die Menschen und die Umwelt verbunden sein
kann.
Die Bundesregierung hat einen Aktionsplan Nano-
technologie 2015 vorgelegt, in dem alle Aspekte be-
dacht sind: die Sicherheit, die Forschungsförderung,
die Unterstützung der kleinen und mittelständischen
Unternehmen und auch der Dialog mit der Öffentlich-
keit und die Kooperation mit internationalen Part-
nern; denn etwa 90 Prozent des Wissens über die
Nanotechnologie wird außerhalb von Deutschland er-
arbeitet.
Vielleicht sollten Sie sich diesen Aktionsplan erst
einmal anschauen, bevor Sie mit derartigen Anträgen
die Menschen verunsichern. Wir wollen keine Ängste
schüren. Niemand hat etwas davon, wenn wir ständig
den „Anlass zur Besorgnis“ vor uns hertreiben. Statt-
dessen wollen wir die Forschung stärken – die christ-
lich-liberale Regierung hat die Mittel für den Bereich
der Risiko- und Begleitforschung übrigens in den letz-
ten Jahren massiv erhöht –; wir müssen den Dialog
fördern und für Transparenz sorgen. Denn der Ver-
braucher verlangt zu Recht einen Hinweis auf der Le-
bensmittel- oder Kosmetikverpackung, ob das Produkt
nanoskalige Bestandteile enthält.
Für Kosmetika in der Europäischen Union gilt des-
halb auch seit diesem Jahr eine Kennzeichnungs-
pflicht; für Lebensmittel gilt sie ab 2014. Dann müssen
nanoskalige Bestandteile und Inhaltsstoffe auf dem
Etikett mit „Nano“ gekennzeichnet sein.
Zu der Forderung nach einem Nanoproduktregister
lässt sich sagen, dass es bereits viele Melde-, Regis-
trierungs- und Zulassungspflichten gibt. Die Kommis-
sion plant die Umsetzung einer Internetplattform, auf
der sämtliche relevanten Registrierungen von Nano-
materialien zusammengeführt werden.
Es ist besonders wichtig, dass die Nanotechnologie
von der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür benötigt
sie sachgerechte Informationen, wie dies zum Beispiel
der Nanodialog oder die Internetseite www.nanopar
tikel.info, die vom Bundesforschungsministerium ge-
fördert wird, gewährleisten.
Durch gute und sachliche Informationen können Vor-
urteile abgebaut werden. Ein hervorragendes Beispiel
für eine Kommunikationsoffensive ist der nanoTruck.
Der nanoTruck ist ein rollendes Ausstellungs- und
Kommunikationszentrum des Bundesforschungsminis-
teriums, der deutschlandweit unterwegs und einsetzbar
ist – eine tolle Möglichkeit, an die Leute heranzukom-
men, den Bürgerinnen und Bürgern die Technologie zu
erklären und über die Chancen und auch mögliche Ri-
siken aufzuklären. Nanotechnologie ist dann nicht
mehr die unbekannte Technologie, die vielleicht Heil,
vielleicht Unheil bringt.
Auf meine Anfrage hat der nanoTruck dann auch in
meinem Wahlkreis bei einer Schule haltgemacht. Die
Schülerinnen und Schüler waren begeistert, und auch
andere Interessierte konnten sich über diese neue
Technologie informieren lassen, und zwar ganz prak-
tisch und hautnah.
So kann man mit neuen Technologien umgehen: in-
dem wir die Forschung fördern, Chancen und Risiken
abwägen und immer den Dialog mit der Öffentlichkeit
suchen, ohne Ängste zu schüren.
Wir wissen, dass die Nanotechnologie ein großes
Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt, Gesund-
heit und Wohlstand bietet. Wir sorgen aber auch dafür,
dass der Schutz von Mensch und Umwelt im Bereich
der Nanotechnologie an erster Stelle steht.
Die Europäische Kommission schätzt in einer ihrerjüngsten Stellungnahmen, dass das Marktvolumen vonProdukten, in denen Nanomaterialien eingearbeitetsind, im Jahre 2015 auf 2 Billionen Euro steigen wird.Das Bundesministerium für Bildung und Forschunghat für das Jahr 2013 um die 70 Millionen Euro fürProjektmittel im Bereich „Neue Materialien – Nano-technologien“ bereitgestellt. Das ist im Vergleich zumVorjahr eine Kürzung von 10 Millionen Euro. Das ver-wundert, wenn man den Sätzen Glauben schenkt, dassder Bundesregierung diese Technologie sehr am Her-zen liegt. Wir, die Oppositionsfraktionen der Grünenund SPD, haben deshalb grundsätzlich Zweifel, ob dieaktuelle Strategie der Bundesregierung in die richtigeRichtung zeigt. Aus diesem Grund haben Grüne undSPD jeweils eigene Forderungen aufgestellt. Diesediskutieren wir heute.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratenund die Kolleginnen und Kollegen der Grünen sindZu Protokoll gegebene Reden
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29930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
René Röspel
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beim Thema Forschungspolitik sehr oft einer oderähnlicher Meinung. Aus diesem Grund wünschen wiruns eine gemeinsame Regierung für die nächste Legis-laturperiode. Aber bei manchen Themen sind wir ebenauch unterschiedlicher Meinung. Im Antrag der Grü-nen finden sich viele grundsätzliche inhaltliche Über-schneidungen zu unserem Antrag. Zu nennen sei zumBeispiel die Erhöhung der Sicherheitsforschung auf10 Prozent. Diese alte Forderung der SPD, die derBundestag in Zeiten der Großen Koalition auf unsereInitiative hin beschlossen hat, ist bis heute nicht um-gesetzt worden. Selbst die Ressortforschungseinrich-tungen der Bundesregierung legen in ihrer gerade ver-öffentlichten ersten Bilanz „Nanotechnologie –Gesundheits- und Umweltrisiken von Nanomateria-lien“ dar, dass die wissenschaftliche Forschung in die-sem Bereich zu intensivieren sei. Warum die schwarz-gelbe Bundesregierung dann trotzdem die Projektför-derung für Nanomaterialien senkt, ist für mich deshalbnoch weniger nachvollziehbar.Weitere inhaltliche Überschneidungen mit dem An-trag der Grünen betreffen die Forderung nach der Um-setzung des Vorsorgeprinzips bei Nanomaterialien, dieEinführung eines Nanoregisters und die Kennzeich-nung von Produkten mit Nanomaterialien. Auch wennes bei diesen Themen zwischen SPD und Grünen imDetail durchaus Unterschiede gibt, so stimmen wir indiesen großen Linien doch überein.An einem entscheidenden Punkt können wir denGrünen aber nicht zustimmen. Denn leider hat mannach dem Lesen des Antragstextes das Gefühl, dass je-der Nanopartikel erst einmal gefährlich sei. Dasstimmt aber nun einmal nicht. Ganz im Gegenteil.„Nano“ bedeutet erst einmal nur, dass in dieser Größedas Material andere Eigenschaften besitzt als in ande-ren Größenordnungen. Diese können durchaus gefähr-lich, zum Beispiel toxisch, sein, müssen es aber auchnicht. Sie können auch harmlos sein, aber eben dochneue positive Eigenschaften enthalten, zum Beispieldie Fähigkeit, elektrische Energie besser zu leiten.Wenn man wie die Grünen von der generellen An-nahme ausgeht, dass alle Nanomaterialien schädlichsind, dann macht ein Moratorium, wie sie es in ihremAntrag fordern, für Nanoprodukte natürlich Sinn.Wenn man aber hingegen von der Realität ausgeht,nämlich dass sich Nanomaterialien ähnlich wie andereChemikalien oder Stoffe verhalten, dann ist ein solchesMoratorium nicht der richtige Weg. Hier ist vielmehreine aufwendige Einzelprüfung notwendig.Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten sind der Meinung, dass gewisse verbrauchernaheProdukte bzw. bestimmte Nanomaterialien einer be-sonderen Kontrolle unterliegen müssen. Aber das ist inder EU Standard. Die Europäische Kommission prüftaußerdem bereits – übrigens im Auftrag des Europäi-schen Parlaments, welches beim Thema Nano sehr ak-tiv ist – an welchen Stellen die Kontrollen verbessertund Regelungen angepasst werden müssen. Aktuell istdie Kommission zum Beispiel zu dem Schluss gekom-men, dass REACH, die Europäische Chemikalienver-ordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung undBeschränkung chemischer Stoffe, für Nanoprodukteangepasst werden sollte. Auf dem Gebiet passiert alsobereits einiges.Ein Grund für übertriebene Angst vor allen Nano-materialien ist vielleicht die aktuelle EU-Definition fürNanomaterialien. Nach dieser fallen nämlich alle Na-nopartikel, ob nun natürlich vorkommend, bei Prozes-sen anfallend oder bewusst hergestellt, unter diese Ka-tegorie. Das bedeutet, dass natürlich vorkommendeNanopartikel in der Milch, bei Verbrennungen entste-hende Rußpartikel und extra hergestellte nanogroßePartikel in Computerchips oder Verpackungsmaterialgleich behandelt werden. Die Gefahr für Mensch undUmwelt ist aber bei jedem dieser Materialien absolutunterschiedlich. Eine Kategorie, die alles erfasst, sagtam Ende hingegen gar nichts aus. Aus diesem Grundgehört die EU-Definition zügig überarbeitet. Vielleichtkonzentriert sich die Diskussion dann auch wieder aufdie realen Risiken bei der Nanotechnologie.Die sehen wir, wie auch verschiedene andere Insti-tutionen, insbesondere in den freien Partikeln. Hier istbei einigen immer noch unklar, wie der menschlicheOrganismus und die Umwelt darauf reagieren. Auchsind das Auffinden und die Reaktion hergestellter Na-nopartikel in der Natur immer noch problematischbzw. unklar. Forschungsbedarf ist also noch genugvorhanden.Um die großen Chancen der Nanotechnologie auchweiterhin nutzen zu können, müssen mögliche Risikenausgeräumt werden. Dafür benötigen wir neben den fi-nanziellen Mitteln aber auch gut ausgebildete Fach-kräfte. Und wie wir aus unserer Kleinen Anfrage zumThema Stand der Toxikologie in Deutschland erfahrenmussten, sieht der Zustand dieses auch für die Nano-technologie so wichtigen Wissenschaftszweiges ziem-lich schlecht aus. Diese Bundesregierung hat über de-ren Zustand nur veraltete Zahlen und fördert denBereich nur rudimentär. Das ist eine Katastrophe!Denn die Toxikologinnen und Toxikologen sollen doch,unter anderem im Auftrag der Bundesregierung,schauen, ob das eine oder andere Material für Menschoder Umwelt gefährlich sein könnte. Diese Bundesre-gierung streicht also nicht nur Forschungsgeld. Sie ge-fährdet auch die Strukturen, welche eine unabhängigeUntersuchung von Nanomaterialien gewährleistet. Eswird Zeit, dass sich auch in diesem Forschungsbereichab Herbst etwas ändert; denn Schwarz-Gelb bekommtes einfach nicht hin!
Zum wiederholten Mal debattieren wir in dieserLegislaturperiode zum Thema Nanotechnologie. Wirhaben nicht nur in einigen Ausschusssitzungen zu An-trägen und Förderprogrammen politische Positionenausgetauscht, sondern auch im Rahmen der Technik-folgenabschätzung mit Experten aus Wissenschaft undVertretern europäischer Institutionen diskutiert. IchZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29931
Dr. Martin Neumann
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behaupte deshalb, dass wir das Thema hinlänglich be-handelt haben, um mit klarer fachlicher Haltung undmit Recht die Anträge der Fraktionen der SPD undBündnis 90/Die Grünen abzulehnen.Der Antrag der Fraktion der SPD „Chancen derNanotechnologie nutzen und Risiken für Verbraucherreduzieren“ und der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Nanotechnologie – Chancen nutzen undRisiken minimieren“ haben allenfalls in einem PunktRecht. Die Nanotechnologien werden sich noch langein einem Spannungsverhältnis zwischen Chancen undNutzen auf der einen Seite und Risiken und Gefahren-potenzial auf der anderen befinden. Jedoch geht dieFDP nicht mit den Schlussfolgerungen konform, dieein überspitztes Handeln der Politik einfordern, umsich aus diesem Spannungsverhältnis zu lösen. Denndie Nanotechnologie ist ein Schlüssel zum technologi-schen Fortschritt im 21. Jahrhundert: Sie liegt in derSchnittmenge verschiedener Disziplinen, angefangenvon der Physik über die Chemie und Biologie bis hinzu den Ingenieurwissenschaften und der Medizin.In diesem interdisziplinären Feld entsteht ein weit-reichendes Anwendungspotenzial zum Nutzen derGesellschaft und der deutschen Wirtschaft. Dieses Po-tenzial dürfen wir aber nicht durch überschnelles Han-deln und unbegründete Verdachtsmomente zunichte-machen.Die Anträge werden abgelehnt, weil Sie den inDeutschland vorhandenen forschungs- und innova-tionsfreundlichen Rahmen durch Ihre Forderungen ein-schränken wollen. Forderungen nach einem nanospe-zifischen Produktregister, der Kennzeichnungspflicht,der Meldepflicht, einer Ermächtigungsverpflichtungfür Behörden, Produkte im Besorgnisfall vom Markt zunehmen, einer Überarbeitung von gesetzlichen Rege-lungen im Produkt-, Stoff- und Umweltrecht, einemHaftungsregime für Nanoprodukte etc. lehnen wir ab.Denn derartige Forderungen sind überzogen und un-begründet, wenn man wie die Antragsteller diese vomunzureichenden Wissensstand über Risiken und Gefah-renpotenzial von Nanoprodukten bzw. Nanotechnolo-gie ableitet. Die Wissenschaft liefert keine Belege füreine spezifische Nanotoxizität. Auch über das Gefah-renpotenzial lassen sich aus wissenschaftlicher Sichtkeine stichhaltigen Belege finden. Das stellen die An-träge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sogarselbst fest. Der Sachverständigenrat für Umweltfra-gen, SRU, der 2011 die Stellungnahme „Vorsorgestra-tegien für Nanomaterialien“ veröffentlichte, worausSPD und Grüne ihre Forderungen ableiten, sagt:„Pauschale Urteile über die Risiken von Nanomateri-alien sind nicht möglich … Bisher gibt es keine wissen-schaftlichen Beweise dahin gehend, dass Nanomateri-alien – wie sie heute hergestellt und verwendet werden –zu Schädigungen von Umwelt und Gesundheit führen.“Als FDP sehen wir bei unbegründeten Verdachtsmo-menten keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.Gleichwohl setzen wir uns für eine Sicherheitsfor-schung ein, die Wissenslücken über Nanotechnologienschließt und einheitliche Mess- und Prüfmethodikenentwickelt, um Aussagen über das Gefahrenpotenzialfür Gesundheit und Umwelt treffen zu können. AusSicht der FDP sollte dabei vor allem die bisher unge-nügend beantwortete Frage nach dem Lebenszyklusvon Nanopartikeln und danach, was nach dem Lebens-zyklus passiert, von der Wissenschaft bearbeitet wer-den.Auch setzen wir Liberalen uns anders als dieAntragsteller für eine über Europa hinausragende in-ternational harmonisierte Definition von Nanomateri-alien ein. Der Vorschlag einer Definition von Nanoma-terialien und -technologie, den die EU-Kommissionerarbeitet hat und der bis Dezember 2014 auf seineTauglichkeit hin überprüft werden soll, ist meiner Auf-fassung nach etwas zu kurz gegriffen. Als FDP plädie-ren wir dafür, die regulatorische Definition von Nano-materialien an bestehende wissenschaftsbasierteDefinitionen zu knüpfen, die im Rahmen der Interna-tional Organization for Standardization, ISO, entwi-ckelt worden sind, und so den Weg einer weltweit har-monisierten Definition zu gehen.Weiterhin sieht die FDP, wie auch die Koalition ins-gesamt, den nationalen Rechtsrahmen ebenso wie dieeuropäische Chemikalienverordnung, REACH, alsausreichend an, um einen sicheren Umgang mit Nano-materialien zu gewährleisten. Nach REACH wird jederStoff, der von einem Unternehmen in einer Menge vonmehr als 1 Tonne pro Jahr hergestellt oder importiertwird, bei der Europäischen Chemikalienagentur,ECHA, mit einem technischen Dossier registriert. Aus-kunft wird über physikalisch-chemische, toxikologi-sche und ökotoxikologische Eigenschaften des Stoffesgegeben. Auch wenn Stoffe in einer Menge von weni-ger als 1 Tonne pro Jahr hergestellt werden sollten,könne man in Bezug auf Nanomaterialien dennoch dieVerordnung durch Interpretation anwenden. Die In-dustrie hat dabei ihre Verantwortung und muss einerMitwirkungspflicht nachkommen. Ich bin mir sicher,dass die Industrie keinen Interpretationsspielraum inder REACH-Verordnung ausnutzen würde, allein umdann folgende gesetzgeberische Maßnahmen zu umge-hen.Würden stattdessen die Forderungen von SPD undvor allem von Bündnis 90/Die Grünen umgesetzt, be-raubt sich Deutschland einer wichtigen Technologieund eines zukünftig großen Wirtschaftsfaktors. Beson-ders kritisieren wir aber, dass die Anträge einen Gene-ralverdacht insinuieren, der sich langsam in die Ge-sellschaft bahnt. Durch die verkettete Argumentationaus „kann“ und „mögliche Risiken“ wird ein Argwohnaufgebaut, der sich nicht rechtfertigen lässt, unter ei-ner Überschrift, die die Chancen heben möchte.Deshalb lehnen wir die Anträge aus guten Gründenab und verweisen auf den Aktionsplan Nanotechnolo-gie 2015, den diese christlich-liberale Koalition aufden Weg gebracht hat und der ein tatsächliches Anlie-gen formuliert, wie Risiken zu unterbinden und dieChancen der Nanotechnologien zu fördern sind.Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
29932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
(C)
(B)
Ohne Frage: Nanotechnologie bietet gute Chancen
für Unternehmen in Deutschland. Für Verbraucherin-
nen und Verbraucher hingegen ist der Mehrwert be-
grenzt. Ob Nanozusätze bei Lebensmitteln und Be-
darfsgegenständen in einem vernünftigen Verhältnis zu
möglichen Risiken und Mehrkosten stehen, ist eher
fraglich.
Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den
öffentlichen Versprechungen vorbei. Vorrangig dient
die Förderung der Industrie zur Verbesserung vorhan-
dener Verfahren für Prozesse und Produkte. Im Vorder-
grund stehen dabei Kostensenkungspotenziale für die
Unternehmen. Wichtige gesellschaftliche Fragen wie
Energie- und Ressourcenschutz oder Gesundheits- und
Risikoforschung haben daran einen verschwindend
geringen Anteil. Es entsteht der Eindruck, dass solche
Themen nur vorgeschoben werden, um die Förderung
der Industrieforschung mit Geldmitteln in beträchtli-
cher Höhe zu rechtfertigen.
Die Linke hatte bereits Mitte 2011 mit dem Antrag
„Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen
durchsetzen“ auf die fehlgeleitete Nanoförderung der
Bundesregierung hingewiesen. Die mit jährlich über
400 Millionen Euro ausgestattete Nanoinitiative von
Schwarz-Gelb ist weitgehend auf klientelhafte Subven-
tionspolitik beschränkt:
Die öffentlichen Gelder fließen maßgeblich an klas-
sische Industriebereiche. Die Innovation besteht im
Wesentlichen in den Kostensenkungen für große Un-
ternehmen bei herkömmlichen Anwendungen und Pro-
zessen.
Es findet keine Lenkung der Förderschwerpunkte
hin zu gesellschaftlich wichtigen Themen, wie erneuer-
bare Energien, Medizin und die Risikoforschung, statt.
Die geförderten Vorhaben werden nicht einmal auf
ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen hin untersucht
oder bewertet.
Mögliche Risiken im Verbraucher-, Arbeits- und
Umweltschutz werden als „Hemmnis bei der Vermark-
tung nanotechnologischer Produkte“ festgemacht, so
der Nanoreport der Bundesregierung.
In Hinblick auf Umwelt- und Gesundheitsrisiken er-
weist sich die Nanotechnologieförderung der Bundes-
regierung als wirkungslos. Die Erforschung und Be-
wertung von Gesundheits- und Umweltrisiken, die von
Nanostoffen ausgehen können, wird deutlich vernach-
lässigt. Der Gesetzgeber ist daher kaum in der Lage,
wirksame Maßnahmen zur Gesundheits- und Umwelt-
vorsorge zu treffen, da die Datenbasis nicht ausreicht.
Ein Grund ist sicherlich, dass die Untersuchung
und Bewertung von Risiken bisher weitgehend den Un-
ternehmen überlassen wird, die die Nanostoffe selbst
entwickeln. Viele Ergebnisse von Untersuchungen, die
mit Fördergeldern der Nanoinitiative des Bundes
finanziert wurden, nutzen die Unternehmen vorrangig
zur Abschätzung ihrer betriebswirtschaftlichen Risi-
ken. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass die
Industrie gerne mögliche Risiken in der öffentlichen
Kommunikation herunterspielt – nach dem Motto: Es
ist ja noch nicht bewiesen, dass es schädlich sein
könnte.
Die Linke sagt: Das ist der falsche Weg. Verbrau-
cherschutz kommt im Bereich der Nanotechnologie
praktisch nicht vor. Verbraucherinnen und Verbrau-
cher erwarten aber, dass Behörden, Wissenschaft und
Unternehmen die Frage nach den Risiken der Nano-
technologie vollständig beantworten. Der Gesetzgeber
muss deshalb eine Kenntlichmachung aller nanotech-
nologisch hergestellten oder nanopartikelhaltigen
Produkte sicherstellen. Dabei reicht ein Hinweis auf
der Verpackungsrückseite nicht aus. Die Unbedenk-
lichkeit muss belegt und der Zusatznutzen in verständ-
licher Weise erläutert sein.
Die Linke fordert von der Bundesregierung, dass sie
eine umfassende Regelung und Kontrolle der Nano-
technologie auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips
umsetzt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen
hat dazu mit seinem Sondergutachten „Vorsorgestrate-
gien für Nanomaterialien“ sehr gute und hilfreiche
Vorschläge gemacht. Dazu gehört ein öffentliches Re-
gister aller Nanostoffe ebenso wie eine unabhängige
Risikoforschung. Nur so kann offenkundigen Risiken
gegenüber Mensch und Umwelt angemessen begegnet
und können unberechtigte Ängste abgebaut werden.
Klare gesetzliche Vorgaben mindern darüber hinaus
auch betriebswirtschaftliche Risiken bei den Unter-
nehmen, die mit Nanotechnologien befasst sind.
Wesentliche Voraussetzung und Forderung der Lin-
ken ist, die Förderstruktur zugunsten von Vorsorge und
Verbraucherschutz neu zu strukturieren. Die vorlie-
genden Anträge von SPD und Grünen unterstützen
diese Forderungen weitgehend, weshalb wir ihnen zu-
stimmen.
Bisher gibt es in Deutschland keine nanospezifi-schen Regulierungen. Dabei ist die Nanotechnologiemit all ihren Chancen und Risiken längst in unseremAlltag angekommen. Denn Nanopartikel finden sich inden verschiedensten Anwendungen und Produkten.Doch aufgrund ihrer geringen Größe und den damitverbundenen anderen physikalischen und chemischenEigenschaften gegenüber den jeweiligen Ausgangs-stoffen schlüpfen Nanopartikel durch die bestehendenKontroll- und Regulierungsregimes.Das ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Geradebeim Einsatz von ungebundenen Nanopartikeln in ver-brauchernahen und umweltoffenen Anwendungen wiezum Beispiel in Kosmetika oder Reinigungsmittelnsind die bestehenden Risiken für Mensch und Umweltbislang viel zu wenig erforscht und unzureichend regu-liert.Wir wollen, dass das Vorsorgeprinzip zum Leitsatzim Umgang mit der Nanotechnologie wird. Das hatZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29933
Nicole Maisch
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auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen inseinem ausführlichen Sondergutachten zu Nanomate-rialien ausdrücklich empfohlen – leider ohne Reaktionvonseiten der Bundesregierung!Wir fordern in unserem Antrag, die Sicherheits- undRisikoforschung deutlich auszuweiten, um die vorhan-denen Wissenslücken zu schließen und die Unsicher-heit im Bezug auf das Gefahrenpotenzial bestimmterNanomaterialen zu verringern.Außerdem brauchen wir nanospezifische Prüf- undZulassungsverfahren und bessere Regelungen zur Pro-dukthaftung. Der Sachverständigenrat für Umweltfra-gen hat hierzu gute Vorschläge gemacht, die die Bun-desregierung aufgreifen sollte. Dazu gehören auchNovellen der Novel-Food-Verordnung und des euro-päischen Chemikalienrechtes REACH. Auch die Rege-lungen zum Arbeitsschutz müssen um nanospezifischeRegelungen ergänzt werden.Um mehr Transparenz für Verbraucherinnen undVerbraucher zu schaffen, wollen wir, dass, wo Nanodrin ist, auch Nano draufsteht. Ebenso muss offenge-legt werden, ob diese Inhaltsstoffe neben den beworbe-nen Vorteilen auch mögliche Risiken und Nebenwir-kungen mit sich bringen. Wir fordern deshalb eineverständliche Kennzeichnung für verbrauchernaheund umweltoffene Nanoprodukte und ein öffentlich zu-gängliches Nanoproduktregister, um Transparenz undWahlfreiheit zu gewährleisten und den Regulierungs-behörden einen Überblick über den Markt zu ermögli-chen.Zum Schutz von Mensch und Umwelt ist es notwen-dig, dass Behörden im Besorgnisfall gefährliche Pro-dukte gegebenenfalls vom Markt nehmen bzw. solchenProdukten den Marktzugang verweigern können. Dastrifft unter anderem für den Einsatz von Nanosilber inverbrauchernahen Produkten zu. Sowohl das Bundes-institut für Risikobewertung als auch das Umweltbun-desamt haben vor den möglichen Gefahren beimEinsatz von ungebundenem Nanosilber in verbrau-chernahen Produkten gewarnt. Nanosilber kann sichnicht nur außen an menschliche Zellen anlagern, son-dern auch biologische Grenzen überwinden und somitin Zellen eindringen.Wir sind fest davon überzeugt, dass die Sicherheitvon Mensch und Umwelt immer oberste Priorität ha-ben muss. Nur dann wird auch eine breite gesellschaft-liche Akzeptanz für neue Technologien wie die Nano-technologie möglich sein, die zweifelsohne auch großeChancen und erhebliches Innovationspotenzial für Be-reiche wie Informations- und Kommunikationstechnik,Medizin und andere innovative Produktentwicklungenbirgt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13217.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/8158. Wer stimmt für diese
Empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Lin-
ken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Grünenfraktion auf Drucksa-
che 17/9569. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen von Grünen und Linken
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wiedereingliederung fördern – Gefangene in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
einbeziehen
– Drucksache 17/13103 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.
Strafgefangene unterliegen heute nicht der Versi-cherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung. Die Zeit während des Voll-zugs einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel derBesserung und Sicherung gilt für die Rentenversiche-rung auch nicht als Anrechnungszeit. Die Vollzugs-behörde entrichtet für die Gefangenen, auch wenn sieihrer Arbeitspflicht nach § 41 Strafvollzugsgesetz ge-nügen, keine Beiträge zur Renten-, Kranken- undPflegeversicherung. Für eine Aufrechterhaltung derVersicherungen sind die Gefangenen selbst verant-wortlich.Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheitbereits mehrfach mit der Frage der Einbeziehung derStrafgefangenen in die gesetzliche Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung befasst. Die Frage war und istauch wiederholt Gegenstand von Petitionsverfahren.In der Sache hat sich an der Situation nichts geän-dert: Zwar enthält das Strafvollzugsgesetz vom16. März 1976 Regelungen über eine grundsätzlicheEinbeziehung der Strafgefangenen in die Sozialversi-cherung. Es hat in § 198 Abs. 3 das Inkrafttreten derim Gesetz vorgesehenen Regelungen zur Einbeziehungvon Strafgefangenen in die Kranken- und Rentenversi-cherung aber einem besonderen Bundesgesetz vorbe-halten. Diese aufschiebende Inkraftsetzung beruht im
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29934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Max Straubinger
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Wesentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundes-länder, die die Beiträge zur Sozialversicherung alsTräger des Strafvollzugs anteilig zu übernehmen hät-ten. Das mag man beklagen, aber wenn man Forde-rungen aufstellt, gehört zur Wahrheit auch eine Aus-sage, wie man diese Forderungen finanzieren will. DieFraktion Die Linke macht es sich in diesem entschei-denden Punkt sehr einfach und trifft in ihrem Antraghierzu keine Aussage. Das zeigt: Es geht der Fraktionnicht um eine sachgerechte Lösung für die Betroffenen,die Initiative ist vielmehr ein reiner Schaufensteran-trag.Warum ist es zu dem oben angegebenen Bundes-gesetz bislang nicht bekommen? Ganz einfach: Weil esder Bundesrat in der Vergangenheit abgelehnt hat, diesich aus der Einbeziehung der Strafgefangenen in dieSozialversicherung ergebenen finanziellen Belastun-gen zu tragen. Und ohne Zustimmung des Bundesrateskann ein solches Bundesgesetz nicht verabschiedetwerden. Und ich sehe bei der Mehrheit der Bundeslän-der aufgrund ihrer Finanzlage weiterhin keine Nei-gung, einem dem Anliegen der Antragsteller entspre-chenden Bundesgesetz zuzustimmen bzw. selbst eineentsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat zu er-greifen. Wem das Anliegen der Betroffenen wirklichwichtig ist, der müsste eigentlich einen dringendenAppell an die Länder richten. Im Antrag der Linkenfindet sich dazu im Analyseteil verschämt die Aussage,die Bundesländer müssten „nun endlich aktiv wer-den“. Der Forderungsteil des Antrags ist dagegenrecht mutlos ausgefallen, einen flammenden Appell andie Länder finde ich dort jedenfalls nicht. Meine liebenKolleginnen und Kollegen, diesen Antrag hätten Siesich wirklich sparen können.An dieser Stelle nur am Rande: Man mag die Einbe-ziehung von Strafgefangenen in die Sozialversicherungals ein geeignetes Mittel für deren Wiedereingliede-rung in die Gesellschaft halten. Einen zwingendenrechtlichen Handlungsbedarf kann ich aber nicht er-kennen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinerEntscheidung vom 1. Juli 1998 zur Gefangenenentloh-nung die fehlende Einbeziehung in die Kranken- undRentenversicherung ausdrücklich als verfassungskon-form gebilligt. Weder aus dem verfassungsrechtlichenResozialisierungsgebot noch aus dem Gleichbehand-lungsgebot lasse sich eine Verpflichtung des Staatesableiten, Pflichtarbeit mit freier Erwerbsarbeit gleich-zusetzen.Das zeigt: Es geht nicht nur um die Finanzierung,sondern auch um eine politische Entscheidung. Undmit genau diesen Fragen beschäftigt sich derzeit derPetitionsausschuss des Deutschen Bundestages. DieKollegen machen sich die Fragen nicht einfach. Wermit ihnen spricht, weiß, dass sie die Angelegenheitgründlich prüfen. Ich möchte hier und heute der Ent-scheidung der Kollegen nicht vorgreifen. Ich bin gernbereit, mit Ihnen die politische Auseinandersetzung inder Angelegenheit zu führen. Aber bitte in geordnetenVerfahren. Deshalb: Lassen Sie erst die Kollegen imPetitionsausschuss ihre Arbeit machen. Erst dann sindwir dran. Die heutige Debatte ist eine Debatte zurUnzeit.
Bevor eine Altersrente ausbezahlt werden kann,müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Nebender Vollendung des erforderlichen Lebensalters sinddies vor allem die Berücksichtigung der Zeiten als Bei-tragszeiten und die vorgesehene Mindestversiche-rungszeit oder die sogenannte Wartezeit. Für die nor-male Altersrente liegt diese gemäß § 50 SGB VI beifünf Jahren oder 60 Monaten.Für ein Jahr Beitragszahlung erhält man nach demDurchschnittsverdienst – vorläufiger Wert für 2012:32 446 Euro – dann einen Entgeltpunkt. Ein Entgelt-punkt bringt zurzeit eine Monatsrente von 28,07 Euroin den alten und 24,92 Euro in den neuen Bundeslän-dern .Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Zeitals Beitragszeit gemäß § 55 Abs. 1 SGB VI im Versi-cherungskonto ist ein versicherungspflichtiges Be-schäftigungsverhältnis. § 55 Abs. 1 SGB VI definiertals Beitragszeiten solche Zeiten, für die nach Bundes-recht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahltworden sind. Pflichtbeitragszeiten sind Zeiten, wäh-rend deren kraft Gesetzes oder auf Antrag oder kraftentsprechender Vorschriften Versicherungspflicht be-stand und Pflichtbeiträge gezahlt worden sind.Bei einer Beschäftigung, die während eines Straf-vollzugs ausgeübt wird, handelt es sich aber nicht umein die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Ren-tenversicherung begründendes Beschäftigungsverhält-nis. Verschiedene Gerichte haben in ihren Urteilen undBeschlüssen dies bereits bestätigt und damit die Vo-raussetzungen für das Entstehen der Versicherungs-pflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung durcheine Beschäftigung im Gefängnis abgelehnt. Die Be-schäftigung von Strafgefangenen im Rahmen einesStraf- bzw. Maßregelvollzugs stellt kein Beschäfti-gungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV dar, daein Strafgefangener bei seiner Beschäftigung im Ge-gensatz zu einem Arbeitnehmer nicht frei sei. Vielmehrist der Strafgefangene gemäß § 41 Abs. 1 Strafvoll-zugsgesetz zur Arbeitsleistung verpflichtet.Nun fordern die Linken, dass die bisherige Arbeits-verpflichtung während des Strafvollzugs in ein „Rechtauf Arbeit“ und „einen individuellen einklagbaren An-spruch auf einen Arbeitsplatz“ geändert werden solle.Zudem sollten die Anstalten „eine ausreichende Zahlvon Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen“, und „beider Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen Fähigkeitenund Neigungen der Gefangenen berücksichtigt wer-den“.Nach der Föderalismusreform sind für die Regelun-gen des Strafvollzugs die Länder zuständig. Deshalbmuss ein solcher Antrag nicht im Bundestag, sondernin den Landtagen eingebracht werden. 2011 habenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29935
Peter Weiß
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Berlin, Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpom-mern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen einen ge-meinsamen Entwurf für ein Landesstrafvollzugsgesetzvorgelegt, das aber in den einzelnen Ländern nochnicht in Kraft ist.In § 22 heißt es dort, dass den Gefangenen auf An-trag oder mit ihrer Zustimmung Arbeit zugewiesenwerden soll. Die Erklärung zu § 22 besagt, dass Arbeitnach dieser Bestimmung, dem AngleichungsgrundsatzRechnung tragend, freiwillig ist. Die Zuweisung einerArbeit ermöglicht es den Gefangenen, Geld für die Er-füllung von Unterhaltsverpflichtungen, den Schul-denabbau, den Ausgleich der Tatfolgen oder den per-sönlichen Einkauf zu verdienen.Auch hinsichtlich der Höhe der Vergütung sei bei ei-ner nach § 22 zugewiesenen Arbeit zu berücksichtigen,dass es sich insoweit um freiwillige Arbeit und nichtum Pflichtarbeit handele. Daher sei eine nichtmone-täre Komponente entsprechend der Regelung des § 43Abs. 6 StVollzG nicht mehr vorgesehen, ohne dass sichdaraus ein Anspruch der Gefangenen auf eine höhereVergütung als bisher ergebe. Bei der Festsetzung derVergütung werde berücksichtigt, dass die Produktivitätder Arbeitsbetriebe in den Anstalten im Vergleich zuBetrieben in der freien Wirtschaft gering ist.Die Linken kritisieren weiterhin, dass es an einerRechtsgrundlage für das Entstehen einer Versiche-rungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherungfehle; denn § 191 Strafvollzugsgesetz, der die Versi-cherungspflicht einführe, sei nicht in Kraft gesetztworden.Auch hier gibt es bereits umfangreiche Rechtspre-chung, die besagt, dass in der Nichtinkraftsetzung derVersicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversiche-rung für Strafgefangene kein Verstoß des Gesetzgebersgegen Grundrechte oder das Sozialstaatsgebot
liege.
Auch ein Verstoß gegen europäisches Recht liegtnicht vor. Zwar hat der EuGH entschieden, dass einePerson, die während eines Zeitraums, in dem sie eineHaftstrafe verbüßte, Beiträge zur Arbeitslosenversi-cherung entrichtete, ein Arbeitnehmer im Sinne vonArt. 2 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 sei. Diese euro-parechtliche Definition zwingt aber nicht zu derAnnahme, damit sei entgegen der Entscheidung desnationalen Gesetzgebers quasi automatisch auch dieArbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 1 Satz 1 Nr. 1SGB VI begründet.In ihrem Antrag wollen die Linken außerdem sugge-rieren, dass aufgrund der fehlenden Leistungen zurRentenversicherung Strafgefangene in der Regel vonAltersarmut betroffen sind.Ein solcher zwingender Zusammenhang zwischenHaftzeiten und Hilfebedürftigkeit im Alter kann nichtautomatisch abgeleitet werden. Weder kann aus derVerbüßung einer Haftstrafe eine generell niedrigereRente noch ein Nichterreichen der Mindestversiche-rungszeit abgeleitet werden.„Eine Mindestversicherungszeit“, so der Kommen-tar von Kreikebohm zu § 50 SGB VI, „beugt Manipula-tionen zulasten der Solidargemeinschaft vor undschützt bedingt vor schlechten Risiken“. Dieser Schutzist erforderlich, weil die Beitragszahler auch einensozialen Ausgleich mitfinanzieren, indem sich zumBeispiel beitragsfreie Zeiten positiv auf die Renten-höhe auswirken. Insbesondere bei frühzeitigem Eintritteines Leistungsfalles kann die Zurechnungszeit bewir-ken, dass das Sicherungsziel der Rentenart – die Ge-währleistung eines Einkommensersatzes über demGrundsicherungsniveau – überhaupt zu erreichen ist.Die gesetzliche Rentenversicherung kann – zu Recht –nicht den Beitritt von schlechten Risiken zur Versicher-tengemeinschaft verhindern. Eine Gesundheitsprüfungfindet nicht statt, vielmehr entsteht die Versicherungs-pflicht kraft Gesetzes.“Rentenhöhe und Hilfebedürftigkeit im Alter hängenvon vielen verschiedenen Faktoren ab und wirken sichhöchst individuell aus. Es gibt also keinen zwingendenGrund, Strafgefangene in die Renten-, Kranken- undPflegeversicherung einzubeziehen.
Die gesellschaftliche Wiedereingliederung ehemali-ger Strafgefangener ist ein wichtiges gesellschaftli-ches Thema. Daher tut es tatsächlich not, dass wir unshier auch mit der Frage der Sozialversicherungs-pflicht bzw. dem Sozialversicherungsschutz Strafge-fangener auseinandersetzen. Insofern begrüße ich denvorliegenden Antrag.Allerdings fordern Sie weit mehr, als wir mittragenkönnen und wollen: Die Einbeziehung in die gesetzli-che Rentenversicherung. Das soll aufgrund der imVollzug geleisteten Arbeit paritätisch beitragspflichtigund anspruchsbegründend sein – ohne dass geklärt ist,worauf sich die Beitragsbemessung beziehen soll. Sieformulieren lediglich eine weitere Forderung nach ei-ner besseren Bezahlung. Ferner: die Verknüpfung derAbschaffung der Arbeitspflicht und der Einführung ei-ner angemessenen Entlohnung mit der Schaffung einesRechts auf Arbeit im Strafvollzug; die Ausweitung desbestehenden Vertrauensschutzes bei der Anerkennungvon versicherungspflichtigen Zeiten bei ehemals in derDDR Inhaftierten; die Verbindung von Verbesserungenbei Entschädigungsleistungen für Opfer schwerer Ge-walttaten mit den Interessen von Strafgefangenen imvorliegenden Antrag.Es ist aber nicht sinnvoll, Strafgefangene, währendsie sich in Gewahrsam befinden – auch unter Ableis-tung von Pflichtarbeit –, in Hinblick auf die spätereRente besserzustellen als Bezieher von Arbeitslosen-geld II, Ersatz- oder Wehrdienstleistende. Des Weite-ren ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesländerauch ohne eine Versicherungspflicht bereits heute frei-willige Beiträge für arbeitende Strafgefangene abfüh-ren könnten, wenn sie es so beschließen würden.Zu Protokoll gegebene Reden
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29936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Anton Schaaf
(C)
(B)
Gegenwärtig sind Strafgefangene ausdrücklich in
Pflege- und Rentenversicherung. Hier gelten die allge-meinen Regeln des Sozialversicherungsrechts, wonaches nach den Vorschriften des SGB IV für eine Versiche-rungspflicht vor allem an der „Freiwilligkeit“ der Ar-beitsleistung mangelt. Sogenannte Freigänger, denendie Unterhaltung eines Arbeitsverhältnisses außerhalbder Justizvollzugsanstalt erlaubt ist, sind hingegen indiesem Beschäftigungsverhältnis pflichtversichert.Arbeitende Strafgefangene werden darauf verwie-sen, dass sie freiwillige Beiträge leisten können. DasBundesverfassungsgericht hatte am 1. Juli 1998 ent-schieden, dass die fehlende sozialversicherungsrecht-liche Absicherung verfassungskonform ist. Allein dieHöhe der Entgelte – 5 Prozent der sozialversiche-rungsrechtlichen Bezugsgröße – entsprach nicht demverfassungsrechtlichen Gebot der Resozialisierung.Der Gesetzgeber hat die Höhe der Entgelte daraufhin
das Bundesverfassungsgericht die Neuregelung imJahr 2002 als verfassungsgemäß gebilligt.Zudem gab es zahlreiche Petitionen zur Aufnahmevon Strafgefangenen in die Sozialversicherung. Vonder 14. bis zur 16. Legislaturperiode sind allein 35 Pe-titionen an den Deutschen Bundestag gerichtet wor-den. Derzeit läuft ein weiteres Petitionsverfahren –eine ältere Leitpetition und weitere Mehrfachpetitio-nen. Im Augenblick läuft der Abstimmungsprozess inden Fraktionen.Gegenwärtig liegt eine Gesetzesinitiative der Lan-
Abschaffung der Arbeitspflicht vorsieht. Ein Automa-tismus in Bezug auf die Integration in die Sozialversi-cherung wäre damit aber noch nicht in Gang gesetzt.Wie Sie auch in Ihrem Antrag rekapitulieren, wurdeim Jahr 1976 das Strafvollzugsgesetz, StVollzG, verab-schiedet. Das Gesetz sah auch die Einbeziehung arbei-tender Strafgefangener in die Kranken- sowie die Ren-tenversicherung vor. Die §§ 190 bis 193 des StVollzGenthielten die entsprechenden Vorschriften, die nach§ 198 Abs. 3 durch ein weiteres Bundesgesetz in Kraftgesetzt werden sollten. Zugleich sollten auch die Ar-beitsentgelte erhöht werden. Dieses besondere Gesetzist bis jetzt nicht ergangen.Seit der Föderalismusreform liegen die Zuständig-keiten für den Strafvollzug zwar bei den Ländern, derBund bleibt aber weiterhin für die Sozialversicherungverantwortlich. Die jeweiligen Bundesregierungen ha-ben in der Vergangenheit zwar die Einbeziehung Straf-gefangener in die Sozialversicherung als sinnvoll er-achtet, die aufgeschobene Inkraftsetzung wird vorallem dem Widerstand der Bundesländer und deren fi-nanziellen Vorbehalten zugeschrieben.Im Zusammenhang mit einer Anfrage des Grund-rechtekomitees, einer Organisation, die sich unter an-derem mit der Frage der Einhaltung der Grund- undMenschenrechte Strafgefangener beschäftigt, zur Ein-beziehung Gefangener in die gesetzliche Rentenversi-cherung habe ich die Bundesregierung in zwei schrift-
einen sollte geklärt werden, ob die Bundesregierungdiese Problematik in dem sogenannten Rentendialogaufgreifen wird und wie sie dazu steht, die Arbeitszei-ten von Strafgefangenen als Anrechnungszeiten in dergesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. In ih-rer Antwort hat die Bundesregierung die Einbeziehungin den Rentendialog verneint und auch den Vorschlagzur rentenrechtlichen Anerkennung abgelehnt. Be-gründet hat sie ihre Ablehnung mit den Kosten für dieSolidargemeinschaft der Beitragszahler, die nicht zurechtfertigen seien. Dabei hat die Bundesregierung inihrer Antwort aber die Höhe des finanziellen Aufwandsnicht angegeben. Die Bundesregierung sieht die Bun-desländer in der Pflicht, einer Änderung zuzustimmen.Eine Mehrheit für eine solche Position bei den Bundes-ländern sieht sie aber wegen der weiterhin angespann-ten Haushaltssituation nicht.Dabei können die niedrigen Entgelte für die Pflicht-arbeit, auch wenn sie in Zukunft etwas steigen, kaumeinen nennenswerten Beitrag zum Aufbau einer exis-tenzsichernden Rente leisten. Anrechnungszeiten kön-nen bei entsprechenden Vorleistungen im Einzelfall so-gar zu höheren Ansprüchen führen als Beitragszeiten.Das Argument einer zu starken finanziellen Belas-tung der Solidargemeinschaft erweist sich bei Betrach-tung der Wirkungen von Anrechnungszeiten als unan-gebracht. Denn allein durch den Strafvollzug würdekein Rentenanspruch erstmalig begründet. Lediglichein bereits erworbener würde aufrechterhalten, zumBeispiel auf eine Erwerbsminderungsrente, bzw. in Zu-kunft wirksam werden, wenn der Versicherte vor odernach dem Vollzug weiter versicherungspflichtig waroder wird.Darüber hinaus fordern Sie von der Linken, denKrankenversicherungsschutz und die Einbeziehung indie Pflegeversicherung sicherzustellen. Dabei ist aberweniger an den Betroffenen selbst als an dessen Ange-hörige zu denken. Der Gefangene erhält während desVollzugs Leistungen der Gesundheitsfürsorge. Fami-lienversicherte Angehörige können bzw. müssen imEinzelfall jedoch Leistungen der Sozialhilfe in An-spruch nehmen, um ihren Krankenversicherungsschutzaufrecht zu halten. Hier sehen wir noch Klärungsbe-darf zur Situation in den einzelnen Bundesländern.Die SPD verfolgt das Ziel, in Zukunft alle Erwerbs-tätigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzube-ziehen. Dies könnte über kurz oder lang bedeuten, dassauch Menschen in besonderen ErwerbssituationenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29937
Anton Schaaf
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– dies beträfe dann auch Strafgefangene – integriertwürden. Bis dahin sind aber noch einige Fragen zuklären. Letztendlich können die Länder bei Fragen derEntlohnung aber auch immer auf die finanziellen Be-lastungen durch die allgemeinen und individuellenUnterhaltskosten im Vollzug verweisen. Insofern wäredie Anerkennung dieser Zeiten als Anrechnungszeiteneine gute Lösung, um den Interessen der Strafgefange-nen für eine bessere Alterssicherung gerecht zu wer-den.Es wäre schön gewesen, hätte sich die Fraktion DieLinke allein auf den Themenkomplex des Sozialversi-cherungsschutzes konzentriert. So werden nun zwarzusammenhängende, aber doch sehr unterschiedlicheProbleme in Ihrem Antrag miteinander vermischt, aberlängst nicht ausführlich genug abgehandelt:Arbeit ist ohne jeden Zweifel wichtig für die Reso-zialisierung Strafgefangener. Aber die Abschaffungder Arbeitspflicht zu fordern, ist das eine; zugleichaber auch ein Recht auf Arbeit für Strafgefangene ver-ankern zu wollen, lässt Ratlosigkeit auch bei Wohlwol-lenden zurück. Das Recht auf Arbeit beschreibt nachArt. 12 unseres Grundgesetz das Recht, bei freier Be-rufswahl und Sicherung der menschlichen Würde ar-beiten zu können. Dies beinhaltet aber keinen indivi-duellen Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Den kann esdaher auch für Strafgefangene nicht geben. Eine freieBerufswahl ist schon allein aus Gründen, die im Cha-rakter des Vollzugs liegen, unmöglich. Die Vollzugsan-stalten sind bemüht, sinnvolle Beschäftigungsmöglich-keiten bereitzustellen, letztendlich haben sie aberheute schon Schwierigkeiten, allen Gefangenen etwasanzubieten, weil die Nachfrage die vorhandenen Ar-beitsmöglichkeiten übersteigt.Sie haben eine finanzielle Opferentschädigung übereinen Härtefonds für Opfer von schweren Gewalttatenin ihren Forderungskatalog mit aufgenommen. HaltenSie es für taktvoll und angemessen gegenüber den Be-troffenen, die Sache der Strafgefangenen mit dem derOpferentschädigung in einem Antrag abzuhandeln?Sicherlich ist es richtig, Strafgefangene für angetanesLeid auch in die finanzielle Pflicht zu nehmen, wie Siees mit der Änderung der Pfändungsvorschriften beab-sichtigen. Aber die Einrichtung eines Härtefonds hättesicherlich eine eigenständige Behandlung verdient. Eserscheint mir unangemessen und löst Befremden aus,die Interessen der Opfer mit denen der ehemaligen Tä-ter gemeinsam zu behandeln.Kurz und gut: Obwohl wir Ihre Initiative zur Inte-gration Strafgefangener in die Sozialversicherung alsrichtig erachten, wäre es dem Antrag zustatten gekom-men, hätten Sie sich ausschließlich mit diesem Kernthemaauseinandergesetzt. Dies hätte dann auch einen Er-kenntnisgewinn für uns bedeuten können. Stattdessenhaben Sie thematische Verknüpfungen vorgenommen,die der Glaubwürdigkeit Ihres Anliegens nicht dienlichsind.
Zum wiederholten Male bringt die Fraktion der Lin-ken das Thema aufs Tableau. Das ist zwar lobenswert,ändert aber nichts an der grundsätzlichen Problema-tik. Ich möchte sie Ihnen gerne noch einmal darlegen.Zur inhaltlichen Diskrepanz:Versicherungspflichtig in der gesetzlichen Renten-versicherung sind gemäß SGB VI unter anderem Per-sonen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Einsolches Beschäftigungsverhältnis kann nach Recht-sprechung des Bundessozialgerichts nur angenommenwerden, wenn man die Arbeit freiwillig macht.Die Arbeitsleistung von Gefangenen hingegen wirdaufgrund eines sogenannten öffentlich-rechtlichen Ge-wahrsamsverhältnisses erbracht, sodass ein freies Be-schäftigungsverhältnis nicht vorliegt. Nach geltendemRecht unterliegen Strafgefangene somit während einerTätigkeit im Rahmen des Strafvollzugs nicht der Versi-cherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversiche-rung. Für diese Zeiten werden folglich auch keine Bei-träge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt.Das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 enthältzwar schon Regelungen über eine grundsätzliche Ein-beziehung der Strafgefangenen in die Rentenversiche-rungspflicht, es hat jedoch in § 198 das Inkrafttretender vorgesehenen Regelungen einem besonderen Bun-desgesetz vorbehalten.Und hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel: Dassaus dem Vorhaben bislang nichts wurde, beruht im We-sentlichen auf finanziellen Vorbehalten der Bundeslän-der, die die Beiträge zur Sozialversicherungsleistungübernehmen müssten. Die Gesetzgebungskompetenzfür den Strafvollzug ist im Wege der Föderalismusre-form auf die Länder übertragen worden. Nur derBundesgesetzgeber kann jedoch Festlegungen zu denPersonengruppen treffen, die von den sozialen Versi-cherungssystemen erfasst sind.Dass Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversi-cherung aufgenommen werden, war bereits in der 14.und 15. Wahlperiode des Deutschen BundestagesThema im Petitionsausschuss. Seinerzeit hat der Aus-schuss keine Möglichkeit gesehen, dieses Anliegen aufBundesebene zu unterstützen, und daher empfohlen,das damalige Petitionsverfahren abzuschließen. DerDeutsche Bundestag ist dieser Empfehlung gefolgt.Der Petitionsausschuss hat jedoch wegen der erfor-derlichen Zustimmung der Bundesländer zu einem ent-sprechenden besonderen Bundesgesetz im Sinne des§ 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes zwei Petitionenden Landesparlamenten zugeleitet.Im Wege einer erneuten parlamentarischen Prüfungin der 16. Wahlperiode vertrat der Petitionsausschussin seiner Beschlussempfehlung die Meinung, dass beikünftigen Gesetzgebungsverfahren zur Rentenversi-cherung das Anliegen mit einbezogen werden sollte.Dieser Vorschlag wurde dann im Bundesministeriumfür Arbeit und Soziales zwar geprüft, jedoch konnteZu Protokoll gegebene Reden
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29938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Miriam Gruß
(C)
(B)
eine entsprechende Regelung als Gesetzesinitiative derBundesregierung nicht in Aussicht gestellt werden, damit wenig Erfolg zu rechnen gewesen wäre.Die Vorbehalte der Bundesländer gegen die Auf-nahme von Strafgefangenen in die Kranken- und Ren-tenversicherung bestehen unverändert fort. Die Haus-haltssituation der Bundesländer hat sich nicht in derWeise verändert, dass eine erneute Initiative der Bun-desregierung Aussicht auf Erfolg hätte. Die Bundesre-gierung hält die Einbeziehung von Strafgefangenen indie gesetzliche Rentenversicherung zwar weiterhin fürsinnvoll, hat jedoch keinerlei Möglichkeiten, die um-fassende Einbeziehung in die Sozialversicherung aufanderem Wege sicherzustellen.Es können somit allein die Bundesländer eine Ände-rung der bestehenden Rechtslage herbeiführen, indemsie eine Einbeziehung von Strafgefangenen in die So-zialversicherung initiieren. Nach derzeitigem Kennt-nisstand besteht jedoch bei der Mehrheit der Bundes-länder aus den eingangs geschilderten finanziellenGründen weiterhin keine Neigung, einem Bundesge-setz im Sinne des § 198 Abs. 3 des Strafvollzugsgeset-zes zuzustimmen bzw. eine entsprechende Gesetzesini-tiative im Bundesrat zu ergreifen.
Bereits vor 35 Jahren hat die Politik das Verspre-
chen gegeben, dass Gefangene im Rahmen einer
grundlegenden Gesamtreform des Strafvollzugswesens
in die Sozialversicherungen einbezogen werden. Bis-
her gilt dies lediglich für die Unfall- und Arbeitslosen-
versicherung. Die Linke will die Wiedereingliederung
von Gefangenen fördern und fordert daher, sie in die
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einzubezie-
hen. Mit dem Verweis auf die finanziellen Vorbehalte
der Länder und auf die für sie anfallenden Kosten
durch Sozialversicherungsbeiträge verweigert sich die
Bundesregierung, initiativ zu werden. Das Sozial-
staatsprinzip und Gebot der Resozialisierung von Ge-
fangenen darf aber nicht unter Kostenvorbehalt ge-
stellt werden.
Die heutigen Regelungen stellen eindeutig eine dop-
pelte Bestrafung dar, die nicht rechtens ist. Denn durch
die Nichteinbeziehung in die Sozialversicherungssys-
teme entstehen den Gefangenen langfristig schwere
Nachteile, indem sie etwa Vorversicherungszeiten und
Wartezeiten verfehlen oder ihren Anspruch auf Er-
werbsminderungsrente verlieren.
Gefangene sind deshalb nicht in Sozialversicherun-
gen einbezogen, weil bisher die Freiwilligkeit als das
Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung gilt. Strafgefangene und Sicherungsver-
wahrte unterliegen jedoch einer gesetzlichen Arbeits-
pflicht. Wir fordern die vollständige Abschaffung der
Arbeitspflicht und diese in ein individuelles und ein-
klagbares Recht auf einen Arbeitsplatz umzuwandeln.
Die meisten Gefangenen wollen nämlich arbeiten.
Es existiert zwar der Musterentwurf eines Gesetzes
von zehn Ländern, der die Abschaffung der Arbeits-
pflicht vorsieht. Doch als einziges Bundesland steht
Brandenburg mit seiner rot-roten Regierung auch vor
der tatsächlichen Umsetzung dieses Entwurfs.
Dass die von Gefangenen geleistete Arbeit derzeit
nicht bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pfle-
geversicherung berücksichtigt wird, hat verheerende
Auswirkungen auf die Zeit nach der Haftentlassung.
Die entstandenen Versicherungslücken führen zu sehr
niedrigen Altersrenten, und sogar die Mitgliedschaft in
der Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rent-
ner ist keineswegs garantiert. Ansprüche auf Leistun-
gen der gesetzlichen Pflegeversicherung oder auch auf
Erwerbsminderungsrente können nur bei Einhaltung
bestimmter Vor- bzw. Mindestversicherungszeiten gel-
tend gemacht werden.
Wir Linken schlagen deshalb vor, für die Dauer des
Freiheitsentzugs eine eigenständige rentenrechtliche
Zeit einzuführen. Bei der 35-jährigen Wartezeit muss
die Zeit des Strafvollzugs voll berücksichtigt werden.
Für ehemals in der DDR Inhaftierte galten Arbeitsein-
sätze als versicherungspflichtige Zeiten. Diese Rege-
lung lief jedoch am 31. Dezember 1996 aus. Für die
Zeit nach 1996 wollen wir eine vertrauensschutzwah-
rende Regelung schaffen.
Strukturierte und ausgefüllte Arbeitstage, entspre-
chend der Fähigkeiten und Neigungen der Gefange-
nen, sind für einen echten Resozialisierungsprozess
unabdingbar. Die Länder müssen daher dazu angehal-
ten werden, neue Arbeitsplätze im Strafgefangenen-
vollzug zu schaffen. Die geleistete Arbeit muss zudem
paritätisch beitragspflichtig und anspruchsbegrün-
dend werden. Dies soll neben der Verbesserung der
Resozialisierungsbedingungen insbesondere den Op-
fern der Straftäterinnen und Straftäter zugutekommen.
Wir fordern darum, die bisherigen Pfändungsvor-
schriften derart zu gestalten, dass zunächst die Opfer
der Straftaten mit ihren Entschädigungsansprüchen
privilegiert werden. Dazu ist ebenso die derzeitige
Entlohnung der Gefangenen von durchschnittlich
1,50 Euro pro Stunde deutlich anzuheben.
Im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Straftäterin-
nen und Straftäter kann nur ein Härtefallfonds für
Opfer schwerer Gewalttaten Abhilfe schaffen. Die Ge-
setzgebungskompetenz liegt hier ausdrücklich beim
Bund. Dafür muss im nächsten Haushaltsgesetz unbe-
dingt ein Haushaltstitel in angemessener Höhe ein-
gestellt werden. Die Wahrung der Opferrechte ist un-
mittelbar mit der Wahrung der Straftäterinnen- und
Straftäterrechte verknüpft.
Es zählt zu den Grundsätzen des Sozialstaats, dassder Staat „für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrundihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindertsind“, Vor- und Fürsorge trägt. Ganz im Geiste diesersozialen Verantwortung des Staates für seine BürgerZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29939
Markus Kurth
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wurde 1976 eine Änderung des Strafvollzugsgesetzesbeschlossen. Sie sah vor, die Arbeit von Inhaftiertenneu zu bewerten. Nach den Vorstellungen des Gesetz-gebers sollte die Arbeitspflicht im Strafvollzug zukünf-tig nicht – mehr – als Strafe gelten, sondern die beruf-liche Integration der Strafgefangenen fördern und siedarin unterstützen, sich nach Verbüßung der Haftzeiteine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen.Als wesentliche Punkte dieser Neubewertung warenzum einen eine bessere Vergütung vorgesehen, die der-jenigen in Freiheit vergleichbar sein sollte; zum ande-ren sollten die arbeitenden Häftlinge umfassend in dieSozialversicherung einbezogen werden. Dieser Be-schluss wurde 1976 gefasst; allerdings ist keiner derbeiden Punkte bislang umgesetzt. Damals wie heuteerhalten Strafgefangene und Sicherungsverwahrte ei-nen Minimallohn von wöchentlich 100 Euro. Und da-mals wie heute sind Strafgefangene und Sicherungs-verwahrte trotz Erwerbsarbeit weder kranken-, pflege-noch rentenversichert.Dass ein entsprechendes Bundesgesetz bislangnicht zustande kam, ist dem Widerstand der Länder ge-schuldet. Im Bundesrat wurde die Einbeziehung derStrafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherungmit Verweis auf die finanziellen Belastungen der Län-derhaushalte, die als Träger des Strafvollzugs die Bei-träge anteilig übernehmen müssten, abgelehnt. DieKosten, die auf die Länder für eine Einbeziehung vonStrafgefangenen in die Rentenversicherung zukämen,würden sich auf jährlich 160 Millionen Euro belaufen.Noch einmal 100 Millionen Euro fielen jährlich füreine angemessene Entlohnungshöhe an – eine ver-gleichsweise geringe Summe, stellt man ihr die Kostengegenüber, die dadurch entstehen, dass viele ehema-lige Häftlinge – vor allem diejenigen mit langen Haft-zeiten – mit dem Eintritt ins Rentenalter auf Leistun-gen aus den Sozialkassen angewiesen sind.Abgesehen davon, dass die Blockadehaltung derLänder eine finanzielle Milchmädchenrechnung ist,bedeutet der seit 37 Jahren währende Ausschluss vonStrafgefangenen aus der gesetzlichen Renten-, Kran-ken- und Pflegeversicherung vor allem eine Bankrott-erklärung an das Sozialstaatsprinzip. Ihr Ausschlusswiderspricht der staatlichen Vor- und Fürsorgepflicht.Indem Gefangene für ihre Arbeit, die sie als Pflicht-arbeit in Eigenbetrieben der Strafvollzugsanstaltenoder assoziierten Unternehmen leisten, weder ange-messen entlohnt noch sozial abgesichert werden, istdas Verbüßen einer Freiheitsstrafe nicht allein einFreiheitsentzug für einen bestimmten Zeitraum, son-dern straft die Betroffenen auch über ihren Haftaufent-halt hinaus.Damit widerspricht die Praxis zwei eisernenGrundsätzen des Strafvollzugs: erstens dem Gebot,dass eine Haftstrafe über die eigentliche Haftdauer hi-naus keine negativen Folgen für die Betroffenen habendarf. Greift man allein die fehlende Einbindung in dieRentenversicherung heraus, so wird deutlich, dass ge-nau das aber der Fall ist. Da während der Zeit derStrafhaft keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenver-sicherung gezahlt werden und diese Zeit auch nicht alsBerücksichtigungs-, Anrechnungs- oder Zurechnungs-zeit gilt, führt die Haft trotz Heranziehung zur Arbeitdazu, dass Teile der Lebensarbeitszeit für die Alters-vorsorge entfallen. Neben Einbußen bei der Renten-höhe scheitern Rentenansprüche so auch an der Nicht-erfüllung von Wartezeiten. Durch den Ausschluss ausder Rentenversicherung kann die Anwartschaft aufeine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit we-gen der Nichterfüllung der besonderen versicherungs-rechtlichen Voraussetzungen verloren gehen.Zweitens steht der Umgang mit den Inhaftierten imWiderspruch zum Grundsatz der Resozialisierung. Wirwissen um die Bedeutung der Arbeit für Kriminalprä-vention, Straffälligkeit und Resozialisierung. Die Wert-schätzung, die Strafgefangene für ihre Arbeit erfahren,ist wichtig. Allerdings erschwert es die geringe Entloh-nung, Schulden zu tilgen, Angehörigen Unterhalt zuleisten oder Rechtstitel der Opfer zu begleichen. DieSchuldenlast, die viele Strafgefangene drückt, kannwährend der Haftzeit kaum gemindert werden, unddas, obwohl Schuldenfreiheit die Chancen für ein Le-ben ohne Straftaten deutlich erhöht.Ein echter Neuanfang ist – insbesondere nach län-gerer Haft – ohnehin schwer. Wer das Ziel der Resozia-lisierung von Strafgefangenen wirklich ernst nimmt,der sollte ihnen die Möglichkeit geben, während derHaftzeit „reinen Tisch“ zu machen – und zwar auch infinanzieller Hinsicht –, um eine realistische Aussichtauf gelingende Rückkehr in die Gesellschaft zu haben.Noch ein Wort zum Sozialstaatsprinzip, mit dem ichmeinen Redebeitrag eingeleitet habe: Hinter ihm stehtdas politische Bekenntnis, jedem Einzelnen den Statusals Bürger zuzugestehen. Der Ausschluss von Strafge-fangenen und Sicherheitsverwahrten fällt hinter diesenGrundsatz zurück. Die Linke betont in ihrem Antragdie Wiedereingliederung von Strafgefangenen und Si-cherungsverwahrten; das unterstützen wir Grünen. Al-lerdings hat die Einbeziehung von Strafgefangenen indie Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung nocheine andere, man könnte sagen, symbolische Dimen-sion. Es geht um die Integration in die soziale Siche-rung, und zwar als vollwertige Bürger, unabhängig da-von, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sindoder nicht. Unstrittig ist, dass Rechtsverstöße strafbe-wehrt verfolgt werden müssen und dass – wo dies mög-lich ist – ein Ausgleich zwischen Tätern und Opfernerfolgen muss. Unstrittig ist aber auch, dass Rechts-verstöße keine Ungleichbehandlung rechtfertigen, wiesie derzeit – und, ich betone das noch einmal, seit in-zwischen 37 Jahren – betrieben wird.
Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-che 17/13103 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstan-den? – Dann haben wir so beschlossen.
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29940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Katja Kipping, Sabine Zimmermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEWirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei denJobcentern erhöhen– Drucksache 17/7844 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales InnenausschussDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch ist ein lernendes
System. Dies hat sich erst vor wenigen Tagen wieder
gezeigt, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Fach-
leute aus ganz Deutschland zu einem Symposium zur
Anwendung des SGB II eingeladen hatte. Wir haben
aus diesem Gespräch eine Fülle von Anregungen für
unsere Arbeit mitgenommen. Aber, um es vorwegzu-
nehmen: Vorschläge, wie sie die Fraktion Die Linke
heute in ihrem Antrag präsentiert, hat uns dort nie-
mand unterbreitet.
Dabei ist der Überschrift des Antrags nicht einmal
zu widersprechen. Nichts ist so gut, als dass es nicht
auch noch besser werden könnte. Insofern räume ich
durchaus ein, dass bei der Wirksamkeit der Beiräte bei
den Jobcentern bisweilen noch Spielraum nach oben
sein könnte. Ich will an der Stelle aber auch vorab
schon sagen, dass viele Jobcenter mit den Beiräten
sehr gut zusammenarbeiten und die dort vorhandene
Expertise zugunsten ihrer Kunden nutzen.
Wie gesagt, die Überschrift des Antrags ist ganz
vernünftig, aber das war es dann auch schon. Wenn
man sich die Vorschläge im Einzelnen ansieht, stünde
am Ende der Umsetzung dann wohl die vollständige
Ausgliederung der Einzelfallbearbeitung im Jobcenter
in deren örtliche Beiräte. Wer auch nur ein bisschen
Ahnung von Verwaltung hat, kann sich ausmalen, was
das in der Praxis bedeutet. Das Ganze soll dann auch
noch in öffentlicher Sitzung beraten werden. Was das
mit dem Ziel der Effizienzsteigerung zu tun haben soll,
erschließt sich mir beim besten Willen nicht.
Ich komme nochmals auf die eingangs zitierte An-
hörung zu sprechen. Da gab es auch kritische Unter-
töne, dass bisweilen die Kooperation mit den Beiräten
nur formal sei. Wir wurden aber gleichzeitig und fast
schon händeringend gebeten, das SGB II nicht zu
übersteuern. Daraus folgt für mich: Wenn es einen
Optimierungsbedarf zwischen Jobcenter und Beirat
geben sollte, dann müssen sich dem die Akteure vor
Ort zuwenden. Diesem Anliegen können sich beispiels-
weise die Kreistage widmen, wenn ihnen über die
Arbeit des Jobcenters berichtet wird. Der Bund ist als
Gesetzgeber wichtig; er sollte aber gerade dort, wo es
um originäre kommunale Zuständigkeiten geht, einse-
hen, dass auch im vorliegenden Fall der Leitsatz gilt:
In der Beschränktheit zeigt sich der Meister.
Insofern kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
diesem Antrag der Linkspartei nicht folgen.
Unsere erste und vorrangigste Aufgabe ist es, denerwerbsfähigen Hilfebedürftigen vor Ort durch Unter-stützung und Förderung eine Brücke in den Arbeits-markt zu bauen. Dazu ist in dezentraler Verantwortungein individuelles und passgenaues Fallmanagementerforderlich. Denn der Gesetzgeber kann nur die Rah-menbedingungen setzen; die eigentliche Arbeit wartetvor Ort im Rahmen der Gestaltung der örtlichen Ar-beitsmarktpolitik. Gefordert sind also in erster Liniedie Träger der Grundsicherung, die Jobcenter, die Be-teiligten des örtlichen Arbeitsmarktes und eben auchdie örtlichen Beiräte. Der Sachverstand aller wird be-nötigt, um die bestmöglichen Lösungen für die betrof-fenen arbeitslosen Menschen zu finden und zu nutzen.Dabei bilden die gesetzlich verankerten örtlichenBeiräte die Schnittstelle zwischen der öffentlichen Ver-waltung in den Jobcentern und der Umsetzung und Er-bringung der erforderlichen Maßnahmen durch dieArbeitsmarktdienstleister. Sie beraten das Jobcenterund die verantwortlichen Träger und geben Impulse.Ziel ist es, die Erfahrung und das Wissen der Akteurevor Ort bei der Auswahl von Eingliederungsmaßnah-men zu nutzen.Seit dem 1. Januar 2011 ist verbindlich vorgesehen,dass jedes Jobcenter, egal ob gemeinsame Einrichtungoder Optionskommune, einen örtlichen Beirat einrich-tet. Damit hat der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruckgebracht: Die Nutzung der Kompetenzen der Partnerdes Arbeitsmarkts sollen aktiv genutzt und in die tägli-che Arbeit der Jobcenter eingebunden sein. Die Bei-räte werden gebraucht, sie können überall einen akti-ven fördernden Part bei der Zielerreichung spielen.Das ist zugleich Teil der Philosophie der Jobcenterre-form, mit der wir die lokalen Strukturen und die dezen-trale Verantwortung gestärkt haben.Aufgabe der Beiräte ist allerdings lediglich die Be-ratung der Jobcenter. Es geht nicht darum, Entschei-dungen für die Jobcenter zu treffen. In diese Richtungzielt erkennbar der Antrag der Fraktion Die Linke. DieBeiräte sollen verbindlich mitbestimmen; sie sind beiablehnenden Widersprüchen anzuhören; ihnen sollAkteneinsicht gewährt werden. Das geht aber weitüber die Aufgabenbefugnisse hinaus, die den Beirätenzukommen soll. Ein verbindlicher Einfluss der örtli-chen Beiräte, eine Entscheidungskompetenz oder einVetorecht sind einfachgesetzlich und auch verfas-sungsrechtlich ausgeschlossen.§ 18 d SGB II spricht deshalb mit guten Gründenvon der beratenden Funktion des örtlichen Beirats.Das geht natürlich nur, wenn die Jobcenter gegenüberden örtlichen Beiräten transparent handeln. Nur imehrlichen und offenen Dialog können gute und nach-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29941
Max Straubinger
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haltige Ergebnisse erzielt werden. Je engagierter dieörtlichen Beiräte auftreten, nachfragen und sich ein-bringen, desto stärker können positive Impulse vonden verantwortlichen Stellen gehört und umgesetztwerden. Die Beiräte sind nicht Placebo, nicht Beiwerkoder Kulisse; sie sind wichtig, notwendig und eine Ein-flussgröße von besonderem Wert. Alle Beteiligten vorOrt sind aufgefordert, darauf zu achten und dieserFunktion in den wesentlichen Entscheidungsprozessenzur Geltung zu verhelfen.Eine andere Frage ist, die Wirksamkeit der örtli-chen Beiräte auf die Arbeit der Jobcenter zu prüfen.Kommen die Beiräte ihrer Funktion nach? WelchenEinfluss haben sie auf die Entscheidung der Jobcen-ter? Welche Gestaltungsspielräume stehen ihnen dazuzur Verfügung? Die Bundesregierung hat dazu AnfangMärz 2013 in ihrer Antwort auf eine entsprechendeparlamentarische Anfrage der Linken ausgeführt, dasssie derzeit keinen Bedarf sieht, ein Forschungsvorha-ben zur Rolle und Wirkungsweise der örtlichen Beiräteumzusetzen. Ich teile diese Einschätzung. Ich halte esfür einen großen Erfolg, dass innerhalb kurzer Zeit fastüberall Beiräte eingerichtet worden sind. Jetzt solltenwir die Beiräte erst einmal in Ruhe arbeiten lassen. Anmich sind bislang auch keine diesbezüglichen Klagenherangetragen worden. Nach meinen Erkenntnissenstehen die Linken mit ihrer Forderung auch ziemlichallein. Eine Erweiterung der Kompetenzen der Bei-räte, wie sie die Antragsteller fordern, lehne ich jeden-falls ab. Die heutige Gespensterdebatte könnten wiruns getrost sparen.
Die Beiräte in den Jobcentern sind ein wichtigerPartner vor Ort, wenn es darum geht, lokal erfolgrei-che Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Ihrem ehrenamt-lichen Engagement sollten wir alle Anerkennung undDank zollen.Und die Kenntnisse und Erfahrungen der örtlichenArbeitsmarktakteure sind zudem eine große Bereiche-rung für die Arbeit der Trägerversammlung und derGeschäftsführung. Sie bringen sich ein und tragen mitdafür Sorge, dass die Eingliederungsleistungen imSinne der arbeitsuchenden Menschen vor Ort gestaltetwerden.Die rigide Kürzungspolitik dieser schwarz-gelbenBundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik stellt dieArbeitsuchenden, die Jobcenter und die Träger vorgroße Herausforderungen. Daher ist es umso wichti-ger – vor dem Hintergrund dieser verschärften Bedin-gungen –, das Wissen der Arbeitnehmer- und Arbeit-gebervertreter, der Kammern und berufsständischenOrganisationen sowie der Freien Wohlfahrtpflege miteinzubinden. Das war immer unser Anspruch!Deshalb ist es auch gut und richtig, dass seit dem1. Januar 2011 die örtlichen Beiräte nach § 18 d SGB IIin allen Jobcentern verpflichtend sind. Dafür habenwir uns in den Beratungen zur Jobcenterreform einge-setzt. Die Einrichtung der Beiräte lief etwas holprig,und in vielen Regionen musste sich das vertrauens-volle und reibungslose Zusammenspiel zwischen demBeirat, der Trägerversammlung und der Geschäftsfüh-rung erst entwickeln.Wir schauen in den meisten Regionen unseres Lan-des also auf gut zwei Jahre Arbeit von Beiräten zurück.Die Fraktion Die Linke hat den Antrag bereits imNovember 2011 eingebracht und wollte zu diesem Zeit-punkt schon erkannt haben, dass die Arbeit der Beirätenur ungenügend wirkt. Das ist schon interessant. Vorallem vor dem Hintergrund, dass Sie uns die Quelle Ih-rer Erkenntnis verschweigen!Der Gesetzgeber hat mit den Beiräten ein beraten-des Gremium geschaffen, welches vor Ort gute fachli-che Unterstützung leistet. Diesem Anspruch müssenaber auch die Größe der Beiräte und ihre Zusammen-setzung, sowie ihr Aufgabenspektrum Rechnung tra-gen. Denn zu berücksichtigen ist und bleibt, dass dieörtlichen Beiräte ehrenamtlich arbeiten.Daher müssen die gemachten Vorschläge der Links-fraktion genau geprüft werden – inwieweit sie mit demAnspruch einer wirksamen Arbeit der Beiräte verein-bar sind. Und dann kommen wir zum Schluss, dassdurch die meisten Forderungen die Wirksamkeit derArbeit der örtlichen Beiräte nicht verbessert wird, son-dern eher verschlechtert wird.Schauen wir uns exemplarisch den einen oder ande-ren Vorschlag genauer an. Es wird zum Beispiel gefor-dert, dem Beirat Akteneinsicht zu gewähren und aufVerlangen Auskunft zu erteilen. Hier muss erläutertwerden, wie weit sich das Akteneinsichtsrecht erstre-cken soll. Lediglich datenschutzrechtliche Grenzen zuziehen, ist sicherlich zu weitläufig. Für Einzelfallaktenist dieser Vorschlag gänzlich auszuschließen, und wirmüssen auch Sorge dafür tragen, dass die ohnehinschon komplexen Verwaltungsabläufe nicht noch kom-plizierter werden.Voraussetzung für eine wirksame Arbeit der Beiräteist, dass die Jobcenter Transparenz über ihre Arbeitschaffen. Das heißt, dass sie den örtlichen Beiräten In-formationen über die Höhe des Eingliederungstitels,über geplante Maßnahmen und deren Grundlagenrechtzeitig zur Verfügung stellen. Denn die Intentiondes Beirats ist verfehlt, wenn er erst nach Erstellungdes Katalogs der Eingliederungsmaßnahmen und -ins-trumente eingebunden wird. Sinn macht nur eine früh-zeitige Beteiligung! Inwieweit das derzeit schon gutfunktioniert oder wo es noch hakt, kann keiner zum jet-zigen Zeitpunkt sagen.Ich glaube aber, dass sich die Zusammenarbeit nochbesser einspielen muss. Die Trägerversammlungen so-wie die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführermüssen die Beiräte als Partner und guten Ratgeber be-greifen. Doch das lässt sich nicht per Gesetz regeln.Wovor wir uns auch hüten sollten, es gesetzlich zuregeln, ist die Einbindung der Beiräte im Wider-Zu Protokoll gegebene Reden
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29942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Angelika Krüger-Leißner
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spruchsverfahren der Leistungsbescheide. Wir dürfennicht vergessen, dass es von vornherein gewollt war,dass die örtlichen Beiräte ein ehrenamtliches und be-ratendes Gremium sind. Und so ist es nach unsererAuffassung auch richtig. Eine Einbindung in dasWiderspruchsverfahren würde die Arbeit der Beirätenicht wirksamer werden lassen, sondern zum Erliegenbringen. Richtig ist, dass dem Sozialrecht eine Beteili-gung Dritter im Widerspruchsverfahren nicht fremdist. Aber der Beirat ist hier definitiv die falscheAdresse – zumal wir dann auch wieder bei den Einzel-fallakten und den datenschutzrechtlichen Regeln wä-ren. Wenn man in diese Richtung was machen will,dann sollte man eher über neutrale Ombudsstellennachdenken.Die Frage, wer in den Beiräten sitzt und werMitglieder entsenden darf, war im Vorfeld der zum1. Januar 2011 eingeführten Änderungen schonThema. Die derzeitige Regelung ist in unseren Augenausreichend und begrenzt die Beiräte somit auch aufeine arbeitsfähige Größe. Eine weitere Ausdehnungdes Gremiums werden wir daher nicht unterstützen.Was wir aber unterstützen, ist die engere Einbin-dung der örtlichen Beiräte im Einsatzfeld der öffent-lich geförderten Beschäftigung. In unserem Antragzum sozialen Arbeitsmarkt haben wir das schon unter-strichen. Wir wollen, dass die Sozialpartner ein ord-nungspolitisches Vetorecht bekommen – und zwar fürdie im Arbeitsmarktprogramm dargelegten Konzeptefür sozialversicherungspflichtige öffentlich geförderteBeschäftigung. Diese intensive Einbindung hat näm-lich ihren besonderen Reiz. Zum einen ist der lokaleKonsens in einem sozialen Arbeitsmarkt unabdingbar.Zum anderen können somit auch Vorurteile abgebautwerden. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Kon-sens mit dem Jobcenter die Instrumente und Maßnah-men besprechen, kann den permanenten Vorwürfen– öffentlich geförderte Beschäftigung verdrängt regu-läre Arbeitsplätze und sei nur schlecht bezahlt – entge-gengewirkt werden.Jedoch kann die Befugnis des Beirats als bera-tendes Gremium nur bei einem ordnungspolitischenVetorecht liegen. Das haben wir in unserem Antragzum sozialen Arbeitsmarkt auch hinreichend begrün-det.An diesem Punkt würden wir die Rechte der örtli-chen Beiräte stärken wollen. Inwieweit die beratendeTätigkeit, wie in Punkt 1 gefordert, noch ausgeweitetwerden soll, muss in der weiteren Diskussion geklärtwerden. Es kann durchaus Sinn machen, die Beiräte ineinzelnen Punkten beratend mit hinzuzuziehen. Einegenerelle Ausweitung auf alle Leistungen ist aber zuweitgehend, und wird durch uns nicht unterstützt.Im Großen und Ganzen können wir über die Anre-gungen aus diesem Antrag diskutieren. Schlussendlichhaben wir hier aber ein Thema, zu dem es derzeit keinfundiertes und belastbares Material gibt. Es ist einfachzu früh, über die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeitder Beiräte zu Schlussfolgerungen im Sinne diesesAntrags zu kommen.Wir wissen zudem, dass die Hans-Böckler-Stiftunggerade an einem Forschungsprojekt zu genau diesemThema arbeitet. Das Projektteam untersucht die Ge-staltungsspielräume und die Durchsetzungskraft derBeiräte. Lassen Sie uns doch einfach erst einmalabwarten, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen! Mitte2014 soll das Forschungsprojekt abgeschlossen sein.Ich bin auf die Ergebnisse gespannt. Und davon ausge-hend lohnt sich dann auch eine intensivere Betrach-tung der Arbeit der Beiräte in den Jobcentern.
Mit der Neuorganisation der Aufgabenwahrneh-mung im Bereich des Zweiten Buches Sozialgesetzbuchhat diese christlich-liberale Regierungskoalition dieBildung von Beiräten bei den Jobcentern gesetzlichverankert. Im Zuge der Reform der arbeitsmarktpoliti-schen Instrumente haben wir die örtlichen Beiräte wei-ter gestärkt. Sie können daran erkennen, dass dieserRegierungskoalition viel an der Arbeit der örtlichenBeiräte liegt.Unsere Zielrichtung bei der Jobcenterreform wares, den Prozess des lokalen Zusammenarbeitens derentscheidenden Akteure vor Ort zu stärken. Dabei istauch klar, dass, je engagierter die örtlichen Beiräteauftreten, nachfragen und sich einbringen, desto stär-ker positive Impulse von den verantwortlichen Stellengehört und umgesetzt werden können.Als Politik haben wir das Signal gesetzt, dass dieBeiräte wichtig sind und ihren Einfluss geltend ma-chen sollen. Sie dienen nicht als Feigenblatt, sondernsollen konkret mitsprechen und beraten.Gerade uns als Liberalen war es ein Anliegen, beider Entscheidung über den Einsatz von Arbeitsgele-genheiten nach §16 d SGB II die örtlichen Beiräte mitBefugnissen auszustatten. Sie haben jetzt eine bera-tende Funktion beim Einsatz dieses arbeitsmarktpoliti-schen Instruments.Gerade bei der Bewertung der Einhaltung der Kri-terien öffentliches Interesse, Wettbewerbsneutralitätund Zusätzlichkeit setzen wir auf das Wissen der loka-len Arbeitsmarktakteure vor Ort. Diese können dieEinsatzfelder viel besser ausmachen und definieren,als es aus der Ferne einzuschätzen wäre.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr An-trag ist für mich ein Beispiel dafür, dass gut gemeintdas Gegenteil von gut gemacht ist. Wenn man IhrenAntrag liest, dann klingt das alles sehr schlüssig undunterstützenswert. Ich möchte nicht verhehlen, dassauch wir gerade im Zuge der Reform der arbeitsmarkt-politischen Instrumente darüber nachgedacht hatten,die örtlichen Beiräte mit noch weiter gehenden Kom-petenzen auszustatten.Im Rahmen der Beratung des damaligen Gesetzent-wurfs haben wir uns mit Fachleuten unterhalten, dieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013 29943
Pascal Kober
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uns aus einem einfachen Grund davon abgeraten ha-ben. Ein verbindlicher Einfluss der örtlichen Beiräte,eine Entscheidungskompetenz oder ein Vetorecht sindeinfachgesetzlich und vor allem auch verfassungs-rechtlich ausgeschlossen.Durch das Urteil vom 20. Dezember 2007 zu denArbeitsgemeinschaften als Gemeinschaftseinrichtungvon Bundesagentur für Arbeit und kommunalenTrägern hat das Bundesverfassungsgericht dem Ge-setzgeber den Auftrag gegeben, dafür zu sorgen, dasstransparente und eindeutige Entscheidungs- und Auf-sichtsstrukturen geschaffen werden. Dies sei ein zwin-gendes Gebot des Demokratieprinzips; denn für jedenBürger müsse klar nachvollziehbar sein, welche staat-liche Stelle für eine Entscheidung tatsächlich verant-wortlich ist.Daher ist die Übertragung von verbindlichen Ent-scheidungsmöglichkeiten auf die örtlichen Beirätenicht möglich. Nichtsdestotrotz ist die Arbeit der örtli-chen Beiräte so wertvoll, dass wir sie weiterhin unter-stützen wollen, auch wenn es keine verbindlichenEntscheidungen der Beiräte geben kann.Für uns ist wichtig, dass lokale Arbeitsmarktpolitikakzeptiert ist. Hierfür ist es notwendig, dass keineArbeitsplätze verdrängt werden. Uns ist wichtig, dassjeder eine Chance bekommen kann. Dies darf abernicht zulasten der bisherigen Arbeitnehmer gehen. Ge-rade dies kann der Rat der örtlichen Beiräte bewerk-stelligen.Es ist das Ziel dieser christlich-liberalen Regie-rungskoalition, die lokalen Arbeitsmarktakteure stär-ker an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu beteili-gen. Denn vor Ort liegt das Wissen über die regionalenGegebenheiten des Arbeitsmarktes. Unter anderemaus diesem Grund haben wir uns ja auch für die Ent-fristung und Ausweitung der Optionskommunen einge-setzt. Und auch aus diesem Grund sind wir gegen ein-heitliche staatlich festgesetzte Mindestlöhne. Vor Ortmuss entschieden werden, welche Lösungen es jeweilsbraucht.Wir bekennen uns zu den örtlichen Beiräten; derAntrag der Linken ist jedoch nicht praktikabel.
Mit dem Gesetz über die Neuorganisation derGrundsicherung für Arbeitsuchende wurde die Ein-richtung von örtlichen Beiräten bei Jobcentern festge-schrieben. Der neu in das Zweite Buch Sozialgesetz-buch, SGB II, aufgenommene § 18 d schreibt dieBildung von Beiräten bei allen Jobcentern der gemein-samen Einrichtungen und den zugelassenen kommuna-len Trägern verpflichtend vor; das heißt, Beiräte müs-sen überall gebildet werden.Dies stellt zwar gegenüber der alten Gesetzeslageeinerseits einen Fortschritt dar, aber andererseits be-inhaltet die Neuregelung auch einen Rückschritt. Posi-tiv ist, dass es nun nicht mehr im Belieben eines Land-rates oder Bürgermeisters oder einer kommunalenVertretung liegt, ob ein Beirat eingerichtet wird. Erkann auch nicht einfach wieder abgeschafft werden.Beides war leider in der Vergangenheit vielfach derFall. Insofern ist die verbindliche Einführung von Job-centerbeiräten grundsätzlich zu begrüßen. Sie bedeu-tete auch eine Aufwertung der Beiräte.Negativ ist allerdings, dass die Beiräte die Träger-versammlung und die Jobcenter nur noch in Fragender Auswahl und der Gestaltung der Eingliederungs-instrumente und -maßnahmen beraten können. Dies istein Rückschritt. Denn bis zur Neuregelung konntensich die Beiräte mit allen Fragen des SGB II befassen.So haben sie sich zum Beispiel auch mit der Wider-spruchs- oder Sanktionspraxis der Jobcenter befasst.Das ist jetzt nicht mehr machbar, da die Bundesregie-rung diese Möglichkeit per Gesetz ausgeschlossen hat.Zwei Jahre nach Inkrafttreten der neuen Regelungwird deutlich, dass die Beiräte sehr oft nur eine Alibi-funktion haben. Ihre Einflussnahme ist begrenzt bzw.auch nicht gewollt. Nicht nur aus einer Kommune istmir bekannt, dass, obwohl die Trägerversammlung perGesetz zur Zusammenarbeit mit dem Beirat verpflich-tet ist, seine Empfehlungen gar nicht erst zur Kenntnisgenommen werden. Einen Rücklauf, wie mit den Emp-fehlungen des Beirats umgegangen wurde, gibt esnicht. Das ist nicht nur demotivierend für viele, diesich ehrenamtlich in den Beiräten engagieren. Das istauch eine Pflichtverletzung der Trägerversammlung.Ich weiß, wovon ich rede, da unsere Fraktion seitnunmehr sechs Jahren regelmäßig Erfahrungsaustau-sche mit Mitgliedern von Beiräten durchführt. Die inunserem Antrag unterbreiteten Vorschläge zur Erhö-hung der Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte ist ein Er-gebnis dieser regelmäßigen Treffen.Die Beiratsmitglieder wollen ihr Aufgabenfeldselbst bestimmen und eine Zusammenarbeit mit demJobcenter und der Trägerversammlung auf gleicherAugenhöhe. Sie sind der Auffassung, dass sie ihre be-ratende Rolle erst richtig wahrnehmen können, wenndie Beiräte auch über entsprechende Kompetenzenverfügen. So sollten sich die Beiräte mit allen grund-sätzlichen Fragen, die im Zusammenhang mit Leistun-gen, die für Betroffene im Rahmen des SGB II erbrachtwerden, befassen und hierzu Empfehlungen an die Trä-gerversammlung und die Jobcenter aussprechen kön-nen.Wichtig ist auch, dass die örtlichen Beiräte über dieEinsatzfelder öffentlich geförderter Beschäftigung ver-bindlich mitbestimmen. Hier sollten sie nicht nur bera-tend tätig sein, um Missbrauch und Fehlsteuerungenentgegenwirken zu können.Es ist heute bereits in einigen Kommunen Praxis,dass Trägerversammlungen per Vereinbarung den Bei-räten weitere Aufgaben übertragen. Diese Möglichkeitsollte allen eröffnet werden. Auf diese Weise kann denunterschiedlichen Gegebenheiten des jeweiligen örtli-chen Arbeitsmarktes und den daraus erwachsendenAnforderungen an Auswahl und Gestaltung der Ein-Zu Protokoll gegebene Reden
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29944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 237. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2013
Katrin Kunert
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gliederungsinstrumente besser Rechnung getragenwerden.Weiterhin schlagen wir vor, dass sich die Beiräte mitstrittigen Widerspruchsbescheiden befassen können, umKlageverfahren zu verhindern. Eine Beteiligung Dritterim Widerspruchsverfahren ist dem SGB nicht fremd. Fürdie Sozialhilfe bestimmt § 116 Abs. 2 SGB XII, dass so-zial erfahrene Dritte vor dem Erlass des Bescheidesüber den Widerspruch gegen die Ablehnung der Sozi-alhilfe oder die Festsetzung ihrer Art und Höhe bera-tend zu beteiligen sind. Die Einbringung dieser Erfah-rung in das Verfahren soll unter anderem eine erhöhte„Richtigkeitsgewähr“ für die jeweils zu treffendeMaßnahme bewirken, und zwar im öffentlichen Inte-resse wie im Interesse des von dieser Maßnahme be-troffenen Einzelnen.In der Begründung zur verbindlichen und flächen-deckenden Einrichtung von Beiräten wurde daraufverwiesen, dass durch die Arbeit des Beirats für alleBeteiligten des örtlichen Arbeitsmarktes Transparenzüber das Gesamtpaket der aktiven Leistungen herge-stellt wird. Die Linke ist der Auffassung, dass dieserAnspruch nur erfüllt werden kann, wenn die Beirats-mitglieder den Zugang zu Informationen zu allen zumAufgabenbereich eines Beirats gehörenden Angele-genheiten haben. Insofern fordern wir ein Aktenein-sichtsrecht für alle Mitglieder des Beirats und eineAuskunftspflicht der Geschäftsführung des Jobcentersgegenüber den Mitgliedern des Beirats. Dies würdezugleich zu einer Zusammenarbeit auf gleicher Augen-höhe beitragen. Zu beachten sind allerdings etwaigentgegenstehende datenschutzrechtliche Regelungen.In Zukunft sollten die Mitglieder eines Beirats nichtmehr über die Trägerversammlung berufen werden.Kommunale Vertretungen und SGB-II-Beziehende bzw.deren Interessenvertretungen sowie die übrigen Betei-ligten des örtlichen Arbeitsmarktes, insbesondere Ge-werkschaften und Arbeitgebervertretungen, die Indus-trie- und Handelskammer, die Handwerkskammernsowie die Liga der freien Wohlfahrtspflege, sollen ihreVertreterinnen und Vertreter selbst bestimmen. Da-durch wird sichergestellt, dass alle gesellschaftlich re-levanten Belange berücksichtigt werden.Soweit zu unseren Vorschlägen. Die Linke ist derAuffassung, dass deren Umsetzung zu einem anderenVerständnis und zu einer echten Aufwertung der Arbeitder Beiräte im Interesse der Betroffenen führen kann.
Wir brauchen starke Jobcenter, und dazu gehörenauch stark besetzte und gut eingebundene Beiräte. Werkann besser die örtlichen Problemlagen einschätzenals die Beteiligten des lokalen Arbeitsmarktes selbst?Wer kann besser den Einsatz von Eingliederungsmaß-nahmen bewerten als diejenigen, die breite Erfahrunghaben mit den verschiedenen Instrumenten? Wer kannbesser bei der Gestaltung der Maßnahmen beraten alsdiejenigen, die wissen, wo es Lücken und Defizite gibt,aber auch sagen können, was bereits gut funktioniert?In den Beiräten sitzen idealerweise genau diejeni-gen zusammen, die die Gegebenheiten vor Ort am bes-ten kennen und einschätzen können. Dazu gehören dieVertreter von Kommunen und Gemeinden, der freienWohlfahrtspflege, von Arbeitgebern, Gewerkschaften,Wirtschaftsverbänden und Kammern. Aber immer wie-der wird die Arbeit der Beiräte nicht ernst genommenoder gar missachtet. Die Arbeitsmarktakteure dürfensich dann in den Beiräten zwar austauschen und ihreMeinung kundtun, wirklich eingebunden werden sieaber nicht.Beispielhaft dafür steht die Situation in Leipzig. Diedortigen Grünen mussten erst ein Rederecht des Job-centerbeirats in der Trägerversammlung beantragenund im Stadtrat durchsetzen – um den Widerstand derVerwaltung dagegen aufbrechen zu können. Partner-schaftliche Zusammenarbeit stelle ich mir anders vor.Die Beiräte sind nicht als Plauderrunden gedacht.Dort sitzt wichtige lokale Expertise. Es muss daherüberall eine echte und transparente Kultur der Zusam-menarbeit zwischen den Jobcentern und den Beirätenentstehen. Nur dann können Impulse in der Arbeits-marktpolitik gesetzt werden, nur dann kann die Arbeitder Jobcenter begleitet und reflektiert werden, nurdann entstehen dringend notwendige Kooperationenzwischen der Arbeitsverwaltung und den arbeitsmarkt-politischen Akteuren der Region. Nur so kann denHerausforderungen am Arbeitsmarkt wirksam begeg-net werden. Und Sie alle wissen, wie groß die Pro-bleme am Arbeitsmarkt nach wie vor sind.Die lösen wir nicht mit starren 08/15-Programmen,sondern nur mit flexibel gestaltbaren Maßnahmen, diean die Erfordernisse vor Ort angepasst werden kön-nen. Dafür wollen wir die Rahmenbedingungen schaf-fen. Herr Keller vom Deutschen Landkreistag hat es ineiner öffentlichen Anhörung zum Thema „Sozialer Ar-beitsmarkt“ auf den Punkt gebracht. Er erinnerte da-ran, dass der Gesetzgeber nicht der erste Sachbearbei-ter ist! Der vielfältigen und heterogenen Wirklichkeitwird man mit kleinteiligen gesetzlichen Regelungenkaum gerecht werden können. Stattdessen wollen wirdie lokalen Entscheidungsspielräume ausweiten unddie Möglichkeit für flexible Lösungen schaffen. LokaleSpielräume erfordern Know-how vor Ort, und das istin den Beiräten vorhanden.Wie das genutzt werden kann, zeigt beispielhaft un-ser grünes Konzept für einen sozialen Arbeitsmarkt.Wir wollen, dass an die Stelle starrer und oft realitäts-ferner gesetzlicher Vorgaben und Kriterien ein lokalerKonsens tritt. Den Konsens schmieden müssen die re-levanten Arbeitsmarktakteure vor Ort. Sie stimmen inKenntnis der örtlichen Lage den Arbeitsverhältnissenim sozialen Arbeitsmarkt zu, die wir grundsätzlich füralle Arbeitgeber öffnen wollen. Auf Kriterien wie Zu-sätzlichkeit, Wettbewerbsneutralität und öffentlichesInteresse, wie sie zurzeit bei öffentlich geförderter Be-schäftigung bestehen – sie haben sich nicht bewährt –,kann so verzichtet werden. Der lokale Konsens mit denArbeitsmarktpartnern gewährleistet eine praxisnaheZu Protokoll gegebene Reden
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Brigitte Pothmer
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und abgestimmte Handhabung vor Ort. Diese Formder Beteiligung der Arbeitsmarktakteure vor Ort solltenoch viel häufiger genutzt werden.Wir wollen die lokale Ebene im Sinne einer flexiblenArbeitsmarktpolitik stärken, und dazu gehören selbstver-ständlich auch die Akteure in den Beiräten. Allerdingssehen wir nicht, dass die Beiräte zur Widerspruchsbe-arbeitungsstelle werden sollten. Hier schlagen wirstattdessen die Einrichtung unabhängiger Ombuds-stellen in den Jobcentern vor, die bei Konflikten ein-geschaltet werden sollen. Dadurch können unter-schiedliche Auffassungen und Vorstellungen zwischenArbeitsuchenden und Jobcenter in einem frühen Sta-dium bearbeitet und gelöst und Klagen vermieden wer-den.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/7844 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. April 2013, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.