Protokoll:
17120

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 120

  • date_rangeDatum: 7. Juli 2011

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:56 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/120 Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . 13880 A (Drucksachen 17/5451, 17/6400) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler, Dorothee Bär, Birgitt Bender, Steffen Bilger, Elke Ferner, Ingrid Fischbach, Dr. Maria Flachsbarth, Rudolf Henke, Ansgar Heveling, Dr. Günter Krings, Markus Kurth, Andrea Nahles, Wolfgang Nešković, Dr. Stefan Ruppert, Ulla Schmidt (Aachen) und weiteren Ab- geordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Präimplanta- tionsdiagnostik (Drucksachen 17/5450, 17/6400) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU) . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . 13871 C 13871 C 13881 B 13882 B 13883 A 13884 B 13885 A 13886 A 13887 A 13887 D 13888 D 13889 C 13890 C Deutscher B Stenografisc 120. Si Berlin, Donnerstag I n h a Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 12, 25 c und 53 h . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiteren Abgeordneten ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnos- tik (Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG) 13869 A 13871 B 13871 B Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz (Herborn), Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiteren Abgeordneten ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur undestag her Bericht tzung , den 7. Juli 2011 l t : begrenzten Zulassung der Präimplanta- tionsdiagnostik (Präimplantationsdia- gnostikgesetz – PräimpG) (Drucksachen 17/5452, 17/6400) . . . . . . . Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Hintze (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13871 C 13873 A 13873 D 13874 C 13875 C 13876 C 13877 B 13878 B 13879 B Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13891 C 13892 A II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ursula von der Leyen (CDU/CSU) . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 60 Jahre Genfer Flüchtlings- konvention – Magna Charta des inter- nationalen Flüchtlingsschutzes umset- zen und fortentwickeln (Drucksache 17/6347) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: 60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention – Handlungsbedarf auf nationaler und in- ternationaler Ebene (Drucksache 17/6095) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für ein of- fenes, rechtsstaatliches und gerech- tes europäisches Asylsystem – zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon- Taubadel, Volker Beck (Köln), weite- 13893 B 13894 B 13895 C 13896 C 13897 D 13898 D 13900 A 13901 B 13902 C 13903 D 13904 D 13905 C 13906 B 13907 C 13908 C 13910 B, 13910 C 13910 C, 13910 D 13913 B 13913 B rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für wirksamen Rechtsschutz im Asyl- verfahren – Konsequenzen aus der Entscheidung des Europäischen Ge- richtshofs für Menschenrechte zie- hen (Drucksachen 17/4679, 17/4886, 17/5362) d) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Viola von Cramon-Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einheitli- chen EU-Flüchtlingsschutz garantieren (Drucksachen 17/4439, 17/5361) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unverzüg- liche Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens (Drucksachen 17/5775, 17/6383) . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbevölke- rung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen (Drucksachen 17/5909, 17/6266) . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 13913 D 13914 A 13914 A 13914 B 13914 C 13916 B 13918 D 13920 A 13921 B 13923 A 13924 B 13926 A 13927 A 13928 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 III Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschulden- wesengesetzes (Drucksache 17/6439) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 53: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes zur Um- setzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt (Drucksache 17/5391) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgeset- zes und des Personenbeförderungsgeset- zes (Drucksache 17/6262) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Seefischereigeset- zes und des Seeaufgabengesetzes (Drucksache 17/6332) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seesicher- heits-Untersuchungs-Gesetzes (Drucksache 17/6334) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Überweisung des Goldstone-Be- richtes an den Internationalen Strafge- richtshof durch den UN-Sicherheitsrat (Drucksache 17/6339) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Kathrin Vogler, Jan van Aken, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Behandlungs- und Betreuungsangebote für traumatisierte Soldatinnen und Sol- daten, zivile Kräfte und Angehörige aus- bauen (Drucksache 17/6342) . . . . . . . . . . . . . . . . 13930 A 13932 D 13930 C 13930 D 13938 D 13930 D 13931 A 13931 A 13931 A 13931 B 13931 B g) Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeord- neten Siegmund Ehrmann, Sören Bartol, Martin Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordne- ten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Reiner Deutschmann, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP so- wie der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Josef Philip Winkler, Katrin Göring- Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 – Ein Ereignis von Weltrang (Drucksache 17/6465) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Fraktion der SPD: Menschen- rechte in der Tourismuswirtschaft ach- ten, schützen und gewährleisten (Drucksache 17/6458) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Christel Humme, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zeit zwischen den Geschlechtern ge- recht verteilen – Partnerschaftlichkeit stärken (Drucksache 17/6466) . . . . . . . . . . . . . . . k) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Seenot- rettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern (Drucksache 17/6467) . . . . . . . . . . . . . . . l) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine glaubwürdige Außenpolitik ge- genüber Usbekistan (Drucksache 17/6498) . . . . . . . . . . . . . . . m) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausbil- dungstätigkeit der Bundespolizei in Saudi-Arabien beenden (Drucksache 17/6468) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski- Weiß, Sören Bartol, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Vorrang für Verbraucherinteressen im Gentechnikrecht verankern (Drucksache 17/6479) . . . . . . . . . . . . . . . 13931 C 13931 C 13931 D 13931 D 13932 A 13932 A 13932 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 b) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für ein ein- heitliches Lkw-Tempolimit von 80 km/h auf Autobahnen in Europa (Drucksache 17/6480) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 54: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vierten, Fünften und Sechsten Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationalen Stra- ßenverkehr beschäftigten Fahrperso- nals (AETR) (Drucksachen 17/6061, 17/6440) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der Bundesrepu- blik Deutschland und der Internationa- len Organisation für erneuerbare Ener- gien über den Sitz des IRENA- Innovations- und Technologiezentrums (Drucksachen 17/6039, 17/6265, 17/6464) c) – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 4. Juni 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Turks- und Cai- cosinseln über den steuerlichen In- formationsaustausch (Drucksachen 17/6057, 17/6388) . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 21. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik San Marino über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksachen 17/6058, 17/6388) . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Britischen Jung- ferninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch (Drucksachen 17/6059, 17/6388) . . . . 13932 A 13932 C 13935 A 13935 C 13935 D 13935 D – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Öst- lich des Uruguay zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/6056, 17/6388) . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 28. Fe- bruar 2011 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und Republik Ungarn zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung und zur Verhinde- rung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/6060, 17/6388) . . . . d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Euro- päischen Dienstleistungsrichtlinie im Ge- setz zum Schutz der Teilnehmer am Fernunterricht (Fernunterrichtsschutz- gesetz) (Drucksachen 17/6208, 17/6494) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem: Grünbuch Europäischer Corporate Governance- Rahmen KOM(2011)164 endg.; Ratsdok. 8830/11 hier: Stellungnahme im Rahmen eines Konsultationsverfahrens der EU- Kommission (Drucksachen 17/5822 Nr. A. 20, 17/6506) f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltig för- dern – Auflegung eines Förderpro- gramms „Jugendkultur Jetzt“ (Drucksachen 17/3066, 17/4595) . . . . . . . g) Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- haltsausschusses zu dem Entschließungsan- trag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Alexander Bonde, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: zu der Abgabe ei- ner Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat 13935 D 13936 A 13936 B 13936 C 13936 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 V am 28./29. Oktober 2010 in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 11./12. November 2010 in Seoul hier: Stellungnahme gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes (Drucksachen 17/3425, 17/4246) . . . . . . . h) Vierte Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung: zu 43 Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deut- schen Bundestag am 27. September 2009 (Drucksache 17/6300) . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . i) Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- ses: Übersicht 5 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 17/6453) . . . . . . . . . . . . . . . . j) – q) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293 und 294 zu Peti- tionen (Drucksachen 17/6323, 17/6324, 17/6325, 17/6326, 17/6327, 17/6328, 17/6329, 17/6330) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Grenzüberschrei- tende Bürgerrechte beim Atomkraft- werksprojekt Temelín 3 und 4 (Drucksache 17/6481) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Mobilität nach- haltig sichern – Elektromobilität fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nachhaltige Mobilität fördern – Elektromobilität vorantreiben – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Kli- maschutz im Verkehr braucht we- sentlich mehr als Elektroautos 13937 A 13937 B 13937 C 13938 C 13938 D 13939 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Mit grüner Elektro- mobilität ins postfossile Zeitalter (Drucksachen 17/3479, 17/3647, 17/2022, 17/1164, 17/6441) . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) – l) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303 und 304 zu Petitionen (Drucksachen 17/6469, 17/6470, 17/6471, 17/6472, 17/6473, 17/6474, 17/6475, 17/6476, 17/6477, 17/6478) . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP: Anhaltend po- sitive Entwicklung auf dem deutschen Ar- beitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Demonstra- tion und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid (Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Katrin Kunert, Wolfgang Nešković, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zum Verbot der 13939 C 13940 B 13941 B 13941 B 13942 D 13944 A 13945 D 13947 A 13948 C 13949 D 13951 A 13952 B 13954 A 13955 C 13957 B 13958 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Speicherung von Kohlendioxid in den Untergrund des Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland (CO2-Speicher-Verbotsgesetz – CSpVG) (Drucksachen 17/5232, 17/6507) . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Jens Koeppen, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Umfassende Datenbasis für Nut- zungsmöglichkeiten des Untergrunds schaffen (Drucksachen 17/3056, 17/6507) . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Katja Mast, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ar- beitsmarktpolitik an den Herausforderun- gen der Zeit orientieren – Weichen für gute Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräfte- sicherung stellen (Drucksache 17/6454) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13958 D 13958 D 13959 A 13960 C 13962 B 13962 D 13963 D 13964 D 13965 D 13967 A, 13967 B 13970 D, 13973 B 13967 A 13967 D 13968 D 13969 D 13976 A 13977 B 13978 D 13979 A 13979 D 13980 B Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (Drucksachen 17/6291, 17/6496) . . . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten und zur Begrenzung von Energie- verbrauch und Energiekosten (Drucksache 17/6371) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (Drucksachen 17/4143, 17/6505) . . . . . . . 13980 D 13981 C 13982 D 13983 D 13985 B 13985 C 13986 C 13987 C 13988 C 13989 D 13991 B 13992 A 13992 C 13993 C 13993 C 13994 C 13996 A 13997 C 13998 D 13999 C 14000 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 VII – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz- buches (… Strafrechtsänderungsgesetz – … StRÄndG) (Drucksachen 17/2165, 17/6505) . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU) Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, Michael Hartmann (Wackernheim), Christian Lange (Backnang), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Interessenvertretung sinnvoll regeln – Lobbyismus transparent machen (Drucksache 17/6442) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 51: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Drucksache 17/6261) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 14000 D 14001 A 14002 A 14003 A 14003 B 14004 D 14005 D 14006 B 14006 D 14007 C 14009 A 14010 A 14010 B 14011 A 14012 C 14013 B 14014 C 14015 D 14016 C 14017 D 14019 A Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen so- wie zur Ausweitung der Hemmungsrege- lungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und Strafrecht (Drucksache 17/5774) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung zu dem Antrag der Abge- ordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Friedens- und Konfliktforschung stärken – Deutsche Stiftung Friedensforschung finan- ziell ausbauen (Drucksachen 17/1051, 17/6437) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Elisabeth Winkelmeier- Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Marlene Rupprecht (Tuchen- bach), Petra Crone, Christel Humme, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Christian Ahrendt, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Opfern von Unrecht und Miss- handlungen in der Heimerziehung wirk- sam helfen – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unterstützung für Opfer der Heimerziehung – Angemes- sene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen (Drucksachen 17/6143, 17/6093, 17/6500) . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 14019 A 14019 B 14019 C 14019 D 14021 A 14022 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli- tik und Gemeinsame Sicherheits- und Ver- teidigungspolitik der EU wirksam kontrol- lieren (Drucksache 17/5387) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung (Drucksachen 17/5334, 17/5388, 17/6406) . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter Danckert, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der SPD ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Zivilprozessordnung (§ 522 ZPO) (Drucksachen 17/4431, 17/6406) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), weiteren Ab- geordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung (Drucksachen 17/5363, 17/6406) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Große Anfrage der Abgeordneten Kai Gehring, Dr. Harald Terpe, Dr. Konstantin von Notz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Effektivie- rung des Jugendschutzes (Drucksachen 17/3725, 17/5868) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 4. August 14023 C 14024 C 14025 A 14026 B 14027 D 14028 A 14029 A 14029 A 14029 B 14029 D 1963 zur Errichtung der Afrikanischen Entwicklungsbank (Drucksachen 17/6062, 17/6395) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Über- einkommens vom 29. November 1972 über die Errichtung des Afrikanischen Entwicklungsfonds (Drucksachen 17/6063, 17/6396) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufent- haltsrechtlicher Richtlinien der Euro- päischen Union und zur Anpassung na- tionaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Drucksachen 17/6053, 17/6497) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um- setzung aufenthaltsrechtlicher Richtli- nien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschrif- ten an den EU-Visakodex (Drucksachen 17/5470, 17/6497) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Kerstin Tack, Elvira Drobinski- Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduktion verbieten (Drucksachen 17/5485, 17/5893) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe – zu dem Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Si- tuation der Sinti und Roma in Eu- ropa verbessern – zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese, Rüdiger Veit, weiterer Abge- 14029 D 14030 A 14030 C 14030 C 14030 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 IX ordneter und der Fraktion der SPD: Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa (Drucksachen 17/5767, 17/6090, 17/5191, 17/6446) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: In historischer Ver- antwortung – Für ein Bleiberecht der Roma aus dem Kosovo – zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Zwangsrückfüh- rungen von Minderheitenangehöri- gen in das Kosovo (Drucksachen 17/784, 17/1569, 17/3735) Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung zu dem Antrag der Abgeord- neten Elke Ferner, Monika Lazar, Cornelia Möhring und weiterer Abgeordneter: Erweite- rung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach- haltigem Wirtschaften und gesellschaftli- chem Fortschritt in der Sozialen Markt- wirtschaft“ (Drucksachen 17/5885, 17/6435) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: zu der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versiche- rungs- und Rückversicherungstätigkeit (EG) Nr. 2009/138 (Solvabilität II) sowie zum Entwurf einer Richtlinie des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Ände- rung der Richtlinien 2003/71/EG und 2009/ 138/EG im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche 14031 A 14031 C 14032 A Altersvorsorge und der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (Omnibus II) hier: Stellungnahme nach Artikel 23 Ab- satz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenar- beit von Bundesregierung und Deut- schem Bundestag in Angelegenhei- ten der Europäischen Union Für eine harmonisierte europäische Versi- cherungsaufsicht unter Wahrung bewähr- ter Aufsichtsinstrumente zur Risikovor- sorge in Deutschland (Drucksache 17/6456) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute öffentlich geförderte Beschäftigung – Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosig- keit und Ein-Euro-Jobs (Drucksachen 17/1397, 17/5448) . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verord- nung (EG) Nr. 1272/2008 und zur Anpas- sung des Chemikaliengesetzes und anderer Gesetze im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon (Drucksachen 17/6054, 17/6463) . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, weiterer Abge- 14032 B 14032 C 14032 D 14033 D 14034 D 14035 C 14036 C 14037 A 14037 D 14038 A 14038 D 14040 A 14040 C 14041 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bürokratieabbau vorantreiben: Kleine Unternehmen von der Bilanzie- rungspflicht befreien (Drucksache 17/3221) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die De- mokratische Republik Kongo stabilisieren (Drucksache 17/6448) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches Han- deln aktiv unterstützen (Drucksachen 17/6087, 17/6445) . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Mee- resstrategie-Rahmenrichtlinie und zur Änderung des Bundeswasserstraßenge- setzes (Drucksachen 17/6055, 17/6209, 17/6508) . 14041 D 14042 A 14042 D 14043 C 14044 B 14045 A 14046 A 14046 A 14046 D 14047 D 14048 C 14050 C 14051 C 14052 D 14053 A 14054 C 14055 B 14056 C 14057 D 14058 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Unsere Meere brauchen Schutz – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Schutz der Meere vor Vermül- lung und anderen Verschmutzungen (Drucksachen 17/1960, 17/1763, 17/4566) Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bür- gerinnen und Bürger dauerhaft vom Bahn- lärm entlasten – Alternative Güterver- kehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen (Drucksache 17/6452) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge- setzes zur Änderung des Bundesvertriebe- nengesetzes (Drucksache 17/5515) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14058 D 14059 A 14059 D 14061 B 14061 B 14061 A 14064 A 14064 B 14064 D 14065 D 14066 D 14067 B 14068 A 14068 D 14069 A 14069 C 14070 B 14070 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 XI Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Antrag der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hände weg von der Initiative „JUGEND STÄRKEN“ (Drucksache 17/6393) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Till Seiler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkom- mens vom 11. Oktober 1985 zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Garantie- Agentur (Drucksachen 17/5263, 17/6231) . . . . . . . . . . Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei durch den Bund geförderten Ausstellungen (Drucksache 17/6346) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14071 C 14072 C 14072 D 14074 D 14075 D 14076 C 14078 B 14078 A 14078 B 14079 D 14081 D 14082 D 14083 B 14084 B 14084 B 14085 C 14086 A 14087 B 14088 B 14089 C Tagesordnungspunkt 38: Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Aydan Özoğuz, Daniela Kolbe (Leipzig), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einrichtung eines Zen- trums für Alevitische Studien fördern (Drucksache 17/5517) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller- Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Aus- grenzung stoppen – Alle Kinder, Jugendli- che und junge Erwachsene im Leistungsbe- zug des Asylbewerberleistungsgesetzes in das Bildungs- und Teilhabepaket einbezie- hen (Drucksache 17/6455) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Chancen der Digitalisierung erschlie- ßen – Urheberrecht umfassend modernisie- ren (Drucksache 17/6341) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14090 C 14090 C 14091 B 14093 A 14093 B 14094 A 14094 D 14095 B 14096 B 14096 B 14096 D 14097 C 14099 A 14099 D 14100 C 14101 C 14101 D 14102 C 14103 D 14104 C 14105 B XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Tagesordnungspunkt 41: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Tourismus zu dem Antrag der Ab- geordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung ge- setzlich fixieren (Drucksachen 17/4855, 17/5657) . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 42: Antrag der Abgeordneten Stefan Liebich, Dr. Dietmar Bartsch, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einhalten – Umgang mit Gefangenen in pa- lästinensischen Gefängnissen verändern (Drucksache 17/6340) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ IE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 43: a) Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zucht mit Schweinen mit Maligne-Hyperthermie- Syndrom (MHS) verhindern (Drucksache 17/6344) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Dr. Harald Terpe, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dokumentation der Antibiotika-Ver- gabe in der Tierhaltung transparent ge- stalten – Sonderregelungen für die Ge- flügelindustrie streichen (Drucksache 17/6443) . . . . . . . . . . . . . . . . 14107 C 14107 C 14108 C 14109 C 14110 C 14111 C 14112 B 14113 C 14113 D 14114 D 14115 D 14116 C 14117 A 14117 D 14118 D 14118 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Intensive Nutztierproduktion überprüfen (Drucksachen 17/5047, 17/5574) . . . . . . . Josef Rief (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 44: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nährwert-Ampel bundesweit einführen (Drucksachen 17/2120, 17/2961) . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 45: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ar- muts- und Reichtumsbericht zum Ausgangs- punkt für Politikwechsel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit machen (Drucksache 17/6389) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14118 D 14119 A 14120 B 14120 D 14121 B 14122 B 14123 A 14124 B 0000 A14124 B 14125 B 14125 D 14126 B 14127 B 14128 A 14129 A 14129 A 14130 A 14130 D 14132 B 14133 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 XIII Tagesordnungspunkt 46: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Cornelia Möhring, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeit familien- freundlich gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: „Kinder, Küche und Karriere“ – Vereinbarkeit für Frauen und Männer besser möglich machen (Drucksachen 17/3189, 17/3203, 17/5088) . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Endgültiges Ergebnis der namentlichen Ab- stimmung im Stimmzettelverfahren über drei Gesetzentwürfe zur Präimplantationsdiagnos- tik (Tagesordnungspunkt 6) . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3 des Bun- desschuldenwesengesetzes teilgenommen ha- ben (Tagesordnungspunkt 4) . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Mündliche Frage 32 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Handhabung bezüglich der EEG-Umlage Antwort Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (119. Sitzung, Fragestunde) 14134 A 14134 B 14135 B 14136 B 14137 B 14138 A 14138 D 14139 A 14140 A 14154 B 14157 A Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der drei Gesetzentwürfe zur Präimplantations- diagnostik (Tagesordnungspunkt 6) Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Thomas Rachel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josef Rief (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 14157 B 14158 B 14158 B 14159 A 14160 B 14161 A 14163 A 14164 A 14164 B 14165 A 14166 C 14167 B 14168 C 14169 A 14170 B 14171 A 14171 B 14171 C 14171 D 14172 B 14172 C 14173 B 14173 C 14174 C 14175 D 14176 C 14177 A 14177 D 14178 D 14179 B 14179 D 14180 C 14181 A 14182 B XIV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Kai Wegner (CDU/CSU): zur Abstimmung über den Entwurf eines … Gesetzes zur Än- derung des Strafgesetzbuchs – Widerstand ge- gen Vollstreckungsbeamte (Tagesordnungs- punkt 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Trans- port und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid (Tagesordnungspunkt 16 a) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Die Friedens- und Konfliktforschung stärken – Deutsche Stiftung Friedensforschung finan- ziell ausbauen (Tagesordnungspunkt 15) Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Schwanholz (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gemeinsame Außen- und Si- cherheitspolitik und Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU wirksam kontrollieren (Tagesordnungspunkt 17) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . 14183 C 14183 D 14184 C 14184 D 14185 D 14186 B 14186 C 14187 A 14187 D 14188 B 14189 B 14190 A 14190 D 14191 B 14192 A 14192 C 14193 B Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Großen Anfrage: Effektivierung des Ju- gendschutzes (Tagesordnungspunkt 19) Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung (Tagesord- nungspunkt 20) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Übereinkommens vom 4. Au- gust 1963 zur Errichtung der Afrikani- schen Entwicklungsbank – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 29. November 1972 über die Errichtung des Afrikani- schen Entwicklungsfonds (Tagesordnungspunkt 21 a und b) Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . 14194 B 14195 B 14196 D 14198 A 14198 D 14199 B 14200 B 14201 D 14203 A 14203 C 14204 A 14205 C 14206 B 14207 A 14208 A 14208 D 14209 C 14210 D 14211 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 XV Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk- tion verbieten (Tagesordnungspunkt 22) Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Euro- päischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex (Ta- gesordnungspunkt 23) Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach- haltigem Wirtschaften und gesellschaftli- chem Fortschritt in der Sozialen Marktwirt- schaft“ (Tagesordnungspunkt 24) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14212 B 14212 D 14213 B 14214 A 14214 D 14215 D 14216 D 14217 C 14218 D 14219 D 14220 C 14221 C 14222 B 14223 B 14224 A 14225 B 14226 B 14227 B Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Situation der Sinti und Roma in Eu- ropa verbessern – Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern – Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – In historischer Verantwortung – Für ein Bleiberecht der Roma aus dem Ko- sovo – Keine Zwangsrückführungen von Minderheitenangehörigen in das Ko- sovo (Tagesordnungspunkt 25 a und b) Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zu der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Auf- nahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit (EG) Nr. 2009/138 (Solvabilität II) sowie zum Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 2003/ 71/EG und 2009/138/EG im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen Aufsichtsbe- hörde für das Versicherungswesen und die be- triebliche Altersvorsorge und der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (Omnibus II) hier: Stellungnahme nach Artikel 23 Ab- satz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Eu- ropäischen Union Für eine harmonisierte europäische Versiche- rungsaufsicht unter Wahrung bewährter Auf- sichtsinstrumente zur Risikovorsorge in Deutsch- land (Tagesordnungspunkt 27) 14228 B 14229 B 14230 C 14231 B 14232 A 14232 C XVI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 18 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) – Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen so- wie zur Ausweitung der Hemmungsrege- lungen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und Straf- recht (Tagesordnungspunkt 51 und Zusatztagesord- nungspunkt 7) Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14233 D 14235 A 14235 C 14236 B 14237 B 14238 B 14239 B 14240 C 14241 C 14242 C 14243 C 14244 A 14244 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 13869 (A) (C) (D)(B) 120. Si Berlin, Donnerstag Beginn: 9
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14139 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bellmann, Veronika CDU/CSU 07.07.2011 Brand, Michael CDU/CSU 07.07.2011 Burchardt, Ulla SPD 07.07.2011 von Cramon-Taubadel, Viola BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.07.2011* Dr. Danckert, Peter SPD 07.07.2011 Dr. h. c. Erler, Gernot SPD 07.07.2011 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 07.07.2011 Günther (Plauen), Joachim FDP 07.07.2011 Kunert, Katrin DIE LINKE 07.07.2011 Leutheusser- Schnarrenberger, Sabine FDP 07.07.2011 Lindner, Christian FDP 07.07.2011 Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU 07.07.2011 Menzner, Dorothee DIE LINKE 07.07.2011 Nink, Manfred SPD 07.07.2011 Nord, Thomas DIE LINKE 07.07.2011 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Kilic, Memet BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.07.2011 Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.07.2011 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 07.07.2011 Zapf, Uta SPD 07.07.2011* * 14140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Endgültiges Ergebnis der namentlichen Abstimmung im Stimmzettelverfahren über drei Gesetzentwürfe zur Präimplantationsdiagnostik Abgegebene Stimmen insgesamt: 596 Ungültige Stimmen: 1 Gültige Stimmen: 595 Nein-Stimmen: 1 Enthaltungen: 3 Es entfielen auf die Gesetzentwürfe der Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und weiterer Abgeordneter Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik – Drucksache 17/5451 und 17/6400 – 306 Stimmen der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder, Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr, h.c. Thierse und weiterer Abgeordneter Entwurf eines Gesetzes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik – Drucksache 17/5450 und 17/6400 – 227 Stimmen der Abgeordneten René Röspel, Priska Hinz, Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und weiterer Abgeordneter Entwurf eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik – Drucksache 17/5452 und 17/6400 – 58 Stimmen Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. CDU/CSU Ilse Aigner x Peter Altmaier x Peter Aumer x Dorothee Bär x Thomas Bareiß x Norbert Barthle x Günter Baumann x Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) x Manfred Behrens (Börde) x Dr. Christoph Bergner x Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14141 (A) (C) (D)(B) Peter Beyer x Steffen Bilger x Clemens Binninger x Peter Bleser x Dr. Maria Böhmer x Wolfgang Börnsen (Bönstrup) x Wolfgang Bosbach x Norbert Brackmann x Klaus Brähmig x Michael Brand x Dr. Reinhard Brandl x Helmut Brandt x Dr. Ralf Brauksiepe x Dr. Helge Braun x Heike Brehmer x Ralph Brinkhaus x Cajus Caesar x Gitta Connemann x Alexander Dobrindt x Thomas Dörflinger x Marie-Luise Dött x Dr. Thomas Feist x Enak Ferlemann x Ingrid Fischbach x Hartwig Fischer (Göttingen) x Dirk Fischer (Hamburg) x Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) x Dr. Maria Flachsbarth x Klaus-Peter Flosbach x Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) x Michael Frieser x Erich G. Fritz x Dr. Michael Fuchs x Hans-Joachim Fuchtel x Alexander Funk x Ingo Gädechens x Dr. Thomas Gebhart x Norbert Geis x Alois Gerig x Eberhard Gienger x Michael Glos x Josef Göppel x Peter Götz x Dr. Wolfgang Götzer x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Ute Granold x Reinhard Grindel x Hermann Gröhe x Michael Grosse-Brömer x Markus Grübel x Manfred Grund x Monika Grütters x Olav Gutting x Florian Hahn x Dr. Stephan Harbarth x Jürgen Hardt x Gerda Hasselfeldt x Dr. Matthias Heider x Helmut Heiderich x Mechthild Heil x Ursula Heinen-Esser x Frank Heinrich x Rudolf Henke x Michael Hennrich x Jürgen Herrmann x Ansgar Heveling x Ernst Hinsken x Peter Hintze x Christian Hirte x Robert Hochbaum x Karl Holmeier x Franz-Josef Holzenkamp x Anette Hübinger x Thomas Jarzombek x Dieter Jasper x Dr. Franz Josef Jung x Andreas Jung (Konstanz) x Dr. Egon Jüttner x Bartholomäus Kalb x Hans-Werner Kammer x Steffen Kampeter x Bernhard Kaster x Volker Kauder x Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) x Dr. Stefan Kaufmann x Roderich Kiesewetter x Eckart von Klaeden x Ewa Klamt x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14143 (A) (C) (D)(B) Volkmar Klein x Axel Knoerig x Jens Koeppen x Manfred Kolbe x Dr. Rolf Koschorrek x Hartmut Koschyk x Thomas Kossendey x Michael Kretschmer x Gunther Krichbaum x Dr. Günter Krings x Rüdiger Kruse x Bettina Kudla x Dr. Hermann Kues x Günter Lach x Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) x Andreas G. Lämmel x Dr. Norbert Lammert x Katharina Landgraf x Ulrich Lange x Dr. Max Lehmer x Paul Lehrieder x Dr. Ursula von der Leyen x Ingbert Liebing x Matthias Lietz x Dr. Carsten Linnemann x Patricia Lips x Dr. Jan-Marco Luczak x Dr. Michael Luther x Karin Maag x Dr. Thomas de Maizière x Hans-Georg von der Marwitz x Andreas Mattfeldt x Stephan Mayer (Altötting) x Dr. Michael Meister x Dr. Angela Merkel x Maria Michalk x Dr. h. c. Hans Michelbach x Dr. Mathias Middelberg x Philipp Mißfelder x Dietrich Monstadt x Marlene Mortler x Dr. Gerd Müller x Stefan Müller (Erlangen) x Dr. Philipp Murmann x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Bernd Neumann (Bremen) x Michaela Noll x Dr. Georg Nüßlein x Franz Obermeier x Eduard Oswald x Henning Otte x Dr. Michael Paul x Rita Pawelski x Ulrich Petzold x Dr. Joachim Pfeiffer x Sibylle Pfeiffer x Beatrix Philipp x Ronald Pofalla x Christoph Poland x Ruprecht Polenz x Eckhard Pols x Thomas Rachel x Dr. Peter Ramsauer x Eckhardt Rehberg x Katherina Reiche (Potsdam) x Lothar Riebsamen x Josef Rief x Klaus Riegert x Dr. Heinz Riesenhuber x Johannes Röring x Dr. Norbert Röttgen x Dr. Christian Ruck x Erwin Rüddel x Albert Rupprecht (Weiden) x Anita Schäfer (Saalstadt) x Dr. Wolfgang Schäuble x Dr. Annette Schavan x Dr. Andreas Scheuer x Karl Schiewerling x Norbert Schindler x Tankred Schipanski x Georg Schirmbeck x Christian Schmidt (Fürth) x Patrick Schnieder x Dr. Andreas Schockenhoff x Nadine Schön (St. Wendel) x Dr. Ole Schröder x Bernhard Schulte-Drüggelte x Uwe Schummer x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14145 (A) (C) (D)(B) Armin Schuster (Weil am Rhein) x Detlef Seif x Johannes Selle x Reinhold Sendker x Dr. Patrick Sensburg x Bernd Siebert x Thomas Silberhorn x Johannes Singhammer x Jens Spahn x Carola Stauche x Dr. Frank Steffel x Erika Steinbach x Christian Freiherr von Stetten x Dieter Stier x Gero Storjohann x Stephan Stracke x Max Straubinger x Karin Strenz x Thomas Strobl (Heilbronn) x Lena Strothmann x Michael Stübgen x Dr. Peter Tauber x Antje Tillmann x Dr. Hans-Peter Uhl x Arnold Vaatz x Volkmar Vogel (Kleinsaara) x Stefanie Vogelsang x Andrea Astrid Voßhoff x Dr. Johann Wadephul x Marco Wanderwitz x Kai Wegner x Marcus Weinberg (Hamburg) x Peter Weiß (Emmendingen) x Sabine Weiss (Wesel I) x Ingo Wellenreuther x Peter Wichtel x Annette Widmann-Mauz x Klaus-Peter Willsch x Elisabeth Winkelmeier-Becker x Dagmar Wöhrl x Dr. Matthias Zimmer x Wolfgang Zöller x Willi Zylajew x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) SPD Ingrid Arndt-Brauer x Rainer Arnold x Heinz-Joachim Barchmann x Dr. Hans-Peter Bartels x Klaus Barthel x Sören Bartol x Bärbel Bas x Sabine Bätzing-Lichtenthäler x Dirk Becker x Uwe Beckmeyer x Lothar Binding (Heidelberg) x Gerd Bollmann x Klaus Brandner x Willi Brase x Bernhard Brinkmann (Hildesheim) x Edelgard Bulmahn x Marco Bülow x Martin Burkert x Petra Crone x Dr. Peter Danckert x Martin Dörmann x Elvira Drobinski-Weiß x Garrelt Duin x Sebastian Edathy x Ingo Egloff x Siegmund Ehrmann x Petra Ernstberger x Karin Evers-Meyer x Elke Ferner x Gabriele Fograscher x Dr. Edgar Franke x Dagmar Freitag x Sigmar Gabriel x Michael Gerdes x Martin Gerster x Iris Gleicke x Günter Gloser x Ulrike Gottschalck x Angelika Graf (Rosenheim) x Kerstin Griese x Michael Groschek x Michael Groß x Wolfgang Gunkel x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14147 (A) (C) (D)(B) Hans-Joachim Hacker x Bettina Hagedorn x Klaus Hagemann x Michael Hartmann (Wackernheim) x Hubertus Heil (Peine) x Rolf Hempelmann x Dr. Barbara Hendricks x Gustav Herzog x Gabriele Hiller-Ohm x Petra Hinz (Essen) x Frank Hofmann (Volkach) x Dr. Eva Högl x Christel Humme x Josip Juratovic x Oliver Kaczmarek x Johannes Kahrs x Dr. h. c. Susanne Kastner x Ulrich Kelber x Lars Klingbeil x Hans-Ulrich Klose x Dr. Bärbel Kofler x Daniela Kolbe (Leipzig) x Fritz Rudolf Körper x Anette Kramme x Nicolette Kressl x Angelika Krüger-Leißner x Ute Kumpf x Christine Lambrecht x Christian Lange (Backnang) x Dr. Karl Lauterbach x Steffen-Claudio Lemme x Burkhard Lischka x Gabriele Lösekrug-Möller x Kirsten Lühmann x Caren Marks x Katja Mast x Hilde Mattheis x Petra Merkel (Berlin) x Ullrich Meßmer x Dr. Matthias Miersch x Franz Müntefering x Dr. Rolf Mützenich x Andrea Nahles x Dietmar Nietan x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Thomas Oppermann x Holger Ortel x Aydan Özoğuz x Heinz Paula x Johannes Pflug x Joachim Poß x Dr. Wilhelm Priesmeier x Florian Pronold x Dr. Sascha Raabe x Mechthild Rawert x Stefan Rebmann x Gerold Reichenbach x Dr. Carola Reimann x Sönke Rix x René Röspel x Dr. Ernst Dieter Rossmann x Karin Roth (Esslingen) x Michael Roth (Heringen) x Marlene Rupprecht (Tuchenbach) x Anton Schaaf x Axel Schäfer (Bochum) x Bernd Scheelen x Marianne Schieder (Schwandorf) x Werner Schieder (Weiden) x Ulla Schmidt (Aachen) x Silvia Schmidt (Eisleben) x Carsten Schneider (Erfurt) x Ottmar Schreiner x Swen Schulz (Spandau) x Ewald Schurer x Frank Schwabe x Dr. Martin Schwanholz x Rolf Schwanitz x Stefan Schwartze x Rita Schwarzelühr-Sutter x Dr. Carsten Sieling x Sonja Steffen x Peer Steinbrück x Dr. Frank-Walter Steinmeier x Christoph Strässer x Kerstin Tack x Dr. h. c. Wolfgang Thierse x Franz Thönnes x Wolfgang Tiefensee x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14149 (A) (C) (D)(B) Rüdiger Veit x Ute Vogt x Dr. Marlies Volkmer x Andrea Wicklein x Heidemarie Wieczorek-Zeul x Dr. Dieter Wiefelspütz x Waltraud Wolff (Wolmirstedt) x Dagmar Ziegler x Manfred Zöllmer x Brigitte Zypries x FDP Jens Ackermann x Christian Ahrendt x Christine Aschenberg-Dugnus x Daniel Bahr (Münster) x Florian Bernschneider x Sebastian Blumenthal x Claudia Bögel x Nicole Bracht-Bendt x Klaus Breil x Rainer Brüderle x Angelika Brunkhorst x Ernst Burgbacher x Marco Buschmann x Sylvia Canel x Helga Daub x Reiner Deutschmann x Dr. Bijan Djir-Sarai x Patrick Döring x Mechthild Dyckmans x Rainer Erdel x Jörg van Essen x Ulrike Flach x Otto Fricke x Paul K. Friedhoff x Dr. Edmund Peter Geisen x Dr. Wolfgang Gerhardt x Hans-Michael Goldmann x Heinz Golombeck x Miriam Gruß x Joachim Günther (Plauen) x Dr. Christel Happach-Kasan x Heinz-Peter Haustein x Manuel Höferlin x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Elke Hoff x Birgit Homburger x Dr. Werner Hoyer x Heiner Kamp x Michael Kauch x Dr. Lutz Knopek x Pascal Kober x Dr. Heinrich L. Kolb x Gudrun Kopp x Dr. h. c. Jürgen Koppelin x Sebastian Körber x Holger Krestel x Patrick Kurth (Kyffhäuser) x Heinz Lanfermann x Sibylle Laurischk x Harald Leibrecht x Lars Lindemann x Christian Lindner x Dr. Martin Lindner (Berlin) x Michael Link (Heilbronn) x Dr. Erwin Lotter x Oliver Luksic x Horst Meierhofer x Patrick Meinhardt x Gabriele Molitor x Jan Mücke x Petra Müller (Aachen) x Burkhardt Müller-Sönksen x Dr. Martin Neumann (Lausitz) x Dirk Niebel x Hans-Joachim Otto (Frankfurt) x Cornelia Pieper x Gisela Piltz x Dr. Christiane Ratjen-Damerau x Dr. Birgit Reinemund x Dr. Peter Röhlinger x Dr. Stefan Ruppert x Björn Sänger x Frank Schäffler x Christoph Schnurr x Jimmy Schulz x Marina Schuster x Dr. Erik Schweickert x Werner Simmling x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14151 (A) (C) (D)(B) Judith Skudelny x Dr. Hermann Otto Solms x Joachim Spatz x Dr. Max Stadler x Torsten Staffeldt x Dr. Rainer Stinner x Stephan Thomae x Florian Toncar x Serkan Tören x Johannes Vogel (Lüdenscheid) x Dr. Daniel Volk x Dr. Guido Westerwelle x Dr. Claudia Winterstein x Dr. Volker Wissing x Hartfrid Wolff (Rems-Murr) x DIE LINKE Jan van Aken x Agnes Alpers x Dr. Dietmar Bartsch x Herbert Behrens x Karin Binder x Matthias W. Birkwald x Heidrun Bluhm x Steffen Bockhahn x Christine Buchholz x Eva Bulling-Schröter x Dr. Martina Bunge x Roland Claus x Sevim Dağdelen x Dr. Diether Dehm x Heidrun Dittrich x Werner Dreibus x Dr. Dagmar Enkelmann x Klaus Ernst x Wolfgang Gehrcke x Nicole Gohlke x Diana Golze x Annette Groth x Dr. Gregor Gysi x Heike Hänsel x Dr. Rosemarie Hein x Dr. Barbara Höll x Andrej Hunko x Ulla Jelpke x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Dr. Lukrezia Jochimsen x Katja Kipping x Harald Koch x Jan Korte x Katrin Kunert x Caren Lay x Sabine Leidig x Ralph Lenkert x Michael Leutert x Ulla Lötzer x Dr. Gesine Lötzsch x Thomas Lutze x Cornelia Möhring x Kornelia Möller x Niema Movassat x Wolfgang Nešković x Petra Pau x Jens Petermann x Richard Pitterle x Yvonne Ploetz x Ingrid Remmers x Paul Schäfer (Köln) x Michael Schlecht x Dr. Ilja Seifert x Kathrin Senger-Schäfer x Raju Sharma x Dr. Petra Sitte x Kersten Steinke x Sabine Stüber x Alexander Süßmair x Dr. Kirsten Tackmann x Frank Tempel x Alexander Ulrich x Kathrin Vogler x Johanna Voß x Sahra Wagenknecht x Halina Wawzyniak x Harald Weinberg x Katrin Werner x Jörn Wunderlich x Sabine Zimmermann x BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae x Marieluise Beck (Bremen) x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14153 (A) (C) (D)(B) Volker Beck (Köln) x Cornelia Behm x Birgitt Bender x Ekin Deligöz x Katja Dörner x Harald Ebner x Hans-Josef Fell x Dr. Thomas Gambke x Kai Gehring x Katrin Göring-Eckardt x Britta Haßelmann x Bettina Herlitzius x Priska Hinz (Herborn) x Dr. Anton Hofreiter x Bärbel Höhn x Ingrid Hönlinger x Thilo Hoppe x Uwe Kekeritz x Katja Keul x Sven-Christian Kindler x Maria Klein-Schmeink x Ute Koczy x Tom Koenigs x Oliver Krischer x Agnes Krumwiede x Fritz Kuhn x Stephan Kühn x Renate Künast x Markus Kurth x Undine Kurth (Quedlinburg) x Monika Lazar x Tobias Lindner x Nicole Maisch x Agnes Malczak x Jerzy Montag x Kerstin Müller (Köln) x Beate Müller-Gemmeke x Ingrid Nestle x Dr. Konstantin von Notz x Omid Nouripour x Friedrich Ostendorff x Dr. Hermann Ott x Lisa Paus x Brigitte Pothmer x Name Flach Göhring-Eckardt Röspel Nein Enthaltg. Ungült. 14154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Anlage 3 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes teilgenommen haben Wolfgang Wieland x Dr. Valerie Wilms x Josef Philip Winkler x CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Volker Kauder Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Till Seiler Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann-Kuh Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Name x x x x x x x x x n x x x x x x Flach GöhrinEckard x g- t Röspel Nein Enthaltg. Ungült. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14155 (A) (C) (D)(B) Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Sigmar Gabriel Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Silvia Schmidt (Eisleben) Carsten Schneider (Erfurt) Ottmar Schreiner Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer 14156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönkse Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto cole Gohlke ana Golze nette Groth . Gregor Gysi ike Hänsel . Barbara Höll drej Hunko la Jelpke Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane Ratjen- Damerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Till Seiler Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler n Ni Di An Dr He Dr An Ul Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14157 (A) (C) (D)(B) Anlage 4 Antwort der Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser auf die Frage des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (119. Sitzung, Drucksache 17/6386, Frage 32): Werden aus Sicht der Bundesregierung gemäß dem novel- lierten Erneuerbare-Energien-Gesetz Energiespeicher wie Letztverbraucher mit der EEG-Umlage belastet, und gibt es eine unterschiedliche Handhabung bezüglich der Belastung zwischen durch Dritte gelieferten Strom und durch Eigen- erzeugung unter Direktbelieferung bzw. Nutzung des öffentli- chen Netzes? Die Bundesregierung misst dem Ausbau von Pump- speicherkraftwerken eine hohe Bedeutung zu. Der Aus- bau soll durch die vom Deutschen Bundestag am 30. Juni 2011 beschlossenen Neuregelungen, insbeson- dere die Befreiung neuer Speicher von den Netzentgel- ten im Energiewirtschaftsgesetz, EnWG, und die Rege- lung des § 37 Abs. 3 Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, vorangetrieben werden. Eine Schlechterstellung für bestehende Pumpspeicherkraftwerke ist hiermit nicht verbunden. Die Bundesregierung wird prüfen, inwieweit das Ziel, den Bau neuer Speicher in Deutschland voran- zutreiben, durch die Formulierung des § 37 Abs. 3 EEG erreicht wird. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung der drei Gesetzentwürfe zur Prä- implantationsdiagnostik (Tagesordnungspunkt 6) Norbert Barthle (CDU/CSU): Ich bin jetzt seit fast 13 Jahren Mitglied im Deutschen Bundestag. Wir haben schon oft zu Themen des Lebensschutzes diskutiert; viele dieser Debatten verliefen quer durch alle Fraktio- nen und wurden auf hohem Niveau geführt. Dabei stand nicht immer nur der Beginn des Lebens im Vordergrund, wie beim Embryonenschutzgesetz oder der heutigen De- batte. Auch das Ende des Lebens war unser Thema; ich erinnere an die Debatten zur Sterbehilfe oder zur Organ- transplantation. Doch ich kann ehrlich feststellen: Noch nie ist mir eine Entscheidung so schwer gefallen wie heute. Und je mehr ich mich damit beschäftige, desto komplizierter und schwieriger wird es. Das liegt zum einen an meiner Herkunft: Als Katholik aus dem schwäbischen Teil Baden-Württembergs bin ich als gläubiger Mensch aufgewachsen; auch heute noch ist die Religion ein fester Bestandteil meines Lebens und bildet eine wichtige Richtschnur in meiner politischen Arbeit. Ich habe mich daher bei früheren Debatten immer sehr rasch an der Seite der Lebensschützer wiedergefun- den, für die die Nichtverfügbarkeit menschlichen Lebens oberstes und wichtigstes Kriterium bei der Meinungsfin- dung gewesen ist. Eine Verzwecklichung des Menschen, egal in welcher Erscheinungsform, egal ob zu Beginn oder am Ende des Lebens, stieß immer auf meinen erbit- terten Widerstand. Doch diesmal war es anders. Zum anderen lag es an der Komplexität der Materie: Wie kaum jemals zuvor dringen wir mit diesem Thema in Grenzbereiche der Medizin vor, die noch vor wenigen Jahren für kaum vorstellbar gehalten wurden. Anhand einer einzigen Zelle eines künstlich gezeugten Embryos sagen zu können, ob dieser eine Chance auf ein men- schenwürdiges – ich sage bewusst nicht: gesundes – Le- ben hat oder ob er noch während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt dem sicheren Tod geweiht ist, hätte ich selbst noch vor Kurzem nicht für möglich ge- halten. Doch die Medizin macht diese Fortschritte; auch deshalb war es diesmal anders. Nach der Lektüre der vielen Hundert E-Mails und Briefe, die mich erreicht haben, nach dem Studium der Expertisen des Nationalen Ethikrats und anderer bedeu- tender Institutionen und auch nach langem Grübeln habe ich mich dazu entschlossen, dem Gesetzentwurf der Kol- legen Flach, Hintze und anderer zuzustimmen. Und ich weiß jetzt schon, dass meine Zweifel und Selbstzweifel, ob ich mich richtig entschieden habe, nicht mit der heuti- gen Entscheidung aufhören werden; das Thema wird mich – und sicher nicht nur mich allein – noch lange be- gleiten. Denn wir werden in den kommenden Jahren mit unserer Entscheidung zu leben haben, egal wie sie heute ausfällt. Warum habe ich mich anders entschieden? Die Posi- tion der rigorosen Gegner ist mir in diesem speziellen Punkt zu einfach. Man kann bei der PID nicht nur mit dem Vorrang des Lebensschutzes argumentieren. Das ist für mich bei vielen Fragen schlüssig, wenn es um Em- bryonenschutz geht, um Forschung. Doch bei der PID handelt es sich um einen Sonderfall der künstlichen Befruchtung. Das betrifft ohnehin nur die Paare, die auf künstliche Befruchtung angewiesen sind und aufgrund ihrer Veranlagung damit rechnen, ein stark geschädigtes Kind zur Welt zu bringen. Das ist ein sehr, sehr eingegrenzter Personenkreis, wie mir ein be- freundeter Reproduktionsmediziner in einem Gespräch mitteilte. Für mich ist es überaus verständlich und natürlich, dass Eltern ein Kind haben möchten. Eltern, die – gene- tisch bedingte – geistige oder körperliche Beeinträchti- gungen haben, möchte ich ein Recht auf Nachwuchs nicht verweigern. Für diese Eltern stellt sich nun die Frage, entweder gar kein Kind zu bekommen, oder ein Kind, bei dem ich zumindest die Gefahr ausschließen kann, dass die eigene Krankheit weitervererbt wird. Ob dieses Kind dann letztlich gesund zur Welt kommt, liegt weiterhin allein in Gottes Hand! Auch das Argument, behinderte Menschen würden mit einer sehr begrenzten Zulassung der PID abgewertet oder zu „Menschen zweiter Klasse“, zählt an dieser Stelle für mich nicht. Es wird der Sachlage nicht gerecht. Denn betroffen sind Eltern, die häufig schon Kinder haben, aber eine Erkrankung geerbt haben. Diese Eltern 14158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) wünschen sich ein Kind, sind aber nicht bereit, das Ri- siko einer lebensbedrohenden Schädigung eines Kindes ein zweites Mal einzugehen. Wer sich die Schilderungen derjenigen Eltern durchliest, die diese Tortur einmal oder mehrmals durchgemacht haben, bleibt davon nicht unberührt. Denn vergessen wir nicht: Bereits die künstliche Be- fruchtung, die In-vitro-Fertilisation, ist ein teurer, lang- wieriger und körperlich wie seelisch sehr belastender Vorgang – und nur um diese Eltern geht es! Daher glaube ich auch, dass die Sorge vor „Designer- babys“ übertrieben ist; dazu wird es angesichts der im- mensen Kosten und der gesundheitlichen Belastungen nicht kommen. Allerdings will ich einräumen, dass man Vertrauen in die Regelungsfähigkeit des Staats braucht, wenn man der PID zustimmen will. Wir müssen selbst dafür sorgen, dass die von uns aufgerichteten Dämme halten. Ich will nicht für den Flach/Hintze-Entwurf werben, da ich in allen drei Entwürfen Wichtiges und Richtiges finde, selbstverständlich auch in dem Verbotsantrag. Aber ich bitte Sie alle, ich bitte vor allem auch die vielen Menschen in meinem Wahlkreis, die mir geschrieben habe, um Verständnis, dass ich dem Kinderwunsch von erblich schwer vorbelasteten Eltern in diesem konkreten Fall den Vorrang gebe. In diesen eng begrenzten Fällen habe ich mich für das Leben entschieden – für ein Le- ben, das andernfalls nicht entstehen könnte. Marieluise Beck (BREMEN) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die PID greift in eng umrissenen Fällen in einem sehr frühen Stadium in die Entwicklung einer befruchteten Eizelle ein. Diese Form des Eingriffs halte ich für sehr viel weniger einschneidend als das Verfah- ren der Fruchtwasseruntersuchung, das oft erst nach der 20./21. Schwangerschaftswoche zu einem Abbruch der Schwangerschaft führt. Ja, in Einzelfallen werden Spätabbrüche sogar in einer Entwicklungsphase des Em- bryos durchgeführt, wenn das Kind schon an der Grenze der eigenständigen Lebensfähigkeit ist. Ich halte diese Gesetzeslage für ethisch hochbedenk- lich, persönlich halte ich sie für inakzeptabel. In der Ab- wägung der Dramatik der Entscheidung halte ich die PID für die ethisch weniger bedenkliche und stimme deswegen dem Entwurf zu, der in genau definierten Ein- zelfällen die PID zulässt. Dabei bleibt für mich die wichtigste Aufgabe, jeden Menschen so zu nehmen, wie er ist, Verschiedenartigkeit und Behinderung als Teil des normalen Lebens zu sehen und es gesellschaftlich so zu gestalten, dass jede und je- der einen Platz in Würde in unserer Gesellschaft hat. Karin Binder (DIE LINKE): Wir haben heute als Politiker und Politikerinnen mit den vorliegenden Anträ- gen zur Gesetzesänderung eine schwerwiegende Ent- scheidung zur Präimplantationsdiagnostik, PID, zu tref- fen. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich niemand hier im Parlament diese Entscheidung leicht macht. Ich selbst habe lange gebraucht, bis ich mir über meine Entscheidung im Klaren war. Ich werde für das Verbot der PID stimmen. Trotz aller Zweifel, ob die Ent- scheidung richtig ist, habe ich triftige Gründe dafür. Wir alle begrüßen den medizinischen Fortschritt, er rettet Leben, und er verlängert Leben. Die allermeisten Menschen sind froh und glücklich, wenn ihr Leben dank der modernen Medizin gerettet wurde, auch wenn sie nach einem schweren Unfall oder infolge einer Krank- heit mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung wei- terleben müssen. Von solch einer Situation können wir alle einmal be- troffen werden. Unsere Gesellschaft ist deshalb gefor- dert, endlich zu einem anderen Umgang mit behinderten oder kranken Menschen zu kommen. Ein gleichberech- tigtes Miteinander zu schaffen, Einbeziehung, Teilhabe und Teilnahme an einer Gesellschaft für all ihre Mitglie- der, das sind die Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft und wir als Politiker und Politikerinnen ste- hen. Und daran wird die PID nichts ändern, außer viel- leicht die Einstellung von gesunden Menschen zu kran- ken und behinderten Menschen. Müssen sich künftig Eltern eines behinderten Kindes, die sich nicht der Pro- zedur der PID unterzogen haben, womöglich fragen oder sogar vorwerfen lassen, warum nicht? Die Prozedur der künstlichen Befruchtung allein ist schon extrem belastend. Insbesondere haben die Frauen mit großen psychischen und körperlichen Problemen zu kämpfen. Ich verstehe alle Eltern, die sich ein Kind wün- schen, aber auf natürlichem Wege keine Möglichkeit ha- ben, sich dieser Prozedur auszusetzen. Aber die PID leitet ein Ausleseverfahren ein, ein Aus- leseverfahren, um den für jeden Menschen verständli- chen Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind zu erfüllen. Dafür gibt es dennoch keine Garantie. Die Quote von Fehlschlägen ist enorm hoch, und das führt zu weiteren insbesondere psychischen Belastungen, die in Einzelfällen Menschen auch zerstören kann. Aber auch das ist für mich noch nicht das wichtigste Argument, weshalb ich mich gegen die PID ausspreche. Gerade in Deutschland haben wir eine Vergangenheit, die uns eine besondere Verantwortung auferlegt. Vor die- sem Hintergrund ist für mich die Möglichkeit zur Selek- tion menschlichen Lebens der Hauptgrund, mich gegen die PID zu entscheiden. Ich möchte nicht, dass die Forschung um eines ver- meintlichen Fortschritts willen in die Lage versetzt wird, alles, was möglich ist, auch zu machen. Nicht alles, was menschlich machbar ist, ist auch gesellschaftlich sinn- voll oder gar notwendig. Mit der PID stoßen wir eine Tür auf, die wir nicht mehr schließen können. Auch wenn heute niemand von uns die Absicht hat, Kinder nach bestimmten Merkma- len zu züchten, kann niemand von uns sicher sein, dass im Namen eines vermeintlichen Fortschritts nicht später einmal Wissenschaft und Forschung zu einer gesell- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14159 (A) (C) (D)(B) schaftlich nicht gewollten Entwicklung missbraucht werden. Deshalb möchte ich nicht, dass wir diese Büchse der Pandora öffnen, und stimme für das Verbot der PID. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Jeder von uns hier im Deutschen Bundestag steht vor einer Gewissenent- scheidung, wenn es um ein Verbot oder eine Zulassung der PID geht. Ich habe meine Entscheidung sehr bewusst getroffen, weil der Schutz des Lebens vom Anfang bis zum Ende mich stets bei meinen politischen Entschei- dungen geleitet hat. Deshalb spreche ich mich aus großer Überzeugung für ein Verbot der PID aus. Im Jahr 2002 habe ich mich intensiv mit der Frage be- schäftigt, die grundlegend ist: Wann beginnt das zu schützende menschliche Leben? In der damaligen De- batte ging es um die embryonale Stammzellforschung. Gemeinsam mit meinen Bundestagskolleginnen Margot von Renesse und Andrea Fischer habe ich das Stamm- zellgesetz formuliert. Es beinhaltet ein klares Nein zur verbrauchenden Embryonenforschung. In der Debatte um Patientenverfügungen habe ich den Gesetzentwurf meines Kollegen Wolfgang Bosbach unterstützt, der ein Abschalten der Geräte nur im Fall einer irreversibel töd- lich verlaufenden Krankheit erlaubt. Und bei der Debatte um Spätabtreibungen habe ich mich dafür eingesetzt, dass Spätabtreibungen vermieden werden, wir den El- tern helfend zur Seite stehen und allein die gesundheitli- che Gefährdung der Mutter einen späten Schwanger- schaftsabbruch rechtfertigen kann. Die Frage der PID ist zweifellos sensibel. Natürlich wünschen sich Eltern ein gesundes Kind. Doch haben sie auch ein Recht darauf? Ich weiß um die Verzweiflung der Paare. Ich weiß um die Angst, ein nicht lebensfähi- ges oder schwerbehindertes Kind zu bekommen. Das habe ich in vielen Gesprächen erfahren. Doch rechtfer- tigt dies alles eine Selektion, ein Aussortieren von Em- bryonen? Ich habe die große Sorge, dass der Preis zu hoch ist und wir den Schutz des Lebens unwiederbring- lich preisgeben. Ich möchte Ihnen zehn Gründe darlegen, die für mich für ein Verbot der PID maßgebend sind. Erstens. Wer über die PID diskutiert, muss sich der Grundfrage stellen, wann das zu schützende mensch- liche Leben beginnt. Es beginnt mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Das ist mehr als ein kleiner Zell- haufen, es ist ein Embryo, der bereits alle genetischen Anlagen in sich trägt. Nach meinem Verständnis darf es daher keinen Qualitätsunterschied geben zwischen ei- nem Embryo, der außerhalb des Mutterleibs in der Petri- schale liegt, und einem sich bereits im Mutterleib entwi- ckelnden. Beide müssen von Anfang an geschützt werden und haben ein Recht auf Leben. Zweitens. Wer die PID befürwortet, muss heute Ant- wort auf viele Fragen geben: Wer soll die Grenzen defi- nieren und sie entsprechend der medizinischen Entwick- lung fortschreiben? Wer soll bestimmen, was eine „schwere“ Erkrankung ist, und wer rechtfertigt diese Entscheidung? Wer entscheidet darüber, was mit den Embryonen passiert, die als nicht lebenswert verworfen werden? Die European Society of Human Reproduction and Embryology sammelt weltweit Daten der Zentren, die PID durchführen. Sie veröffentlichte im November 2010 Zahlen, nach denen im Jahr 2007 auf ein geborenes Kind mehr als 33 verworfene Embryonen kamen. Wir dürfen diese Selektion nicht zulassen, eine mögliche Schädigung des Embryos darf nicht dazu führen, dass ihm die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Des- halb hat der Deutsche Bundestag eine eugenische Indi- kation bei Schwangerschaftsabbrüchen sehr bewusst ab- gelehnt. Drittens. Unser christliches Menschenbild lässt uns jeden Einzelnen in seiner Einzigartigkeit und Würde an- nehmen. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass Men- schen mit Behinderungen keine Zumutung, sondern Teil unserer Gesellschaft sind. Sie verdienen unsere beson- dere Zuwendung. Viertens. Die Zulassung einer PID wird Eltern von Kindern mit Behinderungen aber unter Rechtfertigungs- zwang setzen: Warum haben sie ihrem Kind das Leid nicht erspart? Warum sollen die Kosten für die Pflege von Kindern mit Behinderungen von allen Teilen der Gesellschaft getragen werden? Das ist fatal. Wir müssen Familien in ihrer Fürsorge und Pflege behinderter Fami- lienmitglieder zur Seite stehen und für eine breite gesell- schaftliche Akzeptanz sorgen. Therapien und Rahmen- bedingungen müssen weiter verbessert werden, um Eltern das Ja zum Kind zu erleichtern. Fünftens. Mithilfe von Diagnostik lassen sich Krank- heiten erkennen, doch eines werden wir niemals können: Das Leid vorhersehen, das ein Mensch zu tragen hat. Wir dürfen uns nicht anmaßen, körperliche oder intellek- tuelle Beeinträchtigungen mit Leid gleichzusetzen. All jene, die einmal mit behinderten Menschen gesprochen haben und den Lebenswillen dieser Menschen erleben durften, werden mir zustimmen. Sechstens. Wir werden auch niemals vorhersehen können, ob es zum Zeitpunkt des Ausbruchs einer Krankheit eine Heilmethode geben wird. Wie wollen wir also entscheiden, ob ein Embryo aufgrund einer Krank- heit heute verworfen wird, wenn wir nicht wissen, ob es Chance auf Heilung geben wird? Das trifft besonders auf spätmanifestierende Erkrankungen wie beispielsweise Brustkrebs zu. Und wer vermag zu entscheiden, ob die ersten Jahre bis zum Ausbruch der Krankheit nicht le- benswert sind? Siebtens. Die PID hält nicht, was sich viele Befürwor- ter von ihr versprechen. Viele Krankheiten lassen sich durch sie nicht erkennen und treten erst im Lauf einer Schwangerschaft auf. Die Erfahrungen aus anderen Län- dern zeigen uns deutlich: Die PID verhindert somit keine Spätabtreibungen, denn viele Paare entscheiden sich nach Bekanntwerden einer Krankheit oder eines Gen- defekts für einen Abbruch. Achtens. Immer wieder hören wir in der Debatte, zwi- schen dem Verbot der PID und der gesetzlichen Rege- lung zum Schwangerschaftsabbruch bestehe ein Wer- tungswiderspruch. Dem ist nicht so! Bei einem Abbruch 14160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) handelt es sich um eine nicht vorhersehbare, oft existen- zielle Konfliktsituation. Bei der PID ist einzig und allein ein eventueller Gendefekt Anlass zur Zerstörung des Embryos. Mit der PID wird so die Erlaubnis eingeführt, menschliches Leben aufgrund unerwünschter Eigen- schaften zu verwerfen. Ich will hier noch einmal in Erin- nerung rufen: Eine Spätabtreibung ist nicht erlaubt, sie ist lediglich straffrei gestellt. Der Grund, dass man glaubt, mit einem behinderten Kind nicht leben zu kön- nen, reicht nicht aus, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Sollte das in der Praxis anderweitig gehandhabt werden, rechtfertigt es noch lange nicht die Zulassung einer PID. Neuntens. Der Hinweis auf eine Zulassung der PID im Ausland führt ins Leere. Wir dürfen uns nicht dazu verleiten lassen, weitergehende gesetzliche Normen aus dem Ausland zum Bezugspunkt unserer eigenen Gesetz- gebung zu erheben. Damit wären wir Getriebene und würden uns nur noch nach den gesetzlichen Normen in anderen Ländern richten. Zehntens. Eine Zulassung der PID bedeutet zweifel- los einen Dammbruch. Die eng gefassten Ausnahmere- gelungen werden nicht lange Bestand haben. Das zeigen uns die sprunghafte Ausweitung der Pränataldiagnostik in Deutschland und die ständige Ausdehnung der An- wendungsbereiche der PID im Ausland ganz deutlich. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen. Ich möchte Ihnen einen Gedanken aus einem Inter- view mit einer Ärztin mitgeben, der mich besonders be- wegt hat: Ein Freisein von Beschwerden ist keine Garan- tie für ein gelingendes Leben. Nehmen wir das Leben an, wie es ist, und machen jede und jeder für sich das Beste daraus! Ich bitte Sie heute um Ihre Stimme zum Schutz des Lebens. Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): PID – diese drei Buchstaben, die Präimplantationsdiagnostik, stehen für eine der individuellsten und emotionalsten Fragen, mit der sich zwei Menschen, die sich ein Kind wünschen, konfrontiert sehen. Nicht nur für bekennende Christen ist die heute zu treffende Entscheidung eine ganz persönliche Herausforderung. Heute gilt es, für diese Paare eine würdige wie zukunftsweisende Ent- scheidung zu treffen, sie in ihrer Sorge nicht alleine zu lassen, ohne ihnen ihre Entscheidungsfreiheit zu neh- men. In über 60 Ländern wird PID angewendet, in den we- nigsten Staaten ist sie verboten. Auch in Europa ist PID mittlerweile gelebte Realität, so zum Beispiel bei unse- ren direkten Nachbarn – Frankreich, die Niederlande, Belgien, Dänemark oder Polen. Viele deutsche Paare mit Kinderwunsch reisen ins teilweise nur wenige Kilometer entfernte EU-Nachbarland. Kritiker sprechen von einem anhaltenden PID-Tourismus. Heute werden wir hier im Deutschen Bundestag über drei Gesetzesentwürfe zu entscheiden haben. Der eine Vorschlag spricht sich für ein generelles PID-Verbot aus, die beiden anderen halten pränatale Diagnostik unter be- stimmten Voraussetzungen für zulässig. Durch die Ent- scheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Juli 2010 wis- sen sie sich damit rechtlich auf sicherem Boden. Der Bundesgerichtshof stellt nämlich in seiner Entscheidung fest, dass die PID zur Entdeckung schwerer genetischer Schäden des extrakorporal erzeugten Embryos unter be- stimmten Voraussetzungen straffrei sein muss. Ich spreche mich für den zweiten Weg und damit für eine begrenzte Zulassung der pränatalen Diagnostik in Deutschland aus, nach vielen Bürgergesprächen, nach Treffen mit Kirchenvertretern sowie mit Gegnern und Befürwortern in meinem Wahlkreis 1 Flensburg-Schles- wig. Damit schließe ich mich den 13 Mitgliedern des Deutschen Ethikrates in ihrer Argumentation an. Sie hal- ten PID unter bestimmten Einschränkungen für ethisch zulässig. Belegt wird, dass so einem rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch nach der Pränataldiagnostik vorgegriffen und dieser damit vermieden werden kann. Zudem wird Paaren, die aus genetischen Gründen bereits einige Fehl- oder Totgeburten zu verkraften hatten, ein weiterer Schicksalsschlag erspart. Medizinische Gründe – Gesundheitsschutz der Frau – sprechen gleichfalls für eine notwendige Zulassung. In welchen Fällen sollte die PID gelten? Zum Ersten, wenn die Eltern nachweislich erblich dazu veranlagt sind, auf das Kind eine schwere Krankheit oder Behinderung zu vererben. Mithilfe der pränatalen Diagnostik kann Gefahren der körperlichen und seelischen Gesundheit vorgegriffen werden. Zum Zweiten, wenn Eltern ein nachweislich hohes Risiko ha- ben, Chromosomenstörungen oder Mutationen zu verer- ben, das eine extra-uterine Lebensfähigkeit des Embryos ausschließt. Zum Dritten, wenn bei Eltern nach wieder- holten Fehlgeburten und/oder medizinischen Behand- lungsversuchen ein hohes Risiko für Reifestörungen der Keimzellen besteht, die extra-uterin nicht lebensfähig sind. Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Frank Ulrich Montgomery, weist angesichts des wissenschaft- lichen Fortschritts darauf hin, dass PID nicht zu verhin- dern sein wird. Daher gilt es, diese – denn PID-Touris- mus können wir nicht wollen! – bei bestimmten Indikatoren zuzulassen. Wichtig ist hierbei auch das per- sönliche Gespräch mit den Eltern. Sie müssen wissen, auf was sie sich einlassen. Ich spreche mich für diesen Gesetzentwurf aus, weil er eine Ergänzung des Embryonenschutzgesetzes um eine Regelung vorsieht, die die Voraussetzungen und Verfahren für die PID regelt. Eine Ausnahme vom Ver- bot ist zulässig, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Vererbung einer schwerwiegenden Krankheit durch genetischen Defekt der Elternteile oder eine Fehl- oder Totgeburt durch einen schwerwiegend gefährdeten Em- bryo vorliegt. Wichtig ist die Einzelfallentscheidung für die PID, die durch den Arzt mit Zustimmung der Ethik- kommission zu erfolgen hat. Sollte dagegen verstoßen werden, sind Strafen festgesetzt. Diesen Sachverhalt im Entwurf halte ich persönlich für unangemessen, auch wenn damit einem möglichen Missbrauch Einhalt gebo- ten werden soll. Abgesehen davon sind die medizinische und psychosoziale Beratung der Eltern sowie die Lizen- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14161 (A) (C) (D)(B) zierung bestimmter Zentren, die die PID durchführen dürfen, vorgesehen. Als überzeugter Christ empfinde ich es als meine Pflicht und als Gebot der Nächstenliebe, der Frau das Ja zu einem Kind zu erleichtern. Die Entscheidung für ein Kind wird mit diesem Gesetzentwurf besser ermöglicht und nicht, wie von Kritikern angeführt, gefährdet. Wir sprechen über Paare, die sich bewusst für ein Kind ent- schieden haben. Die moderne Medizin erlaubt es uns, sie bei diesem Vorhaben zu unterstützen. Das sollen wir tun, denn Kinder sind eine Gabe Gottes und das Zur-Welt- Kommen ein Geschenk; so der Psalm 127,3. Die moderne Wissenschaft gibt uns medizinisches Wissen für die körperliche und seelische Gesundheit der Frau. Nach Abwägung rechtlicher, ethischer und mora- lischer Überlegungen sollten wir es im Rahmen dieses Gesetzentwurfes nutzen. Michael Brand (CDU/CSU): Auch die heutige De- batte zur PID hat mich in meiner Position bestärkt, dass wir diese Büchse der Pandora nicht öffnen dürfen. Mein Beitrag aus der ersten Lesung zur PID im Frühjahr die- ses Jahres behält vollständig seine Berechtigung, und ich möchte daher nochmals auf ihn verweisen. Gleich eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kolle- gen haben in der heutigen Debatte mit sehr überzeugen- den Argumenten für echte Alternativen zur PID und ge- gen die extremen Risiken der PID gesprochen – wofür ich allen sehr herzlich danken möchte. Mir ist für diese abschließende Debatte noch einmal daran gelegen, das Ja zum Leben und das Ja auch zum Lebensrecht von Menschen zu bestärken, die mit einer „Behinderung“ durch diejenigen leben müssen, die sie nicht als vollwertige Menschen zu akzeptieren scheinen. Diese großartigen, lebensfrohen, sensiblen Persönlich- keiten sind nicht behindert, sie werden von uns behin- dert. Um für einen optimistischeren, lebensbejahenden Weg gerade in dieser Frage zu werben, hatte ich vor we- nigen Tagen noch einmal eine großartige Geschichte aus dem wirklichen Leben an alle Kolleginnen und Kollegen verschickt. Wegen der symbolischen Bedeutung und we- gen des ansteckenden Beispiels will ich diesen Bericht aus meiner Heimatzeitung, der Fuldaer Zeitung, hier noch einmal in voller Länge anfügen. Es lohnt sich, diese Reportage über eine ganz normale Familie mit mehreren Kindern, darunter einer 18-jährigen Tochter mit Downsyndrom, zu lesen. Es lohnt sich, für das Le- ben zu kämpfen, denn es ist ein Leben mit Freude und mit geteiltem Leid, und mit sprühendem Optimismus – und mit viel Liebe. Bitte bleiben wir, unabhängig von der heutigen Ab- stimmung, bei diesem Weg, das Leben zu bejahen, mit all seinen Facetten. Gehen wir nicht den Weg der Aus- grenzung von Mitmenschen weiter! Schließen wir alle Menschen in ihrem eigenen Wert in unsere Gesellschaft ein, sortieren wir sie nicht aus! Kein Leid rechtfertigt das, es wäre eine nicht mehr menschliche Gesellschaft, die aussortiert, was nicht akzeptiert wird. Unsere Verant- wortung vor Gott und den Menschen sollte uns dazu lei- ten, aktiv für alle Menschen zu werben und eben nicht das Leid der Paare zur Grundlage für eine Entscheidung gegen das Leben von Menschen mit Behinderung zu ma- chen. Zugleich müssen wir uns verpflichten, den Men- schen, die mehr Hilfe im Alltag unserer auf Funktionali- tät ausgerichteten Welt brauchen, diese auch aktiv anzubieten. Bitte nehmen wir uns ein Beispiel an dieser Familie aus meiner Region, die uns fast beschämen kann mit ih- rem Beispiel und ihrem Optimismus. Die Überschrift der Reportage könnte ein Leitmotiv im Umgang mit behin- derten Menschen sein: „Nicht besser, nicht schlechter, nur anders“. Bitte bleiben wir auf dem Weg, das Leben zu bejahen, und weichen wir nicht ab auf eine schiefe Bahn, bei der wir Gott spielen und die Menschen auswählen und aus- sortieren. Nachfolgend möchte ich Ihnen die Reportage über Rahel im vollen Wortlaut zur Kenntnis bringen und sie im Protokoll des Deutschen Bundestages festhalten: „Nicht besser, nicht schlechter – nur anders“. Rahel (18) wurde mit dem Downsyndrom geboren – und war von Anfang an willkommen. Fuldaer Zeitung, 11. März 2011 Petersberg Es ist ein schöner Samstag für Rahel Schmitt, denn Bayern München hat drei Punkte geholt. Dass „ihre“ Bayern wegen des Vorsprungs von Borussia Dortmund diesmal wahrscheinlich nicht Meister werden, will sie nicht hören. Von unserer Mitarbeiterin Bea Nolte-Schunck. Klaus Schmitt, der die Münchner Mannschaft eben- falls sehr mag, möchte seine älteste Tochter freilich darauf vorbereiten. „Du bist mir vielleicht ein Bay- ern-Fan!“, grummelt Rahel dann. Besonders gern erinnert sie sich an einen Heimsieg des Teams ge- gen St. Pauli, den sie – dank eines Geburtstagsge- schenks ihrer Familie – in der Allianz-Arena miter- lebte. Die 18-Jährige, die mit dem Downsyndrom zur Welt kam, ist ein aktiver Mensch. „Ich hab’ meine Dates“, sagt sie. Regelmäßig ist sie mit der „Fuldaer Gruppe“ unterwegs, einer betreuten Frei- zeitgruppe des Vereins „Gemeinsam Leben – Ge- meinsam Lernen“. Das Fernsehgucken mit Oma Elisabeth gehört für Rahel zum Alltag. „Ihr Tages- ablauf ist klar strukturiert, sonst würde sich unsere Älteste nicht wohlfühlen“, schildert Mutter Andrea Schmitt. Die Familie, komplettiert durch Joshua (15) und Hannah (12), freut sich über Rahels Fähigkeiten und Hobbys, zu denen basteln, töpfern, schwimmen und Ski fahren gehören. Dass sie sehr gut lesen und vortragen kann, hat sie vor einigen Wochen bei ei- nem Begegnungsnachmittag gezeigt, zu dem Bi- schof Heinz Josef Algermissen junge Leute mit Be- hinderungen und ihre Eltern eingeladen hatte. Rahel, die nicht nur von ihrer Familie sehr geför- 14162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) dert wurde (und wird), besucht derzeit die Start- bahn, die Schule zur Berufsförderung des Anto- niusheims. Ihre Eltern können sich vorstellen, dass sie später im Service eines gastronomischen Be- triebs arbeiten wird. „Rahels Entwicklung ist schön, aber es hat auch viele Tränen gegeben“, erzählt Andrea Schmitt, die eine genetische Disposition für die Trisomie 21 hat: Ihr Bruder war mit dem Downsyndrom geboren worden und als Säugling an einem schweren Herz- fehler gestorben. Grundsätzlich besteht für die Mut- ter daher eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent, ein Kind mit Downsyndrom zu bekommen. Als sie durch eine Fruchtwasseruntersuchung er- fuhr, dass dies bei ihrer ersten Schwangerschaft der Fall sein würde, war sie „völlig fertig“. Außer dem Zuspruch ihres Mannes und einer Freundin tat ihr unter anderem die Reaktion von Psychologin Ingeborg Fleischmann sehr gut: „Ihre Tochter ist nur anders – nicht besser und nicht schlechter.“ Bei Andrea Schmitts Eltern wurden die Erinnerun- gen an den Sohn wieder stark; Klaus Schmitts Vater Gerold haderte zunächst mit dem Schicksal, wäh- rend Mutter Marlene mit der Behinderung des En- kelkindes gleich versöhnt war. Betroffen machte Andrea und Klaus Schmitt folgender Satz aus dem Bekanntenkreis: „So Kinder muss man heute ei- gentlich nicht mehr kriegen.“ Sie aber wollten die- ses Kind kriegen. „Ich wäre mit einer Abtreibung nicht zurechtge- kommen. Wir wussten zwar nicht, wie wir das mit Rahel schaffen würden, aber wir wollten den Weg mit ihr gehen“, betont Andrea Schmitt. Sie und ihr Mann verurteilen freilich niemanden, der sich in ei- ner solchen Situation zur Abtreibung entschließt: „Das steht uns nicht zu. Alle Betroffenen müssen für sich die schwierige Entscheidung treffen, ob sie sich das Begleiten eines behinderten Kindes zu- trauen“, sagen die beiden. Als Rahel zur Welt kam, hatten sich ihre Eltern schon auf ihr Downsyndrom vorbereitet: „Wir konnten den kleinen Sonnenschein ohne Schock willkommen heißen“, erinnert sich ihr Vater. Sehr viel Kraft kostete es Eltern und Großeltern, als Rahel sich im Alter von neun Monaten einer Herz- operation unterziehen musste. Danach gedieh sie sichtlich. Andrea und Klaus Schmitt machen keinen Hehl da- raus, dass das Leben mit Rahel auch eine Heraus- forderung ist: „Sie hat ihre Sturheiten, und wir müs- sen im Umgang mit ihr immer eine klare Linie durchhalten.“ Wenn die 18-Jährige mal „Blödsinn macht“, beruft sie sich auf ihr Downsyndrom, um keinen Ärger zu bekommen. „Dann sage ich ihr, dass sie dieses Argument knicken kann“, berichtet ihre Mutter. Manchmal leidet Rahel unter ihren Einschränkun- gen durch das Downsyndrom, wenn es beispiels- weise darum geht, dass sie keinen Führerschein ma- chen wird. „Dann erklären wir ihr, dass andere Menschen auch Defizite haben“, schildert Klaus Schmitt. Seine Frau räumt ein: „Ich habe von Rahel mindes- tens so viel gelernt, wie sie von mir.“ Die Eltern sorgen auch dafür, dass sich in der Fami- lie nicht alles um das Mädchen mit Behinderung dreht. Für Joshua und Hannah gibt es wegen des Downsyndroms ihrer Schwester durchaus Ein- schränkungen, aber ihnen ist bewusst, was sie an Rahel haben. „Ich weiß nicht, ob ich sie mir anders wünschen würde“, betont Joshua, der drei Jahre jünger ist als Rahel. „Im Alltag bin ich allerdings der große Bruder, der auf sie aufpasst und von dem sie sich etwas sagen lässt.“ Hannah findet ihre Schwester manchmal bockig, aber vor allem ist der Zwölfjährigen wichtig: „Es macht viel Spaß mit Rahel. Sie lacht richtig gerne, und ich habe noch niemanden so lachen hören wie sie.“ Zur Präimplantationsdiagnostik Sehr skeptisch stehen Klaus und Andrea Schmitt ei- ner möglichen Zulassung der Präimplantationsdia- gnostik, PID, gegenüber. „Wir befürchten eine Aus- lese mit dem gefährlichen Ziel, den Traum vom rundum gesunden Menschen ohne Defizite zu ver- wirklichen“, betonen die Eheleute. Sie schildern Er- fahrungen mit Pränataldiagnostik, die sie 1991 bei einer Fruchtwasseruntersuchung in einer mittelhes- sischen Klinik gemacht haben. „Nach dem Erken- nen der Trisomie 21 bei unserem ungeborenen Kind war es für den Mediziner eine Selbstverständlich- keit, dass wir uns gegen das Fortsetzen der Schwan- gerschaft entscheiden würden“, erinnern sich die beiden. Beim Argumentieren sei es dem Arzt nur darum gegangen, dass sie die familiären Belastun- gen durch ein behindertes Kind nicht unterschätz- ten; ermutigende Worte für ein solches Leben habe der Mediziner nicht gesagt. Die Schmitts empfan- den dies als einseitig und befremdlich, zumal die Physiotherapeutin und der Sozialpädagoge bereits damals Etliches über das Downsyndrom wussten. „Die Tatsache, dass schon ein Klinikbett für die Ab- treibung reserviert war, fanden wir schockierend und gruselig“, unterstreichen Klaus und Andrea Schmitt. Die Eltern einer Tochter mit Downsyn- drom sind sehr vorsichtig, was menschliche Grund- satzentscheidungen über das Lebensrecht anderer betrifft – auch wenn dabei Heilungschancen eine Rolle spielen. „Welche ethische Instanz kann be- züglich der PID festlegen, wie bei Früherkennung der unterschiedlichen Krankheiten und Defizite dann vorgegangen wird? Können Menschen das überhaupt entscheiden?“, fragt Klaus Schmitt. Es gebe kein Recht auf ein gesundes Kind. Bei einer Freigabe der PID „wären dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet“, betont er. Außerdem erlebt er als Fa- milien- und Suchttherapeut, „dass Menschen sich in vielen Fällen gerade durch die Konfrontation mit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14163 (A) (C) (D)(B) Krankheit, Beschränkungen und Anderssein sehr positiv weiterentwickeln“. Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich spreche für den Gesetzentwurf für eine begrenzte Zulassung der Prä- implantationsdiagnostik. Damit bekommen Frauen in wenigen Ausnahmefällen das Recht, eine künstlich be- fruchtete Eizelle vor der Einpflanzung in ihre Gebärmut- ter untersuchen zu lassen. Spezialisierte Ärztinnen und Ärzte dürfen untersuchen, ob schwerwiegende Erb- krankheiten vorliegen oder Schädigungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen werden. Es entspricht dem Stand des heutigen Wissens, solche Erbkrankheiten bei einer künstlich befruchteten Eizelle festzustellen. Ich bin der Meinung, dass den betroffenen Frauen das Recht auf diese Untersuchung zusteht. Sie entscheiden selbst, ob sie die Untersuchung vornehmen lassen oder nicht. Sie entscheiden auf der Grundlage des Ergebnisses auch selbst, ob die untersuchte Eizelle in ihre Gebärmutter eingepflanzt wird oder nicht. Es geht darum, dass Frauen sowie Ärztinnen und Ärzte nicht be- straft werden, wenn sie die Untersuchung freiwillig durchführen. Ich kann mir auch eine weitergehende Zu- lassung der PID vorstellen; der vorliegende Antrag von Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte und Jerzy Montag kommt meiner Vorstellung am nächsten. Für mich steht das Selbstbestimmungsrecht der Frau an erster Stelle. Ich gehe davon aus, dass Frauen die Ent- scheidung über eine Schwangerschaft oder ihren Ab- bruch gewissenhaft fällen. Deswegen bin ich auch gegen den § 218, der Abtreibungen kriminalisiert, und für das Recht auf Abtreibung. Aber selbst unter dem § 218 ist Abtreibung heute unter bestimmten Bedingungen straf- frei, zum Beispiel wenn aufgrund einer Schädigung des Fötus eine schwerwiegende Belastung für Körper oder Seele der Schwangeren besteht. Ein pauschales Verbot der Präimplantationsdiagnostik hätte zur Folge, dass die Untersuchung der Eizelle in der Petrischale verboten wäre, während die pränatale Unter- suchung im Mutterleib erlaubt ist. Das Recht auf die be- wusste Entscheidung darüber, ob eine schwerwiegend geschädigte Eizelle eingepflanzt wird oder nicht, würde den Frauen genommen. Dies ist ein Widerspruch, es sei denn, man stellt selbst das geltende eingeschränkte Abtreibungsrecht infrage. Frauen zu unterstellen, dass sie die Entscheidung für oder gegen ein Kind nicht verantwortungsvoll treffen würden, ist im Falle einer künstlichen Befruchtung be- sonders fraglich. Paare, die versuchen, mithilfe der Fort- pflanzungsmedizin ein Kind zu bekommen, unterziehen sich einer langwierigen Behandlung, die nicht ohne Ri- siko und Schmerzen für die Frau erfolgt. Wie in der Diskussion um das Abtreibungsrecht wird auch in der Debatte um PID das Recht auf Leben der be- fruchteten Eizellen angeführt. Der Embryo besteht zum Zeitpunkt der PID-Untersuchung aus circa 120 Zellen und befindet sich außerhalb des Körpers der Frau. Er muss bis zum sechsten Tag nach der Befruchtung in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Die befruchtete Ei- zelle ist unabhängig vom Körper der Frau nicht lebensfä- hig. Ich gehe von den körperlichen und seelischen Be- langen der Frau aus, nicht von denen der befruchteten Eizelle, die alleine nicht lebensfähig ist. Mit der Präimplantationsdiagnostik wird keine Aus- wahl zwischen Menschen getroffen. Die befruchtete Ei- zelle besteht im Wesentlichen aus dem Genom. Insofern steht zwar die genetische Identität des potenziellen menschlichen Wesens bereits fest. Die genetische Identi- tät ist jedoch nicht mit der persönlichen Identität gleich- zusetzen. Die körperliche Entwicklung des Embryos wird nicht einseitig vom Genom bestimmt. Sie ist Ergeb- nis der Wechselwirkung zwischen Genom und seiner Umgebung im Mutterleib. Eine persönliche Identität entwickelt sich nicht im Reagenzglas. Sie entwickelt sich aus der Interaktion zwischen heranwachsendem Kind, Mutter und dem wei- teren Umfeld. Von daher ist es eine falsche Vorstellung, mit der Entscheidung für die Einpflanzung der einen oder der anderen künstlich befruchteten Eizelle würde eine Entscheidung getroffen, welche Persönlichkeit le- ben darf und welche nicht. Wenn eine Frau sich möglicherweise dagegen ent- scheidet, sich eine schwer geschädigte, künstlich be- fruchtete Eizelle einpflanzen zu lassen, so bedeutet dies keineswegs, dass sie ein Kind, das mit Behinderung auf die Welt kommt, nicht lieben würde oder sein Leben als nicht lebenswert begreift. Es ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, Men- schen mit Behinderung zu achten und zu unterstützen. Es steht außer Frage, dass es einen großen Handlungsbe- darf gibt, um Menschen mit Behinderung und ihre Ange- hörigen zu unterstützen. Die strikten Gegnerinnen und Gegner der Präimplan- tationsdiagnostik fürchten, dass eine begrenzte Zulas- sung der PID dazu führt, dass Designerbabys geschaffen werden und der Druck auf Frauen zunimmt, die keine „perfekten“ Babys zur Welt bringen. Diese Bedenken nehmen wir ernst. In unserer Gesellschaft besteht ein enormer Druck auf Eltern, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder sich in der Konkurrenz behaupten können. Die- ser Druck wird angesichts der finanziellen Not, in die die sozialen Sicherungssysteme in den letzten Jahren ge- bracht wurden, und angesichts der Tendenz zur Privati- sierung im Kranken- und Pflegebereich zunehmen. Und es ist davon auszugehen, dass Unternehmen bereitste- hen, nach Diagnoseverfahren zu suchen, die sich ge- winnbringend vermarkten lassen. Deswegen ist der Wunsch, Schranken zu setzen, ver- ständlich. Mit einem Verbot der PID setzt man sich je- doch über die legitimen Interessen von Menschen hin- weg, die sich ein Kind wünschen, aber keine schwerwiegende Erbkrankheit weitergeben wollen. Der Verfassungsrechtler und Romanautor Bernhard Schlink bringt es im Spiegel vom 20. Juni 2011 auf den Punkt: 14164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Wie gering muss man von Eltern denken, wenn man ihnen diese Entscheidung nicht zutraut. … Wenn man ihnen unterstellt, andernfalls würden sie Kinder mit Problemen einfach aussortieren. Diese Eltern sind eine Karikatur, wie im Kampf um den Schwangerschaftsabbruch die Frau eine Karikatur war, die die Schwangerschaft abbrach, weil sie das Reiten nicht aufgeben oder eine Reise nicht ver- schieben wollte. Eine karikaturhafte, paternalistische Haltung mache ich mir nicht zu eigen und stimme deswegen heute für den weitestgehenden Antrag zur Zulassung der Prä- implantationsdiagnostik. Sebastian Edathy (SPD): Nach gründlicher Abwä- gung stimme ich heute im Deutschen Bundestag dem Gruppenentwurf eines Gesetzes zur Regelung der Prä- implantationsdiagnostik (Drucksache 17/5451) der Ab- geordneten Flach, Hintze, Dr. Reimann, Dr. Sitte, Montag und weiterer Kolleginnen und Kollegen zu. Dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass die Präimplanta- tionsdiagnostik dann zulässig ist, wenn die Genanlagen der Eltern es wahrscheinlich machen, dass mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist oder das Kind eine schwerwiegende Erbkrankheit bekommt. Zur Vermei- dung von Missbräuchen soll die Präimplantationsdia- gnostik in solchen Fällen nur nach verpflichtender Auf- klärung und Beratung sowie einem positiven Votum einer interdisziplinär zusammengesetzten Ethikkommis- sion angewandt werden können. Gegenüber den Gesetzentwürfen, die die Präimplan- tationsdiagnostik generell untersagen bzw. diese aus- schließlich bei zu erwartenden Tot- oder Fehlgeburten für zulässig erklären wollen, nimmt der von mir unter- stützte Gesetzentwurf am ehesten sowohl Rücksicht auf das Gebot des Schutzes menschlichen Lebens als auch auf die Entscheidungsfreiheit selbst schwer erbkranker Paare. Sollte der von mir favorisierte Gesetzentwurf eine Mehrheit im Deutschen Bundestag erhalten, ist es aller- dings zwingend, in den kommenden Jahren regelmäßig zu prüfen, ob das Gesetz in der Praxis auch tatsächlich rechtskonform angewendet wird. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Was wünschen sich Paare und Eltern? Sie wünschen sich ein Kind. Sie wün- schen sich ein gesundes Kind. Haben Paare bereits Fehlgeburten, Totgeburten erlit- ten und unermessliches Leid und Traurigkeit erlebt, so ist ihr großer Wunsch nach einem gesunden Kind nur umso verständlicher. Wer kann etwas dagegen haben? Wer kann diesen Wunsch abschlagen? Auf den ersten Blick erscheint ein Gesetz, das die PID nicht zulässt, un- menschlich und herzlos. Es versagt einem Paar, das sich nichts sehnlicher wünscht, ein gesundes Kind. Was bedeutet dies für unsere Entscheidung? Beim Blick auf die Einzelfälle liegt es nahe: Wir alle wollen helfen. Jeder möchte dies aus gutem Grund – und ich spreche keinem und keiner von uns die Aufrichtig- keit dabei ab. Auch ich will den betroffenen Eltern hel- fen. Wie kann Hilfe in den konkreten Fällen aussehen? Was heißt dabei „gut meinen“ und „gut tun“? Was tun wir Eltern an, wenn wir die PID unter bestimmten Vo- raussetzungen zulassen? Hilft es betroffenen Eltern, wenn die PID ihnen Hoffnung auf ein gesundes Kind macht – bei Unterziehung einer künstlichen Befruchtung mit erheblichen gesundheitlichen Risiken und seelischen Belastungen, bei einer Erfolgsquote von weniger als 20 Prozent? Ich meine nein. Der Grundgedanke der Auswahl ist für mich höchst problematisch, das Verwerfen einzelner Embryonen nicht akzeptabel. Das Aufstellen von Kriterien, anhand derer die PID durchgeführt werden darf, überfordert den Menschen. Unabhängig davon bin ich der Überzeugung, dass eine Zulassung der PID unseren Blick auf das menschli- che Leben und unser Leben überhaupt schleichend und grundsätzlich verändern würde. Wir können feststellen, dass unsere Gesellschaft Krankheit, Behinderung und Leid im Leben gedanklich ausradiert und bewusst ausla- gert. Diese Selektion im Leben würde durch die Zulas- sung der PID konsequenterweise vorverlagert auf das embryonale Leben. Der Versuch, Krankheit, Behinderung und Leid be- reits zu Beginn des Lebens zu vermeiden und damit scheinbar gänzlich auszumerzen, obliegt dem verlocken- den, doch trügerischen Irrtum, das Leben könne ohne Grauzonen beherrschbar gemacht werden. Die damit einhergehende Negation der Schattenseiten des Lebens negiert das Leben selbst. Es ist die Endlichkeit des Le- bens, die wir scheuen. Die PID als ein Instrument, das ein zu kontrollieren- des Leben ohne Krankheit, Behinderung und Leid zusi- chert, würde zu einem unhinterfragten Standard führen, der die Leistungsmesslatte höher legt und verstärkt Druck schafft. Die bereits bestehende Tendenz, das Le- ben in einen harten Wettbewerb auf Gesundheit, Stärke und Erfolg zu programmieren, würde durch die Zulas- sung der PID zunehmen. Wie gesund ist der einzelne Mensch? Reichen seine Leistungsfähigkeit, seine Stärke und Kraft aus für den Wettbewerb des Lebens – gemessen an den strengen Maßstäben der Machbarkeit und des Erfolgs? Wenn nein, muss nachjustiert oder ausgelagert werden. Wollen wir dieser Mentalität des Trimmens und Pushens weiter Vorschub leisten? Wollen wir eine solche Gesellschaft? Wollen wir eine Gesellschaft, die die Er- folgsmaßstäbe immer weiter anzieht, bis kein Mensch sie mehr erfüllen kann? Dieser Mentalität folgend liegt es auf der Hand, den „gesündesten“ Embryo auszuwählen und als Erfolgskind stark zu machen für den Ellenbogenkampf des Lebens. Es ist nur zu seinem Besten! Welche Bürde für das spä- tere Kind, das im Gegensatz zu seinen Geschwisterkin- dern nicht verworfen, sondern ausgewählt wurde – zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14165 (A) (C) (D)(B) Gesundheit, Stärke und Erfolg. Diese Verzweckung zum Erfolgskind und Objekt degradiert und verstößt gegen die Menschenwürde. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die bei den Kindern anfängt, sie auf Linie zu trimmen, ihre angeb- lich auffälligen Eigenschaften zu pathologisieren, ihre Eigenheiten aus Angst vor dem Lebenskampf abzu- schmirgeln und in diversen Fördermaßnahmen zu „the- rapieren“. Diese durch die PID vorangetriebene Gleich- schaltung der Menschen macht mir große Sorge. Ich möchte, dass ein Kind in Deutschland bedingungslos um seiner selbst willen geliebt wird und ohne Qualitätscheck die Schritte ins Leben und im Leben tun darf. Ich möchte mich bei alldem keinesfalls über das harte, traurige und bewegende Schicksal einzelner Paare hinwegsetzen. Doch ich bin der festen Überzeugung, dass die PID keine Hilfe für sie darstellt. Und ich blicke mit Sorge auf die grundlegenden Veränderungen, die eine Zulassung der PID mit sich brächten: Sie beträfen das Leben und die Würde der Menschen in Deutschland. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Ich spreche mich in aller Entschiedenheit für ein ausnahmsloses Ver- bot der genetischen Untersuchung von Embryonen vor der Übertragung in die Mutter aus. Lassen Sie mich dafür einige wesentliche Gründe nennen: Ich möchte daran erinnern, dass wir schon ein- mal in diesem Hohen Haus eine Frage von ethisch ver- gleichbarer Gewichtung beschlossen haben. Ich meine damit die notwendige Reform der Regelungen im Straf- gesetzbuch zum Schwangerschaftsabbruch in den 90er- Jahren. Zwar weiß ich, dass der Schwangerschaftskonflikt, bei dem eine Frau schon schwanger ist – der Konflikt also auf der körperlichen Ebene in unvergleichbarer Weise erlebt wird –, nicht mit der Situation von Eltern vergleichbar ist, die sich noch vor Eintreten der Schwan- gerschaft von Herzen ein gesundes Kind wünschen. Ei- nes aber ist vergleichbar mit den Beratungen um § 218 StGB: die Situation und die Intention von uns, dem Ge- setzgeber. Wir wollten damals eine ganz, ganz enge Aus- nahmeregelung schaffen – und zwar wie heute in Aner- kennung des Leides, dem einige wenige Paare ausgesetzt sind, der Notsituation, in der sich einzelne Frauen oder Paare, die Eltern werden möchten, befinden. Traurige Wahrheit aber ist, was daraus geworden ist: Die Expertenanhörung im Mai hat es auf dramatische Weise unterstrichen; es war eine von der Gruppe Flach/ Hintze eingeladene Expertin, die in aller Deutlichkeit von „3 000 selektiven Abtreibungen“ behinderter Kinder pro Jahr gesprochen und die PND zur Schwangerschaft auf Probe als Standardpraxis definiert hat. Frau Profes- sor Bettina Schöne-Seifert hat dazu bei der Expertenan- hörung zur PID vor dem Gesundheitsausschuss ausge- führt: Jeder von uns weiß, der dort hingucken möchte, dass von den 3 000 medizinisch indizierten Abtrei- bungen, die in Deutschland im Jahr durchgeführt werden, ganz wenige im engeren Sinne die Gesund- heit der Mutter betreffen. Das muss man einfach ehrlicher Weise zur Kenntnis nehmen. Fast alle sind embryopathisch motiviert, aber unter Tarnkappe. Das sollte uns eine Warnung sein. Es zeigt doch, dass wir gar nicht unter weiter Auslegung des Dammbruchar- gumentes Szenarien zu beschwören brauchen, in denen genetisch erwünschte Eigenschaften wie Augenfarben oder Ähnliches ausgesucht werden könnten. Nein, wir sprechen über die ganz einfach erschre- ckende Tatsache, dass der Missbrauch der engen Rege- lung des § 218 a StGB Abs. 2 dazu führt, dass Menschen allein aufgrund ihrer Behinderung nicht leben dürfen. Das muss hier in solcher Klarheit benannt werden, weil es traurige und beschämende Tatsache ist, auch wenn ich weiß, dass es sich bei jeder Entscheidung an sich um eine tragische Einzelfallentscheidung handelt. Aber genau das würden wir auch zulassen, wenn wir uns heute für die begrenzte Zulassung der PID ausspre- chen würden: dass Embryonen – die früheste Form menschlichen Lebens – ausgesondert werden, allein des- halb, weil sie genetische Anlagen für eine Behinderung oder eine Krankheit tragen, von der vielleicht nicht ein- mal sicher ist, ob, wann oder wie stark sie ausbrechen wird. Der Antrag der Kollegen Flach, Hintze und anderer nennt dafür nicht einmal Kriterien: Was soll denn das ge- nau bitte sein, eine „schwerwiegende Erbkrankheit“? Ich bin sicher, dass wir es nicht einmal hier definieren könn- ten, wo ich weiß und das ausdrücklich und mit großem Respekt konnotiere: Alle Mitglieder des Hohen Hauses, wir alle haben uns redlich informiert und gewissenhaft abgewogen – aber wir würden doch keine Einigung da- rüber erzielen, was nun so schwerwiegend ist, dass es die PID rechtfertigen soll! Und deswegen delegieren die An- tragsteller die Entscheidung an eine „Ethikkommission“. Lieber René Röspel, ich sage ganz offen, dass ich lange mit mir gerungen habe, ob Ihr Antrag nicht eine Kompromisslösung sein könnte: mit seiner Grenzzie- hung, bei der ich weiß und anerkenne, dass Sie sehr sorgfältig abgewogen haben, dass Sie wirklich die engst- mögliche Begrenzung möchten, dass Sie den Paaren hel- fen möchten, die teilweise sogar mehrfach erleben muss- ten, wie ein Kind im Mutterleib nicht weiterwachsen konnte, auf das sie sich so gefreut haben. Aber auch hier hat mir die Anhörung leider eindeutig gezeigt – unsere eigenen bitteren Erfahrungen mit der Schwangerschafts- konfliktregelung und die Erfahrungen in denjenigen Ländern, in denen die PID bereits zugelassen ist, belegen es –, dass sich eine solche enge Grenze nicht würde hal- ten lassen. Es wird in der Praxis schlicht nicht funktio- nieren. Ja, Paaren, die wegen einer Erbkrankheit wissen, dass sie vielleicht eine Totgeburt durchleiden müssen, oder früh von einem Kind Abschied nehmen müssen oder sich um ein Kind mit einer schweren Krankheit küm- mern müssen, müssen wir helfen. Wir werden deshalb nach dieser Debatte immer wieder in den Blick nehmen müssen, welche Angebote zur Unterstützung wir noch weitermachen oder ausbauen können, wo Politik die 14166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Rahmenbedingungen nachjustieren kann, damit die Angst vor dem Elternsein von einem Kind mit Behinde- rungen nicht genommen, aber doch durch das Wissen um Unterstützung gemindert werden kann! Ein Brief, den ich vor wenigen Tagen bekommen habe, hat mich sehr berührt. Da haben Eltern geschrie- ben, die selbst die Erfahrung gemacht haben, ein Kind nur wenige Stunden bei sich haben zu dürfen, bevor es gestorben ist. Diese Eltern haben mich dringend gebeten, weiter für ein Verbot der PID einzutreten. Woran sich diese Eltern heute tröstlich erinnern, sind neben den kur- zen, aber intensiven Momenten des Beisammenseins und ihrer bleibenden Liebe zu diesem Kind – was natür- lich die Trauer und das Leid nicht ungeschehen macht, das sie auch erfahren mussten und das sie ihr Leben lang begleiten wird – Hilfestellungen, die sie in der Klinik er- fahren haben: Anteilnahme, Menschlichkeit, Seelsorge. Auf diese Felder sollten wir uns konzentrieren, nicht auf die Frage, wie eine selektive Technik möglichst früh ein- setzen kann. Ich möchte noch einen ganz anderen Punkt anspre- chen, den ich ebenfalls sehr eindrücklich aus der Exper- tenanhörung mitgenommen habe. Alle Sachverständi- gen, gleich welchem Gesetzentwurf sie zugeneigt waren, haben unisono unterstrichen: Es funktioniert nicht, die PID mit nur drei Embryonen in einem Zyklus, wie sie das Embryonenschutzgesetz zum Herbeiführen einer Schwangerschaft zulässt, durchzuführen. So ist nach bis- herigen Erfahrungen im Ausland davon auszugehen, dass pro PID-Zyklus ungefähr sieben Embryonen benö- tigt werden. Es würde erhebliche Verwerfungen unseres Rechtssystems nach sich ziehen, wenn der Deutsche Bundestag jetzt eine der Grundintentionen des Embryo- nenschutzgesetzes, dass nämlich Embryonen ausschließ- lich zum Zweck der Fortpflanzung hergestellt werden dürfen, damit keine sogenannten überzähligen Embryo- nen entstehen, die für die verbrauchende Embryonenfor- schung attraktiv sein könnten, einfach so mir nichts, dir nichts über Bord wirft. Der selektive Blick und die Zeu- gung von menschlichen Embryonen zu einem anderen Zweck, als ihnen zu einem fortdauernden, möglichst lan- gen Leben zu verhelfen, tasten die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens in einer Art und Weise an, dass es für mich mit meiner christlichen Vorstellung vom Men- schen und im Übrigen auch mit unserer Verfassung nicht vereinbar ist. Bei diesem Umgang mit Embryonen wird eine wichtige Grenze überschritten, die aus meiner Sicht weder dem Menschen noch dem Staat zusteht, und ich finde es einfach nicht akzeptabel, dass der Gesetzent- wurf Flach/Hintze diese Problematik schlicht ignoriert. Höchstwahrscheinlich wird nach Zulassung der PID die entsprechende Novelle des Embryonenschutzgesetzes folgen. Professor Dr. Wolfgang Huber hat in der Anhö- rung in aller Deutlichkeit gesagt, dass eine solche „Mo- gelpackung“ rechtsethisch hoch problematisch ist, und hat ausgeführt – ich darf Professor Huber zitieren –: „Das würde ich für eine Gefährdung der Glaubwürdig- keit des Gesetzgebers halten.“ Ich habe vorhin darüber gesprochen, dass wir betrof- fene Familien unterstützen müssen. Darauf möchte ich am Ende meiner Rede noch einmal zurückkommen und das gesellschaftliche Klima in den Blick nehmen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der jeder Mensch willkommen ist. Jedes Kind hat das Recht darauf, dass es so angenommen und geliebt wird, wie es ist – und zwar von Anfang an. Gerade für Eltern, die sich oft kritische Rückfragen anhören müssen, wie sie sich denn für ein Kind mit einer Behinderung entscheiden konnten, die es gewohnt sind, schiefe Blicke zu ertragen, sich entschul- digen müssen und tagtäglich Diskriminierung erfahren, ist das wichtig. Wir müssen in unserem gesellschaftlichen Alltag ein Klima schaffen, in dem jeder Mensch unabhängig von einer Krankheit oder Behinderung die Zusage erfährt, dass er dazugehört, so wie sie oder er ist. Das ist die zen- trale Aufgabe. Weichen wir diese Grundannahme des menschlichen Daseins und Zusammenlebens nicht auf! Lassen Sie uns auch unsere moderne Gesellschaft nach den Erfordernissen der Menschen ausrichten und nicht die Menschen danach aussuchen, ob sie den Erfordernis- sen einer modernen Gesellschaft genügen! Erich G. Fritz (CDU/CSU): Ich kann einer Zulassung der Präimplantationsdiagnostik nicht zustimmen und un- terstütze deshalb den Entwurf zum Verbot der PID. Ich stelle den Gründen für meine Haltung den aus- drücklichen Respekt vor den anderen Haltungen voraus. Ich weiß, dass es sowohl gute Gründe als auch sehr ver- antwortliche ethische Begründungen gibt, sich für eine bedingte Freigabe der PID einzusetzen, und ich sehe auch für beide mögliche Positionen Argumente, die zu achten sind. Ich kann jedoch bei dieser Frage nicht über meine grundsätzliche Einstellung hinausgehen, die sich aus meinen ganz persönlichen Konsequenzen aus den gro- ßen menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und dem fehlenden Schutz von Rechtsordnung und poli- tischen Systemen für das Leben und die menschliche Würde ergeben. Für mich ist der Schutz des Lebens der grundlegende, nicht zu relativierende und in keiner Weise zur Disposition des Staates, des Gesetzgebers oder der Exekutive stehende Wert unserer Verfassung und grundlegende Voraussetzung für die Aufrechterhal- tung der wichtigsten ethischen Grundlagen unserer Ge- sellschaft. Ich bin der Auffassung, dass es der unerlässliche und nicht aufzugebende Schutzwall gegenüber noch so ge- ringen Veränderungen unserer Rechtsordnung ist, der eine schleichende Entwertung des Lebens, vorgeburtlich oder geboren, am Anfang oder am Ende des Lebens er- möglichen könnte und Entwicklungen in Gang setzen kann, die dann aus Nützlichkeitserwägungen oder aus kommerziellen Interessen oder auch nur aus dem Glau- ben an wissenschaftliche und menschliche Machbarkeit alles Wünschenswerten letztendlich menschliches Leben verfügbar machen kann. Aus diesem Grund habe ich im Laufe meiner Zugehö- rigkeit zum Deutschen Bundestag bei allen Debatten über Abtreibung und andere den Lebensschutz betref- fende Fragen immer für die Priorität Schutz des Lebens Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14167 (A) (C) (D)(B) und Unverfügbarkeit des Lebens gestimmt. 1946 gebo- ren und in der Auseinandersetzung mit der genau gegen- teiligen Erfahrung meiner Elterngeneration groß gewor- den, fühle ich mich umso mehr verpflichtet, jeder Entwicklung entgegenzutreten, die einer Einschränkung der Würde ungeborenen Lebens oder gar einer Entschei- dung zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben Tür und Tor öffnen könnte. Für mich ist auch die Tatsache, dass in der Straffreiheit der Abtreibung die rechtlichen Grundlagen – etwa der Spätabtreibungen oder der Folgen von Pränataldiagnostik – vom Gesetzge- ber so geregelt worden sind, wie es im Augenblick gel- tendes Recht ist, kein Grund, meinen Standort zu relati- vieren. Wenn in diesen Tagen Herr Montgomery von einer „Salamiethik“ gesprochen hat, dann stimme ich ihm aus- drücklich zu. Ich weiß, was übrig bleibt, wenn man Stück für Stück den Lebensschutz relativiert. Mich be- wegen die Konflikte, die sich für Eltern ergeben, wenn sie nicht sicher sein können, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Ich kann nachvollziehen, dass Eltern mit Vorbelastungen den Wunsch haben, Gewissheit zu ge- winnen. Ich kann Mediziner verstehen, die selbst in Ge- wissensnöten sind, Menschen nicht zuzumuten, was sie selbst nicht zu tragen bereit wären. Bitte denken Sie aber auch daran, welche Haltung wir an behinderte Menschen aussenden, wenn wir in eine Si- tuation kommen, in der Menschen deshalb diskriminiert werden, weil sie ein behindertes Kind bewusst anneh- men oder weil sie als behinderter Mensch ihr Lebens- recht und ihr Recht auf Teilhabe und Glück einklagen. Der gesellschaftliche Druck auf Menschen, die vor die- ser Entscheidung stehen, wird zunehmen. Neben den oh- nehin schon vorhandenen Nöten werden diese Eltern auch noch gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen müssen, die sich bei einer Lockerung des gesetzlichen Schutzes für das Leben schnell ändern werden, und nicht nur in der Frage der Präimplantationsdiagnostik! In Abwägung der vielen sachlich, wissenschaftlich und politisch vorgebrachten Argumente für und wider die Freigabe der Präimplantationsdiagnostik komme ich für mich deshalb zu dem Ergebnis, mich für den Antrag meiner Kollegen Krings und Singhammer zu entschei- den. Ich bin mir sicher, dass niemand, der diese Ent- scheidung trifft, anschließend triumphiert oder Häme über Unterlegene ausgießt, weil sich jeder dessen be- wusst ist, dass es in dieser Frage keine ideale Lösung gibt. Ich fühle die Verpflichtung, dafür einzutreten, dass wir die grundlegenden Rechte des Menschen unabhän- gig von seinem Entwicklungsstand achten, schützen und vor schleichender Entwertung bewahren. Norbert Geis (CDU/CSU): Die PID hat den alleini- gen Zweck, die in der Petrischale gezeugten Embryonen nach gut und schlecht zu trennen. Die gesunden Em- bryonen sollen implantiert werden, die anderen werden der Vernichtung anheimgegeben. Wenn aber der in der Petrischale gezeugte Embryo ein Mensch am Beginn sei- nes Lebens ist, steht er unter dem Schutz des Grundge- setzes. Nach Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes hat jeder Mensch, auch der ungeborene, auch der Embryo im Reagenzglas dieses Recht. Dies stellt das Bundesverfas- sungsgericht in seinem ersten Urteil zur Fristenlösung vom 25. Februar 1975 fest. Ebenso wird ausdrücklich anerkannt, dass dem Menschen von Beginn seiner Exis- tenz an Würde zukommt. Deshalb geht es in der PID-Debatte entscheidend um die Frage, wann die Existenz des Menschen beginnt. Das Embryonenschutzgesetz, ESchG, legt fest, dass die Exis- tenz jedes Menschen mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ihren Anfang nimmt – § 8 ESchG. Dies gilt nicht nur für die natürliche Zeugung, sondern auch für die in der Petrischale „befruchtete, entwicklungsfähige, menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmel- zung an“ – § 8 Abs. 1 ESchG. Allerdings kommt in keinem der Gesetzentwürfe (Drucksachen 17/5450, 17/5451, 17/5452) klar genug zum Ausdruck, wann das Leben des Menschen beginnt, obwohl dies der entscheidende Ausgangspunkt ist, nicht nur für die Debatte zur Zulassung der PID, sondern ge- nerell für den Lebensschutz des Menschen von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Professor Hillgruber stellt mit Recht fest, dass die Erkenntnis über den Beginn des Lebens jedes einzelnen Menschen in der Naturwissen- schaft zwar immer klarer und schärfer, in der Ethik, in der Politik und im Recht aber immer verschwommener wird. Wenn aber nicht klar ist, dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein Mensch sein Leben beginnt, dann gibt es keinen hinreichenden Grund, die PID zu verbieten. Es kann aber kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass der Ursprung des Menschen die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist. Kein anderes Ereignis kann eher als der Beginn des Lebens gesehen werden. Entweder handelt es sich nach der Kernschmelze um das Leben des Vaters oder um das Leben der Mutter oder um das Leben eines neuen Menschen. Es ist aber längst gesi- cherte wissenschaftliche Erkenntnis, dass mit der Kern- verschmelzung ein neues Leben mit einer neuen DNA- Struktur entsteht, die sich von der Mutter und dem Vater unterscheidet. Also ist es die Existenz eines von Vater und Mutter unterschiedenen neuen Menschen. Ohne die- ses Wissen über die Biologie des Menschen, das uns heute zur Verfügung steht, hat Kant schon vor 200 Jah- ren festgestellt: Es ist eine „ganz richtige und auch not- wendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person … auf die Welt ge- setzt … haben …“. Der Anfang des Lebens ist in der Naturwissenschaft also längst unbestritten. Die Politik aber ist fleißig dabei, ihre Augen vor dieser Wahrheit zu verschließen. Man spricht zwar von menschlichem Leben, meint damit aber nicht den konkreten Menschen. Der Embryo ist von An- fang an Mensch. Er ist nicht der Vorläufer des Men- schen. Wäre einer von uns schon als Embryo gestorben, würde er heute nicht leben. Er ist nicht etwas, sondern jemand. Er ist von Anfang an schon Person, wie es auch der Aufklärer Immanuel Kant richtig definiert hat. 14168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Person aber sei nur der, so wird behauptet, der so et- was wie ein Selbstbewusstsein entwickelt habe. Deshalb sprechen die, die das behaupten, nicht nur Embryonen, sondern auch Kleinkindern und geistig schwer behinder- ten oder altersdementen Menschen das Personsein ab. Man geht dabei so weit, den Begriff der Menschenwürde durch den Begriff der Personenwürde zu ersetzen. Die Personalität wird so vom Menschsein klar getrennt. So wird der Mensch ein Lebewesen, das nur dann Persona- lität hat, wenn er oder sie sich dessen bewusst ist. Diese Auffassung wird sogar konsequent so weit getrieben, dass Menschen, die bewusstlos sind oder schlafen, die Personalität abgesprochen wird. Nach dieser Auffassung wird, nach Spaemann, der Mensch erst „mit dem allmäh- lichen Erwachen bestimmter Bewusstseinszustände Per- son“. Leider setzt sich kein Gesetzentwurf mit dieser Be- hauptung auseinander. Und doch ist die Antwort darauf von entscheidender Bedeutung, wie mit dem Embryo umgegangen werden darf. Hat der Embryo nämlich keine Personalität, dann ist er nur ein Etwas, nur ein Ding, aber kein Jemand. Mit dieser Auffassung tut man sich dann auch leicht, den Embryo als Sache zu behan- deln, die der Arzt in der Petrischale absondern und weg- werfen kann, ohne sich den Vorwurf machen zu müssen, soeben einen Menschen am Beginn seiner Existenz ver- nichtet zu haben. Es ist aber reine Willkür, das Personsein von dem Be- ginn der menschlichen Existenz zu trennen. Dann wäre die Personalität des Menschen ja abhängig von der Aner- kennung Dritter. Das wäre jedoch ein Verstoß gegen die Würde des Menschen, wenn Dritte bestimmen, ab wann der Mensch auch Person ist. Deshalb erkannte Kant ja auch schon vor 200 Jahren, dass das Personsein mit dem Beginn der Existenz des Menschen zusammenkommt. Um den Freibrief zu haben, bei den Embryonen die Selektion nach guten und schlechten Exemplaren vor- nehmen zu können, wird behauptet, der Mensch beginne erst mit der Nidation, Mensch zu sein. Die Nidation ist gewiss ein wichtiger Schritt im Leben des Menschen. Sie ist aber nicht sein Ursprung. Der Embryo in der Pe- trischale existiert bereits vor seiner Nidation. Auch das Argument, der Embryo könne im Sinne des Grundgesetzes erst dann als Individuum gesehen wer- den, wenn sicher ist, dass nicht ein Zwilling oder Mehr- ling entsteht, ist falsch. Individuum heißt unteilbar. Wird dieses Individuum geteilt, dann wird es vernichtet. Wenn aber nach der Zeugung Zwillinge oder Mehrlinge entste- hen, dann erfolgt keine Teilung. Es entstehen vielmehr mehrere Embryonen. Auch insoweit bleibt die Zeugung der Beginn des Le- bens und in diesem Fall der Beginn des Lebens der Zwil- linge und Mehrlinge. Immer wieder wird gegen das Verbot der PID vorge- tragen, diese stehe in einem Wertungswiderspruch zu un- serer Abtreibungsregelung. Auch dieses Argument kann keinen Erfolg haben. Denn unsere Abtreibungsregelung ist eine schlechte Regelung. Sie bietet dem Embryo im Mutterleib nicht genügend Schutz. Soll nun deshalb die PID erlaubt sein und ein ebenso schlechter Lebensschutz gewährt werden wie durch die Abtreibungsregelung? Im Übrigen geht die PID über die Fristenregelung hi- naus, indem sie die Selektion als rechtmäßig bezeichnet. Auch kann die Selektion und Vernichtung der schlechten Embryonen nicht mit der medizinischen Indikation ver- glichen werden. Danach ist die Abtreibung rechtmäßig, wenn durch das behinderte Kind die Schwangerschaft für die Frau unerträglich und in hohem Maße gesund- heitsgefährdend ist und diese Gefahr nicht anders abge- wendet werden kann als durch die Abtreibung. Es geht also um die Gefährdung während der Schwangerschaft. Bei der PID liegt aber noch gar keine Schwangerschaft vor. Die PID kann daher unter keinem Gesichtspunkt er- laubt sein. Die Selektion von kranken und gesunden Menschen am Beginn ihrer Existenz ist großes Unrecht. Frank Heinrich (CDU/CSU): Im Mittelpunkt steht der Mensch. So lassen sich die Postionen – auch und ge- rade die gegensätzlichen Positionen – heute zusammen- fassen. Wir erleben hier und heute ein ethisches und humani- täres Niveau, das in der parlamentarischen Kultur – zu- mal in der mitunter zweifelhaften Geschichte unseres Landes – seinesgleichen sucht. Neben Argumenten, gu- ten und zahlreichen Argumenten, für oder wider die Zu- lassung der PID, wehen ein Hauch von Mitgefühl durch die Debatte und ein starkes Verantwortungsbewusstsein. Gewissensfreiheit heißt eben auch Gewissensbindung. Und diese Gewissensentscheidung im Parlament vertre- ten zu können, ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Gestern Abend noch sprach mich ein Kollege auf die Großartigkeit dieses „parlamentarischen Momentums“ an. Mit Stefan Zweig möchte ich gerne von einer „Stern- stunde“ des Parlamentes sprechen. Und doch: Obwohl – oder vielleicht gerade weil – es sich um eine Gewissensfrage handelt, sind die Perspekti- ven und damit die Postionen grundverschieden. Hier – steht die Familie im Mittelpunkt, der unerfüllte Kinderwunsch, das private Glück der Elternschaft, die persönlichen Lebenswege, gepflastert mit Entscheidun- gen, Enttäuschungen, Entbehrungen und neuen Hoffnun- gen. Und dazu kommt die Gefahr einer Risikoschwan- gerschaft, die Gefahr, das Kind noch während der Schwangerschaft oder bald nach der Geburt zu verlieren, eine Gefahr nicht nur für das Glück der Familie, sondern möglicherweise für die körperliche und seelische Ge- sundheit vor allem der Mutter. Ist da nicht jedes Mittel der Risikominimierung nachvollziehbar, ja notwendig? Keine Mutter, keine Familie macht sich diese Entschei- dung leicht. Wie kann ein Mensch das nachvollziehen, der nie in einer vergleichbaren Situation gewesen ist? Meiner Frau und mir ist das Glück beschieden, vier ge- sunde Kinder bekommen zu haben. Aber das geht nicht jedem so. Dort – auf der anderen Seite – steht der Embryo im Mittelpunkt, der Schutz des ungeborenen Lebens. Der Mensch ist in allen Phasen seines Lebens zu schützen. Die Kernfrage ist: Wann beginnt dieses Leben? Diese Frage wird von Ethikern, auch von christlichen Ethikern, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14169 (A) (C) (D)(B) unterschiedlich beantwortet. Ist es die Befruchtung, ist es die Entstehung des Bewusstseins? Wenn man zu dem Schluss kommt, dass der Beginn des Lebens mit der Verschmelzung von Ei und Samen- zelle zu datieren ist, dann muss in der Konsequenz die- ses Leben von Beginn an zu schützen sein. Die Gefahr einer drohenden Behinderung darf dann kein Argument sein. Menschen mit Behinderungen sind vollwertige und gleichberechtigte Glieder dieser Gesellschaft. Ihre Würde zu schützen, ist grundgesetzliche Aufgabe aller Deut- schen und damit aller Parlamentarier. Die Lebenssitua- tion der Familie ist ebenfalls nachrangig. Der Schutz des Individuums steht an erster Stelle. Es sind noch viele Aspekte zu bedenken: historische, rechtliche, soziale. Und das wird heute vielfältig zur Sprache gebracht. Mit Hochachtung nehme ich an dieser Debatte teil. Im Mittelpunkt dabei steht der Mensch. Und im Mit- telpunkt unserer Entscheidung steht das eigene Gewis- sen. Dieses Gewissen ist an die eigene ethische Überzeu- gung gebunden. Bei allem Verständnis für die Notlage der Eltern, bei allem Mitgefühl: Meiner Überzeugung nach beginnt das Leben mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Daher kann ich heute nur gegen die PID stimmen. Manuel Höferlin (FDP): Ich habe eine sehr persönli- che Entscheidung getroffen und mich dem Antrag von Ulrike Flach, Peter Hintze und anderen angeschlossen. Er enthält einen Gesetzentwurf, der Paaren mit Veranla- gung für schwere Krankheiten helfen kann. Diese Entscheidung habe ich nach einem langen Überlegungsprozess getroffen. Die ethischen Fragen, die die PID aufwirft, sind für mich persönlich als Christ von immenser Bedeutung. Neben den Ergebnissen der Anhö- rung und den intensiven Gesprächen mit Ihnen, liebe Kollegen, habe ich auch im Wahlkreis mit verschiedenen betroffenen Kreisen lange diskutiert. Seit mehreren Mo- naten beschäftige ich mich mit dem Für und Wider der PID. Ein Erlebnis hat mich besonders bewegt. Es war ein Treffen mit einer betroffenen Mutter in Mainz, die be- reits ein Kind im Alter von fünf Jahren hat. Ihr Sohn ist unheilbar krank; sie wird ihn mit an Sicherheit grenzen- der Wahrscheinlichkeit sterben sehen. Die betroffene Frau beschrieb, wie sehr sie ihren Sohn liebt, ihn beglei- tet und sich regelrecht für ein bisschen Normalität für ihn aufopfert. Ihr Mann und sie würden gerne noch ein Kind bekommen. Aber wie sie inzwischen weiß, wird aufgrund ihrer genetischen Disposition bei jedem Sohn ihre Erbkrankheit im frühen Kindesalter ausbrechen, eine Tochter würde diese zumindest in die nächste Gene- ration tragen. Dieses Paar steht nun vor der Wahl, keine weiteren Kinder mehr zu bekommen, ihrer möglichen Tochter ein schweres Erbe mit den gleichen seelischen und körperlichen Belastungen mitzugeben oder gar ei- nen weiteren Sohn zu gebären, der dann mit Sicherheit auch früh sterben würde. Dieser Sohn würde an seinem großen Bruder seine Zukunft permanent gespiegelt be- kommen. Er hätte in seinem Geschwister ständig seine tödliche Zukunft vor Augen. Dies kann niemand seinem Kind zumuten – einmal ganz abgesehen von den eigenen schwersten Belastungen. Das Schicksal dieser Familie hat mir eines vor Augen geführt: Diese Paare sind bereits in diesem Moment in einer Situation, die wohl schwerste seelische Beeinträch- tigungen des Gesundheitszustandes auslöst. Und solche Betroffene sagen mir in Gesprächen, dass sie nicht Le- ben aussortieren möchten, sondern sich gerade für Leben aussprechen. Warum diese Paare in Deutschland keine Hilfe bekommen, verstehen sie nicht und gehen ins be- nachbarte Ausland. Am Ende haben mich persönlich diese Argumente überzeugt, gegen ein striktes Verbot der PID zu stimmen und stattdessen für ihre eingeschränkte Erlaubnis. Nach dem positiven Votum einer Ethikkommission soll die PID an zugelassenen Zentren nur solchen Paaren ermöglicht werden, die die Veranlagung für eine schwer- wiegende Erbkrankheit in sich tragen oder bei denen mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist. Damit ist schon der Anwendungsbereich erlaubter PID stark ein- gegrenzt und auf wenige, sehr spezielle Fälle beschränkt, in denen die PID nicht rechtswidrig sein soll. Das halte ich für den richtigen Weg. Ursprünglich war ich geneigt, mich für eine gesetzli- che Regelung auszusprechen, wonach eine konkrete Grenze im Gesetz geregelt werden sollte. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass bei einer solchen ethischen Frage die Grenze deutlich im Gesetz stehen muss! Jedoch bin ich nunmehr der Überzeugung, dass diese Fragen nicht abschließend in Gesetzesform gegossen werden können. Die Realität der Betroffenen mit ihren Ängsten, Wün- schen und Hoffnungen lässt sich nicht in Paragrafen pressen. Es kommt vielmehr bei Fragen zur PID immer auf den Einzelfall an. Ich kann heute im Bundestag – al- lein meinem Gewissen unterworfen – trotz allem nur über die Richtung und die abstrakte Grenze abstimmen. Letztlich lässt sich in der Gesetzgebung hier nicht jeder Fall abbilden. Anders als die generelle Entscheidung über die PID bedarf die Entscheidung im Einzelfall umso mehr des Einfühlungsvermögens und der intensi- ven Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt und den Befindlichkeiten der Betroffenen. Hier muss die gesetz- lich vorgesehene und wichtige Ethikkommission an den zugelassenen Zentren prüfen und entscheiden. Auch wenn das abschließend nicht vollends befriedi- gend für mich ist: Wenn wir als Gesetzgeber in einer ethisch so wichtigen Frage die Weichen stellen, so hätte ich es am liebsten, dass wir selbst die Grenzen ziehen können. So legen wir diese Verantwortung ein Stück weit in die Hände der Kommission und vertrauen darauf, dass diese ihre Entscheidungen ebenso ernst nehmen wird, wie wir dies heute hier tun. Auch im Vergleich zum straflosen Schwangerschafts- abbruch sehe ich keinen Wertungswiderspruch bei einer nicht rechtswidrigen PID. Der Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse 14170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) der Schwangeren angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder eine Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren ab- zuwenden. Die PID setzt schon früher, und zwar an der Petri- schale an. Dieses Mittel zu verbieten, stünde in einem nicht zu erklärenden Wertungswiderspruch zur heutigen Gesetzeslage. Zudem darf man nicht vergessen, dass Paare, die erwägen, von der PID Gebrauch zu machen, meist schon erheblichen seelischen Belastungen ausge- setzt waren und wohl kaum jemand leichtfertig eine PID vornehmen lässt. Ein Verbot würde dazu führen, dass die Betroffenen sich dann – anstelle der PID – für oder ge- gen einen Schwangerschaftsabbruch mit den entspre- chenden körperlichen und seelischen Belastungen entscheiden müssten. Ich möchte eine solch schwerwie- gende Entscheidung den Paaren nicht durch Gesetz auf- zwingen. Die schwere seelische Belastung der Paare be- steht vielmehr schon zum Zeitpunkt der künstlichen Befruchtung, und genau deswegen halte ich es auch für gerechtfertigt, die gleichen Maßstäbe wie bei einem spä- teren Schwangerschaftsabbruch anzuwenden. Es ist schon merkwürdig, betroffene Paare in eine PND, also Pränataldiagnostik, und einen eventuell folgenden Schwangerschaftsabbruch zu treiben. Das ist höchst un- ethisch. Als Gesetzgeber müssen wir in diesen prekären Fra- gen Raum lassen für die mannigfaltigen Möglichkeiten des Lebens, bei der Krankheitsverläufe unterschiedlich sind. Dennoch ist der gesetzliche Vorschlag von der ge- schätzten Kollegin Flach nicht ein Fass ohne Boden. Wir haben enge und wohlüberlegte Anforderungen in den Gesetzestext aufgenommen. Dies ist der richtige Weg zu einer angemessenen Ab- wägung der Belange der Betroffenen. Wir legen die letztliche Entscheidung in die richtigen Hände: in die der Paare mit Kinderwunsch. Nur so können wir den betrof- fenen Familien in Not helfen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und die ernsthafte Diskussion. Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Bis zum Urteil des Bundesgerichtshofes, BGH, vom 6. Juli 2010 herrschte vorwiegend die Meinung, dass die Präimplan- tationsdiagnosik, PID, verboten sei. Mit dem Urteil hat der BGH die PID zwar nur bei Vorliegen schwerwiegen- der genetischer Fälle für zulässig erklärt, aber nicht zu- letzt diese unklare Umgrenzung hat zu erheblicher Rechtsunsicherheit geführt. Deshalb beschäftigt sich der Deutsche Bundestag jetzt mit einer gesetzlichen Neure- gelung. Die Entscheidung über die Zulassung oder das Verbot der PID, die uns als Mitglieder des Deutschen Bundesta- ges abverlangt wird, betrifft den Kern der menschlichen Existenz. Ich erkenne ausdrücklich an, dass Paare mit der individuellen Erfahrung insbesondere einer eigenen Erkrankung oder von Tot- oder Fehlgeburten einen ho- hen Leidensdruck verspüren. Gleichzeitig müssen wir aber auch die gesellschafts- politischen Auswirkungen im Blick haben. Eine Zulas- sung der PID, die eine gesetzlich legitimierte Auswahl von Embryonen vor Beginn der Schwangerschaft zu- ließe, würde einen gesellschaftlichen und ethischen Pa- radigmenwechsel darstellen. Sicher können in einem frühen Stadium menschlicher Existenz schwere Erkrankungen diagnostiziert werden. Aber diese Methode ist für den Fall eines positiven Be- fundes auf die Vernichtung von Leben ausgerichtet. Nach meinem christlichen Werteverständnis beginnt das individuelle und schützenswerte menschliche Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Wer über das Pro und Contra dieser Entscheidung nachdenkt, kann nur beim Rang des menschlichen Le- bens ansetzen: Für mich als gläubiger Christ hat der Schutz des menschlichen Lebens eine überragende Be- deutung. Auch in unserer Verfassung steht geschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Niemand hat das Recht, über anderes menschliches Leben zu ver- fügen. Deshalb kann ich nicht zulassen, dass schutzlose Embryonen im Reagenzglas in gute und schlechte, in ge- sunde und kranke, in lebenswerte und lebensunwerte un- terteilt werden. Ich habe größtes Verständnis für die Nöte von Eltern, die wegen genetischer Veranlagungen auf natürlichem Weg kein gesundes Kind bekommen können. Eine PID ist für die betroffenen Familien mit erheblichen gesund- heitlichen Risiken und seelischen Belastungen verbun- den, da die Paare auf natürliche Weise fortpflanzungsfä- hig sind, sich aber für die PID einer künstlichen Befruchtung unterziehen müssen. Dabei hat das Verfah- ren nicht mal in 20 Prozent der Fälle Erfolg. Den Familien und Paaren muss mit Rat und Tat zur Seite gestanden werden. Die Hilfe kann meines Erach- tens aber nicht darin bestehen, dass man ungeborenes Leben selektiert. Es geht um die Qualität der Entschei- dung, überhaupt menschliches Leben zu verwerfen. Die PID zuzulassen, ist für mich ein Dammbruch. Erst ist sie bei schweren Erbkrankheiten zulässig, und in der nahen Zukunft ist dann womöglich die Selektion nach Geschlecht und Augenfarbe möglich. Deshalb kann ich den anderen Gruppenanträgen, die eine PID in engen Grenzen erlauben wollen, nicht zustimmen. Die Grenzen werden aufgeweicht werden. In Großbritannien ist zum Beispiel die PID bei Trä- gern des Brustkrebsgens erlaubt. Die Wahrscheinlichkeit einer späteren Erkrankung liegt bei 50 bis 85 Prozent. Die Sterblichkeitsrate bei Brustkrebs liegt bei 40 Pro- zent. Ist es ethisch vertretbar, menschliches Leben zu verwerfen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines mögli- chen tödlichen Verlaufs einer möglichen Brustkrebser- krankung eines Embryos in seinem Leben bei 20 bis 34 Prozent liegt? Das ist eine Prognose. Sie gibt keine Sicherheit, und sie garantiert schon gar kein Leben ohne ernsthafte oder lebensgefährliche Erkrankung. Das Le- ben birgt Risiko, und das mit jedem Atemzug. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14171 (A) (C) (D)(B) Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes im Juni 2010 habe ich viele Zuschriften erhalten und Gespräche auch mit direkt Betroffenen geführt. Viele der genetisch bedingten Erkrankungen lassen sich heute bereits gut behandeln, sodass die Betroffenen nicht mit ihrem Schicksal hadern. Häufig haben sie eine ganz normale oder nur wenig geringere Lebenserwar- tung als gesunde Menschen. Viele Betroffene, die mit ei- ner Behinderung oder Erkrankung leben, die mittels PID aussortiert werden soll, sowie deren Eltern empfinden dieses Verfahren als Diskriminierung und Stigmatisie- rung. Wir dürfen nicht entscheiden, welches Leben sich entwickeln darf und welches nicht. Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind. Die Entscheidung zur PID fällt niemandem leicht. Ich würde mir jedoch wünschen, dass die Mehrheit meiner Kollegen im Deutschen Bundestag für ein Verbot stimmt – aus Respekt vor dem Leben. Dafür möchte ich werben. Andrej Hunko (DIE LINKE): Nach langer Überle- gung und anfänglicher Neigung zur Zustimmung zur PID hat folgende Begründung für mich den Ausschlag gegeben, gegen die Zulassung der PID zu stimmen: Auch wenn es im Einzelfall ungerecht erscheinen mag, so würde nach meiner Auffassung die einge- schränkte Zulassung der PID die Tür zu einer weiteren Nutzung öffnen. Der Gesetzentwurf von Flach/Hintze geht schon jetzt über die Verhinderung schwerster Erb- krankheiten hinaus, zum Beispiel in Bezug auf das Brustkrebsgen. Mit der Etablierung der PID wird der Druck entste- hen, diese weiter auszudehnen, nicht nur durch die dann nicht unbegründete Rechtsauffassung anderer potenziel- ler Eltern, die nicht unter die eingeschränkten Zulas- sungskriterien fallen, sondern vor allem durch die Inte- ressen derjenigen, die die PID anwenden oder vermarkten. Mit der Etablierung entsteht in einer auf Konkurrenz und „Wettbewerbsfähigkeit“ basierenden Gesellschaft ein entsprechendes Verwertungsinteresse, das in Zukunft die Tür möglicherweise ganz aufstoßen wird. Eine allge- meine Zulassung der PID, etwa zur Geschlechtsauswahl oder zur Herstellung „gesünderer und leistungsfähige- rer“ Menschen, ist mit meinem Menschenbild nicht ver- einbar. Es stellt sich die Frage in welche Richtung sich Fort- schritt in medizinischer Forschung und Technik entwi- ckeln soll. Ich fürchte, mit der Zulassung der PID gehen wir in die falsche Richtung. Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): Der Gesetzesentwurf auf Drucksache 17/5452 verbietet grundsätzlich die Prä- implantationsdiagnostik, PID, hält sie in einigen weni- gen Fällen jedoch für vertretbar und zulässig. Leibliche Kinder zu haben, ist für viele Menschen ein sehnlicher Wunsch und gehört für viele Menschen eben- falls zu einem erfüllten Leben. Dies ist ihr verfassungs- mäßig geschütztes Recht. Der Kinderwunsch kann je- doch in existenziell bedrängende Situationen führen, wenn den Eltern eigene schwere Krankheiten oder gene- tische Dispositionen bekannt sind, die eine Überlebens- fähigkeit eines Embryos stark infrage stellen. In diesem Fall muss es eine Ausnahme vom Präimplantationsdia- gnostikverbot geben, um die berechtigten Interessen von Eltern, deren genetische Vorbelastung zu Fehl- oder Tot- geburten führen kann, zu wahren. Dieser Ausnahme werden im vorliegenden Gesetzentwurf strenge Be- schränkungen auferlegt, die einer Ausweitung der PID eindeutige Grenzen aufzeigen. Eine sorgfältige und streng regulierte Regelung zur Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in dem vom Gesetzesentwurf dargestellten Rahmen erachte ich für sinnvoller als ein kategorisches Verbot der PID. Volkmar Klein (CDU/CSU): Die vergangenen Mo- nate und gerade die letzten Tage mit vielen Gesprächen auch mit Kolleginnen und Kollegen zeigen, wie schwer die heutige Entscheidung zu PID ist. Ich finde es auch wirklich beeindruckend, wie tiefgehend und ernsthaft von allen Seiten diskutiert und um eine richtige Ent- scheidung erst mal für sich selber gerungen wird. Natür- lich verstärken Berichte über persönliche Schicksale be- troffener Paare mein Verständnis für deren Sorgen und Nöte und auch meinen Wunsch, ihnen irgendwie zu hel- fen. Bei wem sollte das nicht so sein? Aber am Ende be- deutet PID die Bewertung, die Auswahl und das Verwer- fen von menschlichem Leben. Bei der Abwägung entscheide ich mich dagegen, weil ich meine, dass uns das nicht zusteht. Leben ist ein unschätzbar wertvolles Geschenk Gottes, das wir zu schützen haben und über das wir nicht verfügen dürfen. Daher rufe ich Sie auf, für unseren Gesetzentwurf mit dem Verbot von PID zu stim- men. Dazu kommt, dass die anderen beiden Gesetzent- würfe an einer entscheidenden Stelle unkonkret bleiben. Was genau soll denn der Katalog von Erbkrankheiten sein, der dann PID und in der Folge das Verwerfen der Embryonen erlaubt? Da wird keiner konkret, und es würden sich dann schnell Menschen finden, die mit Mu- koviszidose oder Downsyndrom erfolgreich und glück- lich leben. Obendrein kann heute natürlich keiner etwas über Therapiemöglichkeiten in der weiteren Zukunft sa- gen. Und: Heute geht es nur um ganz wenige Einzelfälle, aber einmal eingeführt kann sich das schnell ändern. Ar- gumente zur Ausweitung werden sich finden und wir wären auf dem Weg zum Designerbaby. Ich bitte Sie, für unseren Gesetzentwurf mit der Drucksache 17/5450 zu stimmen. Jens Koeppen (CDU/CSU): Als bekennender Christ trete ich für eine Zulassung der PID ein, die es ei- nigen Hundert Paaren im Jahr ermöglicht, den lange ge- hegten Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. Frauen trotz medizinischer Erkenntnisse Fehlgeburten, Totge- burten oder Spätabtreibungen bewusst zuzumuten, ist 14172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) mit meinem Bild unserer modernen Gesellschaft und meinem christlichen Menschenbild nicht vereinbar. Genetische Fehlbildungen können mit dem im sehr frühen Stadium ansetzenden Diagnoseverfahren festge- stellt werden. Wer von genetischen Vorbelastungen weiß und sich bisher oft gegen ein eigenes Kind entscheiden musste oder gar keine Wahl hatte, kann durch die be- grenzte Zulassung der Diagnostik und mithilfe der künstlichen Befruchtung endlich auf eigenen Nach- wuchs hoffen. Ich halte es nicht für richtig, wenn Politik entscheiden will, welches Ausmaß an Leid und Trauer Familien ver- kraften müssen. Ich halte es für grundlegend falsch, wenn es die Politik wäre, die entscheidet, ob der Wunsch von Menschen nach einem eigenen Kind legitim ist oder nicht. Es ist nicht Aufgabe der Politik, den medizini- schen Fortschritt, der in der Europäischen Union seit Jahren erfolgreich Anwendung findet, den Frauen in Deutschland vorzuenthalten. Unsere Entscheidungen im Bundestag dürfen nicht dazu führen, dass hilfesuchende Familien sich Ärzten in einer fremden Sprache im Aus- land zur Behandlung anvertrauen müssen. Es ist durch den Bundestag bei der Gesetzgebung an- zuerkennen: PID kann persönliches Glück mehren. Der neue Rechtsrahmen muss ethische Grenzen bei der An- wendung setzen und darf nicht aus diffusen Ängsten he- raus die Anwendung verbieten. Angst darf nicht das be- stimmende Kriterium unserer Entscheidungen werden. Diese Art der Zukunftsskepsis schadet dem Land und seinen Menschen. Über Kinder, die mithilfe der frühen Untersuchungs- methode geboren werden können – Kindern von Eltern also, die mit einem PID-Verbot quasi keine Chance auf Familienglück hätten –, sollten wir alle froh sein. Ge- nauso froh und dankbar sollten wir sein, wenn Frauen und ihren Familien der Schmerz durch Kindsverlust oder eine Abtreibung in einem Entwicklungsstadium, in dem die kindlichen Bewegungen deutlich spürbar sind, durch diese Diagnostik erspart bleibt. Ich werbe für die Zustimmung zum Gesetzentwurf von Peter Hintze und Ulrike Flach und hoffe, dass der le- bensbejahende Regulierungsansatz eine große Zustim- mung erhält. Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Ich bin der festen Überzeugung, dass die Präimplantationsdiagnostik nicht mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde vereinbar ist und der Deutsche Bundestag sich für ein Verbot aus- sprechen sollte. Ich habe daher den fraktionsübergreifen- den Gesetzentwurf meiner Bundestagskollegen Birgitt Bender, Pascal Kober, Dr. Günter Krings, Ulla Schmidt, Johannes Singhammer, Kathrin Vogler und anderen un- terzeichnet, der ein umfassendes gesetzliches Verbot der Präimplantationsdiagnostik anstrebt. Die durch Legali- sierung der Präimplantationsdiagnostik gesetzlich legiti- mierte Selektion vor Beginn der Schwangerschaft würde einen Paradigmenwechsel darstellen. Jeder Mensch ist einzigartig und wertvoll, unabhän- gig von Gesundheit, Besonderheiten und Eigenschaften! Menschliches Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, und dieses Leben bedarf des rechtli- chen Schutzes. Eine Gesellschaft, in der der Staat da- rüber entscheidet oder andere darüber entscheiden lässt, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht, verliert ihre Menschlichkeit. Ein immer weiter um sich greifendes medizinisches Optimierungsstreben verletzt und stigmatisiert alle Menschen, die sich bewusst gegen menschlichen Machbarkeitswahn entscheiden. Ein gewichtiges Argument gegen die Präimplanta- tionsdiagnostik stellen auch die internationalen Erfah- rungen dar, nach denen eine Begrenzung auf Einzelfälle nicht möglich ist. Die hohen gesundheitlichen Belastun- gen und die unsicheren Erfolgsprognosen der Präimplan- tationsdiagnostik zeigen, dass diese die geweckten Hoff- nungen nicht erfüllt. Die christliche Wertorientierung ist für mich von dau- erhafter Gültigkeit für den Schutz menschlichen Lebens. Gesetzliche Regelungen müssen der Würde, dem Selbst- bestimmungsrecht der Person und dem Schutz des menschlichen Lebens ausgewogen gerecht werden. Das christliche Menschenbild ist für mich als Bundestags- abgeordneten die Grundlage auch im Ringen um not- wendige Regeln zwischen Selbstbestimmung und Lebensschutz. Aufgrund meiner christlichen Grundüber- zeugung ist die Präimplantationsdiagnostik für mich nicht vertretbar. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Wir beraten heute über drei Gesetzentwürfe zur Präimplantationsdiagnos- tik, die eine Regelung zum Umgang mit Gentests an künstlich erzeugten Embryonen finden sollen. Dies ist ein sehr umstittenes Thema, denn es berührt ethische, religiöse, medizinische und moralische Fragen. Da die PID grundlegende ethische Fragen aufwirft, wurde ver- einbart, dass es keine Fraktionsanträge, sondern nur par- teiübergreifende Initiativen gibt. Ich unterstütze den parteiübergreifenden Gesetzent- wurf, der die Präimplantationsdiagnostik, PID, unter be- stimmten Voraussetzungen erlaubt. Der von mir unter- stützte Gesetzentwurf gibt betroffenen Eltern das Signal, dass sich der Gesetzgeber ihrer existenziellen Nöte an- nimmt. Mit diesem Gesetz machen wir Mut zum Kind. Ein Verbot der PID würde zu schweren Wertungswider- sprüchen führen, wenn man dadurch die Untersuchung einer befruchteten Eizelle in einer Petrischale verbieten würde, obwohl die spätere Untersuchung im Mutterleib und der Schwangerschaftsabbruch erlaubt sind. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir Eltern ermög- lichen, eine künstlich befruchtete Eizelle vor ihrer Im- plantation in die Gebärmutter auf schwere genetische Schäden zu untersuchen, um mögliche spätere Schwan- gerschaftsabbrüche, Tot- oder Fehlgeburten zu vermei- den. Die Regelung soll genetisch vorbelasteten Eltern er- möglichen, Ja zu einem eigenen Kind zu sagen. Ich möchte damit vor allem auch Frauen helfen, die sich sehnlich ein Kind wünschen. Das sind Frauen, die oft schon eine oder zwei Totgeburten hinter sich haben. Das sind Frauen, die den schweren Weg einer künstlichen Befruchtung gehen. Ich habe bereits Schreiben von sehr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14173 (A) (C) (D)(B) verzweifelten Familien erhalten, die mir ihre bestürzen- den Geschichten vom Weg zum Kind geschrieben haben. Eine Mail, die mich einmal erreichte, handelte von ei- nem Vater, dessen Frau bereits zwei erfolglose Schwan- gerschaftsversuche hinter sich hatte: Zweimal musste sich seine Frau einer Totgeburt aussetzen, weil sie eben nicht die Chance hatte, im Vorfeld zu untersuchen, ob die befruchtete Eizelle die Chance haben würde, ein le- bensfähiges Kind zu werden. Eine schreckliche und trau- matisierende Situation für diese Familie! Soll man die- sen Familien sagen: Wir könnten zwar helfen, es ist aber verboten? Die Gegner von PID argumentieren, dass sie Abtrei- bungen nicht wollen. Aber zurzeit sind selbst reguläre Abtreibungen möglich: Also erst eine Schwangerschaft eingehen, um sie dann abzubrechen, obwohl diese bei Problemen früher gestoppt werden könnten? Das passt nicht zusammen. Mein Ziel ist es damit auch, spätere Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Gerade wer Abtreibungen verhindern will, sollte die Chancen, die in der PID liegen, nutzen. Ich bin jedenfalls bereit dazu, denjenigen Familien, die dies möchten, diese Hilfe zu bieten, anstatt sie zu versagen, obwohl Hilfe möglich wäre. Ich habe das Ziel, Menschen ein Leid wie beschrieben mit medizinischer Hilfe zu ersparen. Für mich ist das ebenfalls eine Position der Nächstenliebe und der Ach- tung des Menschen. Kirsten Lühmann (SPD): Ich habe mich für das Ge- setz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik auf Drucksache 17/5451 entschieden. Als Christin fiel mir das nicht leicht. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass Menschen nicht alle technischen Möglichkeiten ausschöpfen sollten. Dies gilt insbesondere für den An- fang und das Ende des Lebens. Allerdings leben wir in einer Gesellschaft, die das mehrheitlich anders sieht. So ist zum Beispiel die ln-vi- tro-Fertilisation seit mehreren Jahrzehnten möglich und erlaubt. Ebenso kann in bestimmten Fällen nach vorge- burtlicher Diagnostik die Schwangerschaft bis zum Be- ginn der Geburt abgebrochen werden. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die betroffenen Eltern mit beiden schwierigen Entscheidungen verantwortungsvoll umge- hen. Wenn in dieser Situation die PID in keinem Fall er- möglicht wird, würden solche Untersuchungen in vielen Fällen zu einem späteren Zeitpunkt legal, zum Beispiel durch eine Fruchtwasseruntersuchung, nachgeholt. Die dann möglicherweise erfolgende Spätabtreibung eines lebensfähigen Fötus stellt sowohl für die betroffenen El- tern als auch für das ungeborene Kind eine solch schwer- wiegende Belastung dar, dass ich sie, wo immer mög- lich, verhindern will. Dies vermögen die Regelungen im PräimpG zu tun. Die PID darf und wird dabei nicht zu einer normalen Re- geluntersuchung werden, sondern erfolgt nur auf Antrag und nach Prüfung des Einzelfalls aufgrund eng umgrenz- ter Kriterien. Ich halte es für wichtig, hier keinen ab- schließenden Katalog von Indikationen aufzustellen, da dies weder der schwierigen Einzelentscheidung gerecht wird noch alle möglichen Fallkonstellationen abbilden kann. Dabei habe ich tiefen Respekt für alle Kollegen und Kolleginnen, die aus ähnlichen Erwägungen zu anderen Schlüssen für ihr Abstimmungsverhalten kommen. Denn keiner der vorgelegten Gesetzentwürfe stellt aus meiner Sicht einen Königsweg dar. Meine Wahl für das PräimpG treffe ich aus der Gewissensentscheidung he- raus, damit unter den geltenden rechtlichen und gesell- schaftlichen Gegebenheiten im Sinne der betroffenen Familien zu handeln, und in der Hoffnung, schlimmeres Leid zu verhindern. Philipp Mißfelder (CDU/CSU): In großem Respekt vor der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik, PID, habe ich mich unter Abwägung aller Argumente dazu entschieden, als einer der ersten den Gesetzentwurf von Johannes Singhammer und anderen zu unterzeichnen – Gesetz zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik –, der für ein striktes Verbot der Präimplantationsdiagnos- tik eintritt. Der Grund für meine Entscheidung liegt in dem christlichen Menschenbild unserer Partei. Für mich per- sönlich hat der Schutz des Lebens, vor allem der des un- geborenen, bereits seit Jahren Priorität in meiner politi- schen Arbeit. So habe ich im Februar 2008 bereits im Deutschen Bundestag für ein Verbot der Forschung mit embryonalen Stammzellen gestimmt. Der Hauptgrund ist für mich seinerzeit gewesen, dass es ohne die Tötung von Embryonen keine Forschung mit menschlichen em- bryonalen Stammzellen geben kann. Diese Auffassung, dass das ungeborene Leben zu schützen ist, ist auch dies- mal Anstoß für meine Ablehnung. Anfang Juli 2010 sorgte eine Entscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Leipzig für Dis- kussionen: In ihrem Grundsatzurteil erklärten die Rich- ter Voruntersuchungen zur Erkennung von Gendefekten bei Embryonen für zulässig. Vorausgegangen war eine Selbstanzeige eines Berliner Arztes, der bei drei erblich vorbelasteten Paaren Gentests an Embryonen vorgenom- men hatte. Ein Verstoß gegen das Embryonenschutzge- setz liege bei der Präimplantationsdiagnostik, PID, nicht vor, so der Bundesgerichtshof. Das Urteil bedeutete einen schweren Rückschlag für den Lebensschutz – und ist eine Herausforderung für mich persönlich und für die Junge Union Deutschlands, die sich seit Jahren mit der Thematik der PID beschäf- tigt. So hat der Bundesvorstand der Jungen Union Deutschlands bereits im Oktober 2001 noch unter mei- ner Vorgängerin als JU-Bundesvorsitzende das Verbot der PID beschlossen. In diesem Beschluss wurde festge- stellt, dass eine Ablehnung der Präimplantationsdiagnos- tik nicht im Widerspruch zu Spätabtreibungen nach der zwölften Schwangerschaftswoche steht, wenn bei einer vorgeburtlichen Untersuchung das Vorliegen einer Krankheit oder Behinderung festgestellt wird. Eine Ab- treibung setzt nämlich eine Konfliktsituation der 14174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Schwangeren voraus, die bei der Präimplantationsdia- gnostik gerade nicht vorliegt. An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Ei- ner der zentralen Grundsätze unseres politischen Den- kens und Handelns ist der Schutz des Lebens. Der Mensch darf nicht alles, wozu er technisch in der Lage ist. Aus dem „C“ unseres Parteinamens ergibt sich in den elementaren Fragen der Ethik eine besondere Verpflich- tung. Ich lehne daher Gentests an Embryos ab. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, wonach die Anwendung dieser Methode nicht gegen das Embryo- nenschutzgesetz verstößt, verschafft zwar Ärzten Rechtssicherheit, gefährdet aber ungeborenes Leben massiv. Die Grenze der ethischen Machbarkeit wird durch die PID erneut verschoben. Aus Sicht der Jungen Union ist es nicht hinnehmbar, Designerbabys zu züch- ten oder gar künstlich befruchtete Embryonen gezielt nach wertem und unwertem Leben zu sortieren. Jeder Mensch besitzt von Beginn an eine unveräußerliche, per- sonale Würde. Der Schutz des Lebens – gerade auch des ungeborenen – muss weiterhin Priorität für uns haben. Deshalb muss jetzt das Embryonenschutzgesetz geändert werden, um damit klarzustellen, dass Gentests an unge- borenem Leben verboten sind. Nicht alles, was technisch machbar ist, darf auch ge- macht werden. Die Achtung vor der Schöpfung bindet uns in moralischer und ethischer Weise. Der Mensch darf sich niemals zum Herrn über Leben und Tod erhe- ben oder auch nur Urteile über möglicherweise lebens- wertes oder -unwertes Leben fällen, allein schon deshalb nicht, weil Leben niemals nichts wert sein kann. Die PID leistet jedoch einer derartigen Geisteshaltung Vorschub und zielt auf eine behindertenfreie Gesellschaft, in der zukünftig Mütter und Väter, die sich aus Achtung vor dem ungeborenen Leben für die Geburt eines behinder- ten Kindes und gegen die Selektion entschieden haben, an den Pranger gestellt werden. Bis heute ist eine Grenzziehung zwischen Merkma- len, die zur Auswahl „behindert“ oder „nicht behindert“ führt, nicht zweifelsfrei möglich. Die Befürchtung, dass sich dies mit der Einführung der PID zugunsten immer laxerer Kriterien verändert, ist deshalb mehr als berech- tigt. Zudem werden nicht selten festgestellte Gendefekte zur Auslese herangezogen, deren Manifestation nach der Geburt keineswegs sicher ist oder gar nur in wenigen Wahrscheinlichkeitsprozentpunkten anzugeben ist. Die Junge Union hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder in zahlreichen Beschlüssen zu dieser The- matik – etwa beim Verbot von Spätabtreibungen oder der Verbesserung der Schwangerenkonfliktberatung – klar für den Lebensschutz ausgesprochen. Diese eindeutige Position behalte ich mit meiner Unterstützung des Geset- zes zum Verbot der Präimplantationsdiagnostik bei. Es sei an dieser Stelle zudem daran erinnert, dass auch das Grundsatzprogramm der CDU, das am 3. De- zember 2007 auf dem Parteitag in Hannover beschlossen wurde, ein Verbot der PID enthält. Dieses Verbot wurde auf dem CDU-Bundesparteitag vom 14. bis 16. Novem- ber 2010 in Karlsruhe durch einen Antrag der Jungen Union Deutschlands, in den ich eingeführt habe, vom höchsten Beschlussgremium der CDU bestätigt. Der Schutz des Lebens hat für mich persönlich und die Junge Union Priorität. Methoden wie die Präimplan- tationsdiagnostik gefährden die Würde des Menschen. Sie könnten dazu beitragen, mittelfristig auch die Siche- rung des Lebensrechts im Alter zu schwächen. Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Im Deutschen Bun- destag beraten wir heute abschließend darüber, ob Aus- nahmen vom Verbot der Präimplantationsdiagnostik, PID, zugelassen werden sollen. Dazu liegen drei konkur- rierende Gesetzentwürfe vor. Da es sich um eine Gewis- sensfrage handelt, wird jeder Abgeordnete seinem Ge- wissen folgend abstimmen, also unabhängig von der Haltung seiner Fraktion. Worum geht es? Die PID ist ein Verfahren, bei einer künstlichen Befruchtung den Embryo vor seiner Ein- pflanzung in die Gebärmutter genetisch zu untersuchen. Damit besteht auch die Gefahr, dass der Embryo nach „Wunschkriterien“, also beispielsweise nach seinem Ge- schlecht, ausgesucht wird. Embryonen, die nicht den Kriterien entsprechen, werden ausgesondert, also letzt- lich getötet. Grundsätzliches Verbot und Schutz des Lebens von Anfang an: Bereits die bisherige Debatte im und außer- halb des Bundestags hat gezeigt, dass das Thema, das sehr vielschichtig ist, mit großer Ernsthaftigkeit behan- delt wird. Das hatte sich auch bei der Diskussion auf dem Bundesparteitag der CDU im letzten Jahr gezeigt. Aus meiner Sicht ist sehr zu begrüßen, dass PID nach dem Willen aller vorliegenden Entwürfe grundsätzlich verboten werden soll. Denn nach meiner Meinung muss das menschliche Leben einen umfassenden Schutz ge- nießen, gerade zu Beginn und am Ende. Dann sind die Menschen am wenigsten in der Lage, ihr Leben selbst zu schützen. Die Frage, ob eine Eizelle, die außerhalb des Körpers künstlich befruchtet wird, bereits ein Mensch ist, ist umstritten. Für mich ist aber klar, dass gerade bei so elementaren Fragen wie dem Schutz des Lebens im Zweifel immer von schutzwürdigem Leben auszugehen ist. Deshalb darf grundsätzlich nicht mithilfe von PID Leben ausgelöscht werden. Auch die jetzt beratenen Gesetzentwürfe wollen PID grundsätzlich verbieten. Die Gesetzentwürfe unterschei- den sich aber darin, ob ausnahmsweise PID zugelassen werden soll und, wenn ja, unter welchen Voraussetzun- gen. Ausnahmen vom Lebensschutz in unserer Rechtsord- nung: In unserer Rechtsordnung hat der Schutz des Le- bens einen überragenden Stellenwert. Ausnahmen sind nur in sehr engen Grenzen möglich, nämlich wenn es ei- nen Konflikt Leben des einen gegen Leben des anderen geht, wie im Fall der Notwehr. Auch bei der Frage des Schutzes des ungeborenen Le- bens haben das Bundesverfassungsgericht und der Ge- setzgeber diesen Grundsatz bestätigt. So ist der Abbruch der Schwangerschaft nur dann nicht rechtswidrig, „wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14175 (A) (C) (D)(B) erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt“, wie der Ge- setzgeber in § 219 Strafgesetzbuch formuliert hat. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Anmerkung zur Praxis des Schwangerschaftsabbruchs in Deutsch- land: Die Tatsache, dass es hier über 100 000 Schwan- gerschaftsabbrüche pro Jahr gibt, ist aus meiner Sicht ein gesellschaftlicher Skandal. Die Zahl übersteigt nach meiner Überzeugung bei weitem die Zahl so ernsthafter Konflikte, wie sie Gesetzgeber und Bundesverfassungs- gericht vor Augen hatten. Zurück zur PID: Wenn im Falle eines Embryos im Mutterleib nur bei einem schwerwiegenden Konflikt sein Recht auf Leben hinter dem Lebensrecht der Mutter zurückstehen darf, kann nach meiner Meinung nichts an- deres im Falle des noch nicht eingesetzten Embryos nach einer künstlichen Befruchtung gelten. Also: Eine Tötung nach PID sollte dann nicht rechtswidrig sein, wenn die Belastung für die Mutter sehr schwer und außergewöhn- lich hoch ist. Wertungswiderspruch eines vollständigen Verbots: Ansonsten, also bei einem vollständigen Verbot der PID, kommt es zu einem Wertungswiderspruch, der nicht hin- nehmbar ist: Vorausgesetzt, es gibt eine Konfliktlage zwischen dem Leben der Mutter und dem des Embryos, dann würde eine PID mit anschließender Tötung des Embryos vor Einpflanzung bestraft. Nach Einpflanzung dagegen wäre seine Tötung bei einem Schwanger- schaftsabbruch straffrei. Dieser Wertungswiderspruch war auch der tragende Grund, warum der Bundesge- richtshof mit Urteil vom 6. Juli 2010 einen Arzt nach PID freigesprochen hat. Dieses Urteil ist Auslöser der heutigen Diskussion. Ein vollständiges Verbot der PID ohne Ausnahmen, wie im Antrag der Kollegen Göring-Eckardt, Kauder, Kober, Singhammer etc. vorgesehen, werde ich daher nicht unterstützen. Ausnahmen bei hochwahrscheinlichem Tod des Kin- des: Die PID darf meiner Meinung nach nur in eng um- grenzten Ausnahmefällen straffrei bleiben. Richtschnur muss dabei der schwere Konflikt der Mutter sein, wie er auch beim straffreien Schwangerschaftsabbruch als Vo- raussetzung gesehen wird, also letztlich auch ein Kon- flikt Leben gegen Leben. In dem Antrag der Kollegen Röspel, Hinz, Meinhardt, Lammert etc., der dem Bundestag ebenfalls zur Beratung vorliegt, wird die straffreie PID auf solche Fälle be- schränkt, bei denen die Kinder wegen einer Erbkrankheit der Eltern hochwahrscheinlich so sehr geschädigt wer- den, dass sie entweder bereits tot oder fehl geboren wer- den. Dieser Antrag stellt aus meiner Sicht nicht hinrei- chend auf die Konfliktsituation ab. Denn ein Konflikt, bei dem das Leben der Mutter letztlich gegen das Leben des Kindes steht, ist auch in anderen Fällen denkbar. Ausnahmen bei schweren Erbkrankheiten und Zu- stimmung einer Ethikkommission: Der Antrag der Kol- legen Flach, Hintze, Reimann, Sitte etc. will die PID auf solche Fälle beschränken, bei denen ein hohes Risiko ei- ner schweren Erbkrankheit des Kindes besteht und bei denen eine interdisziplinäre Ethikkommission der PID zugestimmt hat. Dieser Antrag ist zwar weitergehend als der Antrag Röspel, Hinz, Meinhardt, Lammert etc. Die vorgesehene Zustimmung einer Ethikkommission kann aber den Anwendungsbereich der PID wieder eingren- zen. Dieser Antrag entspricht am ehesten meiner Vorstel- lung einer Regelung der PID. Denn bei den schwierigen Fällen, die Auslöser der jetzigen Diskussion waren, könnte dann eine PID zulässig sein. Es ging um Eltern mit Kinderwunsch, die aber aufgrund ihrer erblichen Veranlagung befürchten mussten, eine schwere Krank- heit an ihr Kind zu vererben. Die Folge: Ohne PID kam es zur Schwangerschaft, zur Konfliktsituation und zum Abbruch, also einem für die Mutter wesentlich gravie- renderen Eingriff als eine Tötung des Embryos nach PID noch vor der Einpflanzung in den Mutterleib. Diese für alle Beteiligten schreckliche und belastende Situation kann durch die Regelung der PID im Sinne des Antrags der Kollegen Flach, Hintze, Reimann, Sitte etc. vermie- den werden. Da es sich letztlich immer um einen sehr individuel- len Konflikt handelt, können pauschale Lösungen nicht die Antwort sein. Deshalb ist es richtig, dass, wie im An- trag der Kollegen Flach, Hintze, Reimann, Sitte etc. vor- gesehen, durch eine Ethikkommission eine Prüfung im Einzelfall stattfinden muss und damit die konkrete Kon- fliktsituation beurteilt wird. Aus diesen genannten Grün- den gebe ich meine Stimme dem Antrag der Kollegen Flach, Hintze, Reimann, Sitte etc. In den letzten Wochen und Monaten habe ich sehr viele Zuschriften und Stellungnahmen erhalten. Dafür be- danke ich mich herzlich, da sie mir geholfen haben, mich in dieser schwierigen Frage zu entscheiden. Wie ich sehen konnte, entspricht mein Votum dem einstimmigen Votum der Nationalen Akademie der Wissenschaften – Leopol- dina, Acatech und Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften –, dem Mehrheitsvotum des Deut- schen Ethikrates und des Deutschen Ärztetages. Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Es geht heute für uns alle um eine schwierige Gewissensentscheidung in ei- nem Grenzbereich. Behutsamkeit des Gesetzgebers ist hier ganz besonders gefragt. Niemand im Parlament macht sich die Entscheidung leicht, und ich möchte zu- nächst, unabhängig vom Ergebnis, um Respekt vor der Gewissensentscheidung eines jeden Abgeordneten bit- ten. Bei meiner Entscheidung für den Gesetzentwurf von Peter Hintze, der unter sehr eingeschränkten Bedingun- gen eine PID erlaubt, habe ich mich im Wesentlichen von folgenden Überlegungen leiten lassen: Die PID würde Frauen und Familien nutzen, die einen Kinderwunsch haben und genetisch erheblich vorbelas- tet sind. Ihr Ziel ist, eine Schwangerschaft herbeizufüh- ren und das Risiko einer Totgeburt oder einer schweren Erkrankung des Kindes möglichst zu verhindern. Dabei spricht man für Deutschland von einem Betroffenenkreis von etwa 150 bis 200 Paaren im Jahr. 14176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Mich haben zum Teil eindringliche Schilderungen von Familien erreicht, die sich weitere Kinder wün- schen, aber nach mehreren Fehlgeburten oder weil sie bereits ein schwerbehindertes Kind haben, nicht die Kraft für ein weiteres schwerbehindertes Kind aufbrin- gen können. Ich glaube, wenn es medizinisch möglich ist, dieses Leid zu vermeiden, kann es nicht richtig sein, den Be- troffenen diese Untersuchung vorzuenthalten. Die Mög- lichkeit der Information durch die PID und das Urteil da- rüber soll den betroffenen Familien zustehen, wenn sie es wollen. Der Gesetzentwurf von Peter Hintze achtet sehr ge- nau darauf, dass jede Entscheidung, eine PID zu nutzen, als Einzelfall behandelt wird. Ein allgemeines Urteil über den Lebenswert von Menschen, die bestimmte Be- hinderungen haben, kann man daraus nicht ableiten. Die Vermeidung eines konkreten individuellen Leids im Ein- zelfall führt nach meiner Auffassung nicht dazu, dass be- reits lebende Menschen mit bestimmten Behinderungen dadurch diskriminiert werden könnten. Verfassungsrechtlich ist nicht entschieden, ab wel- chem Zeitpunkt menschliches Leben beginnt. Für mich sind folgende Überlegungen maßgebend: Ein Mensch kann nicht außerhalb des Mutterleibes zum Fötus oder Kind heranwachsen. Deshalb halte ich es für richtig, den vollen Schutz menschlicher Würde mit der Nidation beginnen zu lassen. Dieser Standpunkt bedeutet nicht, dass die befruchtete Eizelle deshalb schutzlos gestellt wäre. Genauso, wie nach dem Ableben der Leichnam eines Menschen strafrechtlich vor Missbrauch geschützt ist, gibt es eine „Vorwirkung“ des Schutzes für die befruch- tete Eizelle, deren eigener Wert hohen Respekt erfordert. Auch dieser Abwägung trägt der sogenannte Hintze-Ent- wurf Rechnung. Würde man den vollen Schutz menschlicher Würde bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnen lassen, müsste man Nidationshemmer und An- tikontrazeptiva, wie die „Spirale“, konsequenterweise verbieten. Folgt aus einer Zulassung der PID für sehr eng um- grenzte Fälle, dass alles, was heute technisch machbar ist, gemacht wird und man letztlich auf eine schiefe Bahn gerät? Ich verstehe die Sorge, die hinter der Frage steht, und die Furcht vor sogenannten Designerbabys. Ich traue aber uns als Gesellschaft und den Menschen, die in der konkreten Konfliktsituation sind, die Fähigkeit zu, verantwortungsvoll mit einer PID umzugehen. Davon gehen wir ja auch bei der Pränataldiagnostik aus, deren rechtliche Zulässigkeit niemand bezweifelt. Mit einem absoluten Verbot der PID würden wir die Be- troffenen auf das benachbarte Ausland verweisen, wo PID erlaubt ist. Der Gesetzgeber bleibt aufgefordert, die Gefahr eines Missbrauchs möglichst gering zu halten und eine Institu- tionalisierung der Diagnosezentren vorzunehmen, die die PID in einem menschenwürdigen Kontext gewähr- leistet. Die mit großen Ernst geführte Diskussion, die über Parteigrenzen hinweg und quer durch die Gesellschaft verlief, ist für mich ein Zeichen, dass wir dieser Verant- wortung auch in unserem Land gewachsen sein werden. Thomas Rachel (CDU/CSU): Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir uns Zeit für diese intensive Debatte zu diesem wichtigen und zentralen Thema nehmen. Die künstliche Befruchtung, die sogenannte IVF, hat vielen Paaren die Chance auf das lang ersehnte Kind ge- geben. Allein hier bei uns in Deutschland sind in den vergangenen zehn Jahren über 100 000 Kinder durch IVF zur Welt gekommen. Durch medizinische Hilfe ha- ben Familien ihren Nachwuchs bekommen, den sie als einen Segen empfinden. Der Wunsch vieler Ehepaare, Eltern gesunder Kinder zu werden, ist vollkommen ver- ständlich und zu respektieren. Aber haben diesen Wunsch nicht alle Paare, ob sie nun ein Kind auf dem Wege der IVF oder auf natürliche Weise bekommen? Auch im Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU haben wir das Thema intensiv diskutiert und sind gegen eine Zulassung der PID; denn sie ist mit einem zentralen ethischen Problem behaftet: Als Folge der PID findet eine Auswahl von genetisch geeignet erscheinenden Em- bryonen statt, eine Auswahl nach genetischen Kriterien. Ausgehend vom christlichen Menschenbild wissen wir aber, dass menschliches Leben ein Geschenk ist. Es ist etwas Wertvolles, das wir schützen möchten. Wie sind die Fakten? Pro Jahr suchen rund 130 Paare aus Deutschland Hilfe zur Durchführung von PID im Ausland. Aber auch die PID gibt keine Garantie auf ein gesundes Kind. Viele Erkrankungen haben ganz andere Ursachen. Es wurde schon angesprochen, es gebe ein an- deres Verfahren. Löst aber ein anderes Verfahren den Konflikt, um den es hier geht, auf? Ich glaube, nein. Natürlich kann man eine Polkörper- diagnostik durchführen. Es ist ein vernünftiges Verfah- ren. Aber es ist letztlich kein Ersatz für das, um was es geht. Denn bei der Polkörperdiagnostik wird das mütter- liche Erbgut untersucht. Oder anders gesagt: Die Polkör- perdiagnostik hilft nicht bei genetischen Veränderungen, die der Vater überträgt. Der evangelische Theologe Helmut Thielecke hat ge- sagt: Ethik ist immer Ethik im Widerstreit. – So ist es auch hier. Hat ein Embryo eine Erbschädigung, kann er bei konsequenter Anwendung der PID verworfen wer- den. Wird die PID aber verboten, können wir in der Tat nicht ausschließen, dass die Eltern später in eine Situa- tion kommen, in der sie sich für eine Spätabtreibung des Embryos entscheiden. Beide Alternativen zeigen, dass wir uns in moralischen Dilemmata befinden, aus denen wir uns nicht vollständig befreien können. Deshalb rin- gen wir um die richtige Antwort. Letztlich komme ich zu dem Schluss, PID nicht zuzu- lassen. Wenn eine Mutter sich in einem existenziellen Schwangerschaftskonflikt befindet, während das Kind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14177 (A) (C) (D)(B) im Mutterleib heranwächst, ist dies von einer deutlich anderen Dramatik, als wenn Paare noch vor der Frage stehen, ob sie überhaupt eine PID durchführen wollen. Insofern kann man beide Situationen nicht gleichsetzen. Empfindet eine Mutter ihre vorhandene Schwanger- schaft als für sie existenzielle Notsituation, ist der Kon- flikt unausweichlich. Im Angesicht der noch nicht ge- füllten Petrischale ist die PID hingegen eine Option, auf die man gegebenenfalls verzichten kann. Unter Abwä- gung all dieser Punkte rate ich von der PID ab. Josef Rief (CDU/CSU): Ich spreche mich gegen die Präimplantationsdiagnostik, PID, aus. Nach reiflicher Überlegung haben mich die Argumente gegen eine PID überzeugt: Erstes und wohl auch bedeutendstes Argument ist die Tatsache, dass die erzeugten Embryonen Menschen sind, nicht weniger schutzbedürftig, sondern berechtigt, als schwächstes menschliches Wesen den vollen Lebens- schutz zu beanspruchen. Der selektive Blick auf die menschlichen Embryonen zur Auswahl eines gesunden Embryos bedeutet immer zugleich die Verwerfung von sich gerade entwickelnden Menschen, die nicht gewollt und bewusst verworfen werden. Dieses Auswählen ver- schiedener Embryonen geschieht nach der Beurteilung von lebenswert oder lebensunwert. Weiterhin bietet die PID keine Gewähr dafür, dass ein lebendes Kind geboren wird. Fachleute sagen, die Chance liege bei unter 30 Prozent. Daher ist das Risiko der Durchführung einer PID enorm hoch. Schließlich kann die Untersuchung auch einen zunächst gesunden Embryo schädigen. Außerdem sind Falschdiagnosen nicht ausgeschlossen, welche die Eltern letztendlich zu einer Abtreibung veranlassen könnten. Auch dies zeigt das hohe Risiko und die unmoralische Selektion. Dazu kommt noch, dass pro PID mehrere, mindestens acht oder neun Embryonen zur Verfügung stehen müssen, um eine diagnostische Beurteilung und eine erfolgreiche Im- plementierung gesunder Embryonen möglich zu ma- chen. Die überzähligen Embryonen werden letztlich ver- nichtet. Nun gibt es natürlich auch die Möglichkeit, die PID nur für bestimmte Indikationen zuzulassen, zum Bei- spiel, um Totgeburten zu verhindern. Diese enge Ausle- gung beinhaltet die Stellungnahme der EKD. Weder der Röspel/Lammert- noch der Flach/Hintze/Reimann-Vor- schlag würden ausschließlich diese Möglichkeit zulas- sen. Der Vorschlag, die Entscheidung dem betroffenen Paar und/oder Arzt, gegebenenfalls mit Zustimmung ei- ner Ethikkommission, zu überlassen, würde faktisch ei- ner totalen Freigabe der PID gleichkommen. Deshalb sollte man bedenken, dass bei einer solchen Entschei- dungsmöglichkeit der Staat seine Schutzfunktion gegen- über dem Embryo aufgibt. Und das wiederum ist eine Vernachlässigung oder gar Missachtung all unserer christlichen Werte und Wertvorstellungen. Außerdem ist eine Ausweitung – und das Ausland be- weist dies – des Anwendungsbereiches vorprogram- miert, analog der Entwicklung im Abtreibungsrecht. Nach Ansicht vieler Fachleute werden die in die PID ge- setzten hohen Erwartungen nicht erfüllt werden können. Und die Belastungen nach einer erfolglosen PID sind für alle Beteiligten sehr groß. Natürlich verstehe ich Eltern, die gesunde Kinder zur Welt bringen wollen, besonders wenn erbliche Krankhei- ten eventuell sogar bei beiden Partnern vorkommen. Al- lerdings gibt es auch andere Methoden. Zu nennen wäre hier die Polkörperdiagnostik, die mindestens 80 Prozent der über die PID nachzuweisenden Krankheiten eben- falls nachweisen könnte. Diese Methode ist um ein Viel- faches humaner, da diese Untersuchung an der noch weitgehend unentwickelten Eizelle stattfindet. Ich präfe- riere im Gegensatz zur PID nachdrücklich die Polkörper- diagnostik, da sie nicht am Embryo forscht. Nach Aussa- gen von Fachleuten bestehen hier zumindest für das weibliche Erbgut Untersuchungsmöglichkeiten, welche schon jetzt legal sind und einer PID nahekommen. Außerdem sind mir durch zahlreiche Briefe, aber auch direkte Gespräche mit betroffenen Familien, wel- che ein behindertes Kind haben, auch diese Schicksale bekannt. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass Menschen mit Behinderung keine Belastung für unsere Gesellschaft sein dürfen. Solche Menschen sind nicht besser, nicht schlechter – sondern nur anders. Unsere Aufgabe ist es, diese Familien nach Kräften zu unterstüt- zen. Denn jeder von uns kann morgen schon von einer Behinderung betroffen sein. Deshalb wäre die PID nicht nur eine Möglichkeit, Leid von Menschen zu nehmen, sondern eine viel zu hohe Selbsteinschätzung und eine Überbewertung unse- rer Rechte. Denn letztendlich liegt die Entscheidung über Leben und Tod nicht bei uns – sie liegt nach mei- nem Verständnis bei Gott. Das ist einer der entschei- dendsten Grundwerte, welcher unsere Gesellschaft so prägt. Die PID steht der Würde des Menschen entgegen. Ich hoffe, dass sich heute viele meiner Kollegen aller Fraktionen für ein Verbot der PID aussprechen. Denn wenn wir falsch liegen, ist es leichter, eine geschlossene Tür wieder zu öffnen. Es ist aber unmöglich, in diesem Fall eine offene Tür wieder zu schließen! Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Art. 38 des Grundgesetzes heißt es über uns Bundestags- abgeordnete: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Ich denke, die sehr sachlich ge- führten Debatten zur Präimplantationsdiagnostik, PID, haben gezeigt, dass wir diesen Auftrag sehr ernst neh- men. Es war zu spüren, dass sich niemand diese Entschei- dung leicht gemacht hat. Auch bei mir war es ein langer Prozess, bis ich mich schlussendlich und nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen habe, für den Antrag von Ulrike Flach, Peter Hintze, Jerzy Montag und anderen zu stimmen. In den vergangenen Wochen, ja Monaten habe ich viele Veranstaltungen besucht, habe mich mit Exper- tinnen und Experten von Kirchen, Wissenschaft und Be- hindertenvertretungen ausgetauscht und die Diskussio- 14178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) nen zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Gruppierungen verfolgt. Ich habe vor al- lem sehr viel Post bekommen, teils persönliche Briefe und E-Mails, die mich sehr berührt haben. Auch diesen Menschen gegenüber möchte ich hier kurz erklären, wa- rum ich mich so und nicht anders entschieden habe. Die Debatte über die PID hat gezeigt, dass es dabei um eine ethisch diffizile Frage geht. Sie berührt Ängste und Befürchtungen, ob wir Menschen uns anmaßen kön- nen, über Leben und Tod, also über das Schicksal eines Embryos, zu entscheiden – aber auch das einer Frau. Mit dem Antrag der Flach-Gruppe stellen wir uns die- ser Verantwortung und sagen deutlich: Ja, die PID bleibt weiterhin verboten, bis auf zwei klar definierte Ausnah- mefälle: wenn aufgrund einer erblichen Vorbelastung ei- nes Elternteils ein hohes Risiko einer schwerwiegenden Erberkrankung des Kindes besteht oder mit hoher Wahr- scheinlichkeit eine Totgeburt oder Fehlgeburt aufgrund einer schweren genetischen Schädigung des Embryos droht. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine in Ausnah- mefällen erlaubte PID viel Leid verhindern oder zumin- dest reduzieren kann. Eltern, die eine PID durchführen lassen wollen, machen es sich nicht leicht. Oft haben sie schon einen langen, leidvollen Weg hinter sich. Gerade für Frauen ist der Prozess körperlich und seelisch sehr belastend. Wer den schweren Weg einer künstlichen Be- fruchtung auf sich nimmt, macht es sich auch nicht ein- fach mit der Entscheidung, sondern trifft sie genauso sorgfältig, abwägend und gewissenhaft, wie wir Abge- ordnete über diese Frage beraten haben. Die PID soll Frauen eine informierte Entscheidung für ein lebensfähi- ges und gesundes Kind ermöglichen. Sie ist die Voraus- setzung dafür, dass die Frau entscheiden kann, ob eine Schwangerschaft eingeleitet werden soll oder nicht. Ein künstlich gezeugter Embryo kann nur mit der Mutter geschützt werden, nicht gegen sie. Daher muss diese Entscheidung mit der Mutter und nicht gegen sie erfolgen. Ein vollständiges Verbot der PID würde einer Frau eine wichtige Erkenntnis vorenthalten – das verletzt meines Erachtens Frauen in ihrer Würde und in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Mir erschließt sich auch nicht die Logik, dass bei ei- nem hohen Risiko einer schwerwiegenden Erberkran- kung des Kindes oder der Wahrscheinlichkeit einer Tot- oder Fehlgeburt eine PID ausgeschlossen bleiben soll, zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich nach der Einleitung einer Schwangerschaft, aber Pränataldiagnostik möglich ist, die nach wie vor mit dem nicht ganz unproblemati- schen Eingriff einer Amniozentese einhergeht, und dies zu einem Schwangerschaftsabbruch – einem also für die Mutter sehr schwerwiegenden Eingriff – führen kann. Mir ist es auch wichtig, dass wir keinen „Katalog“ an Krankheiten entwickeln, bei denen eine PID möglich sein sollte. Menschliche Schicksale können meines Er- achtens nicht in einem Gesetzentwurf festgeschrieben werden; deshalb brauchen wir ein Instrument, das eine individuelle Entscheidung ermöglicht. Bei dem von mir unterstützten Antrag soll eine interdisziplinäre Ethik- kommission eingesetzt werden, die jeden Fall einzeln prüft und ihre Zustimmung geben muss. Dies halte ich für eine sinnvollere Lösung, als im Vorhinein Kategorien festzulegen, nach denen eine PID durchgeführt werden kann. Gleichzeitig sollte nicht der Eindruck erweckt wer- den, man könnte durch die Ermöglichung der PID Be- hinderungen generell verhindern. Wir werden in unserer Gesellschaft auch weiterhin mit Menschen mit Behinde- rung zusammenleben. Bei den meisten Menschen tritt die Behinderung während oder nach der Geburt auf. Auf Menschen mit einer Behinderung zu treffen, ist alltäg- lich und wird es auch immer bleiben. Es ist unsere Auf- gabe, existierende Barrieren abzubauen, allen Menschen ein unbehindertes Leben zu ermöglichen und Inklusion in unserer Gesellschaft zur Normalität werden zu lassen. Die Bedenken, dass wir uns in naher Zukunft einer – überspitzt formuliert – „Flut von Designerbabywün- schen“ ausgesetzt sehen, werden durch den Antrag und die Erfahrungen im Ausland mit der PID entkräftet. Für den Fall, dass jemand tatsächlich bereit wäre, eine PID nicht aufgrund schwerwiegender gesundheitlicher Gründe durchzuführen, haben wir ein klares Korsett aus Regelungen, Beratung und Evaluation angelegt. Zentral ist dabei, dass eine Ethikkommission ihre Zustimmung geben muss. Dies halte ich für eine wichtige Einschrän- kung, die einer so komplexen Entscheidung angemessen ist. Es mag auf den ersten Blick erstaunlich klingen, dass das Ringen um die richtige Entscheidung und eine so in- tensiv geführte Debatte einen Gesetzentwurf begleiten, der laut Expertenmeinung nur etwa 200 Paare pro Jahr in Deutschland betrifft. Es ist meiner tiefsten Überzeugung nach richtig, dass wir Abgeordnete uns nicht nach Zah- len richten, sondern um die Sache ringen. Ich habe heute in bestem Wissen und Gewissen abgestimmt – so, wie ich den Auftrag meines Mandats verstehe. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Heute ent- scheiden wir im Deutschen Bundestag abschließend über die gesetzliche Regelung zur Präimplantationsdiagnos- tik, PID. Ich bin sicher: Niemand von uns macht es sich in dieser Frage leicht. Es ist eine von tiefen Wertorientie- rungen geprägte persönliche Gewissensentscheidung. Ich will betonen, dass alle drei Gesetzesinitiativen diesen Anspruch erheben können. Eigene Erfahrungen, Begegnungen und Wertungen haben uns geprägt. Wir müssen diese nun in einer schwierigen Abwägung in rechtliche Normen umsetzen. Lebensschicksale betroffener Paare, die ihr Kind durch Tot- oder Fehlgeburt verloren haben, gemeinsam mit einem behinderten Kind in ihren Familien oder selbst mit einer schweren Erkrankung leben – manch ei- ner weiß um und kennt diese Schicksale. Natürlich fällt angesichts solcher Betroffenheit eine Abwägung schwer. Was darf, kann man der Mutter, den Eltern zumuten? Und was dürfen wir den zu gebärenden Kindern „zumu- ten“? Da bewegen mich auch die Berichte von Professor Schneider von der Uniklinik Erlangen über solche Kin- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14179 (A) (C) (D)(B) der, die bei Anwendung der PID wohl nie geboren wor- den wären, aber heute ein selbstständiges Leben führen können. Bei der Frage, ob wir die PID in Deutschland zulassen wollen oder nicht, geht es darum, die Grundlagen unse- res Lebens auszuzeichnen und hierbei die nicht einfache Frage zu beantworten, wann menschliches Leben be- ginnt und ab wann dieses Leben schützenswert ist. Für mich kann ich diese Frage eindeutig beantworten: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt menschliches Leben, und das ist der Zeitpunkt, ab dem dieses Leben geschützt werden muss, ob in vitro oder im Mutterleib. Damit entscheiden wir über Leben. Welches Leben lebenswert ist, können und dürfen wir grundsätzlich nicht entscheiden. Ich halte es für fraglich, dass eine heute festgelegte Begrenzung des Anwendungsbereiches der PID „auf schwerwiegende Erkrankungen“ – übrigens eine sehr vage Formulierung – auch noch in ein paar Jahren Be- stand haben wird. Meine Befürchtung ist vielmehr, dass die Entwicklung mit dem medizindiagnostischen Fort- schritt und einem gesellschaftlichen Wandel weitergehen wird. In ein paar Jahren werden dann vielleicht Paare ih- ren Wunsch nach einem perfekten Designerbaby äußern. Der nächste Schritt hin zu einem Screening auf chromo- somale „Fehler“ der Embryonen ist realistisch. Wenn wir dann soweit sind, wann und wo werden wir dann eine Grenze setzen? Der Mensch darf mit dieser Frage nicht alleingelassen werden, denn dies hieße, dass er Gefahr läuft, dem Zeit- trend ausgesetzt zu sein. Aus immer mehr verbesserten medizinischen Möglichkeiten könnte eine nicht ein- grenzbare faktische Disponibilität des Lebens erwach- sen. In dieser Frage leitet mich auch mein evangelisches christliches Verständnis und Menschenbild. Jedes Leben ist ein wertvolles Geschenk und muss geschützt werden. Ich kann nur erahnen, welche Sorgen und welche im- mense Beschwernis jeder Einzelfall mit sich bringt. Dennoch ist bei Abwägung für mich die Notwendigkeit des „Wehret den Anfängen“ ausschlaggebend. Deshalb stimme ich gemeinsam mit den Kollegen Johannes Singhammer, Volker Kauder, Katrin Göring- Eckardt und anderen gegen die Zulassung der PID in Deutschland. Patrick Schnieder (CDU/CSU): Menschliches Le- ben beginnt mit der Verschmelzung der Ei- und Samen- zelle. Ausgehend von diesem einzigartigen und in den nachfolgenden Stadien der Embryonalentwicklung un- vergleichbaren Moment entwickelt sich der Embryo zum Fötus. Menschliches Leben beginnt deshalb für mich un- zweifelhaft mit der Verschmelzung der Keimzellen. Aus dieser Erkenntnis folgere ich zweierlei: Erstens. Mein christlicher Glaube und das daraus abgeleitete Menschenbild gebieten mir, jedes Leben von Beginn an zu schützen. Und zweitens. Jedes Leben ist von Beginn an mit unantastbarer Würde ausgestattet, die im ersten Artikel unseres Grundgesetzes garantiert wird. Diese beiden Argumente führen vor Augen, dass sich jedes menschliche Leben dem Zugriff eines anderen Menschen entzieht. Die Verschmelzung von Ei- und Sa- menzelle geschieht um des Lebens willen, gleich ob sie sich in vitro oder in vivo vollzieht. Dieser Satz darf nicht außer Kraft gesetzt werden. Leben muss um des Lebens willen entstehen, nicht zum Zwecke einer bewussten Se- lektion. Selektion bedeutet immer, dass ich etwas Schlechtes, Ungeeignetes aussortieren will. Bei der Prä- implantationsdiagnostik wird auf der Grundlage geneti- scher Untersuchungen entschieden, welcher Embryo le- ben darf. Embryonen, bei denen eine Indikation vorliegt, werden abgetötet. Dies halte ich für nicht hinnehmbar. Neben der Frage nach dem menschlichen Leben stellt die Präimplantationsdiagnostik auch die Frage nach un- serem Gesellschaftsverständnis. Denn zwangsläufig geht mit der Präimplantationsdiagnostik, der Selektion der Embryonen, auch die Frage einher, ob das Leben mit ei- ner Behinderung oder einer Krankheit schlecht, unwür- dig oder lebenswert sei. Welches Signal geben wir Men- schen mit Behinderungen oder genetischen Krankheiten, wenn wir die Präimplantationsdiagnostik zulassen, wenn wir definieren, dass bestimmte Krankheiten und Behin- derungen ein Grund sind, Leben gar nicht erst zuzulas- sen? Auch das halte ich für inakzeptabel. Ich will das Leid der Eltern, die sich ein gesundes Kind wünschen, vielleicht sogar schon mit der Behinde- rung oder dem Tod eines oder mehrerer Kinder konfron- tiert sind, nicht kleinreden. Den Wunsch nach gesunden Kindern kann wohl jeder nachvollziehen. Doch kann aus dem Wunsch nach einem gesunden Kind kein Recht da- rauf abgeleitet werden. Zudem ist nicht vorhersehbar, ob Krankheiten, die heute bei der Präimplantationsdiagnos- tik zu einer Abschreibung des Embryos führen würden, zukünftig nicht doch heilbar oder therapierbar sind. Gerade in einer reichen und solidarischen Gesell- schaft wie der unsrigen ist es unsere Verantwortung, für- einander da zu sein und füreinander Verantwortung zu übernehmen. Die Verantwortung, die Ärzte und Eltern übernehmen, wenn sie künstlich Leben schaffen, ist eine besonders große. Menschliches Leben in diesem frühen Stadium ist auf besonderen Schutz angewiesen. Damit geht eine besondere Verantwortung einher: Lebens- schutz ist das höchste Gut. Dem widerspricht die Prä- implantationsdiagnostik fundamental. Deshalb spreche ich mich für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik aus. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Unser Ge- setzentwurf hat ein klares Ziel: Ein menschlicher Em- bryo darf nicht untersucht werden, um bestimmte geneti- sche Eigenschaften zu erkennen. Ärzte, welche das trotz des Verbotes tun, werden bestraft, nicht aber die Eltern. Ich setze mich für ein ausnahmsloses Verbot der PID ein, weil – in einem Satz zusammengefasst – eine Quali- tätskontrolle menschlichen Lebens für mich nicht zuläs- sig sein sollte. Die Präimplantationsdiagnostik, PID, ist 14180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) keine Therapie, sondern eine Auswahlentscheidung, eine Bewertung menschlichen Lebens, ein Lebenseignungs- test, kurzum: ein Eingriff in die Schöpfung. Wer immer eine solche Bewertung über menschliches Leben vor- nimmt, der entscheidet, welches Leben gelebt wird und welches nicht. Er verschreibt sich der Idee der Machbar- keit und läuft Gefahr, Menschen zu verletzen, die medi- zinischem Optimierungsstreben nicht entsprechen. Diese Entscheidungsmöglichkeit ist neuartig und hebt die PID von anderen vorgeburtlichen Untersuchungen ab. Die er- forderliche Bereitschaft zur Auswahl unter den künstlich erzeugten Embryonen ist wesentlicher Unterschied zu anderen vorgeburtlichen Untersuchungen, die den Eltern auch nach Erhalt des Ergebnisses die Entscheidung über die Fortführung der Schwangerschaft offenlassen und ih- nen noch die Option lassen, weitere Entwicklungsper- spektiven nach der Geburt des Kindes mit hinzuzuzie- hen. Eine Zulassung der PID und die damit verbundene gesetzlich erlaubte Auswahl von Embryonen vor Beginn der Schwangerschaft würden deshalb einen ethischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel begründen. Vor allem aber muss jeder, der PID zulässt, Grenzen finden. Kann es eine verantwortbare Grenze sein, bei ei- ner geringeren Lebenserwartung von ein oder zwei Jah- ren einen menschlichen Embryo zu verwerfen? Ist es ein legitimer Verwerfungsgrund, wenn eine schreckliche Krankheit erst in der zweiten Lebenshälfte droht, so etwa bei dem sogenannten Veitstanz, der erst nach dem 40. Lebensjahr einen Menschen überfällt? Zählen die 40 Lebensjahre vorher nichts? Wie sicher sind die Er- gebnisse, die eine solche Auswahl erlauben? Eine Diffe- renzierung nach Lebenserwartung, eine Unterscheidung nach möglichen oder tatsächlichen Krankheiten löst nicht vorhandenes Leid, sondern schafft neue Diskrimi- nierungen, die nicht gewollt sind. Beide Gesetzentwürfe, die eine Zulassung der PID vorsehen, verzichten auf einen Indikationskatalog und übertragen die Entscheidung zertifizierten Zentren und einer Ethikkommission. Ohne Kriterien werden diejeni- gen, die mit dem Verfahren beauftragt sind, das Verfah- ren im Gange der gesellschaftlichen Entwicklung an- wenden und interpretieren. Die Kriterien für schwerwiegende Erberkrankungen werden durch den sich entwickelnden gesellschaftlichen Konsens ersetzt. Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass eine Be- grenzung auf Einzelfälle nicht umsetzbar ist. Ein An- stieg der PID-Fälle und eine Ausdehnung der Anwen- dungsbereiche der PID sind hier zu verzeichnen. Neue Diagnosetechniken werden absehbar zu einem breiteren Einsatz der PID führen. Chipgestützte Diagnosen wer- den das Indikationsspektrum bei potenziellen Eltern kontinuierlich erweitern. Der nachvollziehbare Wunsch von Paaren, die unter hohem Leidensdruck stehen, ein gesundes Kind zu be- kommen, kann nicht in eine völlige Freigabe der PID münden. Denn die Wirkungen auf Menschen sind enorm. Wie muss sich ein Mensch mit einer Behinde- rung fühlen, die als Auswahlkriterium geeignet ist, einen Embryo zu verwerfen? Welchem Rechtfertigungsdruck müssen Eltern von behinderten Kindern künftig stand- halten? Eine Gesellschaft, in der der Staat darüber ent- scheidet oder andere darüber entscheiden lässt, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht, verliert ihre Menschlichkeit. In der Frage PID gibt es keine Möglichkeit, auszuwei- chen, Kompromisse zu schließen. Es gibt nur ein Ja oder Nein. Ich bin, so schwer das im Einzelfall auch sein mag, für ein klares Nein, damit nicht eine abschüssige Bahn beschritten wird. Johanna Voß (DIE LINKE): Bei der Abstimmung zur Frage der PID heute wird jeder Abgeordnete allein nach seinem Gewissen entscheiden können. Meine grundsätzliche Überzeugung besteht darin, dass jedes Leben, auch das „behinderte“, ein Recht darauf hat, be- schützt zu werden. Bei der PID geht es nicht um das Recht auf Leben. Vor allem geht es auch nicht um die Abwägung verschie- dener Rechtsgüter, wie zum Beispiel den Schutz der Mutter, so wie das bei einem Schwangerschaftsabbruch der Fall wäre. Und selbst beim Schwangerschaftsab- bruch dürfen mit Recht eventuelle Behinderungen des Kindes nicht die entscheidende alleinige Rolle spielen. Da geht es nur um die Abwägung der Rechte der Mutter gegenüber dem Kind. Die Präimplantationsdiagnostik ist die extremste Form der Selektion, da möglichst viele Embryonen erzeugt werden, um wenigstens einige trans- plantierbare auslesen zu können. Der einzige Zweck der PID ist, Leben zu eliminieren, das weniger Wert zu sein scheint. Die PID spiegelt wider, wie Leben heute in der Ge- sellschaft bewertet wird: Den vollen Wert hat da nur der Mensch, der im Vollbesitz aller verwertbaren Kräfte ist. Für Behinderungen ist kein Platz, und dementsprechend miserabel ist auch die Fürsorge und Hilfe für Behinderte und deren Eltern. Insofern geht die PID von der völlig falschen Seite an die Problematik heran. Für Eltern, die sich gegen PID entscheiden und für ein eventuell behin- dertes oder krankes Kind, wird das Leben noch schwerer werden. Zu den ohnehin zu erwartenden Einschränkun- gen wird starker sozialer Druck kommen. Man hätte das Leben dieses Kindes ja schon in der Petrischale beenden können. Die Folge wird sein, dass noch weniger Mittel und Hilfen bereitgestellt werden. Kinder und ihre Eltern werden noch größerer Ausgrenzung ausgesetzt sein. Andere negative Aspekte der PID will ich hier nur kurz erwähnen. Die Beteuerung der Befürworter, PID nur in Ausnahmefällen zulassen zu wollen, ist längst von der Realität überholt worden. In der Praxis werden ganz andere Bedürfnisse als die ursprünglich behaupteten ge- weckt. In Fachzeitschriften wie Human Reproduction ist nachzulesen – Nr. 1, 2002 –, dass PID sehr häufig allein der Geschlechtsbestimmung diente, ohne dass ein erhöh- tes Risiko zur Übertragung einer vererbbaren Krankheit vorlag. Man nennt das „social sexing“. Die Begehrlich- keiten der Industrie zeigen sich jetzt schon in den weiter- entwickelten Verfahren von PID, bei denen untersuchte Zellen mit „entkernten“ Mauseizellen geklont werden. Es fehlt nur noch die Herstellung von Embryonen als menschliches „Ersatzteillager“. Selbst wenn Forscher nur die Gesundheit des Kindes im Auge haben, verges- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14181 (A) (C) (D)(B) sen sie zu leicht, dass die PID und die Weiterentwick- lung des „therapeutischen Klonens“ den Menschen in- strumentalisiert. Selbst wenn das Ziel ethisch zu rechtfertigen wäre, der Weg ist es auf keinen Fall. Die Diskussion um PID mag trotzdem hilfreich sein: Sie sollte dazu beitragen zu hinterfragen, was wir eigent- lich als lebenswertes Leben ansehen. Wir müssen völlig neu bedenken, welchen Irrweg wir mit dieser Bevorzu- gung des perfekten Menschen beschreiten. Wir müssen mehr Hilfen bereitstellen für die, die Hilfe brauchen. Je- der Mensch, der in die menschliche Gesellschaft hinein- geboren wird, hat Anrecht auf ihren Schutz und auf ihre Solidarität. Die PID scheint mir nur ein weiterer Schritt zu sein auf dem Weg, sich aus der besonderen Verant- wortung für den Menschen, nicht nur für den Behinder- ten, zu verabschieden. Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ lau- tet im ersten Absatz des ersten Artikels unseres Grund- gesetzes die höchststehende ethische Verpflichtung un- seres Staates. Der Schutz der Würde eines jeden Einzelnen war nach den historischen Erfahrungen für die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentari- schen Rat 1948/49 die allererste und wichtigste, ja wahr- haft existenzielle Aufgabe des jungen Staates Bundesre- publik Deutschland. Die Anerkennung und Achtung der Menschenwürde sollte das normative Fundament, die verbindliche Grundlage der neuen staatlichen Ordnung und unseres gemeinschaftlichen Zusammenlebens sein. Für mich sind diese Überlegungen von damals nicht einfach nur historisch, für mich sind sie auch heute noch substanziell. Sie bilden auch heute noch unsere gemein- same ethische Basis. Und was kennzeichnet vor diesem ethisch-verfassungsrechtlichen Hintergrund denn nun unser menschliches Leben? Das ist vor allem anderen seine individuelle Subjekt- stellung: Der Mensch ist „Zweck an sich selbst“, wie es Kant 1785 in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ schreibt. Das Dasein des Menschen ist ein „Da- sein an sich selbst“, wie es unser Bundesverfassungsge- richt knapp 210 Jahre später 1993 (BVerfGE 88, 203 [252]) ausgedrückt hat. Beide deuten auf den gleichen Kern: Der Mensch ist als Mensch niemand anderem zum Zweck, sein Leben darf nicht äußeren Zwecken unter- worfen oder Projektionsfläche oder dergleichen werden, weder zur Freude noch aus Sorge. In diesem verfas- sungsrechtlich geschützten Bewusstsein, in dieser ethisch-rechtlichen Sicherheit darf jeder Mensch um sei- ner selbst willen leben, er muss niemand anderem zum Zwecke sein. Sein Existenzrecht braucht er nicht selbst zu begründen, seine Existenz bedarf auch nicht der Rechtfertigung oder Definition durch äußere Zwecke oder durch Dritte. Er darf sich bedingungslos so ange- nommen fühlen, wie er ist. In Karl Jaspers „Der Philosophische Glaube ange- sichts der Offenbarung“ findet diese existenzielle Zweck-Losigkeit einen wunderbaren, freudvollen Aus- druck, wenn er schreibt: Ich komm, ich weiß nicht woher, Ich bin, ich weiß nicht wer, Ich sterb, ich weiß nicht wann, Ich geh, ich weiß nicht wohin, Mich wundert’s, dass ich fröhlich bin. Es ist nicht weniger als diese bisherige existenzielle Sicherheit und die Einzigartigkeit der Würde eines jeden Einzelnen, die mit der Einführung der PID auf dem Spiel steht, abgeschafft, mindestens aber nachhaltig beschä- digt und ausgehöhlt zu werden. Mit der PID soll technisch-systematisch versucht werden, dem Leben eine Sicherheit abzuverlangen, derer wir doch niemals habhaft werden können. Mit der Wucht der medizinisch-technischen Möglichkeiten der Mo- derne soll das Schicksal eingefangen werden, und doch wird das Leben niemals planbar sein. Ob man es will oder nicht, ob man diese Konsequenz ablehnt oder nicht: Mit der PID wird der Mensch ein Stück mehr seiner unverfügbaren Würde beraubt. Er wird zum klinisch-methodisch abgesicherten Resultat, zur Summe von Untersuchungen. Er wird danach in dem Bewusstsein leben müssen, das Produkt einer geneti- schen Abwägung seiner Eltern zu sein, und in dem Be- wusstsein, im Falle eines anderen Befundes verworfen worden zu sein. Sein Lebensrecht beruht dann nicht mehr auf der existenziellen Sicherheit, aus sich selbst heraus leben zu dürfen, sondern auf der schlichten Fest- stellung, von seinen Eltern nicht genetisch selektiert worden zu sein. Er muss in dem Bewusstsein leben, ge- zeugt, aber nur unter Bedingungen angenommen worden zu sein. Meinem Verständnis vom christlichen Men- schenbild entspricht das nicht. Ich bin zur heutigen Entscheidung auch von sehr vie- len Eltern und Familien angeschrieben worden, die mich trotz eines schweren Schicksalsschlages baten, mich für ein klares Verbot der PID einzusetzen. Diese Zuschriften waren oft auch sehr persönlich und bewegend. Ich möchte eine hier einmal ganz besonders herausheben – anonym natürlich: Es ist die bewegende Geschichte von einer jungen Familie, deren Tochter aufgrund eines ge- netischen Herzfehlers nach nur zwei Tagen verstorben ist. Die Familie lehnte dabei bewusst vorgeburtliche Un- tersuchungen an ihrer Tochter ab. Ich möchte Ihnen ein- fach einmal eine Passage aus dem Brief vorlesen, wie ich ihn bekommen habe. Ich zitiere: Unmittelbar nach der Geburt sahen sich die Ärzte veranlasst, aufgrund von äußerlichen Auffälligkei- ten eine chromosomale Untersuchung bei unserer Tochter durchzuführen – mit dem Ergebnis, dass sie nicht mehr lange lebensfähig sei. Auf der Intensiv- station wurde das beiliegende Foto von ihr ge- macht. Am Tag darauf zogen sich die Ärzte zurück und vertrauten mir, der Mutter, unsere Tochter an. Später in der Nacht, von einer Sekunde auf die an- dere, wurde für mich ihr unmittelbarer Tod offen- kundig. Schnell taufte ich sie auf den Namen … Ihr Gesicht strahlte auf, und im gleichen Augenblick schlief sie friedlich ein. Kurz danach ist mir als Mutter bewusst geworden, wie sehr ich durch un- sere Tochter beschenkt wurde. Wir sind unendlich 14182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) dankbar für diese Erfahrung mit ihr. Sie ist uns ein großes Geschenk geworden und gehört zu unserer Familie, obwohl sie nur 51 Stunden gelebt hat. Das, was viele Philosophen über die Einzigartigkeit menschlichen Lebens gedacht haben, was die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes als erste und wichtigste Schutzpflicht unseres Staates aufgeschrieben haben, was Karlsruhe so knapp und treffend formuliert hat, das hat diese Mutter schlicht in ihrem Herzen gefühlt: Das Le- ben eines Menschen ist einzigartig, so wie es ist. Lassen Sie uns nicht die Tür öffnen für einen Weg, der wegen vermeintlicher Segnungen der modernen Me- dizin diese elementarsten Grundlagen unserer Existenz aus den Augen verliert. Ich werbe daher für ein Verbot der PID. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Mit der Entscheidung über die Frage, ob die Präimplantations- diagnostik – kurz PID genannt – in Deutschland wieder verboten werden soll, wie dies bis zum Urteil des Bun- desgerichtshofs vom 15. Juli 2011 der Fall war, oder ob sie – wenn auch nur in engen Grenzen – zugelassen wer- den sollte, werden wir vor fundamentale Fragen gestellt, wie die, welches Leben lebenswert ist und wann ein Le- ben Sinn macht. Der Dichter und Nobelpreisträger Hermann Hesse sagte: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind.“ Dies gilt unabhängig davon, ob wir selbst, eines unserer Kin- der oder Bekannte gesund oder krank sind, wir mit einer Behinderung leben oder ohne. Menschen zweifeln am Sinn ihres Lebens, ob sie gesund oder krank sind, ob arm oder reich, ob alt oder jung. Es liegt an uns, dem eigenen Leben Sinn zu geben und Mitmenschen darin zu unter- stützen, den Sinn ihres Lebens zu finden. Wenn die PID zugelassen wird, dann muss stets eine Entscheidung getroffen werden, welche befruchtete Ei- zelle, welcher menschliche Embryo die Chance auf Ein- pflanzung in den Mutterleib erhalten soll und welcher wegen festgestellter Gendefekte eventuell verworfen wird und keine Chance erhält. Wenn mit der PID ein vermeintlich unzumutbares Le- ben von Menschen mit Behinderungen vermieden wer- den soll, dann wird letztlich unterstellt, dass es für be- stimmte Menschen besser gewesen wäre, nicht geboren worden zu sein, dass deren Leben keinen Sinn hätte oder für das Leben anderer Menschen nur eine unzumutbare Last sei. Niemand wird bezweifeln, dass behinderte Kin- der eine Belastung für Eltern bedeuten. Aber sie sind auch Quelle großer Freude, wie ich in Begegnungen mit Menschen mit Behinderungen und deren Eltern erfahren habe. Ihr Leben hat und macht Sinn. Die Befürworter einer beschränkten Zulassung der PID zielen vor allem darauf ab, dass es ein ethisch ver- tretbares und begründbares Ziel sei, Eltern und Paaren mögliche Tot- oder Fehlgeburten oder den frühen Tod des eigenen Kindes zu ersparen. Ohne Zweifel, gar meh- rere Tot- oder Fehlgeburten stellen ein schreckliches und hartes Schicksal dar. Und wer wollte das nicht vermei- den wollen? Ich warne aber davor, mit dem großem Leid von Eltern gegen noch ungeborenes Leben zu argumen- tieren. Wenn menschliches Leben mit der Verschmel- zung von Ei und Samenzelle beginnt, dann kommt auch dem Embryo in der Petrischale die Menschenwürde wie allem menschlichen Leben zu, und er ist schützenswert. Wie nahe übrigens Freude und Leid beieinander lie- gen können, zeigt die Erlebnis eines Elternpaares, dessen Kind aufgrund einer genetisch bedingten Krankheit nur ein Leben von 51 Stunden vergönnt war. Es waren für die Eltern jedoch Stunden, die sie nicht missen mochten. Dieses, wenn auch nur kurze Leben, war für sie wertvoll, sodass sie uns Bundestagsabgeordnete darum baten, die PID strikt zu verbieten. Wer dennoch zur Vermeidung großen Leids die PID zulassen will, der muss sich auch die Frage stellen, ob die PID das leisten kann, was von ihr erwartet wird. Viele Gendefekte können mit den heutigen medizintech- nischen Möglichkeiten und Erkenntnissen an einem Em- bryo im frühen Stadium diagnostiziert werden. Doch was die Technik nicht kann, ist zu sagen, ob die Krank- heit ausbricht, wann und wie schwer sie ausbricht. Nicht alle Embryonen, die einen auffälligen Chromosomensatz vorweisen, werden auch behindert geboren. Haben beide Elternteile die gleiche veränderte Erbanlage, sind aber selbst nicht behindert, liegt die Wahrscheinlichkeit, ein gesundes Kind zu bekommen, bei 75 Prozent. Die Hälfte dieser gesunden Kinder trägt allerdings den elterlichen Chromosomensatzdefekt in sich. Infolge der PID hätten Eltern auch jenen Kindern das Lebensrecht verwehrt, die ebenso gesund oder krank sind wie sie selbst. Durch die PID kann nicht erkannt werden, ob die Behinderung zum Tragen kommt oder nicht. Und selbst wenn alle Tests „grünes Licht“ geben, ist das keine Garantie für ein ge- sundes Kind, da nur 11 bis 12 Prozent der Erkrankungen genetisch verursacht sind und einige genetisch bedingte Erkrankungen, beispielsweise Trisomie 21, sich erst im Laufe der Schwangerschaft herausbilden. Das Max-Planck-Institut untersuchte im international angelegten „1 000-Genome-Projekt“ systematisch mensch- liches Erbgut. Ziel ist es, eine Karte der genetischen Unterschiede zu erstellen, um den Einfluss individueller genetischer Veränderungen auf verschiedene Erkrankun- gen besser einschätzen zu können. Die Wissenschaftler stellten zu ihrer Überraschung fest, dass jeder Mensch zwischen 250 und 300 geneti- sche Abweichungen trägt, die die normale Funktion der betroffenen Gene verhindern. Weiterhin besitzt jeder von uns zwischen 50 und 100 genetische Variationen, die mit verschiedenen Erbkrankheiten assoziiert sind. Das heißt im Klartext, jeder von uns hat im embryo- nalen Stadium Gendefekte aufgewiesen. Mit dem medizinisch-technischen Fortschritt steigen die Möglichkeiten. Je weiter sich die Genforschung ent- wickelt, umso mehr Krankheiten werden aufgrund ver- schiedener Genkonstellationen zu erklären sein. Und da- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14183 (A) (C) (D)(B) mit steigt die Versuchung, immer weiter auszuholen. Ausgewählt wird, was subjektiv gefällt und ökonomisch lohnend ist. Verworfen und abgestoßen wird, was gerade nicht passend erscheint. Dies zeigt die Erfahrung unserer Nachbarstaaten, die PID einst unter engen Grenzen zu- gelassen haben. Mittlerweile wird auch der Embryo aus- sortiert, dessen prognostizierte Erkrankung erst in späten Lebensjahren zu Symptomen führt, und zur Einpflan- zung in den Mutterleib werden diejenigen Embryos se- lektiert, die passende Transplantationszellen für ein krankes Geschwisterkind bieten. Auch das Geschlechts- kriterium rückt inzwischen auf die Tagesordnung. Gerne erkenne ich an, dass die Befürworter der PID in engen Grenzen diese Entwicklungen genauso wenig wollen wie ich. Aber wenn die Tür für die Nutzung der PID auch nur einen kleinen Spalt geöffnet ist, ist sie of- fen. Und es wird immer schwerer werden, sich tatsäch- lich gegen weitere Öffnungen zu wehren. Sicherheit ge- gen Missbrauch gibt es nur mit dem PID-Verbot. Die Menschheit steht immer in Gefahr, einem Mach- barkeitswahn zu verfallen: größer, besser, schneller, ef- fektiver, ökonomischer. Der Mensch scheint nur dann etwas wert zu sein, wenn er mit dem Zeitgeist der mo- dernen Leistungsgesellschaft Schritthalten kann, ja ihm sogar einen Schritt voraus ist. Doch stellt sich für mich die Frage, ob dies uns wirklich glücklicher macht, ob wir damit nicht ein lebenswertes Leben im Privaten wie im Beruf, ein wirklich sinnerfülltes Leben verfehlen. Wer kann sich anmaßen, über die Lebenswürdigkeit eines anderen Menschen zu entscheiden? Was sind dies für Kriterien? Der Wunsch nach Kindern, ebenso der Wunsch nach gesunden Kindern ist verständlich und ge- rechtfertigt. Wer wünscht sich und seinen Kindern nicht vor allem Gesundheit? Doch einen unbedingten An- spruch auf die Erfüllung dieses Wunsches kann es doch wohl nicht geben. Sonst würden wir Gefahr laufen, dass der menschlich verständliche Wunsch nach Gesundheit sich in ein unmenschliches Gegenteil verkehrt. Und deshalb bin ich überzeugt, dass eine menschli- chere Gesellschaft eher mit der Beibehaltung des strikten PID-Verbots möglich ist. Der Mensch darf nicht über die Lebenswürdigkeit und Sinnhaftigkeit eines anderen Menschen entscheiden. Und als Christ bin ich überzeugt, dass, wenn Menschen sich selbst zum Richter über die Schöpfung Gottes erheben, die Schöpfung nicht be- wahrt, sondern letztlich zerstört wird. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ – GG, Art. 1. Diese Würde kann nicht abgestuft verliehen oder zu- erkannt werden, sie kommt menschlichem Leben von Anfang an zu. Es liegt an uns Menschen, vor allem an uns, die wir als gewählte Vertreter im Parlament die Politik und die Rechtsordnung verantworten, nicht den Menschen zu gestalten, sondern die Gesellschaft und unser Zusam- menleben menschlicher, also humaner zu gestalten. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Für mich ist die Präimplantationsdiagnostik, PID, nicht mit meinem christlichen Verständnis vom Men- schen und auch nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Ich fordere daher ein ausnahmsloses Verbot der geneti- schen Untersuchung an Embryonen. Der Wunsch von Paaren nach einem gesunden Kind ist verständlich und verdient Respekt. Gerade Eltern, die schon Tod- und Fehlgeburten erleiden mussten oder durch die Sorge um ein erkranktes oder behindertes Kind bis an die Grenzen belastet sind, brauchen Unterstüt- zung, Hilfe und Beratung. Die Präimplantationsdiagnostik ist dafür jedoch nicht der richtige Weg. Die Auswahl von Embryonen nach dem Kriterium der genetischen Belastung verletzt den Grundsatz, nach dem jedes Leben unabhängig von seiner Gesundheit oder Leistungsfähigkeit den gleichen Schutz verdient. Die Einführung einer Technik, die nur darauf abzielt, genetisch belastete Embryonen auszusortieren, konterkariert das Verbot der Diskriminierung von Men- schen mit Behinderungen – Art. 3 Abs. 3 GG. Hinzu kommt, dass das Verfahren der In-vitro-Fertili- sation für die betroffenen Frauen körperlich und emotio- nal sehr belastend und mit Risiken verbunden ist. Zudem kommt es nach dem Verfahren nur circa in jedem fünften Fall überhaupt zur Geburt eines Kindes. Darüber hinaus würde die bisherige Regelung des Embryonenschutzge- setzes, nach der zum Herbeiführen einer Schwanger- schaft nur drei Embryonen hergestellt werden dürfen, auch bei einer begrenzten Zulassung der PID aufgeho- ben, und es würden überzählige Embryonen geschaffen. Nach reiflicher Überlegung komme ich daher zum Schluss, dass diese Gesichtspunkte sowie die unabseh- baren Folgen für die Gesellschaft einer – auch noch so begrenzten – Freigabe der PID entgegenstehen. Ich werde daher den Gesetzentwurf unterstützen, der ein ausnahmsloses Verbot der PID vorsieht – Druck- sache 17/5450. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Meine Gründe für ein Verbot der PID sind, neben den vielen hier vorge- tragenen, im Wesentlichen zwei. Der erste Grund ist, dass wir mit allen Varianten einer eingeschränkten Zulassung der PID aus einem prinzi- piellen Verbot einen graduellen Erlaubnisvorbehalt ma- chen. Das ist ein bedeutender qualitativer Unterschied. Wir unterwerfen eine Frage, die zutiefst an das Huma- num greift, dem Reich der Utilitäten. Ich erkenne die Be- weggründe der beiden anderen Gruppenanträge an. Je- doch: Ist erst einmal die Tür geöffnet, mit dem das Verwerfen von Embryonen gerechtfertigt wird, können neben den vorgebrachten Gründen lebensbedrohender Krankheiten und der Lebensfähigkeit andere Kriterien treten, ohne grundsätzlich nachrangig zu sein. Es gibt keinen systematischen Grund, nicht auch andere Krank- heitsbilder oder sonstige genetische Fehldispositionen zum Verwerfungskriterium zu machen. Aber gerade ge- netische Fehldispositionen können in besonderer Weise 14184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) gesellschaftlichen Moden oder Zwängen unterworfen sein. Der Abschied von einem prinzipiellen Verbot führt unweigerlich in Erlaubnisspiralen, an deren Ende das Designerbaby steht. Günther Anders hat einmal von der prometheischen Scham des Menschen gesprochen, weil er ein Gewordener, nicht ein Gemachter ist. Diese pro- metheische Scham wäre mit der Möglichkeit, Kinder nach Wunsch zu erschaffen, ebenso überwunden wie die Differenz von Schöpfer und Geschöpf. Dies bedeutet aber das endgültige und nicht mehr reversible Eindrin- gen technischer Rationalität in das Geschenk der Schöp- fung. Demgegenüber gilt – und dies ist der zweite Grund meiner Ablehnung der PID –, dass Christus alle Men- schen gerettet hat. Wir haben deshalb kein Recht, die Schwachen am Betreten der Welt zu hindern. Ich habe den Verdacht, dass dahinter durchaus eine problemati- sche Sichtweise auf die Natur Gottes und seine Schöp- fung steht. Wenn es Gott nicht gebe, sei alles erlaubt, hat Dostojewski einmal gesagt. Aber auch wenn der Begriff Gottes, wie es die nominalistische Theologie getan hat, nicht mehr in der Liebe und der Personalität, sondern im Willen, also dem Absolutismus von Gott als Vater, be- gründet wird, stellen sich unbequeme Folgefragen. Carl Schmitt hat darauf hingewiesen, dass theologische De- batten in die Politik einwandern. Dies ist auch in der Frage erfolgt, ob der Wille Gottes über allem steht oder die Welt und der Ratschluss Gottes der Vernunft zugäng- lich sind, Gott mithin als ein an die Vernunft gebundener Gott wesensmäßig zu erkennen ist. Diese unterschiedli- chen, unvereinbaren Konzeptionen haben direkten Ein- fluss auf die Frage, ob wir Menschen uns als ein Teil der Natur und der natürlichen Ordnung empfinden oder, wie es in der Moderne bisweilen im Anschluss an Descartes oder Nietzsche diskutiert worden ist, ob wir selbst die souveränen Einheiten sind, die auch gegen die Natur und die natürliche Ordnung agieren können. Die Natur da- durch zu beherrschen, dass wir entscheiden, welcher Art von Menschen wir es erlauben, die Welt zu bevölkern, war Ausgangspunkt der eugenischen Bewegung etwa in den USA der 1920er-Jahre. Euthanasie, Geburtenkon- trolle und eine radikale Form des Darwinismus wirkten hier zusammen mit dem Ziel, eine Form des genetischen Social Engineering zu betreiben. Diese Konzeption der unbegrenzten Souveränität des Menschen in der Ge- schichte führt letztlich in den moralischen Nihilismus; gerade in Deutschland sind wir dafür in besonderer Weise sensibel. Der Mensch ist nicht souverän, sondern Teil einer na- türlichen (und historischen) Ordnung. Als Person ist er dialogisch angelegt und mit Würde ausgestattet, die es ihm gebietet, andere Menschen als Zwecke in sich selbst anzuerkennen. Die Rechtspflicht, das ungeborene menschliche Leben zu schützen, hat Vorrang gegenüber der Möglichkeit des bloß technisch Machbaren. Deshalb plädiere ich für ein Verbot der PID: Sie geht von einem problematischen Menschenbild aus, von einer beinahe göttlichen Anmaßung, die für mich weder theologisch noch philosophisch auf der Höhe der Zeit zu sein scheint. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Kai Wegner (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines … Geset- zes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Wi- derstand gegen Vollstreckungsbeamte (Tages- ordnungspunkt 10) Ich stimme dem von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des StGB – Wi- derstand gegen Vollstreckungsbeamte, Drucksache 17/4143 – zu. Insbesondere in Großstädten ist die Ge- waltspirale gegenüber Polizeibeamtinnen und Polizeibe- amten völlig aus dem Ruder gelaufen. Gewalt gegen un- sere Polizeibeamten darf nicht bagatellisiert werden. Wer Polizisten angreift, greift die Gesellschaft an. Mit den neuen Regelungen werden wir unsere Polizeibeamten in Zukunft besser schützen können. Täglich werden zum Beispiel in Berlin neun Polizisten tätlich angegriffen, je- der dritte verletzt. Mit dem Gesetz schaffen wir straf- rechtliche Regelungen, um den Übergriffen auf Polizei- beamte, Feuerwehrleute und Rettungskräfte besser entgegenzutreten. Ich bedaure allerdings, dass bei dem zu schützenden Personenkreis nicht auch die Bediensteten des öffentli- chen Personenverkehrs, die Ordnungsamtsmitarbeiter sowie die Justizvollzugsbeamten mit aufgenommen wur- den. Denn Bedienstete des öffentlichen Personenver- kehrs nehmen öffentliche Aufgaben wahr und sind ge- rade in großen Städten wie Berlin häufig massiver Gewalt ausgesetzt. Dieser Personenkreis bedarf eines besonderen Schutzes. Anlage 7 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abschei- dung, zum Transport und zur dauerhaften Spei- cherung von Kohlendioxid (Tagesordnungs- punkt 16 a) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):Am heutigen Donnerstag, den 7. Juli 2011, beschließt der Deutsche Bundestag das CCS-Gesetz zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid. Zum einen kommen wir damit europäi- schen Verpflichtungen nach, zum anderen ziehen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Schlussstrich un- ter eine jahrelange Debatte über Chancen und Risiken der unterirdischen CO2-Speicherung. Das zu beschließende Gesetz ist ein Bürgererfolg, ein Vorteil für den Föderalismus und damit auch eine Stär- kung der Eigenständigkeit Schleswig-Holsteins. Es ent- hält eine wirksame Länderklausel. Was ich zu Beginn der Debatte in zahlreichen Bürgertreffen zugesagt habe, mich für eine solche Einspruchslösung einzusetzen, wird Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14185 (A) (C) (D)(B) jetzt Wirklichkeit. Endlich! Die Klausel überlässt es den Bundesländern selbst, auf ihren Gebieten die CCS-Tech- nologie anzuwenden oder per Landesgesetz auszuschlie- ßen. Mit der mühsam erkämpften Regelung tragen wir den Bedenken und Ängsten der Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein gegenüber der CCS-Technologie Rechnung. Wir haben Wort gehalten: CCS hat bei uns keine Chance. Die CO2-Speicherung bekommt nur dort eine Chance, wo sie auf die Akzeptanz der Bevölkerung trifft. Der fast drei Jahre dauernde, langwierige Prozess war unter anderem auch durch unterschiedliche Bewertung in meiner eigenen Fraktion geprägt. Die „Kohleländer“ hatten aus ihren Interessen eingeschlossen die Gewerk- schaften unterschiedliche Auffassungen. Und von so manchen Engagierten, die sich eine schnelle Lösung wünschten, musste viel Geduld und Verständnis abver- langt werden. Dafür bitte ich um Verständnis. Wegen anhaltender Unterstellungen gebietet es die Redlichkeit, darauf hinzuweisen, dass es der frühere so- zialdemokratische Bundesumweltminister und jetzige SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel war, der im Jahr 2009 das CCS-Gesetz in der großen Koalition ohne Ve- torecht der Länder durchboxen wollte. Zu Recht ist die- ses Vorhaben, auch aufgrund des beherzten Einsatzes der Nord-CDU, gescheitert. In der entscheidenden Frak- tionssitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vor der Sommerpause 2009 gelang es, den Regierungsentwurf zu Fall zu bringen. Daran haben viele einen anerken- nenswerten Anteil, ganz besonders der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Peter Harry Carstensen, der sei- nen ablehnenden Standpunkt konsequent durchgehalten hat, die vielen konstruktiv protestierenden Bürger im Norden Schleswig-Holsteins und darüber hinaus, der Wirtschaftsminister des Landes, Jost de Jager, die CDU- Landtagsfraktion, mein sachkundiger Kollege Ingbert Liebing, der in den Fachausschüssen des Bundestages das Verfahren aktiv und leidenschaftlich begleitet hat, die Vertreter der Kreistage, der Kommunalparlamente vor Ort, die Landräte, der Bürgermeister der Gemeinde Wallsbüll, Werner Asmus, der zum Schleswig-Holstei- ner des Jahres durch den sh:z ausgezeichnet wurde, eine verantwortungsbewusste Presse, aber auch so manche Mitstreiter aus dem benachbarten Dänemark. Wir wollen eine Politik für den Menschen machen und nicht gegen den Menschen, aber im Rahmen einer repräsentativen Demokratie. Das ist und bleibt unsere Maxime. Die SPD-Fraktion lehnt nach wie vor das ver- ankerte Vetorecht der Länder ab. Verantwortungsvolle Opposition sieht anders aus. Grundsätzlich stehen wir als Union neuen Technolo- gien offen gegenüber. Vor technischen Fortschritten dür- fen wir als führendes Industrieland nicht die Augen ver- schließen. Umgekehrt dürfen wir keinem unkritischen Forschungswahn mit Scheuklappen erliegen. Auch und gerade im Bereich der Forschungs- und Umweltpolitik gilt es, mit Augenmaß und Weitsicht zu handeln. Meiner Ansicht nach ist uns dies mit dem vorliegenden CCS- Gesetz gelungen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, zu betonen, dass das zu verabschiedende Gesetz lediglich Erpro- bungs- und Demonstrationsvorhaben zulässt. Zudem ist es zeitlich befristet und enthält eine eindeutige Begren- zung der CO2-Speichermenge. Die wirtschaftliche Entwicklung vieler Schwellenlän- der und der Drang nach Wachstum klassischer Kohlelän- der wie China, Indien und Südafrika erfordern neue Ant- worten, um den Klimaschutz weltweit zu etablieren und den Herausforderungen des Klimawandels effektiv zu begegnen. Es sollte daher nicht unerwähnt bleiben, dass sich Umweltverbände wie der WWF ausdrücklich für die Erforschung und Erprobung der CCS-Technologie aussprechen. Vor diesem Hintergrund haben wir mit dem verankerten Vetorecht der Länder meines Erachtens ei- nen tragfähigen Kompromiss gefunden, der die wider- streitenden Interessen berücksichtigt. An diesem Ergeb- nis hat ein Bundesminister einen besonderen Anteil: der Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit, Dr. Norbert Röttgen. Demokratisches Handeln wird fragwürdig, wenn es nur aus Ablehnung und Neinsagen bestehen würde. Des- halb appelliere ich an die fast 100 000 Bürgerinnen und Bürger, die sich in den fast drei Jahren mit ihren Unter- schriften gegen CCS ausgesprochen haben, jetzt mit der gleichen Leidenschaft und Vernunft dazu beizutragen, dass die Wege für die neue Energiepolitik frei gemacht werden, die alternativen Energien in Schleswig-Holstein eine Chance erhalten und dass jeder sich auch persönlich an einer aktiven Klimapolitik beteiligt. Jens Koeppen (CDU/CSU): Wir haben heute die deutsche Umsetzung der europäischen CCS-Richtlinie verabschiedet. Als Berichterstatter meiner Fraktion für dieses Gesetzesvorhaben musste ich lange abwägen, ob ich dem Ergebnis der jahrelangen Diskussion meine Zu- stimmung geben kann. Ich habe mich für die Zustimmung entschieden, weil ich will, dass ein positives Signal für diese Klimaschutz- technologie vom Bundestag ausgeht. Dennoch – das muss deutlich hervorgehoben werden – wäre ein besse- rer Rechtsrahmen vorstellbar. Die Regulierung für die Technologiedemonstration zeigt, dass wir zwar bereitwillig hohe Klimaschutzziele formulieren, aber sehr zurückhaltend bei der Unterset- zung mit Maßnahmen sind. Der Klimaschutz ist für un- sere Gesellschaft immens wichtig. Alle Fraktionen zitie- ren in diesem Zusammenhang aus den Berichten des IPCC. Ich hätte mir gewünscht, dass der IPCC nicht nur selektiv ernst genommen wird, sondern auch auf den im- mensen wissenschaftlichen Sachverstand bei der Bewer- tung der CCS-Technologie zurückgegriffen worden wäre. Der Klimarat schätzt die Technologie ausdrücklich als risikoarm ein. Die Einschätzung, dass CCS eine risi- koarme Technologie ist, wurde auch in der Expertenan- hörung des Umweltausschusses vertreten. Das jetzt verabschiedete Gesetz könnte aus meiner Sicht deutlich bessere Investitionsanreize für die neue Klimaschutztechnologie geben. Andere Regelungen, 14186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) beispielsweise zum Explorationszeitraum, bei der Fest- legung der Antragsfrist für Speicheranträge, bei der Be- schreibung des Rechtsweges und der Instanzenzuord- nung oder der Formulierung der Wertschöpfungsabgabe hätte Investitionen erleichtert ohne einen Rabatt bei Si- cherheit oder Bürgerbeteiligung. Bei dem jetzt verabschiedeten Gesetz sind die tat- sächlichen Verfahrensabläufe unnötig schwierig mit den gesetzten Fristen in Einklang zu bringen. Dass die Wert- schöpfungsabgabe in eine Länderabgabe umgewidmet wurde, wird dem eigentlichen Anliegen, die Speicherre- gionen an dem Erfolg der Technologie zu beteiligen, nicht gerecht. Ich hoffe nicht, dass sich Befürchtungen bewahrheiten, dass diese Einschränkungen ohne erkenn- baren Nutzen die Technologieentwicklung in Deutsch- land merklich behindern. Froh bin ich – das haben die Expertise des Wissen- schaftlichen Dienstes des Bundestages und auch die Aussagen der Rechtsexperten bei der Anhörung des Um- weltausschusses gezeigt, dass die Länderklausel keinem Vetorecht der Länder entspricht. Die Länderklausel ist eine Dopplung der Raumordnung, nicht mehr und nicht weniger. Mit dieser Klausel können Länder nicht – das gehört zur gesamtdeutschen Solidarität – ihr Landesge- biet von der Anwendung dieser wichtigen Klimaschutz- technologie ausschließen. In der Gesetzesbegründung ist das auch hervorgehoben. Wenn die Demonstrations- phase in Deutschland oder dem europäischen Ausland ein Erfolg wird, wird die Technologie im gesamten Bun- desgebiet zum Klimaschutz beitragen. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid, CCS-Gesetz, stimme ich zu, aber nur unter Zurückstellung weitgehender Be- denken. In der Diskussion der vergangenen Monate stand die sogenannte Länderklausel im Mittelpunkt. Mit ihr wird den Bundesländern die Kompetenz eingeräumt, durch Landesgesetz selbst festzulegen, ob und gegebenenfalls wo CO2 unterirdisch gespeichert werden darf. Diese Länderklausel sichert in meinem Bundesland Schleswig- Holstein, dass nach den Erfahrungen mit einem ersten Projekt in Nordfriesland/Schleswig-Flensburg die Lan- desregierung und der Landtag die Möglichkeit erhalten, die parteiübergreifende Ablehnung von CO2-Speicher- projekten auch rechtlich abzusichern und landesweit auszuschließen. Dies bedurfte vieler Anstrengungen und großer Überzeugungsarbeit. Ich begrüße ausdrücklich die Formulierungen im Gesetzentwurf, auf die sich die Landesregierung Schleswig-Holstein und die Bundesre- gierung verständigt haben. Um diese Länderklausel ge- setzlich abzusichern, stimme ich dem Gesetzentwurf zu. Damit treten weitergehende Kritikpunkte, die im Ge- setzentwurf nicht ausgeräumt sind, in den Hintergrund. Dies betrifft zum Beispiel die aus meiner Sicht zu weit ge- henden Einschränkungen der Eigentumsrechte. In Anbetracht der Länderklausel obliegt es jedoch den Bun- desländern selbst, darüber zu entscheiden, ob die Bedin- gungen dieses Gesetzes angemessen sind, um ein CO2- Speicherprojekt zu realisieren. Wäre ich der auch an mich herangetragenen Forderung gefolgt, im Bundestag dafür zu stimmen, CCS in Deutsch- land grundsätzlich zu verbieten, hätte ich die Länderklau- sel nicht durchsetzen können. Mir war es aber wichtiger, einen konkreten Erfolg zu erzielen, als mit einer kleinen Minderheit der Linken unterzugehen – abgesehen davon, dass die Position der Linken wenig glaubwürdig ist, wenn gleichzeitig der brandenburgische Wirtschaftsminister der Linken das einzige CCS-Projekt in Deutschland durchset- zen will. Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU): Zum vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Demonstration und Anwendung von Technologien zur Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid, Kohlendioxid-Speicherungsgesetz – KSpG, Drucksache 17/5750, nehme ich wie folgt Stellung: Es ist unverantwortlich, Carbon Capture and Storage, CCS, im industriellem Maßstab einzuführen. Die CCS-Richtlinie der Europäischen Union, 2009/31/EG, enthält keine Ver- pflichtung zur Anwendung des fragwürdigen Verfahrens. Vielmehr räumt die EU ihren Mitgliedern ein, CCS für das eigene Hoheitsgebiet auszuschließen. Mit dem KSpG wird die großflächige CO2-Ablagerung von bis zu 8 Millionen Tonnen jährlich, § 2 Abs. 2, in Tie- fengesteinsschichten ermöglicht. Diese Menge entspricht einem Vielfachen dessen, was in bisherigen Forschungs- projekten erprobt wurde. Ein Großteil der Probleme der CO2-Verpressung ist längst nicht geklärt. Wohin wird das Tiefensalzwasser verdrängt? Können geologische Stö- rungen – Verwerfungen, alte Bohrlöcher – in den Verpres- sungsgebieten mit endgültiger Sicherheit ausgeschlossen werden? Welchen Einfluss hat der enorme Druck auf die Gesteinsschichten und können sich daraus seismische Aktivitäten oder zusätzliche Leckagen ergeben? Prozessbedingt werden die CO2-Ströme etwa 5 Pro- zent Schadstoffe enthalten, vergleiche § 24 Abs. 1. Diese Verbindungen, Schwefel- und Stickoxide, Staub, aber auch Lösungsmittelreste, summieren sich bei 3 Millionen Tonnen pro Verpressungsstandort auf 150 000 Tonnen nicht spezifizierte Giftstoffe jährlich. Es lässt sich kaum vorhersagen, wie sich diese Gemische auf Leitungen, Ab- dichtungen und poröse Gesteinsschichten, auf das Öko- system Boden, unterhalb landwirtschaftlicher Flächen und unter dem Grundwasser, auswirken. CCS leistet keinen Beitrag zum Klimaschutz. Die CCS-Projekte in Deutschland dienen der Umgehung des CO2-Emissionshandels bei der Braunkohleverstromung. Dadurch soll diese antiquierte Form der Energiegewin- nung – träge, ineffizient und umweltbelastend – ins 21. Jahrhundert verlängert werden. Mit Einführung von CCS wird der Wirkungsgrad der Kohlekraftwerke um 10 Prozent sinken. Zusätzlicher Energiebedarf für Ab- scheidung, Transport, Verdichtung und Verpressung wür- den den Ressourcenverbrauch um mindestens 30 Prozent steigern. Gleichzeitig muss garantiert sein, dass die CO2-Endlager für 1 000 Jahre dichthalten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14187 (A) (C) (D)(B) Dazu kommt, dass die Lagerformationen im Unter- grund äußerst begrenzt sind. Daraus ergeben sich zwangs- läufig Nutzungskonkurrenzen, etwa mit Erdwärme oder Druckluftspeichern. CCS bindet Forschungsgelder und behindert den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Ener- gien. CCS ist keine Brücke, sondern eine Sackgasse. CCS dient nicht dem Allgemeinwohl, wie in § 4 Abs. 5 voraus- gesetzt wird, sondern den wirtschaftlichen Interessen von einigen wenigen Energiekonzernen. Außerdem ist es un- verständlich, dass die Ewigkeitskosten für die Sicherung der Lager laut § 31 Abs. 1 nach nur 30 Jahren von der All- gemeinheit übernommen werden sollen. Art. 20 a des Grundgesetzes fordert uns auf, die natür- lichen Lebensgrundlagen auch für nachfolgende Genera- tionen zu schützen. Nach meinem Verständnis verletzt die Einführung der CCS-Technologie diesen Grundsatz, und deshalb werde ich gegen das Kohlendioxid-Speiche- rungsgesetz stimmen. Horst Meierhofer (FDP): Ich lehne den vorliegen- den CCS-Gesetzentwurf ab, weil ich CCS unterstütze. Ich will die Erforschung der CCS-Technologie: Es geht mir um Klimaschutz, Versorgungssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Nachdem nicht zuletzt die FDP-Fraktion und ich die Sicherheits- standards noch einmal nach oben geschraubt haben, bestehen aus Sicht von Mensch und Umwelt keine nen- nenswerten Risiken, die einer Erforschung entgegenste- hen. Leider wird CCS durch dieses Gesetz verhindert werden. Mit der Länderklausel wird ein Präzedenzfall geschaffen, dessen negative Folgen für unser föderales System verheerend sein können. Wir entziehen uns der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung als Bundesge- setzgeber. Die Sicherheitsstandards, die wir nach unseren Ände- rungsanträgen für das CCS-Gesetz erreicht haben, sind die höchstmöglichen. Der Grundwasser- und damit Trinkwasserschutz ist durch die von uns geforderte geo- logische Barriere nun gewährleistet. Verdrängtes Salz- wasser kann damit nicht mehr in die über dem Speicher- ort liegenden Grundwasserstöcke dringen. Durch die Einschaltung eines unabhängigen Dritten sind die Si- cherheitsstandards für Kohlendioxidleitungen deutlich gesteigert. Die angedrohten Bußgelder für Ordnungs- widrigkeiten sind auf unser Drängen verdoppelt worden. Mit einem ergänzenden Antrag – Umfassende Datenbasis für Nutzungsmöglichkeiten des Untergrunds schaffen – bringen wir die unterirdische Raumordnung entschei- dend voran. Auch dies ist wichtig, um die Akzeptanz zu steigern. Aber all diese positiven Effekte schaffen es nicht, das zentrale Manko dieses Gesetzes aufzuwiegen. Mit der Länderklausel erhalten die Bundesländer mutmaßlich ein Optionsrecht, das ohne Gründe eine völlige Blo- ckade ganzer Bundesländer ermöglicht. Das Bundes- land, das sich bereit erklärt, an der Erforschung einer Technologie mitzuwirken, wird unter Druck gesetzt. Wie soll eine Landesregierung den eigenen Bürgern vermit- teln, sie könne die Technologie verantwortungsvoll nut- zen, wenn der Bundesgesetzgeber sich vor einem eige- nen Bekenntnis scheut? Wie soll eine Landesregierung den eigenen Bürgern vermitteln, sie könne CCS verant- wortungsvoll erforschen, wenn in anderen Bundeslän- dern die Technologie ohne Angabe von Gründen als Teufelszeug verdammt werden kann? Neben dieser verheerenden Wirkung, die das vorlie- gende Gesetz zum Verhinderungsgesetz macht, gehen von der Länderklausel weitere negative Signale aus. Un- ser föderales System wird infrage gestellt. Der Bundes- tag entzieht sich als Bundesgesetzgeber seiner gesamtge- sellschaftlichen Verantwortung, eine Entscheidung zu treffen, die in seinem Aufgabengebiet liegt. Dies steht nicht im Einklang mit unserer bundesstaatlichen Verfas- sung, nach der nationale Fragen auch nationale Lösun- gen erfordern. Des Weiteren stellt sich für die einzelnen Bundeslän- der jeweils die Frage des eigenen Vorteils: Warum sollte Thüringen ein Interesse daran haben, möglichst viele Hochspannungsleitungen zuzulassen, damit Bayern und Baden-Württemberg mit Strom versorgt werden? Warum sollte Baden-Württemberg eine ergebnisoffene Endla- gersuche zulassen, wenn mit Gorleben bereits ein mögli- ches Endlager bereitsteht? Wir stellen unser Grundsys- tem damit infrage. Es gibt schwierige Entscheidungen, die Anstrengungen und Belastungen für den Einzelnen auferlegen, aber gesamtgesellschaftlich trotzdem erfor- derlich sind. Es ist nicht zu akzeptieren, dass derjenige, der laut genug schreit, sich dieser Verantwortung ent- zieht. Ich bin der Meinung, wir müssen CCS eine Chance geben. Wir sind als Abgeordnete in der Pflicht, im Inte- resse der gesamten Gesellschaft zu handeln. Wenn wir, und das ist meine persönliche Überzeu- gung, aus Klimaschutzgründen, aus Gründen der Versor- gungssicherheit und aus Gründen der Innovationsfreund- lichkeit eine Technologie erproben wollen, dann müssen wir den Rahmen dafür schaffen. Wenn wir das nicht wol- len, müssen wir die Technologie verbieten und nicht ein faktisches Verbot über eine Länderklausel mit weiteren unabsehbaren Folgen festschreiben. Die Länderklausel ist ein politischer Fehler, den ich nicht mittragen kann. Wer erforschen will, soll forschen. Wer verhindern will, soll verbieten. Der vorliegende Gesetzentwurf gibt etwas vor, was er vermutlich nicht einhalten kann. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Deutschland hat sich mit dem Ausstieg aus der Kernenergie einer an- spruchsvollen Aufgabe gestellt. Das Erreichen der Kli- maschutzziele und einer sicheren, effizienten und um- weltverträglichen Energieversorgung setzt künftig umso mehr voraus, alle verfügbaren Energieträger einer beson- deren Eignungsprüfung zu unterziehen. Der Verringerung des Ausstoßes von CO2 kommt da- bei eine besondere Bedeutung zu. CO2 aus der Stromge- winnung, aus der Chemie- und Stahlproduktion zu redu- zieren und gleichzeitig CO2 als Rohstoff in einem perspektivisch bedeutsamen Kohlenstoffkreislauf zu ent- wickeln, sind dabei Schlüsselaufgaben für die Forschung in Deutschland. Viele Fragen sind ungeklärt und können 14188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) nur im Rahmen ausreichender Forschung beantwortet werden. Nur so können die vielen Fragen, Vermutungen und teilweise als Horrorszenarien ausgemalten womögli- chen Folgen seitens der sich jetzt schon erklärten Gegner dieser neuen Technologie beantwortet werden. Deshalb brauchen wir ein nutzbares Forschungsgesetz, das der Forschung ausreichend Freiraum bietet und nicht der Politik ein zusätzliches Mittel zur Einschränkung von Forschung eröffnet. Die wirtschaftliche und technische Machbarkeit, aber auch und vor allem die Sicherheit für Mensch und Natur, können nur im großtechnischem Maßstab überprüft werden. Ich bin für diese Forschung, um mich nach Abschluss der wissenschaftlichen Untersuchungen und Vorliegen von wissenschaftlicher Bewertung der Forschungsergeb- nisse für oder gegen diese Technologie zu entscheiden. Eine Technologie die dann auch die Chance hat, interna- tional – China und Indien unter anderem – zum Einsatz zu kommen. Diesem hohen Anspruch genügt der vorlie- gende Gesetzentwurf in einer aus Sicht der Forschungs- politik wesentlichen Position nicht. Forschung ist unteil- bar, sie kann und darf nicht durch Ländergrenzen innerhalb unserer Bundesrepublik be- oder gar verhin- dert werden. Deshalb ist es völlig falsch, einzelne Län- der in sogenannten Länderklauseln auszuschließen bzw. ihnen zu eröffnen, die Forschung einzuschränken. Das hat mit Forschungspolitik und der Förderung der Wis- senschaft nichts zu tun. Es ist aber auch politisch falsch, weil damit der gemeinsame föderale Gedanke dieser Re- publik Schaden nimmt. Ich stimme diesem Gesetzentwurf trotzdem zu, weil damit zumindest theoretisch die Option auf angemessene Forschung besteht und wir ein Land bleiben müssen, in dem Wissenschaft, Forschung und Technologie auch in Zukunft eine Chance haben. Ich vertraue dem Verantwor- tungsbewusstsein der Landespolitiker, dass diese die Aus- stiegsklausel nicht als eine Forschungsverhinderungs- klausel missbrauchen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Die Friedens- und Konfliktforschung stärken – Deutsche Stiftung Friedensforschung finanziell ausbauen (Tagesordnungspunkt 15) Anette Hübinger (CDU/CSU): Ein Kompliment an die SPD-Fraktion: Der Antragstitel „Die Friedens- und Konfliktforschung stärken – Deutsche Stiftung Friedens- forschung finanziell ausbauen“ ist gut gewählt. Der Titel weckt auf den ersten Blick uneingeschränkte Zustim- mung, denn wer würde sich so einem Anliegen auch ver- schließen wollen. Ich habe den Antrag mit großem Interesse gelesen. Leider musste ich aber bei genauerem Hinsehen feststel- len, dass der Antrag einen sehr zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Zum Positiven: Es steht außer Frage, dass die DSF im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung gute Arbeit leistet. Deshalb können wir zehn Jahre nach ihrer Gründung ein positives Fazit über die bisherigen Förderaktivitäten ziehen. In diesem Zeitraum stellte die DSF fast 13 Millionen Euro an Fördermitteln für die Friedens- und Konfliktforschung zur Verfügung. Die Rückmeldungen aus der Fach-Community sind positiv und die Förderstandards der Stiftung haben breite Aner- kennung gefunden. Klar ist aber auch: Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland ist mehr als nur die Deutsche Stiftung Friedensforschung. In diesem Forschungsbereich treffen wir in Deutschland auf verschiedene Akteure, die mit ih- rer Expertise den wissenschaftlichen und natürlich auch politischen Diskurs bereichern. Gerade die aktuellen Umwälzungen im Nahen Osten und Nordafrika führen uns vor Augen, wie wichtig Erkenntnisfortschritt in die- sem Bereich ist. Es ist deshalb durchaus berechtigt, wenn Sie im Antrag fordern, dass die Friedens- und Konfliktforschung noch stärker im deutschen und euro- päischen Sicherheitsforschungsprogramm verankert werden muss und die Ergebnisse aus der Friedens- und Konfliktforschung noch stärker in die politischen Ent- scheidungsabläufe einfließen sollen. In diesen beiden Punkten bin ich nah bei Ihnen, soweit diese Forderungen alle im Bereich der Konflikt- und Friedensforschung tä- tigen Akteure unserer Wissenschaftslandschaft ein- schließen. Wie schon gesagt: Friedens- und Konfliktfor- schung darf in Deutschland nicht nur auf die Aktivitäten der DSF beschränkt werden. Außer Frage steht auch, dass dieser Forschungszweig schon jetzt stark im natio- nalen und europäischen Sicherheitsforschungspro- gramm, im 7. Forschungsrahmenprogramm und bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft verankert ist. Die Bundesregierung ist sich ihrer Verantwortung in dieser Thematik wohl bewusst. Betont werden muss aber in diesem Zusammenhang auch, dass das Bundesministe- rium für Bildung und Forschung weitere Förderangebote anbietet, die unmittelbar die Konflikt- und Friedensfor- schung ansprechen. Als Beispiel ist die Förderung der Regionalstudien im Rahmen der Förderinitiative Frei- raum zu nennen. Schwierigkeiten habe ich jedoch mit den ersten drei Forderungen ihres Antrages. Diese Punkte folgen näm- lich einem wohlbekannten Reflex des politischen Ge- schehens. Kurz gesagt: Dem Ruf nach mehr und noch mehr Geld. Nun könnte man meinen, dass so ein wichti- ges Anliegen auch mehr Geld verdient. Doch bevor man ein solches Urteil fällt, lohnt sich ein Blick auf die ver- gangenen Jahre. Dann wird schnell deutlich, dass zusätz- liche Finanzmittel nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Vor zehn Jahren wurde die Deutsche Stiftung Frie- densforschung vom Bund mit einem Stiftungsvermögen in Höhe von 50 Millionen DM gegründet. Aus den daraus erwirtschafteten Erträgen finanziert die DSF ihre Förder- aktivitäten. Wegen Personal- und Sachleistungskosten sowie niedriger Zinserträge auf dem Kapitelmarkt, wurde das Stiftungskapital in den vergangenen Jahren immer wieder aufgestockt. Zuletzt erhöhte die Große Koalition das Stiftungsvermögen 2007 um 1,5 Millionen Euro. Ich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14189 (A) (C) (D)(B) bin der Meinung, diese Endlosschleife kann nicht unser Ziel für die Zukunft sein. Wir müssen jetzt also die Frage beantworten, ob der Bund – wie im vorliegenden Antrag gefordert – wieder mit einer großen Finanzspritze einspringen soll oder ob wir nach anderen Lösungen suchen sollen. Ich finde, wir haben die Verpflichtung, nach Alternativen zu suchen, zumal die geforderte Erhöhung des Stiftungskapitals um 5 Millionen Euro ein nicht gerade kleiner Betrag ist. Wir haben auch die Zeit, nach Alternativen zu suchen, da keine existenzbedrohende finanzielle Notlage bei der DSF vorliegt. Nach meinem Kenntnisstand sind uns die Stiftung bzw. der Stiftungsrat in dieser Frage schon einen Schritt voraus. Ziel aller Bemühungen muss eine ausbalancierte Förderstruktur sein. Von der DSF wird aktuell geprüft, wie das Förderrepertoire künftig neu geordnet werden kann. Dies ist in meinen Augen genau der richtige Weg. Ein positiver Nebeneffekt: Eine solche Neuaufstellung kostet nichts. Vorstellbar ist beispielsweise die Konzen- tration auf die Förderung kleinerer Vorhaben, die es bei anderen Förderern schwer haben. Auch im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung gibt es verschiedene Förderformate, die für unterschiedliche Akteure infrage kommen. Eine stärkere Fokussierung macht also durch- aus Sinn. Danach können wir gern über geeignete För- derinstrumente und deren Finanzierung debattieren. Gerade das zurückliegende 10-jährige Jubiläum bietet für die Stiftung die Chance, sich einer konstruktiven Ausgabenkritik zu stellen. Ich bin mir sicher, inhaltliche Schwerpunktsetzungen werden auch die Finanzierungs- seite positiv beeinflussen. Ein weiterer Ansatzpunkt wird in ihrem Antrag leider auch nicht erwähnt, nämlich die Einnahmeseite der Stif- tung. Sie kann auch durch Drittmittel gestärkt werden. Diese Möglichkeit ist ausdrücklich in der Satzung als Fi- nanzierungsquelle vorgesehen. Hier liegt sicherlich noch eine Menge Potenzial. Die Deutsche Stiftung Friedens- forschung ist mit dem derzeitigen Stiftungsvermögen gut aufgestellt, wenn auch nicht auf Rosen gebettet. Sie kann ihre Satzungsziele mit den aktuell zur Verfügung stehen- den Finanzmitteln weiter umsetzen. Mit einem geschärften Profil kann sich die Stiftung fit für die Zukunft machen. Alle darauf ausgerichteten An- strengungen werden wir als CDU/CSU-Fraktion vorbe- haltlos unterstützen. Eine Aufstockung des Stiftungska- pitels halten wir unter den aktuellen Umständen für nicht erforderlich und lehnen daher den Antrag der SPD-Frak- tion ab. Florian Hahn (CDU/CSU): Die Welt ist nach dem Ende des Kalten Krieges nicht einfacher, sondern kom- plexer geworden. Das bipolare System hat sich zu einem multipolaren entwickelt. Unser Land ist heute von Freunden umgeben, unser Stabilitätsrahmen reicht von Finnland bis Malta und von Portugal bis ans Schwarze Meer. Dennoch sind die Gefahren für uns und unsere Bündnispartner heute nicht nur vielfältiger, sondern auch vielschichtiger geworden. Die neuen Formen von krie- gerischen Konflikten haben zu einer Akzentverschie- bung in der internationalen Politik geführt. Die aktuellen politischen und staatlichen Bündnisse sind nunmehr auf- gefordert, ihre Arbeit entsprechend anzupassen, sei es in Richtung zivile Konfliktbearbeitung, Krisenprävention oder auch Intervention. Bei all diesen Entwicklungen ist die Arbeit der Deutsche Stiftung Friedensforschung (DSF) stets von großer Hilfe. Während früher Rüstung und Abrüstung, Entspannung und Rüstungskontrolle im Mittelpunkt der Arbeit der Friedensforschung standen, ist die Forschungsthematik heute breiter gefächert und sehr viel komplexer geworden. Darauf muss auch die Arbeit der Friedensforschung schneller und anders regie- ren. Im Zentrum der heutigen Friedensforschung stehen vor allem die Konflikte im Nahen Osten, Afrika oder in Asien. Zudem beschäftigt sie sich auch mit den Gefah- ren des Nationalismus, den Problemen der europäischen Integration und nicht zuletzt mit der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Das Heidelberger Insti- tut zählt beispielsweise in seinem letzten Bericht für 2010 28 hochgewaltsame Auseinandersetzungen sowie sechs gewaltsame Krisen weltweit. Die Friedensfor- schung ist daher herausgefordert, sich herkömmlichen und neuen Formen von Konflikten und Krisen zu stellen. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung erfüllt nun seit elf Jahren mit ihrer Arbeit diese Aufgabe als gemeinnüt- zige Stiftung bürgerlichen Rechts und ist politisch unab- hängig. In ihrem Internetauftritt beschreibt sie ihre Arbeit fol- gendermaßen: Sie entwickelt Vorschläge, wie die Ursa- chen von Konflikten möglichst frühzeitig erkannt, ihrer gewaltsamen Austragung vorgebeugt und politische Re- gelungen für ihre Lösung getroffen werden können. Die Forschungsergebnisse der DSF werden gleichermaßen von der Politik in Bund und Ländern ebenso wie von Gewerkschaften, den Kirchen, der Wissenschaft, den politischen Parteien sowie den Medien genutzt. Der heute vorgelegte SPD-Antrag unterstellt eine zu geringe Kapitalausstattung der DSF. Wir von der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion sehen die bisherige finanzielle Förderungen für die DSF als ausreichend. In Anbetracht der bereits erfolgten Kapitalaufstockungen und der noch zu leistenden strukturellen Anpassung von Förderinstru- menten und Inhalten durch die DSF besteht für einen Mittelaufwuchs keinen Grund. Lassen Sie mich dazu ei- nen Spruch von Erich Kästner zitieren: „Der erfüllte Wunsch ist der Vater vieler neuer“. Ich habe durchaus dafür Verständnis, dass dort, wo Menschen großes Engagement zeigen, das Bedürfnis nach Mehr groß ist. Die DSF ist ordentlich ausgestattet und hat, wie schon erwähnt, in den letzten Jahren eine Aufstockung bekom- men. Dies stelle ich immer wieder vor dem Hintergrund fest, dass wir als Regierungskoalition für eine Konsoli- dierung des Haushaltes stehen und die Ausgaben im Auge behalten müssen. Zudem diskutiert der Stiftungs- rat der DSF derzeit sowieso darüber, ihren Förderbe- stand neu zu ordnen. Außerdem gibt es in Deutschland neben der DSF eine ganze Reihe weitere Akteure und In- 14190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) stitute, die in die gleiche Richtung forschen, und allen Beteiligten, gleich ob Fördernde oder Forschende, ist der Umstand gemein, mit mehr oder weniger begrenzten Mitteln auskommen zu müssen. Die DSF ist also mit ihrem derzeitigen Stiftungsver- mögen gut aufgestellt. Sie kann mit den vorhandenen Mitteln auch weiterhin gut arbeiten, ohne in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Eine weitere Mittelaufsto- ckung auf 5 Millionen durch den Bund ist somit nicht notwendig, und daher lehnen wir als CDU/CSU-Frak- tion den vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion ab. René Röspel (SPD): Vor kurzem ist das neue „Frie- densgutachten 2011“ herausgekommen. Dort schreiben Vertreterinnen und Vertreter der Friedens- und Konflikt- forschung über Themen wie den Aufbruch in der arabi- schen Welt oder die europäische Krise. Genauso analy- sieren sie aber auch die aktuelle Situation im Irak oder den Trend zur Robotisierung der Streitkräfte. Wie Sie an diesen Beispielen sehr schön sehen kön- nen, bearbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftler der Friedens- und Konfliktforschung ein sehr breites Feld. Und wie ich in meiner letzten Rede zu die- sem Thema bereits gesagt habe, sind darunter viele The- men, die auch wir Abgeordneten früher oder später im Parlament zu bearbeiten haben. Wissenschaftliche Infor- mationen sind, wie in anderen Bereichen auch, bei au- ßenpolitischen Entscheidungen unabdingbar. Deshalb sollte es im Interesse aller Abgeordneten sein, über eine starke und unabhängige Friedens- und Konfliktfor- schung in Deutschland verfügen zu können. Unter Rot-Grün ist das Potenzial dieses Wissen- schaftsbereiches besonders gefördert worden. Ein Resul- tat war die Gründung der Deutschen Stiftung Friedens- forschung, DSF, im Jahre 2000. Ziel der Stiftung ist es, die Friedensforschung dauerhaft zu stärken und zu ihrer finanziellen Unabhängigkeit beizutragen. Dafür vergibt sie Gelder für größere und kleinere Forschungsvorha- ben. Seit 2000 sind, wie in anderen Wissenschaftsberei- chen auch, die Kosten für Personal und Material gestie- gen. Auch die Finanzkrise ist an der DSF nicht spurlos vorbeigegangen. Als Reaktion hat die SPD-Bundestags- fraktion 2007 nach mühsamen Diskussionen mit dem da- maligen Koalitionspartner CDU/CSU eine Erhöhung des Stiftungskapitals erreichen können. Weitere benötigte Finanzspritzen hat die jetzige Koalition aus CDU/CSU und FDP leider abgelehnt. Mittlerweile ist die DSF an einem Punkt, an der sie die eigenen Ziele, insbesondere die Struktur- und Nachwuchsförderungen, aus finanziel- len Gründen nicht mehr erfüllen kann. Und das sieht üb- rigens nicht nur die SPD, sondern auch der Bundesrech- nungshof so. Er verweist in einem Bericht darauf, dass eigentlich eine jährliche Rücklagenbildung erforderlich wäre, um den schleichenden inflationsbedingten Wert- verlust auszugleichen. Dies ist derzeit aber nur möglich, wenn die Stiftung gleichzeitig ihre Förderung zurück- schrauben würde. Das widerspricht aber den Satzungs- zielen. Bei der Gründung wurde beschlossen, dass es sich bei der DSF explizit nicht um eine verzehrende Stiftung handelt, sondern die Projekte über die Verzinsung des Stiftungskapitals finanziert werden. Da die Stiftung den Auftrag einer „dauerhaften Stärkung“ hat, wäre eine Ver- zehrung mit der Satzung auch gar nicht vereinbar. Liebe Frau Hübinger, für „zeitlich beschränkte Schwierigkeiten“, wie Sie in Ihrer letzten Rede erwähn- ten, mag es eine Lösung sein, Teile des Stiftungsvermö- gens zu nutzen. Aber leider existieren die finanziellen Probleme nun schon seit ein paar Jahren. Von einer zeit- lich beschränkten Situation kann somit wohl keine Rede mehr sein. Es ist deshalb jetzt dringend notwendig, nach anderen Instrumenten zu suchen, um schnell eine nach- haltige Finanzsituation herzustellen. Ich denke, nach unseren gemeinsamen Diskussionen im Ausschuss und Plenum zu dem Thema kann man zu- sammenfassend sagen, dass die Berichterstatter aller Fraktionen die Leistung der Friedens- und Konfliktfor- schung und dabei insbesondere die Arbeit der DSF ge- würdigt haben. Auch die finanziell schwierige Situation der DSF wurde von allen Vertretern anerkannt. Wichtig fand ich auch, dass die Vertreter der Koalitionsfraktio- nen die Bereitschaft signalisiert haben, nach einer Lö- sung für die Finanzprobleme bei der DSF zu suchen. Wenn ich sehe, dass aus dem letzten BMBF-Haushalt 300 Millionen Euro nicht abgeflossen sind, ist es doch sicher nicht zu viel verlangt, für die Erhöhung des Stif- tungskapitals 5 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Ich bin mir natürlich auch im Klaren, dass Sie als Be- richterstatter für einen Lösungsvorschlag nicht nur Ihre Kollegen in den Facharbeitsgruppen überzeugen müs- sen, sondern insbesondere Ihre Haushaltspolitiker. Da nach der Sommerpause die Haushaltsberatungen anste- hen, würde ich es sehr begrüßen, wenn wir in diesem Zu- sammenhang noch einmal – jeder in seiner Fraktion – ausloten würden, wie doch noch eine nachhaltige Lö- sung für die anhaltenden Finanzprobleme bei der DSF gefunden werden könnten. Damit täten wir der deut- schen Wissenschaft, aber auch uns Abgeordneten, im Sinne einer guten Politikberatung eine wichtigen Dienst. Dr. Martin Schwanholz (SPD): Zu später Stunde beraten wir heute über ein Thema, das mir sehr am Her- zen liegt. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen hier können das bestätigen, insbesondere die Haushälter; denn ich renne ihnen seit 2002 jährlich die Türen ein, wenn es um die Finanzierung der Deutschen Stiftung Friedensforschung, DSF, geht, die ihren Sitz in meiner Heimatstadt Osnabrück hat. Die finanziellen Probleme der DSF begannen bereits bei der Gründung im Jahr 2000 und bei der Aufnahme der Fördertätigkeit: Die Kapitalausstattung von rund 25 Mil- lionen Euro machte nämlich lediglich die Hälfte des ur- sprünglich vorgesehenen Vermögens aus. So konnte be- reits damals eine der wesentlichen Säulen, nämlich das Programm zur Struktur- und Nachwuchsförderung, nicht aus den laufenden Erträgen finanziert werden. Bis 2007 konnten wir immerhin die Reduzierung des Stiftungsver- mögens verhindern, indem wir im Bundeshaushalt um Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14191 (A) (C) (D)(B) den Erhalt des Titels gekämpft und Zustiftungen um ins- gesamt 5 Millionen Euro erreicht haben. 2008 ist dann aber der Titel entfallen. Angesichts der Bedeutung der Friedens- und Konflikt- forschung ist dies in meinen Augen ein Unding. Deutsch- land leistet sich millionenschwere Steuergeschenke an Hoteliers, lässt aber eine Stiftung im Stich, die immerhin von der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde und deren erklärtes Ziel es ist – hier zitiere ich aus der Sat- zung – „die Friedensforschung ihrer außen- und sicher- heitspolitischen Bedeutung gemäß insbesondere in Deutschland dauerhaft zu stärken und zu ihrer politischen und finanziellen Unabhängigkeit beizutragen.“ Da stim- men doch die Relationen nicht mehr! Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Frieden er- fordert ein geschärftes Bewusstsein über Ursachen und Hintergründe von Konflikten. Frieden erfordert Auf- merksamkeit und stetige Obacht. Frieden braucht Wege zur Konfliktvermeidung bzw. deren Lösung. Kurz: Frie- den erfordert Arbeit. Frieden braucht Menschen, die an ihm arbeiten. Wir brauchen die Friedens- und Konflikt- forschung. Ich erwarte deshalb von der Koalition ein klares Be- kenntnis zur Deutschen Stiftung Friedensforschung. Es geht um die Anerkennung ihrer Arbeit, die bislang unter nicht sehr einfachen Bedingungen sehr erfolgreich war. Wir müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass eine von uns eigens ins Leben gerufene Stiftung ihren satzungsgemä- ßen Aufgaben nachkommen kann. Um mit dem großen Willy Brandt zu schließen: „Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden.“ Dr. Peter Röhlinger (FDP): Die Friedens- und Kon- fliktforschung ist ohne Zweifel ein wichtiges For- schungsgebiet. Nach den beiden Weltkriegen im letzten Jahrhundert und im sich anschließenden Kalten Krieg hat sich die Rüstungsspirale weiter gedreht und es wurden furchterregende Konzepte der militärischen Abschre- ckung entwickelt. Aber gleichzeitig haben an verschiede- nen Stellen Menschen damit begonnen, die Bedingungen von Frieden und Konflikten wissenschaftlich zu untersu- chen. Das war und ist in meinen Augen ein echter zivili- satorischer Fortschritt. Auch der Kalte Krieg ist inzwischen überwunden, und Massenvernichtungswaffen spielen im öffentlichen Bewusstsein bei uns derzeit keine Hauptrolle. Andere Bedrohungen sind in den Vordergrund getreten: der weltweite Terrorismus zum Beispiel, den auch deutsche Soldaten in Afghanistan bekämpfen, oder humanitäre Katastrophen im Zusammenhang mit politischer Instabi- lität – das haben wir auf dem Balkan erlebt, das erleben wir im Nahen Osten, in Afrika, in vielen Ländern immer noch, immer wieder. Wege zur dauerhaften Lösung von Konflikten zu suchen und aufzuzeigen, ist notwendig und wichtig wie eh und je. Warum geht so oft Macht vor Recht? Was sind die Ur- sachen von Konflikten? Wie kommen wir dahin, dass Konflikte am Verhandlungstisch gelöst und nicht mit Gewalt entschieden werden? Ist Krieg wirklich nicht vermeidbar? Diese Fragen stellen sich immer wieder neu, die Antworten fallen unterschiedlich aus. Auch der Deutsche Bundestag hat in den letzten Jahren dazu mehrfach weitreichende Beschlüsse gefasst. Ich denke dabei an die Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan. Die europäischen Länder haben Strukturen für friedli- che Kooperation geschaffen. Das ist ein großer Fort- schritt, den wir unter allen Umständen verteidigen soll- ten. Aber Europa ist nicht die Welt, und auch in unserer Zeit muss der Frieden täglich erhalten und gesichert wer- den. Dazu gehört auch die ökonomische Teilhabe von Ländern der sogenannten Dritten Welt, dazu gehört die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie die Säkula- risierung und die Überwindung nationaler und ethni- scher Stereotype. Friedens- und Konfliktforschung ist konkret. Je ge- nauer die Fragestellungen sind, desto klarer können die Antworten sein. Drängende Fragen sind zum Beispiel: Welche Auswirkungen hat das scheinbar freie Spiel der Kräfte auf den Finanzmärkten für die Stabilität der Volkswirtschaften und für den Welthandel? Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Auswirkungen der Finanzkrisen mit Blick auf die Weltpolitik gezogen wer- den? Welche Gefahren sind mit der geringen Verfügbar- keit von Trinkwasser in bestimmten Gebieten unserer Erde verbunden? Welche Folgen bringt die Verknappung von Rohstoffen und vor allem ihre geopolitische Verfüg- barkeit für die Industrieländer mit sich? Auf welchen seltenen Rohstoffen basieren die neuen Technologien, und wie wird die Versorgungssicherheit der Wirtschaft gewährleistet? Die deutsche Friedensforschung ist gut aufgestellt. Sie hat zu einer objektiven und interdisziplinären Beurteilung von Konflikten beigetragen. Sie hat zu Erkenntnissen und Erklärungsmodellen in verschiedenen Disziplinen ge- führt. Sie ist im deutschen Wissenschaftssystem fest ver- ankert und wird zum großen Teil auf gutem Niveau durch die öffentliche Hand, von Bund und Ländern, finanziert. In diesen Zusammenhang gehört auch die vor gut zehn Jahren durch die damals rot-grüne Bundesregie- rung gegründete Deutsche Stiftung Friedensforschung, DSF. Die Stiftung hat eine institutionelle Lücke zwi- schen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik geschlos- sen. Sie leistet durch ihre Arbeit, durch ihre Vermittlertä- tigkeit zwischen den Institutionen der Friedens- und Konfliktforschung, durch Nachwuchsförderung und durch Projektförderung einen anerkennenswerten Bei- trag auf diesem Gebiet. Meine Fraktion hat aber bereits bei der Gründung ge- sagt: Die Stiftung muss ihren Beitrag für ihre politische und finanzielle Unabhängigkeit leisten, und sie darf die- ses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die Stiftung wurde mit dem notwendigen Grundkapital in Höhe von über 25 Millionen Euro ausgestattet. Der Bund hat da- nach noch zugestiftet. Jetzt muss sich die Stiftung aus Erträgen des Stiftungskapitals und durch Zustiftungen fi- nanzieren, das macht sie finanziell und politisch unab- hängig. Die Anerkennung zeigt sich heute auch im bür- gerschaftlichen Engagement von Stiftern, die sich mit 14192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) der Arbeit und den Zielen persönlich identifizieren und sich deshalb auch an der Finanzierung beteiligen. Sicherlich sollten wir gemeinsam über die Stellung der Stifter und deren Behandlung weiter nachdenken. Und genau dafür treten auch die liberalen Stiftungsrats- mitglieder, der Staatsminister im Auswärtigen Amt Herr Dr. Werner Hoyer, MdB, die Parlamentarische Staatssek- retärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung Frau Gudrun Kopp, MdB, und die Kollegin Frau Marina Schuster, MdB, ein. Meine Damen und Herren von der SPD, politische und finanzielle Unabhängigkeit setzt voraus, dass die Aufgaben in eigener Verantwortung bewältigt werden. Die Forderung nach mehr Geld vom Bund muss deshalb ins Leere gehen. Diesem Antrag können wir nicht unsere Zustimmung geben. Kathrin Vogler (DIE LINKE): Über die Friedensfor- schung wird nach langen Jahren fast bleiernen Schwei- gens wieder geredet, und das ist gut. Professor Harald Müller hat in seiner Festrede zum zehnjährigen Bestehen der Deutschen Stiftung Friedens- forschung erfreut festgestellt, dass die Friedensfor- schung durch alle Parteien hindurch Anerkennung fin- det. Das ist sicher ein Ausweis ihrer erfolgreichen Arbeit. Aber er sieht das auch darin begründet, dass ei- nige Teile der Friedensforschung ihre „Fundamentalop- position“ aufgegeben hätten. Nun kann man sich sicher darüber streiten, was „Fundamentalopposition“ ist, aber ein bisschen widerborstiger, nervtötender und lästiger, um einige Worte von Professor Müller zu gebrauchen, könnte die Friedensforschung aus Sicht der Linken schon noch sein. Das ändert aber nichts daran, dass ihre Arbeit wichtig ist und dass ich mir wünschen würde, auch die kritischen Analysen würden von der Bundesregierung, aber auch hier im Parlament stärker berücksichtigt. So wird etwa im diesjährigen Friedensgutachten festgestellt, die Af- ghanistan-Politik der Bundesrepublik Deutschland werfe aufgrund des vorherrschenden Paradigmas der Auf- standsbekämpfung die Frage auf, inwiefern es ihr über- haupt um Frieden in Afghanistan geht. Dies ist eine ganz zentrale Frage an uns, an den Bundestag und natürlich vor allem an diejenigen von Ihnen, die dieses Konzept der Aufstandsbekämpfung durch die Bundeswehr in im- mer neuen Mandaten in Auftrag gegeben haben, und die sollte in Kenntnis der Argumente der Friedensforsche- rinnen und -forscher beantwortet werden. Wir hatten in der letzten Woche im Unterausschuss „Zivile Krisenprä- vention“ ein Gespräch mit den Herausgebern des Frie- densgutachtens. Dabei fand ich es schon erstaunlich, dass von den neun Mitgliedern unseres Ausschusses le- diglich zwei den Weg dorthin gefunden haben, und auch, dass es der Politik offenbar schwerfällt, einfach einmal zuzuhören. Zuhören ist manchmal wirklich Gold, langes Reden bestenfalls Blech. Für uns als Linke ist wichtig, dass es eine engagierte kritische Friedensforschung gibt, die sich auch nicht auf Politikberatung beschränkt, sondern mit ihrer fundierten Kritik der Militarisierung in die Politik und Gesellschaft hineinwirkt. Die Gefahr der Verengung besteht da, wo sie sich zu stark auf staatliche Akteure fixiert und die Rolle der Zivilgesellschaft in Konflikten, aber gerade auch bei der Konfliktbeilegung vernachlässigt. Warum gerade das Verteidigungsministerium im Stiftungsrat der DSF mitentscheiden muss, welche Projekte gefördert werden, das erschließt sich mir gar nicht. Wir sprechen aber heute nicht vor allem über die Bi- lanz der Friedensforschung, sondern über Geld. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung hat eine Reihe von wichtigen Projekten gefördert. In den ersten zehn Jahren ihres Bestehens konnten 13 Millionen Euro dafür ausge- ben werden. Der Frieden sollte uns mehr Geld wert sein. In diesem Haus ist ohne lange Diskussion über ganz an- dere Summen entschieden worden. Die Linke möchte, dass Friedensförderung ganz oben auf der Prioritäten- liste steht, und dafür sind uns die 5 Millionen, die die SPD fordert, nicht ausreichend. Das ist ja nicht einmal ein Promille von dem, was in Deutschland jährlich in die Rüstungsforschung fließt! Wir halten eine einmalige Zu- stiftung von 25 Millionen Euro für notwendig. Ich hätte sogar einen konkreten Finanzierungsvorschlag: Wenn die Bundeswehr statt 80 nur 79 Kampfhubschrauber „Ti- ger“ kaufen würde, könnten neben den 25 Millionen für die Stiftung auch noch 20 Millionen mehr für den Zivi- len Friedensdienst ausgegeben werden. Dafür setzt sich die Linke ein, und deswegen können wir uns bei Ihrem Antrag leider nur enthalten. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den zurückliegenden Beratungen über die Deutsche Stiftung Friedensforschung wurde fraktionsübergreifend die gute Arbeit der Stiftung hervorgehoben und gewürdigt. Es wurde zu Recht das besondere Profil der Deutschen Stif- tung Friedensforschung, die sich durch ihren krisenprä- ventiven interdisziplinären Ansatz auszeichnet, hervor- gehoben. Wir sind uns einig, dass die Stiftung, indem sie Ursachen und Hintergründe von Krisen erforscht, Per- spektiven aufzeigen kann, wie gewaltsame Auseinander- setzungen verhindert werden können. Damit hat die Stiftung nicht nur eine bedeutende Funktion für die Wissenschaft, sondern auch für die Politik. Neben der Projektförderung hat die Deutsche Stiftung Friedensforschung durch Stiftungsprofessuren und Masterstudiengängen institutionelle Lehr- und For- schungsstrukturen geschaffen, die zur nachhaltigen Eta- blierung der Friedenswissenschaft im universitären Be- reich beitragen. Bei der Gründung der Deutschen Stiftung Friedens- forschung im Jahr 2000 war es ein ausdrückliches Ziel, Unabhängigkeit für die Stiftung in politischer, wissen- schaftlicher und auch finanzieller Hinsicht zu gewähr- leisten. Deshalb wurde die DSF mit einem Stiftungska- pital ausgestattet, das diese Unabhängigkeit ein Stück weit sichert, dessen Erträge aber keine großen Sprünge erlauben. Klar ist inzwischen aber auch, dass die Stiftung zu- nehmend Probleme hat, ihre gute Arbeit auch in Zukunft so fortzuführen. Angesichts steigender Sach- und Perso- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14193 (A) (C) (D)(B) nalkosten verengen sich zunehmend die Spielräume für neue Forschungsprojekte, obwohl mit dem Stiftungska- pital durchaus sorgsam umgegangen wurde. Es wäre äußerst bedauerlich, wenn die Stiftung ihre Angebote reduzieren müsste, zum Beispiel indem sie sich aus der Promotionsförderung für den wissenschaft- lichen Nachwuchs dauerhaft zurückzöge oder die Förde- rung von Masterstudiengängen so nicht aufrechterhalten könnte. Vor diesem Hintergrund ist der Antrag der SPD-Kol- leginnen und Kollegen, die Deutsche Stiftung Friedens- forschung durch eine Erhöhung des Stiftungskapitals zu unterstützen, sehr zu begrüßen. Schließlich erkennen alle Fraktionen in diesem Haus die große Bedeutung und gute Arbeit der Stiftung, ihre Beiträge für Prävention und Friedenserhaltung und damit ihre hohe Relevanz für die Bewältigung zentraler gesellschaftlicher Herausfor- derungen an. Leider gab es in der zurückliegenden Ausschussbera- tung keine Signale, dass die Koalition aus ihrer Wert- schätzung für die Arbeit der Stiftung auch die notwendi- gen Schlussfolgerungen ziehen will. Nun wissen wir alle, dass es nicht den Gepflogenhei- ten hier im Deutschen Bundestag entspricht, dass die Re- gierungsfraktionen gute Initiativen der Opposition unter- stützen. Aber Sie haben in Kürze ja die wunderbare Möglichkeit, die Opposition dazu zu bringen, einen ent- sprechenden Antrag der Regierungskoalition zu unter- stützen. Im anstehenden Haushaltsverfahren sind Sie selbst Herr des Verfahrens. Ich hoffe daher, dass Sie diese Chance nicht verstreichen lassen. Also geben Sie sich, wenn nicht heute, dann doch im Herbst, einen Ruck, damit am Ende die Deutsche Stiftung Friedensfor- schung ihre gute Arbeit ungeschmälert fortsetzen kann. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Gemeinsame Sicher- heits- und Verteidigungspolitik der EU wirksam kontrollieren (Tagesordnungspunkt 17) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich auf Einzelheiten des hier zu beratenden Antrags eingehe, möchte ich einige grundlegende Überlegungen vorweg- stellen: In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren der Fraktion Die Linke, stellen Sie fest, Militäreinsätze der Europäischen Union seien grundsätzlich abzulehnen. Sie fordern dazu auf, einer „weiteren Militarisierung“ der EU entgegenzutreten und eine „zivile und friedliche Europäische Union“ zu schaffen. Diese Sichtweise der Dinge teile ich grundsätzlich nicht. Genau heute vor sechs Jahren, am 7. Juli 2005, wur- den in London 56 Menschen durch Selbstmordattentäter in der U-Bahn und in einem Doppeldeckerbus getötet und über 700 teilweise schwer verletzt. Die Anschläge werden in den britischen Medien auch unter der Abkür- zung 7/7 genannt, in Anlehnung an die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA, die unter 9/11 be- kannt wurden. Auch wenn wir uns die Realität anders wünschen, zeigen Vorfälle wie diese ganz deutlich, dass die Sicherheit Europas nach wie vor Bedrohungen und Herausforderungen ausgesetzt ist. Militärische Krisen und Konflikte sind nicht von unserem Kontinent ver- schwunden. Europa muss daher bereit sein, Verantwor- tung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen. Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Wir müssen bereit sein, diese Freiheit und diese Sicherheit notfalls auch mit militäri- schen Mitteln zu verteidigen. In meinem Verständnis von vernetzter oder umfassender Sicherheit darf diese Möglichkeit nicht fehlen – sonst läuft sie Gefahr, un- glaubwürdig zu sein. Zu Recht sprechen Sie in ihrem Antrag die Frage ei- ner wirksamen parlamentarischen Kontrolle von GASP und GSVP an. Wir von der Union halten die parlamenta- rische Kontrolle dieser Bereiche durch ein europäisches Gremium aus Vertretern nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments für zwingend notwendig. In ei- nem von uns und unserem Koalitionspartner eingebrach- ten Antrag sprechen wir uns deshalb für die Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur GASP bzw. GSVP der EU in Brüssel aus. Diese soll die Vernetzung der wichtigsten Akteure der Außen- und Sicherheitspoli- tik der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlamentes gewährleisten. Wir sind der Meinung, dass die parlamentarische Kontrolle dieser Politikbereiche federführend durch die nationalen Parlamente erfolgen muss; denn auch wenn die Rechte des Europäischen Parlaments durch den Ver- trag von Lissabon weiter ausgeweitet wurden, gehören GASP und GSVP noch immer zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten. Noch sehen wir das Europäische Parlament nicht in der Lage, die parlamentarische Kon- trolle hier federführend auszuüben. Langfristig setzen wir uns dafür ein, die Rechte und die Rolle des Europäischen Parlaments auch in diesen Bereichen weiter zu stärken und eine weitere Verge- meinschaftung auch in der europäischen Außen-, Sicher- heits- und Verteidigungspolitik zu gewährleisten. Es ist notwendig, dass sich die EU auch als Sicherheitsgemein- schaft zur Verteidigung ihrer Werte begreift. Wir brau- chen deshalb auf europäischer Ebene in den nächsten Jahren mutige Schritte gestalterischer Politik – als Ant- wort auf neuartige Bedrohungen und als Konsequenz der Finanz- und Wirtschaftskrise, die uns immer noch be- schäftigt. Im Koalitionsvertrag von 2009 haben wir uns den Aufbau einer europäischen Armee unter voller parla- mentarischer Kontrolle als langfristiges Ziel gesteckt. Dies wäre nicht nur ein sichtbares Zeichen der Stärkung der GSVP, sondern ist angesichts schrumpfender euro- päischer Verteidigungsbudgets der nächste logische Schritt. Eine europäische Armee ist kein Selbstzweck, sie dient der gemeinsamen europäischen Sicherheitsvor- sorge. Durch die mangelnde Bereitschaft von Iran, Nord- korea und Pakistan, in den Fragen nuklearer Transpa- 14194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) renz, Teststopp, Proliferation und Vertragstreue bzw. Vertragsbeitrittswilligkeit zu kooperieren, und wegen der Entwicklung ballistischer Raketen mit großer Reich- weite ist die Bedrohung für Europa in den letzten Jahren nicht kleiner geworden, sondern im Gegenteil stetig ge- wachsen. Eine gemeinsame europäische Sicherheitsvorsorge muss auf einer gemeinsamen Risikoanalyse fußen und klare Aussagen zur transatlantischen Partnerschaft ein- schließlich der Zusammenarbeit mit der NATO treffen. Dies schließt Berlin-Plus ein, allerdings sehe ich die Hauptarbeit der nächsten Jahre darin, einen Ausweg aus der Türkei/Zypern-Sackgasse zu finden. Ferner gilt es, auch im Sinne des neuen strategischen Konzepts der NATO vom November 2010 und im Geist des Lissabon- Vertrages der EU ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland, zur Ukraine und insbesondere zum südlichen Mittelmeerraum auszubauen. Wir brauchen eine neue europäische Sicherheitsstra- tegie, um den europäischen Zusammenhalt auch auf die- ser Ebene immer weiter zu untermauern. Natürlich müs- sen die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament eine wirksame parlamentarische Kontrolle bei der Neuformulierung und Mitgestaltung einer solchen Strategie ausüben müssen. Klar ist: Gemeinsame Werte brauchen mehr als nur eine gemeinsame militärische Verteidigungsidentität. Aber ohne eine ergänzende militärische Komponente, idealerweise zukünftig sogar eine europäische Armee, schlagkräftig, einsatzbereit, innovativ und vom europäi- schen „Staatsbürger“ in Uniform geprägt, wäre die Euro- päische Union weniger glaubwürdig. Es geht um den Beweis, unsere gemeinsamen Werte zu erhalten, und um die Bereitschaft, sie glaubhaft zu verteidigen! Dabei gilt es, die gesamte Werkzeugkiste verantwortbarer europäi- scher Sicherheitspolitik zu überblicken und zivile wie militärische Instrumente in den Dienst einer umfassen- den Sicherheits- und Friedenspolitik zu stellen. Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Der Deutsche Bundestag hat am 9. Juni 2011 den Antrag der Koalitions- fraktionen „Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- tik bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungs- politik der Europäischen Union“ beschlossen. Darin sind alle aus Sicht der Koalitionsfraktionen relevanten As- pekte in Bezug auf die parlamentarische Kontrolle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungs- politik der Europäischen Union, GSVP, enthalten. GASP und GSVP bleiben auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon intergouvernementaler Natur, das heißt sie fallen in die Kernkompetenz der EU-Mitgliedstaaten. Diese Tatsache muss auch in der parlamentarischen Kontrolle ihren Ausdruck finden. Es geht daher völlig an der Sache vorbei, wenn die Linke in ihrem Antrag die Einberufung eines Konvents und einer Regierungskonfe- renz fordert, um die Kontrollrechte der nationalen Parla- mente und des Europäischen Parlaments in den Europäi- schen Verträgen festzuschreiben. Die nationalen Parlamente kontrollieren nach ihren bewährten Verfahren ihre jeweiligen Regierungen, die im Rat federführend für die Ausgestaltung und Umset- zung der GASP und GSVP zuständig sind. In Deutsch- land sind nach dem „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenhei- ten der Europäischen Union“ sämtliche relevanten Vorlagen aus dem Bereich der GASP und GSVP dem Deutschen Bundestag zuzuleiten. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen haben somit die Mög- lichkeit, sich zu jedem relevanten Thema der Außen- und Sicherheitspolitik über den Meinungs- und Verfah- rensstand auf europäischer Ebene zu informieren und eine politische Positionierung hierzu vorzunehmen. Fra- gen der GASP und der GSVP sind regelmäßig Gegen- stand von Beratungen in den zuständigen Ausschüssen sowie im Plenum des Deutschen Bundestags. Auch das Europäische Parlament, EP, ist auf dem Ge- biet der GASP und der GSVP – anders als im Antrag der Linken dargestellt – mit substanziellen Informations- und Kontrollrechten ausgestattet. So unterliegen die für die GASP und die GSVP aufgewendeten Mittel im Rah- men des regulären Haushaltsverfahrens der Kontrolle durch das EP. Sowohl der mehrjährige Finanzrahmen als auch der jährliche Haushalt werden erst wirksam, wenn das EP hierzu seine Zustimmung erteilt hat. Durch die- ses Budgetrecht besitzt das EP de facto ein Vetorecht in zentralen Fragen der GASP und der GSVP, etwa im Hin- blick auf die Verwaltungsausgaben sowie die operativen Mittel des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Darüber hinaus kann das EP unter anderem die Hohe Vertreterin zu Gemeinschaftspolitiken wie der Entwicklungshilfe oder der Nachbarschaftspolitik anhören sowie Botschaf- ter nach deren Ernennung und vor ihrem Amtsantritt an- hören. Dies zeigt: Für die von der Fraktion der Linken geforderte Vertragsänderung besteht keinerlei sachliche Notwendigkeit. Die Vertreter der Linkspartei täten gut daran, die vorhandenen Kontrollrechte der nationalen Parlamente und des EP in der GASP und der GSVP wahrzunehmen. Unabhängig von der Frage sachlicher Notwendigkeit ist für die Einberufung eines Konvents im Kreis der EU- Mitgliedstaaten auf absehbare Zeit keine Mehrheit in Sicht. Es zeugt von Unkenntnis über das aktuelle Stim- mungsbild in der EU, die Bundesregierung dazu aufzu- fordern, sich im Rat für eine derart aussichtslose Initia- tive einzusetzen. In CDU/CSU und FDP sind wir der Auffassung, dass die Begleitung und Kontrolle der GASP und der GSVP eine enge Vernetzung zwischen den nationalen Parla- menten und dem EP erfordert. Zu diesem Zweck hat sich der Deutsche Bundestag auf Antrag der Koalitionsfrak- tionen für die Schaffung einer interparlamentarischen Konferenz ausgesprochen. Der Vertrag von Lissabon muss dazu nicht geändert werden, sondern es können die vorhandenen Möglichkeiten aus dem Protokoll Nr. 1 zu diesem Vertrag über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU genutzt werden. Die interparlamentarische Konferenz soll aus Vertre- tern des Europäischen Parlaments und der nationalen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14195 (A) (C) (D)(B) Parlamente bestehen und deren Vielfalt widerspiegeln. Um den intergouvernementalen Charakter der GASP und der GSVP zu betonen, sollte Tagungsort für ein solches Gremium Brüssel sein – in örtlicher Unabhän- gigkeit zum EP –, und der Vorsitz von den nationalen Parlamenten der Troika-Länder, also der drei aufeinan- derfolgenden EU-Ratspräsidentschaften, wahrgenom- men werden. Aufgabe der Interparlamentarischen Kon- ferenz soll es sein, die Hohe Vertreterin und hochrangige Vertreter der europäischen Institutionen anzuhören so- wie – im Mehrheitsverfahren – Schlussfolgerungen zu beschließen. Damit kann eine wirksame Kontrolle der GASP und GSVP im Einklang mit den europäischen Verträgen sichergestellt werden. Wenn die Linke für eine nach ihrem Antrag über- gangsweise einzurichtende interparlamentarische Ver- sammlung „ein Ablehnungsrecht bzw. Zustimmungs- recht zu allen Maßnahmen der GASP“ einfordert, verkennt sie damit völlig die intergouvernementale Aus- richtung der GASP. Auch nach dem Vertrag von Lissa- bon haben die Mitgliedstaaten das letzte Wort in fast allen Feldern der GASP und der GSVP. Interparlamentari- sche Beteiligung muss daher folgerichtig auf Unterrich- tung und Kontrolle beschränkt sein. Darüber hinausge- hende Zustimmungsrechte eines interparlamentarischen Gremiums wären mit den geltenden europäischen Ver- trägen unvereinbar und würden zudem GASP und GSVP im Vergleich zu anderen europäischen Politikfeldern eine singuläre Stellung zubilligen, die durch ihre Bedeu- tung im europäischen Kompetenzgefüge nicht zu recht- fertigen ist. Im Antrag der Fraktion Die Linke darf erneut die Be- hauptung nicht fehlen, dass es mit dem Vertrag von Lis- sabon zu einer „Militarisierung“ der GASP gekommen sei. Dies entbehrt nicht nur jeglicher Substanz, denn eine solche „Militarisierung“ – was immer die Linke genau darunter verstehen mag – ist weder im Vertragstext ange- legt noch ist in der politischen Praxis erkennbar, dass es in irgendeiner Weise zu einer Überbetonung der militäri- schen Komponente der GASP gekommen wäre. Die Mi- litarisierungsrhetorik der Linken belegt vielmehr auch, dass sie weiterhin in ihren Denkschablonen des Kalten Kriegs verfangen ist. Für uns steht fest: Die europäische Integration ist das größte und erfolgreichste Friedenspro- jekt, das unser Kontinent je gesehen hat. Dietmar Nietan (SPD): Leider kommt selten genug vor, dass wir uns an dieser Stelle über die Zukunft und die parlamentarische Mitgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union austauschen können. Dass wir dazu nun im Abstand von genau vier Wochen bereits zum zweiten Mal die Gele- genheit haben, begrüße ich sehr. Wir müssen uns mit diesen Themen nicht nur in Sonntagsreden auseinander- setzen, wir in diesem Hause müssen dauerhaft erkennen, dass sich der Erfolg unserer deutschen Außenpolitik zu- künftig nur dann vollständig wird entfalten können, wenn wir sie fest in einen europäischen Rahmen einzu- binden verstehen. In seiner gestrigen Antrittsrede zu Beginn der polni- schen EU-Ratspräsidentschaft vor unseren Kollegen des Europäischen Parlaments hat Premierminister Donald Tusk gesagt: „Was ist die Antwort auf die Krise? Ein Abwenden von Europa oder das Festhalten an etwas, das für viele Jahre sehr gut funktioniert hat? Die Antwort auf die Krise Europas kann nur ein Mehr an Europa sein. Wir werden unsere Präsidentschaft mit einem Schuss von polnischem Optimismus, Enthusiasmus und Energie versehen: denn wir glauben an Europa.“ Ich nehme diese wohltuenden Worte an dieser Stelle zum Anlass, daher noch einmal das zu wiederholen, was ich vor wenigen Wochen bereits gesagt habe: Ja, die Au- ßen- und Sicherheitspolitik liegt nach wie vor in der hauptsächlichen Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten, ihrer Regierungen und Parlamente. Daran hat auch der Vertrag von Lissabon nichts geändert. Doch seit dem 1. Dezember 2009 hat Europa eine Quasiaußenministe- rin mit Catherine Ashton, und seit dem 1. Januar 2011 verfügt sie endlich auch über einen neugeschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst, EAD, als Quasi-EU- Außenministerium. Dies ist eine wichtige und positive Neuerung, die mittel- und langfristig dazu beitragen wird, das Stimmengewicht der EU in der Welt zu ver- stärken. Voraussetzung dafür ist aber, dass auch die Re- gierungen der EU-Mitgliedstaaten sich dem Ziel eines einheitlichen, kohärenten und wirksamen außen- und si- cherheitspolitischen Handelns der EU verschreiben. Denn formal betrachtet ist der EAD und mit ihm die Position der Hohen Vertreterin natürlich „nur“ eine neue Institution im Organisationsaufbau der EU. Wenn es je- doch in den kommenden Jahren gelänge, ihn als Dienst im Dienste aller EU-Institutionen aufzubauen, könnte er auch als neues, identifikationsstiftendes Element einer Europäischen Union betrachtet werden, die endlich im 21. Jahrhundert angekommen ist: als echtes Gemein- schaftsprodukt der Europäischen Kommission, des Rates der EU und auch des Europäischen Parlamentes. Aus- schlaggebend hierfür ist maßgeblich der aufrichtige poli- tische Wille der Mitgliedstaaten. Wenn wir uns dem Thema der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mit einem gewissen Maß an Weit- sicht und Verstand nähern, und wir trotz aller Krisen – so wie es Donald Tusk mit seinem Satz „Wir brauchen mehr Europa“ als Losung ausgegeben hat – der EU mehr Gewicht in der Welt verleihen wollen, müssen wir in der Außenpolitik aufhören, zuerst in nationalen Kategorien zu denken. Wir brauchen eine Debatte über eine „Euro- päisierung der Außen- und Sicherheitspolitik“, nicht im verfassungsrechtlichen Sinne, sondern im Sinne eines Paradigmenwechsels im Denken. Deutschlands Außen- politik wird auch weiterhin von nationalen Interessen be- stimmt werden, aber unser internationales Handeln lässt sich schon lange nicht mehr von Europa lösen. Ich habe bereits in meiner vergangenen Rede darauf hingewiesen: Außenpolitische Entscheidungen, wie jüngst die deut- sche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat bei der Libyen- Resolution 1973, haben wohl allen deutlich vor Augen geführt, dass die uneinheitliche Abstimmung, bei der vier europäische Nationen – Frankreich, Großbritannien, Portugal und Deutschland – am Tisch saßen, dem Pro- 14196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) jekt „Europas Einfluss in der Weltpolitik stärken“ einen wahren Bärendienst erwiesen hat. Wir müssen aus die- sen Fehlern lernen und die richtigen Konsequenzen zie- hen. Aber im September steht schon die nächste Bewäh- rungsprobe vor der Tür. Auf der kommenden Generalver- sammlung der Vereinten Nationen könnte die Situation eintreten, dass über eine einseitige Unabhängigkeits- erklärung eines palästinensischen Staates abzustimmen ist. Man sollte also davon ausgehen, dass die Bundes- regierung alles unternimmt, um innerhalb der Europäi- schen Union eine einheitliche Haltung zur Anerken- nungsfrage zu bilden. Das ist aber nicht der Fall, im Gegenteil. Während unsere Partner in London und Paris sich zu Recht alle Optionen offenhalten wollen, um eine bevorstehende Konfrontation zwischen Israel und Paläs- tina in New York noch durch europäische Vermittlung abzuwenden, hat sich die Bundesregierung bereits mit deutlicher Kritik an einem solchen Schritt der Palästi- nenser vorfestgelegt und damit ihren Handlungsspiel- raum massiv eingeschränkt. Mit dieser Debatte über die Theorie und Praxis einer notwendigen und unausweichlichen Europäisierung der Außen- und Sicherheitspolitik müssen sich alle nationa- len Parlamente und das Europäische Parlament aus- einandersetzen. In Ermangelung eines Gremiums, in dem Vertreter aller nationalen Parlamente und des EPs dies regelmäßig und vor allem gemeinsam tun können, hat meine Fraktion auch als erste einen entsprechenden Antrag mit dem Titel „Für eine wirkungsvolle interparla- mentarische Begleitung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon“ eingebracht. Denn wir sind der Meinung, dass sich die Weiterentwicklung der GASP/GSVP auch in den zu eta- blierenden parlamentarischen Kontrollstrukturen wie- derfinden muss. Damit komme ich auch endlich zum vorliegenden Antrag unserer Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke. Es gibt genau drei Sätze in ihrem Antrag, de- nen ich ohne größere Bedenken zustimmen kann. Der eine lautet im Feststellungsteil unter 1. „Mit dem Vertrag von Lissabon hat die Bedeutung der GASP/GSVP signi- fikant zugenommen.“ Der zweite findet sich ebenfalls auf Seite 1 unter 7.: „Der Deutsche Bundestag unter- stützt die Bemühungen anderer nationalstaatlicher Parla- mente wie auch des Europäischen Parlaments für Schritte zu einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle der GASP und der GSVP.“ Der letzte Satz unserer Über- einstimmung findet sich auch im letzten Satz ihres An- trages, in dem festgehalten wird, dass eine zu gründende interparlamentarische Konferenz für die GASP/GSVP den nationalen Parlamentsvorbehalt zur Entsendung von Bundeswehrsoldaten nicht beeinträchtigen kann. Mit al- len anderen Sätzen ihres Antrages habe ich leichte bis massive Schwierigkeiten. Angefangen von der teilweise etwas unsystematischen Struktur ihres Gesamtantrages, der ständig zwischen politischen, juristischen und struk- turellen Aspekten wild hin und her springt, bis hin zu ih- rem mantraartig vorgetragenen Vorwurf einer schlei- chenden Militarisierung der europäischen Außenpolitik, den ich in dieser Form als vollkommen überzeichnet empfinde. Ganz zu schweigen von der sachlich schlicht falschen Suggestion, die sie hier einflechten, der EU- Haushalt sei parlamentarisch nicht ausreichend kontrol- liert. Das Gegenteil ist doch der Fall, wie die starke Ver- handlungsposition des EPs gegenüber der Hohen Reprä- sentantin beim Aufbau des EAD deutlich unter Beweis gestellt hat. Was wir viel mehr brauchen, ist eine neue interparla- mentarische Struktur, die es auch uns nationalen Abge- ordneten ermöglicht, auf die formellen und informellen Kontroll- und Einflussmöglichkeiten des Europäischen Parlamentes gegenüber der EU-Kommission, der Hohen Vertreterin und dem EAD zurückgreifen zu können, um wirklich europäisch, das heißt kooperativ gegenüber den Institutionen der EU und den Mitgliedstaaten agieren zu können. Daher muss diese zu erarbeitende, neue inter- parlamentarische Struktur sicherstellen, dass sich die Abgeordneten des EPs und der nationalen Parlamente auf gleicher Augenhöhe begegnen. Ziel muss es sein, die Parlamentarier, die auf der nationalen Ebene in die Ent- scheidungsfindung in den Bereichen Außen-, Sicher- heits- und Verteidigungspolitik eingebunden sind, mit den für diese Bereiche zuständigen Abgeordneten des Europäischen Parlamentes zusammenzubringen. Nur so bilden wir eine neue Allianz von EU-Parlamentariern und Abgeordneten der nationalen Parlamente, die Debat- ten wie die über den Umgang mit diktatorischen Regi- men, die ihre eigene Bevölkerung massiv und gewaltsam unterdrücken, wie im Falle Libyens, oder die bereits ge- schilderte Entscheidung im Falle Palästinas führen und in ihre jeweiligen Länder zurücktragen können. Unser Vorschlag zur Schaffung einer neuen interpar- lamentarischen Konferenz bedeutet jedoch nicht, dass wir eine weitere Entscheidungsebene oder gar eine neue, eigenständige Institution schaffen wollen. Wir wollen auch keine Kompetenzen des Deutschen Bundestages in der Außen- und Sicherheitspolitik „durch die Hintertür“ nach Brüssel transferieren. Aber wir sind fest davon überzeugt, dass eine nah an den Strukturen und Arbeits- möglichkeiten des EPs angegliederte interparlamentari- sche Struktur sowohl zu effektiveren „Kontrollmöglich- keiten“ der GASP/GSVP durch die Parlamente in den Mitgliedstaaten führt als auch am besten dazu geeignet ist, im Geiste des Vertrages von Lissabon zu einer Euro- päisierung der Außen- und Sicherheitspolitik beizutra- gen. Diesen Sinn und Zweck erfüllt der vorliegende An- trag leider in keiner Weise. Aus diesem Grund können wir ihm auch nicht zustimmen. Denn lassen Sie mich den Schlusssatz meiner letzten Rede zu diesem Thema noch einmal wiederholen: Es liegt an uns Bundestagsabgeordneten, Deutschland zu einem Vorreiter und nicht zu einem Hemmschuh auf dem Weg zu einer zukunftsweisenden gemeinsamen eu- ropäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Oder wie es Donald Tusk in seiner Rede vor dem Euro- päischen Parlament sagte: „Je mehr Europa, desto weni- ger Krise.“ Joachim Spatz (FDP): Vor wenigen Wochen haben wir an dieser Stelle über die Anträge der Koalition, der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14197 (A) (C) (D)(B) SPD sowie der Grünen zur parlamentarischen Kontrolle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bezie- hungsweise der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik der Europäischen Union debattiert. Bei allen Differenzen, beispielsweise in Fragen der Zusam- mensetzung bzw. der organisatorischen Ausgestaltung des zu errichtenden parlamentarischen Gremiums, wie- sen die Anträge eine Gemeinsamkeit auf: Sie waren alle- samt von der Überzeugung getragen, dass die Europäi- sche Union durch den Vertrag von Lissabon in Fragen der Außenpolitik einen großen Schritt vorangekommen ist und dass der Weg verstärkter Integration im Bereich der GASP und der GSVP unbedingt weiter beschritten wer- den muss. Diesen vernünftigen Grundtenor vermag ich im vorliegenden Antrag der Linken nicht zu erkennen. Stattdessen ist Ihr Antrag von Feststellungen und Forde- rungen wie beispielsweise der grundsätzlichen Ableh- nung von Militäreinsätzen der Europäischen Union durchzogen, die sich fernab jeglicher sicherheits- und verteidigungspolitischer Realitäten bewegen. Gerade der von Ihnen kritisierte Aufbau ziviler und militärischer Kapazitäten auf EU-Ebene hat maßgeblich dazu beige- tragen, die Europäische Union im Bereich der internatio- nalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung als maßgeblichen Akteur zu etablieren. Dabei stellen die militärischen EU-Missionen einen wichtigen Beitrag zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Wir begrüßen die Entwicklung einer fortschreitenden Integration im Bereich der GASP/GSVP ausdrücklich. Die Rolle der EU als internationaler Akteur wird sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht weiter stei- gen. Ich will die Gelegenheit nutzen und an dieser Stelle erneut die uns wichtigen Punkte in der Frage der weite- ren Entwicklung im Bereich der GASP/GSVP skizzie- ren: Um den Integrationsprozess in dem hoch sensiblen Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik schrittweise gestalten zu können, ist es angebracht, sich rechtzeitig darüber Gedanken zu machen, wie die Entwicklungen mit den Bürgern rückgekoppelt werden können, geht es letztlich doch um die Perzeption elementarer Sicher- heitsbedürfnisse. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen noch – teilweise wesentliche – Unterschiede bei der Defini- tion dessen, was in Europa als Sicherheitsinteresse zu gelten hat und welche Mittel zur Deckung dieser Interes- sen von Nöten sind. Daher muss parallel zu den sich vollziehenden Schritten der Integration ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden, der am Ende ein gesamt- europäisches Sicherheitsbewusstsein schafft. Dabei muss die Bevölkerung mitgenommen werden. Erst wenn es uns gelingt, gemeinsame sicherheitspolitische Interes- sen politisch zu definieren und diese auch von der Be- völkerung wahrgenommen und akzeptiert werden, kann Europa sein Potenzial in der Gemeinsamen Außen-, Si- cherheits- und Verteidigungspolitik komplett entfalten. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union gehören unserer Ansicht nach auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten. Wenn sich die nationalen Regierungen in Brüssel im Sinne der fort- schreitenden Integration im Bereich der GASP – sinnvol- lerweise – auf weitergehende Maßnahmen verständigen, die mindestens indirekt Auswirkungen auf die nationale Außen- und Sicherheitspolitik haben, ist aus unserer Sicht eine intensive parlamentarische Begleitung durch die nationalen Parlamente dringend erforderlich. Die im Antrag von CDU/CSU und FDP skizzierte Interparla- mentarische Konferenz ist ein erster wichtiger Schritt hierfür. Die parlamentarische Begleitung der GASP und GSVP ist nach den neuen Vertragsbestimmungen nicht auf das Europäische Parlament übergegangen. Vielmehr wurde eine bewusste Entscheidung dahin gehend getrof- fen, dass beide Materien als zwischenstaatliche Aufgabe wahrzunehmen sind und in maßgeblicher Verantwortung der Mitgliedstaaten verbleiben. Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo beispielsweise für Auslandseinsätze der Bundeswehr auch weiterhin die konstitutive Zustim- mung des Deutschen Bundestages erforderlich bleibt. Der Schlüssel liegt meiner Ansicht nach in der ebe- nenübergreifenden Vernetzung der parlamentarischen Akteure im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir benötigen diese parlamentarische Dimension im Be- reich der GASP und GSVP. Sie ist eine wichtige Voraus- setzung dafür, dass eine tiefgreifende Integration des bis- lang nicht vergemeinschafteten Politikfeldes gelingen kann. Diese wird umso effizienter, je stärker nationale Parlamente und das Europäische Parlament miteinander verknüpft werden. Unser Ziel ist es daher, die wichtigs- ten parlamentarischen Akteure der nationalen Parla- mente mit den Kollegen aus dem Europäischen Parla- ment in einer Interparlamentarischen Konferenz zu vernetzen. Wir sind der Überzeugung, dass das Gremium in sei- ner Zusammensetzung die Vielfalt der nationalen Parla- mente widerspiegeln sollte, und schlagen vor, dass die Mitgliederzahl sich proportional am Schlüssel der Parla- mentarischen Versammlung des Europarates orientiert. Die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments sollte dabei der Anzahl der Mitglieder des größten Mit- gliedslandes entsprechen. Bei der Besetzung der Delega- tionen sollten die beteiligten Parlamente unserer Ansicht nach frei sein, um zu gewährleisten, dass den Themen entsprechend wechselnde Mitgliedschaften möglich sind. So schaffen wir ein hinreichendes Maß an Flexibi- lität, das dazu geeignet ist, die thematische Bandbreite der GASP und GSVP zu reflektieren. Nachdem die Parlamentspräsidenten im Frühjahr un- ter belgischem Vorsitz das Thema erstmals diskutiert ha- ben, wird es im nächsten Jahr nun Aufgabe des polni- schen Parlamentspräsidenten sein, eine Einigung über Ausgestaltung und Etablierung der Interparlamentari- schen Konferenz zu erzielen. Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dem von uns eingebrachten Antrag eine sehr gelungene Grundlage für die weiteren Verhandlun- gen vorgelegt haben, und wir werden aktiv bei unseren europäischen Nachbarn für unseren Vorschlag und die damit verbundenen Vorstellungen werben. 14198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits vor vier Wochen haben wir hier über die parlamentari- sche Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Si- cherheitspolitik der EU debattiert. Nun zieht die Linke nach – warum erst jetzt? Darüber könnte man ja hinwegsehen, wenn Sie in Ih- rem Antrag den Versuch machen würden, das zu schaf- fen, was bis jetzt an der Engstirnigkeit der Koalitions- fraktionen gescheitert ist: nämlich für eine gemeinsame Position des Deutschen Bundestags zu werben. Aber Sie können ebenso wenig über Ihren Schatten springen, wie es die schwarz-gelben Kolleginnen und Kollegen in der letzten Debatte vermocht haben. In Ih- rem Antrag stimmen sie wieder das alte Lied von der Militarisierung der Europäischen Union an und lehnen jeglichen Militäreinsatz grundsätzlich ab. Damit zeigen sie nur, dass Sie an einer Europäischen Union, die sich aktiv für Frieden und Sicherheit in der Welt einsetzt, nicht interessiert sind. Das Grundproblem der europäischen Außen- und Si- cherheitspolitik liegt aber woanders: in ihrer mangeln- den demokratischen Legitimation. Sie stellen richtig fest, dass die Anzahl von EU-Missionen in den letzten Jahren angestiegen ist. Der Vertrag von Lissabon hat lei- der in diesem Bereich kein Mehr an demokratischer Kontrolle gebracht. In dieser Beurteilung gibt es immer- hin einen fraktionsübergreifenden Konsens. Sie verlangen nun einen neuen Europäischen Vertrag. Solange es den nicht gibt, verlangen sie eine Interparla- mentarische Versammlung mit weitgehenden Befugnis- sen. Betrachtet man, wie sie die Versammlung ausgestal- ten wollen, muss man leider feststellen, dass Sie die Funktionsweise der Gemeinsamen Außen- und Sicher- heitspolitik nicht verstanden haben. Entweder ist Ihnen nicht bekannt, dass dieses Politikfeld intergouvernemen- tal organisiert ist, oder Sie wollen Ihren Wählern Mög- lichkeiten vorgaukeln, von denen Sie genau wissen, dass sie innerhalb des geltenden EU-Vertrages nicht umsetz- bar sind. Das ist nicht redlich. Sie wollen diese Versammlung gleich zu einem Qua- siparlament aufblähen – mit Ablehnungs- und Zustim- mungsrecht, mit einer Vielzahl an eigenen Ausschüssen, Mitentscheidungsrechten über Personalfragen und zu- sätzlicher Bürokratie durch ein eigenes, ständiges Sekre- tariat. Das hat wenig mit einem realistischen Politikver- ständnis zu tun. Die Grundidee einer Interparlamentarischen Ver- sammlung teilen wir ja mit Ihnen. Wir Grüne setzen uns auch dafür ein, dass Abgeordnete der nationalen Parla- mente und des Europäischen Parlaments im Rahmen ei- ner gemeinsamen Versammlung zusammenkommen. So wird der Raum für einen Informationsaustausch geschaf- fen, der zu einer effektiven Kontrolle notwendig ist. Diese Versammlung soll weitgehende Kontrollrechte ge- genüber Frau Ashton erhalten. Gleiches gilt gegenüber dem Europäischen Auswärtigen Dienst, der EU-Kom- mission, dem Rat und dem Politischen und Sicherheits- politischen Komitee. Wir setzen uns auch dafür ein, dass Abgeordnete aus den potenziellen EU-Beitrittsländern mit Beobachterstatus eingeladen werden. Der konkrete Teilnehmerkreis soll sich nach den Themenschwerpunk- ten richten und so Mitglieder aus den Ausschüssen für Außen, Europa, Verteidigung, Entwicklung und Men- schenrechte umfassen. Diese Versammlung soll weitge- hende Fragerechte gegenüber den EU-Institutionen erhalten sowie das Recht, eigene Schlussfolgerungen zu verabschieden. Ebenso muss gewährleistet sein, dass sich diese Interparlamentarische Versammlung regelmä- ßig trifft und ausdrücklich die Möglichkeit zu Ad-hoc- Treffen sowohl auf Initiative der nationalen Parlamente als auch des Europäischen Parlaments gewährleistet ist, falls aktuelle Themen dies erfordern. So wäre innerhalb des geltenden Vertragsrechts eine angemessene und ef- fektive EU-weite parlamentarische Beteiligung gesi- chert. Zum Abschluss muss ich nochmals bedauern, dass es bisher nicht gelungen ist, eine fraktionsübergreifende Verständigung zu erreichen, was die parlamentarische Kontrolle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- politik betrifft. Die Koalitionsfraktionen haben hier bis- her die Chance einer konstruktiven Zusammenarbeit nicht genutzt. Die Verhandlungen waren doch bereits auf gutem Wege. Unter Leitung des CDU-Kollegen Polenz hatten wir uns doch bis auf wenige Punkte angenähert, bis Sie den Dialog abgebrochen haben. Sie haben es vor- gezogen, die Koalitionsmeinung durchzusetzen, statt in dieser auf die EU ausstrahlenden Frage auf eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag hinzuarbeiten. Und auch der Antrag der Linken leistet leider keinen Beitrag dazu. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Großen Anfrage: Effektivie- rung des Jugendschutzes (Tagesordnungs- punkt 19) Dorothee Bär (CDU/CSU): Kinder und Jugendliche haben ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf die Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Hierbei sind grundsätz- lich zunächst die Eltern gefragt: Pflege und Erziehung der Kinder sind nach Art. 6 GG ihr natürliches Recht und die ihnen obliegende Pflicht. Es gibt jedoch immer wieder Fälle, in denen eine lückenlose elterliche Kon- trolle entweder kaum möglich ist oder faktisch nicht stattfindet. Kein Elternteil kann selbstständig verhin- dern, dass sein Kind zu jedem Zeitpunkt vor Gefährdun- gen sicher ist. Insofern sind Eltern darauf angewiesen, dass der Staat Gesetze erlässt, die im Alltag Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung ein Mindestmaß an Schutz bieten. Dieser Aufgabe sind wir mit der Schaf- fung des Jugendschutzgesetzes nachgekommen, das am 1. April 2003 in Kraft getreten ist. Darauf ruhen wir uns jedoch nicht aus. Da wir den Ju- gendschutz als zentrale Angelegenheit ansehen, ist auch seine Verbesserung unsere ständige Aufgabe. Insbeson- dere ist eine stetige Kontrolle des Vollzuges für einen ef- fektiven Jugendschutz unerlässlich – denn Gesetze al- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14199 (A) (C) (D)(B) leine vermögen unsere Kinder und Jugendlichen nicht zu schützen. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Dro- gen- und Suchtprävention von Jugendlichen, die eine wichtige Aufgabe für uns darstellt. Zur Verbesserung des Vollzugs gilt es vor allem, die bestehenden Maßnahmen zu optimieren und zu vernetzen. Zu diesem Zwecke wer- den wir einen Nationalen Aktionsplan verabschieden. Dies haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, und da- für setze ich mich ein. Ein umfassendes Konzept wird derzeit von der Bunderegierung entwickelt. Der Vorwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass hier weitge- hende Untätigkeit herrsche, ist damit nicht haltbar. Ausdrücklich widersprechen möchte ich an dieser Stelle auch der pauschalen Behauptung, dass es im Ju- gendschutz eine „Vielzahl unwirksamer freiwilliger Selbstverpflichtungen“ gebe. Diese Selbstverpflichtun- gen der Wirtschaft, die sich vornehmlich auf die Berei- che Werbung und Telemedien beziehen, sind keineswegs unwirksam, sondern haben sich in der Praxis stetig be- währt. Insbesondere gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Selbstverpflichtungen im Bereich der Werbung nicht funktionieren. 91 Prozent der Unternehmen, deren Wer- bung beanstandet wurde, änderten aufgrund ihrer Kritik ihre Werbung oder nahmen diese aus den Medien. Effektiven Jugendschutz zu leisten, ist eine ständige Aufgabe, derer wir uns annehmen müssen und wollen. Die Verabschiedung eines nationalen Aktionsplans Ju- gendschutz haben wir auf der Agenda. Abschließend lässt sich festhalten, dass wir die Zuwendungen für den Jugendschutz seit dem Jahr 2003 vervierfacht haben. Nicht zuletzt dies zeigt, wie wichtig uns das Thema Ju- gendschutz ist. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Die Große An- frage und der Entschließungsantrag der Fraktion Bünd- nis90/Die Grünen zielen auf eine Effektivierung des Ju- gendschutzes in Deutschland ab. Ich freue mich, dass auch die Grünen dieses Thema entdeckt haben und sich in die Diskussion einbringen. Verwundert bin ich jedoch, dass in dem Entschließungsantrag die, wie ich finde, ex- zellente Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ nicht mit einem Wort gewürdigt wird. Denn in deren Projektgruppe Medienkompetenz und Jugendschutz haben wir gerade vor zwei Wochen den Bericht verabschiedet, der bei vielen Aspekten Hinweise in die richtige Richtung gibt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Ist der Jugendschutz, wie wir ihn aus dem Offlinebereich kennen, auch ein Jugendschutz für den Onlinebereich? Das Scheitern der Novelle des JMStV macht das Fra- gezeichen größer. Und die Frage muss gestellt werden, ob die staatlich beauftragte Herstellung eines Jugend- schutzprogramms für Windows von Microsoft wirklich das Fundament sein soll, auf dem ein gesamtes Gesetz- gebungsverfahren aufbaut, das der ultimative Schutz vor jugendgefährdenden Inhalten sein soll? Technik wird meines Erachtens keine rechtlichen Pro- bleme im Netz lösen. Das gilt für Netzsperren genauso wie für Jugendschutzprogramme. Daher braucht es ein neues Leitmotiv. Die Enquete hat es so formuliert, dass dies vor allem der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor dem unbeabsichtigten Kontakt mit ungeeigneten In- halten sein soll. Das bedeutet aber auch: Der Jugendschutz im Internet muss auch eine umfassende Stärkung der Medienkompe- tenz von Kindern und Jugendlichen sowie auch von de- ren Eltern beinhalten. Die Projektgruppe Medienkompe- tenz in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat dazu vor zwei Wochen Handlungs- empfehlungen vorlegt, die wir nun mit Leben füllen wer- den. Natürlich müssen die medienpolitischen Aktivitäten des Bundes und der Länder stärker miteinander verbun- den werden. Die Vielzahl der teilweise vorbildlichen Projekte erschwert eine Orientierung für den Ratsuchen- den. Eine stärkere Vernetzung schafft Synergieeffekte. Wir müssen Kinder und Jugendliche auch schon dort ansprechen, wo sie im Internet unterwegs sind. Daher empfiehlt die Projektgruppe Medienkompetenz die ver- stärkte Nutzung viraler Kampagnen zur Aufklärung. Die von der christlich-liberalen Bundesregierung unter- stützte Kampagne „Watch Your Web“ hat dabei vielver- sprechende Ansätze präsentiert. Die sozialen Netzwerke haben durchaus nachvollziehen können, dass die Nutzer in der Folge ihre Privatsphäreeinstellungen angepasst haben. Dies ist umso bedeutender, wenn man bedenkt, dass die Kinder und Jugendlichen die größten Gefahren nicht in ungeeigneten Inhalten wie Pornografie oder Ge- walt erkennen, sondern für sie stehen vielmehr die Ge- fahren aus der sozialen Interaktion im Vordergrund. Schlagworte wie Mobbing, Bullying und Grooming seien hier nur exemplarisch genannt. Auch wir wollen Eltern sensibilisieren und als Multi- plikatoren ansprechen. Dazu können Informations- abende oder auch die Eltern-LANs der Bundeszentrale für politische Bildung als sinnvolle Initiativen genannt werden. Es existieren auch zahlreiche andere Vorhaben, wie die Elternabende der Landesanstalt für Medien in NRW. Hier engagieren sich IT-Experten ehrenamtlich für eine Medienbildung bei den Eltern. Dabei steht die Stärkung des Erziehungsrechts der Eltern im Vorder- grund. Nur wenn sie selbst verstehen, wie das Internet funktioniert, können sie dieses Wissen an ihre Kinder weitergeben. Auch die von der Bundesregierung unterstütze Initia- tive „Ein Netz für Kinder“ muss weiter gestärkt werden. Insbesondere in der Zielgruppe der Kinder kann es uns gelingen, sichere Surfräume zu schaffen. Die medienpä- dagogische Begleitung dieses Projekts sichert attraktive Angebote zur Medienbildung für Kinder und vermittelt grundlegende Fertigkeiten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat in ihrer An- frage mehrmals auf das Spannungsverhältnis von Ju- gendschutz im Internet hingewiesen, ohne dabei auch auf Landeszuständigkeiten Rücksicht zu nehmen. Das ist nicht überraschend. Sie wissen aber so gut wie ich, dass Glücksspiele im Internet in der Zuständigkeit der Bun- 14200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) desländer liegen, was auch die anhaltende Diskussion um die Novellierung des Glücksspielstaatsvertrags deut- lich macht. Eine Diskussion, in deren Verlauf diverse Landesregierungen plötzlich zu Anhängern des Instru- mentes der Netzsperren geworden sind. Dennoch möchte ich noch zwei Anmerkungen zur Novelle des JMStV machen. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Gesetze für die Betroffenen auch verständ- lich sind. Die umfangreichen Diskussionen haben ge- zeigt, dass dies beim JMStV-Entwurf nicht der Fall war. Als zweites müssen Gesetze auch technisch plausibel sein. Auch hier gab es große Defizite, und ich stelle meine Eingangsfrage erneut: Sind wir wirklich über- zeugt, dass ein Windows-Programm die Lösung für den Jugendschutz ist, wo nicht nur die dahinterliegende Technikgläubigkeit zweifelhaft ist, sondern alle Studien sagen, dass die meisten Jugendlichen in Zukunft mit mo- bilen Geräten surfen, die nicht auf Windows basieren? Aber wir müssen das Augenmerk auch auf die eigene Gesetzgebung richten. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage offen bekundet, dass derzeit eine Überprüfung des Jugendschutzgesetzes auch in Teilen des Jugendmedienschutzes läuft. Natürlich sind wir uns dabei der Tatsache bewusst, dass nationale Ju- gendschutzregelungen nicht über die Grenzen der Bun- desrepublik Deutschland hinaus Wirkung entfalten kön- nen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass sich ein einheitliches internationales Jugendschutzniveau nicht realisieren lässt, da sich die Vorstellungen über die Zu- lässigkeit bestimmter Abbildungen zu sehr zwischen den Ländern unterscheiden. Ist in Deutschland die Darstel- lung von Gewalt gesellschaftlich geächtet, wird in den Vereinigten Staaten von Amerika die Darstellung nack- ter Haut sehr viel rigider gehandhabt. Ich bin zuversichtlich, dass die Empfehlungen der En- quete-Kommission auch in eine Überprüfung des Ju- gendschutzgesetzes durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einfließen wer- den. Aydan Özoğuz (SPD): Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat in ihrer Großen Anfrage einen umfassenden und sinnvollen Fragenkatalog zusammengestellt, der die Problematik und die Fragestellungen des Themas „Kin- der- und Jugendschutz“ gut umreißt. Es wäre schön ge- wesen, wenn auch die entsprechenden Antworten der Bundesregierung umfassend gewesen wären und mehr Erkenntnisse gebracht hätten. Jugendschutz ist zum einen immer der Schutz vor konkreten Gefährdungen, zum anderen beinhaltet der Gedanke des Jugendschutzes für mich aber auch die Prä- vention, nämlich die Befähigung von Kindern und Ju- gendlichen, Gefährdungen zu erkennen und selbstbe- wusst und selbstbestimmt damit umzugehen. Meist sind es die gut informierten, begleiteten und selbstbewussten Kinder und Jugendlichen, die den vermeintlichen Reizen von Alkohol, Tabak oder Glücksspiel widerstehen oder sich nicht in Online- oder Computerspielsucht verlieren. Dadurch wird deutlich: Präventiver Jugendschutz ist nicht nur Aufgabe des Staates und seiner ausführenden Behörden, sondern auch Aufgabe unserer gesamten Ge- sellschaft. Beispiel Alkoholkonsum. In Deutschland brauchen wir uns eigentlich nicht zu wundern, dass Kinder und Ju- gendliche viel zu häufig zur Flasche greifen. Deutsch- land nimmt im europäischen Vergleich regelmäßig „Spitzenpositionen“ beim Pro-Kopf-Konsum von Alko- hol ein. Jüngste Zahlen aus dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht belegen, dass wir seit der Ersterhebung 2000 eine Steigerung von 178 Prozent bei der Zahl von Jugendlichen haben, die wegen extensivem Alkoholkon- sum ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Das muss uns sehr besorgt machen. In der Kinderkommis- sion des Deutschen Bundestages herrscht anlässlich der Gespräche zum Jugendschutz Einigkeit, dass es eine Verharmlosung der Folgen des Alkoholkonsums gibt und dass darüber hinaus Alkohol in der Werbung – aber auch in manchen Elternhäusern – als etwas Besonderes dargestellt wird. Oder können Sie sich erklären, warum man in unseren Supermärkten Kindersekt kaufen kann? Zumindest sind in der Zwischenzeit Schokoladen- oder Kaugummizigaretten weitestgehend aus dem Handel verschwunden, auch wenn sie noch nicht verboten sind. Die Werbewirtschaft hat vor allem ihren Umsatz im Blick. Zahlreiche Werbespots für Bier- und andere alko- holhaltige Mischgetränke suggerieren unseren Jugendli- chen, dass ihnen der Genuss des beworbenen Getränks Attraktivität, Coolness und Erfolg bringen wird. Es be- darf hier keiner Namensnennung. Ich bin mir sicher, Sie alle haben die entsprechenden Bilder im Kopf. Der Konsum von Alkohol ist bei uns aber auch zu ei- ner gesellschaftlichen Normalität geworden. Alkohol ist der selbstverständliche Begleiter von Geburtstagsfeiern, Straßen-, Schützen- oder Feuerwehrfesten, und kaum ein Sieg bei einem sportlichen Wettkampf kann ohne ein Glas Sekt oder ein „Siegerbier“ begangen werden. Die Vorbildfunktion von Eltern und Gesellschaft ist meines Erachtens ein wichtiger Aspekt. Karl Valentin hat das sehr pointiert formuliert: „Kinder brauchen nicht erzo- gen werden, sie machen uns eh alles nach.“ Dies gilt es wohl im Besonderen bei schädlichen und gefährlichen Verhaltensweisen zu beachten. Was tut nun aber die Bundesregierung für einen bes- seren Jugendschutz? Zunächst haben Sie in Ihrem Koali- tionsvertrag vollmundig einen Nationalen Aktionsplan gemeinsam mit Ländern, Kommunen, Verbänden und Wirtschaft angekündigt, der „sowohl ein umfassendes Konzept zur Verbesserung des Jugendschutzes beinhaltet, als auch Maßnahmen zur Verbesserung der Partizipation, der Medienkompetenz und der Gewalt- sowie Suchtprä- vention vorsieht“. Ich habe mir erlaubt, im Februar 2010 nach dem Zeitplan für diesen Aktionsplan zu fragen. Ihre Antwort damals war, dass „ein konkreter und abge- stimmter Aktionsplan“ im Jahr 2011 vorliegen werde. In Ihrer Vorhabenplanung, die Sie zu Beginn des Jahres 2011 dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgelegt haben, ist davon aber nichts mehr zu lesen. Noch konkreter: Zum Thema Jugendschutz ist in dieser Vorhabenplanung gar nichts zu lesen. Die Frage 6 der Großen Anfrage nach der zeitlichen Planung bis zur Vorlage des Aktionsplans haben Sie vorsichtshalber erst Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14201 (A) (C) (D)(B) gar nicht beantwortet. Das Jahr 2011 hat noch einige Monate, ich bezweifle aber jetzt schon, dass Sie es schaffen werden, einen entsprechenden Aktionsplan im gesteckten Zeitrahmen vorzulegen. Lediglich vage Ankündigungen waren von der Bun- desregierung auch kürzlich erst zum Jugendschutz im Be- reich von Geldspielautomaten zu hören. Anstatt die ei- gene Drogenbeauftragte zu unterstützen, die aus Gründen des Jugendschutzes ein Verbot von Geldspielautomaten in Gaststätten und anderen öffentlichen Orten gefordert hatte, kamen postwendend Dementi aus dem Wirtschafts- und dem Gesundheitsministerium. Und selbst die für Ju- gendschutz zuständige Ministerin Schröder konnte sich nicht dazu durchringen, der Kollegin Dyckmans beizu- springen. Auf meine schriftliche Frage hin wurde lediglich auf eine Ausweitung von technischen Sicherungsmaß- nahmen an Spielgeräten verwiesen, die das Wirtschafts- ministerium nun prüft. Es überrascht wahrscheinlich nicht, dass die Auskünfte aus dem Wirtschaftsministe- rium zu besagten technischen Sicherungsmaßnahmen ziemlich unkonkret waren. Ich zitiere: „Einzelheiten, ein- schließlich der Frage, welche Übergangsfristen notwen- dig sind, werden noch geprüft.“ Auch hier ist Ihr Ziel, noch im Jahr 2011 Änderungen in der Spieleverordnung vorzunehmen. Auch hier bin ich gespannt, was Sie uns vorlegen werden. Aber dass Sie ihre eigene Drogenbeauf- tragte im Regen stehen lassen, scheint ja gute Tradition zu sein. Die Drogenbeauftragte Frau Dyckmans selbst räumte in einem Gespräch mit dem Familienausschuss am 6. Oktober 2010 ein, dass die Kürzungen im Bundes- haushalt 2011 für Präventionskampagnen von nahezu 20 Prozent ihre Arbeit erheblich erschweren. Im Bundes- haushalt 2011 wurde an allen Programmen gekürzt. So stehen für Maßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmissbrauches statt 8,2 lediglich 7,7 Millionen Euro zur Verfügung. Die wichtigen Präventionskampa- gnen gegen Suchtmittel wurden ebenfalls um mehrere Hunderttausend Euro zusammengestrichen. Und wie dem Haushaltsentwurf 2012 zu entnehmen ist, soll noch wei- ter gekürzt werden. Gerade aber auf der Präventionsseite sollten Sie nicht sparen. Wir brauchen mehr Prävention. Sowohl bei der Verhaltens- als auch bei der Verhältnisprävention. Pro- jekte wie beispielsweise KAfKA, die ein stärkeres Be- wusstsein für die gesetzlichen Bestimmungen des Ju- gendschutzes in den Verkaufsstellen vermitteln wollen, sind flächendeckend sinnvoll. Diese Aufklärungsarbeit muss aber sicherlich von Kontrollen begleitet werden. Sie konstatieren in der Antwort auf Frage 3 ja selbst, dass es im Bereich des Jugendschutzes noch Optimierungsbe- darf beim Vollzug bereits bestehender Regelungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen gibt. Dies trifft in der Praxis für Supermärkte, Kioske, Tankstellen und Gaststätten – trotz der freiwilligen Selbstverpflichtung der Branchen und der Einführung von speziellen Kassen- systemen – gleichermaßen zu: Die allgemeine Anwen- dung bestehender Gesetze lässt schlicht zu wünschen üb- rig. Es wurde zwar reflexhaft nach strengeren Gesetzen gerufen, als ein 16-jähriger Berliner mit über 4 Promille in ein Krankenhaus eingeliefert wurde und in der Folge daran verstarb. Dabei zeigt ein Blick ins Jugendschutzge- setz, dass bereits das erste Glas harten Alkohols gar nicht hätte ausgeschenkt werden dürfen. Natürlich ist der tragi- sche Tod des Jugendlichen ein Extrembeispiel, die alar- mierend hohen Zahlen bezüglich der Krankenhauseinlie- ferungen, die ich bereits genannt habe, zeigen aber deutlich, dass es leider kein Einzelbeispiel ist und Wunsch und Wirklichkeit beim Jugendschutz in Deutschland lei- der oftmals noch weit auseinanderliegen. Die Bundes- regierung muss bei den Ländern, denen der Vollzug der Jugendschutzmaßnahmen unterliegt, stärker auf deren Einhaltung drängen. Ich hoffe, auch hierzu wird etwas in Ihrem Nationalen Aktionsplan stehen – wenn er denn ir- gendwann einmal vorliegen sollte. An dieser Stelle möchte ich aber auch noch meine Ver- wunderung zu einem ganz speziellen Sachverhalt zum Ausdruck bringen. Es handelt sich hierbei um Ihre Ant- wort auf Frage 12 zur Gewaltprävention und Ihre Planun- gen zu einem Projekt, „das Karriereverläufe bei jugendli- chen Gewalttätern untersuchen soll“. Sie schreiben hierzu: „In den Fokus genommen werden ausschließlich männliche Schwerststraftäter im Alter zwischen 14 und 20 Jahren und Täter mit Migrationshintergrund.“ Ich bin doch sehr verwundert über Ihre Kategorienbildung und den Sachzusammenhang, den Sie hier unterschwellig her- stellen. Unerhört, dass Sie innerhalb dieses Projektansat- zes einfache Straftäter mit Migrationshintergrund mit Schwerststraftätern gleichsetzen. Welches Signal wollen Sie damit geben? Frau Ministerin Schröder ist erst Ende letzten Jahres mit ihrem Versuch gescheitert, Menschen mit Migrationshintergrund eine erhöhte Gewaltbereit- schaft zu unterstellen. Ihre Thesen wurden auf ihrer eige- nen Pressekonferenz von ihren eigenen Sachverständigen öffentlich widerlegt. Wieso hören Sie nicht endlich auf mit diesen Kategorien? Straftäter sind Straftäter. Und Schwerststraftäter sind Schwerststraftäter – mit oder ohne Migrationshintergrund. Sagen Sie deutlich, für wel- che Gruppe Sie welche Untersuchungen und nächsten Schritte planen. Florian Bernschneider (FDP): Ich denke, eines wird sowohl durch Ihre Fragen als auch durch die Ant- worten der Bundesregierung deutlich: Der Jugendschutz ist ein Thema, das uns fraktionsübergreifend am Herzen liegt – auch wenn es in der Ausgestaltung unterschiedli- che Positionen gibt, sollten wir das grundlegende ge- meinsame Anliegen nicht aus den Augen verlieren, auch weil wir damit die Grundlage für eine sachorientierte und rationale Diskussion haben. Und gerade das ist wichtig: Nichts wäre schlimmer, als eine Diskussion über den Jugendschutz zu führen und dabei ein Bild der Jugend zu zeichnen, das vielleicht Zeitungsschlagzeilen, aber nicht der Realität entspricht. Und deswegen finde ich es auch wichtig, zu erwähnen, dass unsere Jugend in ihrer großen Mehrheit eben nicht vormittags in der Schule Gewaltvideos dreht, in der Pause den ersten Joint raucht, um dann erst den Nachmittag mit Killerspielen zu verbringen und sich am Abend mit Freunden zum Ko- masaufen zu treffen. Das ist eben nicht die Jugend von heute, und wir stehen in einer solchen Debatte auch in der Verantwortung, genau diesen Eindruck zu korrigie- ren, der viel zu häufig in den Medien vermittelt wird. Es 14202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) gilt vielmehr die vielen positiven Entwicklungen im Be- reich des Jugendschutzes zu betonen, zum Beispiel dass Jugendliche heute wesentlich bewusster mit Gefahren im Internet umgehen als noch vor einigen Jahren oder dass die Zahl der minderjährigen Raucher kontinuierlich sinkt. Trotzdem dürfen wir nicht die Augen davor verschlie- ßen, dass die uns allen bekannten Schlagzeilen zwar si- cherlich keine Massenerscheinungen sind, aber doch sehr wohl vorkommen. Wir als Politiker stehen in der Verantwortung, unseren Beitrag zu leisten, dass Jugend- liche in diesem Land sicher aufwachsen – das gilt gerade dort, wo die Eltern diese Gefahren nicht selbstständig verhindern können. Dabei gibt es immer zwei mögliche Wege, die wir beschreiten können. Der eine ist, Jugendli- che zu einem eigenverantwortlichen Handeln zu befähi- gen – dies ist ohne jede Frage der schwerere von beiden. Der einfachere ist immer: ein Gesetz, eine Regelung, ein Verbot. Das ist übrigens auch der medienwirksamere Weg, denn so antworten wir auf eine Schlagzeile mit ei- ner neuen. Der nachhaltigere Weg ist es deswegen aber bestimmt nicht, denn häufig wollen wir den tatsächli- chen Hintergrund einfach nur nicht wahrhaben. Ja mehr noch: Am Ende des Tages ist der Ruf nach Gesetzen und Verboten auch immer ein Stück weit das Eingeständnis, dass Politik zu lange versäumt hat, präventiv zu handeln. Wer rechtzeitig handeln will, muss aber auch wissen, an welchen Stellen er ansetzen muss. Und dazu ist es notwendig zu wissen, was Jugendliche bewegt! Wir ha- ben in der Vergangenheit Kinder- und Jugendpolitik häu- fig als gemeinsamen Politikbereich betrachtet. So wich- tig es ist, die Übergänge zwischen Kindheit und Jugend nicht aus den Augen zu verlieren, so notwendig ist es heute aber auch, die Jugendphase stärker in den Fokus zu nehmen, sie als eigenständigen Politikbereich zu be- trachten. Die FDP hat mit der Verabschiedung des Positionspa- piers „Für eine eigenständige Jugendpolitik“ am vergan- genen Dienstag einen ersten großen Schritt in diese Richtung unternommen. Die Koalition bereitet bereits konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung vor und wird diese in den nächsten Monaten in die politische Diskus- sion bringen. Sie wird sich dabei der formulierten Heraus- forderung stellen und Nachhaltigkeit in der Jugendpolitik den Vorrang gegenüber Schlagzeilen geben. Denn wir können es uns angesichts von bevorstehendem Fachkräf- temangel und demografischem Wandel schlichtweg nicht leisten, die Entwicklungsmöglichkeiten der jungen Men- schen in diesem Land nicht ausreichend zu schützen. Genauso wenig können wir es uns aber leisten, sie medi- aler Effekthascherei zu opfern. Die vorliegende Antwort der Bundesregierung zeigt aber auch, dass wir dabei nicht ständig das Rad neu er- finden müssen, sondern uns an vielen Stellen schon auf gute Mechanismen und Instrumente verlassen können. Aber ohne jede Frage – es lohnt sich auch das Beste- hende auf seine Wirksamkeit zu hinterfragen. Die Grü- nen fordern in ihrem Entschließungsantrag deswegen auch nicht zu Unrecht eine stärkere Evaluierung geför- derter Maßnahmen. Und so richtig ich diesen Ansatz auch finde, ich denke, dass wir der Sache einen großen Gefallen täten, wenn wir hier mal den leichteren Weg einschlagen. Natürlich kann man jedes geförderte Pro- jekt wissenschaftlich begleiten und es evaluieren. Man kann sich aber auch ganz einfach bewusst machen, dass es wenig Sinn ergibt, die gefühlt hundertste Projektho- mepage zur Prävention einzurichten, sondern die Ju- gendlichen im Internet da abzuholen, wo sie auch sind. Und das heißt dann auch festzustellen, dass 30 000 Be- sucher monatlich auf jugendschutzaktiv.de sicher keine schlechte Bilanz sind, aber dass die Besucherzahlen von Jugend-Communities im zweistelligen Millionenbereich wohl eher der richtige Ort wären, um Jugendliche im Netz anzusprechen (19,3 Millionen Besucher auf schueler.cc). Und manchmal braucht man auch keine wissenschaft- liche Expertise, sondern muss einfach nur die Kommen- tarfunktion von YouTube zur Auswertung unserer Maß- nahmen nutzen. Da steht dann zum Beispiel unter einem Video von Webman – dem Zeichentrickhelden, der im Rahmen von watchyourweb auf Datenschutz in sozialen Netzwerken aufmerksam machen soll: „Das ist so schlecht, dass es schon wieder schlecht ist“, oder ein an- derer Nutzer schreibt: „Ich find's eigentlich gut, dass man auf Datenschutz im Netz aufmerksam machen will, aber das ist doch echt lächerlich, oder?“. Auch wenn man am webman-Konzept offensichtlich noch arbeiten sollte, zeigt die Antwort der Bundesregie- rung doch auch, dass wir im Bereich der Medienkompe- tenz alles andere als untätig sind: Erstens. Im Projekt „Medienqualifizierung“ wurden 30 000 Erzieherinnen und Erzieher geschult. Zweitens. Mit der Kampagne „Schau hin – was deine Kinder machen“ werden Eltern aktiv auf die Gefahren für ihre Kinder im Internet hingewiesen. Drittens. Der Deutsche Computerspielepreis fördert wertvolle und der Entwicklung junger Menschen förder- liche Angebote. Viele weitere Projekte in diesem Bereich zeigen, dass hier bereits vieles auf den Weg gebracht wurde. Deswe- gen ist es natürlich nicht falsch, dass die Grünen den Punkt Medienkompetenz zum Beispiel von Eltern in ih- rem Antrag aufgreifen, aber ich denke, dass wir in der Praxis schon konkreter und weiter sind, als dass wir diese Selbstverständlichkeit erneut beschließen müssten. Lassen Sie mich noch abschließend etwas zu vielen Forderungen und Fragen der Grünen sagen, den Jugend- schutz statt in den Kommunen und Ländern stärker auf Bundesebene zu koordinieren: Ich denke, in vielen Punkten tun Sie der Sache keinen Gefallen, wenn Sie die Entscheidungen und damit auch die Auswirkungen von Jugendschutz für das ganze Land, von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen, vom Bundestag aus vordiktie- ren wollen. Sie haben mit Ihrer Frage nach einer engeren Verzahnung von Jugendämtern, Ordnungsämtern, Poli- zei- und Gewerbeaufsicht natürlich einen wichtigen Punkt angesprochen. Es hilft nichts, wenn das Ord- nungsamt Testkäufe durchführt und das Jugendamt an- schließend nicht über die Ergebnisse berät. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14203 (A) (C) (D)(B) Sie rufen aber wie so häufig nach verbindlichen, ge- setzlichen Standards auf Bundesebene für die Zusam- menarbeit der Akteure vor Ort. Ich sage: Es ist richtig, eine gute Zusammenarbeit der Akteure vor Ort zu för- dern. Es ist aber falsch, die Zusammenarbeit einem ver- meintlich alleingültigen Diktat zu unterwerfen, beson- ders wenn sich mit den genannten Ämtern und Behörden schon so viele jugendschutzrelevante Institutionen auf kommunaler Ebene befinden. Hier ist es viel sinnvoller, die Entscheidung über die richtigen Maßnahmen vor Ort zu treffen. Das Prinzip der Subsidiarität ist eines der obersten Prinzipien unseres Gemeinwesens und muss auch in der Jugendpolitik gelten. Diana Golze (DIE LINKE): Jugendschutz ist immer dann ein Thema der öffentlichen Debatte, wenn es um Meldungen über das sogenannte Komatrinken, gewalt- verherrlichende Computerspiele oder überhöhten Me- dien- bzw. Fernsehkonsum geht, immer dann also, wenn die Grenzen für das Wohl von Kindern und Jugendlichen bereits überschritten sind. Dementsprechend gestalteten sich auch die bisherigen Reaktionen der Bundesregie- rung in den vergangenen Jahren: schärfere Kontrollmaß- nahmen, höher angesetzte Verbote und am Ende sogar der Vorstoß der damaligen Familienministerin, Kinder und Jugendliche zu Kontrolleuren der eigens für ihren Schutz geschaffenen Gesetze zu machen, die den Zugriff von Minderjährigen auf jugendgeschützte Produkte wie Alkohol oder Tabak regeln. Aber genau diese Vorge- hensweise war und ist leider bezeichnend für diese Bun- desregierung. Ausgeblendet bleiben die Ursachen dafür, warum Ju- gendliche mittels Komasaufen der Realität entkommen wollen oder mit Gewaltvideos die immer brutaler wer- dende Ellenbogengesellschaft nachspielen. Die Bundes- regierung merkt nicht einmal, dass sie mit Hartz IV, Aus- bildungsplatzmangel und Jugendarbeitslosigkeit die Grundlagen dafür geschaffen hat. Viele Jugendliche se- hen deshalb keine Zukunftsperspektiven. Wer das ändern will, muss bei den Ursachen ansetzen. Doch wer Jugendhilfe und Jugendklubs zusammenstreicht, Bildung privatisiert und Zukunftschancen einschränkt, darf sich über die Folgen nicht wundern. Die Antworten, die das Familienministerium auf die Fragen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben hat, zeichnen ein trauri- ges, aber leider realistisches Bild. Den selbst gesteckten Zielen aus dem Koalitionsvertrag im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik folgte nichts als die Fortsetzung einer Projektpolitik, die mehr nach dem Zufallsprinzip zu han- deln scheint, als dass irgendein strategisch angelegtes Konzept dahinter steht. So fehlt es zum Beispiel weiter- hin an einem umfassenden Konzept zur Förderung von Medienkompetenz. Bund und Länder befördern fröhlich Einzel- und Pilotprojekte. Nach wie vor fehlt es an einer systematischen Vermittlung von Medienkompetenz in Kindergärten, Horten und Schulen. Von der von der EU-Kommission empfohlenen Aufnahme der Mediener- ziehung in die schulischen Pflichtlehrpläne ist Deutsch- land nach wie vor weit entfernt. Wirksame Gegenmaß- nahmen wären die Stärkung der Medienkompetenz und die Förderung solidarischer Bildung und sozialen Ler- nens in inner- und außerschulischen Räumen. Festzuhalten bleibt am Ende: Das Thema Jugendme- dienschutz steht symbolisch für nahezu alle anderen Be- reiche dessen, was man unter einem effektiven Jugend- schutz verstehen könnte oder sollte. Ob bei der Frage nach einem eigenständigen Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung im SGB VIII für Kinder und Jugend- liche, bei der finanziellen Sicherstellung einer flächende- ckenden, in jeder Hinsicht gut ausgestatteten Jugendhil- felandschaft, bei der Wahrung des besonderen Schutzes von jungen Menschen in Ausbildung und Beruf durch ein gutes Jugendarbeitsschutzgesetz oder einfach nur bei der Überlegung, dass auch die Bedürfnisse Jugendlicher mit- gedacht werden müssen, wenn es um die Akzeptanz von Kinderlärm geht – Jugendliche brauchen für ihre best- mögliche Entwicklung endlich die notwendige Aufmerk- samkeit. Eine Haushaltspolitik, die bei der Jugendhilfe den Rotstift zuerst ansetzt, Jugendschutzgesetze, die eher auf Verbote, Ausschluss und Zensur, statt auf Partizipation, Prävention und Kommunikation setzen, werden nicht gebraucht, mehr Mittel für Jugendarbeit schon. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein starker Jugendschutz ist eine wichtige gesellschaftliche und politische Aufgabe. Leider haben wir von der Bun- desregierung dazu außer Ankündigungen wenig Sub- stanzielles gehört. Deshalb haben wir eine Große An- frage eingereicht, deren Antworten leider überwiegend die Befürchtung bestätigen, dass sie bei diesem Thema untätig und konzeptionslos bleibt. Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt, einen Na- tionalen Aktionsplan zu initiieren, der sowohl ein umfas- sendes Konzept zur Verbesserung des Jugendschutzes beinhalten sollte als auch Maßnahmen zur Verbesserung der Partizipation, der Medienkompetenz und der Ge- walt- sowie Suchtprävention. Darauf warten wir bis heute. Nach ihren eigenen Aussagen gibt es noch nicht einmal einen Zeitplan für die Erstellung eines solchen Aktionsplans. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass weder Regierung noch Koalition in dieser Wahlperiode einen substanziellen und fundierten Jugendschutzak- tionsplan vorlegen – erst recht keinen, der diesen Namen verdient und sich nicht in populistischem Aktionismus erschöpft. Damit Jugendschutz glaubwürdig und effektiv ist, muss der Gesetzesvollzug kontinuierlich an neue Ent- wicklungen angepasst werden. Stattdessen liefert die Bundesregierung lediglich einen Flickenteppich von Selbstverpflichtungen, deren Nutzen mehr als fraglich ist und sich auf Fototermine der Bundesdrogenbeauf- tragten mit Wirtschaftsverbänden beschränkt. Auch Frau Ministerin Schröder nimmt ihre koordinierende Funk- tion in der Jugendministerkonferenz nicht wahr. Regel- mäßig Twittermeldungen in die Welt zu setzen, das macht aus Frau Schröder noch lange keine gute Jugend- schutzministerin. Besser wäre es, sich für hohe Sicher- heits- und Privatsphäreneinstellungen als Standard für soziale Netzwerke einzusetzen. 14204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Die Politik ist – auf all ihren Ebenen – für klare und konsistente Jugendschutz-Regeln und deren effektive Umsetzung verantwortlich. Nur so können Prävention, Erziehung und Elternkompetenz wirksam unterstützt werden. Seit der gelungenen Reform durch Rot-Grün hat Ministerin Schröder ebenso wie ihre Vorgängerin in die- sem Bereich fast gar nichts erreicht. Bestes Beispiel ist Ihr Umgang mit den praktikablen Empfehlungen der Jugendschutzevaluation des Bredow-Instituts aus dem Jahr 2007. Wie kann es sein, dass die Prüfung der Emp- fehlungen nach vier Jahren immer noch nicht voran- kommt – von politischen Konsequenzen ganz zu schwei- gen? Angesichts dieses ignoranten Verhaltens ist es nicht verwunderlich, dass echte Verbesserungen beim Geset- zesvollzug erst gar nicht angepackt werden. Auch bei abschreckenden Bußgeldern, etwa für verantwortungs- lose Wirte oder Tankstellenpächter: Fehlanzeige. Für uns Grüne ist es ein zentrales jugendpolitisches Ziel, dass Jugendliche befähigt werden, Gefährdungen zu bewältigen, und lernen, mit Herausforderungen ver- antwortlich und selbstbestimmt umzugehen. Der Bund kann dies durch vielfältige Maßnahmen unterstützen. Dazu gehört unter anderem: – eine aktive und koordinierende Rolle in der Jugend- ministerkonferenz einzunehmen, um zu verbindlichen Bund-Länder-Absprachen für einen besseren Jugend- schutz sowie seines Vollzugs zu kommen, – sich für eine intensiviere internationale Zusammenar- beit im Bereich Kinder- und Jugendschutz einzuset- zen, – die Wirkungsforschung zu Jugendschutzmaßnahmen zu verbessern, – die Förderung der Medienkompetenz gemeinsam mit den Ländern zu systematisieren, die bundesweite Ver- netzung voranzutreiben und dadurch das Wissen von Lehrkräften und Eltern sowie die Kompetenz der Ju- gendlichen selbst zu steigern, – eine regelmäßige Evaluation von Jugendschutzmaß- nahmen, etwa im Bereich der Drogen- und Suchtprä- vention, und die Stärkung der Forschung, – die Steigerung der Rechtssicherheit im Internet ge- rade für junge Menschen, indem gemeinsam mit den Ländern die Begriffe „Telemedien“ und „Teleme- dienanbieter“ in den jeweiligen Gesetzen und Staats- verträgen eindeutig definiert werden, – durch eine Novelle der Gewerbeordnung ein Verbot von Glücksspielautomaten in Gaststätten für den bes- seren Schutz von Minderjährigen vorzunehmen – und last, but not least die Rücknahme der enormen Kürzungen bei der Bundeszentrale für politische Bil- dung, deren Arbeit etwa im Bereich der Demokratie- arbeit mit jungen Menschen unverzichtbar ist. Ich fordere die Bundesregierung auf, den warmen Worten im Koalitionsvertrag endlich Taten folgen zu las- sen. Am besten beschließen wir heute unseren vorliegen- den Entschließungsantrag, und Sie machen sich morgen endlich an die Arbeit. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Heute vor drei Monaten haben wir hier im Deutschen Bundestag in ers- ter Lesung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung debat- tiert. Ich habe bereits in meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag hierzu deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich den aktuellen Rechtszustand für wirklich unbefriedi- gend halte. Ich brauche hier nicht alle Details zu wieder- holen; Sie kennen die Kritik an der regional unterschied- lichen Anwendungspraxis dieser Vorschrift und des daraus resultierenden unterschiedlichen Zugangs zum Recht. Sie kennen auch das Gerechtigkeitsproblem, das daraus folgt. Sie wissen, dass viele Bürgerinnen und Bürger es als grobe Ungerechtigkeit empfinden, dass über ihr Verfahren nicht mündlich verhandelt zu werden braucht und dass ihnen gegen einen Zurückweisungsbe- schluss kein Rechtsmittel zur Verfügung steht. Das woll- ten wir ändern. Die Union hat die Einführung des Beschlussverfah- rens nach § 522 Abs. 2 ZPO durch die rot-grüne Bundes- regierung ja auch bereits im Jahre 2001 kritisiert. Wir wollten durch die ZPO-Reform mehr Bürgernähe und nicht weniger Rechtsschutz erreichen. Hätte die damalige Bundesjustizministerin Däubler- Gmelin von der SPD sich unseren Argumenten damals nicht verschlossen, wären viele tragische Einzelschick- sale – etwa das der kleinen Deike Holweg oder das des Herrn Glanzer – möglicherweise juristisch anders aufge- arbeitet worden. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich der Familie Holweg und Herrn Glanzer für ihren unermüdlichen Einsatz für eine Änderung des § 522 ZPO danken. Sie haben gezeigt, dass auch ein- zelne Bürger in unserer Demokratie mit Engagement und der notwendigen Beharrlichkeit sehr viel in der Poli- tik anstoßen und auch erreichen können. Vielen Dank dafür! Aber nicht nur die Anregungen von Bürgerinnen und Bürgern haben wir aufgenommen. Auch die im Rahmen der Expertenanhörung des Rechtsausschusses zu § 522 ZPO vorgetragenen Argumente haben wir gehört, gewo- gen und sie bei unserem Gesetzentwurf berücksichtigt. Auch hier möchte ich noch einmal meinen Dank an die Sachverständigen aussprechen für die vielen konstrukti- ven Hinweise. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden werden, behebt die christlich-liberale Koalition die da- maligen Fehler der rot-grünen Zivilprozessreform. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde führen wir nunmehr für Streitwerte ab 20 000 Euro ein neues Rechtsmittel gegen Zurückweisungsbeschlüsse eines Berufungsgerichts ein. Damit können die Bürgerinnen und Bürger gegen einen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14205 (A) (C) (D)(B) Zurückweisungsbeschluss auf gleiche Weise vorgehen wie gegen ein Berufungsurteil, in dem die Revision nicht zugelassen wird. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde wird die Entscheidung des Berufungsgerichts durch den Bundesgerichtshof überprüft, sodass sich auch eine ein- heitliche Auslegung der Anwendungsvoraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO herausbilden wird. Wir haben uns aber bewusst dagegen entschieden, das Institut des Zurückweisungsbeschlusses ersatzlos abzu- schaffen. In eindeutig gelagerten Fällen sollen die Beru- fungsgerichte im Interesse der in der ersten Instanz ob- siegenden Partei und der Prozessökonomie auch weiter so vorgehen können und Prozesse schneller und effizien- ter behandeln können. Damit ermöglichen wir, dass schnell Rechtskraft eintreten und ein Verfahren endgül- tig abgeschlossen werden kann. Von diesem Grundsatz ausgehend haben wir gegen- über dem Referententwurf im parlamentarischen Verfah- ren noch einige Änderungen vorgenommen. Mit der Ausgestaltung als Sollvorschrift ermöglichen wir den Gerichten mehr Flexibilität im Umgang mit der Norm. Wir tragen damit den unterschiedlichen Arbeits- stilen der Gerichte Rechnung, von denen manche das Beschlussverfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO nicht als Ar- beitserleichterung empfanden. Durch den Wegfall der Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses ist zu- dem der wesentliche Grund für den zwingenden Charak- ter der Vorschrift entfallen. Das Gericht kann nun auch flexibler entscheiden, ob eine mündliche Verhandlung geboten ist, etwa in exis- tenziellen Fragen, wenn dadurch eine Befriedung des Rechtsstreits zu erwarten ist oder wenn die rechtsstaatli- che Funktion der mündlichen Verhandlung es sonst ver- langt. Das Wort „angemessen“ haben wir in diesem Zu- sammenhang ersetzt, weil der Beschwerdeführer darin möglicherweise ein Werturteil hätte sehen können, dass sein Fall für eine mündliche Verhandlung „nicht ange- messen“ sei. Dieses Werturteil wollten wir vermeiden. Schließlich wurde der Gesetzentwurf im parlamenta- rischen Verfahren auf Initiative der Union noch in einem weiteren Punkt substanziell verändert: Eine Zurückwei- sung durch Beschluss soll zukünftig nur noch erfolgen, wenn die Berufung „offensichtlich“ aussichtslos ist. Da- mit schränken wir den Anwendungsbereich von § 522 Abs. 2 ZPO noch einmal deutlich ein. Er wird auf den Kern reduziert, nämlich auf die wirklich eindeutig gela- gerten Fälle. Offensichtlich aussichtslos ist eine Sache dann, wenn für jeden Sachkundigen ohne längere Nach- prüfung erkennbar ist, dass die vorgebrachten Beru- fungsgründe das angefochtene Urteil nicht zu Fall brin- gen können. Damit vermeiden wir, dass – wie in der Vergangenheit zum Teil erfolgt – der Rechtsschutz für Menschen in unangemessener Weise verkürzt wird. Abschließend halte ich daher fest: Der Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition behält die positiven Ef- fekte der ZPO-Reform bei, beseitigt aber die Schwach- stellen der rot-grünen Reform. Wir verbinden die Ziele des individuellen Rechtsschutzes, der Entlastung der Ge- richte und einer schnelleren Rechtskraft in einem ausge- wogenen Kompromiss. Und dafür bitte ich um Ihre Zu- stimmung. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Aufgabe der Zivilprozessordnung war es seit jeher, die Rechte des Einzelnen festzustellen und für deren Durchsetzung und somit für ein Ende des Rechtsstreits zu sorgen. Die Zi- vilprozessordnung bildet dabei die Grundlage für das Handeln der Gerichte und der sie beschäftigenden Par- teien. Zudem soll sie für einen fairen Umgang aller Be- teiligten sorgen. Dabei ermöglicht sie dem zuständigen Gericht und den Parteien an vielen Stellen einen gewis- sen Spielraum. Dies geschieht auch zu Recht; denn schließlich kann eine gütliche Einigung auf verschiede- nen Wegen und zu verschiedenen Zeitpunkten erzielt werden. Erst wenn eine gütliche Einigung aussichtslos erscheint, soll der weitere Verfahrensweg beschritten und der obsiegenden Partei zu ihrem Recht verholfen werden. Diese vorgenannten Grundsätze gelten nicht nur für das Erkenntnisverfahren in der ersten, sondern auch für das Berufungsverfahren in der zweiten Instanz. Eine der maßgeblichen Regelungen in der Berufungsinstanz ist § 522 Abs. 2 ZPO. Ihm wird seit mehreren Jahren in der Jurisprudenz entgegengehalten, dass er zu einer teil- weise willkürlichen Missachtung der vorgenannten Grundsätze führe. Schließlich ermögliche die Norm dem Berufungsgericht die Zurückweisung der Berufung, ohne zuvor hierüber mündlich verhandelt zu haben. Ge- gen die Entscheidung bleibt dem Unterlegenen zudem nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht, da ein ge- sondertes Rechtsmittel in der Zivilprozessordnung nicht vorgesehen ist. Es ist zudem auffällig, wie viele Verfassungsbeschwer- den seit der Einführung der Norm erfolgreich waren. Die Quote beträgt insgesamt immerhin gut 30 Prozent. Dies liegt sicherlich auch daran, dass die Berufungsgerichte seit der Einführung der Vorschrift sehr unterschiedlich oft von ihr Gebrauch gemacht haben. Erklärungen hier- für lassen sich weder in einem klaren „Nord-Süd-Ge- fälle“ noch in einem „Ost-West-Gefälle“ finden. Viel- mehr kommt es selbst innerhalb einzelner Bundesländer zu erheblichen Unterschieden bei der Häufigkeit der An- wendung. Beide dargestellten Anwendungsschwierigkeiten rechtfertigen aus meiner Sicht die Entscheidung der christlich-liberalen Koalition, § 522 Abs. 2 ZPO zu re- formieren. Ziel sollte dabei nicht nur eine einheitlichere Anwendung der Norm durch die Berufungsgerichte sein, sondern auch eine Stärkung der mündlichen Verhand- lung und der ihr innewohnenden Befriedungsfunktion. Gleichzeitig muss es aber auch weiterhin möglich blei- ben, schnell und effektiv an sein Recht zu gelangen. Diese Vorgaben werden durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung zusammen mit den von der christlich- liberalen Koalition erarbeiteten Änderungen umgesetzt. Es wird ein vermittelnder Weg aufgezeigt, der die ver- schiedenen betroffenen Interessen zu einem schonenden Ausgleich führt. Auch zukünftig können Berufungen in einem schriftlichen Verfahren von dem zu entscheiden- 14206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) den Gericht zurückgewiesen werden, ohne dass es einer vorherigen mündlichen Verhandlung bedarf. Allerdings werden die Hürden hierfür erhöht. Zukünftig wird eine solche Entscheidung nur noch dann möglich sein, wenn die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Darüber hinaus wird für den Unterlegenen die Möglich- keit geschaffen, gegen die Entscheidung des Berufungs- gerichts eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundes- gerichtshof einzulegen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Streitwert 20 000 Euro übersteigt. Der Unterlegene ist damit nicht mehr auf die Einlegung einer Verfas- sungsbeschwerde angewiesen, sondern er kann den Be- schluss des Berufungsgerichts unmittelbar durch den Bundesgerichtshof überprüfen lassen. Dies führt zu einer deutlichen Stärkung des Grundrechts auf rechtliches Ge- hör. Die von der Opposition geforderte vollständige Ab- schaffung des schriftlichen Beschlussverfahrens im Be- rufungsverfahren würde zwar ebenfalls zu mehr mündli- chen Verhandlungen führen. Sie würde allerdings auch den bisher erworbenen Zeit- und Effektivitätsgewinn ei- nes schnellen Berufungsverfahrens vollständig aufhe- ben. Es sollte aber auch in Zukunft den Gerichten mög- lich bleiben, Berufungen, die lediglich aus Gründen des Zeitgewinns eingelegt worden sind, schnell und umfas- send zurückzuweisen. Der vorliegende Gesetzentwurf führt daher nicht nur zu mehr Bürgernähe, sondern er berücksichtigt auch die aus den letzten Jahren gewonnenen Erfahrungen bei der Durchführung zivilrechtlicher Berufungsverfahren. Er stellt damit einen verantwortungsvollen Kompromiss dar, der Zustimmung verdient. Sonja Steffen (SPD): § 522 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO sind Rechtsvorschriften, die bei vielen Juristen und Be- troffenen gleich ein Stirnrunzeln verursachen. Denn sie stehen für den unanfechtbaren Zurückweisungsbeschluss der Berufungsgerichte, und ihre Anwendung bedeutet ein unabänderliches Ende eines Rechtsstreits. In meiner Rede vor drei Monaten habe ich die Hoffnung geäußert, Sie, meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitions- fraktionen, von der Streichung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO überzeugen zu können. Die uns nun vorliegende Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses und die dazu im Ausschuss geführte Debatte haben leider deut- lich gemacht, dass Sie Ihre Meinung bedauerlicherweise nicht geändert haben – und das, obwohl nahezu alle Ver- bände die Streichung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO für den besseren Weg halten und auch in der zu dem Thema durchgeführten Öffentlichen Anhörung unterschiedliche Aspekte aufgezeigt wurden, die dies eindeutig unter- mauern. Erstens – und ich denke, zumindest hier sind wir uns einig –: Die Statistiken zeigen, dass die Anwendung der Vorschrift durch die einzelnen Berufungsgerichte stark variiert. Diese starken Abweichungen können nicht durch lokale Unterschiede erklärt werden und lassen da- her nur einen Schluss zu: Es besteht eine durch willkürli- che Handhabung hervorgerufene Rechtszersplitterung, die nicht toleriert werden kann! Zweitens: Das einzige Argument für die Beibehaltung der Zurückweisung per Beschluss ist die angebliche Ent- lastung der Berufungsgerichte und die damit einherge- hende Beschleunigung der Verfahren. Welche Gerichte wann, wie und wodurch stärker oder weniger stark ent- lastet werden, darüber kann man sich streiten. Worüber man nicht streiten kann, ist, dass eine Entlastung der Ge- richte niemals zulasten der Einzelfallgerechtigkeit, des effektiven Rechtsschutzes und des Rechtsfriedens durch- geführt werden darf. Drittens: Die Einführung einer Nichtzulassungsbe- schwerde stellt zumindest eine leichte Verbesserung der bisherigen Rechtslage dar. Aber die Rechtszersplitte- rung, hervorgerufen durch die unterschiedliche Zurück- weisungspraxis der Berufungsgerichte, wird durch die- ses Rechtsmittel nicht verhindert. Der immer wieder angeführte Vorteil des Zurückweisungsbeschlusses, es käme zu einer Verkürzung der Verfahrensdauer, wird durch die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde endgültig ausgehöhlt. Abgesehen davon bedeutet dieses Rechtsmittel keine Verbesserung des Rechtsschutzes für alle Betroffenen. Nur bei einer Beschwer von mehr als 20 000 Euro steht den Berufungsklägern der Weg zum BGH offen. In bis zu 90 Prozent der Fälle wird das Verfahren also weiterhin mit einem schriftlichen Bescheid enden, ohne mündliche Verhandlung und ohne die Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen. Sie haben die Geltung der Streitwertgrenze sogar noch einmal um ein Jahr bis 2014 verlängert. Mit der Streichung des § 7 der Insolvenzordnung lie- fern Sie uns einen weiteren Grund, uns Ihrem Entwurf nicht anzuschließen. Meine Fraktion hat hierzu im Rechtsausschuss einen Änderungsantrag eingebracht und ich habe bereits in der ersten Lesung Ihres Gesetz- entwurfs darauf hingewiesen, dass es auch zukünftig bei Insolvenzverfahren Streitfragen geben wird, die höchstrichterlich geklärt werden sollten. Am selben Tag der ersten Lesung zu dem Gesetzentwurf der Bundes- regierung hat die Bundesjustizministerin auf dem Ach- ten Deutschen Insolvenzrechtstag die zweite Stufe der Insolvenzrechtsreform vorgestellt. Es ergibt unserer Meinung nach keinen Sinn, weitreichende Reformen an- zukündigen, die immer auch anfängliche Unsicherheiten mit sich bringen, und gleichzeitig die uneingeschränkte Rechtsbeschwerdemöglichkeit zum BGH und damit den Zugang zur höchstrichterlichen Klärung zu streichen. Vor diesem Hintergrund können wir ihrem Gesetzent- wurf heute nicht zustimmen, obwohl – und darauf möchte ich zum Schluss noch eingehen – der Gesetzent- wurf eine sehr sinnvolle Neuregelung beinhaltet, die Streichung der fünfjährigen Ausschlussfrist für Restitu- tionsklagen nach EGMR-Urteilen. Zu diesem Thema ha- ben den Deutschen Bundestag bereits mehrere Petitionen erreicht, die bisher leider aufgrund der ablehnenden Vo- ten der Koalitionsfraktionen ohne Erfolg blieben. Ich habe mich im Petitionsausschuss für eine Ände- rung des § 586 ZPO eingesetzt und freue mich daher Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14207 (A) (C) (D)(B) umso mehr, dass dies in den Gesetzentwurf aufgenom- men wurde. Es zeigt, dass auch bei Ihnen ein Umdenken möglich ist. Mechthild Dyckmans (FDP): Ich freue mich, dass wir heute ein Projekt zum Abschluss bringen, das ich ge- meinsam mit der FDP-Fraktion bereits in der letzten Le- gislaturperiode angeschoben habe – die Reform des § 522 ZPO. Änderungen der Zivilprozessordnung werden im All- gemeinen nicht von der Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit begleitet. Meist werden sie in kleineren Zirkeln von Rechtsanwälten, Richtern und Rechtsprofes- soren diskutiert. Anders die Vorschrift des § 522 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO: Zu keinem anderen Vorhaben haben mich so viele Bürgerbriefe und Mails erreicht wie zur Reform des § 522 ZPO. Es gibt eine eigene Webseite www.§522zpo.de, Podiums- und Informationsveranstaltungen fanden statt, in der Presse wurde wiederholt über die Notwendigkeit und den Stand des Reformvorhabens berichtet. Was hat zu dieser ungewöhnlichen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit geführt? Mir ist keine Prozessvor- schrift bekannt, die in so extrem unterschiedlicher Weise von den Gerichten angewandt wurde und die daher zu solch großem Unmut geführt hat. Ich muss die unter- schiedlichen Zahlen hier nicht wiederholen, sie sind allseits bekannt. Eine schlüssige Begründung für die zahlenmäßig unterschiedliche Anwendung konnte von niemandem gegeben werden. Hinzu kommt, dass die Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO gemäß Abs. 3 der Vorschrift unanfechtbar und damit einer Überprüfung entzogen war. Wenn Beru- fungsentscheidungen eines Spruchkörpers zu 27 Prozent unanfechtbar zurückgewiesen werden und bei einem an- deren Spruchkörper lediglich zu 9 Prozent, ohne dass es dafür eine schlüssige Erklärung gibt, so erfordert dies ein Eingreifen des Gesetzgebers. Eine solche Zersplitte- rung beeinträchtigt das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Zivilrechtspflege. Die christlich-liberale Koalition ist daher angetreten, diesen Zustand zu beenden. Anders als SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die mit ihren Ge- setzentwürfen die vollständige Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO fordern, wollen wir die entstandenen Nach- teile beseitigen, ohne jedoch die bestehenden Vorteile der Vorschrift aufzugeben. Denn ja, § 522 Abs. 2 ZPO, der eine Entscheidung über die Berufung durch Be- schluss, also ohne mündliche Verhandlung, vorsieht, führt auch zu der gewünschten Beschleunigung von Be- rufungsverfahren und damit zu einer schnelleren Rechts- kraft der Entscheidungen sowie zu Rechtssicherheit. Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf der Bundesregierung beschränkt in der durch den Bun- destag geänderten Fassung die Entscheidung durch Be- schluss auf die Fälle, in denen die Berufung offensicht- lich keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtspre- chung eine Entscheidung nicht erfordert und die Durch- führung einer mündlichen Verhandlung nicht geboten ist. Auch wird die Entscheidung in das gebundene Er- messen des Gerichts gestellt. Und ganz besonders wich- tig: Die Entscheidung durch Beschluss steht hinsichtlich des Rechtsmittels einer Entscheidung durch Urteil gleich. Für die FDP-Fraktion war es zum einen besonders wichtig, dass es unabhängig von den Erfolgsaussichten geboten sein kann, eine mündliche Verhandlung durch- zuführen. Sei es – um nur zwei Anwendungsfälle zu nennen –, dass die Rechtsverfolgung von existenzieller Bedeutung für den Berufungsführer ist oder das erst- instanzliche Urteil zwar im Ergebnis richtig, in der Be- gründung jedoch falsch ist. Durch Einfügung der Vo- raussetzung Nr. 4 in § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO wird die besondere Bedeutung der mündlichen Verhandlung deut- lich gemacht. Zum anderen soll eine Entscheidung durch Beschluss nur in den Fällen der offensichtlichen Aussichtslosigkeit der Berufung ergehen. Gerade in Fällen, in denen die Berufung nur zur Verschleppung des Verfahrens und zur Verhinderung der Rechtskraft eingelegt wird oder die aufgeworfenen Fragen zweifelsfrei beantwortet werden können, soll die beschleunigte Entscheidung weiterhin durch Beschlussverfahren ergehen. Auch die Sachverständigenanhörung im Rechtsaus- schuss hat ergeben, dass eine Zurückweisung im Be- schlussverfahren durchaus sinnvoll ist, wenn man das Verfahren gerade für die offensichtlich aussichtslosen Fälle vorsieht. Hier bedarf es in der Regel keiner münd- lichen Verhandlung und damit keiner Terminierung. Dies führt zu einer beschleunigten Entscheidung im Ver- fahren nach § 522 Abs. 2 ZPO, aber auch zu einer schnelleren Terminierung derjenigen Berufungsverfah- ren, die eine mündliche Verhandlung gerade erfordern oder für die die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung macht Schluss mit der Unanfechtbarkeit der Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO. Gemäß § 522 Abs. 3 ZPO steht zu- künftig dem Berufungsführer das Rechtsmittel zu, das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre. So- weit die SPD darauf verweist, dass die Nichtzulassungs- beschwerde nur in Fällen gegeben sei, in denen die Be- schwer über 20 000 Euro liege und sie darin eine Ungleichbehandlung sieht, verkennt sie, dass dies gemäß § 26 Nr. 8 EGZPO ebenso für die Entscheidung durch Urteil gilt und daher nunmehr gerade eine Gleichbe- handlung der beiden Entscheidungsformen – Beschluss oder Urteil – erreicht wird. Ich sehe den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht als halbherzigen Schritt an. Vielmehr bin ich über- zeugt, dass er die richtige Balance herstellt zwischen den Interessen des Berufungsführers und des in erster Instanz bereits einmal erfolgreichen Prozessgegners. Ich bin si- cher, dass künftig die ungleiche Anwendung des Be- schlussverfahrens durch die Spruchkörper stark vermin- dert und im Ergebnis auf Dauer nahezu aufgehoben werden wird. Durch die Änderungen wird die Zielset- 14208 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) zung der Vorschrift klar eingegrenzt und auf die Fälle beschränkt, in denen eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Auch der Bundesgerichtshof wird durch die jetzt mögliche Überprüfung von Entscheidungen zur Gleichbehandlung und damit zu mehr Gerechtigkeit bei- tragen. Jens Petermann (DIE LINKE): Wie wir heute schon mehrfach gehört haben, ist die Regelung des § 522 Zivilprozessordnung mit einem Gerechtigkeitsdefizit be- haftet – darüber sind wir uns alle einig. Die Linke fordert die Abschaffung der Absätze 2 und 3 des § 522 ZPO, da deren Einführung im Jahre 2002 ein schwerer rechtspoli- tischer Fehler war und bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern zu erheblichen Ungerechtigkeiten führte. Dies hat die Politik erkannt und will sich korrigieren. Auch SPD und Grüne haben dies mittlerweile eingese- hen. Der Entwurf von Schwarz-Gelb lässt hier jedoch Konsequenz vermissen. Denn mit dem Argument, Ge- richtsprozesse möglichst schnell zu beenden, warb Frau Kollegin Dyckmans im Rechtsausschuss für ein Herum- basteln an dieser überflüssigen Vorschrift. Ohne Rück- sicht auf die Interessen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger treten Sie mit dem Argument der schnellen Ver- fahrenserledigung für eine Beibehaltung in lediglich leicht geänderter Form ein. Dabei vergessen Sie augen- scheinlich Ihre Argumentation aus der Mediationsde- batte, in der Sie den Rechtsfrieden auf den Thron geho- ben haben. Sie biegen sich die Argumente, wie es Ihnen gerade passt. Dass Ihrer Politik der rote Faden fehlt, stel- len Sie zum wiederholten Mal unter Beweis. Hören Sie auf die Forderung der Betroffenen, und streichen Sie § 522 Abs. 2 und 3 Zivilprozessordnung. Tun Sie das für den Rechtsfrieden in unserem Land und für das Ver- trauen der Bürgerinnen und Bürger in unseren Rechts- staat. Um was geht es im Einzelnen? Die Vorschrift erlaubt, dass eine Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückgewiesen werden kann, und dieser Be- schluss dann nicht einmal anfechtbar ist, nach dem Motto: schnelle Erledigung, Akte zu und fertig. Einer un- terschiedlichen Handhabung ist damit Tür und Tor geöff- net. Das steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Interessen der Rechtssuchenden und dem verfassungsmä- ßigen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Mehr als 100 Jahre sind wir in Deutschland ohne diese Regelung ausgekommen. Im Jahre 2001 hat die rot-grüne Regierung, von Reformeifer getrieben, Änderungsbedarf entdeckt. Sie hat den untauglichen Versuch gestartet, die Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Ge- richte zu entlasten. Doch dazu ist es nicht gekommen, vielmehr endete der Versuch im Desaster. Ungerechtig- keiten werden auch durch derzeitige ungleiche Anwen- dungshäufigkeit dieser Kannvorschrift hervorgerufen. Je nach Bundesland erledigen manche Oberlandesgerichte vier Prozent ihrer Verfahren nach § 522 ZPO, andere über 27 Prozent. Eine solche Ungleichbehandlung ist nicht zu rechtfertigen und führt mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz – rechtliches Gehör – zu verfas- sungsrechtlich höchst bedenklichen Ergebnissen. Was schlägt Schwarz-Gelb als Lösung vor? § 522 Abs. 2 und 3 ZPO bleibt mit leichten kosmetischen Ver- änderungen bestehen, indem höhere Anforderungen an den Zurückweisungsbeschluss gestellt werden. Statt bis- her drei sind vier Bedingungen für die Zurückweisung der Berufung vorgesehen. Und als kleines Bonbon sollen nun dem Betroffenen Rechtsmittel gegen den ablehnenden Beschluss zugestanden werden. Die FDP argumentiert damit, dass durch die Gleichbehandlung von Beschluss und Urteil hinsichtlich der Rechtsmittelmöglichkeiten Ungerechtigkeiten ausgeschlossen werden. Ich sage Ih- nen: Diese Ungerechtigkeiten kann man nur beseitigen, wenn jede Bürgerin und jeder Bürger in jedem Bundes- land die Garantie erhält, dass ihre beziehungsweise seine Berufung oder Revision ordnungsgemäß geprüft und die Entscheidung begründet wird. Alles andere birgt die Gefahr eines justizpolitischen Flickenteppichs. Jedem Rechtssuchenden muss eine mündliche Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz garantiert werden, und zwar un- abhängig des Bundeslandes und nicht zu 95 Prozent in Bremen und zu 73 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. Auf der anderen Seite schränken Sie versteckt die Rechte der Rechtschutzsuchenden weiter ein, indem Sie § 26 Nr. 8 des Einführungsgesetzes der Zivilprozessord- nung ändern wollen: Die Revision soll grundsätzlich vom Streitwert losgelöst nach der Bedeutung der Sache be- trachtet werden. Sie aber verlängern die bis Ende 2011 befristete Mindesthöhe des Streitwertes für Revisionen von 20 000 Euro bis Ende 2014. Damit wird die sozial un- gerechte Justizgewährung weiter fortdauern. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind zum Beispiel 5 000 Euro viel Geld – für die Väter und Mütter dieses Gesetzentwur- fes wohl nicht. Erklären Sie bitte mal, warum aufgrund des zu „geringen“ Streitwertes die Rechtsmittelmöglich- keiten abgeschnitten werden sollen. Das ist inakzeptabel und auch mit Effizienz und Verfahrensverkürzung nicht zu begründen. Gerade in Arzthaftungsfällen ist die Anwendung des § 522 ZPO in seiner heutigen Form im Hinblick auf die finanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschä- digten eine wirkliche Zumutung. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Kosteneinsparungen in der Justiz das Ver- trauen der Bürgerinnen und Bürger in die Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem Lande weiter untergra- ben. Die Einsichtsfähigkeit von Sozialdemokraten und Grünen ist ein positives Signal. Die Regierungskoalition ist davon meilenweit entfernt und hat verpasst, die Haus- aufgaben zu erledigen. Da ist Ihnen die Opposition wie- der einmal einen Schritt voraus. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute beraten wir abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu § 522 Abs. 2 und 3 der Zivilpro- zessordnung. Im Gesetzgebungsverfahren hat die Koali- tion zwar einige Änderungen am bisherigen Gesetz- entwurf vorgenommen. Trotz allem bleibt dieser aber halbherzig. Durch § 522 Abs. 2 und 3 der Zivilprozessordnung in der jetzigen Fassung wird auch weiterhin der Zugang Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14209 (A) (C) (D)(B) zum Recht für Bürgerinnen und Bürger unnötig einge- schränkt. Berufungsgerichte können weiterhin durch schriftlichen Beschluss das Verfahren für die Betroffe- nen abschließend beenden. Die ungleiche Handhabung des § 522 Abs. 2 Zivilprozessordnung an den Gerichten wird durch die jetzt neuen Einschränkungen nicht besei- tigt. Uns allen sind die Zahlen bekannt: Obwohl § 522 Abs. 2 ZPO bisher sogar zwingenden Charakter hat und es keinen Spielraum bei der Anwendung gibt, liegt die Diskrepanz in der Anwendung der Vorschrift bei unge- fähr 22 Prozent, wie ein Vergleich aus dem Jahr 2009 zeigt. In Bremen hat das Oberlandesgericht in diesem Jahr 5,2 Prozent der Berufungsverfahren durch schriftli- chen Beschluss zurückgewiesen. In Rostock hingegen wurde das Verfahren durch schriftlichen Beschluss des Oberlandesgerichts in 27,1 Prozent der Verfahren been- det. Jetzt soll aus der zwingende Vorschrift eine Sollvor- schrift werden, wenn schon bisher die Handhabung bun- desweit so uneinheitlich war, dann wird das eine Soll- vorschrift nicht ändern, auch wenn wir die Voraus- setzungen für die Anwendung der Vorschrift schärfen, wie von der Regierung vorgeschlagen. Des Weiteren wird die Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die Parteien nicht ausreichend gewür- digt, und das bei einer abschließenden Entscheidung. Bei den Betroffenen wird so auch weiterhin der Eindruck zu- rückbleiben, dass sie für das Anliegen, das sie persönlich betrifft, bei Gericht nicht ausreichend Gehör finden konnten. Die Möglichkeit, gegen den zurückweisenden Be- schluss vorzugehen, soll noch immer erst ab einem Be- schwerdewert von 20 000 Euro möglich sein. Dies be- trifft leider nur die wenigsten Fälle. Für eine Vielzahl von Betroffenen wird sich somit nichts ändern. Soziale Gerechtigkeit ist das nicht. Hinzu kommt: Die Bundesregierung möchte mit dem Gesetzentwurf auch § 7 der Insolvenzordnung aufheben. Das ist nicht sinnvoll und schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Die Bundesregierung hat gerade einen Ge- setzentwurf zur Erleichterung von Unternehmenssanie- rungen vorgelegt. Unabhängig davon, dass dieser noch an vielen Stellen nachgebessert werden muss, ist es wichtig, dass Entscheidungen im Insolvenzrecht eine einheitliche Rechtsprechung erfahren. § 7 der Insolvenz- ordnung hat das mit der zulassungsfreien Rechtsbe- schwerde zum Bundesgerichtshof gewährleistet. Mit der Aufhebung dieser Vorschrift ist eine einheitliche Recht- sprechung nicht mehr sichergestellt, was zu Rechtszer- splitterung führen wird. Diese Regelung ist für uns nicht akzeptabel. Zu guter Letzt möchte ich noch auf die Änderungen zu § 586 der Zivilprozessordnung zu sprechen kommen. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Ausschluss- frist von fünf Jahren für die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 8 ZPO nicht mehr anwenden will. Diese Frist war bisher besonders problematisch, wenn ein Gerichtsurteil durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Men- schenrechte aufgehoben wurde; denn diese Verfahren nehmen sehr viel Zeit in Anspruch. Immer wieder kam es vor, dass die Fünfjahresfrist bereits abgelaufen war, wenn der Europäische Gerichtshof sein Urteil sprach. Mit der Neuregelung kann eine Partei nun auch in diesen Verfahren ihre Ansprüche zivilprozessual geltend ma- chen. Dieser eine sachgerechte Aspekt reicht allerdings nicht für unsere Zustimmung aus. Im Gesamten ist der Gesetzentwurf aus unserer Sicht nicht weitgehend ge- nug. Daher lehnt meine Fraktion den Gesetzentwurf ab. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Übereinkommens vom 4. August 1963 zur Errichtung der Afrikanischen Ent- wicklungsbank – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 29. November 1972 über die Errichtung des Afrikanischen Ent- wicklungsfonds (Tagesordnungspunkt 21 a und b) Johannes Selle (CDU/CSU): Die Afrikanische Ent- wicklungsbank, AfDB, wurde am 4. August 1963 in Khartoum, Sudan, durch 22 unabhängige afrikanische Staaten als Regionalbank ohne Beteiligung von Indus- triestaaten gegründet. Sitz der Bank ist Abidjan in der Elfenbeinküste. Ziel der AfDB ist es, die nachhaltige ökonomische Entwicklung und den sozialen Fortschritt der regionalen Mitglieder der Bank zu fördern. Im Mai 1979 beschlossen die Mitgliedstaaten eine Änderung des Statuts der Bank, der nun auch nicht re- gionalen Staaten den Beitritt ermöglichte. Deutschland trat der Afrikanischen Entwicklungsbank 1983 bei. Durch die zahlungskräftigen Industriestaaten, OECD- Länder und asiatische Staaten, mit entsprechendem Haf- tungskapital wurde die Kreditaufnahme der AfDB an den internationalen Kapitalmärkten erleichtert. Zur Erreichung des Ziels soll die Afrikanische Ent- wicklungsbank: Kredite vergeben, technische Assistenz bei der Vorbereitung und Durchführung von Entwick- lungsprojekten und -programmen leisten, private Inves- titionen fördern und Infrastrukturvorhaben in Ländern mit mittleren Einkommen finanzieren. Die Afrikanische Entwicklungsbank gehört gemein- sam mit der Weltbank, der lateinamerikanischen und asia- tischen Entwicklungsbank zu dem nach weitgehend einheitlichen Grundsätzen aufgebauten System der su- pranationalen Entwicklungsbanken. Die Afrikanische Entwicklungsbank gilt mittlerweile als wichtigste öffent- liche Finanzinstitution Afrikas und vergibt jährliche Dar- lehen im Umfang von 2 Milliarden Dollar zu marktübli- chen Konditionen an Länder mit mittleren Einkommen. In der Regel fließen diese Gelder in den Privatsektor oder in den Aufbau von öffentlichen Großinfrastrukturprojek- 14210 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) ten, wie zum Beispiel Flughäfen. Die Afrikanische Ent- wicklungsbank gewährt zudem stark vergünstigte Kredite mit sehr langer Laufzeit an jene Länder, die keine Darle- hen zu Marktkonditionen aufnehmen können. Gemäß dem Strategieplan für die Periode 2003 bis 2007 konzentriert sich die Afrikanische Entwicklungs- bank auf eine beschränkte Anzahl prioritärer Bereiche, zum Beispiel Wasserversorgung, Ausbildung und Ge- sundheit sowie die Bereitstellung von Infrastruktur in ländlichen Gebieten. Nach einer Refinanzierungskrise wurde 1972 der Afrikanische Entwicklungsfonds, African Development Fund, AfDF, zum ersten Mal von nicht regionalen Staa- ten aufgelegt, um die wachsenden öffentlichen Entwick- lungsaufgaben wie Schulen, Krankenhäuser, Wasser- und Stromversorgung mit stark vergünstigten Krediten zu finanzieren. Der Afrikanische Entwicklungsfonds ist Teil der Afrikanischen Entwicklungsbankgruppe, aber eine von der Bank getrennte, selbständige juristische Körperschaft, deren Mittel von den Mitteln der Bank ge- trennt bleiben. Deutschland ist seit 1973 Mitglied des Fonds und ver- fügt über 5 Prozent der Stimmrechte, steht nach Japan, USA und Frankreich an vierter Stelle. Über den Fonds wickelt Deutschland einen wichtigen Teil der multilate- ralen Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika ab. Der Fonds gewährt besonders armen afrikanischen Ländern finanzielle Hilfen in Form von Zuschüssen und Krediten zu besonders günstigen Konditionen. Nach dem Beschluss der G 8 über die multilaterale Ent- schuldungsinitiative können entsprechend vorbereitete Länder auch über den Afrikanischen Entwicklungsfonds einen vollständigen Erlass ihrer Schulden beantragen. Der Gouverneursrat der Afrikanischen Entwicklungsbank hat mit Zustimmung der Bundesregierung mehrere Änderun- gen des Gründungsübereinkommens gebilligt. Diese se- hen insbesondere vor: die Streichung von Vorschriften, die nach dem Ende des Goldstandardsystems obsolet ge- worden sind; die Optimierung der Kapitalausnutzung; die Abschaffung von Provisionen auf direkte Darlehen; die Erweiterung des Direktoriums um zwei Sitze sowie ge- ringfügige Neuerungen im Verfahren und bei den internen Zuständigkeiten der Bank. Die Änderungen haben in wei- ten Teilen lediglich klarstellenden Charakter und keine Auswirkungen im Haushalt oder im Vollzugsaufwand der Mitgliedstaaten. Die Erweiterung des Direktoriums sorgt für die bessere Repräsentanz der regionalen Mitgliedstaa- ten der Bank. Der Gouverneursrat des Afrikanischen Entwicklungs- fonds hat ebenfalls mit Zustimmung der Bundesrepublik drei Änderungen des Übereinkommens gebilligt. Dabei werden die Abstimmungsmodalitäten beim Afrikani- schen Entwicklungsfonds, AfDF, verändert. Das Direk- torium wird um zwei Sitze erweitert. Mit den Änderun- gen wird die gleichmäßige Berücksichtigung der Interessen von regionalen und nichtregionalen Teilneh- merstaaten angestrebt. Außerdem werden die strikten Beschränkungen im Beschaffungswesen des Fonds aufgehoben. Damit wird ermöglicht, auf Basis eines internationalen Wettbewerbs einzukaufen und somit Projekte kostengünstiger und ef- fizienter umzusetzen. Die Änderungen im Übereinkom- men des Fonds haben ebenfalls keine Auswirkungen im Haushalt oder im Vollzugsaufwand der Mitgliedstaaten. Die Änderungen des Gründungsübereinkommens der Bank und des Fonds werden bereits angewendet, sind aber, da es sich jeweils um einen internationalen Vertrag handelt, durch Deutschland im parlamentarischen Ver- fahren anzunehmen. Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, den Bundes- minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung zu ermächtigen, zukünftige Änderungen der Übereinkommen von Entwicklungsbank und Entwick- lungsfonds durch Rechtsverordnung – ohne Zustimmung des Bundesrates – in deutsches Recht umzusetzen. Dies halten die Koalitionsfraktionen für eine sinnvolle Ver- einfachung, insbesondere durch die im Übereinkommen vorgesehene Mehrheitsentscheidung – bei der theore- tisch auch die Position des deutschen Gouverneurs über- stimmt werden kann – und der auf drei Monate be- schränkten Zeit bis zum Inkrafttreten der Änderung. Um keinen Zweifel an der erforderlichen und auch gewünschten Parlamentsbeteiligung zu lassen, haben die Koalitionsfraktionen in zwei Änderungsanträgen klarge- stellt, dass nicht alle Änderungen der Übereinkommen unter die Ermächtigung fallen sollen, per Rechtsverord- nung in deutsches Recht umgesetzt zu werden. Das sind die Veränderungen, bei denen die Zustimmung des deut- schen Gouverneurs aufgrund möglicher Auswirkungen für Deutschland im Übereinkommen ohnehin vorgese- hen ist. Dazu zählen zum Beispiel die Haftungsverände- rungen. Mit dem Änderungsantrag wird außerdem sicherge- stellt, dass die Bundesregierung das Parlament von ge- planten Änderungen vorher informiert und eine Mei- nungsäußerung der Parlamentarier einbezogen werden kann. Der Bundesrat hat laut Vorlage am 27. Mai 2011 beschlossen, gegen die Gesetzentwürfe keine Einwen- dungen zu erheben. Zusammen mit dem Änderungsantrag sollte eine Zu- stimmung zum vorgeschlagenen Gesetz der Bundesre- gierung auch für die Oppositionsfraktionen möglich sein. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Die Bundesregie- rung hat drei Gesetzentwürfe vorgelegt, aufgrund derer jeweils Änderungen von völkerrechtlichen Verträgen ge- billigt werden sollen und mit denen außerdem der Bun- desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ermächtigt werden soll, künftige Änderun- gen dieser völkerrechtlichen Übereinkommen durch Rechtsverordnung in Kraft zu setzen. Die Gesetzentwürfe betreffen zum einen das Überein- kommen zur Errichtung der Multilateralen Investitions- Garantie-Agentur, MIGA, die Teil der Weltbankgruppe ist und an der Deutschland mit einem Stimmrechtsanteil von 4,47 Prozent beteiligt ist, zum anderen das Überein- kommen zur Errichtung der Afrikanischen Entwick- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14211 (A) (C) (D)(B) lungsbank sowie das Übereinkommen über die Errich- tung des Afrikanischen Entwicklungsfonds. Die SPD-Fraktion hat gegen alle drei Gesetzentwürfe inhaltliche und verfassungsrechtliche Bedenken, die auch nicht durch die von den Koalitionsfraktionen einge- brachten Änderungsanträge ausgeräumt werden konn- ten. Deshalb wird die SPD-Fraktion die Gesetzentwürfe ablehnen. Lassen Sie mich das hinsichtlich der Ände- rung des Übereinkommens vom 4. August 1963 zur Er- richtung der Afrikanischen Entwicklungsbank begrün- den. Zunächst begrüßen wir außerordentlich, dass die Kol- leginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen auf un- sere Bedenken eingegangen sind und nach einer Anhö- rung am 10. Mai die vorliegenden Änderungsanträge gestellt haben. Dies ist doch ein bemerkenswerter Vor- gang, denn es passiert nicht alle Tage, dass ein Gesetz- entwurf der Bundesregierung im Hinblick auf seine Ver- fassungsgemäßheit von der eigenen Parlamentsmehrheit geändert werden muss. Unsere inhaltlichen Bedenken sehen wir auch durch die vorgenommenen Änderungen des Gesetzentwurfs nicht als ausgeräumt an. Das betrifft insbesondere die sowohl bei der Afrikanischen Entwicklungsbank als auch dem Afrikanischen Entwicklungsfonds beschlosse- nen Veränderungen im Beschaffungswesen. Was zunächst positiv klingt – ich zitiere aus dem Ge- setzentwurf 17/6063: „Daneben werden Beschränkun- gen im Beschaffungswesen aufgehoben, was es Fonds und Nehmerländern ermöglicht, auf Basis eines interna- tionalen Wettbewerbs einzukaufen und Projekte dadurch kostengünstiger und effizienter umzusetzen“ –, erscheint im entwicklungspolitischen Kontext durchaus problema- tisch. Bereits jetzt sind wir häufig mit dem Problem kon- frontiert, dass IFS-Standards nicht eingehalten werden, von ILO-Standards oder weiteren umwelt- und men- schenrechtlichen Standards ganz zu schweigen. Unter der realistischen Annahme, dass derartige Pro- dukte in der Regel nicht die billigsten sind, können wir die Befreiung des Beschaffungswesens nur ablehnen. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass durch die Neuerung die heimische Wirtschaft nachhaltig gefördert werden könnte. Im Gegenteil ist die weltweit günstigste Beschaffungsquelle das erklärte Ziel. Wer gibt denn die Garantie, dass hier nicht eine Dumpingpreisspirale in Gang gesetzt wird? Weder im Vertragsgesetz noch im Änderungsantrag steht etwas zur Einhaltung von Sozial-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards. Das wäre aber die notwen- dige Ergänzung einer entwicklungspolitisch begründeten Beschaffungsoptimierung. Wir debattieren an dieser Stelle über die Gesetzent- würfe bezüglich der Afrikanischen Entwicklungsbank und des Afrikanischen Entwicklungsfonds. Unsere ver- fassungsmäßigen Bedenken zu diesen beiden Entwürfen sind trotz geringfügiger Änderungen durch die Koali- tionsfraktionen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nicht ausgeräumt worden. Um Wiederholungen zu ver- meiden, verweise ich an dieser Stelle auf meinen Rede- beitrag zu TOP 37, der Änderung des Übereinkommens zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Garantie- Agentur, MIGA, den ich zu einem späteren Zeitpunkt abgeben werde. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Nachdem wir uns in den vergangenen Wochen über MIGA ausrei- chend unterhalten haben, stehen nun auch bei der Afri- kanischen Entwicklungsbank, AfDB, und dem Afrikani- schen Entwicklungsfonds, ADF, Änderungen an, die sich daraus ergeben, dass internationale Übereinkommen in innerstaatliches Recht umgesetzt werden müssen. Hierbei geht es besonders um die Anpassung des beste- henden Rechtsrahmens und die Möglichkeit, dass das BMZ selbst Änderungen der Abkommen durch Rechts- verordnungen umsetzen kann. Was aber mit den Ände- rungsanträgen auch klargestellt wird, ist die Tatsache, dass das Parlament rechtzeitig vor jeder geplanten Ände- rung der Übereinkommen unterrichtet wird. Die Änderungen der Abkommen waren juristisch und inhaltlich notwendig und wurden von Deutschland größ- tenteils mitgetragen. Es handelt sich zum Beispiel um die Anpassung der Währungssysteme, die Anpassung an den Bedeutungswandel von Gold im internationalen Zahlungsverkehr nach Ende des Goldstandardsystems in den 1970er-Jahren, die allgemeine Zielstellung der Bank um „nachhaltige Entwicklung“ und auch die angemes- sene Integration des neuen Board-Mitgliedes Südafrika. Das Gesetz enthält Änderungen hinsichtlich des Mehrheitserfordernisses und der Zuständigkeitsvertei- lung zwischen Gouverneursrat und Direktorium. Es re- gelt die Erweiterung des Direktoriums von 18 auf 20 Sitze. Anlass war die schwache Repräsentanz einiger Mitgliedstaaten, insbesondere Südafrikas, im Direkto- rium trotz Rotationsschema und beträchtlichen Anteilen an der Bank. Die Erweiterung des Exekutivdirektoriums der Bank um zwei Sitze wurde von Deutschland aus Kostengesichtspunkten skeptisch gesehen. Deutschland blieb hierbei relativ isoliert, konnte aber die Verpflich- tung der Bank zur Boardeffizienz hinsichtlich Verwal- tungskosten etc. durchsetzen. Das Board des Entwick- lungsfonds wurde von 12 auf 14 Sitze erweitert. Es handelt sich jeweils um einen regionalen und einen nicht regionalen Sitz. Die wesentlichen Regelungen der Gesetzentwürfe be- treffen inhaltlich die Umsetzung der bereits beschlosse- nen Änderungen per Vertragsgesetz aufgrund bestehen- der Umsetzungspflicht durch den Bundestag. Dies hat also rein formalen Charakter. Ein weiterer Artikel be- trifft die Verordnungsermächtigung, mit der das BMZ vom Bundestag zur Umsetzung von Vertragsänderungen per Rechtsverordnung ermächtigt werden soll. Der vor- liegende Entwurf zur Verordnungsermächtigung dient der Entlastung des Parlaments und wurde ressortüber- greifend vom BMI und BMJ empfohlen. Die Verord- nungsermächtigung bezieht sich nur auf Änderungen, die sich im Rahmen des Zwecks und der Aufgaben des Übereinkommens halten und nicht auf substanzielle Än- derungen, die das Kernmandat und zum Beispiel die Steuerbefreiung betreffen. Diese Änderungen bedürfen 14212 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) weiterhin der Umsetzung durch ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren. Um die Bedenken der Opposition zumindest zu min- dern, möchte ich einige Punkte darlegen. Der Vorteil der Verordnungsermächtigung ist die ver- einfachte Umsetzung von meist technischen Änderungen in deutsches Recht in kurzer Frist. Sie sind meist gering- fügiger Art und dienen der parlamentarischen Entlas- tung. Zudem muss auch bei der Verabschiedung einer Rechtsverordnung eine Beteiligung aller Ressorts ge- währleistet sein. Für die unter Ihnen, die die Beteiligungsrechte des deutschen Parlaments in Gefahr sehen, sei Folgendes ge- sagt: Ein Gesetz mit Beteiligung des Parlaments wird immer dann erforderlich bleiben, wenn die wesentlichen Ziele und das Mandat von Bank und Fonds geändert werden. Der Deutsche Bundestag hat bei der Schaffung multilateraler Organisationen wie der Entwicklungsbank und des Entwicklungsfonds grundsätzlich zugestimmt, dass deren oberste Organe Mehrheitsentscheidungen be- schließen können. Dies betrifft auch Vertragsänderun- gen. Zudem sind Änderungen der Gründungsabkommen je nach Mehrheitsverhältnissen auch ohne die Zustim- mung Deutschlands wirksam, und die Befassung des Parlaments bliebe somit inhaltlich ohne Auswirkungen. Und um noch einmal in diesem Zusammenhang auf die Rechtsverordnung zurückzukommen: Eine verab- schiedete Rechtsverordnung könnte jederzeit per Ände- rungsgesetz durch das Parlament wieder geändert wer- den, sodass eine nachträgliche Kontrollmöglichkeit durchaus gegeben ist. Niema Movassat (DIE LINKE): Die Gouverneurs- räte des Afrikanischen Entwicklungsfonds, AfDF, sowie der Afrikanischen Entwicklungsbank, AfDB, haben mit Zustimmung der Bundesregierung mehrere Änderungen in den jeweiligen Gründungsübereinkommen gebilligt. Die Bundesregierung will mit den hier vorliegenden Ge- setzentwürfen die Änderungen bestätigen und zugleich ermächtigt werden, künftige Änderungen durch Rechts- verordnungen in Kraft zu setzen. Der Bundesrat hat die Gesetzentwürfe unverändert an den Bundestag überwiesen, obwohl fraktionsübergrei- fend erhebliche Bedenken gegenüber der Ermächtigung zu künftigen Änderungen per Rechtsverordnung in Art. 2 bestehen. Die Linke lehnt eine solche Ermächti- gung grundsätzlich ab, auch nach den durch die Ände- rungsanträge der Koalitionsfraktionen vorgenommenen Einschränkungen, weil sie dem Parlament sein Mitspra- cherecht bezüglich der Übereinkommen in weiten Teilen entzieht. Die Linke ist der Meinung: Änderungen an den ge- nannten Übereinkommen müssen auch künftig im Parla- ment ratifiziert werden. Eine schlichte Unterrichtung des Bundestags über künftige Änderungen per Rechtsver- ordnung halten wir für zu wenig. Die Linke ist prinzipi- ell gegen eine weitere Einschränkung parlamentarischer Rechte zugunsten der Bundesregierung. Wir haben dies auch in der Auseinandersetzung um die MIGA deutlich gemacht. Darüber werden wir ja später noch debattieren. Wir lehnen die Gesetzentwürfe aber auch aus folgen- den inhaltlichen Gründen ab: Sowohl bei der AfDB als auch beim AfDF wird die Beschaffung mit den Ände- rungen an den Übereinkommen weitgehend liberalisiert, im Falle des AfDF sollen die Ausschreibungen sogar komplett für den internationalen Wettbewerb freigege- ben werden. Das lehnen wir ab, weil durch die Freigabe der Ausschreibungen zwar Kosten eingespart, aber ande- rerseits falsche strukturpolitische Weichenstellungen vorgenommen werden, zumal die Beschaffung hier nicht ausdrücklich an verbindliche Sozialstandards gebunden wird. Es wird ein Kostenwettbewerb nach unten in Gang gesetzt, statt durch ein gesteuertes Beschaffungswesen zusätzliche Entwicklungsimpulse zu setzen. Der Einrichtung neuer Stimmrechtsgruppen im Direk- torium der AfDB stehen wir ebenfalls skeptisch gegen- über. Eine zusätzliche Regionalgruppe mit Südafrika be- grüßen wir, den Ausgleich durch eine neue Gruppe nichtregionaler Mitglieder allerdings nicht. Dass die Änderung der Stimmrechtsverteilung beim Afrikanischen Entwicklungsfonds, AfDF, ausdrücklich damit begründet wird, dass auf diese Weise der Einfluss von Geberländern wie Deutschland gegen den von regio- nalen Teilnehmern wie etwa Südafrika durch Begren- zung von deren Stimmzahl abgesichert werden soll, fin- den wir doch sehr fragwürdig. Aus den genannten Gründen wird Die Linke die vor- liegenden Gesetzentwürfe ablehnen. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Afri- kanische Entwicklungsbank, AfDB, und der Afrikani- sche Entwicklungsfonds, AfDF, vergeben seit 50 bzw. 40 Jahren Zuschüsse und Kredite zu besonders günstigen Konditionen an die am wenigsten entwickelten Länder Afrikas. Das soll die Entwicklung des Kontinents för- dern. Wir begrüßen, dass sich die Bank in den letzten Jahren einem umfassenden Reformprozess unterzogen hat. Wir begrüßen auch, dass sich ihre Arbeit nun stärker an der internationalen Agenda für mehr Wirksamkeit in der Entwicklungszusammenarbeit ausrichtet. Aus unserer Sicht sollte die Bank menschenrechtliche sowie Umwelt- und Sozialstandards viel stärker in der Bank verankern. Die Rechte von betroffenen Bevölke- rungsgruppen bei der Planung, Finanzierung und Umset- zung von Projekten müssen berücksichtigt werden. Der unabhängige Überprüfungsmechanismus – IRM – Independent Review Mechanism –, den die Bank 2004 eingerichtet hat, ist eine wichtige Instanz für betroffene Bevölkerungsgruppen, um mögliche negative Auswir- kungen der Projekte zu beklagen. Es muss möglich gemacht werden, dass die Bevölke- rung bereits in der Planungsphase und durch eine trans- parentere Informationspolitik beteiligt werden. Klagen der betroffenen Bevölkerungsgruppen nach der schlech- ten Zugänglichkeit zu dieser Instanz muss durch eine ge- zieltere Einbindung organisiert werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14213 (A) (C) (D)(B) Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat nun die jüngsten Änderun- gen des Gründungsübereinkommens der Bank und des Fonds, die im Gouverneursrat der AfDB beschlossen wurden, mitgetragen. Solche Anpassungen der Statuten finden von Zeit zu Zeit statt. Gegen die inhaltlichen Sta- tutenänderungen der Übereinkommen von Afrikanischer Entwicklungsbank und Afrikanischem Entwicklungs- fonds bestehen aus unserer Sicht keine grundsätzlichen Einwände. Die Reform der Beschaffungsregeln, damit Güter und Dienstleistungen global und nicht nur in Mit- gliedsländern eingekauft werden dürfen, erscheint aus Kostengründen sinnvoll. Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf in Art. 2 eine Verordnungsermächtigung, die jedoch vorsieht, dass künftige Änderungen der Statuten im Alleingang durch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung vorgenommen werden können, ohne den Bundestag zu beteiligen. Wir sehen hiermit die parlamentarische Kontrollfunktion ausgehebelt. Die Richtlinien des Bundesjustizministeriums für die Fassung von Vertragsgesetzen und vertragsbezogenen Verordnungen sehen für eine Verordnungsermächtigung vor, dass „der Gegenstand der Änderungen oder Ergän- zungen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß, Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, hinreichend bestimmt ist. Es bestehen aus un- serer Sicht erhebliche Bedenken, ob die Verordnungser- mächtigung in Art. 2 des Gesetzentwurfs hinreichend bestimmt ist. Die Formulierung, es handle sich „in aller Regel“ um Detailbestimmungen, die keine „unmittelbaren Auswir- kungen auf die Mitgliedstaaten haben“, reicht aus unserer Perspektive nicht aus. Auch enthält weder der Gesetzeswortlaut, Art. 2, noch die Begründung eine Ein- grenzung, die über die sehr allgemeine Formel, dass sich die Änderungen „im Rahmen der Ziele des Übereinkom- mens halten“ müssen, hinausginge. Auch die einge- brachten Änderungsanträge räumen die verfassungs- rechtlichen Bedenken hinsichtlich der fehlenden Bestimmtheit nicht aus. Diese Ausführungen gelten ent- sprechend auch für den Gesetzentwurf zum Afrikani- schen Entwicklungsfonds. Daher lehnen wir die Gesetzentwürfe der Koalition zu den Statutenänderungen der Übereinkommen von Afri- kanischer Entwicklungsbank, AfDB, und Afrikanischem Entwicklungsfonds, ADF, aufgrund dieser Bedenken ab. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Klonen von Tieren zur Lebensmittel- produktion verbieten (Tagesordnungspunkt 22) Dieter Stier (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden An- trag der SPD-Fraktion soll die Bundesregierung aufge- fordert werden, auf EU-Ebene einen Vorschlag für das Verbot von Erzeugnissen geklonter Tiere sowie deren Nachkommen vorzulegen. Sollte ein derartiges Verbot aufgrund des Widerstandes von EU-Mitgliedstaaten und der Kommission nicht durchsetzbar sein, fordert die SPD zumindest eine klare Kennzeichnung von Erzeug- nissen geklonter Tiere und deren Nachfahren. Wir, die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion, lehnen diese Haltung ab. Bis zur Einigung auf einen Konsens aller EU-Staaten in dieser Frage erscheint uns eine Übergangsregelung zielführender. Diese Position haben auch die EU-Agrarminister vertreten. Auf der Agrarministerkonferenz am 22. Juni 2011 in Luxemburg haben sie eine Regelung für die Zulassung von Klon- fleisch beschlossen, die faktisch eine Verschärfung des bereits geltenden Rechts bedeutet. Geklonte Tiere selbst dürfen demnach nicht zu Lebensmitteln verarbeitet wer- den, sondern nur die Klontiernachfahren und deren Pro- dukte. Das heißt, nach geltendem Recht ist der Verzehr von Klonfleisch verboten. Mit dieser Entscheidung konnte auch dem Willen des EU-Parlaments nach einer Kennzeichnungsforderung nicht entsprochen werden. Es gibt keine rationalen Gründe, um den Verzehr von Produkten von Klonnachfahren zu verbieten. Bisherige Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittel- sicherheit, EFSA, vom 15. Juli 2008, 26. Juni 2009 und September 2010 haben bestätigt, dass keine gesundheit- liche Gefährdung von dem Verzehr von Lebensmitteln aus geklonten und konventionell gezüchteten Tieren aus- geht. Im Hinblick auf den Tierschutz muss festgehalten werden, dass die Gesundheit und das Wohlergehen von geklonten Tieren leider beeinträchtigt sind. Die EFSA berichtet in ihren Stellungnahmen von einer niedrigen Erfolgsrate der Klonembryonen, es sind häufig Fehlge- burten und Missbildungen wie zum Beispiel das häufig auftretende Large Offspring Syndrom bei Rindern, wo- bei nicht nur der Klon, sondern auch das Trägertier in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Andere Beein- trächtigungen treten erst dann auf, wenn das Trägertier unter Leistung belastet wird. Grundsätzlich ist festzuhal- ten: Klontiere selbst sind oft krankheitsanfälliger und le- ben kürzer. Klonen ist somit durch die geringe Erfolgs- quote wirtschaftlich unrentabel und wird sich auf Dauer nicht gegenüber konventioneller Tierzucht durchsetzen. Zudem möchte ich an dieser Stelle betonen, dass in Deutschland und in der EU Klonfleisch bei der Versor- gung der Bevölkerung mit Fleischprodukten überhaupt keine Rolle spielt. Im Hinblick auf die ethische Betrachtung des Klonens besagt der Bericht der Europäischen Gruppe für Ethik in den Naturwissenschaften und der neuen Technologie, EGE, vom Januar 2008, dass es keine überzeugenden Argumente für eine Rechtfertigung des Klonens in der Nahrungsmittelproduktion gibt. Ob dies auch für die Nachkommen von Klonen gilt, ist noch wissenschaftlich zu untersuchen. Die im SPD-Antrag aufgestellte Behauptung, klonen bedrohe die biologische Vielfalt, entspricht schlichtweg nicht der Wahrheit. Vielmehr hat die Wissenschaft ge- zeigt, dass – insbesondere durch das Klonen –die geneti- 14214 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) sche Vielfalt erhalten wird. Arterhaltung wird gerade durch erbguterhaltendes Klonen praktiziert. Ein zeitlich begrenztes Verbot des Klonens zur Le- bensmittelproduktion könnte der Wissenschaft Zeit ge- ben, um die Probleme beim Tierschutz und bei der Le- bensmittelproduktion zu lösen. Daher ist es nur konsequent, zum momentanen Zeitpunkt den Weg einer EU-weiten Übergangsregelung wählen. Letztlich werden wir nicht verhindern können, dass Klonen in Drittstaaten zur Anwendung kommt. Somit müssen wir auch damit rechnen, dass Lebensmittel von Nachkommen geklonter Tiere auf den europäischen Markt gelangen. Für diesen Fall müsste man ein lücken- loses Rückverfolgbarkeitssystem und eine Kennzeich- nung einführen, damit der Verbraucher Klonnachfolge- produkte als solche identifizieren kann. Für die Nachkommen von geklonten Tieren sollten jedoch keine rechtlichen Maßnahmen unternommen werden, und das Rückverfolgbarkeitssystem würde freiwillige Informa- tionsprogramme ermöglichen. Ich halte es für geboten, nicht vorschnell zu entschei- den. Deshalb lehnen wir den SPD-Antrag ab. Kerstin Tack (SPD): Nach dem Scheitern der Ver- handlungen auf EU-Ebene über den Vorschlag für eine neue Verordnung über neuartige Lebensmittel – Novel- Food-Verordnung – im März dieses Jahres gibt es in Deutschland und in der EU weiterhin keine Vorschriften für Fleisch, Fleischprodukte und Milch von geklonten Tieren und deren Nachkommen. In Deutschland wird in einem breiten gesellschaftli- chen Konsens das Klonen von Tieren abgelehnt, aus ethischen Gründen, aber auch aus tierschutzrechtlichen Gründen. Denn nur wenige Klonembryonen überleben, und häufige Fehlgeburten sind die Folge. Die geklonten Tiere selbst sind oft krankheitsanfälliger und leben kür- zer. In einer Eurobarometer-Umfrage sprach sich bereits 2008 eine deutliche Mehrheit der EU-Bürgerinnen und -Bürger gegen Tierklonen aus und fand, dass das Klonen von Tieren zum menschlichen Verzehr aus ethischen Gründen nicht akzeptabel ist. Die gescheiterte EU-Regelung bedeutet, dass ein Klo- nen von Tieren zur Nahrungsgewinnung nicht verboten wird und dass Lebensmittel von geklonten Tieren und deren Nachkommen nach wie vor ohne Kennzeichnung in den Handel gelangen. Verbraucherinnen und Verbrau- cher können diese Erzeugnisse nicht erkennen und haben keine Wahlmöglichkeit beim Einkauf. Diese Situation ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel, zumal damit auch der erklärte Verbraucherwillen miss- achtet wird. Das Klonen von Tieren zur Lebensmittel- produktion gehört verboten. Dass sich die EU-Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament und die EU-Kommission bei den Verhandlun- gen zur Novel-Food-Verordnung im März noch nicht einmal auf eine Kennzeichnung für Erzeugnisse von ge- klonten Tieren und ihren Nachfahren einigen konnten, ist für mich unverständlich. Der ehemalige Wirtschaftsminister Brüderle hat durch das Abstimmungsverhalten Deutschlands eine eu- ropaweite Regelung verhindert. Verbraucherministerin Aigner konnte sich mal wieder nicht durchsetzen und ist jetzt in Erklärungsnot. In den USA und anderen Ländern ist bereits Fleisch von den Nachfahren geklonter Tiere auf dem Markt, so- dass davon ausgegangen werden kann, dass es auch in die EU gelangt. Ich teile die Forderung des Europäischen Parlaments nach einem Verbot von Lebensmitteln geklonter Tiere und ihren Nachkommen, die bereits seit 2008 besteht. Auch eine von der EU-Kommission eingesetzte Ethik- gruppe für Wissenschaft und neue Technologien findet keine überzeugenden Argumente, welche die Herstel- lung von Nahrungsmitteln von Klonen und ihren Nach- kommen rechtfertige. Darüber hinaus gibt es für mich auch noch keine aus- reichende Risikoabschätzung für gesundheitliche Aus- wirkungen von Produkten geklonter Tiere oder deren Nachfahren. Selbst die Europäische Behörde für Lebens- mittelsicherheit, EFSA, attestiert, dass Erzeugnisse von Klontieren mit einem geschwächten Immunsystem stär- ker mit potenziellen Krankheitserregern belastet sein können. Umso unverständlicher ist dann ihre Aussage, dass Lebensmittel von Klontieren keine Gefahr für die Gesundheit aufweisen. Mit unserem Antrag auf Drucksache 17/5485 fordern wir deshalb die Bundesregierung auf, unverzüglich auf europäischer Ebene eine Initiative für ein Verbot von Er- zeugnissen von geklonten Tieren und ihren Nachfahren zu ergreifen. Wenn dies keine Mehrheit erreichen sollte, muss sie sich zumindest für eine Kennzeichnung der Produkte einsetzen. Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten zu Recht Transparenz bei den Lebensmitteln, die sie verzehren. Das Argument der Bundesregierung, dass zurzeit kein Handlungsbedarf bestehe, da auf europäischer Ebene be- reits an Regelungen für den Einsatz von Klontieren in der Lebensmittelproduktion gearbeitet werde, kann ich nicht teilen. Ich finde, die Bundesregierung muss hier im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher sehr viel stärker intervenieren. Ein Verbot von Erzeugnissen von geklonten Tieren und ihren Nachfahren ist dringend erforderlich. Es ist sehr schade, dass meine Kolleginnen und Kolle- gen der Regierungsfraktionen dies in der Sitzung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- braucherschutz am 11. Mai nicht unterstützt haben und unseren Antrag ablehnen. Der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/5893 können wir somit nicht zustimmen. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die SPD- Fraktion fordert ein Verbot des Klonens von Tieren zur Lebensmittelproduktion. Sie suggeriert damit, das Klo- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14215 (A) (C) (D)(B) nen von Tieren zur Lebensmittelproduktion sei in Kürze zu erwarten. Dies ist nicht der Fall. Die Technik des Klo- nens bei Tieren ist nicht entwickelt worden, um Kotelett oder Rindersalami auf den Tisch der Verbraucherinnen oder Verbraucher zu bringen. Mit diesem Antrag will die SPD bestehende Vorbehalte gegen moderne landwirt- schaftliche Methoden bedienen, statt sich der politischen Aufgabe der Aufklärung zu stellen. Der Antrag der SPD ist überflüssig, er ist sogar schädlich. Die FDP lehnt ihn ab. Das Klonen von Säugetieren ist die jüngste und auf- wändigste Technologie im Bereich der modernen Tier- zucht. In den ungefähr 50 Jahren der wissenschaftlich begründeten Tierzucht haben sich bereits eine Reihe un- terschiedlicher Methoden zur Züchtung leistungsfähiger Nutztiere etabliert. Dazu gehört beispielsweise die künstliche Besamung sowie die Konservierung der Keimzellen. So werden 90 Prozent der Rinder und etwa 50 Prozent der Zuchtsauen künstlich besamt. Einen wei- teren wichtigen Technologiesprung stellt der Embryo- nentransfer dar. Andere biotechnologische Verfahren wie die Unterscheidung von Spermien nach dem Ge- schlecht und die In-vitro-Produktion von Embryonen so- wie die Erforschung des Genoms unserer Nutztiere sind dabei, die moderne Tierzucht deutlich zu verändern. Angesichts der weltweiten Herausforderungen, der die Landwirtschaft gegenübersteht, der Notwendigkeit der Steigerung ihrer Effizienz ist dies richtig und absolut notwendig. Deswegen halten wir es für völlig verfehlt, die Technologie des Klonens entsprechend dem Antrag der SPD-Fraktion anzuprangern und zu verbieten. Wir als FDP wollen eine zukunftsorientierte, moderne Land- wirtschaft, die den Landwirten ebenso wie den Verbrau- cherinnen und Verbrauchern zugutekommt. Wir wollen, dass neue Technologien in Deutschland erforscht und gefördert werden können. Wir dürfen uns nicht vom wis- senschaftlichen Fortschritt abkoppeln. Die Technologie des somatischen Klonens ist noch im Entwicklungsstadium. Das Klonen von Säugetieren ist bis- her erst bei wenigen Arten gelungen, und die Erfolgsraten sind noch relativ niedrig. Derzeit gibt es etwa 4 000 ge- klonte Rinder und etwa 1 000 bis 1 500 Schweine. Bei die- sen Arten liegen die meisten Erfahrungen vor. Diese zei- gen, dass dieses Verfahren noch nicht reif für die landwirtschaftliche Tierzuchtpraxis ist. Die Erfolgsquote ist noch zu gering. Professor Heiner Niemann, der Leiter des Instituts für Nutztiergenetik des Friedrich-Löffler-In- stitutes, hat den aktuellen Sachstand in seinem Beitrag für das Magazin „Biologie in unserer Zeit“ vom Januar 2011 sehr interessant, allgemein verständlich und sach- lich aufbereitet. Ich empfehle diesen Artikel allen Inter- essierten. Das Klonen von Nutztieren ist sehr teuer, aufwändig und in den allermeisten Fällen für Zuchtbetriebe wirt- schaftlich nicht attraktiv. Eine Ausnahme stellen ledig- lich die besten und wertvollsten Zuchttiere oder beson- ders erfolgreiche Sportpferde dar. Viele Sportpferde sind Wallache und können nur über das Klonen vermehrt werden. Inzwischen sind auch geklonte Rinder mit Re- sistenz gegenüber Boviner Spongiformer Encephalitis, BSE, produziert worden. Diese dienen der Produktion von Antikörpern für die Humanmedizin. Wir sind uns der Vorbehalte in der Bevölkerung ge- genüber dem Klonen bewusst. Deswegen unterstützt die FDP die Pläne der EU-Kommission und des Rates, auf- grund der potenziellen Bedeutung des Klonens einen ei- genen Rechtsakt für den Umgang mit der Technologie, den Tieren, ihren Nachfahren und ihrer Produkte zu er- lassen. Leider hat das Europäische Parlament während der Beratungen zur Novel-Food-Verordnung die sinnvol- len Kompromissvorschläge des Rates boykottiert. Vor- geschlagen waren acht Maßnahmen, die gleichermaßen den Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbrau- cher, der praktischen Anwendbarkeit und den Handels- regeln entsprochen hätten. Als Übergangslösung sollte ein Moratorium für das Klonen von Nutztieren, aus ih- nen produzierten Lebensmitteln und von Einfuhr und Vertrieb von Klonen in der EU geschaffen werden. In der Zwischenzeit sollte ein System zur Rückverfolgung von Sperma und Embryonen von Klontieren sowie deren direkten Nachkommen aufgebaut werden, innerhalb von sechs Monaten eine Kennzeichnung von Fleisch geklon- ter Tiere und ihrer direkten Nachkommen entwickelt und die Anwendbarkeit dieser Kennzeichnung auf weitere Generationen von Nachkommen überprüft werden. Wir wollen eine möglichst große Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Dafür müssen aber wissenschaftliche Fakten und wirtschaftliche Machbar- keit die Grundlage bilden. Sowohl die Kommission wie auch der Rat haben dies eingesehen. Das Klonen zu stig- matisieren und gleichzeitig riesige Datenbanken zur Kennzeichnung aufzubauen, die in der Praxis nicht über- prüft werden können, hilft den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht. Wir sollten immer betonen, vom Fleisch geklonter Tiere und von deren Nachkommen geht keinerlei Gefahr aus. Auf der anderen Seite ermöglicht das Klonen gerade im Bereich der Medizin große Fortschritte. Ich erinnere an die Produktion von pharmazeutischen Eiweißstoffen mithilfe von transgenen Tieren. Das Klonen von seltenen Tierarten, beispielsweise des Mufflonwilds, aber auch von vom Aussterben bedrohten Tierrassen kann zum Er- halt genetischer Vielfalt beitragen. Die Aussagen im An- trag der SPD diesbezüglich sind eindeutig falsch. Auch aus diesen Gründen dürfen wir diese Technik nicht fahr- lässig verdammen. Wir sollten uns nicht wissenschaftlich isolieren. Viel- mehr müssen wir daran mitwirken, dass die Menschen in Deutschland die modernen landwirtschaftlichen Metho- den verstehen. Wir müssen sie dafür öffnen. Dazu gehört auch, ihnen die Tierzucht begreiflich zu machen und sie auf dem Weg mitzunehmen. Dies kommt den landwirt- schaftlichen Betrieben genauso zugute wie den Verbrau- cherinnen und Verbrauchern. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Aus eins mach zwei. – So einfach könnte man das Thema „Klo- nen“ zusammenfassen, wenn, ja, wenn da nicht die eine oder andere kritische Frage unbeantwortet bliebe, bei- spielsweise die Frage danach, ob es überhaupt ethisch 14216 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) vertretbar ist; denn es werden Lebewesen einfach ko- piert, die sich eigentlich sexuell fortpflanzen, also ihre beiden Erbanlagen mischen und neu zusammensetzen. Auch stellt sich die Frage danach, ob wir mit dem Klo- nen nicht die ohnehin sinkende genetische Vielfalt unse- rer Nutztierrassen weiter einschränken. Und spannend bleibt die Frage, warum Verbraucherinnen und Verbrau- cher Fleisch oder Milch von geklonten Tieren oder deren Nachkommen ablehnen. Beginnen wir also von vorne: Dolly war die erste. Das Klonschaf galt 1996 als wissenschaftlicher Durchbruch. Am Valentinstag 2003 musste es allerdings eingeschlä- fert werden. Die Klonierung wurde als Ursache für die vorzeitige Alterung diskutiert. Doch die Klontechnik entwickelte sich weiter. Unterdessen sind die gesund- heitlichen Risiken für die Nachkommen solcher Versu- che zwar etwas geringer, aber es ist und bleibt eine Risi- kotechnologie, auf die Politik und Gesetzgeber zu Recht ein kritisches Auge haben. Deshalb beschäftigten sich in den vergangenen Monaten auch das Europäische Parla- ment und der Deutsche Bundestag erneut mit dem Thema. EU-Parlament und EU-Agrarrat hatten im Früh- jahr vergeblich nach einer gemeinsamen Lösung des Konflikts zum Umgang mit den Nachkommen von Klontieren gesucht. Laut Medienberichten war übrigens Bundeswirtschaftsminister Brüderle dabei das Drängen der US-Agrarlobby auf Zugang zum EU-Markt wichti- ger als der Schutz der europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher. Er befürchtete einen Handelskrieg und verhinderte den Kompromiss am 28. März 2011. Leider. Dabei ging es konkret um die Frage, ob zum Beispiel Fleisch, Eier oder Milch von Nachkommen geklonter Tiere in der EU entsprechend gekennzeichnet werden sollen. Das Schnitzel von einem Nachkommen eines Klontieres unterscheidet sich nach derzeitigem Kennt- nisstand zwar gesundheitlich und biologisch-physisch nicht von einem normalen Schnitzel. Aber es gibt dennoch für die Linke im Bundestag und in Brüssel gute Gründe für die Ablehnung des Klonens und für die Forderung, dass Verbraucherinnen und Ver- braucher entscheiden können, was auf ihrem Teller liegt. Viele würden wissentlich solche Produkte nicht kaufen. Das belegt beispielsweise eine Eurobarometerumfrage im Auftrag der EU-Kommission aus dem Jahr 2008. Ihr Ergebnis war, dass „43 Prozent der Bürger den Kauf von Lebensmitteln, die von geklonten Tieren stammen, voll- kommen ausschließen. Erzeugnisse von durch natürliche Fortpflanzung gezeugten Nachkommen geklonter Tiere würden 41 Prozent nicht erstehen.“ Die Linksfraktion lehnt das Klonen von Tieren aus ethischen, tierschutzrechtlichen und ökologischen Grün- den ab. Geklonte Tiere haben häufiger Missbildungen, sind krankheitsanfälliger und sterben oft vorzeitig. Durch das Klonen wird die genetische Vielfalt der land- wirtschaftlichen Nutztiere noch weiter eingeschränkt. Sie ist in den Strukturen der modernen Agrarwirtschaft bereits deutlich zurückgegangen. Ethisch stellt sich die Frage, ob das Kopieren von Individuen überhaupt ver- tretbar ist. Im Gegensatz zu Pflanzen, welche sich durch die vegetative Vermehrung quasi „selbst klonen können“, pflanzen sich landwirtschaftliche Nutztiere na- türlicherweise auf sexuellem Wege fort. Das sollte aus unserer Sicht auch so bleiben. Auch eine steigende Ab- hängigkeit der Landwirtschaftsbetriebe von Konzern- strukturen wäre ein Risiko des Klonens. Das Klonen – das identische Vervielfältigen eines In- dividuums – ist ein aufwendiger und teurer Prozess. Da- rum wird es auch nicht direkt zur Produktion von Mast- schweinen oder Milchkühen eingesetzt. Künstliche Besamung und selbst der Embryotransfer sind deutlich billiger und damit wirtschaftlicher. Geklont werden be- sonders wertvolle Tiere, zum Beispiel Superzuchtbullen. Mit identischen Kopien kann mehr wertvolles Sperma produziert werden. Viele Tausend Portionen könnten dann zum Beispiel aus den USA in die EU zur Besa- mung europäischer Kühe eingeführt werden. Werden de- ren Kälber geschlachtet, entsteht das, was in den Medien verkürzt als „Klonfleisch“ bezeichnet wird. Auf meine Nachfrage, wie viele solcher Klonspermaportionen be- reits nach Deutschland importiert worden sind, antwor- tete mir die Bundesregierung während der Ausschussde- batte, dass sie das schlicht nicht weiß! Das Scheitern des Kompromisses im Frühjahr hat zur Folge, dass Fleisch von Klonnachkommen weiter nicht gekennzeichnet wird. Es kommt auf unsere Teller, ohne dass wir es wissen oder verhindern könnten. Der vorliegende SPD-Antrag fordert von der Bundes- regierung sich „unverzüglich … für ein Verbot von Er- zeugnissen von geklonten Tieren und ihren Nachfahren“ einzusetzen. Sie soll auf EU-Ebene einen Vorschlag dazu unterbreiten. Sollte das nicht erfolgsversprechend sein, sollte die Bundesregierung zumindest „eine Initia- tive für eine Kennzeichnung von Erzeugnissen von ge- klonten Tieren und ihren Nachfahren … ergreifen“. Die Linksfraktion kann sich diesen Forderungen uneinge- schränkt anschließen und stimmt dem Antrag daher zu. Wir wollen nicht, wie die Bundesregierung, auf einen neuen Regelungsvorschlag der EU-Kommission im Jahr 2013 warten. Gerade nach dem Scheitern auf EU-Ebene ist uns ein deutliches Zeichen des Bundestages sehr wichtig: Wir lehnen fraktionsübergreifend das Klonen von Tieren ab! Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Scheitern der Verhandlungen zwischen Europaparla- ment, Kommission und Rat um die Einfuhr von Klon- fleisch und um die Novelle der Novel-Food-Verordnung sowie die unrühmliche Rolle des damaligen Wirtschafts- ministers Rainer Brüderle wurde bereits vor drei Mona- ten hier im Bundestag im Rahmen einer Aktuellen Stunde debattiert. In der Aktuellen Stunde bestätigten die Vertreter der Regierungsfraktionen die großen Tier- schutzprobleme beim Klonen von Nutztieren, wie zum Beispiel die vielen Fehlgeburten und Missbildungen. Die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP äu- ßerten auch ihr Bedauern über die Tatsache, dass der Im- port von Produkten aus dieser tierschutzverachtenden Züchtungstechnologie in der EU derzeit keinen wirksa- men Beschränkungen unterliegt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14217 (A) (C) (D)(B) Die Rolle Deutschlands in den EU-Verhandlungen wurde in diesen staatstragenden Reden dagegen sehr klein gehalten, man habe „vorsichtig die Positionen im Rat abgetastet“ und sei dann zu dem Ergebnis gekom- men, dass dem vom EP vorgeschlagenen Verbot der Ein- fuhr von Produkten von geklonten Tieren und deren Nachkommen nicht zugestimmt werden könne. Nicht einmal der Kompromissvorschlag einer Kennzeich- nungslösung für Klonfleisch wurde von der Bundesre- gierung mitgetragen, obwohl die zuständige Ministerin Ilse Aigner sich im Vorfeld der Verhandlungen wortreich für genau diese Verhandlungslinie ausgesprochen hatte. Und es waren am Ende die Stimmen Deutschlands, die diesen aus Verbrauchersicht wichtigen Kompromiss ver- hindert haben. Vor lauter „Herantasten“ ist am Ende gar nichts herausgekommen. Ich möchte jetzt gar nicht näher auf die – vorsichtig formuliert – erratische Art und Weise eingehen, mit der diese Bundesregierung Europapolitik betreibt. In der Frage der Schuldenkrise Griechenlands hat Diplomatie für die Bundesregierung keinerlei Rolle gespielt. Im Ge- genteil: Als sei es das Ziel der Debatte, wurde mit abfäl- ligen Bemerkungen über Griechenland Porzellan auf dem europäischen Parkett zerschlagen. Bei einer für den Verbraucher- und Tierschutz wichtigen Entscheidung hat die Bundesregierung dagegen nur „vorsichtig abgetas- tet“. Tatsache ist leider, dass wir dadurch in Sachen Klonfleisch derzeit vor einem politischen Scherbenhau- fen stehen. Und das ohne Not, denn hier im Bundestag besteht doch anscheinend ein breiter Konsens gegen das Klonen von Nutztieren. Es kommt jetzt darauf an, diesen Kon- sens schnell und konsequent in entsprechende neue Re- gelungen umzusetzen. Leider hat in der Aktuellen Stunde im April weder das Bundeswirtschafts- noch das Bundesagrarministerium Stellung beziehen wollen oder können. Immerhin wollten auch die Abgeordneten der Regierungsfraktionen die Bundesregierung auffordern, für eine neue Regelung der Klonfleischimporte auf EU-Ebene aktiv zu werden. Ich bin allerdings skeptisch, ob dabei viel herauskommen wird. Ministerin Aigner hat bisher nur in wenigen Fällen die von ihr angekündigten Initiativen umsetzen können. Wie soll das jetzt gelingen, wenn es von ihr bis jetzt noch nicht einmal eine derartige Ankündigung gibt? Wie wird sichergestellt, dass sich die Ministerin bei neuen EU-Verhandlungen nicht wieder die Federführung von einem „Kollegen“ aus der Hand nehmen lässt? Und wie glaubwürdig ist ein deutscher Vorstoß in Brüssel, nach- dem man bisher vor allem als Bremser und Blockierer aufgefallen ist? Um nicht missverstanden zu werden: An mir und meiner Fraktion wird eine wirksame Importbeschrän- kung oder – falls das nicht möglich sein sollte – auch eine Kennzeichnungslösung nicht scheitern. Denn wir haben schon lange deutlich gemacht, dass wir das Klo- nen von Tieren nicht verantworten können und auch die Verbraucherinnen und Verbraucher vor Produkten von Klontieren und ihren Nachkommen schützen wollen. Dazu braucht es eine Regelung zum Importstopp, min- destens aber eine klare und transparente Kennzeichnung. Vermutlich müssen wir aber erst den Ablauf des Haltbar- keitsdatums dieser Bundesregierung abwarten, um end- lich (wieder) konsequent den Verbraucher- und Tier- schutz voranbringen zu können. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa- kodex (Tagesordnungspunkt 23) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich will mich in der zweiten und dritten Lesung des Richtlinienumsetzungs- gesetzes auf die Ergänzungen, die von der Koalition in den Ausschussberatungen eingebracht worden sind, und auf die Änderungsvorschläge der Opposition konzentrie- ren. Wir nehmen das Gesetzeswerk zum Anlass, ein wei- teres Ziel unseres Koalitionsvertrages zu verwirklichen. Wir stellen Schulen und Kindergärten von den Übermitt- lungspflichten bei illegalen Kindern frei. Zu deutsch: Kinder, deren Eltern sich illegal in Deutschland aufhal- ten, können in Zukunft in die Schule oder den Kinder- garten gehen, ohne Angst haben zu müssen, dass Schul- leiter oder Kindergärtner es den Ausländerbehörden melden, dass sie jemanden in ihrer Einrichtung haben, der sich illegal in Deutschland aufhält. Damit kommen wir gerade auch einer langjährigen Forderung der Kir- chen und vieler humanitärer Einrichtungen nach. Wir wissen, dass wir uns mit dieser Gesetzesänderung auf einem schmalen politischen Grad bewegen; denn selbstverständlich gilt gerade für uns Innenpolitiker, dass wir den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung ach- ten. Allerdings ist sicher auch bedenkenswert, dass die Kinder von Illegalen das Schicksal ihrer Eltern teilen und in nahezu allen Fällen keine eigene Schuld daran tragen, dass sie sich rechtswidrig in Deutschland aufhal- ten. Im Übrigen stellen wir jetzt den rechtlichen Rahmen für einen Tatbestand her, der in vielen Bundesländern bereits gängige Praxis ist und zum Teil auf der Grund- lage von Richtlinien der jeweiligen Kultusministerien praktiziert wird. Wir haben uns vor allem aus zwei Gründen dazu durchgerungen, illegalen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen: In den allermeisten Fällen werden die Kin- der wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Wir wollen dazu beitragen, dass sie die Zeit, in der sie in Deutschland sind, nutzen, um Fertigkeiten und Fähigkei- ten zu erwerben, die ihnen ein Leben in der alten Heimat erleichtern. Sie sollen mit dem hier in Deutschland er- worbenen Wissen bessere Bildungs- und Berufsperspek- tiven in ihren Herkunftsländern haben. Dieses kann auch dazu beitragen, dass ihren Eltern die Rückkehr in die Heimat leichter fällt, weil sich die Perspektive der Kin- der verbessert hat. 14218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Zweitens ist zu fragen, was die Kinder wohl mit ihrer Zeit anfangen werden, wenn sie nicht zur Schule gehen. Es ist zumindest zu befürchten, dass sie irgendwann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wer- den könnten. Man kann es auch einfacher sagen: Wer in der Schule ist, kann in der Zeit kein dummes Zeug an- stellen. Insofern sprechen im weitesten Sinne auch kri- minalpräventive Gründe für eine Öffnung der Schulen für den Besuch von Kindern Illegaler. Der Besuch einer Schule und wahrscheinlich auch ei- nes Kindergartens dürfte angesichts der demografischen Entwicklung in unserem Land auch nicht mit zu hohen Kosten insbesondere für die Kommunen verbunden sein. Ganz anders sieht die Lage allerdings aus, wenn man den deutlich weiter gehenden Vorschlägen der Opposi- tion folgen würde, die illegalen Ausländern jedwede Krankenhausbesuche und Arbeitsgerichtsprozesse er- möglichen wollen. Dagegen spricht, dass in diesem Fall die Illegalen selbst und nicht nur ihre Kinder Begüns- tigte einer Regelung wären, die nun wirklich gegen den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung verstoßen würde. Nehmen wir nur den Gerichtsprozess im Falle eines Lohnstreits bei illegaler Beschäftigung. Es kann doch nicht sein, dass ein illegal Aufhältiger seinen Arbeits- lohn aus illegaler Beschäftigung vor Gericht eintreibt, sich dann erneut illegaler Arbeit zuwendet und die Aus- länderbehörde von alledem nichts erfährt. Was den Besuch eines Krankenhauses angeht, haben wir schon nach geltender Rechtslage die Situation, dass die Übermittlungspflicht durch den sogenannten verlän- gerten Geheimnisschutz beschränkt ist. Daten dürfen nur weitergegeben werden, wenn die öffentliche Gesundheit gefährdet ist oder es um Drogenkonsum geht. Durch die Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz ist klarge- stellt, dass sich dieser Geheimnisschutz auch auf das Ab- rechnungspersonal im Krankenhaus erstreckt. Damit ist völlig klar, dass alle illegalen Ausländer angstfrei eine medizinische Notfallversorgung erhalten können, neben dem engmaschigen Netz an altruistischen medizinischen Angeboten, das es heute ohnehin gibt. Dementsprechend ist seit Jahren auch kein Fall bekannt, wo ein Illegaler in irgendeiner Weise an Leib oder Leben gefährdet wäre. Insoweit sind die Anträge der Opposition entweder in der Sache falsch oder überflüssig. Die Koalition verbessert die Rechtsstellung der Opfer von Menschenhandel und illegaler Beschäftigung, in- dem wir die Bedenk- und Stabilisierungsfrist im Vorfeld von Gerichtsverfahren auf drei Monate verlängern. Es muss allerdings dabei bleiben, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte über die Notwendigkeit eines Aufenthalts während des Strafverfahrens entscheiden und es nicht etwa jeder Rechtsanwalt in der Hand hat, durch die bloße Behauptung, jemand könne im Rahmen eines Strafverfahrens etwas beitragen, den Aufenthalt künst- lich verlängern können. Damit wäre Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Das wollen wir nicht. Wir eröffnen Hilfsorganisationen die Möglichkeit, Menschen, die sich in Abschiebehaft befinden, dort zu besuchen. Allerdings setzt das natürlich den Wunsch des Gefangenen voraus. Es macht einen schon etwas fas- sungslos, wenn einzelne Organisationen von uns einen Freibrief zur Zwangsbeglückung verlangen und generell ein solches Besuchsrecht auch gegen den Wunsch des Gefangenen wollen. Hier wird deutlich, dass es diesen Organisationen nicht um die humanitäre Situation der Betroffenen geht, sondern darum, aus rein ideologischen Gründen Abschiebeverfahren zu verzögern. Auch da macht die Koalition selbstverständlich nicht mit. Völlig gegen die Grundsätze unserer Rechtsordnung steht ebenso die Forderung der Opposition, nichtstaatli- che Träger verpflichtend in die Abschiebung von Aus- ländern auf Flughäfen einzubinden. Der Staat muss seine Überwachungssysteme im Rahmen der Abschiebung selbst organisieren. Nur so kann er für eine effektive Ar- beit sorgen. Ich sehe das Wirken der sogenannten Ab- schiebebeobachter ohnehin sehr kritisch, weil durch ihre Einwirkung immer wieder Abschiebungen scheitern, wie zum Beispiel jüngst auf dem Düsseldorfer Flugha- fen. Dort hatten in mehreren Fällen die Aktivitäten der Abschiebebeobachter am Ende nur die Konsequenz, dass die betroffene Kommune höhere Rückkehrprämien für Rückkehrverpflichtete zahlen musste, die zuvor auf dem Flughafen schlicht simuliert hatten, was durch die Einwirkung der Abschiebebeobachter aber zum Abbruch der Aktion durch die Bundespolizei geführt hat. Wir er- warten als CDU/CSU-Fraktion, dass die Bundespolizei bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz mitwirkt und nicht die langjährige Arbeit von Ausländerbehörden zunichte macht. Wie man überhaupt an dieser Stelle sa- gen muss, dass die Art und Weise, wie in der öffentli- chen Debatte und auch bei den konkreten Maßnahmen im Rahmen der Abschiebung mit Mitarbeitern der Aus- länderbehörden umgegangen wird, zum Teil wirklich menschenverachtend ist. Man fragt sich manchmal: Wer beobachtet eigentlich das, was die NGOs und insbeson- dere Abschiebebeobachter tun? Mit unserem Gesetzeswerk lösen wir auch das Ver- sprechen ein, Kindern mit Bleiberecht den Zugang zum BAföG zu eröffnen. Das war bei den letzten Debatten über das Aufenthaltsrecht in Zweifel gezogen worden. In Wahrheit hatte damals die Opposition versucht, das Ge- setz im Bundesrat zustimmungspflichtig zu machen, weil die BAföG-Regelung dies ausgelöst hätte. Diese Trickserei haben wir durchschaut und machen die Geset- zesergänzung zum BAföG jetzt an dieser Stelle, weil das Richtlinienumsetzungsgesetz ohnehin den Bundesrat passieren muss. Wir setzen mit diesem Gesetzeswerk die betroffenen Richtlinien buchstabengetreu um. Wir nutzen die Verab- schiedung des Gesetzes zur weiteren Beschlussfassung über wichtige humanitäre und integrationspolitische Ini- tiativen. Ich bitte deshalb um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung. Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir werden heute in zweiter und dritter Lesung ein Gesetzespaket im Bereich des Ausländer- und Aufenthaltsrechts verabschieden. Dem Gesetzespaket zugrunde liegen insbesondere die Rückführungsrichtlinie sowie die Sanktionsrichtlinie der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14219 (A) (C) (D)(B) Europäischen Union. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung dient der Umsetzung dieser beiden Richtlinien in das innerstaatliche Recht. Ich begrüße die Umsetzung der beiden Richtlinien, die auf die Festlegung eines für alle Mitgliedstaaten ver- bindlichen rechtsstaatlichen Mindeststandards bei der Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer zielen, denn sie bedeutet – entgegen aller Kritik – einen ersten und wichtigen Schritt in Richtung einer gemeinschaftlichen Einwanderungspolitik. Überall dort, wo es vorher keine verbindlichen Vor- schriften gab, führt die Umsetzung dieser Richtlinie in vielen Bereichen zu einer wirklichen Verbesserung. So gibt es in der EU momentan neun Länder, die gar keine zeitliche Begrenzung der Abschiebehaft kennen; jetzt werden es sechs Monate sein. Diese Haftzeit kann nur in begrenzten Ausnahmefällen zweimal um sechs Monate verlängert werden. Eine deutliche Verbesserung stellt die Beschränkung des Wiedereinreiseverbots auf fünf Jahre dar. 14 Länder sprechen derzeit längere Wiedereinreiseverbote aus, Deutschland sogar unbefristete. Das Wiedereinreisever- bot führt auch nicht, wie behauptet, die Flüchtlingspolitik ad absurdum. Denn Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie sieht aus- drücklich vor, dass das Recht, in den Mitgliedstaaten nach internationalem Schutz zu suchen, von einem Wiederein- reiseverbot unberührt bleibt. Übrigens gilt das Wiederein- reiseverbot künftig EU-weit. Dies ist zur Vermeidung von Missbrauch zu begrüßen, denn bisher konnte ein Mit- gliedstaat Einreiseverbote nur für das eigene Territorium aussprechen. Zugunsten der Ausgewiesenen besteht im Übrigen die Möglichkeit, im Einzelfall einen Antrag auf nachträgliche Reduzierung der Befristung zu stellen. Dass wir in Europa eine gemeinsame Einwanderungs- politik brauchen, wird wohl von niemandem infrage ge- stellt. Nirgends zeigt sich das so deutlich wie im Kampf gegen illegale Beschäftigung. Sowohl der EU-Visakodex, der das Verfahren zur Erteilung von Schengen-Visa inner- halb der EU harmonisiert, als auch die Sanktionsrichtlinie verstehen sich daher als Teilaspekt im Kampf gegen ille- gale Einwanderung und ebenso illegale Beschäftigung. Diese Maßnahmen sollen wiederum Teilgrundlage für eine künftig umfassende gemeinsame Einwanderungs- politik werden. Illegale Einwanderung wird durch die Möglichkeit, ein illegales Beschäftigungsverhältnis in der EU einge- hen zu können, begünstigt. Die illegale Beschäftigung il- legaler Einwanderer stellt damit einen wesentlichen Pullfaktor dar. Deshalb benötigen wir in allen EU-Mit- gliedstaaten vergleichbare Sanktionen für die Beschäfti- gung von illegal eingereisten Personen. Die Umsetzung der Richtlinie dient diesem Erfordernis. Trotz einer – wie ich finde – insgesamt gut gelunge- nen Umsetzung der beiden Richtlinien, wurde in den letzten Monaten – das wurde zuletzt in der Sachverstän- digenanhörung am 27. Juni deutlich – der Gesetzentwurf von einigen Verbänden und Nichtregierungsorganisatio- nen als Anlass für weitergehende Forderungen zur Re- form des Abschiebungsrechts genommen. Einige der im Rahmen dieser Anhörung beanstande- ten Kritikpunkte haben wir durch den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen nun aufgegriffen. So haben wir uns entschlossen, die in § 59 Abs. 7 Satz 2 Aufenthalts- gesetz geregelte Ausreisefrist im Interesse der Opfer von Menschenhandel und illegaler Beschäftigung auf min- destens drei Monate zu verlängern, um diesen Menschen ausreichend Bedenk- und Stabilisierungszeit zu gewähr- leisten. § 62 a Abs. 4 Aufenthaltsgesetz wird dahin gehend präzisiert, dass Mitarbeitern von einschlägig tätigen Hilfsorganisationen der Besuch von Abschiebungsge- fangenen nun im Regelfall gestattet werden soll, unter der Voraussetzung, dass der Gefangene dies wünscht. Auf die bisherige Kannregelung wird verzichtet. Wie auch nach Angaben von Kirchen und Wohl- fahrtsverbänden können Kinder von Menschen, die sich ohne Aufenthaltstitel oder Duldung und ohne Kenntnis der Behörden in Deutschland aufhalten, aus Furcht vor Entdeckung keine Schule besuchen. Das ist unzumutbar. Um diesen Menschen die Furcht vor Entdeckung zu neh- men und Kindern den Besuch öffentlicher Schulen und Einrichtungen zu ermöglichen, sollen künftig öffentliche Schulen von den bislang uneingeschränkt bestehenden aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten gegen- über Ausländerbehörden ausgenommen werden. Ich bin überzeugt, dass die Umsetzung in der Form, wie sie jetzt von uns vorgesehen ist, den europarechtli- chen Vorgaben genügt und die Interessen der Betroffenen hinreichend wahrt. Denn eines ist auch klar: Der Gesetz- entwurf ist, wie sollte es anders sein, ein Kompromiss zwischen nationalen Interessen und humanitären Ge- sichtspunkten. Er führt Mindeststandards ein in allen Mit- gliedstaaten, vor allem bei der Unterbringung der Betrof- fenen und im Verfahren sowie beim Rechtsbeistand. Und: Nicht jeder, der in Europa Zuflucht sucht, ist auch tatsächlich schutzbedürftig. Dass eine illegale Zu- wanderung schon allein aufgrund der nachdrängenden Massen nicht einfach akzeptiert werden kann, hat jeder Nationalstaat schon lange für sich entschieden. Insbeson- dere aus Frankreich und Italien hören wir in regelmäßigen Abständen immer wieder Rufe nach restriktiveren Ab- schieberegelungen. Abgeschoben wird in allen europäi- schen Staaten, aber eben unter verschiedenen Vorausset- zungen und Bedingungen. Es einfach dabei zu belassen, wäre die denkbar schlechteste aller Varianten gewesen, erst recht im Sinne der illegal eingereisten Menschen. Die Dynamik im Bereich der Wanderbewegung stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen, die wir innovativ bewältigen müssen. Ich bin überzeugt, dass das Gesetzespaket, das wir in Form der Umsetzung der diesem Gesetzentwurf zugrunde liegenden Richtlinien geschnürt haben, als gute Grundlage für weitere legisla- tive Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Ein- wanderungspolitik dient. Rüdiger Veit (SPD): Bereits anlässlich der ersten Lesung hatte ich Ihnen am 14. April 2011 dargelegt, in welchen einzelnen Punkten dieser Gesetzentwurf die 14220 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) beiden Richtlinien der Europäischen Union – die soge- nannte Rückführungsrichtlinie und die sogenannte Sank- tionsrichtlinie – völlig unzureichend bzw. gar nicht um- setzt. Die am 27. Juni 2011 durchgeführte öffentliche Sachverständigenanhörung hat dies aus meiner Sicht im Wesentlichen bestätigt: Die Mehrheit der Sachverständi- gen war der Auffassung, der Gesetzentwurf bleibe weit hinter dem Inhalt der Richtlinien zurück. Das hat Sie leider nicht beeindruckt, und Sie haben das Ergebnis dieser Anhörung im Wesentlichen igno- riert. Man fragt sich, wozu wir den Aufwand an Zeit und Kosten für alle Beteiligten überhaupt betreiben, bezie- hungsweise wie ernst wir die Ratschläge externer Sach- verständiger nehmen, wenn daraus dann für die jetzige Regierungsmehrheit nichts folgt. Ursprünglich wollten Sie ja sogar zwei Tage später schon die zweite und dritte Lesung durchführen. Jetzt hatten wir immerhin etwas mehr als eine Woche zur Auswertung der Anhörung. Bündnis 90/Die Grünen haben daraus Änderungsan- träge entwickelt, die wir im Wesentlichen unterstützen. Zum Thema „Abschiebehaft“ kündige ich einen eigenen umfassenderen Antrag im Hinblick auf die Notwendig- keit, die Voraussetzungen, die Verhältnismäßigkeit so- wohl für Erwachsene als auch für Minderjährige für die SPD-Fraktion an, den wir nach der Sommerpause ein- bringen werden. Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP ha- ben nun zwar Änderungsanträge eingebracht, die Sache wird damit aber immer noch nicht viel besser. Positiv zu Kenntnis zu nehmen ist lediglich, dass sie Bildungsein- richtungen, also vor allem Schulen und Kindergärten zu- künftig von den Übermittlungspflichten über den illega- len Aufenthalt von Kindern an die jeweilige Ausländerbehörde ausnehmen wollen. Die Sanktions- richtlinie hätte das gleiche für Arbeitsgerichte aus unse- rer Sicht ebenfalls zwingend notwendig gemacht. Bei Gesundheitseinrichtungen wollen wir es alle so, wie die Verwaltungsvorschriften zeigen, die wir zu Zeiten der Großen Koalition entsprechend formuliert haben. Das sind aber eben nur Verwaltungsvorschriften, es ist kein Gesetz. Konsequenter wäre es daher gewesen, entspre- chend unserem Vorschlag – deckungsgleich auch mit dem der Grünen insoweit – die Übermittlungspflichten auf Polizei- und Ordnungsbehörden sowie öffentliche Stellen mit der Aufgabe der Strafverfolgung und -voll- streckung zu beschränken, wie dies auch sonst im euro- päischen Umfeld ganz überwiegend der Rechtslage ent- spricht. Aber auch hierfür gilt wie beispielsweise bei der von dieser Koalition vorgeschlagenen und verabschiedeten Bleiberechtsregelung für Kinder und Jugendliche ebenso wie bei der angeblich beabsichtigten Hilfe für Opfer für Zwangsverheiratete: Sie arbeiten die Stichworte Ihrer Koalitionsvereinbarung zwar ab, schränken die Voraus- setzungen und Regelungen aber zugleich wieder so weit ein, dass ihre praktische Auswirkung für die Betroffenen höchst begrenzt bleibt. Sollten Sie in der CDU/CSU – dessen bin ich mir nicht so sicher – oder aber Ihr Ko- alitionspartner FDP – da bin ich mir allmählich auch nicht mehr so sicher – im Prinzip Gutes und Begrüßens- wertes gewollt haben, gilt für die Regelungen nach Art der berühmten Echternacher Springprozession „Zwei Schritte vor, einen zurück“ der Satz: gut gemeint (oder gewollt) ist noch lange nicht gut gemacht. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Unser Gesetz- entwurf dient der Umsetzung einiger wichtiger Richtli- nien im Bereich des Ausländer- und Aufenthaltsrechts. Insbesondere die Rückführungs- und die Sanktionsricht- linie sind hier zu nennen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat die Rückführungsrichtlinie begrüßt. Anders als zum Beispiel die Kollegen von der Linken sehen wir hier ei- nen großen Fortschritt für die Betroffenen: Erstmals gibt es innerhalb Europas gleiche Mindeststandards im Be- reich der Rückführung. Die Rückführungsrichtlinie hätte bereits zum Ende letzten Jahres umgesetzt werden müssen. Die sorgfältige Abstimmung des Gesetzentwurfes innerhalb des BMI mit den anderen Ressorts und insbesondere auch die in- tensive Beteiligung der Kirchen und Verbände macht deutlich, dass die Regierungskoalition große Sensibilität in diesem Themenbereich zeigt. Dies ist auch notwen- dig: Gerade die Abschiebungshaft greift tief in Grund- rechte ein und muss daher besonders austariert werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion war immer wichtig, dass diese nur letztes Mittel sein kann und sein darf. Aus unserer Überzeugung wurde bei dem Gesetzentwurf die- ser Haltung Rechnung getragen. Die Anhörung im In- nenausschuss hat bezüglich des Entwurfs der Koalition bestätigt: Wir schaffen hier einige signifikante Verbesse- rungen. Das Kindeswohl muss aus Sicht der FDP-Bundes- tagsfraktion Priorität haben. Unser Gesetzentwurf ist in Bezug auf die Abschiebungshaft bei Minderjährigen die- sem Punkt sehr ausgewogen. Das Kindeswohl ist auch für die Koalition insgesamt zentral. Dies zeigt sich be- reits in der Rücknahme des Vorbehalts zur Kinderrechts- konvention. Keine Vorgängerkoalition hat dies zustande gebracht! Abschiebungen sind im Ausländerrecht notwendig. Die Abschiebungshaft ist aus Sicht der FDP-Bundes- tagsfraktion ein notwendiges Mittel zur Durchsetzung des Ausländerrechts. Allerdings müssen bei einem derart sensiblen Bereich der Gesetzgeber und die vollziehende Gewalt möglichst alles unternehmen, um für angemes- sene Durchführung, Transparenz und Akzeptanz zu sor- gen. Dass nun explizit vorgesehen ist, dass Abschiebe- häftlinge in separaten Einrichtungen untergebracht werden sollen, begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion aus- drücklich. Die Unterbringung in normalen Gefängnissen ist grundsätzlich problematisch. Wir möchten nun auch die sozialrechtlichen Vor- schriften, die im Zwangsheirats-Bekämpfungsgesetz nicht mehr untergebracht werden konnten, einflechten. Die diesbezügliche Gesetzesnovellierung wird mit den vorliegenden Bestimmungen erst vollständig und praxis- gerecht. Sie bedeuten einen wichtigen Schritt vorwärts in der humanitären Ausländerpolitik. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14221 (A) (C) (D)(B) Uns liegt noch ein weiteres Vorhaben des Koalitions- vertrages am Herzen. Dort ist Folgendes vereinbart: „Wir werden die aufenthaltsgesetzlichen Übermittlungs- pflichten öffentlicher Stellen dahingehend ändern, dass der Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird.“ Es ist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir die aufenthalts- rechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen ändern, um den Schul- und Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten. Bildung ist die Basis für ge- sellschaftliche Integration und persönlichen Erfolg. Die Koalitionsfraktionen haben sich entschieden, auch die Stabilisierungszeit für Opfer von Menschen- handel auf drei Monate auszudehnen. Wir folgen damit einem dringenden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Polizei. Wir sorgen dafür, dass Abschiebehäft- linge auf ihren Wunsch hin von Nichtregierungsorgani- sationen besucht werden dürfen. Betonen möchte ich an dieser Stelle, dass ausgerechnet große Teile der Opposi- tion den vorgenannten Änderungen des Gesetzentwurfes nicht zugestimmt haben. Ausgerechnet diejenigen, die sich immer als Hüter des Flüchtlingsrechts erachten, ha- ben diesen wichtigen und wegweisenden Verbesserun- gen nicht zugestimmt, obwohl die SPD sogar bei der Verabschiedung der Richtlinien auf europäischer Ebene noch beteiligt war. Da kann ich nur sagen: Man sieht, dass sie nur aus taktischen Erwägungen handeln. Wenn es darum geht Verbesserungen für die Betroffenen zu schaffen, ducken Sie sich weg. Lieber gegen die Koali- tion stimmen, bevor man Verbesserungen schafft. Das ist wirklich nicht an der Sache orientiert, wie sie immer be- haupten. Wir haben bei den erfolgreichen Verhandlungen inner- halb der Koalition wichtige Weichenstellungen gesetzt. Diese Koalition kann stolz darauf sein, dass sie wirklich substanzielle Verbesserungen gerade im humanitären Ausländerrecht erreicht hat. Um die illegale Beschäfti- gung von Ausländern zu verhindern bzw. zu sanktionie- ren, fordert die Sanktionsrichtlinie im Wesentlichen die Ausdehnung der Arbeitgeberhaftung auf Generalunter- nehmer und zwischengeschaltete Unternehmer, erhöhte Nachweispflichten für Arbeitgeber und die Einführung von zwei neuen Straftatbeständen. Darüber hinaus ist ein befristeter Aufenthaltstitel für Opfer illegaler Beschäfti- gung einzuführen, um ihre Mitwirkung als Zeugen im Strafverfahren zu ermöglichen. Wegen einiger Regelungen des Visakodex – insbeson- dere zur Erforderlichkeit der Begründung von Visums- versagungen sowie zur Anfechtbarkeit der Visumsversa- gung – sind im Wesentlichen Anpassungen der Form- und Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes not- wendig. Im Zusammenhang mit den genannten Anpassungen an europäische Rechtsakte werden zur Klarstellung und zur Bereinigung von Unstimmigkeiten technische und re- daktionelle Anpassungen aufenthaltsrechtlicher Vorschrif- ten vorgenommen, die sich auf unterschiedliche Rege- lungsbereiche des Aufenthaltsgesetzes, das AZR-Gesetz, die Aufenthaltsverordnung und die AZRG-Durchfüh- rungsverordnung erstrecken. Migration und Integration stellen Deutschland vor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine aktive Integrationspolitik geeinigt. Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechun- gen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur „territo- rial“ nach Deutschland kommen, sondern auch mit ihrer Kultur in unserem Land sowie unserer Gesellschaft mit ihren Grundwerten ankommen wollen. Wir halten es nicht, wie die Grünen oder die Linken, für unzumutbar, Deutsch zu lernen. Wir halten Zuwanderer nicht für be- mitleidenswerte und unfähige Menschen, denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet werden kann und die auf Generationen hinaus mit dem Unwort „Migrations- hintergrund“ stigmatisiert werden sollen. Wir meinen, dass endlich ein Umdenken erfolgen muss: Statt der Un- kultur eines auf Dauer erniedrigenden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsforderungen, muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich positiv denken: Deutschland verändert sich. Die neue Bundesregierung gestaltet diese Veränderungen, ohne ideologischen Bal- last und vorurteilsfrei. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir beraten heute ab- schließend einen Gesetzentwurf zur Umsetzung zweier EU-Richtlinien im Aufenthaltsrecht: Zum einen die so- genannte Rückführungsrichtlinie, die EU-weit Mindest- standards bei Abschiebehaft und beim Verfahren der Ab- schiebung schaffen soll. Zum anderen die sogenannte Sanktionsrichtlinie, die der Harmonisierung des nationa- len Rechts bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung dienen soll. Sie sieht vor: Wer Menschen ohne Aufent- haltstitel beschäftigt, soll Strafe zahlen. Die illegal Be- schäftigten sollen mehr Rechte erhalten, gegen ausbeute- rische Arbeitsverhältnisse vorgehen zu können. Beides soll die Beschäftigung von illegalisierten Migranten un- attraktiver machen. Zu den Gesetzentwürfen hat es eine Anhörung im In- nenausschuss gegeben, bei der ein Teil der Sachverstän- digen deutlich Kritik geübt hat. Bemerkenswerterweise hat die Koalition tatsächlich in Folge der Anhörung mi- nimale Änderungen an ihrem Gesetzentwurf vorgenom- men. Bemerkenswert ist das deshalb, weil die Ergeb- nisse von Anhörungen sonst meist ignoriert werden. Trotz der begrüßenswerten Änderungen ist dieses Gesetz für die Linke nicht zustimmungsfähig. Bei der Dauer der Abschiebehaft erweist sich Deutschland weiterhin als besonders repressiv. Die Bun- desregierung hat die Gelegenheit versäumt, wenigstens die Höchstdauer der Abschiebehaft auf drei Monate zu verkürzen, wie das zum Beispiel auch der Jesuiten- Flüchtlingsdienst gefordert hat. Es bleibt bei 18 Mona- ten. Das sieht sonst nur Griechenland vor, das nicht ge- rade ein Musterstaat bei der Wahrung der Menschen- rechte von Migranten ist. In allen anderen EU-Staaten liegen die Fristen weit darunter. Ich meine, die Abschie- behaft ist aus rechtsstaatlicher Sicht überhaupt keine ver- hältnismäßige, legitime Maßnahme. Denn es werden Menschen in den Knast gesteckt, die überhaupt keine 14222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Straftat begangen habe, und wenn dann sogar Minder- jährige und ihre Familienangehörigen, kranke und trau- matisierte Menschen, in eine solche Abschiebehaft kom- men, spätestens dann ist doch jede Verhältnismäßigkeit hinüber. Der Gesetzentwurf hätte hier klare Grenzen zie- hen müssen. So bleibt er hinter den menschenrechtlichen Anforderungen weit zurück. Selbst der Zugang von Hilfsorganisationen zu Abschiebehäftlingen, der in der Richtlinie vorgesehen ist, wird im Gesetzentwurf nicht umgesetzt. Völlig unbefriedigend ist auch die Art und Weise, wie die Sanktionsrichtlinie umgesetzt wird. Im Gesetzent- wurf der Bundesregierung finden sich keine wirksamen Mechanismen für die Durchsetzung von Ansprüchen aus illegalen Beschäftigungsverhältnissen. Dazu würde ge- hören, dass die Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, um Lohnansprüche, aber auch Schadener- satzansprüche gegen ihre Ausbeuter durchsetzen zu kön- nen. Aber die Interessen der Opfer sind der Koalition of- fensichtlich gleichgültig. Eine Aufenthaltserlaubnis erhält nur, wer von Staatsanwaltschaft und Ausländerbe- hörde als Zeuge für ein Strafverfahren benötigt wird. Der Rest muss gehen, und es spielt keine Rolle, ob sie noch Ansprüche auf vorenthaltenen Lohn oder gar Scha- densersatz für Misshandlungen geltend machen wollen. Statt Gerechtigkeit droht ihnen Abschiebehaft und Ab- schiebung. Der bundesweite Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationspro- zess, KOK, hat in einer Stellungnahme zu Recht von ei- ner Instrumentalisierung der Betroffenen gesprochen, „da nicht das Wohlergehen der Betroffenen, sondern die Effektivität der Strafverfolgung alleiniger Grund für die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist“. Dieser Bewertung schließen wir uns an. Ich will am Ende noch einen Punkt, der von den Ko- alitionsfraktionen noch im letzten Moment geändert wurde. Es ist nun endlich im Gesetz klargestellt, dass Leiter von Schulen und Kindertageseinrichtungen nicht mehr dazu verpflichtet sind, Kinder ohne Aufenthaltssta- tus bei der Ausländerbehörde zu denunzieren. Damit können sie ihr Recht auf Bildung ohne Angst vor Entde- ckung und Abschiebung wahrnehmen. Doch die Melde- pflicht steht noch einer ganzen Reihe anderer Rechte im Weg: Zugang zu Gesundheitsleistungen, Zugang zu Ar- beitsgerichten und anderes mehr ist den Illegalisierten verwehrt, weil sie immer Angst vor Entdeckung haben müssen. Die vorgeschlagenen Änderungen gehen auch an dieser Stelle nicht weit genug. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die parallel eingebrachten identischen Gesetzent- würfe der Bundesregierung sowie der Koalitionsfraktio- nen sollen der Umsetzung bzw. Anpassung des nationalen Rechts an folgende EU-Rechtsakte dienen: Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments, EP, und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemein- same Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – sogenannte Rückführungsrichtlinie –; hier ist seit dem 24. Dezember 2010 die Umsetzungsfrist abgelaufen; Richtlinie 2009/52/EG des EP und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehö- rige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen – sogenannte Sanktionsrichtlinie –; Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des EP und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft – sogenannter Visakodex. Der vorliegende Gesetzentwurf sowie die hierzu am 17. Juni 2011 durchgeführte Sachverständigenanhörung im Innenausschuss zeigen: Die Bundesregierung hat die in den Richtlinien enthaltenen Mindeststandards unprä- zise oder teilweise gar nicht umgesetzt. Dieses Vorgehen ist mit Unionsrecht nicht zu vereinbaren. Zwar belassen EU-Richtlinien den Mitgliedstaaten gewisse Spielräume bei der Ausgestaltung der innerstaatlichen Umsetzung, allerdings dürfen die in den Richtlinien enthaltenen Min- destrechte nicht selektiv aufgegriffen oder einfach außen vor gelassen werden. Begründen Richtlinien Rechtsposi- tionen für Betroffene, müssen diese im innerstaatlichen Recht eine Entsprechung finden. Dieser Verpflichtung wird der Gesetzentwurf bei weitem nicht gerecht. Diese Diagnose gilt auch trotz der unterdessen von der Koali- tion eingebrachten Änderungsanträge: Die Hauptkritikpunkte der Sachverständigen an der Nichtumsetzung der Rückführungsrichtlinie im Bereich der Abschiebungshaft wurden von der Koalition über- haupt nicht aufgegriffen. Das Trennungsgebot zwischen Abschiebungshaft und Strafhaft zum Beispiel wurde nicht ausreichend umgesetzt, ebenso wenig wie die Aus- nahme von der Inhaftnahme von unbegleiteten minder- jährigen Flüchtlingen. Unverständlich bleibt auch, warum die Koalition die bisherigen positiven Erfahrungen mit den Abschie- bungsbeobachtungsstellen, die es in Düsseldorf seit 2001, in Frankfurt am Main seit 2006 und in Hamburg seit 2010 gibt, nicht nutzt, um die Vorgabe aus Art. 8 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie umzusetzen. Dort heißt es: „Die Mitgliedstaaten schaffen ein wirksames System für die Überwachung von Rückführungen.“ Diese Vorgabe ist in Deutschland bislang nicht umge- setzt. Die bisher bestehenden Abschiebungsbeobachtungs- stellen sorgen für Transparenz und wirken befriedend in einem Bereich, der üblicherweise der Öffentlichkeit ent- zogen ist. Die Einlassungen der Unionsabgeordneten in der Innenausschusssitzung – Drucksache 17/6497 –, dass die Arbeit der Abschiebungsbeobachtungsstellen in der Praxis zu einer massiven Einwirkung auf Mitarbeiter der Ausländerbehörden und Bundespolizisten führe, ent- behren jeder empirischen Grundlage. Weiterhin ist zu kritisieren, dass die Koalition die Änderungsanträge nicht zum Anlass genommen hat, die Wiederherstellung des einstweiligen Rechtsschutzes in Rücküberstellungs- verfahren nach der Dublin-II-Verordnung auf den Weg zu bringen. Zwar geht die Koalition nun mit der Datenübermitt- lungssperre für Schulen und Kitas an die Ausländerbe- hörden einen Schritt in die richtige Richtung und ermög- licht somit den Schul- und Kitabesuch auch Kindern ohne Aufenthaltsstatus. Warum aber dann nicht auch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14223 (A) (C) (D)(B) noch an die sozialrechtliche Anschlussregelung im SGB VIII gedacht wurde, bleibt ein Rätsel. Die Grünen haben den entsprechenden Änderungsantrag noch nach- gereicht, der auch Kindern ohne Aufenthaltsstatus den Besuch einer Kita ermöglichen will. Derzeit sind Kinder ohne Aufenthaltsstatus nach § 6 Abs. 2 SGB VIII von Leistungen der Kinder-und Jugendhilfe ausgeschlossen. Somit haben sie auch keinen Anspruch auf den Besuch einer Kita gemäß § 24 SGB VIII. Leider haben sich die Koalitionsfraktionen im Innenausschuss nicht dazu durchringen können, unserem Änderungsantrag zuzu- stimmen. So wird das gut gemeinte Vorhaben der Koali- tion ins Leere laufen. Insgesamt bleibt bei dem Thema „Datenübermittlung an die Ausländerbehörden“ aber zu sagen, dass die Vor- schläge der Koalition viel zu kurz greifen und beispiels- weise die Datenübermittlungssperre gegenüber Arbeits- gerichten und Gesundheitseinrichtungen nicht in Angriff genommen wird. Die Mehrheit der Sachverständigen hat in der Anhörung des Innenausschusses zum Richtlinien- umsetzungsgesetz bestätigt, dass die Übermittlungs- pflicht der Arbeitsgerichte an die Ausländerbehörden das größte Hindernis bei der Durchsetzung von Lohnan- sprüchen ist. Diese Sachverständigen waren sich einig, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus von der Durch- setzung ihrer Ansprüche absehen, weil die Gerichte übermittlungspflichtig sind und daher mit Einreichung einer Klage die Statusaufdeckung droht. Insofern ver- stoße die Übermittlungspflicht von Arbeitsgerichten ge- mäß § 87 Abs. 2 AufenthG gegen die Vorgabe des Art. 6 Abs. 2 der Sanktionsrichtlinie, wirksame Verfahren si- cherzustellen, damit illegal Beschäftigte ihren Lohn er- halten und gegebenenfalls Entschädigungsansprüche ge- richtlich durchsetzen können. Die grüne Fraktion hat mit zahlreichen Änderungsan- trägen im Innenausschuss versucht, der Koalition Brü- cken zu bauen. Bedauerlicherweise hatte dies keinen Er- folg. Wir werden den Gesetzentwurf der Koalition daher ablehnen. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Erweiterung der Anzahl der Sachver- ständigen in der Enquete-Kommission „Wachs- tum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftli- chem Fortschritt in der Sozialen Marktwirt- schaft“ (Tagesordnungspunkt 24) Stefanie Vogelsang (CDU/CSU): Wir debattieren hier heute erneut über den Antrag zur Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommis- sion „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fort- schritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linken. In dem vorliegenden Antrag soll die Zahl der Sachverständigen um acht Sachverständige erweitert werden und diese zu- sätzlichen Sachverständigen sollen alle weiblich sein, um auch auf der Sachverständigenseite die Kompeten- zen, Erfahrungen und Sichtweisen von Frauen einzube- ziehen. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass so- wohl die SPD als auch die Grünen und die Linken die Gelegenheit hatten, weibliche Sachverständige zu nomi- nieren. Alle Fraktionen haben sich bei der Benennung der Sachverständigen an deren Sachkompetenz und nicht dem Geschlecht orientiert. Als im vergangenen Monat ein männlicher Sachver- ständiger aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden ist, hat sich die Union wieder an der Sachkompetenz orientiert: Frau Professor Dr. Beate Jochimsen ist eine Sachverständige mit anerkanntem Fachwissen, und sie wurde auch deswegen nominiert, nicht weil sie eine Frau ist, sondern weil sie eine anerkannte Autorität ist. Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ ist keine frauenfeindliche Veranstaltung. Von den 17 Mitgliedern des Deutschen Bundestages, die dieser Kommission angehören, sind acht, also fast die Hälfte, weiblich. Die Vorsitzende der Enquete-Kommis- sion, Daniela Kolbe, ist weiblich, und zwei der bisher drei Projektgruppen der Enquete-Kommission werden von Frauen geleitet, nämlich von der FDP-Kollegin Claudia Bögel und von mir. Die Frauen sind also gut vertreten, und es ist kein rein männliches Gremium. Wir haben gute Sachverständige, die mit ihren Ideen die Ar- beit der Enquete-Kommission bereichern. Die Arbeit der Enquete-Kommission hat sich in den vergangen Monaten gut eingespielt, und eine Erweite- rung der Sachverständigen um acht Personen würde die Arbeit wieder zum Stocken bringen. Das wäre kontra- produktiv. Außerdem könnten bei der Erweiterung der Sachverständigen die Sachverständigen theoretisch die Abgeordneten überstimmen; das wäre also eine überflüs- sige und einseitige Verschiebung eines bestehenden und sinnvollen Gleichgewichts zum Nachteil des Bundesta- ges. In Deutschland stehen die höchsten politischen Posi- tionen jeder Person offen, dabei geht es nur nach Leis- tung. Mit Blick auf die Regierungsbank sehe ich, dass eine Frau die Bundeskanzlerin unseres schönen Landes ist. Ich erinnere an die ausgezeichnete Kandidatin auf das Amt des Bundespräsidenten, Dagmar Schipanski, und auch die Sozialdemokraten haben früher einmal nach Leistung beurteilt und Annemarie Renger zur ers- ten Bundestagspräsidenten gewählt. Heute dreht sich die Debatte nur um eine Frauen- quote, diese steht der Enquete-Kommission nicht gut zu Gesicht. Wir sollten weiterhin unsere Sachverständigen nach Eignung und Leistung auswählen. Ich erneuere meine Ansicht, dass diese Selbstbeschäftigung, die Dis- kussion über Frauenquoten in bundestagsinternen Gre- mien, die Thematik der Frauenfrage kein Stück voran- bringt, sie ist und bleibt Selbstbeschäftigung. Um Chancengleichheiten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik für Frauen herzustellen, müssen wir auf an- deren Gebieten tätig werden. Ich freue mich auf span- nende Diskussionen in der Enquete-Kommission und 14224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) den Austausch auch mit den männlichen Kollegen aus Wissenschaft und Forschung. Vielleicht macht das für eine Frau den besonderen Reiz aus, sich intellektuell mit den Männern zu messen. Zum Abschluss wünsche ich einem anderen Frauen- team viel Glück und Erfolg, nämlich der Frauenfußball- nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in unse- rem Land. Ich bin sicher, unsere Damenelf erringt den begehrten Pokal, denn wie Sie wissen, sind dritte Plätze nur etwas für Männer. Die CDU/CSU lehnt den Antrag zur Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen in der Enquete-Kommis- sion „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichen Fort- schritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ ab. Elke Ferner (SPD): Am 30. Juni diesen Jahres haben die Berichterstatter der CDU/CSU und der FDP des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- nung ihren Fraktionen empfohlen, sich gegen mehr Chancengleichheit und gegen den Sachverstand von Frauen zu entscheiden. Das war zu erwarten, und das ist mehr als bedauerlich. Das ist ein fatales Zeichen! Daher appelliere ich erneut an die Frauen aller Fraktionen: Las- sen Sie uns gemeinsam ein frauenpolitisches Zeichen setzen! Lassen Sie vom Deutschen Bundestag ein Signal der Frauensolidarität aussenden und unseren Fehler wie- dergutmachen! Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ diskutiert mit jeweils 17 Abgeordneten und 17 Sachverständigen die Fragen um die Zukunft un- serer Wirtschaft und unserer Gesellschaft. Während die Fraktionen mit ihren Benennungen dafür gesorgt haben, dass die Seite der Bundestagsabgeordneten mit 52,94 Pro- zent Frauen vorbildlich besetzt ist, wurden Frauen auf der Sachverständigenbank völlig ausgeblendet. Aus dem Blick politischer Fairness ist das ein Skandal. Der Frau- enanteil bei der Einsetzung der Kommission betrug ins- gesamt 24 Prozent. Nachdem wir schon in der Debatte zum 100. Interna- tionalen Frauentag das Versagen aller Fraktionen bei der Besetzung der Sachverständigenbank angeprangert ha- ben, hatte zumindest ich den Eindruck, dass auch die Kolleginnen in Unions- und FDP-Fraktion meine Auf- fassung teilen und ein ehrliches gleichstellungspoliti- sches Interesse haben. Deshalb sollte dieser fraktions- übergreifenden Gruppenantrag dafür sorgen, dass die Sachverständigenbank um weitere acht weibliche Mit- glieder erweitert wird. Anfangs schien es auch so, als sei ein ehrliches Interesse bei allen Fraktionen vorhanden, ein frauenpolitisches Zeichen zu setzen. Allerdings schienen sich diese neuartigen gleichstellungspolitischen Ambitionen der Unionsfrauen leider schnell darin zu er- schöpfen, dass sie sich mit dem Einwechseln einer einzi- gen Frau bei den von der Union zu benennenden Sach- verständigen zufrieden geben. Das ist kein Erfolg, sondern ein Armutszeugnis. Die Unionsfraktion hat eine einzige Frau von immer- hin sechs MdBs und jetzt neuerdings auch noch eine Frau bei sechs Sachverständigen – also zwei von zwölf, das entspricht einem Anteil von sagenhaften 16,7 Pro- zent. Damit hat die Union auch weiterhin die rote La- terne. Auch der Hinweis, die anderen Fraktionen könn- ten ja auch jeweils eine Frau auf der Sachverstän- digenbank auswechseln, hilft nicht weiter. Zwar würde sich der Frauenanteil auf der Sachverständigenbank auf 29 Prozent erhöhen, wäre damit aber immer noch niedri- ger als mit unserem Vorschlag. Bleibt das Argument: Unser Vorschlag verschiebt die Parität zugunsten der Sachverständigenseite. Das stimmt, allerdings ist nicht zu befürchten, dass sich die Sachverständigenseite gegen die Abgeordnetenseite verbünden und diese überstim- men würde. Es ist wirklich sehr schade, dass Sie, liebe Kolleginnen von der Union, sich lieber mit einem Spatz in der Hand abspeisen lassen, als um die Taube auf dem Dach zu kämpfen. Hinzu kommt, dass ich, ehrlich gesagt, ziemlich ent- setzt darüber bin, wie Sie, werte Kolleginnen und Kolle- gen der Unionsfraktion, die Ablehnung des Antrages be- gründen. Die Kommission müsse nicht um acht weib- liche Sachverständige erweitert werden, da man sich ja bei der Benennung der Sachverständigen an deren Sach- kompetenz und nicht am Geschlecht orientiert hätte. Wissen Sie eigentlich, was Sie damit sagen? Bei aller Nachsicht für Ihre gleichstellungspolitische Kurzsichtig- keit, diese Aussage ist durch und durch diskriminierend, denn sie bedeutet letztlich nichts anderes, dass es, auf den Sachverstand und die Qualität bezogen, nur Männer gäbe, die überhaupt infrage kommen würden. Damit dis- kreditieren Sie hervorragende Wissenschaftlerinnen und sprechen ihnen so jegliche Kompetenz ab. Liebe Kolleginnen der CDU/CSU, ich kann mir wirk- lich nicht vorstellen, dass Sie das genauso sehen und mittragen wollen. Bitte überdenken Sie noch einmal Ihre Entscheidung! Lassen Sie uns gemeinsam ein gleichstel- lungspolitisches Zeichen setzen, damit in Zukunft auch die Gremien des Bundestages paritätisch besetzt werden. In einer Zeit, in der wir öffentlich über Frauenquoten für Führungspositionen diskutieren, in der wir eine Kanzle- rin und mehrere Ministerinnen als selbstverständlich an- sehen, in einer Zeit, in der sowohl das Gleichstellungs- gebot als auch das Bundesgremienbesetzungsgesetz die politischen Akteure verpflichtet, die Gleichstellung von Frauen und Männern und die Strategie des Gender Main- streaming zu fördern bzw. die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien zu schaffen, in so einer Zeit ist es unmöglich, ein 17-köpfiges Sachverstän- digengremium ohne eine einzige Frauen einzusetzen. Mit einem derart eingeschränkten männlichen Blick werden fundamental wichtige Perspektiven ausgeklam- mert und Wirtschaft wieder zur alleinigen Männerdo- mäne erklärt. Dabei ist es seit jeher Anliegen der Frauen- bewegung, Frauenverbänden und der feministischen Ökonomiekritik, Antworten auf die Frage nach Indikato- ren wirtschaftlichen Wachstums zu finden. Ihre Kritik liegt vor allem darin, dass nur das Brutto- inlandsprodukt als Indikator für wirtschaftliches Wachs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14225 (A) (C) (D)(B) tum gilt. Gesellschaftliche Arbeit wird demnach mit be- zahlter Arbeit gleichgesetzt. Dass so aber die unbezahlte soziale Arbeit, die einen Großteil gesellschaftlicher Ar- beit ausmacht, nicht wertgeschätzt wird, wird in der De- batte ebenso vergessen wie Bildung, Verteilungsgerech- tigkeit oder politische Teilhabe. Unbezahlte Tätigkeiten wie zum Beispiel die Pflege von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern werden seit jeher von Frauen er- bracht und ebenso seit jeher nicht als Arbeit geschätzt. Das Volumen der unbezahlten Arbeit in Deutschland ist mit 96 Milliarden Stunden signifikant höher als die 56 Milliarden Stunden bezahlter Arbeit. Der monetäre Wert dieser unbezahlten Arbeit beträgt 684 Milliarden Euro. Allein anhand dieser wenigen Zahlen erkennt man schnell, wie wichtig die Einbindung der weiblichen Per- spektive ist. Seit Jahren forschen Ökonominnen und So- ziologinnen auf den Gebieten von Wachstum und Wohl- stand in Verbindung mit dem Wandel der Geschlech- terverhältnisse. Es gibt sie also, die weiblichen Expertin- nen. Und ich wage zu behaupten, dass diese Frauen die gleiche Sachkompetenz besitzen wie ihre männlichen Kollegen. Lassen Sie uns bitte nicht ohne den Sachver- stand der Frauen über die Zukunft unseres Landes disku- tieren und entscheiden. Ich appelliere noch einmal an alle, vor allem aber an alle weiblichen Abgeordneten, die Effizienz des Gre- miums zu erhöhen, größere Chancengleichheit herzu- stellen und unsere Fehler zu berichtigen, indem wir un- ser Versäumnis versuchen zu schmälern und acht weitere, ausschließlich weibliche Sachverständige in die Enquete-Kommission berufen. Claudia Bögel (FDP): Am 17. Januar diesen Jahres hat sich auf Antrag der Regierungsparteien sowie der SPD und der Grünen die Enquete-Kommission konstituiert mit dem Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftli- chem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft.“ Auf Wunsch der Opposition ist diese Enquete-Kom- mission personell sehr umfangreich ausgefallen. Die Ko- alition hat letztlich zugestimmt, dass 17 Politiker und 17 Sachverständige eingesetzt werden. Als Obfrau der FDP für die Enquete-Kommission ge- höre ich diesem Kreise an. Wir entwickeln Vorschläge, wie in Zukunft Lebensqualität in Verbindung mit ökolo- gischen und sozialen Nachhaltigkeitsgrundsätzen opti- miert werden kann. Seit fast einem halben Jahr arbeiten wir nun schon in dieser Kommission zusammen. Und Sie, liebe Kollegin- nen und Kollegen von der Opposition, beantragen jetzt schon zum zweiten Mal eine personelle Änderung in die- sem Gremium. In Ihrem Antrag fordern Sie: erstens die Zahl der Sachverständigen um acht Sachverständige zu erweitern, zweitens dass die zusätzlich zu benennenden Sachverständigen ausschließlich Frauen sein sollen, drit- tens bei künftigen Einsetzungen von Enquete-Kommis- sionen die Sachverständigenseite entsprechend zu glei- chen Anteilen mit Frauen und Männern zu besetzen. Bereits am 26. Mai diesen Jahres haben wir den vor- liegenden Antrag hier im Plenum diskutiert und eindeu- tig abgelehnt. Daher wundert es mich umso mehr, dass Sie die gleichen Forderungen erneut stellen. Doch nicht nur Ihre Forderungen sind die gleichen, auch an meinen Argumenten hat sich nichts geändert. Sowohl die SPD als auch die Grünen und die Links- partei hätten bereits im Vorfeld die Möglichkeit gehabt, weibliche Sachverständige zu benennen. Dies haben sie nicht getan. Aus ihrer Antragsbegründung geht hervor, dass alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktio- nen bei der Benennung der Sachverständigen für die En- quete-Kommission ausschließlich männliche Sachver- ständige benannt haben. Das jetzt auf einmal korrigieren zu wollen, halte ich für einen denkbar ungünstigen Zeit- punkt! Als Obfrau der FDP in der Enquete-Kommission und Vorsitzende der Projektgruppe 1, die sich mit dem „Stel- lenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft” befasst, sehe ich keinen Grund für eine Aufstockung der Sachverständigen. Die Kommission tagt bereits seit fast einem halben Jahr. Es haben schon etliche Sitzungen stattgefunden. Die Mitglieder haben sich auf Konventio- nen, Definitionen und Schwerpunkte geeinigt. Die ein- gesetzten Projektgruppen stecken mitten in der inhaltli- chen Arbeit. Eine nachträgliche Erweiterung des Kreises der Sachverständigen würde die bereits fortgeschrittene Diskussion in den Projektgruppen zurückwerfen. Unter Berücksichtigung des ohnehin sehr knappen Zeitplans wäre das äußerst kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass eine einseitige Aufstockung der Sachverständigen um acht Personen die paritätische Be- setzung, also die gleiche Anzahl von Sachverständigen und Abgeordneten, aus dem Gleichgewicht bringen würde. Diese Besetzung hat sich aber bei vergangenen Enquete-Kommissionen des Bundestages bewährt. Da- ran sollte auch in Zukunft festgehalten werden. Denn sie hat einen wichtigen Grund: Eine einseitige Erhöhung würde die Sachverständigen theoretisch in die Lage ver- setzen, die Abgeordneten überstimmen zu können. Das kann nicht im Sinne des Parlaments sein. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich be- grüße ich es, wenn im Kreise der Sachverständigen auch weibliches Know-how vertreten ist. Mir ist es wichtig, dass auch die Erfahrungen und Sichtweisen der Frauen in die politische Arbeit einbezogen werden. Deshalb finde ich es sehr erfreulich, dass in der Enquete-Kom- mission zahlreiche Frauen vertreten sind. Seitens der Abgeordneten besteht die Enquete zu gut der Hälfte aus Frauen. Insgesamt sind 10 der 34 Mitglieder weiblich. Erst kürzlich haben wir beschlossen, den ausschei- denden, von der CDU/CSU-Fraktion benannten Sach- verständigen Dr. Buchner durch eine Frau, nämlich Pro- fessorin Beate Jochimsen, zu ersetzen. Zudem fließt durch Anhörungen externer, weibli- cher, Sachverstand in die Enquete-Kommission ein. Für den 26. September haben wir Frau Professorin Jutta Allmendinger eingeladen. Sie wird zum Thema „Wachs- tumsorientierung und Geschlechterverhältnis“ vortra- 14226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) gen. Wir schenken also der Geschlechterfrage sehr wohl unsere Aufmerksamkeit! Hinzu kommt, dass innerhalb der Enquete-Kommis- sion wichtige Positionen von Frauen besetzt sind: Den Vorsitz der Kommission hat die Abgeordnete Frau Kolbe inne, die Projektgruppen 1 und 2 werden ebenfalls von Frauen geleitet, nämlich von Frau Vogelsang und von mir. Die Tatsache, dass der Frauenanteil bei den Sachver- ständigen so gering ist, spiegelt schlichtweg die – in der Tat traurige – Realität wider: Die Gruppe der Frauen ist bei den für die Enquete-Kommission infrage kommen- den hoch qualifizierten Experten aus Wissenschaft und Praxis eindeutig unterrepräsentiert. Wir schöpfen also aus einem Pool, der eindeutig männlich dominiert ist. Und hier appelliere ich an Ihre Vernunft! Um gute Ar- beit zu leisten, brauchen wir in erster Linie gute Sach- verständige, die ihre Ideen in die Enquete-Kommission einfließen lassen – auch wenn diese männlich sind. Denn das Geschlecht darf dabei nicht der ausschlaggebende Faktor sein! Es sollte auch im Interesse des Parlaments liegen, dass die Enquete-Kommission in allererster Linie qualitativ hochwertige Ergebnisse liefert. Bitte denken Sie nicht, dass Sie von eigenen Ver- säumnissen ablenken könnten, indem Sie versuchen, den Regierungsparteien den Schwarzen Peter zuzuschieben! Auch Sie, liebe Kolleginnen von der Opposition, haben zum Zeitpunkt der Einsetzung der Enquete-Kommission nur Sachverständige männlichen Geschlechts benannt. Die FDP-Fraktion lehnt den vorliegenden Antrag ab. Cornelia Möhring (DIE LINKE): Die Frauen der Oppositionsfraktionen fordern Sie mit dem vorliegenden Antrag auf, den Kreis der 17 ausschließlich männlichen Sachverständigen der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Markwirtschaft“ durch acht weibliche Sachver- ständige zu ergänzen. Die Enquete-Kommission soll den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesell- schaft ermitteln, einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln und die Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung von Wachstum, Ressour- cenverbrauch und technischem Fortschritt ausloten. Und dazu braucht sie den Sachverstand, die Kompetenz und die Lebenserfahrung von Frauen in gleichem Maße wie von Männern. Bisher gilt allein das rein ökonomisch und quantitativ ausgerichtete Bruttoinlandsprodukt, BIP, als Wohlstands- und Fortschrittsindikator. Die Kommission soll das nun weiterentwickeln und um ökologische, soziale und kultu- relle Kriterien ergänzen. Es geht also um grundlegende Debatten, wie gesell- schaftlicher Wohlstand, individuelles Wohlergehen und nachhaltige Entwicklung angestoßen werden können. In welche Richtung diese Weiterentwicklung der Wohlstands- und Fortschrittsindikatoren in den nächsten beiden Jahren erfolgen wird, hängt entscheidend davon ab, welchen Arbeitsbegriff und welche Produktivitäts- vorstellungen die Mitglieder der Enquete-Kommission mehrheitlich ihren Überlegungen zugrunde legen: ein Produktivitätsparadigma, das einseitig nur auf Erwerbs- arbeit fokussiert, oder eines, das die bisher überwiegend unentgeltlich von Frauen geleistete Arbeit im Bereich des Haushalts, der Fürsorge und Pflege mit einbezieht und damit bei der Bestimmung von gesellschaftlichem Wohlstand sichtbar macht. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: den Zusammen- hang von demografischer Entwicklung und Wachstum. Hier machte es doch einen Riesenunterschied, aus wel- cher Geschlechterperspektive wir Entwicklung denken. Welche Wachstumsentwicklung nimmt unsere Gesell- schaft, wenn wir die Gleichstellung der Geschlechter zu- grunde legen könnten, gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit bezahlt würden; der große Anteil gesellschaftlich notweniger Arbeit, zum Beispiel in der Pflege, auch ge- sellschaftliche organisiert und nicht ins Private – vor- nehmlich zu Frauen – geschoben würde. Wir hätten eine andere Entwicklung des Wohlstands. Die Entwicklung der Produktivkräfte könnte tatsächlich in mehr Zeitwohl- stand für alle münden. Diese wichtige Frage des Zeit- wohlstandes wird auf der Tagesordnung der Enquete stehen, wenn es im Herbst um Wohlstand und Ge- schlechtergerechtigkeit geht. Es ist doch logisch, dass Frauen, vor allem feministische Wissenschaftlerinnen, diesen Standpunkt einnehmen, weil sie den dafür erfor- derlichen historischen und heutigen Erfahrungshorizont einbringen. Frauen leisten den Hauptteil der Tätigkeiten in unse- rer Gesellschaft, die dem Wohle aller dienen und für ein gutes Leben unabdingbar sind, bisher aber nicht als Maß des Wohlstandes anerkannt werden. Ein Wachstumsindi- kator, der nur die Güterproduktion für den Markt ins Auge fasst, ist nicht in der Lage, etwas über die tatsäch- liche Lebensqualität der Menschen auszusagen. Femi- nistische Wissenschaftlerinnen entwickeln zum Beispiel Indikatorenmodelle, die auch Faktoren wie den gesell- schaftlichen Zugang zu Bildung und Gesundheit, Fragen der Verteilungsgerechtigkeit oder der politischen Teil- habe mit einbeziehen, die zu einem guten Leben dazuge- hören. Ich will nicht bestreiten, dass es hier und da auch männliche Experten gibt, die die Gesamtheit der gesell- schaftlich notwendigen Arbeit für Wohlstand und Fort- schritt im Blick haben. Aber gerade im Bereich nachhal- tiges Wirtschaften und gesellschaftlicher Fortschritt sind es vor allem Frauen, die sich seit Jahrzehnten mit alter- nativen Wohlstandsmodellen und Fragen des „guten Le- bens“, mit der Verbindung zwischen produktiven und re- produktiven Tätigkeiten sowie mit Geschlechter- und Generationengerechtigkeit beschäftigen. Die nicht paritätische Zusammensetzung der Kommis- sion erzeugt daher nicht nur bei mir berechtigte Zweifel, ob die enge Verknüpfung von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität mit einer Veränderung der Geschlechter- verhältnisse im Blick der Mehrheit der Kommissionsmit- glieder ist, ob ihnen die wechselseitige Bedingtheit von Arbeit und Leben, von bezahlter und unbezahlter Arbeit bewusst ist, und wenn ja, wie sie diese dann bewerten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14227 (A) (C) (D)(B) Das Gleichstellungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 Seite 2 GG verpflichtet den Deutschen Bundestag unmittelbar, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern. Hinzu kommt das Bundesgremienbesetzungsgesetz, das den Bundespräsi- denten, die Bundesregierung und andere Gremien ver- pflichtet, eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien zu schaffen. Gegen beide Nor- men verstößt die bestehende Kommissionsbesetzung. Seit 1999 ist darüber hinaus die Gleichstellung von Frauen und Männern als durchgängiges Leitprinzip der Bundesregierung anerkannt, das mittels der Strategie des Gender Mainstreaming zu fördern ist. Eine Art freiwil- lige Selbstverpflichtung der Bundesregierung. Und was zeigt der Stresstest? Auch im Bundestag hängt die paritätische Besetzung von Gremien am Ende davon ab, ob Einzelne oder Fraktionen im entscheiden- den Moment aufmerksam auf ihre Zusammensetzung achten oder nicht. Die stark männlich dominierte Besetzung der En- quete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqua- lität“ ist kein peinlicher, aber einmaliger „Unfall“ in den parlamentarischen Gepflogenheiten des Bundestages – das zeigt ein Blick auf andere Enqueten und Gremien dieser Wahlperiode: In der Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ ar- beiten 25 Männer und 9 Frauen als Mitglieder und Sach- verständige mit. 4 der 9 Frauen kommen aus meiner Fraktion oder arbeiten in ihrem Auftrag mit! Im Parlamentarischen Finanzmarktgremium überwa- chen seit Oktober 2008 9 Männer und null Frauen die Umsetzung des 480-Milliarden-Euro schweren Banken- Rettungspaketes des Bundes. Ein Rettungspaket, das vor allem deshalb notwendig wurde, weil sich zuvor der ex- klusive Männerklub „Finanzmarkt“ zulasten der Bevöl- kerung gründlich verspekuliert hatte. Diese Liste kann ich fortsetzen, der Skandal bleibt immer der gleiche: Der Bundestag, der als Gesetzgeber auch eine Vorbildfunktion ausüben sollte, diskriminiert fortgesetzt Frauen. Bereits in der ersten Lesung habe ich gefordert, in Zu- kunft eindeutige Quotenregelung in die Einsetzungsbe- schlüsse für alle Gremien des Bundestages aufzuneh- men. Denn nur so kann es gelingen, die paritätische Einbeziehung von Frauen und Männern zu einem selbst- verständlichen Akt demokratischer Teilhabe zu machen, und eben nicht zu einer Angelegenheit des vorhandenen oder fehlenden guten Willens. Ich fordere Sie auf, für den vorliegenden fraktionsübergreifenden Frauenantrag zu stimmen. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist aus meiner Sicht sehr bedauerlich, aber auch bezeich- nend, dass unsere interfraktionelle Initiative zur Erweite- rung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ offenbar rein gar nichts bewirkt zu ha- ben scheint. In der Enquete-Kommission selbst war die Initiative seit der ersten Lesung überhaupt kein Thema, und auch im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung wurde über den Gruppenantrag nicht ernsthaft debattiert. Die Gelegenheit, einen von allen Fraktionen gemeinsam begangenen Fehler wiedergutzu- machen, ist somit ungenutzt geblieben. Ich kann nur wiederholen, was ich bereits in der ersten Lesung des Antrags gesagt habe: Mit der Benennung von aus- schließlich männlichen Sachverständigen hat sich keine der Fraktionen im Bundestag mit Ruhm bekleckert. Auch Bündnis 90/Die Grünen sind ihrem eigenen An- spruch, sich konsequent für die Gleichstellung von Frauen einzusetzen, an dieser Stelle nicht gerecht gewor- den. Das war ein Fehler, und für uns wirkt dieser Fehler schwer, weil es zu unserem Selbstverständnis gehört, bei der Gleichstellung Vorbild und Vorreiter zu sein. Auch inhaltlich spielt bei der Enquete die Genderpers- pektive eine gewichtige Rolle: So gehen beispielsweise die in der sogenannten Care-Ökonomie hauptsächlich von Frauen erbrachten Leistungen bisher nicht in die Be- rechnung der Wirtschaftskraft eines Landes ein, was bei der Entwicklung einer neuen Messgröße für Wirtschafts- wachstum berücksichtigt werden muss. Meine Fraktion hatte den Missstand frühzeitig erkannt und sich für eine Erweiterung des Gremiums eingesetzt. Ein entsprechen- der Antrag im Ältestenrat zur Änderung des Einset- zungsbeschlusses war aber leider an den Koalitionsfrak- tionen gescheitert. Die Union argumentiert, bei der Benennung der Sach- verständigen habe man sich „an deren Sachkompetenz und nicht dem Geschlecht orientiert“. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es angeblich keine Frauen mit der entsprechenden Sachkompetenz gibt – ein Argumentati- onsmuster, das regelmäßig auch dazu dient, die gläserne Decke, an die Frauen in der Arbeitswelt stoßen, zu legiti- mieren. Ich spare es mir an dieser Stelle, die hinlänglich bekannten Zahlen zu nennen, möchte aber festhalten: Es gibt diese Frauen; man muss sie nur finden wollen. Wei- terhin schmückt sich die Union mit der Nominierung ei- ner weiblichen anstelle eines ausgeschiedenen Sachver- ständigen. Dazu nur so viel: Sie war ein kluger Schach- zug der Fraktionsführung, um jene Unionsfrauen, die den Antrag ursprünglich mit tragen wollten, wieder ein- zufangen. Die FDP behauptet, durch eine Erweiterung der En- quete-Kommission würde die bereits fortgeschrittene Arbeit zurückgeworfen, außerdem werde das „sinnvolle Gleichgewicht zwischen Sachverständigen und Abge- ordneten einseitig zum Nachteil des Bundestages“ ver- schoben. Daraus spricht die Angst, die Sachverständigen könnten – wie es in einer anderen Enquete-Kommission kürzlich vorgekommen sein soll – nicht auf Linie derje- nigen Fraktionen abstimmen, von denen sie benannt wurden. Der Hinweis der SPD zum Bundesgremienbeset- zungsgesetz ist richtig, denn wir sollten uns in unserem eigenen Einflussbereich ernst nehmen und mit gutem Beispiel vorangehen. Mein Fazit: Es wäre ein wichtiges Signal an alle frau- enpolitisch Engagierten gewesen, dass die Abgeordneten 14228 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) des Bundestages in der Lage sind, für ein wichtiges An- liegen der Geschlechtergerechtigkeit über Parteigrenzen hinweg an einem Strang zu ziehen. Aber die Möglich- keit, für die erfolgreiche Arbeit der Enquete-Kommis- sion gemeinsam eine wichtige Voraussetzung zu schaf- fen, wurde aus parteipolitischen Erwägungen der Koalitionsfraktionen nicht genutzt. Dieses Verhalten ist leider nicht überraschend, steht es doch exemplarisch für die Politik dieser Koalition. Gestaltungswillen und kon- sequentes Handeln sind von ihr nicht zu erwarten – am allerwenigsten in der Gleichstellungspolitik. Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Situation der Sinti und Roma in Europa verbessern – Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern – Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – In historischer Verantwortung – Für ein Bleiberecht der Roma aus dem Kosovo – Keine Zwangsrückführungen von Minder- heitenangehörigen in das Kosovo (Tagesordnungspunkt 25 a und b) Erika Steinbach (CDU/CSU): In der Europäischen Union leben circa 10 Millionen Menschen, die sich selbst als Roma, Sinti, Gitanos oder Manouches bezeich- nen und die durch eine gemeinsame Geschichte und Kul- tur verbunden sind. Sie bilden die größte ethnische Min- derheit in Europa und leben vorwiegend in Mittel- und Südosteuropa sowie in den Ländern des westlichen Bal- kans. Zwar sind viele Roma in die Mehrheitsbevölke- rung integriert und verstehen sich selbst als deren Mit- glieder. Allerdings sind sie in zahlreichen Staaten Europas nach wie vor stark von sozialen Problemen, Bil- dungsdefiziten und Arbeitslosigkeit betroffen, nicht mit angemessenem Wohnraum versorgt und haben bei hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit eine geringere Le- benserwartung. Auch die schulische Versorgung ist in manchen Staaten unzureichend. Ferner sind sie teilweise Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Dazu trägt auch eine zum Teil undifferenzierte Bericht- erstattung in den Medien bei. Die der Gruppe der Roma zugehörigen Menschen sehen sich vielfach jeglicher Chancen auf ein menschenwürdiges und selbstbestimm- tes Leben beraubt. Roma verweisen selbstbewusst auf die im Vertrag der Europäischen Union manifestierten Werte wie Men- schenwürde, Gleichheit und Wahrung der Menschen- rechte. Sie bestehen auf die durch den Vertrag garantier- ten Rechte auf soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz. Diese Forderungen und Erwartungen sind be- rechtigt. Ein solidarisches Europa muss sich diesen He- rausforderungen stellen und darf nicht weiterhin zöger- lich sein. In Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskri- minierung noch eine Ausgrenzung der Roma. Aber es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem Hause vermutlich klar. Wichtig ist, dass die in Deutsch- land lebenden Sinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe auch nutzen. In Deutschland leben nach groben Schätzungen circa 70 000 deutsche Sinti und Roma, zum Teil sind sie gut in die Gesellschaft integriert. Die deut- schen Sinti und Roma sind neben den Dänen, Friesen und Sorben als nationale Minderheit im Sinne des Rah- menübereinkommens des Europarates zum Schutz natio- naler Minderheiten anerkannt. Die Bundesregierung un- terstützt alle von der Europäischen Union und dem Europarat initiierten Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Roma in Europa. In den Verhandlungen zur EU-Rahmenstrategie hat Deutschland die politischen Grundaussagen der Mittei- lung für eine nachhaltige Integrationspolitik begrüßt. Hierdurch wird dem dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung der Situation der von Armut, sozialer Aus- grenzung und Diskriminierung in besonderem Maße be- troffenen größten europäischen Bevölkerungsminderheit Rechnung getragen. Die soziale und wirtschaftliche Inte- gration der Roma bedarf eines entschlossenen und ziel- gerichteten Handelns der Mitgliedstaaten, insbesondere dort, wo tatsächlich Probleme bestehen. Die erforderli- chen Maßnahmen müssen die Mitgliedstaaten selbst er- greifen. Sie haben die Zuständigkeit für die soziale und wirtschaftliche Integration. Deutschland ist sich seiner besonderen Verantwor- tung angesichts der geschichtlichen Erfahrungen be- wusst und bekennt sich zum Verbot der Diskriminierung ethnischer Minderheiten sowie zur Beachtung der Grundrechtecharta und des Gemeinschaftsrechts. Den politischen Herausforderungen kann nur durch eine ge- meinsame Anstrengung aller Institutionen, Mitgliedstaa- ten, Regionen und Roma-Gemeinschaften begegnet wer- den. Für die Ziele einzustehen, lohnt sich, wie das Zitat des Niederländers Zoni Weisz aufzeigt, dass er als Ver- treter der Roma anlässlich einer Feierstunde im Deut- schen Bundestag Anfang dieses Jahres gesprochen hat: „Wir müssen auch weiterhin die Botschaft des friedli- chen Miteinanders verkünden und an einer besseren Welt bauen – damit unsere Kinder in Frieden und Sicher- heit leben können.“ Besonders schwer wiegt hier meines Erachtens das Wort „Wir“, denn es betont die notwendigen gemeinsa- men Anstrengungen. Die Problemlage ist komplex. Es genügt nicht, zu fordern und die Rahmenbedingungen zum Beispiel für eine Integration der Roma-Kinder und der Jugendlichen ins Schulsystem der europäischen Staaten zu schaffen. Die Roma müssen ihren Kindern auch die Möglichkeit einräumen, die Schule zu besu- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14229 (A) (C) (D)(B) chen. Der Anteil der Roma-Kinder im Schulalter macht es dringend notwendig, dass die staatlichen Schulsys- teme die Kinder aufnehmen. 35,7 Prozent der Roma sind unter 15 Jahre alt. Einer Erhebung des Open Society In- stitute aus dem Jahr 2008 zufolge besuchen nur rund 10 Prozent der Roma-Kinder eine Sekundarschule, eine nur begrenzte Zahl schließt die Grundschule ab. Die Roma-Eltern haben oft Angst, dass der Besuch ei- ner staatlichen Schule zur Erosion der Roma-Kultur füh- ren könnte. Die Tradition der Roma sieht ein Lernen im Familienverbund vor, wobei die älteren die jüngeren Ge- schwister unterstützen sollen. Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Schule weist Lebenschancen zu und ist in den Mitgliedstaaten der EU eine unverzichtbare Insti- tution der Sozialisation. Diese Chancen müssen durch die jungen Roma, Mädchen wie Jungen, ergriffen wer- den. Leider fehlt der Mehrheit der Roma im erwerbsfähi- gen Alter die notwendige Bildung für qualifizierte Ar- beitsstellen. Zudem fehlt leider auch häufig genug der Wille, neue Wege zu gehen und gebotene Chancen zu nutzen. Die Roma selbst sind aus ihren Traditionen he- raus auf Separation bedacht. Die Roma-Frauen haben hier eine Schlüsselstellung für die Integration in den Familien inne, die sie auch wahrnehmen müssen. Sie sind die ersten Vertrauensper- sonen und Ansprechpartner für ihre Kinder, geben ihre Erfahrungen und ihre Sicht der Welt an die nachfolgende Generation im alltäglichen Leben von Beginn an weiter. Hier ist die Roma-Gemeinschaft zuerst gefordert. Roma- Frauen sind noch immer besonders oft von der Teil- nahme an Bildung ausgeschlossen und häufig von häus- licher Gewalt und Unterdrückung innerhalb der Familie ihrer Gemeinschaft betroffen. Sie können kein selbstbe- stimmtes Leben führen, werden Opfer von Menschen- händlern. Das bedeutet eine Verdoppelung möglicher Diskriminierung, eine Schwächung ihrer Erziehungs- kompetenz und damit die Fortsetzung einer Spirale, die Integration schier unmöglich macht. Viel gemeinsame Arbeit ist noch zu leisten, durch die Mitgliedstaaten und alle Bürgerinnen und Bürger, Roma wie Nicht-Roma. Integration ist immer eine gemeinsame Sache und kann auch nur durch das Zusammenwirken der Mehrheitsgesellschaft und der Minderheit gelingen. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Fast alle Fraktio- nen unseres Hauses haben zur Situation der Sinti und Roma Anträge eingebracht. Erst mal ein gutes Zeichen, macht es doch deutlich, dass uns im Deutschen Bundes- tag die Situation der größten europäischen Minderheit am Herzen liegt. Wir stimmen darin überein, dass sich Sinti und Roma in Europa Vorurteilen und schwerwie- genden Diskriminierungen ausgesetzt sehen. Wir unter- scheiden uns jedoch gründlich in der Frage, wie wir die- ser Situation begegnen wollen und wie wir insbesondere die Situation in Deutschland einschätzen. In meiner Rede werde ich insbesondere auf die Themen Bildung, die nationale Strategie zur Roma-Integration und Ab- schiebungen in den Kosovo eingehen. Eine Studie der europäischen Grundrechteagentur vom April 2009 beschreibt, dass Sinti und Roma in der Europäischen Union in allen Lebensbereichen diskrimi- niert werden. Häufig sind es alltägliche Diskriminierun- gen, die meist in schlechtere allgemeine Lebensbedin- gungen münden. Gleichzeitig gibt es immer wieder gewaltsame Angriffe auf Roma. Ich erinnere an die An- schläge in Neapel im Mai 2008, welche dazu führten, dass 800 Menschen fliehen mussten. Und erst im April dieses Jahres gab es die Überfälle von Rechtsextremisten auf Roma in Ungarn, auch diese Roma mussten kurzzei- tig fliehen. Die Verantwortlichen übten sich in Be- schwichtigungen. Sinti und Roma – obwohl schon seit Jahrhunderten in allen europäischen Staaten zu Hause – scheinen als Gruppe in den jeweiligen Mehrheitsgesell- schaften nicht beliebt zu sein. Das trifft auch auf Deutschland zu. Nach einer aktuellen Studie zur Bil- dungssituation von Sinti und Roma in Deutschland, he- rausgegeben von RomnoKher/Daniel Strauß, geben mehr als ein Viertel der Befragten an, dass sie sich regel- mäßig bis sehr häufig diskriminiert fühlen. Diese aktuelle, wenn auch nicht repräsentative Studie zur Bildungssituation der Sinti und Roma in Deutsch- land zeichnet weitere verheerende Bilder. Von den rund 275 befragten Sinti und Roma haben fast 40 Prozent kei- nen Schulabschluss. Insgesamt sind nur 6 der befragten 275 Sinti und Roma auf einem Gymnasium gewesen. Im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft besuchen sie dop- pelt so häufig eine Förderschule. Und ganze 13 Prozent von ihnen haben gar keine Schule besucht. Bei der Ge- samtbevölkerung trifft dies auf weniger als 1 Prozent zu. Diese Zahlen bedrücken mich sehr. Deutlich wurde in der Studie auch, dass Angehörige von Familien, die während des Nationalsozialismus entschult wurden, bis heute schlechtere Beschulungsquoten und schlechtere Bildungs- und Ausbildungsverläufe haben. Der Natio- nalsozialismus wirkt nach. Bildungsferne ist in der heutigen Zeit ein schlimmer Hemmschuh für die Zukunft. Wir kennen bei allen Be- völkerungsgruppen in Deutschland die starke Korrela- tion zwischen der Bildungsferne der Eltern und der ihrer Kinder. Die schlechte Bildungs- und Ausbildungssitua- tion wiederum erhöht nachweislich das allgemeine Ar- muts- und Gesundheitsrisiko. Dies gilt, wie die Studie zeigt, auch für deutsche Sinti und Roma. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sollte uns diese Tatsache sehr zu denken geben. Auch die Fraktionen von CDU/CSU und FDP erken- nen in ihrem Antrag an, dass Sinti, Roma und verwandte Gruppen in Europa erheblichen Diskriminierungen aus- gesetzt sind. Sie benennen besonders die Bereiche Woh- nen, Arbeit, Bildung und Gesundheit. Sie fordern, dass die Menschenrechtssituation der Sinti und Roma in Eu- ropa verbessert werden soll. Allerdings machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union und der FDP, sich nicht die Vorschläge der europäischen Kommission zur Erstellung von nationalen Integrationsstrategien zu eigen, um zusammen mit den Verbänden auch für Deutschland eine entsprechende Strategie zu erarbeiten. Ich bedaure das sehr und kann Ihrer Logik, mit dem Fin- ger auf Südosteuropa zu zeigen und hier die Missstände nicht anzuerkennen, nicht folgen. 14230 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Ein weiteres Problem, welches wir von der SPD mit dem Antrag der CDU/CSU und FDP haben, ist das völ- lige Fehlen eines Problembewusstseins hinsichtlich der etwa 10 000 zur Ausreise verpflichteten Roma, Ashkali und Ägypter aus dem Kosovo. Die Bundesregierung hat im April 2010 ein Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und dem Kosovo unterzeichnet, und das, obwohl Sie wissen, dass die betreffenden Menschen im Kosovo alltäglich ethnisch diskriminiert werden, sie un- ter extremer wirtschaftlicher Not leiden und die Sicher- heit für diese ethnischen Gruppen nicht gewährleistet ist. In der Konsequenz fehlt ihnen der Zugang zu Sozial-, Arbeits- und Gesundheitsleistungen, die Kinder müssen häufig den Schulbesuch abbrechen, und die kosovari- schen Behörden sind mit der Reintegration überfordert. Kinder, die in Deutschland geboren sind und selten die kosovarische Mehrheitssprache sprechen, sollen ebenso zurückgeführt werden wie alte oder chronisch kranke Menschen. Ich halte dies für fahrlässig. Erst letzte Woche haben CDU/CSU und FDP eine Be- schlussempfehlung an den Petitionsausschuss im Aus- schuss Menschenrechte abgelehnt. In der Petition wurde beantragt, dass zwei Frauen, die eine 50, die andere 70 Jahre alt, seit 20 Jahren in Deutschland lebend, beide chronisch krank und ohne Anbindung an den Kosovo, nicht dorthin „zurückgesiedelt“ werden sollen. Sie wer- den damit der Lebenssituation dieser Menschen nicht ge- recht. Wir fordern, dass jeder Fall einzeln geprüft wer- den muss, dass die Bedürfnisse von Familien mit Kindern, von unbegleiteten Minderjährigen, Menschen über 65 Jahren, Kranken, Traumatisierten, Pflegebedürf- tigen und alleinerziehenden Eltern zu berücksichtigen und unzumutbare Härten auf jeden Fall zu vermeiden sind. Sie wollen diese 10 000 Menschen einfach abschie- ben – ohne vorheriges Ansehen ihrer individuellen Ver- hältnisse und ohne Ansehen der Konsequenzen. In meiner langjährigen politischen Befassung mit Sinti, Roma, Ashkali, Ägyptern und anderen verwandten Gruppen habe ich gelernt, dass es eine große Vielfalt an Lebensweisen, Traditionen und damit Lebensverhältnis- sen gibt. Diese Vielfalt ist sprachlich nicht immer leicht zu spiegeln, wir sollten sie dennoch in Erinnerung behal- ten und in unseren politischen Handlungen berücksichti- gen. Wenn wir über Sinti und Roma sprechen und uns ihrer zum Teil problematischen Lebenssituation anneh- men wollen, heißt das nicht, dass alle Angehörigen der verschiedenen Gruppen gleich oder ähnlich betroffen sind oder dass wir die Angehörigen der Gruppe diskrimi- nieren wollen oder verneinen, dass viele gut integrierte Sinti und Roma in Deutschland leben. Zu den Verschiedenheiten gehört auch, dass es Ver- bände gibt, die es problematisch finden, wenn über Pro- bleme ihrer Gruppe berichtet wird, weil sie das Wachsen oder Verstärken von Vorurteilen fürchten, dies sicher nicht ganz zu Unrecht. Aber ein Verschweigen löst we- der Probleme noch Vorurteile in Luft auf. Ein anderer Verband besteht darauf, ihre Gruppe möge nicht als Sinti und Roma, sondern als Zigeuner angesprochen werden. Diese Verschiedenheiten sind ein Ausdruck der Vielfalt, sie verweisen uns auch darauf, dass wir uns vor Verall- gemeinerungen hüten und bestehende Programme nur unter der intensiven Mitarbeit mit den verschiedenen Re- präsentationsinstitutionen erarbeiten sollten. Die ver- schiedenen traditionellen Lebensweisen von Sinti, Roma und verwandten Gruppen erlangen durch den Status als nationale Minderheit auch einen besonderen Schutz. Sinti und Roma dürfen erwarten, dass wir – im Sinne un- seres Grundgesetzes – ihnen entgegenkommen und spe- zifische bedürfnisorientiere und kultursensible Angebote machen, um ihnen bei der Überwindung der Armut end- lich nachhaltig zu helfen. Ich möchte allen Vereinen, Verbänden und Institutio- nen danken, die sich in den letzten Wochen sehr intensiv an mich gewandt haben. Ich möchte Sie ermutigen, sich weiterhin aktiv in Politik einzumischen. Hoffentlich wa- chen auch die CDU/CSU und FDP bald auf, damit wir alle gemeinsam an politischen Perspektiven arbeiten können. Serkan Tören (FDP): Da mein Kollege Pascal Kober bereits etwas zu unserem Koalitions- bzw. den Oppositionsanträgen zum Thema Sinti und Roma sagen wird, möchte ich an dieser Stelle noch einiges zum Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo erwähnen, wel- ches als Zweites in diesem Tagesordnungspunkt beraten wird. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sind die An- träge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen in jeg- licher Hinsicht abzulehnen. Gerade der Antrag der Lin- ken ist völlig abwegig, weil er in weiten Teilen auf Basis falscher Behauptungen zu falschen Schlüssen und Ergeb- nissen kommt. Aus meiner Sicht verkennt die Opposition nicht nur die rechtlichen Grundsätze im deutschen Auf- enthaltsrecht, sondern verhält sich auch ziemlich reali- tätsfern. Das Rücknahmeabkommen enthält die üblichen Komponenten der Rückübernahme eigener Staatsange- höriger. Diese gibt es auch in anderen etwa von der EU mit Drittstaaten geschlossenen Rückübernahmeabkom- men. Gleiches gilt für die Übernahme von Drittstaatsan- gehörigen und Staatenlosen. Somit handelt es sich also keineswegs um ein Abkommen, welches ausschließlich die Abschiebung von bestimmten ethnischen Gruppen zum Ziel hat. Dieser Vorwurf ist völlig grotesk. Mir scheint der Antrag der Linken eher eine innen- politische Motivation zu haben, als ernsthaft zu einer Lösung des Problems beitragen zu wollen. Die genann- ten Zahlen werden permanent verdreht oder falsch inter- pretiert. Von einer Massenabschiebung kann keine Rede sein. Anstatt der genannten 10 000 Roma, Ashkali und Ägypter, RAE, wurden in den letzten Jahren nur wenige Hundert in ihre Heimat zurückgeführt. Eine deutliche Erhöhung dieser Zahlen, wie von den Linken behauptet, ist weder realistisch noch im neuen Abkommen geplant. Ebenso scheinen viele Zahlen völlig aus der Luft gegrif- fen zu sein. Die Arbeitslosigkeit unter den Roma bei- spielsweise liegt mitnichten bei 95 Prozent, sondern deutlich darunter. Natürlich ist der junge Staat Kosovo noch in einer sehr schwierigen Phase, und das Sozialsys- tem ist noch deutlich unterentwickelt; dies trifft aber eben nicht nur die Roma oder die anderen ethnischen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14231 (A) (C) (D)(B) Minderheiten, sondern die gesamte kosovarische Bevöl- kerung. Diese schwierige soziale und wirtschaftliche Lage al- lein kann und darf allerdings kein generelles Abschiebe- hindernis darstellen. Fälle von Übergriffen auf Angehö- rige von Minderheiten im Kosovo werden vereinzelt geschildert, jedoch nicht in einer derartigen Vielzahl, wo von einem entsprechenden Maß an Diskriminierung oder gar von Verfolgung ausgegangen werden könnte. Daher lassen Sie mich grundsätzlich etwas sagen: Ein Abschie- bestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute Krisenentwicklungen. Das trifft auf die aktuelle Lage im Kosovo nicht zu. Gerade vor dem Hintergrund der Ver- antwortung für andere Fälle muss die Notwendigkeit ei- nes Abschiebestopps immer gewissenhaft geprüft wer- den. Und genau das wird auch getan. Ich weise daher den Vorwurf der Opposition ausdrücklich zurück. Mit der Unterzeichnung eines Rücknahmeabkommens wird kein Freiflugschein für alle Flüchtlinge in ihre jewei- ligen Heimatländer unterschrieben, ohne Rücksicht da- rauf, in welche Umstände die jeweiligen Personen zu- rückschickt werden. Richtig und wichtig ist zu sagen: Asylrechtliche Vorschriften werden durch dieses Rücknah- meabkommen nicht berührt. Das bedeutet: Individuelle Prüfungen sind bereits schon jetzt möglich und werden durchgeführt. Ausländern, denen in ihren Herkunftslän- dern politische Verfolgung, Folter und konkrete Gefahr für Leib und Leben droht, erhalten in Deutschland Asyl, Flüchtlingsschutz oder auch subsidiären Schutz. Dies wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem ordentlichen Asylverfahren festgestellt. Zudem herrscht eine besondere Sensibilität für die schwierige Situation der Roma im Kosovo bei den Ausländerbehör- den. Dieses Bewusstsein muss auch in jede Einzelent- scheidung einfließen. Wir sagen hier also ganz klar: Dauerhafte Probleme mit der Menschenrechtslage, wie sie in Teilen für Roma und Sinti bestehen, können mit einem generellen Ab- schiebestopp als politisches Instrument nicht gelöst wer- den. Dazu ist das Asylrecht das richtige Instrument. Und ich plädiere in dieser Debatte für etwas mehr Differen- ziertheit und Würdigung des bestehenden Asylrechts, welches die menschenrechtliche Lage der einzelnen Per- sonen durchaus im Blick hat. Doch will ich die Proble- matik der Forderungen um generelle Abschiebungs- stopps in diesem Zusammenhang nicht völlig vom Tisch wischen. Die Rechte der Roma und Sinti bedürfen wei- terhin kritischer Aufmerksamkeit. Pascal Kober (FDP): Ich möchte das Problem, das unser Antrag aufgreift, nur kurz umreißen, denn ich bin mir sicher, dass wir uns in seiner Bedeutung einig sind. Wir alle wissen, dass die Sinti und Roma Europas nach wie vor in ihren Menschenrechten beschnitten werden. Sie sind Intoleranz und gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt, die es auszuräumen gilt. Darum thematisie- ren wir und die Bundesregierung dieses Problem. Wir tragen es in die Öffentlichkeit, durch unseren Antrag, durch unsere Reden und auch, indem wir den Dialog da- rüber suchen. Die Folgen der Vorurteile für Angehörige dieser größten ethnischen Minderheit Europas haben be- klagenswerte Ausmaße. In zahlreichen Ländern der EU werden sie insbesondere bei der Suche nach Wohnraum, nach Arbeit und beim Zugang zu notwendiger medizini- scher Versorgung diskriminiert. Ihre Armut, ihre Be- nachteiligung und ihr sozialer Ausschluss verhindern, dass sich Sinti und Roma in die Gesellschaft integrieren können. Ein grundlegendes Problem ist ihr häufig niedriger formaler Bildungsstand, in einigen Ländern verstärkt durch die Tatsache, dass Kinder von Sinti und Roma se- gregiert von anderen Kindern in eigenen Schulen unter- richtet werden. Schon diese ungleichen Ausgangsbedin- gungen mindern ihre späteren Chancen auf einen Arbeitsplatz und erschweren ihre gesellschaftliche Inte- gration erheblich. In der Folge werden Sinti und Roma als gesellschaftliche Außenseiter behandelt und bieten so ein willkommenes Feindbild für Vorurteile, die nicht nur bei Rechtsextremisten zu finden sind. Wir müssen das Problem von einer europäischen Perspektive aus be- trachten, wobei wir große regionale Unterschiede fest- stellen können. Insbesondere in Südosteuropa müssen wir eine zunehmende Diskriminierung beobachten. Es ist mir wichtig, auf einen weiteren Aspekt einzuge- hen, dass nämlich Sinti und Roma überdurchschnittlich häufig Opfer von Straftaten wie beispielsweise sexueller Ausbeutung, Kinderbettelei und Menschenhandel wer- den. In einigen EU-Staaten machen sie bis zu 80 Prozent der Opfer von Menschenhandel aus. Menschenhandel in der EU hat in den letzten Jahren mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten an Brisanz gewonnen, und seine Formen ändern sich rasch. Er passt sich neuen Situationen an, neue Herkunftsländer werden erschlossen, neue Han- delswege, Tarnungen und Drohstrukturen werden errich- tet. Um diese Erscheinungsform organisierter Kriminali- tät einzudämmen, müssen wir nicht nur ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergreifen, sondern auch den da- von betroffenen Sinti und Roma besondere Aufmerk- samkeit schenken. Ich denke, anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass wir weder im nationalen Alleingang noch mit einer nur auf Deutschland beschränkten Heran- gehensweise etwas an der Situation der Sinti und Roma ändern können. Die Bundesrepublik kommt ihrer Verantwortung für die Integration der Roma in Europa nach. Beispielsweise fördert das Auswärtige Amt im Rahmen seiner Men- schenrechtsarbeit entsprechende Projekte in den Ländern des westlichen Balkans. Das BMZ unterstützt den Roma Education Fund und trägt so zur Verbesserung ihrer Bil- dungssituation auf dem gesamten Balkan bei. Sinti und Roma, die in das Kosovo zurückkehren, erhalten ent- sprechende Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen bei ihrer Wiedereingliederung. Eines möchte ich jedoch auch anführen: Wir müssen in engem Dialog mit Roma- Vertretern auch darauf hinwirken, dass die Gemeinschaft der Sinti und Roma das Ihre dazu beiträgt, damit die Ver- wirklichung ihrer Menschenrechte nicht behindert wird. Daher fordert unser Antrag die Bundesregierung auf, sich auch weiterhin sowohl bi- als auch multilateral aktiv für eine bessere Menschenrechtslage der Sinti und Roma 14232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) in ganz Europa einzubringen. Sie muss darauf achten, dass die bereits existierenden Integrations- und Förder- programme für Sinti und Roma in Ländern wie Ungarn, Bulgarien oder Rumänien auch im Interesse dieser Min- derheit umgesetzt werden. Neben dem bereits bestehen- den und in unserem Antrag nachzulesenden breiten Maßnahmenspektrum auf EU-Ebene wird es vor allem darauf ankommen, die Sinti und Roma selbst dabei ein- zubeziehen und an Europa mitzuwirken zu lassen. Denn Integration darf nicht das Ziel bleiben, es muss der Weg sein. Petra Pau (DIE LINKE): Erstens. Der Bundestag be- fasst sich seit Monaten mit der unbefriedigenden Situa- tion der Sinti und Roma in Europa. Dazu gibt es mehr- fach Gründe. Zum einen gibt es eine EU-Initiative zur besseren Integration von Sinti und Roma. Zum anderen hatte Zoni Weisz am 27. Januar 2011 als Vertreter der Sinti und Roma im Bundestag die historische und aktu- elle Verantwortung Deutschlands angemahnt. Des Wei- teren ist es die vielfach eklatante Lage von Millionen Sinti und Roma in Europa selbst. Zweitens. Ich habe in der Auftaktdebatte hier kriti- siert, dass die CDU/CSU und die FDP mit ihrem 12-Punkte-Beschluss zwar formal den EU-Vorgaben fol- gen. Sie tun ansonsten aber so, als handele es sich um ein auswärtiges Problem, so als hätte es mit der Bundes- republik Deutschland und mit der Politik hierzulande selbst nichts zu tun. Das aber ist ein Trugschluss und wer Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat, weiß das auch. Nur die Regierungsfraktionen ducken sich weg. Drittens. Und auch das gehört zum Problem: Die EU-Ratspräsidentschaft lag im ersten Halbjahr 2011 bei Ungarn. Somit hatte Ungarn auch die Federführung für eine weitergehende Sinti-und-Roma-Strategie. Ausge- rechnet Ungarn, wo die Ausgrenzung und Verfolgung von Sinti und Roma Tagesgeschäft ist und selbst vor Mord nicht zurückgeschreckt wird. Ich habe zu diesem Widerspruch bislang kein Wort gehört, nicht von der CDU/CSU, nicht von der FDP, nicht von Bundeskanzle- rin Merkel, auch nicht von Außenminister Westerwelle. Viertens. Die Abstimmungsempfehlungen aus den parlamentarischen Ausschüssen sind übersichtlich. Die CDU/CSU und die FDP werden mit ihrer eigenen Mehr- heit ihren unzulänglichen Antrag zum Beschluss erheben und die weitergehenden Anträge der SPD, der Linken und der Grünen ablehnen. Deshalb will ich auf zwei Punkten noch einmal besonders eingehen. Fünftens. Die Linke hat gefordert, die geplante Ab- schiebung von circa 10 000 Roma in den Kosovo auszu- setzen. Die Grünen taten es auch. Denn diese Roma wer- den zwangsweise in ein Land geschickt, das ihnen feindlich gesinnt ist. CDU/CSU und FDP lehnten das ab, die SPD enthielt sich. Im Ausschussprotokoll ist dazu weiter vermerkt: „Alternativen: Annahme der Anträge“, was nicht gewollt war. Und wieder aus der Protokoll- notiz: „Kosten wurden nicht erörtert.“ Mit Verlaub: Es geht um Menschen. Sechstens. Der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, Romani Rose, hat zudem alle Fraktionen gebeten, ein weiteres akutes Problem zu lö- sen. Nach deutscher Friedhofsordnung droht zahlreichen Roma-Grabstätten die Einebnung. Sie sind zugleich Roma-Gedenkorte, die an den Holocaust erinnern. In dem Beschluss, der heute zur Abstimmung steht, findet sich auch dazu nichts. Kurzum: Die Linke wird diesen unsensiblen und würdelosen Koalitionsantrag ablehnen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Situation der Sinti und Roma in den europäischen Staaten ist höchst problematisch. Die Roma sind die am stärksten von sozialer Ausgrenzung, Armut und Diskri- minierungen betroffene Gruppe auf unserem Kontinent. Vor vier Jahren war ich in der Tschechischen Repu- blik und der Slowakei, um mich über die Situation der Roma dort zu informieren. Die Erlebnisse und Gesprä- che waren so erschreckend, dass sie mir heute noch bild- haft vor Augen sind. Mitten in Europa leben Menschen in Slums, deren Ausmaß ich zuvor nur von weit entfern- ten Entwicklungsländern kannte. Kaum einer der Er- wachsenen hat Arbeit oder Zugang zur Gesundheitsver- sorgung. Den Kindern wird der soziale Aufstieg unmöglich gemacht. Sie sind nicht zu dumm, sondern man gibt ihnen mit den äußeren Rahmenbedingungen nicht die Chance, ihren Lebensweg zu beschreiten und unter Umständen in eine andere soziale Schicht aufzu- steigen als die ihrer Eltern. Sie werden zu über 90 Pro- zent als lernbehindert oder geistig behindert kategorisiert und dementsprechend in Sonderschulen gesteckt, in de- nen sie keinerlei reguläre Schulbildung erhalten. Grund dafür ist, dass sie in der frühkindlichen Zeit nicht die Sprache ihrer Umgebung, sondern nur die Sprache ihrer Volksgruppe lernen. Bestimmte Wörter und Begriffe gibt es in ihrer Sprache gar nicht, und sie können sie daher auch nur schwer verstehen. Doch genau nach solchen Begriffen werden die Kinder in den Einstufungstests ge- fragt. So kann man sie gezielt durchfallen lassen, um sie im Schulsystem auszusondern. Ich habe dort ein von Studierenden betriebenes Projekt gesehen, in dem drei- bis viermal pro Woche mit den Kindern gespielt wurde. Die Kinder aus diesen Spielgruppen haben die Tests be- standen und kamen auf normale Schulen. Doch die Mit- tel für solche Projekte werden immer weiter gekürzt. Denn statt menschenrechtlich und sozialpolitisch verant- wortungsvoll zu handeln, schielen viele Verantwortliche lieber auf den schnellen Beifall vom rechtskonservativen Rand. Auch die großen Staaten Westeuropas bilden lei- der keine Ausnahme. Exemplarisch zeigte sich dies an den Massenausweisungen von Roma aus Frankreich und Italien nach Rumänien und Bulgarien im vergangenen Sommer. Dies verstieß so eindeutig gegen die Freizügig- keitsrichtlinien der EU, dass die Europäische Kommis- sion beide Staaten dafür rügte. Doch Studien zeigten später, dass weite Teile der französischen und italieni- schen Gesellschaft die Ausweisungen für richtig hielten. Das größte Defizit im Antrag der Koalition ist, dass sie auf die Situation der Roma und Sinti in Deutschland mit keinem Wort eingeht. Daher können wir ihm auch nicht zustimmen. Denn wer Menschenrechtspolitik im- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14233 (A) (C) (D)(B) mer nur betreibt, indem er mit dem Finger auf weit ent- fernte Staaten zeigt, der hat vom Grundsatz der Univer- salität der Menschenrechte nicht viel verstanden. In einer Debatte im Deutschen Bundestag über die Sinti und Roma ist es insbesondere wichtig, über ihre Lage hier in Deutschland zu sprechen. Auch in Deutschland werden Sinti und Roma diskriminiert. Nach einer Um- frage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma haben 76 Prozent der Sinti und Roma in Deutschland Diskrimi- nierung erfahren, unter anderem bei der Wohnungssu- che, am Arbeitsplatz, in der Schule und bei der Ausbil- dung. Die am 24. Mai 2011 vorgestellte Studie zur aktuellen Bildungssituation der deutschen Sinti und Roma weist deren desolate Lage in Bezug auf Berufs- ausbildung und Schulabschlüsse nach. Nur 2,3 Prozent der Kinder aus Roma-Familien besuchen ein Gymna- sium, und über 40 Prozent haben keinerlei Schulab- schluss. Die Beschäftigungsquote, der Zugang zu Wohn- raum und die Gesundheitssituation sind ebenfalls deutlich schlechter als innerhalb der Mehrheitsbevölke- rung. Auch der ungesicherte Aufenthaltsstatus vieler Roma-Familien ohne deutsche Staatsangehörigkeit trägt erheblich zu ihrer Marginalisierung bei. In meinem Wahlkreis in Köln hat sich bei dem Verein Rom e. V. ge- zeigt, dass die größten Probleme bei den Kindern aus Roma-Familien insbesondere aus dem Kosovo nicht das Lernen oder der Schulalltag sind, sondern dass das Ler- nen und der Schulbesuch abbrechen, sobald die Familie von Abschiebung bedroht ist. In der gegenwärtigen Si- tuation im Kosovo sind Abschiebungen nicht zu verant- worten. Deshalb muss das Rückübernahmeabkommen ausgesetzt werden, bis garantiert ist, dass jeder dort in menschenwürdige Unterbringungseinrichtungen kommt und die Chance erhält, durch Arbeit seinen Lebensunter- halt zu verdienen. Es gibt dort immer noch Menschen, die in Lagern sitzen, in denen die Bleikontamination für Kinder lebensbedrohlich und für Erwachsene gesund- heitsgefährdend ist. Unter diesen Bedingungen darf man aus humanitären Gründen nicht abschieben. Deshalb ha- ben wir, als wir die hier vorliegenden Anträge in der Sit- zung des Ausschusses für Menschenrechte und Humani- täre Hilfe am 29. Juni 2011 beraten haben, einen Änderungsantrag zum Antrag der SPD gestellt, der ge- nau dies fordert: einen Abschiebestopp für das Kosovo und eine Aussetzung des Rückübernahmeabkommens. Dem so geänderten Antrag der SPD hätten wir gerne zu- gestimmt, denn im Übrigen ist er recht gelungen. Doch wer sich hinter vagen Einzelfallentscheidungen verste- cken möchte, um die Zustimmung der eigenen Innen- politikerinnen und -politiker nicht zu riskieren, auch der handelt menschenrechtlich nicht konsistent. Daher kön- nen wir uns bei dem Antrag der SPD nur enthalten. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine nationale Strategie zur Integration der Roma vorzulegen. So for- dert es die EU-Kommission von den Mitgliedstaaten in ihrer am 5. April 2011 vorgestellten Rahmenstrategie zur Integration der Roma ausdrücklich. Die Bundesregie- rung verschließt bewusst die Augen, um an dieser Stelle ein wenig Geld zu sparen. Angesichts des schrecklichen Unrechts, das Deutschland und seine Bevölkerung den Roma und Sinti in der Vergangenheit angetan haben, sind wir es ihnen jedoch schuldig, ihre Integration aktiv voranzutreiben und ihnen zu helfen. Die angesprochene Bildungsstudie wurde von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit gefördert. Sie sieht zu Recht ihren gesetzlichen Auftrag nicht allein darin, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus – da- runter auch die Sinti und Roma, die Opfer eines Völker- mordes wurden – wachzuhalten. Die Stiftung engagiert sich auch dafür, dass die Nachfahren der Opfer heute nicht mehr diskriminiert werden, sondern in den vollen Genuss ihrer Grund- und Menschenrechte kommen. Dies ist ein wesentlicher Grundgedanke, den wir bei der Debatte über Sinti und Roma nie vergessen dürfen. Anlage 17 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: zu der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates betref- fend die Aufnahme und Ausübung der Versi- cherungs- und Rückversicherungstätigkeit (EG) Nr. 2009/138 (Solvabilität II) sowie zum Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Par- laments und des Rates zur Änderung der Richt- linien 2003/71/EG und 2009/138/EG im Hin- blick auf die Befugnisse der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge und der eu- ropäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (Om- nibus II) hier: Stellungnahme nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Für eine harmonisierte europäische Versiche- rungsaufsicht unter Wahrung bewährter Auf- sichtsinstrumente zur Risikovorsorge in Deutschland (Tagesordnungspunkt 27) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): In den vergangenen Monaten haben wir viel über die Regulierung von Ban- ken diskutiert. Heute diskutieren wir über die Regulie- rung im Versicherungsbereich. Das ist gut so, denn die Bedeutung der Versicherungen für den gesamten Finanz- markt darf nicht unterschätzt werden. Zum einen geht es um die Abstimmung der europäischen und der nationa- len Aufsicht, zum anderen um die Konkretisierung von Solvency II. Die Solvency-II-Richtlinie ist bereits in Kraft. Jetzt geht es darum, die Übergangsfristen zur Im- plementierung von Solvency II festzulegen. Zudem müs- sen die Level-2-Maßnahmen erarbeitet werden. So soll zum Beispiel die Aufsichtsbehörde EIOPA technische Informationen einschließlich der maßgeblichen risiko- freien Zinsstrukturkurve veröffentlichen. Dies alles klingt sehr administrativ. Eine große politi- sche Bedeutung erschließt sich – wie sich auch an der zeitlichen Ansetzung dieser Debatte zeigt – auf den ers- 14234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) ten Blick nicht. Trotzdem sind die Entscheidungen, die in den nächsten Monaten getroffen werden, von größter Bedeutung für die gesamte europäische Versicherungs- wirtschaft, insbesondere bedeutend für die deutschen Versicherungen mit ihren Kernprodukten wie der priva- ten Altersvorsorge. Aus diesem Grund habe ich zum Thema „Solvency II“ in den letzten Monaten viele Ge- spräche geführt und an einigen Diskussionsveranstaltun- gen teilgenommen. Dabei hat sich gezeigt, wie groß die Verunsicherung in der Branche ist. Es ist daher richtig, dass sich der Deutsche Bundestag im Sinne der deut- schen Versicherungswirtschaft und ihrer Kunden, aber auch im Sinne von guten und tragfähigen gemeinsamen europäischen Strukturen zum Thema „Umsetzung Sol- vency II“ positioniert. Wir unterstützen daher die Bundesregierung in ihrem Einsatz für folgende fünf Kernanliegen: Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich in den Verhandlungen für angemessene Übergangsfristen starkzumachen. Sowohl die Versicherungsunternehmen als auch die Aufsichtsbehörden müssen ausreichend Zeit bekommen, sich auf die neuen Regelungen einzustellen. Eine Umsetzung kann nicht über Nacht erfolgen. Der bisher vorgesehene Zeitplan ist sehr eng. Die erst vor kurzem abgeschlossene fünfte Auswirkungsstudie hat gezeigt, dass noch einige erhebliche inhaltliche Ände- rungen notwendig sind. Somit besteht auch heute, an- derthalb Jahre vor dem geplanten Startzeitpunkt, noch keine Gewissheit über die endgültige rechtliche Ausge- staltung von Solvency II. Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für eine angemessene Bewertung und Berücksichtigung der jüngsten Auswirkungsstudie einzusetzen. Ein ange- messenes Verhältnis zwischen eingegangenen Risiken und Schärfe der aufsichtsrechtlichen Anforderungen sollte in allen Regelungsbereichen festgelegt und ange- wandt werden. Dies ist wichtig, da die Regeln für alle Unternehmen unabhängig von ihrer Größe und Rechts- form gelten sollen. Der Compliance-Aufwand muss da- her verhältnismäßig und von allen Unternehmen dar- stellbar sein. Die neuen Regeln dürfen nicht zu einer überproportionalen Belastung für kleine und mittlere Unternehmen werden. Dies würde ihre Wettbewerbs- position nachhaltig schwächen. Eine konsequente An- wendung des prinzipienbasierten Ansatzes der Richtlinie und deutliche Vereinfachungen sind für die erfolgreiche Einführung von Solvency II besonders wichtig. Deutsch- land und Frankreich haben dies gegenüber der Kommis- sion adressiert. Wir unterstützen die Bundesregierung ausdrücklich in ihrem Einsatz für eine adäquate Ausge- staltung des Regelwerkes. Drittens. Ein nicht unwichtiges Detail der Verhand- lungen ist die Festlegung einer praxistauglichen und die Interessen der deutschen Versicherungsunternehmen und Versicherten berücksichtigenden risikofreien Zinsstruk- turkurve. Insbesondere für das Angebot von Altersvor- sorgeprodukten ist eine sachgerecht definierte risikofreie Zinsstrukturkurve wesentlich. Andernfalls drohen eta- blierte Anlageprodukte, zum Beispiel langlaufende Le- bensversicherungen, deutlich teurer zu werden oder gar vom Markt zu verschwinden. An Änderungen wird be- reits gearbeitet, und wir sind zuversichtlich, dass eine Lösung gefunden werden kann. Wir fordern die Bundes- regierung daher auf, sich weiter für die Sicherstellung der Finanzierbarkeit langlaufender Versicherungsver- träge und die Vereinbarung entsprechender rechtlicher Rahmenbedingungen einzusetzen. Viertens. Uns ist wichtig, dass die parlamentarische Kontrolle gestärkt wird. Es ist richtig, dass bestimmte Kompetenzen auf die Kommission und die EIOPA über- tragen werden, die dann delegierte Rechtsakte bzw. tech- nische Standards erlassen können. Dies kann nötig sein, um technische Details aus Harmonisierungsgesichts- punkten einheitlich festzulegen, wenn der Rahmen durch eine politische Entscheidung bereits gesetzt ist. Wir müssen aber darauf achten, dass die wesentlichen Ent- scheidungen weiterhin im ordentlichen Verfahren getrof- fen werden. Die Möglichkeit für delegierte Rechtsakte und der Anwendungsbereich von technischen Standards sollten daher nicht weiter gefasst werden als unbedingt nötig. Außerdem sollte unter Berücksichtigung der neuen europäischen Aufsichtsstruktur dem Gruppenauf- seher eine besondere Bedeutung zukommen. Die opera- tive Aufsicht über die Institute sollte nicht faktisch auf die EIOPA übergehen. Dies ist auch wichtig, um die Größe der einzelnen Märkte im Entscheidungsprozess angemessen zu berücksichtigen. Fünftens. Wir fordern die Bundesregierung außerdem auf, sich für eine angemessene Risikobetrachtung und Risikounterlegung der jeweiligen Aktiva einzusetzen. Versicherungen sollen an den tatsächlichen Risiken orientierte, praxisnahe Anforderungen an das Eigenkapi- tal erfüllen müssen. Zur Vermeidung von Wettbewerbs- nachteilen für Unternehmen, die die Standardformel an- wenden, muss diese regelmäßig überprüft und an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Dabei dürfen keine Asset-Klassen benachteiligt oder bevorzugt wer- den. Ich denke, dass wir – sollten die genannten Punkte be- rücksichtigt werden – die Umsetzung der neuen europäi- schen Aufsichtsstruktur besser und tragfähiger gestalten können. So richtig und wichtig die Verbesserung der Aufsicht ist, so wichtig ist es aber auch, die Versiche- rungsunternehmen und die Aufsichtsbehörden nicht zu überfordern, in zeitlicher wie auch inhaltlicher Hinsicht. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Modifikationen im Versicherungsbereich Auswirkungen auf andere Branchen und Finanzmarktakteure haben. So finanzieren Versicherungen zum Beispiel in erheblichem Maße Ban- ken und sind große Anleger im Markt für Immobilien und Asset-backed-Securities. Bei Änderungen müssen wir daher immer auch die Folgen für diese Märkte mit bedenken. Dies gilt sowohl für die Regelungen zu Basel im Banken- als auch für Solvency II im Versicherungs- bereich. Wir haben mit unserem Antrag die aus meiner Sicht wesentlichen Kritikpunkte aufgegriffen. Ich bitte Sie da- her um Ihre Zustimmung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14235 (A) (C) (D)(B) Peter Aumer (CDU/CSU): Die deutsche Wirtschaft wächst seit einiger Zeit deutlich, trotz der verheerenden Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre und der darauffolgenden Staatsschuldenkrise. Neben den ent- schlossenen und gezielten Stabilisierungsmaßnahmen während der Krise haben die zügig und konsequent ein- geleiteten strukturellen Reformen des Finanzmarktes ei- nen zentralen Beitrag hierzu geleistet. Das regulatori- sche Korsett für die Finanzwirtschaft wurde deutlich gestrafft, ohne gleichzeitig ihre hohe volkswirtschaftli- che Bedeutung als Kreditversorger für die deutsche Wirtschaft zu beeinträchtigen. Was Basel III für die Ban- ken bedeutet, nennt sich Solvency II für die Versicherun- gen. Das Projekt Solvency II ist ein weiterer Meilenstein der Finanzmarktregulierung. „Solvency II als eines der wichtigen europäischen Projekte im Bereich der Finanz- dienstleistungswirtschaft ist so umzusetzen, dass der deutsche Versicherungsmarkt gestärkt wird.“ Diese Maßgabe des Koalitionsvertrags wollen wir umsetzen: Wir unterstützen die Bundesregierung darin, die Sachan- liegen der deutschen Versicherer im Interesse der Unter- nehmen und der Versicherungsnehmer auf europäischer Ebene kraftvoll zu vertreten. Dabei werden wir auf eine angemessene Risikobetrachtung und Risikounterlegung achten, um Verwerfungen auf den Kapital- und Immobi- lienmärkten zu vermeiden; so haben wir es ausdrücklich in unserem vorliegenden Antrag festgehalten. Lassen Sie mich dies am Beispiel des deutschen Im- mobilienmarktes verdeutlichen: Gerade der deutsche Im- mobilienmarkt hat sich in der Krise als weniger volatil als andere Immobilienmärkte gezeigt. Wenn es nun da- rum geht, das Immobilienrisiko zu bemessen, dann dür- fen die Risikofaktoren nicht überzeichnet werden; denn sonst würde der deutsche Immobilienmarkt im Wettbe- werb um Investoren benachteiligt. Deshalb müssen wir die höhere Wertbeständigkeit des deutschen Immobilien- marktes in die Risikobetrachtung einbeziehen. Die An- forderungen an das Eigenkapital müssen so gestaltet sein, dass eine praxisnahe, den tatsächlichen Risiken ent- sprechende Vorsorge erfolgt. Dabei sind die Gegeben- heiten aller regionalen Märkte in Europa zu berücksich- tigen. Die Standardformel muss regelmäßig überprüft werden, um Wettbewerbsnachteile für Versicherer, die die Standardformel anwenden, möglichst weitgehend zu vermeiden. Dies ist ein Beispiel dafür, dass wir einzelne Asset- klassen nicht durch über- oder unterzeichnete Risiken benachteiligen oder bevorzugen dürfen. Daher wollen wir auch die Ansätze zur Risikoeinschätzung bei Staats- anleihen zu gegebener Zeit überprüfen. Wir machen in unserem Antrag auch deutlich, dass wir die neue EU- Finanzaufsichtsstruktur unterstützen. Es ist gut, dass zu Beginn dieses Jahres das neu geschaffene Aufsichtssys- tem mit Behörden wie der EU-Versicherungsaufsichts- behörde EIOPA gestartet wurde. Gleichzeitig ist für uns aber auch klar, dass Rat und Parlament angemessen ein- gebunden werden müssen, um die demokratische Legiti- mation zu wahren. Wir zeigen als Koalitionsfraktionen mit unserer Stel- lungnahme gemäß dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in An- gelegenheiten der Europäischen Union, EUZBBG, dass wir unsere europapolitische Verantwortung wahrneh- men. Jeder Finanzplatz, jedes Finanzprodukt und jeder Akteur müssen zukünftig einer Regulierung unterliegen. Dies ist unser Motto, das wir gemeinsam mit europäi- schen Partnern mit Augenmaß umsetzen. Manfred Zöllmer (SPD): Diese Woche hat die Euro- päische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung, EIOPA, die Er- gebnisse ihres jüngsten sogenannten Stresstests veröf- fentlicht, in dem die Stabilität der Versicherungsunter- nehmen bei simulierten Krisenszenarien geprüft wurde. Danach müssen etwa 10 Prozent der Unternehmen „nachsitzen“, weil sie die neuen Eigenkapitalanforde- rungen, wie sie durch Solvency II ab 2013 gelten wer- den, nicht erfüllen. Hier müssen die betroffenen Unter- nehmen, deren Namen die EIOPA – anders als beim jüngsten Bankenstresstest – nicht veröffentlicht, nach- bessern. Insgesamt ist Solvency II eines der wichtigsten Pro- jekte im Bereich Aufsicht über Finanzdienstleistungen auf EU-Ebene. Mit dem Projekt sollen die heutigen Sol- vabilitätsvorschriften, also die Eigenmittelanforderun- gen, für Versicherungsunternehmen zu einem konse- quent risikoorientierten System der Finanzaufsicht weiterentwickelt werden. Neben den Banken ist zum Beispiel auch der Versicherungsgigant AIG in der Fi- nanzkrise ins Wanken geraten. Insoweit ist es eine kon- sequente Lehre aus der Finanzkrise, auch für Versiche- rungsunternehmen ein wirksames Aufsichtsregime zu gestalten und Eigenkapitalanforderungen zu überprüfen, um künftige Krisenereignisse bestehen zu können. Die Versicherer sollen ihr eigenes, internes Risikoma- nagement verbessern. Darüber hinaus wird mit Solvency II eine angemessene Harmonisierung der Aufsicht über Versicherungen in Europa angestrebt. Wie im Antrag der Regierungsfraktionen zu Recht er- wähnt wird, hat das Projekt noch einige Monate Vorlauf- zeit, bis die neuen Regeln Anfang 2013 in Kraft treten sollen. Gleichzeitig ist der beabsichtigte Zeitplan eng und die Materie zum Teil äußerst komplex. Es ist zu überprüfen, ob die Komplexität nicht reduziert werden kann oder sogar muss. Dies betrifft insbesondere die Standardformel von Solvency II, die praktikabler gestal- tet werden sollte. Dies war auch eines der Ergebnisse der im Antrag erwähnten QIS-5-Studie zum künftigen euro- päischen Regelwerk. Es gibt von unterschiedlicher Seite Kritik an dem Pro- jekt. So wird argumentiert, Solvency II bedrohe das deutsche Betriebsrentensystem, weil die neuen Eigenka- pitalregeln und Vorgaben zum Risikomanagement die Pensionskassen deutscher Firmen zu stark unter Druck setzen. Das bewährte Betriebsrentensystem in Deutsch- land darf nicht durch neue Solvabilitätsregeln in Mitlei- denschaft gezogen werden. Kritik kommt auch aus der Immobilienbranche, die bei Investitionen auf bestimmte 14236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Finanzierungsmodelle durch Versicherungsunternehmen angewiesen sind. Die meisten Kritikpunkte machen na- türlich die Betroffenen, also die Versicherer selbst, gel- tend. Auch hier gibt es eine Reihe von Punkten, die man sich im Verlauf des Solvency-II-Prozesses genauer an- schauen muss. So ist die Frage zu stellen, ob die Interessen der klei- neren Versicherer angemessen berücksichtigt wurden. Wir müssen – ähnlich wie bei den Banken – auch da- rauf achten, dass es keinen Anreiz geben darf, wegen der neuen höheren Anforderungen auf weniger streng oder gar nicht regulierte Anbieter von Kapitalgarantien aus- zuweichen. Genauso wie im Bereich der Banken und zum Bei- spiel der neuen Basel-III-Regelungen erscheint es hier sehr wichtig, dass die beabsichtigte europäische Harmo- nisierung nicht über das Ziel hinausschießt, sondern na- tionale Besonderheiten ihre Berücksichtigung finden. Der unterschiedlichen Struktur der jeweiligen Märkte, der Unternehmen und deren unterschiedlichen Risiken müssen die Regeln gerecht werden. Allein ein identi- sches „Playing Field“ schaffen zu wollen, kann nicht al- leiniges Ziel sein. Letztlich geht es um krisenfeste und robuste Versicherungsunternehmen. EU-Kommissar Michel Barnier hat kürzlich einge- räumt, dass eine Reihe wichtiger Fragen noch gelöst werden müsse. In den Detailvorgaben zur Umsetzung des Regelwerks werde es Verbesserungen geben. Die Branche sei hier aber ausreichend eingebunden – wie im gesamten Gesetzgebungsprozess. Wir tragen den Antrag der Regierungsfraktionen in seinen zentralen Forderungen durchaus mit, werden uns in der Sache aber enthalten. Es ist äußerst unerfreulich, dass Sie sich einem ursprünglich geplanten gemeinsa- men Antrag verweigert haben und nun Ihren Antrag ent- gegen der Verabredung unmittelbar in das Plenum ein- bringen. Um Gemeinsamkeiten muss man sich bemühen. Das haben Sie nicht getan. Björn Sänger (FDP): Im Zuge der Aufarbeitung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise kommt es zu Recht auch zu einer Novellierung der Rahmenbedin- gungen für das Versicherungsgeschäft. Es ist völlig rich- tig, europaweit gültige Regeln zu schaffen, weil nur dies für einen einheitlichen Wettbewerbsrahmen sorgt. Glei- che Rahmenbedingungen auf EU-Ebene sorgen auch da- für, dass das Ansteckungsrisiko im Falle einer neuen Finanzkrise minimiert wird. Aber es geht auch darum, gewachsene Strukturen in den einzelnen EU-Mitglied- staaten in den neuen Rechtsrahmen zu überführen, um Wettbewerb zu sichern. Es kann nicht im Interesse der europäischen Idee sein, die Versicherungsmärkte Euro- pas über einen Kamm zu scheren. Gleiches muss gleich, Unterschiedliches aber eben auch unterschiedlich behan- delt werden. Die Versicherungen haben in Deutschland eine lange und gute Tradition bei der Finanzierung der Realwirt- schaft. Viele Unternehmungen wurden oder werden von Versicherungen finanziert. In der Immobilienwirtschaft spielen die Mittel der Versicherten eine große Rolle. Umgekehrt sind Versicherungsprodukte wie etwa die Lebens- oder die Rentenversicherung außerordentlich beliebt bei den Deutschen, wenn es darum geht, einen langfristigen Sparprozess etwa zur Altersvorsorge anzu- stoßen. Bestimmte Ausgestaltungsformen werden sogar staatlich gefördert, wenn wir an die Riester- beziehungs- weise Rürup-Rente oder die Durchführungsformen bei der betrieblichen Altersvorsorge denken. Dabei haben die Versicherten die Möglichkeit, aus einer bunten und reichhaltigen Produktpalette unterschiedlichster, zum Teil spezialisierter Anbieter ihr passendes Produkt aus- zuwählen. Die Vielfalt unserer Versicherungsunterneh- men sichert einen gesunden Wettbewerb zum Wohle der Versicherten und unserer Volkswirtschaft. Das ist nicht überall in Europa so. Um das bewährte und den Versicherten vertraute An- gebot der Altersvorsorge weiter aufrechterhalten zu kön- nen, muss die Zinsstrukturkurve sachgerecht modelliert werden können. Wir sind überzeugt, dass es der Bundes- regierung gelingen wird, im Rahmen der Verhandlungen zu den Durchführungsbestimmungen zu Regeln zu kom- men, die dies ermöglichen und unterstützen sie mit Nachdruck dabei. Vertrauen ist ein ganz entscheidender Wert bei der Wahl der Altersvorsorge. Er darf nicht in Gefahr geraten. Ein weiterer, wichtiger Punkt ist die Frage der Büro- kratiebelastung für die Versicherungsunternehmen. Si- cherlich ist Kontrolle gut, und es ist notwendig, dass die Aufsicht über die relevanten Informationen verfügt. Al- lerdings geht auch niemand mit einem Granatwerfer auf Kaninchenjagd. Uns ist daher wichtig, dass das Verhält- nis gewahrt bleibt und die vielen kleinen und mittleren Versicherungsunternehmen, die im deutschen Markt den Wettbewerb und damit über die Innovationen auch die Qualität im Markt sichern, eine Chance haben, auch un- ter Solvency II ihre Aktivitäten fortführen zu können. Der Bundesfinanzminister hat bereits gemeinsam mit seiner damaligen französischen Kollegin Lagarde eine Initiative zur Vereinfachung der Regeln gestartet. Wir als christlich-liberale Koalition unterstützen diese Initiative und machen mit diesem Antrag deutlich, dass dem Deut- schen Bundestag dieses Thema sehr wichtig ist. Solvency II wird tiefgreifende Veränderungen für die Unternehmen bringen. Es kann daher nicht sein, dass wir die Branche mit der Dampfwalze überrollen und von heute auf morgen eine neue Welt einführen. Zudem ist für die Unternehmen noch völlig unklar, was genau auf sie zukommt, da die fünfte quantitative Auswirkungs- studie QIS5 die Notwendigkeit erheblicher inhaltlicher Änderungen aufgezeigt hat. Das Versicherungsgeschäft ist aber eines, dass überwiegend langfristig orientiert ist. Den Kurs eines großen Tankers ändert man nicht eben so schnell. Das braucht Vorlauf, und den sollten wir der Branche in Form eines gleitenden Übergangs bzw. einer begrenzten Übergangszeit geben. Als Parlamentarier ist mir demokratisch legitimierte Kontrolle über Regeln und Rahmenbedingungen für be- deutende Branchen wichtig. Je direkter die Kontrolle ist, desto besser. Ich habe daher ein Problem damit, wenn es Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14237 (A) (C) (D)(B) zu weitreichenden Ermächtigungen für die EU-Kommis- sion kommt, bestimmte Rechtsakte wie zum Beispiel Durchführungsbestimmungen auf nachgeordnete Behör- den zu übertragen. Unter Harmonisierungsgesichtspunk- ten zur Schaffung eines Level Playing Fields ist das si- cherlich an der einen oder anderen Stelle notwendig. Aber nur dort soll es geschehen, was zugegebenermaßen ein Ritt auf der Rasierklinge ist. Klar ist für uns auch, dass die Größe der Versicherungsmärkte sich bei der Entscheidungsfindung über Standards hinsichtlich der Berücksichtigung regionaler Eigenheiten wiederfinden muss. Zum Schluss meiner Ausführungen will ich auf das Thema Risikobetrachtung und Risikounterlegung zu sprechen kommen. Es ist völlig richtig, dass unterschied- liche Risiken unterschiedlich mit Eigenkapital unterlegt werden. Nur sollte dies dem Risiko angemessen gesche- hen und nicht zu Verwerfungen in der Realwirtschaft des jeweiligen Mitgliedstaates führen. Dies betrifft in Deutschland insbesondere die Unternehmens-, wie auch die Immobilienfinanzierung. Wenn eine Beteiligung einer Versicherung an einer Bank zu 100 Prozent mit Eigenka- pital hinterlegt werden muss, dann mag das im Einzelfall gerechtfertigt sein. Auch, dass für eine Immobilie oder eine Unternehmensbeteiligung Eigenkapital hinterlegt werden muss, ist sinnvoll. Ich will das hier ausdrücklich feststellen. Es kommt aber darauf an, dass dies angemes- sen geschieht auch für Versicherungsunternehmen, die die Standardformel anwenden, damit es nicht zu Wettbe- werbsverzerrungen im Versicherungsmarkt und zu Ver- werfungen auf den Märkten, die durch Versicherungen finanziert werden, kommt. Wir wollen auch, dass die vorgesehene Differenzie- rung bei Staatsanleihen einer Überprüfung unterzogen wird, um mittel- bis langfristig eine realistische Risiko- orientierung in den Unternehmen zu erreichen. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um die Zukunft der Euro- päischen Währungsunion wäre es fahrlässig, diese not- wendige Debatte zu unterlassen. Das Risiko von Staats- anleihen nicht nur – aber auch – aus der Euro-Zone wird neu bewertet werden müssen, da auch hier, wie bei Un- ternehmen, Aktien oder Immobilien ,der Einzelfall zählt. Die Debatte steht dann an, wenn es Klarheit über den zu- künftigen Umgang mit Staatsschuldenkrisen gibt. Der vorliegende Antrag greift die Probleme, die es nach derzeitigem Wissensstand bei der Umsetzung von Solvency II geben kann, auf und gibt der Bundesregie- rung den Willen des Souveräns als Meinungsverstärker mit nach Brüssel, um die gute Verhandlungsführung mit Nachdruck zu unterstützen. Wir als christlich-liberale Regierungskoalition sind sehr zuversichtlich, dass es den Verhandlungsführern aus dem Bundesfinanzministe- riums gelingen wird, ein Rahmenwerk zu schaffen, dass die Gefahr zukünftiger Krisen minimieren und die natio- nalen Versicherungsmärkte mit ihren Eigenheiten wei- terhin gedeihen lassen wird! Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die Regierungskoali- tion hat einen Antrag hinsichtlich der bevorstehenden Einführung von Solvency II und zu den Kompetenzen der europäischen Versicherungsaufsicht vorgelegt. Die- ser Antrag ist leider sehr dürftig: Die Forderungen sind völlig vage gehalten oder werden im nächsten Halbsatz relativiert. Insgesamt also zwei Seiten Larifari, angerei- chert mit einzelnen Fachvokabeln. Offenbar geht es der Koalition nur darum, ein Lebenszeichen an die Versiche- rungswirtschaft zu senden. Dazu hätte ein Brief an die Verbände gereicht. Bei einer Zustimmung würde der Bundestag der Bundesregierung einen Freibrief für wei- tere Verhandlungen ausstellen. Dies ist ein wichtiger Grund, weswegen wir dem Antrag nicht zustimmen wer- den. Aber lassen Sie mich das im Einzelnen begründen: Die Koalitionsfraktionen drängen auf Übergangsrege- lungen für einen gleitenden Übergang vom bestehenden in das neue Aufsichtsregime für Versicherungen. Die Einführung von Solvency II bis 2013 ist tatsächlich am- bitioniert. Die Dauer einer Übergangszeit wird aber nicht präzisiert. Wir können dem nicht zustimmen, sonst kann die Bundesregierung ähnlich überzogene Über- gangsfristen fordern wie beim Atomausstieg. Die Koalitionsfraktion bemängelt die hohe Komple- xität von Solvency II. Die Regelungsdichte ist tatsäch- lich ein Problem für kleine und mittlere Versicherer. Al- lerdings bleibt die Koalition auch hier eine Antwort schuldig, wie das Problem zu lösen sei. In der Rahmen- richtlinie zu Solvency II gibt es bereits Ausnahmerege- lungen für kleine Versicherer. Hier hätte man etwa kon- kret ansetzen können, wenn man darüber hinausgehen wollte. Die Koalition tut es allerdings nicht. Sie verweist lediglich auf ein Papier von Bundesfinanzminister Schäuble und seiner früheren französischen Amtskolle- gin Lagarde. Eine Bewertung dieses Papiers findet sich im Antrag der Koalition ausdrücklich nicht. Das kann nur bedeuten, dass die Koalition wieder einmal nicht in vollem Umfang hinter ihrem Finanzminister steht. Die Koalitionsfraktion fordert eine sachgerechte Zinsstrukturkurve und einen aussagekräftigen und ver- lässlichen Rechtsrahmen. Zweimal heiße Luft: Niemand will idiotische Zinsstrukturkurven und einen nichtssa- genden und unverlässlichen Rechtsrahmen. Wir können auch nur kritisieren, dass sich die Regie- rungskoalition auf europäischer Ebene um „das be- währte Angebot zur privaten Altersvorsorge“ kümmern will, während sie zu Hause bei der gesetzlichen Alters- vorsorge die Erosion des Umlageverfahrens fortsetzt und sich weigert, entschlossen gegen Altersarmut vorzuge- hen. Bei den Kompetenzen will die Koalitionsfraktion der EU-Kommission und der EU-Finanzaufsicht nicht mehr Kompetenzen zubilligen als unbedingt nötig. Wir for- dern dagegen, dass die Kompetenzen der Aufsicht an den Erfordernissen einer stabilen und soliden Versiche- rungswirtschaft ausgerichtet werden und nicht an einem prinzipiellem Misstrauen gegen jegliche Aufgabe natio- naler Souveränität festgemacht werden. In Entscheidungsprozessen der EIOPA soll nach For- derung der Koalition bei Mehrheitsentscheidungen die Größe der Märkte berücksichtigt werden. Wir meinen: 14238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) Wenn man schon eine Gewichtung von Länderstimmen vornimmt, sollte diese sich an der Größe der Bevölke- rung und nicht an der Größe der Märkte orientieren. Der Vorschlag der Koalition ist umso befremdlicher, als dass ein paar Zeilen vorher noch von der demokratischen Le- gitimierung die Rede ist und dann eine Art Zensuswahl- recht bei der Versicherungsaufsicht gefordert wird. Letzter Forderungspunkt: Was eine angemessene Ri- sikobetrachtung und Risikounterlegung sein soll, verrät die Koalition nicht. Auch wir sind für eine angemessene Risikobetrachtung und Risikounterlegung, wie wir über- haupt für eine angemessene Politik in angemessenem Rahmen und in angemessener Zeit sind. Es bleibt völlig unklar, wie „Verwerfungen auf den Kapital- und Immo- bilienmärkten“ vermieden werden sollen. Wer den Versi- cherern etwas Gutes tun will, sollte endlich dafür sorgen, dass die Finanzmärkte nicht mehr von enormen Volatili- täten gekennzeichnet sind. In unserem Antrag zu Waren- termingeschäften (Drucksache 17/4533) hat unsere Frak- tion beispielsweise eine ganze Reihe von Vorschlägen in diesem Sinne gemacht. Die Koalition hat sich hier leider noch kein Stück mit eigenen Vorschlägen bewegt. Auch Staatsanleihen sollen „zu gegebener Zeit“ diffe- renziert behandelt werden. Dabei zielt die Koalition wohl darauf ab, dass unter anderem das hohe Ausfallri- siko griechischer Staatsanleihen bei Solvency II über- haupt nicht berücksichtigt würde. Wie damit nun zu ver- fahren ist und wann die Zeit dafür „gegeben ist“, verrät sie wiederum nicht. Also noch mehr heiße Luft. Letzte Bemerkung: Im Finanzausschuss hat Abgeord- neter Björn Sänger, FDP, am 11. Mai 2011 diesen Antrag angekündigt, den man frühzeitig mit den Oppositions- fraktionen besprechen werde, damit man zu einer mög- lichst einheitlichen Position des gesamten Bundestages komme, um die Bundesregierung mit einem stärkeren Verhandlungsmandat für Brüssel auszustatten. Stattdes- sen legt die Regierungskoalition nun einen Tag vor die- ser Rede ohne jegliche Rücksprache mit unserer Frak- tion den hier debattierten Antrag zur Sofortabstimmung vor. Wir können daher nicht umhin, diesen fachlich äu- ßerst dürftigen Antrag abzulehnen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Solvency II soll die Versicherungsregulierung in Europa auf eine neue Grundlage stellen. Vor dem Hintergrund verschiedener Anlageverordnungen erscheint diese Idee in einem gemeinsamen Markt auch aus Wettbewerbs- gründen nachvollziehbar und konsequent. Gleichzeitig bedeutet ein europäisches Regelwerk, bei welchem eine risikoadjustierte Eigenkapitalunterlegung angestrebt wird, eine deutliche Anhebung der administrativen An- forderungen an Versicherer. Wir müssen uns dabei einen Zielkonflikt immer wieder vor Augen halten: Regulie- rung von Banken und Versicherungen ist kein Selbst- zweck, sondern soll ein intaktes Finanzsystem gewähr- leisten, bei dem Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht die Rettung von Instituten im Notfall übernehmen müssen, weil ein Ausfall vermeintlich zu großer Spieler am Markt vermieden werden muss. Aus diesem Grund braucht es Spielregeln, die das Aufbauen zu großer Risi- ken vermeiden sollen. Gleichzeitig können zu kompli- zierte Spielregeln dazu führen, dass kleinere und finan- ziell schwächere Akteure nicht mehr mitspielen können. Diese kleinen Akteure aber wiederum bieten die durch- aus gewünschten Finanzdienstleistungen aber oft sehr kundenfreundlich an und produzieren nicht die systemi- schen Risiken, die mit Regulierung eigentlich kontrol- liert werden sollen. Daher braucht es eine Mindestregu- lierung für kleinere Akteure und ein komplizierteres Regelwerk für die großen Spieler am Markt. Weiterhin ist darauf zu achten, dass Wettbewerbsnachteile durch die Kapitalanforderungen im Standardansatz, den vor al- lem kleinere Versicherer wählen werden, möglichst ge- ring gehalten werden. Regulierung muss auch vor Kon- zentration schützen, um den Wettbewerb am Markt zu gewährleisten. Welche Konsequenzen sich aus fehlerhafter Regulie- rung ergeben, konnten wir in der Finanzkrise schmerz- haft erleben. Fantasievoll interpretierte Ausnahmerege- lungen wurden von deutschen Banken genutzt, um außerbilanziell hohe Risiken einzugehen, ohne dafür Ei- genkapital vorzuhalten. Vor diesem Hintergrund muss die Politik immer ganz genau nachsehen, wenn Risiken ohne oder fast ohne Eigenkapital eingegangen werden. Solvency II wie auch Basel III bevorzugt in hohem Maße pauschal alle OECD-Staatsanleihen bei der Eigen- kapitalunterlegung, indem diese von der Pflicht zur Un- terlegung mit Eigenkapital befreit werden. Auch im Falle Griechenlands hätte eine Eigenkapitalunterlegung schon zu einem früheren Zeitpunkt die gedankenlose Kreditvergabe eingeschränkt. An dieser Stelle sind Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen auf- sichtsrechtlichen Regelwerken stärker zu untersuchen. Deutschland erwirtschaftet aufgrund seiner Export- stärke in hohem Maße Leistungsbilanzüberschüsse. Dies bedeutet, dass wir zunehmend Forderungen gegenüber dem Ausland aufbauen. Dies kann beispielsweise durch den Kauf ausländischer Anleihen oder durch den Erwerb von Unternehmensbeteiligung bzw. Auslandsdirektin- vestitionen erfolgen. Hier wirkt die Regulierung so, dass ein Anreiz zum Ankauf ausländischer Staatsanleihen generiert wird, nicht aber für die Finanzierung von Aus- landsinvestitionen des deutschen Mittelstands. Wir müssen uns fragen, ob ein Verzicht auf Eigenkapitalun- terlegung, der unabhängig von der konkreten Situation der Staatsschulden erfolgt, wirklich eine Verbesserung im Blick auf eine risikoadäquate Kapitalunterlegung be- deutet. Ich sehe es außerdem kritisch, das Solvency II als Rahmenrichtlinie es den Mitgliedstaaten verwehrt, über die Richtlinienvorgaben hinausgehende Regelungen zu treffen, um ein höheres Schutzniveau zu erreichen. In Art. 27 der Solvency-II-Richtlinie wird als Hauptziel der Beaufsichtigung der Schutz der Versicherungsnehmer bezeichnet. Als Nebenziele finden sich in Art. 28 die Fi- nanzsystemstabilität und die Berücksichtigung prozykli- scher Effekte in Zeiten außergewöhnlicher Bewegungen auf den Finanzmärkten. Weshalb bitte würde denn ein Mitgliedstaat seine Regelungen strenger als andere Staa- ten formulieren? Doch wohl nur, um Versicherungsneh- mer und den Finanzmarkt vor Unheil zu bewahren. An Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14239 (A) (C) (D)(B) dieser Stelle konterkariert die Solvency-II-Richtlinie mit dem Wunsch nach Konvergenz ihr eigentliches Anlie- gen, nämlich den Schutz der Versicherungsnehmer und den Erhalt der Finanzmarktstabilität. Europäische Regu- lierung ist immer dann sinnvoll, wenn sie Mindeststan- dards festlegt, um Regulierungsarbitrage zu verhindern. Ein Korsett im Sinne von „one size fits all“, das den Staaten die Möglichkeit nimmt, ihre Versicherer strenger zu beaufsichtigen, widerspricht dem Subsidiaritätsge- danken, ohne dafür einen Mehrwert zu liefern. Schließlich bleibt das aktuelle Thema Ratingagentu- ren zu erwähnen. Ständig ist davon die Rede, dass wir uns unabhängiger von den Urteilen dieser Agenturen machen sollen. Gelingt es, die Regulierung so zu fassen, dass das Urteil der Ratingagenturen weniger wichtig wird, ist auch das ein Beitrag zur Systemstabilität. Denn durch die Regulierung bekommen die subjektiven Mei- nungen der Agenturen ganz konkrete Wirkung für die Kapitalmarktakteure, und zwar immer wieder auch eine destabilisierende, weil sie viele Akteure zu gleichgerich- teten Marktreaktionen zwingen. Damit aber die Forde- rung nach weniger Macht der Ratingagenturen nicht leeres Gerede ist, muss das ganz konkret auch bei Sol- vency II beachtet werden. Anlage 18 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) – Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen so- wie zur Ausweitung der Hemmungsregelun- gen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbe- stimmung im Zivil- und Strafrecht (Tagesordnungspunkt 51 und Zusatztagesord- nungspunkt 7) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Schweigen aufbre- chen und deutlich machen, dass sexueller Missbrauch von Kindern von der Gesellschaft in keiner Weise tole- riert wird, ist wichtig. Wir brauchen eine breite gesell- schaftliche Debatte bei der klar ist, dass gerade der sexuelle Missbrauch von Kindern in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen besonders verachtenswert ist, gleich- gültig ob er in privaten oder öffentlichen Einrichtungen geschieht oder etwa in der Familie. Denn gerade dort, in solchen Abhängigkeits- und Machtverhältnissen, sind die Kinder besonders verletzlich. Neben die körperli- chen Wunden treten die seelischen Verletzungen, wenn sie dort, wo sie eigentlich Schutz und Geborgenheit er- fahren sollen, genau das Gegenteil erleiden müssen. Oft- mals brechen diese seelischen Verletzungen erst nach Jahren auf. Vielfach, das wissen wir mittlerweile, verge- genwärtigen sich die Opfer das Geschehen erst nach lan- ger Zeit, etwa dann, wenn sie selbst erwachsen und zu Eltern werden. Vor allem haben die Opfer, anders als die Täter, vielmals lebenslänglich mit den seelischen Verlet- zungen und ihren Folgen zu leben. Sicherlich waren wir alle betroffen, als wir vom Ausmaß der Mißbrauchsfälle erfahren haben, die Ende 2009, Anfang 2010 an die Öf- fentlichkeit kamen, Taten, die oftmals schon Jahre und Jahrzehnte zurückgelegen haben. Mit dem Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Be- reich“ hat die Bundesregierung dafür gesorgt, dass es zu einer wirklich umfassenden Aufarbeitung kommt und das Thema nach dem Abebben der medialen Aufmerk- samkeit nicht einfach ad acta gelegt wird. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs, StORMG, hat die Bundesregierung zu einzelnen Punkten vor allem des Opferschutzes im Ermittlungs- und Straf- verfahren bereits konkrete Folgerungen aus den Ergeb- nissen der Arbeit des Runden Tisches gezogen und vor- gelegt. Wir als CDU/CSU sehen diesen Gesetzentwurf dabei als einen ersten Schritt konkreter Schlussfolgerungen aus den Beratungen, Beschlüssen und Berichten des Runden Tisches an. Es ist ein Anfang auf einem guten Weg, gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern vor- zugehen und die Rechte von Opfern zu stärken. So sehr wir, wie ich eingangs gesagt habe, eine öf- fentliche Debatte zum Thema sexueller Missbrauch be- nötigen, um die gesellschaftliche Ächtung solcher Taten deutlich zu machen, so sehr brauchen die Opfer in den konkreten Verfahren Schutz und stärkere Rechte. Hier justiert der vorliegende Gesetzentwurf vor allem in ver- fahrensrechtlicher Hinsicht einiges neu. Zunächst und besonders wichtig sieht der Gesetzent- wurf Möglichkeiten vor, Mehrfachvernehmungen zu vermeiden. Gerade minderjährige Opfer sexuellen Miss- brauchs können es als äußerst belastend und qualvoll empfinden, wenn sie auf diese Weise eine emotional und oft auch intellektuell anstrengende Aussage in der unge- wohnten Umgebung des Strafverfahrens mehrmals und möglicherweise in größeren zeitlichen Abständen wie- derholen müssen. Bereits das geltende Recht sieht zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen eine Reihe von Instrumenten vor. Diese werden mit dem Gesetzent- wurf stärker auf den Opferschutz und die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen ausgerichtet. Des Weiteren werden die Verfahrens- und Informa- tionsrechte von Verletzten in Strafverfahren gestärkt. Dazu gehören Veränderungen bei der Gewährung eines kostenlosen anwaltlichen Beistandes für die Verletzten. Bisher besteht der Anspruch auf einen solchen Opferan- walt für Verletzte, die zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig sind. Zukünftig und richtigerweise soll es dann auf den Tatzeitpunkt ankommen. Weiterhin werden durch den Gesetzentwurf stärkere Informationsrechte für das Opfer konstituiert. Und schließlich sieht der Gesetzentwurf vor, dass bei der Entscheidung über den Ausschluss der Öffentlichkeit für die Abwägung die besonderen Belastungen, die da- 14240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) mit für Kinder und Jugendliche verbunden sein können, zu berücksichtigen sind. Ferner sieht der Gesetzentwurf vor, dass zukünftig Jugendstaatsanwälte und Jugendrich- ter über besondere Qualifikationen verfügen müssen, um Missbrauchsfälle bearbeiten zu dürfen. Schließlich soll die Verjährungsfrist für Schadener- satzansprüche, die auf der vorsätzlichen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung beruhen, auf 30 Jahre verlängert werden. Die dreijährige Regelverjährung hat sich für die wirksame Durchsetzung dieser Schadener- satzansprüche in vielen Fällen als zu kurz erwiesen. Die Geschädigten oder Hinterbliebenen sind oft nicht in der Lage, innerhalb der dreijährigen Regelverjährungsfrist, die in den meisten Fällen mit dem Ende des Jahres be- ginnt, in dem die Verletzung stattfindet, ihre Ansprüche geltend zu machen. Wir stehen am Anfang der Beratungen, und es wird, das hat der Rechtsausschuss vorbehaltlich der heutigen Überweisung auch schon beschlossen, eine Anhörung des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf geben. So richtig das Grundanliegen des Gesetzes ist, und so rich- tig viele der gesetzlichen Regelungen sind, so wichtig ist es, sich darüber auch noch einmal im Detail zu unterhal- ten. So möchte ich möchte nicht verhehlen, dass sich mir – und mit mir auch den weiteren Rechtspolitikern von CDU/CSU – die Frage stellt, ob wir wirklich neue be- sondere Qualifikationsvoraussetzungen für Jugend- staatsanwälte und Jugendrichter durch Gesetz konstituie- ren müssen oder ob wir da nicht über das Ziel hinaus schießen. Wir werden diese Frage in der Anhörung si- cherlich noch genau erörtern. Aber auch über den vorlie- genden Gesetzentwurf hinausgehend, gibt es eine Reihe von Punkten, die wir noch genau debattieren und auch entscheiden müssen. Wie eingangs schon gesagt, kann der vorliegende Gesetzentwurf nur ein erster Schritt sein. Da ist zum einen die Frage nach der strafrechtlichen Verjährung zu nennen. Mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf wird vorgeschlagen, die zivilrechtliche Verjährung auszuweiten. Konsequenterweise stellt sich damit auch die Frage, was mit der strafrechtlichen Verjährung ge- schieht. Damit in untrennbarem Zusammenhang steht die Frage, ob wir nicht eher im materiellen Strafrecht Veränderungen und Anpassungen brauchen, etwa eine Erhöhung des Strafrahmens bei einigen Tatbeständen. Dies hätte auch unmittelbare Auswirkungen auf die Ver- jährung. Schließlich haben sich die Koalitionsfraktionen bereits vor einiger Zeit auf ein Eckpunktepapier „Lösun- gen und Wege im Kampf gegen den sexuellen Kindes- missbrauch“ verständigt. Es ist verständlich, dass sich im vorliegenden Gesetzentwurf, der sich vornehmlich mit verfahrensrechtlichen Anpassungen befasst, einige der eher grundlegenden Aspekte des Eckpunktepapiers noch keinen Eingang gefunden haben. Aber auch mit diesen Punkten sollten wir uns auf dem weiteren Weg in- tensiv auseinandersetzen. Ich nenne hierzu als Stich- worte: Begutachtung von Pädosexuellen im Strafver- kehr, Unzulässigkeit des Strafbefehls, Wertungswider- spruch bei § 184 b Abs. 4 StGB. Kinder bedürfen des besonderen Schutzes. Insbeson- dere dort, wo sie von Erwachsenen abhängig sind, dort wo sie in deren Macht stehen, brauchen sie diesen Schutz. Denn sie müssen dort Geborgenheit und Entfal- tungsmöglichkeit erfahren, um zu selbstbestimmten, auch sexuell selbstbestimmten Menschen heranreifen zu können. Und es muss klar sein, dass die Gesellschaft dort, wo dies pervertiert und missbraucht wird, weil die Kinder missbraucht werden, hart durchgreift und mit al- len strafrechtlichen Mitteln vorgeht. Deswegen ist der Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Op- fern sexuellen Missbrauchs ein guter erster Schritt. Wir werden ihn gehen. Aber es müssen noch weitere Schritte folgen. Sonja Steffen (SPD): Meine erste Rede als Mitglied des Deutschen Bundestages habe ich im Rahmen einer aktuellen Stunde zu den Konsequenzen aus den zahlrei- chen bekannt gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen gehalten, und damals standen wir vor der Gründung eines Runden Tisches zu diesem Thema. Der Runde Tisch hat inzwischen bereits eine sehr in- tensive und sehr gute Arbeit geleistet. Zur Mitwirkung am Runden Tisch wurden Vertreterinnen und Vertreter aus der Wissenschaft und allen relevanten gesellschaftli- chen Gruppen eingeladen, unter anderem der Kinder- und Opferschutzverbände, der Freien Wohlfahrtspflege, der beiden großen christlichen Kirchen und des Rechts- wesens. Zum Ende des Jahres 2010 wurde der Zwischenbe- richt veröffentlicht. Er enthält neben den Berichten aus den Arbeitsgruppen auch konkrete Handlungsempfeh- lungen für die Rechtspolitik: Verstärkung des Opfer- schutzes im Ermittlungs- und im Strafverfahren, Leitli- nien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden, die zivilrechtliche Verjährungsfrist und die Fortbildung von Richterinnen und Richtern. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungskoali- tion greift die Empfehlungen auf und bietet uns gute Vorschläge an zur Stärkung des Opferschutzes im Er- mittlungs- und im Strafverfahren. Schon nach jetzt geltendem Recht kann die Verneh- mung eines minderjährigen Opfers sexuellen Miss- brauchs als Video aufgezeichnet werden. Zukünftig kön- nen sich auch bereits volljährige Opfer auf dieses Recht berufen. Dies ist eine große Erleichterung für die Opfer. Die bekannt gewordenen Fälle von sexuellem Miss- brauch von Kindern und Jugendlichen haben gezeigt, dass die Opfer häufig sehr lange brauchen, bis sie das, was ihnen geschehen ist, nach außen mitteilen, und noch viel länger, bis sie den Gang zur Polizei wagen. Viele Opfer sehen von einer Anzeige gegenwärtig ab, weil sie Angst vor den Mühlen der Justiz haben, die sie dann erwarten. Polizeiliche und richterliche Vernehmun- gen, die Befragung und Exploration für ein Glaubwür- digkeitsgutachten und schließlich die mündliche Ver- handlung mit oftmals intensiven und sehr belastenden Befragungen durch den Verteidiger des Angeklagten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14241 (A) (C) (D)(B) sind Strapazen, die für die Opfer unerträglich sind. Mit diesen Befragungen und Vernehmungen wird den Opfern die Tat immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt. Die Videotechnik bietet hier eine sehr begrüßens- werte Möglichkeit, Mehrfachvernehmungen zu vermei- den. Ebenso zu begrüßen ist, dass auch inzwischen volljäh- rige Opfer unter erleichterten Bedingungen einen Opfer- anwalt zur Seite gestellt bekommen. Ich freue mich auch darüber, dass die Qualifikations- anforderungen für Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte im § 37 JGG ausdrücklich Kenntnisse im Bereich Päda- gogik und Jugendpsychologie verlangen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht darüber hinaus vor, dass Schadensersatzansprüche, die auf der vorsätzlichen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbe- stimmung beruhen, zukünftig erst in 30 Jahren verjähren sollen. Die dreijährige Regelverjährung ist für die wirk- same Durchsetzung dieser Schadensersatzansprüche in Anbetracht der oben aufgezeigten Besonderheiten viel zu kurz, sodass diese Verlängerung auf 30 Jahre notwen- dig ist. Analog der Verlängerung der zivilrechtlichen Verjäh- rungsfrist ist es für unsere Fraktion evident, dass im Sinne einer Harmonisierung auch die strafrechtliche Ver- jährungsfrist anzupassen ist. Verschiedene Fälle, die 2009 und 2010 bekannt wur- den, zeigen, dass die Zehn-Jahres-Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch bzw. zwanzig Jahre in besonders schweren Fällen, zu kurz ist. Dies auch in Anbetracht der Regelung, dass die Verjährungsfrist erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres beginnt. Wird eine Jugendliche oder ein Jugendlicher Opfer ei- nes sexuellen Missbrauchs, beträgt die strafrechtliche Verjährungsfrist nur fünf Jahre nach Vollendung des 18. Lebensjahres. Schon wenn das Opfer 23 Jahre alt wird, gibt es keine Möglichkeit mehr für eine strafrecht- liche Verfolgung. Auch beim sexuellen Missbrauch von Kindern fällt die Verjährungsfrist mit zehn Jahren ab Vollendung des 18. Lebensjahres verhältnismäßig kurz aus. Es erscheint zutiefst ungerecht, wenn die Täter davon profitieren, dass ihre Opfer sie aus Scham zunächst nicht anzeigen. Viele der ehemaligen Schüler fanden erst Jahr- zehnte nach den Taten den Mut, das Geschehene zu of- fenbaren. Wenn die Betroffenen älter als 28 Jahre bzw. in besonders schweren Fällen 38 Jahre alt sind, hat der Staat auch bei klarer Beweislage bei der geltenden ge- setzlichen Regelung keine Handhabe mehr, die Täter zu belangen. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns notwendig, die Fristen nicht nur im zivilrechtlichen, sondern auch im strafrechtlichen Bereich entsprechend zu verlängern. Deshalb sieht der Gesetzentwurf der SPD vor, die strafrechtliche Verjährungsfrist beim sexuellen Miss- brauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohle- nen auf zwanzig Jahre zu erhöhen. Unser Maßnahmenpaket mit dem Titel „hinsehen – handeln – helfen“ enthält darüber hinaus zahlreiche wei- tere Punkte, mit dem die SPD-Bundestagsfraktion Kin- der und Jugendliche wirksamer gegen sexuelle Gewalt schützen und Betroffene besser unterstützen will. So müssen Beratungsstellen und Hilfsangebote flä- chendeckend ausgebaut werden. Private und öffentliche Einrichtungen brauchen ver- bindliche Regelungen und klare, einheitliche Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen. Aus- und Weiterbildungsinhalte von Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, müssen das Thema sexuelle Gewalt umfassend berücksichtigen. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regie- rungskoalition, müssen sich endlich dazu durchringen, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Ich hoffe, dass die Ergebnisse der öffentlichen Anhö- rung Sie außerdem davon überzeugen werden, dass auch die strafrechtlichen Verjährungsfristen verlängert wer- den müssen. Christine Lambrecht (SPD): Das Thema, über das wir heute reden, hat in diesem Jahr für viel Aufsehen und hitzige Diskussionen gesorgt. Das Bekanntwerden von zahlreichen Missbrauchsfällen in den unterschied- lichsten konfessionellen und nicht konfessionellen Ein- richtungen in den letzten Jahrzehnten und bis in die heu- tige Zeit hat ein Tabu aufgebrochen, und das ist gut so. Doch es geht heute nicht darum, über diese Institutio- nen zu sprechen. Das ist hier nicht Gegenstand der De- batte. Wir alle wissen, dass allzu oft auch Familien und das engere Umfeld der Opfer Tatorte von sexuellem Missbrauch an Kindern werden können. Es geht heute hier um die Opfer und wie man ihnen helfen kann, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Es ist beschämend wenig, was der Gesetzgeber tun kann, aber das Wenige sollten und müssen wir tun. Wir Rechtspolitiker der SPD-Fraktion haben lange und intensiv über die Probleme geredet, die es den Opfern versagen, juristisch gegen ihre Peiniger vorzuge- hen, und wir haben uns diese Diskussion nicht leicht ge- macht. Wir wollten und wollen auf jeden Fall vermei- den, dass wir mit der willkürlichen Änderung von Gesetzen Symbolpolitik betreiben, die niemandem etwas nutzen, aber gut in der Öffentlichkeit ankommen. Doch wir sind bei der Erörterung konkreter Fälle und bei den Gesprächen mit den Opferverbänden immer wie- der auf ein Problem aufmerksam geworden: Auf die Ver- jährungsfristen. Sie machen es vielen Opfern unmöglich, die Täter juristisch zur Rechenschaft zu ziehen, weil die Taten oft Jahrzehnte zurückliegen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Opfer sind traumatisiert und haben das Geschehene verdrängt. Sie leiden Jahrzehnte physisch und psychisch und wissen 14242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) gar nicht, warum. Erst Therapien bringen das in der Kindheit Erlebte wieder in das Bewusstsein zurück. Das ist meistens ein Schock, der mit professioneller Hilfe verarbeitet werden muss. Andere schweigen Jahrzehnte, weil sie sich schämen, weil sie die Folgen fürchten oder weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass ihnen nie- mand glaubt. Wenn dann das Schweigen gebrochen ist, ist es ein er- neuter Schock, wenn man den Opfern erklärt, dass die Täter in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen werden können, weil die Tat verjährt ist. Die Verjährung hat in unserem Rechtssystem die Funktion, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden herzustellen. In diesen Fällen ist die einseitige Sicherheit und der Frieden nur für die Täter. Alle Opferverbände haben uns deutlich gemacht, dass sie die Verjährungsfristen verändert – verlängert – haben wollen. Während die Verjährungsfrist im Falle von Vergewal- tigung und sexueller Nötigung 20 Jahre beträgt, verjährt der sexuelle Missbrauch von Kindern bereits nach nur 10 Jahren. Der sexuelle Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen verjährt sogar schon innerhalb von 5 Jahren. Zwar ruht im Strafrecht die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Damit soll dem Um- stand Rechnung getragen werden, dass der Entschluss zur Anzeige solcher Straftaten erst nach dem Ende al- tersbedingter und familiärer Abhängigkeiten gefasst werden kann. Grundsätzlich geht der Regierungsentwurf deshalb aus unserer Sicht in die richtige Richtung. Insbesondere aus SPD-Sicht begrüßenswert ist die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfrist von 3 auf 30 Jahre. Dies ist in dem SPD-Entwurf, der schon seit November 2010 vorliegt, bereits vorgeschlagen. Dadurch haben Opfer von sexuellem Missbrauch Gelegenheit, noch bis zur Vollendung ihres 51. Lebensjahres zivilrechtliche Ansprüche geltend zu machen. Aus unserer Sicht zu bedauern ist, dass die Regierung den zweiten wichtigen Schritt nicht getan und die Ver- längerung der strafrechtlichen Verjährung vorgesehen hat. Die bisherigen Verjährungsfristen machen es vielen massiv traumatisierten Opfern unmöglich, die Täter ju- ristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb gibt es im SPD-Entwurf hierzu den Vorschlag, die strafrechtliche Verjährungsfrist beim sexuellen Missbrauch von Kin- dern und minderjährigen Schutzbefohlenen auf 20 Jahre zu erhöhen. Dadurch werden sexuelle Missbrauchstaten einheitlich erst mit vollendetem 38. Lebensjahr des Op- fers verjähren. Die Vorschläge im Regierungsentwurf zur Stärkung von Verfahrens- und Informationsrechten sowie die Re- gelungen zur Zuständigkeit der Jugendgerichte in Ju- gendschutzsachen und zu Qualitätsanforderungen an Ju- gendrichter und Jugendstaatsanwälte erscheinen auf den ersten Blick sinnvoll. Ebenso sinnvoll dürfte es aber sein, sie von Experten beleuchten zu lassen. Das gilt in besonderem Maße für die von der Regierung vorgeschla- genen neuen Regelungen zur Vermeidung von Mehr- fachvernehmungen; denn hier hat es den Anschein, dass der Entwurf die im Zusammenhang mit den Beiord- nungstatbeständen geschaffene Ausbalancierung der Be- schuldigten- und Opferinteressen vermissen lässt. Lassen Sie uns in diesem wichtigen, sensiblen Punkt weder in Parteigezänk noch in juristischen Fundamenta- lismus verfallen. Lassen Sie uns das Problem konstruk- tiv lösen, im Interesse der Betroffenen. Christian Ahrendt (FDP): Die FDP-Bundestags- fraktion begrüßt ausdrücklich den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Maßnahmen zur Stärkung der Opfer- rechte im Ermittlungs- und Strafverfahren zu schaffen. Wer Opfer einer Straftat geworden ist, hat Anspruch auf staatlichen Schutz und Beistand – das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch erleiden mussten. Es ist eine politische Aufgabe von he- rausragender Bedeutung, den sexuellen Missbrauch dau- erhaft und effektiv zu unterbinden. Das hiervon ausge- hende individuelle körperliche und seelische Leid, auch weit über den Missbrauchszeitpunkt hinaus, ist uner- messlich groß und stellt eine schwerwiegende Verlet- zung der Menschenwürde dar. Man vermag sich gar nicht vorzustellen, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge in Deutschland von sexueller Gewalt betroffen ist. Allein in der Zeit von März 2010 bis März 2011 gin- gen bei der telefonischen Anlaufstelle der unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmiss- brauchs 11 000 Anrufe ein, das heißt im Durchschnitt circa 36 Anrufer pro Tag. Was mit dem Runden Tisch „Kampf gegen den sexu- ellen Kindesmissbrauch“ letztes Jahr begonnen hat, setzt sich in dem heute zu beratenden Gesetzentwurf fort. Mit Maßnahmen zur Prävention, Intervention und Informa- tion stärken wir die Rechte von Opfern sexueller Gewalt. Viele Opfer beschäftigen sich sehr lange und intensiv damit, ob sie überhaupt gegen ihre Peiniger vorgehen können und wollen. Die psychischen Folgen sexualisier- ter Gewalt sind oft so folgenreich, dass erst Jahre nach der Tat rechtliche Schritte eingeleitet werden. Durch den Gesetzentwurf wird dieses Problem mit ei- ner realitätsgerechten Lösung angegangen. In Gesprä- chen mit Betroffenen und zahlreichen Briefen, die mich erreichten, wurde stets ein besonderes Anliegen vorge- tragen. Viele Opfer konnten ihre zivilrechtlichen An- sprüche nicht mehr geltend machen, weil die Verjäh- rungsfrist bereits eingetreten war. Dies habe auch ich als einen unhaltbaren Zustand empfunden. Deshalb ist der Vorschlag gut, die zivilrechtliche Verjährungsfrist von 3 auf 30 Jahre zu verlängern. Eine weitere Besserstellung kann mit der Neurege- lung hinsichtlich der Videoaufzeichnung erreicht wer- den. Damit wird die Stellung des Opfers im Strafverfah- ren deutlich verbessert, ohne dass rechtsstaatliche Standards beim Umgang mit dem Angeklagten beein- trächtigt werden. Bereits heute kann die Videoaufzeich- nung einer früheren richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung abgespielt werden, sodass eine Kon- frontation mit belastenden Mehrvernehmungen vermie- den und die erneute Vernehmung eines Opferzeugen ent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14243 (A) (C) (D)(B) behrlich wird. Zukünftig sollen die Gerichte von dieser Möglichkeit stärker als bisher Gebrauch machen. Damit sich Opfer besser über ihre Rechte informieren können, soll die Möglichkeit einer kostenlosen anwaltli- chen Beratung geschaffen werden. Erwachsene, die als Kinder oder Jugendliche Opfer von Sexualdelikten ge- worden sind, sollen in weiterem Umfang als bisher einen für sie kostenlosen Opferanwalt in Anspruch nehmen können. Wirtschaftliche Verhältnisse der Betroffenen dürfen dabei keine Rolle spielen. Daneben sollen die Entscheidungsträger in der Strafjustiz, die mit sexuellem Missbrauch befasst sind, stärker für die Belange der minderjährigen Opfer sensibilisiert werden. Dazu gehört vor allem eine entsprechende Ausbildung. So sollen Ju- gendrichter und Jugendstaatsanwälte zukünftig aus- drücklich über Kenntnisse der Kriminologie, Pädagogik und Jugendpsychologie verfügen. Zudem sollen Opfer nach einer Verurteilung des Tä- ters mehr Informationen über die Strafvollstreckung er- halten können, also vor allem darüber, ob dem Verurteil- ten Urlaub oder Vollzugslockerungen gewährt werden. Von punktuellen Änderungen der Straftatbestände im Sexualstrafrecht – etwa durch Anhebung der Strafrah- men oder Einführung von Qualifikationstatbeständen – wurde im Entwurf abgesehen, da dies unabhängig vom Gesetzeszweck zur Verbesserung der Rechte von Opfern im Ermittlungs- und Strafverfahren zu betrachten ist. Wir können nunmehr umfassende Maßnahmen schaf- fen, die den Opferrechten auch gebührend Rechnung tra- gen. Trotzdem erlaube ich mir, eine mögliche Ergänzung vorzuschlagen. Denn mir stellt sich die Frage, ob die Be- sonderheiten von Sexualstraftaten gerade während des Strafprozesses auch wirklich ausreichend Berücksichti- gung finden. Es erscheint mir daher sinnvoll, bereits während der gerichtlichen Hauptverhandlung klären zu lassen, ob ein Täter unter einer behandlungsbedürftigen Störung leidet und inwiefern er therapiefähig ist. Durch die Einführung dieser Pflicht in der StPO könnte der Opfer- schutz noch mehr Berücksichtigung finden und noch mehr gestärkt werden. Wir beraten heute zudem über den Gesetzentwurf der Grünen, entsprechend die Verjährungsfrist auf 30 Jahre auszuweiten und zugleich auch die zivil- und strafrecht- liche Verjährungshemmung auf das 25. Lebensjahr zu erhöhen. Zwar begrüßen wir, dass sie auch fordern, die zivil- rechtliche Verjährungsfrist auf 30 Jahre anzuheben, je- doch bestehen Bedenken gegenüber den Regelungen, die von den Grünen vorgelegt werden. Zwar gibt es für diese Vorschläge sehr prüfenswerte Argumente, gleichwohl muss auch abgewogen werden, ob eine solche Hem- mungsregelung tatsächlich weiterhilft, insbesondere, wenn die Verjährung selbst bereits 30 Jahre beträgt. Wichtig ist es, alle Vorschläge in den anstehenden Be- ratungen kritisch zu würdigen, damit wir eine deutliche und vor allem effektive Verbesserung für den Opfer- schutz erreichen. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Der vorliegende Gesetzentwurf möchte die Verfahrensstellung von Opfern im Strafverfahren sowie im Schadensersatzrecht verbessern und sieht dafür unter anderem folgende Neu- erungen vor. Angesichts des Zeitrahmens möchte ich nur drei nennen. Erstens. Vermeidung von Mehrfachvernehmungen. Bereits jetzt bestehen gesetzliche Regelungen, um die- sem Anliegen gerecht zu werden. Der Gesetzentwurf möchte aber darüber hinaus ermöglichen, Videotechnik auch bei Delikten außerhalb des Sexualstrafrechts zum Beispiel bei Straftaten gegen das Leben und die persönli- che Freiheit einzuführen. Diese pauschale Erweiterung ist nicht sachgerecht, da sie Opferbelange und Beschul- digtenrechte nicht ausgewogen zum Ausgleich bringt. Im Hinblick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz und das Fragerecht des Angeklagten ist ein solches Vorgehen nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen gerechtfertigt. Die bisherigen Regelungen werden der besonderen Schutzbedürftigkeit minderjähriger Zeugen (§§ 58 a, 255 a StPO) sowie besonders traumatisierten Zeugen (§ 247 a StPO) hinreichend gerecht. Opferschutz ist wichtig, jedoch darf er gerade im Strafverfahren, welches der Durchsetzung des staatli- chen Strafanspruchs gegenüber dem oder der Angeklag- ten dient, nicht einseitig zulasten seiner oder ihrer Rechte gehen. Zweitens. Stärkung der Verfahrensrechte von Verletz- ten im Strafverfahren. Die Opferanwaltsbestellung für volljährige mutmaßliche Opfer soll vereinfacht werden. Darüber hinaus sollen Entscheidungen zur Prozesskos- tenhilfe für den Anwalt eines Nebenklägers künftig an- fechtbar sein. Gegen zusätzliche Rechtsmittel bestehen grundsätzlich keine Bedenken. Drittens. Ausschluss der Öffentlichkeit. Es wird durch Ergänzung des § 171 b Abs.1 Satz 2 GVG klargestellt, dass bei der Abwägung zwischen der Wahrung des Öf- fentlichkeitsgrundsatzes und dem Schutz der Privats- phäre die besonderen Belastungen zu berücksichtigen sind, die für Kinder und Jugendliche mit einer öffentli- chen Verhandlung verbunden sein können. Diese Ergän- zung hat eher deklaratorischen Charakter, da diese Um- stände durch die allgemeine Formulierung im § 171 b Abs.1 GVG bereits jetzt berücksichtigt werden. Viertens. Verlängerung der zivilrechtlichen Verjäh- rungsfrist. Mit dem Gesetzentwurf soll die Verjährungs- frist für Schadensersatzansprüche, die auf der vorsätzli- chen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbe- stimmung beruhen, von drei Jahren auf 30 Jahre verlän- gert werden, § 197 Abs.1 BGB n. F.. Diese Regelung ist, was Opfer sexueller Gewalt betrifft, sinnvoll, da sie häu- fig erst sehr spät wagen, mit ihrer Vergangenheit öffent- lich zu werden und Ansprüche geltend zu machen. Die dreijährige Verjährungsfrist hat sich in vielen Fäl- len als zu kurz erwiesen. Es ist aber zweifelhaft, ob die Verlängerung der Verjährungsfrist und die damit einher- gehende Störung der Rechtssicherheit und des Rechts- 14244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 (A) (C) (D)(B) friedens auch in den anderen Deliktbereichen – Körper- verletzung, Freiheitsbeeinträchtigung – gerechtfertigt ist. Vorläufiges Ergebnis: Der Gesetzentwurf enthält ei- nige sinnvolle Verbesserungen für den Schutz von Op- fern im Strafverfahren, auch Regelungen zur besseren Qualifizierung von Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, die allen im Strafverfahren beteiligten Personen nutzen. Auch die Verlängerung der Verjährungsfrist für Opfer sexueller Gewalt erscheint sinnvoll. Einige Regelungen wie die der §§ 58a, 255a StPO, Videotechnik und Verlesen von Protokollen, erscheinen aber im Hinblick auf den Grund- satz der Unmittelbarkeit zumindest bedenklich. Vor allem aber sollte die Bundesregierung statt auf Einschränkung von wichtigen Verfahrensgrundsätzen vielmehr auf Prävention setzen. Opferschutzprojekte und -vereine müssen besser gefördert werden. Die Beratungen werden zeigen, was hier am sinn- vollsten ist. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Anfang 2010 wurden nach Jahren und Jahrzehnten des Schweigens zahlreiche Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen vor allem aus den 70er- und 80er-Jahren, aber auch bis in die nahe Vergangenheit hi- nein bekannt. Die Öffentlichkeit und wir alle waren er- schüttert über die Vielzahl der Fälle, über die Traumati- sierung der Opfer und deren langes Schweigen. Die meisten dieser Fälle sexueller Gewalt ereigneten sich in Institutionen wie Internaten oder Internatsschulen. Aber auch in Heimen hat es in der Vergangenheit verachtens- werte Verletzungen der Menschenwürde gegeben. Dass diese Fälle erst so viele Jahre später bundesweit ans Tageslicht kamen, zeugt von der Schwere der Taten und der über viele Jahre wirkenden Traumatisierung. Auch sogenannte Schweigekartelle, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein gewirkt haben und teilweise heute noch wirksam sind, kamen ans Tageslicht. In diesen Schweigekartellen war es den Opfern aufgrund einer kontrollierenden Umgebung und Abhängigkeitsverhält- nissen oft nicht möglich, über den erlittenen Missbrauch zu sprechen. Die betroffenen Einrichtungen und Institutionen ha- ben erste Schritte unternommen, das begangene Unrecht aufzuarbeiten. Die bisherigen Anstrengungen und man- che Vorschläge für Ausgleichszahlungen reichen aber noch nicht aus. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht für das Strafverfahren neue Regelungen vor. So sollen Mehrfachvernehmungen von Opfern vermieden werden. Die Informationsrechte des Opfers bezüglich Urlaubs und anderer Lockerungen im Strafvollzug, die zugunsten des Verurteilten bewilligt worden sind, sollen erweitert werden. Diese Vorschläge dienen erkennbar dem Opferschutz. Im weiteren Gesetzgebungsprozess wird jedoch zu diskutieren sein, ob damit die Verteidi- gungsmöglichkeiten des Angeklagten und die Resoziali- sierungsmöglichkeiten des Verurteilten, die ihm unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zustehen müssen, aus- reichend bestehen bleiben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht weiter vor, dass Schadenersatzansprüche, die auf der vorsätzli- chen Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesund- heit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung beruhen, künftig erst nach 30 Jahren verjähren sollen. Verjährungsregelungen müssen tatsächlich stärker als bisher berücksichtigen, dass die Traumatisierung der Opfer eine Klage oft über lange Zeit hinweg verhindert. Traumatisierungen bewirken das Verdrängen des Ge- schehenen, sie machen die Betroffenen ohnmächtig. Auch Schamgefühle oder die weitere Abhängigkeit vom Schädiger oder der Institution führen dazu, dass deren Opfer ihre Ansprüche nicht geltend machen. Die bishe- rige dreijährige Regelverjährungsfrist bei zivilrechtli- chen Ansprüchen hat sich – trotz der zusätzlichen Hem- mung der Verjährung nach § 208 BGB – für die Durchsetzung dieser Schadensersatzansprüche in vielen Fällen als zu kurz erwiesen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung muss aller- dings noch präzisiert werden. In der vorliegenden Fas- sung wäre auch beinhaltet, dass Schadenersatzansprüche wegen jeder vorsätzlichen Ohrfeige oder jedes kurzfristi- gen Einschließens im Klassenzimmer erst nach dreißig Jahren verjähren. Wir Grünen haben zur Regelung der Verjährung einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir wollen die zivilrechtlichen Verjährungsfristen für Schadenersatzansprüche aus einer vorsätzlichen Verletzung der sexuellen Selbstbestim- mung auf 30 Jahre verlängern. Zudem sollen die bishe- rigen Regelungen zur Hemmung der Verjährung in §§ 207, 208 BGB angehoben werden. Bei Kindern, bei denen der sexuelle Missbrauch schon im frühen Kindes- alter stattgefunden hat, reicht auch eine Verjährungsfrist von 30 Jahren nicht aus. In solchen Fällen ist von beson- derer Bedeutung, dass die Verjährungsfrist erst in dem Zeitpunkt beginnt, zu dem das Opfer sein 25. Lebensjahr beendet hat bzw. spätestens zu dem Zeitpunkt, in dem das Opfer, das mit dem Täter in häuslicher Gemeinschaft lebt, diese beendet. Das 25. Lebensjahr soll zusätzlich auch bei der Hemmung der Verfolgungsverjährung im Strafrecht der maßgebliche Zeitpunkt werden. Wir wollen damit den Opfern die Möglichkeit, ihre Ansprüche durchzusetzen, möglichst lange offenhalten und ihnen auf diese Weise die Gelegenheit geben, vor den Gerichten Schmerzensgeld sowie Schadensersatz für Therapie- und Rehabilitationsbehandlungen einzukla- gen. Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Anfang 2010 wurden einzelne Fälle über sexuellen Missbrauch an Schulen öffentlich bekannt. Aus einzelnen Fällen wurde eine Masse an Fäl- len, die wie eine Lawine über uns rollte. Aus diesem Grunde forderte die Bundesjustizministerin die Einset- zung eines runden Tisches. Diese Forderung erwies sich als richtig. Denn hier konnte und kann mit Justizvertre- tern aus den Ländern, mit Opferschutzverbänden, Opfer- anwälten und Strafverteidigern intensiv beraten werden, wie wir vor allem in Strafverfahren Opfer sexueller Ge- walt noch besser schützen können und auch ermutigen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 120. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 14245 (A) (C) (D)(B) können, ihr Schweigen zu brechen, um den Tätern Na- men zu geben und den Weg für strafrechtliche Konse- quenzen zu eröffnen. Als Ergebnis der Beratungen liegt Ihnen nun das Ge- setz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Miss- brauchs – kurz: StORMG – vor. Dafür ist den Mitglie- dern des Runden Tisches Dank und Anerkennung auszu- sprechen. Ein zentrales Anliegen dieses Gesetzentwurfes ist es, den Opfern die in der Praxis bisher vielerorts noch übli- chen Mehrfachvernehmungen zu ersparen. Dafür wollen wir die richterliche Videovernehmung im Ermittlungs- verfahren stärker einsetzen und mit ihrer Hilfe weitere Vernehmungen in einer späteren Hauptverhandlung möglichst vermeiden. Aus den Beratungen am Runden Tisch ziehen wir eine weitere wichtige Lehre. Wer als Minderjähriger Op- fer von Missbrauch geworden ist, braucht häufig noch als Erwachsener besonderen Beistand und im Strafver- fahren Unterstützung. Auch wenn sich Missbrauchsop- fer erst spät zum Strafantrag entscheiden, soll ihnen ein Opferanwalt zu diesem Zeitpunkt beigeordnet werden können. Dem wurde in dem Gesetzentwurf Rechnung getragen. Zum Schluss ein Wort zur Verjährung: Aufgrund der psychischen Belastung oder aus Scham dauert es häufig lange, bis die Opfer sexueller Gewalt in der Lage sind, Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Damit sie Schadensersatzansprüche gegen Täter und mitverant- wortliche Dritte besser durchsetzen können, soll die zi- vilrechtliche Verjährungsfrist für sie zukünftig 30 Jahre betragen. Im Interesse der Opfer sexualisierter Gewalt sind Strafverfahren so auszugestalten, dass die Belastungen für Opfer so gering wie möglich gehalten und die Prinzi- pien des fairen Verfahrens gewahrt werden. Das StORMG ist diesem Anliegen verpflichtet. 120. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. Juli 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14 Anlage 15 Anlage 16 Anlage 17 Anlage 18
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712000000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, habe ich
Ihnen einige Mitteilungen zu machen, zunächst zu Ver-
änderungen im Ablauf der Tagesordnung für den heuti-
gen Plenartag.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Bundesregierung

Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der von den Vereinten Nationen geführten
Friedensmission in Südsudan
– Drucksache 17/6449 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO


(siehe 119. Sitzung)


Rede
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE
gemäß Anlage 5 Nummer 1 b GO-BT

zu den Antworten der Bundesregierung auf
die dringlichen Fragen Nr. 1 und 2 auf Druck-
sache 17/6438

(siehe 119. Sitzung)


ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck

(Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜ
DIE GRÜNEN

Für die Unterstützung der human
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
tzung

, den 7. Juli 2011

.00 Uhr

der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men-
schenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen
– Drucksachen 17/5909, 17/6266 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Angelika Graf (Rosenheim)

Serkan Tören
Annette Groth
Tom Koenigs

ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira

Drobinski-Weiß, Sören Bartol, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Vorrang für Verbraucherinteressen im Gen-
technikrecht verankern
– Drucksache 17/6479 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

text
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa
– Drucksache 17/6480 –

weisungsvorschlag:
chuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

chuss für Wirtschaft und Technologie
chuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
NDNIS 90/

itären Hilfe

Über
Auss
Auss
Auss

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Grenzüberschreitende Bürgerrechte beim
Atomkraftwerksprojekt Temelín 3 und 4

– Drucksache 17/6481 –

b)Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Mobilität nachhaltig sichern – Elektro-
mobilität fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ute
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Nachhaltige Mobilität fördern – Elektro-
mobilität vorantreiben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Klimaschutz im Verkehr braucht wesent-
lich mehr als Elektroautos

– zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mit grüner Elektromobilität das postfos-
sile Zeitalter im Verkehrssektor einleiten

– Drucksachen 17/3479, 17/3647, 17/2022,
17/1164, 17/6441 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Beckmeyer
Werner Simmling

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 295 zu Petitionen

– Drucksache 17/6469 –

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 296 zu Petitionen

– Drucksache 17/6470 –

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 297 zu Petitionen

– Drucksache 17/6471 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 298 zu Petitionen

– Drucksache 17/6472 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 299 zu Petitionen

– Drucksache 17/6473 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 300 zu Petitionen

– Drucksache 17/6474 –

i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 301 zu Petitionen

– Drucksache 17/6475 –

j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 302 zu Petitionen

– Drucksache 17/6476 –

k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 303 zu Petitionen

– Drucksache 17/6477 –

l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 304 zu Petitionen

– Drucksache 17/6478 –

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Anhaltend positive Entwicklung auf dem deut-
schen Arbeitsmarkt

ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verlängerung der zivil-
rechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Aus-
weitung der Hemmungsregelungen bei Verlet-
zungen der sexuellen Selbstbestimmung im
Zivil- und Strafrecht

– Drucksache 17/5774 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Lena Strothmann, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K.
Friedhoff, Claudia Bögel, Dr. Erik Schweickert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wirtschaftsmacht Handwerk – Kein Wachs-
tum in Deutschland ohne das Handwerk

– Drucksache 17/6457 –

ZP 9 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der von den Vereinten Nationen geführten
Friedensmission im Südsudan

– Drucksachen 17/6449, 17/6511 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6512 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 12, 25 c und 53 h werden
abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zu-
satzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des
Ablaufs.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der am 30. Juni 2011 überwiesene nachfolgende Ge-
setzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit
und Soziales (11. Ausschuss) zur Mitberatung über-
wiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur

(Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG)


– Drucksache 17/6263 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie mit diesen vorgeschlagenen Veränderungen
einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann
können wir das so handhaben.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ulrike Flach, Peter Hintze, Dr. Carola
Reimann, Dr. Petra Sitte, Jerzy Montag und wei-
teren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Regelung der Präimplanta-

(Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG)


– Drucksache 17/5451 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Katrin Göring-Eckardt, Volker Kauder,
Pascal Kober, Johannes Singhammer, Dr. h.c.
Wolfgang Thierse, Kathrin Vogler, Dorothee Bär,
Birgitt Bender, Steffen Bilger, Elke Ferner, Ingrid
Fischbach, Dr. Maria Flachsbarth, Rudolf Henke,
Ansgar Heveling, Dr. Günter Krings, Markus
Kurth, Andrea Nahles, Wolfgang Nešković,
Dr. Stefan Ruppert, Ulla Schmidt (Aachen) und
weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Verbot der Präimplanta-
tionsdiagnostik

– Drucksache 17/5450 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten René Röspel, Priska Hinz (Herborn),
Patrick Meinhardt, Dr. Norbert Lammert und
weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur begrenzten Zulassung der

(Präimplantationsdiagnostikgesetz – PräimpG)


– Drucksache 17/5452 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/6400 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rolf Koschorrek
Dr. Marlies Volkmer
Christine Aschenberg-Dugnus
Harald Weinberg
Birgitt Bender

Wir werden im Laufe dieses Tagesordnungspunktes
voraussichtlich mehrere namentliche Abstimmungen
durchführen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Die Zeit soll
im Wesentlichen nach dem Stärkeverhältnis der Unter-
zeichner der drei Anträge verteilt werden. Darüber hi-
naus möchte ich Ihnen vorschlagen, dass die Reden der
Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch im Rah-
men dieses Gesamtzeitvolumens von drei Stunden nicht
berücksichtigt werden kann, in einem Umfang zu Proto-
koll gegeben werden können, der einer Redezeit von





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

fünf Minuten entspricht. Darf ich auch dazu Ihr Einver-
ständnis feststellen? – Das ist offenkundig der Fall.

Da damit sichergestellt ist, dass jeder, der bei dieser
Debatte zu Wort kommen möchte, in jedem Falle min-
destens schriftlich seine persönlichen Überlegungen und
Überzeugungen zu Protokoll bringen kann, entfällt nach
meinem Verständnis die Notwendigkeit persönlicher Er-
klärungen zur Abstimmung, die bei der geschilderten
Verfahrenslage eigentlich nicht mehr plausibel wären.
Können wir uns auch darauf verständigen? – Dann darf
ich mich dafür schon einmal sehr bedanken.

Nun gibt es, wie den allermeisten von Ihnen ja bes-
tens vertraut ist, eine nicht einfache Verfahrenslage, die
sich aus dem Umstand ergibt, dass wir drei Gesetzent-
würfe haben, über die im Gesetzgebungsverfahren übli-
cherweise der Reihe nach abgestimmt wird, und zwar
nach Maßgabe der guten Übung, dass über den weitest-
gehenden Antrag zuerst abgestimmt wird und dann im
Folgenden die anderen Anträge zur Abstimmung gelan-
gen.

Es liegt in der Natur der Sache und nicht nur im ohne-
hin auch verständlichen Interesse der Antragsteller, dass
es über die Frage, was denn eigentlich der weitestge-
hende Gesetzentwurf sei, jedenfalls kein Einvernehmen
gibt. Ich stelle das ohne jeden kritischen Unterton fest
und habe deswegen darauf hingewiesen, dass ich das aus
der Sache heraus für absolut nachvollziehbar halte. Des-
wegen gibt es auch keinen gemeinsamen Verfahrensvor-
schlag der Antragsteller, was wiederum den Ältestenrat
veranlasst hat, sich mit der gebotenen Sorgfalt und
Gründlichkeit mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Wir sind im Ältestenrat nach einer langen und intensi-
ven Befassung am Ende zu dem Vorschlag gekommen,
in Anlehnung an vergleichbare Verfahren, die wir bei
ähnlichen, aber auch bei anderen Themen in der Vergan-
genheit angewendet haben, über die drei Gesetzentwürfe
in einem Stimmzettelabstimmungsverfahren zu befin-
den, bei dem alle drei Anträge gleichzeitig zur Abstim-
mung stehen, natürlich verbunden mit der Möglichkeit,
keinem dieser Anträge zuzustimmen bzw. sich der
Stimme zu enthalten. Ein solches Verfahren ist möglich
und hier auch mehrfach angewendet worden, wenn wir
mit der notwendigen qualifizierten Mehrheit dafür stim-
men, von der ansonsten hier üblichen Geschäftsordnung
abzuweichen.

Nun hat der Kollege Röspel aus wiederum, wie ich
finde, verständlichen Gründen den Geschäftsordnungs-
antrag gestellt, bei dem üblichen Verfahren zu bleiben
und über die Gesetzentwürfe in der Reihenfolge abzu-
stimmen, die jedenfalls nach seinem Verständnis dem
Prinzip „zunächst weitestgehender Antrag, dann andere
Anträge“, entspricht.

Einvernehmen gibt es darüber, dass wir die Debatte
nicht mit einer Geschäftsordnungsdebatte eröffnen wol-
len, sondern dass wir nach dieser Erläuterung der denk-
baren Verfahren über das Verfahren abstimmen, das
dann am Schluss der Debatte Anwendung findet, und
dass wir dann unverzüglich in die inhaltliche Diskussion
eintreten. Ich möchte mich bei allen Antragstellern be-
danken, dass sie diesem Verfahren insoweit zugestimmt
haben.

Ich lasse deswegen, weil es die übliche Vorgehens-
weise bei Gesetzentwürfen ist, zunächst über den Ge-
schäftsordnungsantrag abzustimmen, den der Kollege
Röspel auch im Namen anderer Antragsteller eingereicht
hat, nämlich die Gesetzentwürfe in folgender Reihen-
folge zur Abstimmung zu stellen: zunächst den Gesetz-
entwurf der Antragsteller um die Kollegin Flach, dann
den Gesetzentwurf der Antragsteller um die Kollegin
Göring-Eckardt und schließlich den Antrag der Kolle-
ginnen und Kollegen, die zusammen mit Herrn Röspel
einen Antrag eingebracht haben.

Über den Geschäftsordnungsantrag, in dieser Reihen-
folge über die Gesetzentwürfe abstimmen zu lassen,
lasse ich nun zuerst befinden. Würde dieser Antrag eine
Mehrheit finden, würden wir so verfahren. Findet dieser
Vorschlag keine Mehrheit, lasse ich über den Vorschlag
befinden, den Ihnen der Ältestenrat gemacht hat. Einver-
ständnis? – Dann stelle ich jetzt den Geschäftsordnungs-
antrag des Kollegen Röspel zur Abstimmung. Wer die-
sem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um sein
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich
enthalten? – Das Zweite war eindeutig die Mehrheit. Da-
mit ist dieser Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.

Nachdem sich damit das Plenum jedenfalls insoweit
festgelegt hat, möchte ich Ihnen empfehlen, dass wir uns
dem Vorschlag des Ältestenrates anschließen, in Abwei-
chung von der Geschäftsordnung im Wege eines Stimm-
zettelverfahrens über die drei Gesetzentwürfe abzustim-
men. Ich mache noch einmal ausdrücklich darauf
aufmerksam, dass dies ein Verfahren ist, das die Abwei-
chung von der Geschäftsordnung zur Voraussetzung hat.
Darüber sollte möglichst Einvernehmen bestehen. Darf
ich dieses Einvernehmen hiermit feststellen? – Das ist
der Fall. Dann haben wir uns so darauf verständigt.

Es gibt weitere Hinweise zum Abstimmungsverfah-
ren im Anschluss an die Aussprache, aber ich mache
schon jetzt darauf aufmerksam, dass auch nach diesem
Verfahren, auf das wir uns jetzt verständigt haben, kei-
neswegs ein Gesetzentwurf am Ende automatisch wegen
relativer Mehrheit Gesetzeskraft bekommt, sondern dass
wir vermutlich in mehreren Abstimmungsgängen am
Ende über einen Gesetzentwurf werden abstimmen müs-
sen und können, der die relativ größte Zustimmung hier
im Deutschen Bundestag erhalten hat, der aber nur dann
Gesetzeskraft bekommt, wenn er in der Schlussabstim-
mung mehr Ja- als Neinstimmen erhält, sodass insofern
auch bei diesem Verfahren der Ausgang bis zu dieser
Schlussabstimmung offen bleibt, nur um an dieser Stelle
mögliche gegenteilige Spekulationen von vornherein
vermeiden zu helfen. – Herzlichen Dank, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, dass wir diese nicht ganz einfache
Frage mit großem Einvernehmen haben regeln können.

Ich eröffne nun die Aussprache und erteile das Wort
zunächst der Kollegin Ulrike Flach.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1712000100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im

letzten halben Jahr hat es eine intensive und von gegen-
seitigem Respekt geprägte Debatte über die PID gege-
ben. Drei Gruppen aus allen Fraktionen haben mit Lei-
denschaft und mit Sachlichkeit um die Unterstützung der
Abgeordneten geworben. Anhörungen haben stattgefun-
den, Experten haben sich geäußert, die Medien haben die
Debatte verantwortungsbewusst begleitet. Niemand
– das will ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen – hat es
sich leicht gemacht. Das ist der Bedeutung dieser Ent-
scheidung absolut angemessen.

Unsere Gruppe, die derzeit rund 220 Abgeordnete
zählt, fühlt sich durch das Votum der Akademien der
Wissenschaften, durch die Mehrheitsempfehlung des
Deutschen Ethikrates, durch das Memorandum der Bun-
desärztekammer und durch viele Zuschriften von Paaren
in schweren Konflikten bestätigt. Wir haben die Ergeb-
nisse der Anhörung in einige Änderungsanträge umge-
setzt, wir haben Definitionen geschärft und den Entwurf
rechtssicher gemacht.

Wir legen Ihnen unseren Entwurf für eine begrenzte
Zulassung der PID ans Herz, weil wir glauben, damit
Menschen mit schwerwiegenden Erberkrankungen oder
der Gefahr einer Tot- oder Fehlgeburt die Entscheidung
für ein Kind erleichtern zu können. Die Zulassung der
PID wäre kein Dammbruch; denn es geht um wenige
Hundert Fälle im Jahr. Sie würde Deutschland an die
Seite unserer europäischen Nachbarn führen, die zum
Teil seit Jahrzehnten verantwortungsvoll mit der PID
umgehen.

Die Zulassung der PID wäre verfassungskonform.
Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 6. Juli
2010 ganz deutlich gemacht, dass die PID denselben
Zweck verfolgt wie die in § 218 a geregelte Indikation
zum Schwangerschaftsabbruch. Ein Abbruch ist dann
nicht rechtswidrig, wenn er dazu dient, eine Gefahr für
das Leben oder die Beeinträchtigung der körperlichen
und seelischen Gesundheit der Schwangeren jetzt oder in
Zukunft abzuwenden.

Eine schwere Erberkrankung des Embryos, die mit
PID frühzeitig erkennbar wäre, kann ohne die PID uner-
kannt zu einer Abtreibung führen – mit massiver psychi-
scher und physischer Belastung. Ein Gesetzgeber, der
eine Frau zwingt, zur Abwendung einer schweren Erb-
krankheit oder aber zu einer Fehl- oder Totgeburt in eine
Abtreibung hineinzugehen – also eine weitaus gefährli-
chere Maßnahme, die sie dann erdulden muss, als es not-
wendig wäre, wenn wir die PID hätten –, wird deshalb
vor dem Verfassungsgericht scheitern.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wenn wir die PID in engen Grenzen zulassen, bedeu-
tet das Wissens- und Entscheidungsfreiheit für Frauen in
Notsituationen. Wir sehen keinen automatischen An-
spruch auf eine PID vor, und es gibt eine ganz individu-
elle Entscheidung der Ethikkommission, die sich nicht
an festen Krankheitsbildern orientieren wird, sondern im
Einzelfall auch an unterschiedlichen Verlaufsformen von
Krankheiten und Chancen auf Behandelbarkeit.
Die moderne Medizin macht vieles möglich. Deshalb
ist unser Gesetzentwurf keine schiefe Einbahnstraße,
sondern ein Weg, der Anpassungen an medizinische Ent-
wicklungen jederzeit möglich macht. Wer aber auf die
Möglichkeit frühen Wissens um Krankheiten verzichtet,
wer dieses Wissen sogar verbieten will, der setzt Frauen
und Familien einem schweren, schweren Konflikt aus,
den wir, die etwa 220 Kollegen, die diesen Antrag unter-
stützen, für nicht hinnehmbar halten.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich zitiere die Vor-
sitzende der Ethik-AG des Deutschen Ärztinnenbundes:

Als Ärztinnen sehen wir uns den Frauen … ver-
pflichtet, die ein leidvolles Schicksal haben: … die
aufgrund von Chromosomentranslokationen immer
wieder Fehlgeburten erlitten haben, die schwerst-
kranke Kinder pflegen oder ihre Kinder sterben se-
hen mussten, die sich bei weiteren Schwanger-
schaften bei auffälliger Pränataldiagnostik für
Schwangerschaftsabbrüche entschieden haben.
Diese Eltern wünschen sich sehnlichst ein gesundes
Kind. Sie verstehen nicht, warum sie in Deutsch-
land keine Hilfe bekommen können.

Liebe Kollegen, für genau diese Eltern wollen wir die
PID mit unserem Gesetzentwurf ermöglichen. Wir kön-
nen eine Chance eröffnen. Bitte gehen Sie mit uns heute
diesen gemeinsamen Weg.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712000200

Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Zöller.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Wolfgang Zöller (CSU):
Rede ID: ID1712000300

Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe

Kollegen! Frau Kollegin Flach, Sie erwecken zumindest
den Eindruck, als würden wir die berechtigten Sorgen
betroffener Paare nicht ernst genug nehmen. Das Gegen-
teil ist der Fall. Wir nehmen sie nicht nur sehr ernst; wir
nehmen auch gleichzeitig die gesamtgesellschaftlichen
Auswirkungen dieser Regelung sehr ernst.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich darf Johannes Rau zitieren, der einst gesagt hat:

Noch so verständliche Wünsche und Sehnsüchte
sind keine Rechte. Es gibt kein Recht auf Kinder.
Aber es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder auf lie-
bende Eltern – und vor allem das Recht darauf, um
ihrer selbst willen auf die Welt zu kommen und ge-
liebt zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN – René Röspel [SPD]: Sehr wahr!)






Wolfgang Zöller


(A) (C)



(D)(B)

Meine sehr geehrte Damen und Herren, wir diskutie-
ren heute über eine Grundsatzentscheidung, die das Wer-
tegefüge unserer Gesellschaft nachhaltig verändern
kann. Es geht um die Frage, ob ein elementares Men-
schenrecht, das Recht auf Leben, zur Disposition gestellt
werden soll. Es geht aber auch darum, den staatlichen
Schutzauftrag gegen die Diskriminierung von Menschen
mit Behinderungen infrage zu stellen. Ich bin der Auf-
fassung: Wenn wir die PID genehmigen, dann werden
wir dies so einleiten.

Ein menschlicher Embryo entwickelt sich von An-
fang an als Mensch, nicht zum Menschen. Deshalb bitte
ich, folgende Gründe zu bedenken:

Erstens. PID bedeutet Selektion. Unter den künstlich
hergestellten Embryonen werden die einen ausgewählt
und die anderen verworfen. Es wäre quasi eine Zeugung
auf Probe.

Zweitens. PID ist praktisch nicht eingrenzbar. Ich
sehe keine überzeugenden Vorschläge, um den Einsatz
der umstrittenen PID zu begrenzen. Eine begrenzte Zu-
lassung ist weder an klaren Indikationen festzumachen,
noch wird sie durchzuhalten sein. Sind es Erbkrankhei-
ten, die unweigerlich zum Tode führen, und das in der
frühen Kindheit, dann frage ich: welche? Sind es unter
Umständen spätmanifestierende Krankheiten, stellt sich
ebenfalls die Frage: welche? Oder sind es Krankheiten,
von denen wir wissen, dass Menschen trotz Vorliegen
dieser Krankheit ein glückliches, erfülltes und oft auch
sehr erfolgreiches Leben führen können? Hat es Auswir-
kungen auf Träger dieser Krankheiten, wenn wir sagen:
„Wir wollen nicht, dass Kinder geboren werden, die
diese Krankheiten haben“?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, würden wir in die-
sem Hause heute Auswahlkriterien formulieren, dann
benennen wir Grenzen zwischen lebenswert und nicht
lebenswert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Im Übrigen gibt es ein bisschen PID genauso wenig wie
ein bisschen schwanger.

Drittens. Die Legalisierung von PID würde viele auf
den Irrweg führen, ein planbares gesundes Leben zum
Maßstab und Vorbild eines erfüllten Lebens zu machen,
statt das Leben in seiner individuellen Vielfalt mit all
seinem Auf und Ab anzunehmen. Ich möchte in keiner
Gesellschaft leben, in der sich Eltern entschuldigen müs-
sen, wenn sie kein sogenanntes Musterbaby vorweisen
können.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Gut!)


Wir sind vielmehr aufgefordert, gemeinsam alles zu un-
ternehmen, um Menschen mit Beeinträchtigungen eine
Teilhabe zu ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Viertens. Gerade als Patientenbeauftragter habe ich
jeden Tag mit Menschen zu tun, die selbst oder deren
Kinder sehr krank sind oder eine schwere Behinderung
haben. Aber glauben Sie mir bitte: Nie in meinem Leben
habe ich zufriedenere Menschen kennenlernen dürfen,
die fest im Leben stehen – nicht trotz der besonderen He-
rausforderung, sondern gerade deswegen.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, genau diese
Menschen sitzen jetzt zu Hause vor ihren Fernsehern,
hören und sehen uns zu, weil wir über sie und das Le-
bensrecht ihrer potenziellen Kinder reden. Diese Men-
schen haben die Erwartung an uns, dass wir die richtige
Entscheidung fällen – für sie und nicht gegen sie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Aus diesen Gründen bitte ich Sie: Stimmen Sie einem
PID-Verbot zu!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712000400

Das Wort erhält nun der Kollege René Röspel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1712000500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir haben uns jetzt viele Wochen, Monate oder,
wie einige von uns, schon Jahre damit auseinanderge-
setzt, ob oder wie es möglich ist, für die Präimplanta-
tionsdiagnostik Grenzen zu setzen. Die unterschied-
lichen Gesetzentwürfe, die uns heute vorliegen, geben
unterschiedliche Antworten darauf.

Der Gesetzentwurf, der ein Präimplantationsdiagnos-
tikverbot vorsieht, zieht eigentlich keine Grenzen. Eine
Grenze verläuft immer zwischen zwei Positionen. Mit
dem kategorischen Verbot der Präimplantationsdiagnos-
tik allerdings grenzt dieser Entwurf aus. Vor diesem Ver-
bot werden die Menschen stehen, die Paare, die sich
sehnlich wünschen, Eltern zu werden, die aber vielleicht
schon mehrere Tot- oder Fehlgeburten erlitten haben und
die, wenn sie Eltern werden wollen, dieses Risiko wieder
kalkulieren müssen. Der PID-Verbotsentwurf versucht,
Leben zu schützen, das nicht geschützt werden kann –
aber das zulasten von Frauen und Eltern. Deswegen ist
das an dieser Stelle für mich kein richtiger Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite steht der Entwurf derer, die die
Präimplantationsdiagnostik weitgehend freigeben wol-
len, Frau Flach. Er wird häufig als ein Weg der be-
schränkten Zulassung beschrieben. Ich glaube, man
muss sich genauer anschauen, wo dort Grenzen gezogen
werden. Es gibt in diesem Entwurf zwei Fälle, für die die
Präimplantationsdiagnostik zugelassen werden soll.





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

Der erste Fall ist der, in dem die Eltern eine Erbkrank-
heit, eine Veranlagung in sich tragen, die dazu führen
kann, dass die Nachkommen eine schwerwiegende Er-
krankung aufweisen. Das Kriterium für die Grenzzie-
hung in diesem Fall ist die schwerwiegende Erbkrank-
heit. Aber was ist das? Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sie schaffen es nicht einmal, in Ihrem Entwurf zu defi-
nieren, was eine schwerwiegende Erbkrankheit ist. Das
heißt, Sie sind nicht in der Lage, die Grenze aufzuzei-
gen.

In dem zweiten Fall, der nach dem Flach-Entwurf zu-
lässig sein soll, gibt es überhaupt keine Grenze. Der Ent-
wurf sieht nämlich vor, dass Präimplantationsdiagnostik
zugelassen ist, um festzustellen, ob ein Embryo das Ri-
siko einer Fehl- oder Totgeburt in sich trägt, und zwar
ohne die Vorbedingung, dass die Eltern eine Erbkrank-
heit haben oder eine solche bei ihnen diagnostiziert ist.
Die meisten von Ihnen mögen kein Screening zulassen
wollen, aber Sie machen es in diesem Fall.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit diesem Passus wird es künftig bei jeder künstlichen
Befruchtung möglich sein, eine Präimplantationsdia-
gnostik durchführen zu lassen, wenn sie denn dazu dient,
feststellen zu lassen, ob für den Embryo eine Wahr-
scheinlichkeit für eine Schädigung mit der Folge einer
Tot- oder Fehlgeburt besteht. Das ist keine Grenzzie-
hung; das ist eine sehr weite Öffnung, die ich nicht mit-
tragen kann.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Zieht der dritte Entwurf, der Entwurf von Röspel,
Meinhardt, Hinz, Lammert und anderen, Grenzen? Nein,
wir ziehen keine Grenzen. Aber wir verwenden eine
Grenze, die bereits existiert und die unabänderlich, un-
widerruflich in dem Embryo, um den es geht, angelegt
ist. Der Embryo ist nicht mehr zu schützen, weil seine
Entwicklungsfähigkeit nicht gegeben ist: Das ist diese
starke Grenze, die wir nicht beeinflussen können, die wir
aber mit unserem Entwurf ziehen wollen.

Das Leben des Embryos kann nicht mehr geschützt
werden. Wenn das aber so ist, dann ist es umso mehr fol-
gerichtig, dass das Leben der Frau geschützt wird. In
diesen Fällen, und nur in diesen Fällen, schlagen wir vor,
dass Präimplantationsdiagnostik zulässig ist, um näm-
lich einer Frau eine Tot- oder Fehlgeburt nicht zumuten
zu müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Angelika Brunkhorst [FDP] und Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Grenze, die wir festlegen, ist längst im Embryo an-
gelegt, bevor die Untersuchungen der PID beginnen.

Ein Kompromiss oder ein Konsens kann ein ethischer
Wert für sich sein. Das hat Professor Dabrock in der De-
batte zur Stammzellforschung einmal gesagt. Ich glaube,
er hat damit recht. Mit unserem Entwurf haben wir eine
starke ethische Position und eine starke Grenze, die wir
nicht verändern und die wir nicht festlegen können. Wir
müssen aber beobachten, wie sie zu definieren ist. Das
wird mit moderner Medizin zu schaffen sein.

Wir wollen nicht, dass darüber entschieden wird, ob
ein Leben gelebt werden darf. Aber wir akzeptieren die
Tatsache, dass in einem Embryo die Entscheidung be-
reits getroffen ist, dass er nicht leben kann. Ich finde, das
ist der Konsens, der wahrscheinlich von vielen unter Ih-
nen in diesem Hause akzeptiert werden könnte. Ich will
ausdrücklich dafür werben, den Antrag von Röspel, Hinz
und anderen zu unterstützen, damit es einen starken
Konsens gibt.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. HansMichael Goldmann [FDP])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712000600

Peter Hintze ist der nächste Redner.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Carola Reimann [SPD])



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1712000700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Kollege Röspel vermisst in unserem Gesetzent-
wurf eine Definition über lebenswertes Leben. Er wird
lange suchen müssen, weil wir in unserem Gesetzent-
wurf davon ausgehen, dass jedes Leben – ob es kurz
oder lang ist, ob es gesund oder krank ist, ob es behin-
dert oder frei von Behinderungen ist – gleich wertvoll
und mit unverletzlicher Würde ausgestattet ist.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wer einmal Gelegenheit hatte, mit Eltern zu sprechen,
die eine schwere erbliche Vorbelastung als Verhängnis
über sich spürten, der weiß um den tiefen Ernst ihrer Ent-
scheidung, der weiß, dass sie ihre Kinder lieben und dass
sie unter dem Gedanken leiden, dass sie ein ganz schlim-
mes Los auf ihr Kind übertragen könnten. Die Art und
Weise, wie wir ihnen mit Angstworten begegnen – von
Dammbruch bis zum Designerbaby – macht diese Eltern
fassungslos. Damit schießen wir meilenweit an der Le-
benswirklichkeit und an ihrer Gewissenssituation vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Die Frage an den freiheitlichen Rechtsstaat – wir
müssen heute als Gesetzgeber entscheiden – lautet: Wie
gehen wir mit Menschen in einer solch schweren Not-
lage um, die sich für PID entscheiden? Unterwerfen wir
sie per Strafrecht einer rigiden Moral, oder nehmen wir
sie als selbstbestimmte, verantwortlich handelnde Men-
schen wahr, die ihren Kindern schwerste Belastungen er-
sparen wollen? Was sagen wir einer Frau, die erleben
musste, wie ihr erstes Kind blind, taub und starr wird
und dann in ihren Armen qualvoll erstickt? Diese Frau
hat jetzt Angst davor, dass sie das noch einmal miterle-
ben muss. Sollen wir ihr sagen: „Das ist dein Schicksal;
das hast du anzunehmen; da steht das Strafrecht vor“,





Peter Hintze


(A) (C)



(D)(B)

oder sind wir nicht zur Hilfe aufgefordert? Der Kollege
Zöller hat eben gesagt, wir müssen nach den gesamtge-
sellschaftlichen Auswirkungen fragen. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die deutsche Ärzteschaft hat an uns
mit überwältigender Mehrheit appelliert, in diesem Fall
zu sagen: Ja, hier sind wir zur Hilfe aufgefordert.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich finde auch das Schicksalsverständnis derjenigen,
die für ein Totalverbot sind, schwer nachvollziehbar. Zi-
vilisation bedeutet Emanzipation von der Natur. Wenn
uns eine schwere Krankheit überkommt, dann versuchen
wir doch auch, durch Operation oder medizinische Hilfe
zu helfen, uns aus den Zwängen der Natur zu befreien.
Das ist die Vernunft, die uns Gott gegeben hat und die
wir mithilfe der Medizin nutzen. Dass das sehr verant-
wortungsvoll geschieht, beweist doch die Medizinge-
schichte. Schauen wir nach Skandinavien. Dort gibt es
seit zwei Jahrzehnten die PID, und der Umgang mit Be-
hinderten dort ist sehr achtungsvoll, und ihre Inklusion,
ihre Integration, ihre Annahme, hat zugenommen. Ich
finde, es ist einer der schlimmsten und gefährlichsten
Vorwürfe in der Debatte, zu behaupten,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


die Menschen, die sich dafür einsetzen, die PID für diese
Notlagen zuzulassen, teilten nicht die Achtung, die Sen-
sibilität, das Gefühl und den Wert für die behinderten
Menschen um uns gleichermaßen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Es wird viel über Maßstäbe gesprochen. Ja, ich finde
es wichtig, dass wir uns an den grundlegenden Verfas-
sungs- und Moralprinzipien orientieren. Meine Sorge ist,
dass wir diese Maßstäbe verlieren, wenn wir eine be-
fruchtete Eizelle – in der Tat der biologische Beginn des
menschlichen Lebens – in der Petrischale höher gewich-
ten als eine Frau in einer schweren Konfliktsituation.
Die Menschen können von uns als Gesetzgeber erwar-
ten, dass unsere Rechtsordnung stimmig bleibt. Unsere
Rechtsordnung erlaubt die Verwendung von Mitteln, die
dazu führen, dass hunderttausendfach befruchtete Eizel-
len abgehen, sie erlaubt die Pille danach, sie erlaubt die
Untersuchung des Embryos im Mutterleib und eine Ab-
treibung bis zur Geburt, wenn die Gesundheit der Mutter
in Gefahr ist.

Das alles können wir ja moralisch verwerfen, aber in
einem Staat, in dem das zugelassen ist, in dem unter die-
sen Voraussetzungen die Abtreibung zugelassen ist, die
Vermeidung von Abtreibung zu verbieten, fände ich
rechtlich unhaltbar und moralisch verwerflich.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Viele Menschen mit Behinderung und ihre Angehöri-
gen wehren sich entschieden dagegen, moralisch in An-
spruch genommen zu werden gegen Menschen, die sich
in einer solchen Notlage befinden, wie das in der Dis-
kussion leider häufig passiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht eine Ethik der
Strafe, sondern eine Ethik des Helfens macht unsere Ge-
sellschaft menschlicher. Deswegen bitte ich Sie um Un-
terstützung für unseren Gesetzentwurf.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712000800

Das Wort erhält nun die Kollegin Dorothee Bär.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1712000900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

glaube, dass jeder von uns, der sich mit diesem Thema
über viele Wochen und Monate beschäftigt hat, auch in
der Argumentation der anderen durchaus Nachdenkens-
wertes gefunden hat. Nach Abwägung alIer Argumente,
die ich in Gesprächen mit Ärzten, Betroffenen und ande-
ren gehört und die ich gelesen habe, muss ich sagen,
dass für mich nur ein ganz klares Nein zur PID möglich
ist. Warum?

Ohne Zweifel geht es hier um das große Leid der Be-
troffenen. Dennoch müssen wir uns auch die Frage stel-
len, wer für die ungeborenen Kinder spricht. Während
meiner zweiten Schwangerschaft habe ich mir besonders
oft Gedanken darüber gemacht, ob alles gut geht. All
diejenigen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, wis-
sen, dass man in dieser Zeit besonders sensibel ist, sich
viele Gedanken macht und wohlmeinende Ratschläge er-
hält. Oft sind es nur Kleinigkeiten, und es ist gar nicht
böse gemeint. Ich will Ihnen ein Bespiel nennen. Wenn
man schon eine Tochter hat, wird einem von manchem
gesagt: Hoffentlich wird es jetzt ein Sohn. – Wenn es
wieder eine Tochter ist, sagen einem Wohlmeinende:
Vielleicht klappt es dann beim nächsten Mal. – Das mag
ja alles ganz nett und witzig gemeint sein, ist es aber ge-
rade für werdende Mütter nicht.

Das ist jetzt nur das Oberflächliche, über das man noch
hinwegschauen kann. Viel schlimmer wird es dann natür-
lich, wenn es tiefer geht, wenn gefragt wird: Hast du denn
im Vorfeld alles Menschenmögliche getan, um ein gesun-
des Baby auf die Welt zu bringen? Es lastet ein ganz be-
sonderer Druck auf den Schwangeren. Ich möchte nicht,
dass wir als Gesetzgeber suggerieren, dass wir jeder Frau
bzw. jedem Paar qua Gesetz das Recht auf ein gesundes
Kind ermöglichen können. Das können wir nicht. Wir
sind nicht Gott. Bei uns leben 1,5 Millionen Menschen
mit schweren Behinderungen, nur rund 10 Prozent der
Behinderungen sind genetisch bedingt. Wir können Be-
hinderungen also nicht ausschließen.

Ich möchte noch eine persönliche Geschichte erzäh-
len: Zum Ende meiner ersten Schwangerschaft vor fünf
Jahren wurde ich immer nervöser. Am Tag X wollte ich
meiner Hebamme das Versprechen abringen, dass alles
gut gehen wird. Ich wollte das einfach vorher noch ein-
mal hören. Ich habe erwartet, dass sie sagt, es werde al-
les gut. Sie sagte dann aber: Das kann ich dir jetzt nicht
versprechen. Ein bisschen Gottvertrauen gehört auch
noch dazu. – Selbst wenn eine Schwangerschaft sozusa-
gen perfekt verläuft und die Schwangere regelmäßig un-
tersucht wurde, können wir nicht garantieren, dass es
während der Entbindung nicht doch noch zu Schäden





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

kommt. Das ist für mich ein Argument, zu sagen: Wir
haben es nicht zu 100 Prozent in der Hand.

Die Beurteilung, was lebenswertes Leben überhaupt
ausmacht, beinhaltet auch die Entscheidung darüber,
welche Behinderung noch angemessen ist und welcher
Embryo nicht aussortiert werden muss. Daher ist es nicht
unredlich, von Dammbruch zu reden. Wenn Sie mit Ärz-
ten unter vier Augen sprechen, dann sagen diese Ihnen,
dass alles, was medizinisch möglich ist, selbstverständ-
lich irgendwann einmal als medizinisch notwendig ein-
gestuft werden wird. Das ist einer der Punkte, die mir
Angst machen. Auch eine Ethikkommission wird nicht
umhinkommen, sich auf einen ganz bestimmten Katalog
zu verständigen. Einen anderen Weg wird die Kommis-
sion nicht gehen können.

Frauen ab 30 Jahren, die zur sogenannten Risiko-
gruppe zählen, stehen unter Druck. So müssen sie sich
zum Beispiel rechtfertigen, warum sie keine Fruchtwas-
seruntersuchung haben durchführen lassen. Es ist alltäg-
lich, dass zu diesen Frauen gesagt wird: Wir haben die
Risiken schon minimieren können. Es geht jetzt nur
noch bei circa 1 Prozent der Fälle schief. Es muss daher
doch eigentlich jeder Frau wert sein, eine solche Frucht-
wasseruntersuchung durchführen zu lassen. – So fängt es
an. Peu à peu wird sich die Situation dann dahin gehend
ändern, dass zum Beispiel die Fruchtwasseruntersu-
chung nicht mehr nur eine Möglichkeit ist, sondern zur
Notwendigkeit wird.

Wer sagt, dass heute unheilbare Krankheiten im Jahr
2021 oder im Jahr 2031 immer noch unheilbar sind? Es
muss diesbezüglich noch mehr Forschung betrieben wer-
den. Denn wir wollen Krankheiten heilen. Wir wollen
nicht vorher aussortieren. Wir sagen, dass es sich in je-
dem Fall um ein lebenswertes Leben handeln wird.

Ein letzter Satz: Wir glauben, in einem Land zu leben,
in dem alles planbar ist. Wir leben in einem Land, in
dem das Prinzip Baukasten eigentlich ein gutes Ge-
schäftsmodell ist. Wir haben die individualisierte Küche,
das auf das persönliche Bedürfnis zugeschnittene Auto
und die Kleidung nach Maß. Ich appelliere an Sie, gegen
die PID zu stimmen und einfach zu akzeptieren, dass
nicht alles in unserer Macht steht.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712001000

Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt.


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1712001100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Die Entscheidung, die jede Kollegin und jeder
Kollege hier heute für sich treffen muss, ist weiß Gott
keine leichte. Es gilt, eine Entscheidung zu treffen, bei
der man sich selbst immer wieder vergewissern muss,
dass man die moralischen Maßstäbe, die einem wichtig
sind, nicht verletzt. Es gilt außerdem, eine Entscheidung
zu treffen, die die rechtlichen und ethischen Grundlagen
unserer Gesellschaft nicht infrage stellt.

Ich möchte an dieser Stelle bekennen, dass es mir
sehr, sehr lange nicht leichtgefallen ist, eine eindeutige
Antwort auf die Frage der PID zu geben. Gerade deshalb
möchte ich Ihnen kurz einige der Beweggründe für
meine Entscheidung skizzieren.

Als überzeugter Christ sehe ich mich in der Verant-
wortung gegenüber dem ungeborenen Leben, gegenüber
den Eltern, gegenüber den Frauen, die Sehnsucht nach
einem gesunden Kind haben und die leiden. Wir alle ha-
ben zahlreiche Anschreiben von betroffenen Eltern er-
halten, in denen sie uns die großen Belastungen schil-
dern, die mit einer künstlichen Befruchtung einhergehen.

Deswegen ist es Aufgabe dieses Hohen Hauses, eine
Brücke zu bauen zwischen einer Ethik des Lebens und
einer Ethik des Helfens. Beides gehört zusammen, und
beides muss heute Gegenstand unserer Beratungen sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die zutiefst
menschliche Komponente in unserem Antrag ist der
Umgang mit der Situation, wenn eine Frau vor dem Di-
lemma steht, sich einen Embryo einpflanzen zu lassen,
dessen Entwicklung möglicherweise mit einer Totgeburt
endet. Bei dieser Frage geht es nicht um Selektion oder
um den Lebenswert, sondern es geht um Lebensfähig-
keit. Diese Frage nach Lebensfähigkeit muss dieses
Hohe Haus hier und heute beantworten.

Nicht zuletzt waren für mich in der gesamten Debatte
auch die Einschätzungen von wissenschaftlichen, gesell-
schaftlichen und kirchlichen Einrichtungen und Gremien
von großem Wert. Die Stellungnahmen der Leopoldina,
des Deutschen Ethikrates und des Rates der EKD haben
mich darin bestätigt, dass es ethisch vertretbar ist, die
PID unter strengsten Auflagen zuzulassen.

Unsere Gruppe hat sich sehr intensiv mit den Anhö-
rungen beschäftigt und mit den Stellungnahmen, die im
Laufe des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens abgege-
ben wurden. In den Beratungen haben wir deshalb einen
Nachbesserungsbedarf erkannt und im Zuge dessen den
entsprechenden Passus im Hinblick auf die Befristung
geändert. In meinen Augen ist diese wichtige Konkreti-
sierung unseres Antrags eine Hilfe bei der Entschei-
dungsfindung für unser späteres Votum.

Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche
in Deutschland, Nikolaus Schneider, hat gestern noch
einmal in einer deutlichen Stellungnahme betont:

Die PID ist keine Selektion, wenn es darum geht,
Embryonen zu identifizieren, die überhaupt lebens-
fähig sind.

Er sagt weiter:

Ich möchte keine Haltung einnehmen, die von
Misstrauen gegenüber Medizinern und Eltern ge-
prägt ist. Wir haben allen Grund, ihnen Vertrauen
entgegenzubringen.

Recht hat der EKD-Ratsvorsitzende.





Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eltern, die eine künstliche Befruchtung durchführen
lassen, wollen ein Kind. Ärzte, die diese künstliche Be-
fruchtung durchführen, sind weit davon entfernt, gewis-
senlose Wissenschaftler zu sein, die dem Wunsch hinter-
herrennen, Designerbabys zu erzeugen. Nein, ich bin
überzeugt, dass die Menschen in unserem Land verant-
wortungsbewusst mit der Möglichkeit einer PID unter
strengsten – und zwar unter allerstrengsten – Auflagen
umgehen werden.

Wir haben die Chance, mit einer derartigen Zulassung
vor allem den Müttern viel Leid zu ersparen, die Sehn-
sucht nach einem gesunden Kind haben, ohne dass wir
dabei rechtliche oder ethische Tabus brechen.

Lassen Sie uns diese Chance nutzen. Unser Antrag
– der Antrag der Kollegin Hinz, der Kollegen Röspel,
Lammert und mir – bietet hierfür eine ausgewogene
Grundlage. Unser Ziel ist es, den ethisch handelnden
Staat zu stärken und leidenden Eltern nicht mit Paragra-
fen, sondern mit Mitmenschlichkeit zu begegnen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712001200

Das Wort erhält nun die Kollegin Carola Reimann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1712001300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will meine
Rede mit einem Beispiel beginnen. Frau Professor
Bettina Schöne-Seifert, eine der Sachverständigen, hat
es uns in der Anhörung im Gesundheitsausschuss ein-
drücklich geschildert.

Bei dem Beispiel handelt es sich um ein Paar mit ei-
ner bekannten Veranlagung beider Eltern für eine
schwere Stoffwechselerkrankung. Beide Eltern tragen
die genetische Veränderung einmal, sodass sie beide
selbst nicht erkrankt sind. Der Zufall hat es nun gewollt,
dass diese beiden Träger sich treffen. Bei ihnen besteht
eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent, dass ihr Kind
zwei solcher genetischen Veränderungen trägt – von bei-
den Elternteilen – und dann mit einer schweren Stoff-
wechselerkrankung geboren wird, die in den ersten Le-
bensjahren zum Tod führen wird. Das Paar hat bereits
zwei Kinder mit dieser Krankheit zur Welt gebracht und
leider verloren.

Wenn die PID ganz verboten wird, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wie es der Gesetzentwurf der Abgeordne-
ten Göring-Eckardt und Singhammer vorsieht, kann man
diesem Paar keine Hilfe anbieten. Ich frage: Kann man
diesem Paar, das bereits eine solche Leidensgeschichte
hinter sich hat, zumuten, dass es diese Tortur ein drittes
Mal auf sich nimmt,

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wie wäre es mit Adoption?)


oder soll dieses Paar ganz auf weitere Kinder verzich-
ten? Das Paar, von dem in diesem Beispiel die Rede ist,
hätte auch nach dem Gesetzentwurf der Kollegen Röspel
und Hinz keine Möglichkeit zur PID. Ich frage Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Was sagen Sie diesen Betrof-
fenen?

Wir, die Befürworter einer begrenzten Zulassung der
PID, wollen diesem Paar individuelle Hilfe anbieten.
Unser Ziel ist es, Menschen, bei denen aufgrund einer
genetischen Disposition für ihre Nachkommen das hohe
Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht
oder die eine Fehl- oder Totgeburt fürchten müssen, die
Chance zu geben, sich für ein eigenes Kind zu entschei-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und der LINKEN)


Oft wird uns entgegnet, dass durch unsere Regelung
der Druck auf die Paare, ein gesundes Kind zu bekom-
men, so enorm groß würde, dass sie sich nicht mehr frei
entscheiden können. Ich frage mich aber: Was soll denn
die Schlussfolgerung aus dieser Hypothese des Rechtfer-
tigungsdrucks sein – die Freiheit aller einzuschränken?

Auf der anderen Seite entsteht häufig der Eindruck, es
gäbe geradezu einen Zwang zur PID. Auch das – das
will ich hier betonen – ist nicht der Fall. Niemand ist
verpflichtet, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen.
Wer sich für die Möglichkeit einer PID entscheidet,
muss die belastende Prozedur einer künstlichen Befruch-
tung auf sich nehmen.

Es geht in unserem Entwurf auch nicht um intelli-
gente Kinder mit einer bestimmten Augenfarbe. Wer die
Prozedur einer PID auf sich nimmt, tut das nicht, um ein
Baby mit blauen Augen zu bekommen. Das ist medizi-
nisch gar nicht möglich, und auf die Belastungen der
künstlichen Befruchtung habe ich hingewiesen. Es ist
geradezu absurd, anzunehmen, dass sich Frauen dieser
Belastung freiwillig aussetzen, nur um ein bestimmtes
Merkmal ihres Kindes auswählen zu können.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Den betroffenen Paaren eine solche Motivation zu un-
terstellen, halte ich für eine Form der Verleumdung. Sie
wird der Konfliktsituation dieser Paare in keiner Weise
gerecht. Kein Paar und auch keine Frau entscheidet sich
leichtfertig für eine PID.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Kolleginnen und Kollegen, eine Zulassung der PID in
Grenzen bedeutet auch keinesfalls eine Garantie auf ein
gesundes Kind. Wir wollen den betroffenen Paaren aber
die Möglichkeit eröffnen, ein Kind zu bekommen, das
überhaupt eine Chance auf Leben hat. PID bedeutet für
die Betroffenen vor allem eine Hoffnung, und diese wol-
len wir ihnen nicht nehmen. Die Betroffenen sollen nicht





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

einfach ihr Leid hinnehmen müssen. Wir ertragen auch
anderes Leid nicht einfach, sondern behandeln und the-
rapieren es. Warum sollte das für Paare mit einer solchen
genetischen Risikokonstellation anders sein?


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Gesetz-
geber nicht das Recht haben, den betroffenen Paaren
diese medizinische Möglichkeit zu versagen. Deshalb
schlagen wir eine begrenzte Zulassung der PID vor – mit
einer Einzelfallentscheidung durch eine Ethikkommis-
sion und einer ausführlichen Beratung und nur in zuge-
lassenen Zentren.

Wir, die wir für eine Zulassung in engen Grenzen
werben, sind davon überzeugt, dass ein verantwortungs-
voller Umgang mit der PID möglich ist. Wir wollen Paa-
ren, wie ich sie eingangs beschrieben habe, Hilfe anbie-
ten. Ich finde, wir sollten diesen Paaren, die einen so
langen Leidensweg hinter sich haben, Vertrauen entge-
genbringen, statt ihnen durch ein Verbot jede Hoffnung
auf ein eigenes Kind zu nehmen.

Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, im Interesse
der betroffenen Menschen für unseren Gesetzentwurf zu
stimmen.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712001400

Der Kollege Harald Terpe ist der nächste Redner.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712001500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist verständlich, dass sich Eltern gesunde Kinder ohne
eine Erbkrankheit wünschen, ihnen Leid ersparen möch-
ten. Dieser Wunsch wird immer wieder als der zentrale
Grund angeführt, die PID auch in Deutschland zuzulas-
sen, häufig ohne zu hinterfragen, ob sich die Verheißung
erfüllt. So verständlich dieser Wunsch ist: Taugt er auch
als alleiniger Maßstab unserer heutigen Entscheidung?
Um es anders auszudrücken: Heiligt der Zweck die Mit-
tel?

Die Zulassung der PID im Sinne von Frau Flach und
anderen bedeutet für mich mindestens eine Relativierung
von Normen unseres Grundgesetzes. Sie steht im Wider-
spruch zum Gendiagnostik- und Embryonenschutzge-
setz. Es bedarf also schwerwiegender Argumente, um ei-
nen derartigen Grundwerteumsturz zu rechtfertigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ei-
nige Argumente aus ethischer und medizinischer Sicht
wägen. Das von Befürwortern der PID-Zulassung immer
wieder vorgetragene Argument, die PID könne Erkran-
kungen und Behinderungen vermeiden, führt in die Irre.
Wohl aber soll die PID zur Vermeidung von Menschen
mit bestimmten Behinderungen und Erkrankungen ge-
nutzt werden, also zur Vermeidung bestimmter Men-
schen an sich. Das wäre ein Paradigmenwechsel, eine
andere Dimension. Auslese würde dann aus meiner Sicht
zur gesetzlich-gesellschaftlichen Norm.
Darüber hinaus bestünde die Gefahr, einen Menschen
verstärkt auf seine Erkrankung zu reduzieren. Bei der
Entscheidung, ob ein Kind gewünscht ist oder nicht,
drohte die Erkrankung oder Behinderung zum aus-
schlaggebenden Maßstab zu werden. Dabei geriete voll-
kommen außer Acht, dass ein Mensch mehr ist als seine
genetischen Anlagen, dass er neben einer Erkrankung
viele andere Eigenschaften und Talente besitzt, die sein
Leben für ihn lebenswert machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Nimmt man den vorgeschlagenen Anwendungsbe-
reich der PID als Grundlage, wären Menschen wie Gott-
lieb Planck, der Vater unseres Bürgerlichen Gesetz-
buches, oder der Schauspieler Richard Burton
vermutlich ebenso wenig geboren worden wie die Musi-
ker Paganini und Rachmaninow. Denken wir bei unserer
Entscheidung daran!

Die Möglichkeiten, Erbkrankheiten medizinisch zu
behandeln, entwickeln sich ständig fort. Für die meisten
Erkrankungen stehen in westeuropäischen Ländern mitt-
lerweile gute Therapie- und Hilfsangebote zur Verfü-
gung, sodass viele der Betroffenen zumindest das Er-
wachsenenalter erreichen. Bei mehr und mehr
Erkrankungen unterscheidet sich die Lebenserwartung
nicht mehr von der gesunder Menschen. Es stimmt ein-
fach nicht, dass die PID im Sinne von Frau Flach und an-
deren nur in aussichtslosen und mit viel Leid verbunde-
nen Fällen angewandt werden soll.

Aber ließe sich nicht die Zahl leidvoller, bei einigen
Frauen im Rahmen von natürlichen Schwangerschaften
gehäuft auftretender Fehl- und Totgeburten reduzieren,
wie Kollege Hintze und auch Frau Flach mit Verve argu-
mentieren? Das schon, nur mit dem Nachteil, dass die
für die PID notwendige künstliche Befruchtung zwar die
Frau der Tortur einer hormonellen Stimulation aussetzt
und sich die Chance auf ein gesundes Kind womöglich
deutlich verringert; das ist in einer Ausarbeitung des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nachzule-
sen.

Auch im Hinblick auf die meisten Erbleiden dürfte
sich die Chance auf ein gesundes Kind eher verringern,
würden sich die Paare für eine PID entscheiden. Das ist
ein Fakt, der von der Flach-Gruppe offenbar verschleiert
wird. Das liegt darin begründet, dass von einer Erb-
krankheit bedrohte Kinder zumeist auf natürlichem Weg
gezeugt, die Frauen also spontan schwanger werden.

Ich will nochmals betonen: In der heutigen Debatte
geht es nicht um unfruchtbare Paare, sondern um Frauen,
die sich wegen der PID einer quälenden, schlimmsten-
falls lebensbedrohlichen, in mehr als 80 Prozent der
Fälle erfolglosen künstlichen Befruchtung unterziehen
müssten.

Wie ist es aber mit dem Argument der Spätabtrei-
bung? Die Vorstellung, durch die PID Spätabbrüche zu
verhindern, geht fehl. Viele der Störungen, die Anlass
für einen Spätabbruch sein können, werden mittels der
PID überhaupt nicht diagnostiziert. PID und Pränatal-
diagnostik stehen also nicht in einem Entweder-oder-





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(B)

Verhältnis, sondern addieren sich. Es gibt bislang keinen
wissenschaftlichen Beleg dafür, dass durch die PID die
Raten von Spätabbrüchen und Fehlgeburten signifikant
gesenkt werden konnten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Meine Abwägung zeigt, dass es sehr gute rationale
Gründe gibt, die Zulassung der PID abzulehnen. Dazu
möchte ich auch Sie ermutigen. Die Gründe stützen sich,
wie gezeigt, auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Den
noch Unentschlossenen kann ich nur empfehlen, sich
diesen Erkenntnissen nicht zu verschließen, damit wir
die betroffenen Paare nicht einer Behandlung aussetzen,
die ihr Leid zumeist nicht mildert, unsere Gesellschaft
aber in schwere ethische Konflikte stößt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712001600

Martina Bunge ist die nächste Rednerin.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712001700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit

der Problematik der Präimplantationsdiagnostik beschäf-
tige ich mich seit zehn Jahren intensiv. Das sind immer
stark berührende, ja, auch quälende Momente. Deshalb
bin ich froh, dass der Bundesgerichtshof uns im letzten
Jahr aufgefordert hat, für rechtliche Klarheit zu sorgen.

Ich bin Unterzeichnerin des Gesetzentwurfs von Frau
Flach, Herrn Hintze und anderen, nach dem eine be-
grenzte Anwendung der PID erlaubt sein soll. Wie bin
ich zu dieser Entscheidung gekommen? Fast genau heute
vor zehn Jahren, im Zusammenhang mit einer der ersten
Anwendungen der PID in Großbritannien, ist dieses
neue Ergebnis wissenschaftlicher, medizinischer For-
schung auch in der breiten Öffentlichkeit in Deutschland
bekannt geworden. Ich war damals Sozial- und Gesund-
heitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Schon
eine Woche nach dem PID-Bericht hatte ich drei ein-
schneidende Erlebnisse, die mein Denken seither beein-
flussen.

Sofort meldete sich der Weihbischof, der mir sehr
wohlwollend gegenübersteht, seit mein Staatssekretär
und ich nach dem Papstbrief zum Verbot des Schwanger-
schaftsabbruchs eine Gesetzesvariante schufen, die es
ermöglicht, dass die Schwangerenberatung für Frauen
katholischen Glaubens weiterhin gefördert wird. Nach
Bekanntwerden der PID-Anwendung in Großbritannien
appellierte Seine Exzellenz an mich, alles dafür zu tun,
dass dieser Eingriff in die Menschwerdung nicht auch in
Deutschland gestattet wird.

Am nächsten Tag empfing ich die Spitze des gerade
gegründeten Integrationsförderrates, der in Mecklen-
burg-Vorpommern alle gesetzgeberischen Initiativen da-
raufhin überprüft, ob die Belange von Menschen mit Be-
hinderung ausreichend berücksichtigt wurden. In diesem
Gespräch kamen wir natürlich auf die Angst zu spre-
chen, dass die PID einen Einstieg in das Sortieren in le-
benswertes und -unwertes Leben bedeuten könnte und
sich Eltern bald mit dem Vorwurf konfrontiert sehen
würden, ob ihr behindertes Kind überhaupt hätte sein
müssen. Aber einhellig war die Meinung nicht. Die Ver-
treterin der chronisch Kranken warf schüchtern ein, ob
man denn darin nicht auch eine Chance sehen sollte,
schwerste Erkrankungen zu vermeiden.

Am nächsten Tag saß in meinem Wahlkreisbüro eine
junge Frau mit ihrem Mann vor mir. Sie erzählten mir
von ihren schrecklichen Erlebnissen bei den Versuchen,
ein Kind zu bekommen. Die beiden hatten genetische
Dispositionen, die es bisher nicht zuließen, dass die Frau
die kleinen Wesen, die sich schon mehrmals in ihr entwi-
ckelt hatten, austragen konnte. Alle bisherigen Schwan-
gerschaften endeten frühzeitig, weil der Fötus starb. Sie
fragten mich, wann es die neue Methode aus Großbritan-
nien auch bei uns in Deutschland gebe, weil sie darin
eine Chance sahen. Ihr Arzt bestätigte, dass sie damit
vielleicht eine Chance hätten.

Jahr für Jahr hatte ich ähnliche Begegnungen. Es
wurde die Angst vor dem Designerbaby geäußert, De-
tails über neue Forschungsergebnisse wurden klarer, und
ethische, moralische und juristische Fragen wurden ge-
wälzt.

Ich frage mich seither und Sie alle heute: Ist es ver-
antwortbar, die PID strikt abzulehnen, weil nach christli-
chem Glauben bereits mit der befruchteten Eizelle der
Schutz des ungeborenen Lebens beginnt? Was ist denn
mit der Auffassung meines damaligen Staatssekretärs,
der Jude war und die PID für verantwortbar hielt, weil
sich nach jüdischem Glauben ein Mensch erst entwi-
ckeln kann, wenn der Körper der Frau die Eizelle aufge-
nommen hat? Das ist eine Auffassung, die ich als Athe-
istin teile.

Darf ich mit meiner Entscheidung nur eine Auffas-
sung tolerieren und die andere nicht? Ich meine, das geht
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie ist verantwortbar, starke Gefühle unterschiedlich zu
behandeln, beispielsweise die Ängste von Menschen mit
Behinderungen, dass die Normalität ihres Andersseins
infrage gestellt wird? Insofern müsste die Ablehnung der
PID respektiert werden. Damit würde aber zugleich die
Verzweiflung der jungen Frauen und deren Partner, die
sich überhaupt ein Kind oder ein Kind ohne schwerste
Beeinträchtigungen wünschen, nicht respektiert werden.
Ich meine, das geht nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Schließlich: Was ist von der Argumentation zu halten,
dass eine begrenzte Zulassung ein Dammbruch wäre und
sie über kurz oder lang zum Designerbaby führen
würde? Ich denke, Eigenschaften und Aussehen sind

(D)






Dr. Martina Bunge


(A) (C)



(D)(B)

nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen gene-
tisch nicht auswählbar. Das wird auch in naher Zukunft
nicht möglich sein.

Ja, wir brauchen eine würdige Debatte und eine ver-
antwortungsvolle Entscheidung. Wir brauchen aber auch
so weit wie möglich eine Ausgewogenheit in der Beach-
tung von Interessen und Betroffenheit. Deshalb habe ich
mich für die begrenzte Zulassung der PID entschieden.
Die Einzelfallentscheidung zur PID wird meines Erach-
tens allen dargelegten Perspektiven am ehesten gerecht.
Die Einzelfallentscheidung ist individuell und konkret
und richtet sich nicht nach einem Katalog.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und der FDP)


Was die nahe Zukunft betrifft, habe ich Vertrauen,
dass auch spätere Politikerinnen und Politiker ebenso
verantwortungsvoll wie wir heute entscheiden werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712001800

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Thierse.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712001900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen,
eine wahrlich schwierige Güterabwägung. Die Befür-
worter der PID tragen gewiss gewichtige Argumente
vor. Ich kann mich ihnen trotzdem nicht anschließen;
denn würden wir ihnen folgen, also PID zulassen, näh-
men wir einen fundamentalen Paradigmenwechsel vor.
Denn um der Hilfe bei individuellem Leid willen, um
der Erfüllung des Wunsches nach einem eigenen, mög-
lichst gesunden Kind willen veränderten wir ein Allge-
meines höchst folgenreich: Wir ermöglichten Selektion,
wir ermöglichten eine Qualitätsüberprüfung menschli-
chen Lebens.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich will meine Entscheidung gegen die PID in sieben
Punkten begründen.

Erstens. Die Garantie der Menschenwürde bedeutet,
dass jeder Mensch Subjekt aus sich heraus ist, Zweck in
sich selbst im Sinne Immanuel Kants. Diese Menschen-
würde gilt von Anfang an. Naturwissenschaftlich herrscht
heute Einvernehmen darüber, dass mit der Kernver-
schmelzung das vollständige individuelle menschliche
Genom entstanden ist, aus dem ein vollständiger mensch-
licher Organismus, ein neugeborenes Individuum, her-
vorgehen kann. Der Schutz der Menschenwürde muss
also hier, zu diesem Zeitpunkt, beginnen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Zweitens. Aus dem Gebot der Menschenwürde ergibt
sich das Verbot der Instrumentalisierung, der Verzwe-
ckung eines Menschen. Bei der PID aber geschieht ge-
nau dies. Embryonen werden als Sachen behandelt, sie
werden nicht um ihrer selbst willen gezeugt, sondern
zum Zweck ihrer Auswahl. Ihr Sein, ihre Entwicklung
werden von bestimmten genetischen Dispositionen und
Merkmalen abhängig gemacht.

Drittens. Menschenwürde ist mit dem Recht auf Le-
ben verknüpft. PID zielt aber auf Auswahl, ist also un-
weigerlich auf eine qualitative Selektion mit anschlie-
ßender Beendigung menschlichen Lebens ausgerichtet.
Die Notwendigkeit der Auswahl wird noch dadurch ver-
schärft, dass zur Durchführung der PID mehr Embryo-
nen gebraucht werden, als eingepflanzt werden können.
Reproduktive Freiheit – wie das genannt worden ist –
rechtfertigt aber auch unter dem Gesichtspunkt der Ver-
hältnismäßigkeit einen solchen Eingriff in das Lebens-
recht nicht.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Viertens. Nach meiner Überzeugung sind die Kon-
fliktlagen bei PID und beim Schwangerschaftskonflikt
nicht vergleichbar.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Bei der PND wird nicht prinzipiell ein Ergebnis vorweg-
genommen. Es geht im Konfliktfall um die Abwägung
zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und dem
Recht der Schwangeren auf Leben und physische wie
psychische Unversehrtheit. Bei der PID aber wird von
vornherein eine Entscheidung zwischen verschiedenen,
geeigneten oder ungeeigneten, Embryonen getroffen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Fünftens. Eine Zulassung der PID würde genau den
Selektionsgedanken in die deutsche Rechtsordnung wie-
der einführen, dem der Gesetzgeber mit der Ablehnung
der embryopathischen Indikation,


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


also der Erlaubnis, menschliches Leben aufgrund uner-
wünschter Eigenschaften zu verwerfen, bei der Reform
des § 218 ausdrücklich widersprochen hat.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Sechstens. Wer behauptet, PND und PID liefen dann,
wenn ein krankes oder behindertes Kind zu erwarten sei,
letztlich auf dasselbe, auf eine Tötung des Embryos, hi-
naus, unterstellt genau den Automatismus, den der Ge-
setzgeber mit der Abschaffung der embryopathischen In-
dikation verhindern wollte. Rechtsmissbrauch aber darf
vernünftigerweise nicht als Argument herhalten.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Die missbräuchliche Praxis einer Inanspruchnahme der
PND, die sogenannte Schwangerschaft auf Probe, sollte
nicht zu einem Argument für die PID, für eine Zeugung
auf Probe, gemacht werden.

Siebtens. Es ist nicht Alarmismus oder ein angstbe-
setzter Blick auf den wissenschaftlichen Fortschritt,





Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

wenn man die Möglichkeiten der Begrenzung der PID
für äußerst fraglich hält. Dank der Weiterentwicklung
der Untersuchungsmethoden lässt sich mit aller Wahr-
scheinlichkeit die Erhebung von sogenannten Nebenbe-
funden nicht verhindern. Wenn man PID erlaubt, werden
eben auch das Screening auf chromosomale Fehler oder
das Genetic Screening möglich.

Zum Schluss. Selbst nach Auffassung ihrer Befürwor-
ter handelt es sich bei der PID um eine Methode, die so
problematisch ist, dass sie nur in seltenen Fällen einge-
setzt werden sollte. Ist unsere ganze Aufregung also un-
angemessen? Sollten wir nicht diese wenigen Ausnah-
men zulassen? Ich meine, nicht. Bei der Entscheidung
über die PID geht es heute um sehr grundsätzliche Fra-
gen: um die Frage nach der Bedingtheit oder Unbedingt-
heit des Kinderwunsches, die Frage nach unserem Be-
griff von Menschenwürde und für wen und ab wann
diese gilt, die Frage nach der Qualitätsüberprüfung be-
ginnenden menschlichen Lebens und der ihr folgenden
Möglichkeit zur Selektion.

Es geht nicht um eine Ethik der Strafe, sondern um
eine Ethik der Menschenwürde.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


PID verhindert möglicherweise in einzelnen Fällen Leid,
aber sie verhindert in jedem Fall das Lebensrecht von
gezeugtem menschlichen Leben.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wir sollten das nicht tun. Bitte unterstützen Sie den Ge-
setzentwurf zum Verbot der PID!


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712002000

Das Wort erhält nun der Kollege Jerzy Montag.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712002100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je länger

ich mich mit der PID in all ihren Facetten beschäftigt
habe, umso klarer ist für mich geworden: Wir können
und wir dürfen unsere Entscheidung nicht über die
Köpfe derjenigen hinweg treffen, die an erster Stelle
Verantwortung für ein möglicherweise schwerkrankes
oder todgeweihtes Kind zu tragen haben. Es sind die El-
tern und ganz besonders die Mütter, deren Wunsch und
Urteil wir nicht übergehen dürfen, was aber im Ergebnis
der Gesetzentwurf des Kollegen Singhammer und ande-
rer tut.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der begrenzten
Zulassung der PID nach unserem Gesetzentwurf geht es
nicht um ein vermeintliches Recht auf ein durch und
durch gesundes Kind. Ein solches Recht, einen solchen
Anspruch gibt es nicht, und wir versprechen ihn auch
nicht in unserem Gesetzentwurf.

Herr Kollege Meinhardt, ich gebe Ihnen recht: Es
geht nicht um ein Werturteil gegen sogenanntes le-
bensunwertes Leben, und es geht auch nicht um eine so-
genannte Selektion, nicht nur in Ihrem Gesetzentwurf
nicht, sondern auch in unserem Gesetzentwurf nicht.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Herr Kollege Thierse, ich widerspreche Ihnen vehement,
wenn Sie diese Begriffe im Zusammenhang mit unserer
Debatte verwenden.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Alleine schon wegen der Assoziationen mit diesen Be-
griffen, die in die dunkelste Vergangenheit Deutschlands
führen, finde ich, verbietet es sich,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


den Frauen zu unterstellen, ihnen gehe es um Selektion
oder um die Ablehnung lebensunwerten Lebens.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Es geht auch nicht um die Hybris, Gott oder dem
Schicksal in die Parade fahren und ein perfektes Kind
züchten zu wollen. Der Landesbischof der evangelischen
Kirche in Bayern – so las ich es in der Presse – hat den
Betroffenen in einer Predigt vorgeworfen, sie würden die
PID beanspruchen, um sich „am Leid vorbeizumogeln“.
Den betroffenen Vätern und Müttern einen solchen Vor-
wurf zu machen, finde ich nicht richtig.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


All diese Debatten haben ihre Berechtigung. Aber sie
haben nichts mit den Frauen zu tun, die nach mehreren
Tot- oder Fehlgeburten in Verzweiflung leben, weil sie
Angst vor weiteren Schwangerschaften haben, sich aber
eigene Kinder wünschen. Sie haben nichts mit den Eltern
zu tun, die in sich die Veranlagung zu schweren, unheil-
baren Erbkrankheiten tragen, die Kinder schon qualvoll
haben sterben sehen oder die liebevoll Verantwortung für
erkrankte Kinder tragen und so erschöpft sind, dass sie
ein solches Leid nicht noch einmal erleben können. Die
Eltern, die Väter und die Mütter, die wir bei unserer heu-
tigen Entscheidung nicht übergehen dürfen, sind solche,
die zum Beispiel die Anlage zur Erbkrankheit Morbus
Krabbe in sich tragen, welche sie mit hoher Wahrschein-
lichkeit auf ihre Kinder übertragen. Wenn diese Krank-
heit bei Babys ausbricht, werden sie nach wenigen Mona-
ten blind, taub und steif und sterben unausweichlich.

Die moderne Medizin hat die In-vitro-Fertilisation er-
möglicht; so sind inzwischen Hunderttausende von Kin-
dern geboren worden. Damit ist auch die Pflicht der Ge-
sellschaft und des Parlaments entstanden, extrakorporale
Embryonen als beginnendes menschliches Leben zu
schützen. Aber dieser Schutz ist in jeder nur denkbaren
Variante nur mit den Frauen, den zukünftigen Schwange-
ren und Müttern, gemeinsam möglich.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Bei der In-vitro-Fertilisation ist eine Einpflanzung der
extrakorporal erzeugten Embryos gegen den Willen der
Frauen nicht möglich. Eine etwaige zwangsbewehrte
Verpflichtung hierzu wäre krass verfassungswidrig und
unmenschlich.





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen es den
Betroffenen auch mit unserem Vorschlag nicht leicht.
Schon die In-vitro-Fertilisation ist langwierig, schmerz-
haft und ungewiss; die Erlangung von weiblichen Eizel-
len ist kein Spaziergang. Danach verlangen wir eine
Pflichtberatung über alle psychosozialen und medizini-
schen Aspekte. Die Frauen haben eine Bringschuld, die
besondere Situation, in der sie sich befinden, darzulegen
und glaubhaft zu machen. Es findet eine Begutachtung
durch eine Ethikkommission statt. All das führt nicht mit
Garantie zum Erfolg. Es erhöht nur die Chance auf ein
lebensfähiges und gesundes Kind.

Wir finden, dass die betroffenen Frauen diese Chance
verdienen und dass sie in Selbstbestimmung einen An-
spruch auf die medizinische Dienstleistung einer PID ha-
ben. Deshalb bitte ich Sie, unserem Gesetzentwurf nach
Abwägung aller Argumente Ihre Zustimmung zu geben.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712002200

Maria Michalk ist die nächste Rednerin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1712002300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

Menschen knüpfen an jede medizinische Entwicklung
Hoffnungen. Wir möchten weniger Leid; wir möchten
gesund werden; wir möchten weniger Schmerzen haben.
Es ist tatsächlich so, dass sich ähnliche Hoffnungen auch
an die PID knüpfen, die an Embryonen ab dem fünften
Tag nach der Befruchtung außerhalb des Mutterleibes
stattfindet. Nur diejenigen werden eingepflanzt bzw.
transferiert, die gesund sind. Wir bewerten also.

Aber müssen wir uns in diesem Fall nicht vorher fra-
gen, wohin uns die Hoffnungen in Bezug auf die PID-
Möglichkeiten führen, wenn in der Gesellschaft nicht die
Frage beantwortet ist, ob es uns Menschen erlaubt ist, in
vitro hergestellten Embryonen weniger Schutz zukom-
men zu lassen als den Embryonen im Mutterleib? Damit
wende ich mich besonders an Herrn Montag. Diese
Frage haben Sie nicht beantwortet.

Wo bleibt unsere ethisch-moralische Verantwortung,
wenn in diesem frühen Stadium mit drei Embryonen al-
les unternommen wird, um ein gesundes Kind auf die
Welt zu bringen, und die anderen Embryonen verworfen
werden? Was geschieht mit ihnen? Wie fühlt sich die
Mutter – die auch diese Embryonen, die nicht leben dür-
fen, haben –, die weiß, dass diese Kinder nicht leben
durften?

Nach welchen Kriterien wird eigentlich aussortiert?
Ich habe heute noch kein vernünftiges, unser Mensch-
sein aufnehmendes Argument gehört. Wer legt diese Kri-
terien fest? Was sind schwerwiegende genetische Schä-
den, von denen hier immer gesprochen wird?

Bei einer natürlichen Empfängnis stellen sich diese
Fragen in diesem Entwicklungsstadium tatsächlich
nicht. Was beide Arten der Empfängnis verbindet, ist die
Würde, die allen von Anfang an zukommt – allen; jedem
von ihnen. Das steht auch in unserem Grundgesetz. Die
Prognose, ob ein Kind gesund zur Welt kommt oder mit
einer Behinderung oder einer Veranlagung zu einer
Krankheit geboren wird, ist an dieser Stelle – an dieser
Stelle – unerheblich. Es geht immer um die gleiche
menschliche Würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Welches Gesicht soll unsere Gesellschaft in Zukunft
haben? Auch diese Frage müssen wir uns in diesem
Kontext stellen. Wollen wir nur schöne, junge, gesunde
Menschen – keine blinden, keine körperbehinderten,
keine geistig behinderten Kinder?


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


Was für eine Armut!

Viele Zuschriften belegen, dass sich Menschen mit
Behinderungen sorgen und den emotionalen Spagat
kaum ertragen können – auf der einen Seite die Freude
darüber, dass sie eine Mutter und einen Vater haben, die
sie gezeugt und geboren haben, und auf der anderen
Seite die Sorge vor in der Zukunft drohender Diskrimi-
nierung, weil künftig vielleicht die Geburt eines behin-
derten Kindes mit dem Satz belegt wird, der leider heute
schon gelegentlich zu hören ist: Na, das musste ja nun
wirklich nicht sein.

Wir müssen diese Gefühle ernst nehmen. Wir alle in
der Gesellschaft sind gut beraten, den bei manchen – ich
habe das jetzt auch in der Debatte ein bisschen gespürt –
vorhandenen Hochmut abzulegen, der darin besteht, dass
wir alles können, alles wissen und alles dürfen.

Deshalb sage ich Ihnen, Kollegin Flach und Kollege
Hintze: Sie möchten mit Ihrem Antrag, wie Sie wieder-
holt hier und in der Öffentlichkeit betont haben, vor al-
len Dingen dafür sorgen, dass Frauen das Schicksal er-
spart bleibt, Totgeburten oder Fehlgeburten zu haben. In
der Tat ist das eine schwierige Lebenssituation. Ich weiß
es aus eigener Erfahrung. Darauf will ich an dieser Stelle
hinweisen. Unser erstes Kind war totgeboren. Hätte es
damals die PID gegeben, hätte ich es nie in der Hand ge-
halten. Es gab auch drei Fehlgeburten. Ich kann nach-
vollziehen, wie es Paaren geht, die sich unbedingt ein
gesundes Kind wünschen und den Druck kaum noch
aushalten. Erst als der Druck aus meinem Kopf war und
ich alle klugen Ratschläge abgelegt hatte, kamen drei ge-
sunde Kinder.

Und auch das müssen wir uns verinnerlichen: Die Na-
tur lässt sich nicht vergewaltigen. Das ist meine Aussage
an dieser Stelle. Ich finde, es ist ein großer Reichtum,
auch solche Lebenserfahrungen machen zu müssen, zu
dürfen. Auch das haben viele Paare geschrieben, die sich
in den letzten Wochen an dieser Diskussion beteiligt ha-
ben.

Ich glaube, wir müssen viel mehr das Natürliche un-
seres Menschseins und unseres Menschwerdens bewah-
ren und dürfen nicht alles unter dem Aspekt der 100-pro-
zentigen Sicherheit verkünsteln und abstrahieren und
damit die Frauen und ihre Partner durch lauter Untersu-





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)

chungsmöglichkeiten, die immer besser werden, verun-
sichern und unter eine enorme psychische und physische
Dauerbelastung setzen.

Noch ein letzter Aspekt. Bei der Novellierung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes wurde die embryo-
pathische Indikation bewusst abgeschafft. Viele, die
heute hier sind, waren damals dabei. Wir wollten die
Diskriminierung behinderten Lebens ein für alle Mal
verhindern. Mit der Zulassung der PID – so, wie sie
heute hier vorgestellt worden ist – würde dieses Aus-
wahlkriterium wieder eingeführt werden. Wollen wir das
wirklich? Krankheit und Behinderung gehören zu unse-
rer menschlichen Existenz wie die Auflösung von Moll
in Dur in der Musik.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712002400

Frau Kollegin.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1712002500

Deshalb bitte ich Sie sehr, sich zu entschließen, dem

Antrag auf Verbot der PID zuzustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712002600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine

Aschenberg-Dugnus.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1712002700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je-

des Mitglied des Hohen Hauses, das sich in die Debatte
eingebracht hat, sich noch einbringen wird oder heute
auch einfach nur abstimmen wird, muss eine Abwägung
zwischen verschiedenen Rechtsgütern vornehmen. Diese
Abwägung fällt höchst unterschiedlich aus, und das ist
auch gut so.

Es ist eine Abwägung zwischen den eigenen Prinzi-
pien und der konkreten Situation der betroffenen Frauen.
Es ist eine Abwägung zwischen Empathie und Verant-
wortung für die betroffenen Paare und dem nötigen Res-
pekt vor ungeborenem Leben. Bei dieser Abwägung,
was richtig und was falsch ist, macht es sich keiner von
uns leicht. Aber: Wir müssen das Leiden der betroffenen
Frauen ernst nehmen. Wir dürfen nicht auf dem eigenen
Standpunkt beharren und an den eigenen abstrakten
Prinzipien festhalten.

Das Leiden einer Frau, deren erstes Kind im fünften
Lebensjahr verstirbt, die einen ersten Abbruch nach ei-
ner Pränataldiagnostik und zwei Jahre später einen wei-
teren Abbruch nach einer Pränataldiagnostik verkraften
musste, ist ganz konkret.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb plädiere ich dafür, diesen Frauen auch ganz
konkret zu helfen.

Für diese Hilfeleistung müssen wir einen rechtlichen
Rahmen bieten. Der Antrag der Kolleginnen und Kolle-
gen Flach, Hintze und anderer bietet genau den richtigen
Rechtsrahmen, in dem die notwendige Hilfe geleistet
werden kann. Als Gesetzgeber sind wir geradezu dazu
verpflichtet, die Nutzung medizinischer Technologien zu
ermöglichen, wenn dies ganz konkret zur Linderung von
Leid beiträgt.

Wir sollten die Chancen der PID nutzen, statt die ver-
meintlichen ethischen Risiken in den Vordergrund zu
stellen. In allen Ländern, in denen die PID erlaubt ist,
wird mit dieser Methode – und zwar schon seit 20 Jah-
ren – sehr verantwortungsvoll umgegangen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Lassen Sie mich bitte noch einmal auf den Kernpunkt
dieser Debatte hinweisen, auf den Wertewiderspruch
zwischen einer Zulassung der Pränataldiagnostik mit an-
schließendem Schwangerschaftsabbruch und einem Ver-
bot der PID; denn eine PND, also eine Pränataldiagnos-
tik, mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch wird
in unserer Gesellschaft rechtlich und ethisch toleriert. Es
wäre normativ höchst widersprüchlich, bei entsprechen-
der genetischer Belastung der Familie als Alternative zur
PID eine PND durchführen zu lassen und einen Spätab-
bruch zu akzeptieren. Das darf man keiner Frau, darf
man keinem Paar zumuten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Leopoldina-Stellungnahme vom Januar 2011
heißt es sehr treffend – ich zitiere wörtlich –:

Auf Grund gleichgelagerter Konfliktsituationen für
die Frau sollte unter einschränkenden und definier-
ten Bedingungen eine PID gesetzlich zugelassen
und die damit verbundenen Folgen für den Embryo
vom Gesetzgeber der PND … und dem Schwanger-
schaftsabbruch … gleichgestellt werden.

Klarstellen möchte ich auch: PID schafft keine gesun-
den Kinder, was heute schon häufiger behauptet wurde.
Das trifft nicht zu. PID ermöglicht Kinder, die von einer
bestimmen schweren genetischen Erkrankung nicht be-
troffen sein werden; das sollten wir hier noch einmal
ganz klar sagen.

Um auszuschließen, dass auch das dritte Kind einer
Frau, wie ich es eben geschildert habe, lebensunfähig zur
Welt kommt, um auszuschließen, dass es zum wieder-
holten Male zu einer Totgeburt kommt, um auszuschlie-
ßen, dass diese Frau eine erneute Spätabtreibung erlei-
den muss, wollen wir, und zwar ausschließlich für die
eben genannten Fälle, die PID ermöglichen.

Eine Zulassung der PID ist eben nicht, wie es heute
mehrfach behauptet wurde, die brachiale Brechstange,
mit der wir für Selektion und Designerbabys Tür und Tor
öffnen. PID ist auch kein Eingriff in die Schöpfung. PID
ist der Ausdruck der Ethik des Helfens. Dafür bitte ich





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)

Sie heute um Ihre Unterstützung, um Unterstützung für
den Antrag Flach/Hintze und anderer.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712002800

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Kathrin Vogler.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der FDP)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712002900

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Seit dem BGH-Urteil vor ungefähr einem Jahr ma-
chen wir uns hier im Haus sehr intensiv, ernsthaft und
manchmal auch auf etwas emotionale Weise Gedanken
über die Präimplantationsdiagnostik. Heute werden wir
entscheiden: ohne Fraktionsbindung, jede und jeder nur
nach seinem oder ihrem Gewissen. Ich respektiere abso-
lut die Gewissensentscheidung derjenigen, die hier zu ei-
nem anderen Schluss gekommen sind als ich. Aber ich
möchte doch einige offene Fragen aufwerfen, die Sie
sich vielleicht nicht so gestellt haben, und bitte Sie, da-
rüber nachzudenken.

Zuerst einmal bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen:
Jeder hier im Haus hat Verständnis für den Wunsch von
Menschen, die von einer Erbkrankheit betroffen sind,
nach einer glücklichen Schwangerschaft und nach Ge-
burt eines gesunden Kindes. Niemand hier möchte Men-
schen in Not allein lassen. Aber wir müssen uns ganz
nüchtern fragen, ob das, was wir hier gesetzgeberisch
tun, nicht doch weitreichendere Folgen hat, Folgen, die
wir so nicht beabsichtigen.

Ich weiß aus vielen Diskussionen und Gesprächen mit
Mitgliedern meiner Fraktion, dass es ganz unterschied-
liche Motive gibt, dem Gesetzentwurf der Gruppe Flach/
Hintze zuzustimmen. Es gibt diejenigen, die eine mög-
lichst uneingeschränkte Freigabe der PID wollen. An-
dere wollen nur in ganz eingeschränkten Situationen we-
nigen Paaren helfen und glauben, dass sie das mit
diesem Gesetzentwurf am besten können.

Nun lassen sich diese ganz unterschiedlichen Sicht-
weisen ausgesprochen schwer in einem Gesetzentwurf
zusammenbringen. Deswegen hat er einige Unschärfen,
die für mich viele Fragen offenlassen. Ein Beispiel ist
der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung. Befürch-
ten nicht auch Sie, dass dieser Begriff zu einer Auswei-
tung geradezu einlädt? Was „schwerwiegend“ ist, emp-
findet doch jeder Mensch anders.

Ich habe hier zum Beispiel den Eintrag einer jungen
Frau aus einem Kinderwunschportal im Internet. Sie
möchte gerne schwanger werden, ihre Ärztin sieht dafür
trotz ihrer chronischen Erkrankung kein Hindernis. Die
Frau beschreibt nun recht plastisch, wie ihr Partner sie
bedrängt, eine PID durchführen zu lassen. Ich zitiere:
Schließlich will er gesunde Kinder haben und nicht, dass
sie mal so leiden müssen wie ich. – Die junge Frau aller-
dings meint: So schlimm ist mein Fall doch gar nicht.
Meine Mutter und ich reden uns über dieses Thema in
Rage, jedes Mal, weil wir es zum Teil auch unfair fin-
den. Mein Vater und mein Freund sind der Meinung, sol-
che vorbelasteten Frauen sollten gar nicht erst Kinder
bekommen. – Sie empfindet das Anliegen ihres Freun-
des, obwohl sie Verständnis dafür hat, auch als Infrage-
stellung ihrer eigenen Person und fragt dann etwas zy-
nisch: Wie kommt eine Frau mit definitiv nicht
einwandfreien Genen überhaupt auf die Idee, eigens ge-
zeugte Kinder zur Welt zu bringen? – Sie durchlebt also
das, was wir in der Begründung unseres Antrags etwas
abstrakt als „sozialen Druck“ beschreiben. Diesem
Druck würden nach einer Zulassung, auch wenn sie be-
grenzt ist, noch viel mehr Frauen ausgesetzt. Können Sie
diese Befürchtung verstehen?

Was schwerwiegende Krankheiten sind, das bestim-
men dann auch nicht die Frauen selbst, sondern Ethik-
kommissionen und im Zweifelsfall wieder Gerichte.
Auch Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter ausbre-
chen und daher meiner Ansicht nach gar nicht als Belas-
tung für die Eltern gewertet werden können, sind nicht
ausgeschlossen. Entspricht das wirklich Ihren Vorstel-
lungen?

Mit einem Änderungsantrag wurde dann der ohnehin
unscharfe Begriff „hohe Wahrscheinlichkeit“ durch den
noch unschärferen Begriff des „hohen Risikos“ ersetzt
und damit die Zielgruppe erheblich erweitert. Ich frage
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ist das wirklich in
Ihrem Sinne?

So geht es leider weiter. Auch im Gesundheitsaus-
schuss konnten wir nicht klären, welche Form der PID
mit diesem Antrag eigentlich zugelassen werden soll: die
bisher übliche Blastomerenbiopsie oder, wie der Kollege
Hintze in der Anhörung meinte, nur die Untersuchung
von Blastozysten, also von nicht mehr voll entwick-
lungsfähigen Zellen. Wissen Sie aber, dass das ein als
experimentell bezeichnetes Verfahren ist, das bisher
weltweit erst äußerst selten durchgeführt wurde? Ich
habe da als Gesundheitspolitikerin ganz massive Bauch-
schmerzen. Können Sie das nachvollziehen?

Ich bitte Sie darum, noch einmal ganz ernsthaft zu
überprüfen: Wollen Sie, dass die PID auch bei spätmani-
festierenden Erkrankungen angewandt werden darf?
Welches gesellschaftspolitische Signal wollen wir heute
aussenden an die junge Frau, von der ich gerade erzählt
habe, und an die vielen Paare, bei denen ein Partner
chronisch krank oder behindert ist? Was antworten Sie,
wenn Sie eine Ärztin fragt, welches Verfahren sie denn
nun anwenden darf? Wenn Sie sich nicht ganz sicher
sind, wie Sie diese Fragen beantworten würden, dann
möchte ich Sie bitten, Ihr Stimmverhalten noch einmal
zu überdenken. Wenn Sie eine klare Grenze ziehen wol-
len, dann bitte ich Sie: Stimmen Sie mit mir und der
Gruppe Göring-Eckardt für ein eindeutiges Verbot der
Präimplantationsdiagnostik.

Danke.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712003000

Karin Evers-Meyer ist die nächste Rednerin.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1712003100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

stimmen heute über eine Frage ab, mit der sich sowohl der
Deutsche Ethikrat als auch die Akademie der Wissen-
schaften eingehend beschäftigt haben. Ihre Arbeit ist an-
erkannt, und das Ergebnis dieser Arbeit ist klar und ein-
deutig. Diese Fachgremien empfehlen uns, dass wir die
PID unter bestimmten strengen Voraussetzungen zulas-
sen sollen, nämlich dann, wenn Eltern aufgrund ihrer ge-
netischen Disposition damit rechnen müssen, ein schwer-
behindertes Kind zur Welt zu bringen.

Wir stimmen heute aber nicht als berufene Vertreter
dieser Gremien ab, sondern als Abgeordnete des Deut-
schen Bundestages, die nur ihrem Gewissen verpflichtet
sind. Wir stimmen ab als Menschen, jeder von uns mit
seinen eigenen Erfahrungen und den daraus resultieren-
den Weltbildern. Deswegen ist es gut, dass wir in dieser
Frage sehr respektvoll mit der Position des jeweils ande-
ren umgehen. Das ist auch der Respekt, den Eltern, die
diese Diskussion betrifft, von uns erwarten, und das
wirklich zu Recht.

Ich persönlich spreche in dieser Debatte nicht als je-
mand, der Theologie, Ethik oder Medizin studiert hat,
sondern als jemand, der selbst Mutter eines schwerbe-
hinderten Kindes war und sich als Behindertenbeauf-
tragte einige Jahre sehr intensiv mit der Situation behin-
derter Menschen und ihrer Angehörigen in diesem Land
beschäftigt hat. Als dieser Jemand will ich Ihnen sagen:
Ich hätte, wenn ich von der schweren Behinderung mei-
nes Sohnes bereits zu einem frühen Zeitpunkt gewusst
hätte, ohne jeden Zweifel mein Kind zur Welt gebracht,
und ich würde es auch – weiß Gott – wieder tun. Ich
weiß, dass die größte denkbare Mehrheit der Eltern be-
hinderter Kinder genauso denkt. Deswegen sollten wir
zuallererst Vertrauen in uns selbst und in alle die haben,
die Eltern sind oder Eltern werden wollen;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn auch das ist eine Form von Respekt, die man von
uns erwartet. Das ist heute meine zentrale Botschaft an
alle Eltern, die in einer solchen Situation sind: Wir ver-
trauen euch. Lasst euch nicht verunsichern. Freut euch
auf eure Kinder. Sie werden euer Leben und die Gesell-
schaft bereichern, völlig unabhängig davon, ob das Kind
eine Behinderung hat.

Wir, die Politik, müssen dafür sorgen, dass diesen El-
tern und ihren Kindern alle erdenkliche Unterstützung
und Wertschätzung zuteil werden. Das ist aus meiner
Sicht die vorrangigste Aufgabe. Aber – das gehört leider
zu der bisher nicht ausgesprochenen Wahrheit – in unse-
ren täglichen politischen Entscheidungen erfüllen wir
diese Aufgabe nur unzureichend. Gerade in Deutschland
tut man sich sehr schwer damit.

Das Leben mit einem schwerbehinderten Kind – das
ist hier vielfach gesagt worden – kann mit unsagbaren
Belastungen verbunden sein, die Eltern und Familien an
den Rand ihrer seelischen und physischen Kräfte führen.
Das beginnt mit dem alltäglichen Bemühen um einen
Platz in dem Kindergarten oder in der Schule, den oder
die auch das Nachbarkind besucht. Es geht weiter mit
dem ewigen Bittstellen bei Behörden und Krankenkas-
sen und dem Werben um Verständnis im Familien- und
Freundeskreis, wobei die alltägliche Diskriminierung
nicht zu vergessen ist. Es endet schließlich da, wo wir
zusehen müssen, wie das Kind leidet, und man nichts für
das Kind tun kann, außer da zu sein und stark zu sein,
auch wenn man sich selber dabei kaum über Wasser hal-
ten kann.

Alle in diesem Hohen Hause, die sich heute für ein
Verbot der PID entscheiden, haben meinen vollen Re-
spekt. Das meine ich sehr ernst. Aber ich will Ihnen auch
ganz deutlich sagen: Wenn Sie den Eltern, die aufgrund
ihrer genetischen Disposition befürchten müssen, dass
sie ein schwerbehindertes Kind zur Welt bringen, die
medizinische Möglichkeit per Gesetz nehmen wollen, zu
einem Zeitpunkt, an dem Zellen in einem Reagenzglas
liegen, diesen unvorstellbaren Belastungen aus dem Weg
zu gehen, dann müssen Sie noch viel mehr tun, als diese
Gesellschaft heute bereit ist für behinderte Menschen
und ihre Angehörigen zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Das sehe ich heute leider nicht. Ich sehe, dass wir
über Moral und Ethik diskutieren und gleichzeitig immer
noch mehr als 80 Prozent aller behinderten Kinder in
Förderschulen, Werkstätten und stationäre Einrichtungen
schicken. Ich verweise in diesem Zusammenhang sehr
bewusst auf eine bei uns parallel stattfindende Debatte,
nämlich auf die Debatte um die Umsetzung der UN-Be-
hindertenrechtskonvention. Damit bietet sich quasi zeit-
gleich zu der Diskussion über ein Verbot der PID die
Chance, eine klare Botschaft an alle Eltern mit einer ge-
netischen Vorbelastung zu senden. Die Botschaft muss
klar und unmissverständlich sein: Wir werden alles dafür
tun, dass ihre Kinder mit Behinderung ein selbstbe-
stimmtes Leben führen können, unabhängig von den
Kosten; denn wir sind der Überzeugung, dass Moral
keine Frage der Kosten sein darf.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Diese eindeutige Botschaft vermisse ich bisher. Ich halte
es aber für geboten, dass wir in unserer Debatte über die
PID auch die Situation einfließen lassen, in der sich Tau-
sende von Eltern behinderter Kinder in diesem Land be-
finden und in der sich diejenigen befinden, die Angst vor
der Geburt eines schwerbehinderten Kindes haben. Ich
glaube, erst dann, wenn wir dazu bereit sind, führen wir
eine ehrliche Debatte über die ethisch-moralische Ver-
tretbarkeit der Präimplantationsdiagnostik.

Ich werde mich heute für den Gesetzentwurf der Kol-
legen Hintze, Reimann, Sitte und Montag entscheiden,
weil ich Eltern Mut machen will, sich für ein behindertes
Kind zu entscheiden. Aber ich will sie nicht dazu zwin-
gen. Dazu habe ich – das ist meine ganz persönliche
Sicht – kein Recht. Ich will den Betroffenen, die sich oh-
nehin in einer schwierigen Situation befinden, keine ge-
setzliche Regelung vorschreiben, sondern ihnen mein
Vertrauen entgegenbringen.





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712003200

Das Wort erhält nun der Kollege Pascal Kober.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1712003300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

individuelle Schicksal von Menschen, die an einer gene-
tischen Disposition für schwere Krankheiten leiden, die
sich sehnlichst ein leibliches, ein gesundes oder ein Kind
wünschen, das voraussichtlich eine hohe Lebenserwar-
tung haben wird, und die diesen Wunsch nicht erfüllt be-
kommen, rührt uns alle an. Es macht uns betroffen, und es
ist gut, dass hier alle – ich betone: alle – bereit sind, zu
helfen, wo sie können. Aber dieses individuelle Schicksal
von Menschen und diese Absicht, dieser Wille, zu helfen,
die Ethik des Helfens darf nicht verdecken, vor welcher
folgenschweren Entscheidung wir heute auch stehen. Es
geht um die Frage, inwieweit die Zulassung der Präim-
plantationsdiagnostik nicht vielleicht eine fundamentale
Abkehr von der Grundidee, vom Prinzip der Menschen-
und Grundrechte bedeutet.

Diese Rechte gelten nach unserem bisherigen Ver-
ständnis unveräußerlich, sie gelten unteilbar, und sie gel-
ten universell. Wenn wir zulassen, dass der Gesetzgeber
sich selbst oder ein Gremium, ein Expertengremium
oder eine Ethikkommission, dazu ermächtigt, Wertungs-
entscheidungen vorzunehmen, nämlich darüber, welches
Leben mehr oder weniger zu achten und zu schützen ist,
für welches menschliche Leben diese Bedingungen gel-
ten und für welches menschliche Leben jene, für welche
Menschen die Grundrechte bedingungslos gelten und für
welche Menschen die Grundrechte unter Bedingungen
gelten – und das alles aufgrund von im Menschen selbst
angelegten genetischen Dispositionen, Alters- oder Ent-
wicklungsstufen –, dann gelten die Menschen- und
Grundrechte nicht mehr unveräußerlich, sondern dann
sind sie abhängig von Bedingungen und von Willensent-
scheidungen anderer.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir zulassen, dass die Grundrechte, das Recht
auf Leben und das Recht auf eine individuelle Entwick-
lung, abhängig sind vom Entwicklungsstand oder vom
Gesundheitszustand, von Wertungsentscheidungen der
Gesetzgeber, der Ethikkommission oder anderer Gre-
mien, dann geben wir diesen Grundsatz der Unveräußer-
lichkeit der Menschen- und Grundrechte auf.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir dürfen die Geltung der Grundrechte nicht und nie-
mals an Bedingungen knüpfen. Niemals darf die Aner-
kennung von Grundrechten durch Gesundheit oder be-
stimmte Entwicklungsstufen begründet sein. Niemand
darf sie einem Menschen aufgrund solcher Fragen ab-
sprechen.

Lieber Peter Hintze, es ist richtig: Zivilisation bedeu-
tet Emanzipation der Menschen von der Natur. Aber ich
halte es für die zivilisatorische Errungenschaft schlecht-
hin, dass die Idee unveräußerlicher Menschenrechte
Wirklichkeit geworden ist. Sie schützt den Einzelnen vor
dem Zugriff, dem Willen der Mehrheit absolut.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Zwischen der Nichtzulassung der Präimplantations-
diagnostik und den geltenden Regeln des Schwanger-
schaftsabbruchs besteht nach meiner Ansicht kein Wider-
spruch. Beim Schwangerschaftsabbruch ist eine konkrete
Konfliktlage zweier gleicher Grundrechtsträger – wer-
dendes Kind einerseits und Mutter andererseits – voraus-
gesetzt. Bei der Präimplantationsdiagnostik geht es hin-
gegen darum, dass vorab Bedingungen formuliert werden
– sei es schriftlich oder auch nur in den Köpfen von Mit-
gliedern von Ethikkommissionen –, unter denen die
Grund- und Menschenrechte des Einzelnen umfänglich
oder eben eingeschränkt oder in anderer Weise gelten sol-
len.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Damit gelten die Grund- und Menschenrechte nicht
mehr unbedingt, damit sind sie nicht mehr unveräußer-
lich, sondern an Bedingungen geknüpft.

Ich glaube, dass es genau das ist, was unser Grundge-
setz ausschließen will, wenn es formuliert:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

„Unantastbar“ bedeutet: Sie gilt absolut und darf nicht
an Bedingungen und Zwecke geknüpft sein.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Die Unveräußerlichkeit, die Unantastbarkeit der Grund-
rechte des Einzelnen darf auch nicht gegen gute Zwecke
oder Absichten, gegen eine Ethik des Heilens abgewogen
werden. Diesen Grundsatz haben wir zum Beispiel bei
der Frage des Folterverbots immer verteidigt. Dieses Ver-
bot erhalten wir auch dann aufrecht, wenn höchste Gefahr
in Verzug ist. Wir sollten diesen Grundsatz auch an die-
sem Tage in der Frage der Präimplantationsdiagnostik ge-
meinsam verteidigen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712003400

Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche.


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1712003500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

Mutter von drei Kindern kann ich mir nichts Schlimme-
res vorstellen als den Tod des eigenen Kindes, eine Tot-
geburt, einen frühen Kindstod oder auch die Pflege des
eigenen Kindes bis zu dessen Tod. Allein der Gedanke
ist grausam. Ein totes Kind ist eine Lebenskatastrophe,
die niemals heilt. Auch scheinbar „normale“ Fehlgebur-





Katherina Reiche (Potsdam)



(A) (C)



(D)(B)

ten bedürfen oft einer langen Zeit der Aufarbeitung und
der Trauer. Auch diese ist oftmals nie wirklich zu Ende.

Wie sieht die Rechtssituation in Deutschland derzeit
aus? Die juristische Diskussion über die PID in Deutsch-
land kreist im Wesentlichen um die Frage, ob die PID
mit dem 1990 verabschiedeten Embryonenschutzgesetz
vereinbar ist. In seiner Urteilsbegründung aus dem Jahre
1975 zum Schwangerschaftsabbruch formulierte das
Bundesverfassungsgericht:

Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines
menschlichen Individuums besteht nach gesicherter
biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls
vom 14. Tage nach der … Nidation … an …

Von dieser Position ist das Bundesverfassungsgericht nie
abgerückt, auch nicht in seinem Urteil von 1993. Das
Bundesverfassungsgericht unterscheidet also konsequent
zwischen der befruchteten Eizelle in der Petrischale und
einem Fötus, einem Embryo, im Mutterleib. Deswegen
wurden konsequenterweise Nidationshemmer zugelas-
sen, die die Einnistung der befruchteten Eizelle verhin-
dern.

Abtreibungen sind – das wurde mehrfach gesagt – bis
zur zwölften Schwangerschaftswoche möglich. Man
darf auch Kinder im Mutterleib auf vielerlei Krankheiten
untersuchen. Selbst Spätabtreibungen sind möglich,
wenn ein schwerer Konflikt für die Mutter zu vermuten
ist. Was bei der natürlichen Befruchtung erlaubt ist, soll
nun bei der künstlichen Befruchtung verboten werden?
Die PID dient ja gerade der Herbeiführung einer
Schwangerschaft.

Die bestehende Rechtsunsicherheit und die Wertungs-
widersprüche wurden durch ein Grundsatzurteil des Bun-
desgerichtshofs am 6. Juli des vergangenen Jahres besei-
tigt. Der Bundesgerichtshof hat darin ganz klar gesagt,
dass Embryonen in Deutschland vor dem Einsetzen in die
Gebärmutter untersucht werden dürfen. Wie kam es zu
diesem Urteil? Dies ist ein bis dahin, wie ich finde, ein-
maliger Vorgang. Ein Mediziner aus Berlin hat erblich
vorbelasteten Paaren, also werdenden Eltern in schwers-
ten Konfliktsituationen, geholfen. Er hat die untersuchten
Embryonen eingepflanzt und sich danach selbst ange-
zeigt. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Arzt
zeigt sich selbst an, um Hilfe für seine Patientinnen und
Rechtssicherheit zu erwirken, vielleicht sogar zu erzwin-
gen.

Was würde nun ein Verbot bedeuten? Frauen würden
per Gesetz gezwungen, vorhersehbare Fehlgeburten oder
Spätabtreibungen zu erleiden. Sie müssten neun Monate
mit der Gewissheit leben, ihr möglicherweise nicht le-
bensfähiges Kind sterben zu sehen. Ja, es ist richtig: Es
gibt kein Recht auf ein Kind, und es gibt auch kein Recht
auf ein gesundes Kind. Aber es gibt den verständlichen
Wunsch danach. All die düsteren Bilder von der schiefen
Ebene, von Selektion, gar von moderner Eugenik finde
ich maßlos übertrieben. Die Suggestion, die damit ver-
bunden ist, ist empirisch haltlos und vor allem zutiefst
ungerecht gegenüber den Ärzten und den Paaren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Die PID ist in Großbritannien seit 1992 zugelassen. Pro
Jahr sind ungefähr 200 Fälle zu verzeichnen. Kein einzi-
ger Fall war Präzedenzfall für den nächstfolgenden Fall.
Es ging immer um Einzelfallentscheidungen. In Belgien
ist dies ähnlich.

Die Unterstützer dieses Antrages, also auch ich,
möchten Paaren in schweren Konfliktsituationen helfen.
Bisher mussten sich betroffene Paare entscheiden, ob sie
Totgeburten oder den späteren Tod des Kindes in Kauf
nehmen oder eben auf ein Kind verzichten. Die PID er-
öffnet nun die Möglichkeit, Ja zu einem Kind zu sagen.

Die PID brauchen Paare, die ein hohes Risiko haben,
ein genetisch schwer geschädigtes Kind auf die Welt zu
bringen. Aber das wissen die Paare in der Regel vorher
nicht; das wissen nur ganz wenige vorher. Diejenigen,
die dann aber in die Spezialkliniken fahren, eben oft
nach Belgien oder nach Großbritannien, haben schwere
Schicksale durchlitten und meist auch schon den Tod ei-
nes Kindes verkraften müssen.

Als ich in Amerika studiert habe, habe ich bei einer
Gastfamilie gelebt, bei der die Mutter in den 50er- und
60er-Jahren sieben Kinder auf die Welt gebracht hat:
sechs Jungen und ein Mädchen. Fünf Jungen sind an
Duchenne-Muskeldystrophie gestorben. Das Mädchen,
mittlerweile eine erwachsene Frau, hat sich in Amerika
für die PID entschieden, weil sie für sich persönlich aus-
schloss, den Leidensweg ihrer Mutter zu gehen. Sie hat
fünf Brüder begraben, sie wollte nicht noch ihren eige-
nen Sohn begraben.

Wenn ein PID-Verbot käme, dürften Frauen schwan-
ger werden, könnten Fehlgeburten erleiden, so viele sie
in der Lage wären zu ertragen; aber sie hätten keinen
Ausweg, sie hätten nur das Ausland. Ich möchte Sie bit-
ten, zu helfen. Ich glaube, wir sind als Gesetzgeber auf-
gerufen, zu helfen, die Situation für diese Paare zu ver-
bessern. Die PID ist ein Weg, Ja zum Leben zu sagen.
Für betroffene Paare wäre unser Gesetzentwurf ein ge-
waltiger Fortschritt.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712003600

Volker Kauder ist nun der nächste Redner.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1712003700

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Deutsche

Bundestag hat heute eine schwierige Entscheidung zu
treffen, eine Entscheidung, der alle Kolleginnen und
Kollegen persönliche Erfahrungen, aber auch mindes-
tens wochen- bzw. monatelange Diskussionen zugrunde
legen. Ich weiß, dass sich jeder Gedanken gemacht hat
und für seine Entscheidung gute Gründe in Anspruch
nehmen kann. Aber wir entscheiden heute nicht nur über
eine Abwägung von gut oder weniger gut, sondern wir
entscheiden heute über einen zentralen Grundsatz. Es





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

geht nicht um eine Ethik des Helfens; denn es ist selbst-
verständlich, dass wir helfen, wo wir helfen können.
Heute geht es darum, dass sich die Ethik des Lebens
durchsetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Andrea Nahles [SPD])


Es ist unstrittig, dass mit der Verschmelzung von Ei-
und Samenzelle etwas ganz Neues entsteht, ein qualitati-
ver Sprung, der sich in der weiteren Entwicklung nicht
wiederholt. Deswegen sagte Wolfgang Böckenförde in
der Anhörung: Mit der Verschmelzung von Ei- und Sa-
menzelle beginnt der Prozess des Lebens, der sich fort-
setzt bis hin zum Tod. Die Würde des Menschen, sagt
Böckenförde, umfasst diesen gesamten Prozess. Wer die
Würde des Menschen nur auf eine bestimmte Phase des
Prozesses festlegen will, macht die Menschenwürde
nicht mehr zu dem allumfassenden Grundsatz, wie er in
unserer Verfassung steht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE])


Welcher Prozess soll noch zur Würde des Menschen ge-
hören? Wann soll er beginnen – ist dies nun Definitions-
sache –, und wann hört der Prozess, der dem Würde-
schutz des Grundgesetzes unterliegt, eigentlich auf? Ich
glaube schon, dass es darum geht, klarzumachen, dass
wir mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle den
Lebensprozess in Gang gesetzt haben, zu dem es keinen
qualitativen Sprung mehr gibt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gera-
dezu dramatisch, wenn formuliert wird: Der Beginn
menschlichen Lebens hängt davon ab, ob irgendwann
einmal implantiert wird. Was soll denn werden, wenn es
sich eines Tages nicht mehr um einen 8-Zeller, 16-Zeller
oder 32-Zeller handelt – das gelingt ja schon –, sondern
um ein 30 Tage altes Wesen? Wollen wir die Antwort auf
die Frage, ob jemand Mensch ist oder nicht, von der
menschlichen Entscheidung abhängig machen, ob im-
plantiert wird oder nicht? Das wäre ein schwerer An-
schlag auf die Würde des Menschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es geht tatsächlich, wie Kollege Thierse gesagt hat,
um einen Paradigmenwechsel. Es geht darum, ob wir ak-
zeptieren, dass ein Mensch entstanden ist, oder ob wir
nur einen selektiven Blick auf das werfen, was die einen
als Zellverbindung bezeichnen. Wolfgang Thierse hat
völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass eine neue
grundsätzliche gesetzliche Wertung vorgenommen wer-
den könnte. Es könnte eine Umwertung dessen vorge-
nommen werden, was bisher in diesem Deutschen Bun-
destag gültig war, nämlich dass niemand wegen seiner
genetischen Vorbedingung bzw. seiner genetischen Prä-
disposition vom Leben ausgeschlossen wird.

1995 haben wir festgelegt, dass es keine Abtreibung
aufgrund eines genetischen Schadens des Embryos ge-
ben darf.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Es darf nur eine Abtreibung geben, wenn die Mutter er-
hebliche gesundheitliche Probleme hat. Jetzt findet, wie
viele sagen, ein Wertungswiderspruch statt, da wir uns
auf einer Ebene bewegen. Es geht darum, dass abgetrie-
ben werden darf, auch wenn kein genetischer Schaden
vorliegt, dass aber Leben nicht zugelassen werden darf
wegen eines genetischen Schadens. Dies ist eine drama-
tische Umwertung, vor der ich warne, da sie brutale
Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Deshalb sage
ich: Es geht heute um die Ethik des Lebens. Deshalb
bitte ich Sie, für ein Verbot der PID zu stimmen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1712003800

Das Wort hat nun der Kollege Steffen Bockhahn.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712003900

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Um es ganz offen zu sagen: Keiner der drei vorlie-
genden Gesetzentwürfe gefällt mir wirklich; denn ich
– das sage ich ganz offen – bin für eine Freigabe der
PID. Es wird aber heute eine pragmatische Entscheidung
für den weitestgehenden Entwurf der Gruppe Flach,
Hintze, Reimann, Sitte und weitere Abgeordnete geben.

Ich maße mir an, zu wissen, was es heißt, sich be-
wusst für oder gegen den Abbruch einer Schwanger-
schaft zu entscheiden. Das heißt nämlich manchmal, sich
vorher schon bewusst für eine Schwangerschaft ent-
schieden zu haben. Es ist doch in hohem Maße verant-
wortlich, wenn man als Mutter und als Vater entscheidet,
dass das eigene Kind kein schweres Leid ertragen soll.
Ich finde das verantwortlich.

Herr Kollege Kauder, ich habe Ihnen genau zugehört.
Ich denke, wir alle wollen nicht unterstellen, dass sich
jemand nicht bewusst über das, was er tut, Gedanken
macht. Sie haben aber die Frage aufgeworfen, ob die ei-
nen die Würde des Menschen respektieren und die ande-
ren nicht. Ich glaube, diese Frage stellt sich hier heute so
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Weg zu einer PID-Behandlung ist äußerst an-
strengend. Er ist auch nach dem Gesetzentwurf, für den
ich spreche, ein sehr schmaler Weg. Wenn man sich an-
schaut, was die Paare und insbesondere die Frauen
durchleiden müssen, bevor es zur PID kommt, dann
weiß man, dass das kein Sonntagsspaziergang ist, dann
weiß man, dass es sich um eine bewusste Entscheidung
handelt. Die Frau wird über Wochen mit massiven Do-
sen an Hormonen vollgepumpt. Das ist kein Spaß in ei-
ner Beziehung. Es ist mit großem Leid verbunden, erst
einmal dahin zu kommen. Die Entnahme der Eizellen,
die Befruchtung außerhalb des Körpers der Mutter und
das Warten darauf, ob die Befruchtung überhaupt erfolg-





Steffen Bockhahn


(A) (C)



(D)(B)

reich war, bedeuten höchsten emotionalen Stress für die
werdenden Eltern bzw. für die, die Eltern werden wol-
len. Niemand wird sich diese Entscheidung leicht ma-
chen. Natürlich ist die Verschmelzung von Ei- und Sa-
menzelle ein ganz wesentlicher Vorgang. Mindestens
genauso wichtig aber ist die Einnistung der befruchteten
Eizelle in die Gebärmutter der Frau.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Das ist der Zeitpunkt, zu dem die Interaktion zwischen
Mutter und Kind beginnt, und damit ist es ein mindes-
tens genauso wertvoller Moment.

Ziel ist doch nicht, das Leben von Menschen in wert-
voll oder nicht wertvoll einzuteilen. Aber was wollen Sie
Eltern und vor allen Dingen Müttern zumuten, die zum
wiederholten Mal schwanger werden und gegebenenfalls
eine Schwangerschaft in dem Wissen oder Unwissen
austragen müssen, dass es im Laufe der Schwanger-
schaft erneut zu großem Leid, zu vielen Schmerzen oder
zum Tod des Kindes kommen kann?

Ich war Zivildienstleistender in einer Kindertages-
stätte und habe dort für ein ganzes Jahr eine individuelle
Schwerstbehindertenbetreuung übernommen. Ich weiß,
dass auch schwerstbehinderte Kinder lachen und glück-
lich sein können. Ich weiß aber auch, dass ich als Vater
ein solches Schicksal nur schwer ertragen könnte und
dass ich meine Schwierigkeiten hätte, Ja zu einem Kind
zu sagen, von dem ich weiß, dass es sehr großes Leid er-
tragen muss. Sie können mir vorwerfen, dass ich das so
sehe und dass ich bewusst Nein zu menschlichem Leben
sagen würde – zu eigenen Nachfolgern, zu eigenen Kin-
dern. Es ist aber eine sehr bewusste Entscheidung.

Herr Zöller hat in seiner Rede ein Zitat von Johannes
Rau bemüht, und auch von vielen anderen habe ich das
Argument gehört, dass es natürlich kein Recht auf ein
Kind und schon gar nicht auf ein gesundes Kind gibt. Ich
muss Ihnen aber ganz ehrlich sagen, auch aus eigenem
Erleben: Ich empfinde solche Bemerkungen als sehr ver-
letzend, weil sie einem das Recht auf das, was man sich
vielleicht am meisten wünscht, absprechen. Das finde
ich nicht in Ordnung; das muss ich Ihnen so deutlich sa-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und der FDP)


Ich kenne sehr viele ungewollt kinderlose Paare, auch
solche, die wegen genetischer Probleme kinderlos sind.
Bei vielen dieser Frauen kam es zu Schwangerschaften,
die zum Teil erfolglos verlaufen sind oder bei denen die
Kinder kurz nach der Geburt gestorben sind.

Meine Damen und Herren, ich selbst bin jetzt seit fast
zwei Jahren der glücklichste Vater der Welt, auch ohne
die PID. Ich möchte, dass alle Eltern, denen geholfen
werden kann, ihren Wunsch nach einem Kind zu erfül-
len, dieses Glück, das ich jetzt mit meiner Frau teilen
kann, ebenfalls erleben können – und sei es durch die
PID.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712004000

Die nächste Rednerin ist Silvia Schmidt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1712004100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! PID ist ein Thema, das ein hohes
Maß an Aufmerksamkeit verdient; denn es geht um eine
ethische Grundentscheidung, es geht um gesellschaft-
liche Werte und um Menschenwürde. Der Deutsche
Bundestag kommt dieser schwierigen, aber notwendigen
Aufgabe nach. Er hat in den zurückliegenden Debatten
gezeigt, dass das Thema trotz unterschiedlichster Auf-
fassungen würdevoll behandelt wird.

Als Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfrak-
tion ist es mir wichtig, dass die Debatte um die UN-Be-
hindertenrechtskonvention ebenso geführt wird. Denn
sie ist eine Menschenrechtskonvention und damit ein
wichtiger Grundpfeiler für unseren Umgang mit Men-
schen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Frauen und Familien, die bereits ein Kind mit Behin-
derung haben, werden oft mit einem großen gesellschaft-
lichen Druck konfrontiert. Sie müssen sich angesichts
der technischen Möglichkeiten der PID und der PND die
Frage gefallen lassen, warum sie dieses Leid in Kauf
nehmen, warum sie sich für ein schweres, mühevolles
Leben mit einem behinderten Kind entscheiden. Aussa-
gen wie „Das muss doch nicht sein“ und „Heute ist doch
schon alles möglich“ gehören bei diesen Familien zum
Alltag. Für sie entsteht so der moralische Druck, sich
Verfahren zu unterziehen, wenn ein genetisches Risiko
bekannt ist. Das zeigt sich mir immer wieder in meinen
Gesprächen. Frauen und Familien haben Angst vor ge-
sellschaftlicher Bewertung, Missachtung oder Ableh-
nung und nicht vor dem behinderten Kind. Sie fürchten,
alleingelassen zu werden.

Sicher, ein Kind mit Behinderung braucht intensivere
Betreuung und Unterstützung über längere Zeit. Derzeit
leisten die Frauen diese Aufgabe fast allein. Für das nor-
male Leben zu Hause in einer Familie gibt es noch keine
ausreichende Unterstützung. Eine berufstätige junge Un-
ternehmerin wie Frau Ahrend mit ihrem schwerstmehr-
fachbehinderten 17-jährigen Sohn möchte ein normales
Leben führen. Wenn sie aber um Unterstützung bittet,
gibt es nur den Vorschlag, ihren Sohn in ein Heim zu
bringen. Sie wünscht sich Familienassistenz, um ge-
nauso in der Familie leben zu können wie wir alle auch.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Nicht der Sohn ist das Problem, sondern die Gesellschaft
nimmt diese Situation noch nicht ausreichend wahr. Da-
rauf müssen wir reagieren.

Menschen und besonders Kinder mit Behinderungen,
auch mit Schwerstmehrfachbehinderungen, sind das
Wertvollste in unserer Gesellschaft; denn sie befähigen
uns zur sozialen Kompetenz.





Silvia Schmidt (Eisleben)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es ist verständlich, dass Eltern ihrem Kind einen Lei-
densweg ersparen wollen. Aber wer definiert Leid? Wie
sieht die tatsächliche Lebensrealität von Menschen mit
Behinderungen aus? Menschen mit Behinderungen ha-
ben eine grundsätzlich andere Wahrnehmung ihrer Be-
hinderung. Sie wollen kein Mitleid. Viele sind glücklich
in ihrer Lebenssituation. Sie fordern Anerkennung, Ak-
zeptanz, ein Recht auf Glück, Liebe, Freundschaft und
gleichberechtigte Teilhabe, also auf ein ganz normales
Leben.

Ulla Schmidt hat das Richtige gesagt: Bei der PID
steht die Selektion am Anfang. Der Wunsch, ein gesun-
des Kind zur Welt zu bringen, setzt voraus, dass dem Le-
ben, das nicht die entsprechenden Eigenschaften hat, das
Recht genommen wird, sich weiterzuentwickeln. – Ich
stimme ihr voll zu. Ich frage Sie auch: Was ist mit den
behinderten Frauen, die einen Kinderwunsch haben?
Bringen wir ihnen kein Vertrauen entgegen? Ihnen wird
es in aller Regel ausgeredet, ein Kind zu bekommen. Ih-
nen wird in erster Linie gesagt, sie sollten sich sterilisie-
ren lassen. Warum wird der einen Familie alles ermög-
licht, um ein Kind zu bekommen, und der anderen
Familie dieser Wunsch abgeschlagen? Messen wir in un-
serer Gesellschaft hier mit zweierlei Maß?

Der bekannte Schauspieler und Philosoph Dr. Peter
Radtke hat in der Anhörung berichtet, welche Signalwir-
kung von der PID ausgeht. Die PID suggeriert, dass an-
geborene Behinderungen nicht da sein müssten; man
könnte sie ja verhindern. Somit teilt sie die Menschen
mit Behinderung in zwei Gruppen ein: die Gruppe derer,
die im Laufe ihres Lebens eine Behinderung erfahren,
und die Gruppe derer, die von Geburt an eine Behinde-
rung haben. Letztere müsste es dann nach dem Stand der
Technik und Wissenschaft gar nicht mehr geben. Damit
fühlen sich diese Menschen abgewertet.

Er hat noch eine andere Angst, und die ist sehr real.
Die UN-Behindertenrechtskonvention darf in der öffent-
lichen Wahrnehmung nicht hinter der PID-Debatte zu-
rücktreten.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Sie ist nämlich der Ausgangspunkt eines Menschenbil-
des, nach dem Behinderung ein Teil der gesellschaft-
lichen Vielfalt und in jeder Hinsicht gleichberechtigt ist,
vor und nach der Geburt.

Vielleicht bin ich egoistisch, weil ich den Kinder-
wunsch der betroffenen Familien zwar verstehen, aber
nicht unterstützen kann. Ich bin egoistisch, weil meine
Freunde mit Behinderung für mich eine große Bereiche-
rung sind, weil ich Thomas mit dem Down-Syndrom,
der nicht anders, nicht besser und nicht schlechter ist als
wir alle, nicht missen möchte, ebenso wenig wie die
kleine Sidney May, die am 17. Juni 2011 geboren ist und
am 24. Juni 2011 gestorben ist. Sie wird morgen zu
Grabe getragen. Ihre Mutter hat jeden Moment, jede Se-
kunde des Lebens mit ihr genossen, und sie ist dankbar
dafür. Sie sagt, sie hat so viel Liebe im Herzen für Kin-
der, dass sie durchaus bereit ist und sich wünscht, diese
Liebe auch Kindern zu geben, die nicht ihre eigenen
sind.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712004200

Der Kollege Dr. Erik Schweickert hat das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1712004300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe mir lange überlegt, welchen Antrag ich unter-
stützen werde, und bin nach reiflicher Überlegung zu
dem Entschluss gekommen, dass ich für den Antrag der
Kolleginnen Flach, Reimann und anderer stimmen
werde. Ich habe mir auch lange überlegt, ob ich heute
hier dazu sprechen soll, aber ich glaube, ich bin es mei-
ner Familie aufgrund vieler Gespräche und Erfahrungen,
die ich in sehr schweren Stunden gesammelt habe, schul-
dig.

Ich bin seit zwei Jahren und zwei Monaten stolzer Va-
ter einer Tochter. Ich bin wirklich froh darüber, dass ich
das Glück hatte, eine Tochter zu haben – das stand sehr
lange auf der Kippe – und auch meine Frau noch haben
zu dürfen. Wenn man sich in solch einer Situation befin-
det und nicht nur einen Tag, sondern eine längere Zeit
auf der Kinderintensivstation verbringt, kommt man mit
Menschen zusammen, die nicht so viel Glück haben wie
man selbst. Man steht vor dem Brutkasten und unterhält
sich. Man hat beim Kangarooing das Frühgeborene auf
dem Bauch und unterhält sich. Wenn man die Geschich-
ten dieser Familien hört, dann weiß man, dass es sich bei
diesen Familien ganz sicherlich nicht um diejenigen han-
delt, die draußen auf Demos oftmals als Menschen be-
zeichnet werden, die sich ein Designerkind oder so et-
was wünschen. Es sind Familien, die teilweise schon ein
behindertes Kind haben. Es sind Familien, die teilweise
eine Schwangerschaft hinter sich haben, bei der es – so
war es auch bei uns – wirklich auf der Kippe stand, ob
Mutter und Kind überleben. Es sind Familien, die schon
ein behindertes Kind aufgezogen haben; sie wissen, was
das bedeutet, und können gut einschätzen, dass auch hier
Leben und Freude beisammen sein können.

Wir sagen immer: Jeder Mensch ist individuell. Ich
glaube, nach solch einer Erfahrung ist jeder Mensch in-
dividuell fähig, zu entscheiden, ob er die Belastung, die
mit der Geburt eines behinderten Kindes, einer Totge-
burt oder einem schwierigen Schwangerschaftsverlauf
verbunden ist, noch einmal auf sich nehmen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und der LINKEN)


Wenn man mit diesen Paaren zusammensitzt, dann
kommt die Diskussion auf, in der es heißt: In Belgien
hätten wir Möglichkeiten gehabt. – Ich sehe nicht ein,
dass ich – damals war ich noch nicht im Deutschen Bun-
destag – diesen Paaren die Hilfe nun verweigern soll.

Wenn man solche Geschichten erlebt hat, dann kann
man mit großer Überzeugung sagen, dass hier sehr ver-





Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)

antwortungsvoll gehandelt wird. Wir machen ein Gesetz
für wenige Hundert Menschen, nicht für die Allgemein-
heit. Ich werde diesem Gesetz deshalb zustimmen, weil
es – anders, als es oftmals dargestellt wird – keine unbe-
schränkte Zulassung der PID, sondern eine Zulassung
nur in ganz speziellen Fällen vorsieht. Jedes Paar, das
eine entsprechende genetische Disposition hat, wird sich
sehr wohl überlegen, ob es ein zweites Kind bekommen
möchte oder nicht, weil Gefahren bestehen, die abgewo-
gen werden müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bun-
destages, aus diesem Grund kann ich nur an Sie appellie-
ren: Verwehren wir diesen Paaren die notwendige Hilfe
bitte nicht! Ich bin mir angesichts meiner Erfahrungen
sicher, dass die betroffenen Eltern sehr wohl wissen, was
sie tun; das ist alles andere als eine einfache Entschei-
dung.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712004400

Birgitt Bender hat das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712004500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Schweickert, Sie sprechen von der Verweige-
rung von Hilfe, wenn man die PID nicht zulasse. Der
Kollege Hintze hat heute Morgen gefragt, ob „wir nicht
zur Hilfe aufgefordert“ seien und deshalb die PID er-
möglichen sollten.

Auch ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. In
meiner Stuttgarter Heimat gibt es eine Beratungsstelle,
die Paaren im Schwangerschaftskonflikt nach Pränatal-
diagnostik beisteht. Die Beraterin hat von einem Paar
berichtet, dem aufgrund einer erblichen Belastung gera-
ten wurde, im Ausland eine PID vorzunehmen. Das hat
es getan. Es hat kein Kind. Aufgrund der Hormonstimu-
lation hat die Frau einen Eierstock verloren. Der zweite
ist schwer beschädigt, sodass die Wahrscheinlichkeit,
auf natürlichem Wege ein Kind zu bekommen, auf bei-
nahe null gesunken ist. Die Frau ist völlig fertig und be-
reut, dass sie sich diesem Verfahren ausgesetzt hat.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr
Hintze, ist das Hilfeversprechen, mit dem man sugge-
riert, man könne Paaren ein gesundes Kind sozusagen
liefern, nichts anderes als der Wunschtraum von Techno-
kraten. Die Lebenswirklichkeit sieht anders aus.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Es ist doch so: Ein Paar, dem gesagt wird, dass es mit
einer 25-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein behinder-
tes Kind bekommt, hat eine immerhin 75-prozentige
Chance, ein gesundes Kind zu bekommen. Mit der PID
sinkt die Wahrscheinlichkeit, überhaupt ein Kind zu be-
kommen, auf unter 20 Prozent.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)

Hinzu kommen das Risiko schwerwiegender Gesund-
heitsschäden – bis hin zum Tod – und das Trauma, wenn
es dann doch wieder nicht geklappt hat; oder das Kind,
das geboren wird, ist aus anderem Grund krank.

Herr Hintze, Sie haben gesagt, die Emanzipation von
der Natur sei angesagt. Als Mitglied einer ökologischen
Partei finde ich das ohnehin befremdlich. Ich möchte Sie
aber auch daran erinnern, dass die Emanzipation von der
Natur ein alter sozialistischer Wunschtraum ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ich wundere mich, dass große Teile der Union auf die-
sem Weg unterwegs sind.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ein kleiner Teil!)


Vielleicht wollen Sie das einmal überprüfen.

Nicht jedes Argument, das in den letzten Wochen in
den Debatten gefallen ist, ist reif für das philosophische
Kolloquium. Ich finde aber, auch solche Argumente ge-
hören hierher. Mir ist in den letzten Wochen mehrmals
die Frage gestellt worden, wie ich in folgendem Fall
handeln würde: Das Krankenhaus brennt, und ich kann
nur einen Menschen retten. Entscheide ich mich für die
Petrischale oder für ein lebendiges Kind? Damit soll
wohl gesagt werden, es könne eine Verantwortung für
die 16-Zeller in der Petrischale nicht geben. Das sehe ich
anders. Ich will Ihnen sagen, warum: weil diese Embryo-
nen nicht durch Sex in die Petrischale gekommen sind
und weil sie da auch nicht aus irgendeinem großen Teich
hingeschwommen sind, wie man Kindern früher den Akt
der Zeugung zu erklären versucht hat, sondern weil diese
Embryonen in einer Arztpraxis nach Hormonstimulation
und operativer Eientnahme erzeugt worden sind, und
zwar in größerer Zahl.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Man braucht nämlich mindestens acht dafür. Diese Em-
bryonen sind zu einem einzigen Zweck erzeugt worden,
nämlich um ein Auswahlangebot zu schaffen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


damit man die Auswahl zwischen gesunden und solchen,
die wahrscheinlich krank oder behindert sein werden,
hat.

Frau Flach, nach Ihrem Gesetzentwurf soll es sogar
möglich sein, dass ein Embryo aussortiert wird, der nur
eine Anlage für eine Behinderung in sich trägt, aber sel-
ber die Chance hätte, zu einem gesunden Kind zu wer-
den. Dazu muss ich Ihnen sagen: Eine solche Auswahl
unterscheidet sich grundsätzlich von einer Abtreibung;
denn da findet eine Abwägung statt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Bei der PID wird nur aussortiert,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)






Birgitt Bender


(A) (C)



(D)(B)

und das ist ein Verfahren, mit dem ich mich nicht abfin-
den kann. Da sehe ich die gesellschaftliche Verantwor-
tung, das nicht zu ermöglichen.

Frau Flach, Herr Hintze und all die anderen, die die-
sen Gesetzentwurf unterstützen, wenn man genau hin-
schaut, merkt man, dass Sie ein bestimmtes Unbehagen
treibt. Sie reden zwar von der Freiheit der Paare und sa-
gen, dass man ihnen diese Möglichkeit nicht nehmen
sollte. Sie trauen dieser Freiheit aber nicht; denn Sie
schalten eine Ethikkommission dazwischen. Sie werden
Ihre Gründe dafür haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Sie haben den Gesetzentwurf nicht richtig gelesen!)


Sie trauen sich auch nicht, zu sagen, dass dieses Verfah-
ren die Auswahl zwischen mindestens acht Embryonen
bedeutet, dass man die Dreierregel des Embryonen-
schutzgesetzes ändern muss. Diese Dreierregel haben
wir geschaffen, um die Entstehung überzähliger Embry-
onen, die man dann vernichten würde, zu verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Warum schreiben Sie das nicht ins Gesetz? Weil Sie wis-
sen, dass da viele Fragen entstehen. Eine Frage lautet:
Was passiert mit überschüssigen Embryonen? Die sollen
offenbar vernichtet werden. Man mag das für richtig hal-
ten.

Ich will aber noch eine andere Frage aufwerfen. Frau
Flach, Sie waren einmal forschungspolitische Sprecherin
Ihrer Fraktion und kennen doch die Community. Glau-
ben Sie wirklich, dass es, wenn es Embryonen gibt, die
den Stempel „Du bist doch sowieso krank und wirst des-
wegen nicht implantiert“ tragen, nicht ein Interesse der
Forscher geben wird? Glauben Sie nicht, dass die dann
sagen werden: „Oh, da könnten wir doch mit embryona-
lem Material wunderbar forschen; denn die Embryonen
werden sowieso nie gebraucht“? Welche Art von Debat-
ten werden wir dann hier führen?


(Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Falls Ihr Gesetzentwurf – was ich nicht hoffe – die
Mehrheit bekommt, dann, glaube ich, werden wir Debat-
ten haben, die wir alle nicht wollen. Deswegen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie, für ein Verbot
der PID zu stimmen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712004600

Sören Bartol hat das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1712004700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In meiner Heimatstadt Marburg hat sich – aus-
gehend von Institutionen wie zum Beispiel der Blinden-
studienanstalt oder der Bundesvereinigung Lebenshilfe –
eine Kultur etabliert, in der Menschen mit verschiedens-
ten Behinderungen immer mitgedacht werden und in der
Behinderte schon seit vielen Jahren ganz selbstverständ-
lich mitgestalten, und das ziemlich erfolgreich. Nicht zu-
letzt diese Tatsache hat dafür gesorgt, dass Politik für
Menschen mit Behinderungen einen besonderen Stellen-
wert für mich hat. Deshalb ist es mir wichtig, gleich am
Anfang meiner Rede klarzustellen: Menschen mit Behin-
derungen müssen ihre eigene Existenz nicht rechtferti-
gen,


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


und Eltern müssen sich nicht dafür rechtfertigen, dass sie
ein behindertes Kind haben. Vielmehr müssen die Be-
dingungen für behinderte Menschen in allen Bereichen
der Gesellschaft immer weiter verbessert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der Linken)


Dazu hat sich Deutschland auch mit dem Beitritt zur
UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Der Stel-
lenwert von Menschen mit Behinderungen in einer Ge-
sellschaft hängt deshalb nicht von einer begrenzten Zu-
lassung oder dem Verbot der Präimplantationsdiagnostik
ab. Ausschlaggebend ist, wie gut es der Gesellschaft ge-
lingt, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimm-
tes Leben zu ermöglichen und Vorurteile endgültig zu
beseitigen. Dies ist eine immerwährende gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe.

Anfang des Jahres lud ich in Marburg zu einem nicht-
öffentlichen Gespräch über die Präimplantationsdia-
gnostik ein. Es war bekannt, dass ich zu einer begrenzten
Zulassung der PID tendiere. Ich war auf Anwürfe von
verschiedenster Seite gefasst und erwartete eine Diskus-
sion, in der jeder seine Maximalposition vertreten
würde. Doch es kam anders. Es wurde ein besonnener
und sehr konstruktiver Dialog. Natürlich blieben unter-
schiedliche Bewertungen. Große Übereinstimmung gab
es aber bei der Einschätzung, dass die Ermöglichung der
PID in eng begrenztem Rahmen nicht zu einer Entwer-
tung behinderten Lebens führen würde. Diese Einschät-
zung von so verschiedenen Experten und Interessenver-
tretern hat mich damals in meiner Entscheidung bestärkt.

Auch ich sehe es als staatliche und gesellschaftliche
Verpflichtung an, Leben zu schützen. Dazu gehört, dass
mit Embryos nur im Rahmen strenger gesetzlicher Maß-
gaben umgegangen werden darf. Dazu gehört aber ins-
besondere auch geborenes Leben. Dies schließt den
Schutz von Frauen vor schwersten körperlichen und see-
lischen Belastungen und Gefahren im Hinblick auf eine
Schwangerschaft mit ein, ebenso die Vermeidung von
Spätabbrüchen, die oftmals bereits selbstständig lebens-
fähige Embryos betreffen.

Die PID grundsätzlich zu untersagen, hieße, sich der
Not betroffener Paare zu verschließen. Ich möchte, dass
sich auch Menschen, deren Nachkommen mit hoher
Wahrscheinlichkeit unter einer schwerwiegenden Erb-
krankheit leiden werden, für ein Kind entscheiden kön-
nen. Ich möchte auch, dass diesen Eltern die schreckli-
che Erfahrung von Fehl- und Totgeburten so weit wie
möglich erspart bleibt. Eine PID kann überhaupt nur bei





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)

künstlichen Befruchtungen in Betracht gezogen werden.
Das kann nicht oft genug betont werden. Wir reden hier
nicht über ein mögliches Standardverfahren bei jeder
Schwangerschaft.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Künstliche Befruchtungen – liebe Kollegin Bender, da-
rauf haben Sie hingewiesen – sind körperlich und mental
sehr belastend. Wir müssen Frauen, die eine solche
Bürde auf sich nehmen und für deren Kind dann auch
noch eine reale Gefahr besteht, an einer schweren, nicht
behandelbaren Erbkrankheit zu leiden, die Möglichkeit
eröffnen, unter enggesetzten Voraussetzungen eine PID
durchführen zu lassen.

Eine Entscheidung über die Präimplantationsdiagnos-
tik bedeutet Abwägung. Auf der einen Seite stehen der
Schutz von ungeborenem Leben und die Stellung von
Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft, also
prinzipielle ethisch-moralische, aber auch religiöse Be-
denken. Auf der anderen Seite geht es um den Wunsch
von Paaren nach Kindern, um die Selbstbestimmung der
Frau und um die Vermeidung von seelischem und kör-
perlichem Leid. Deshalb wäre eine starre Entscheidung
für oder wider PID nicht angemessen.

Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen Flach,
Hintze, Reimann und vieler anderer Kolleginnen und
Kollegen hier im Haus, den auch ich unterstütze, sieht
ein PID-Verbot vor, von dem es wenige Ausnahmen ge-
ben soll, Ausnahmen in sehr engem Rahmen, nach posi-
tivem Bescheid einer Ethikkommission für jeden Einzel-
fall und nach einer eingehenden Beratung der Frauen
bzw. der Paare. Ich bin davon überzeugt, dass dieser An-
satz der richtige ist und dem komplizierten Sachverhalt,
über den wir hier heute reden, gerecht wird. Deshalb
werde ich diesem Gesetzentwurf zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712004800

Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712004900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über
das Bild vom Menschen, das unser gesellschaftliches
Zusammenleben prägt. Dies ist ein philosophisches
Thema, für manche ist es ein theologisches; aber wir
treffen am Ende eine politische Entscheidung.

Welche Erwartungen würden denn geweckt, wenn
auch nur der Anschein entstünde, man könne die Geburt
eines gesunden Kindes garantieren? Es gibt keine per-
fekten Menschen; niemand von uns ist das.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das, was hier als „medizinischer Fortschritt“ daher-
kommt, ist geeignet, Illusionen zu nähren, dass eines Ta-
ges doch so etwas wie „ewige Gesundheit“, „ewige
Schönheit“, womöglich gar „ewiges Leben“ herstellbar
sein könnte.

Ich verstehe jeden Kinderwunsch; jede und jeder, die
hier sprach, betonte das. Aber – das sagte ich bereits in
der ersten Lesung – es gibt kein Recht auf ein Kind, erst
recht nicht auf ein makelloses Kind; allenfalls – das ist
hier weniger betont worden – gibt es den Anspruch auf
Elternschaft. Deshalb wiederhole ich: Adoptionen sind
alles andere als zweite Wahl. Ich wiederhole das hier
deshalb, weil mich viele Menschen genau in dieser Aus-
sage bestärkten. Das ist die Alternative, nicht die Vor-
Auswahl im Reagenzglas!


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wir brauchen gar nicht weit in die Zukunft zu blicken
und auch nicht über die Ausbreitung illusionärer
Wunschvorstellungen zu spekulieren. Ich möchte Ihnen,
meine Damen und Herren PID-Befürworterinnen und
-Befürworter, eine ganz irdische Frage stellen: Wir wol-
len Sie allen Ernstes verhindern, dass in gar nicht allzu
ferner Zeit, zum Beispiel unter Berufung auf den Gleich-
behandlungsgrundsatz, auch nichtbelastete Paare wäh-
rend der künstlichen Befruchtung eine PID für ihre Em-
bryonen erstreiten?


(Zuruf von der SPD: Ja!)


Weiter: Wie wollen Sie verhindern, dass, weil die Zelle
schon untersucht, also zerstört, worden ist, nicht auch
gleich einmal nach anderen Erbanlagen geschaut wird,
beispielsweise nach spätmanifestierenden? Wie wollen
Sie allen Ernstes verhindern, dass aus dem Kinder-
wunsch bald auch Wunschkinder mit speziell geplanten
Eigenschaften werden?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der CDU/CSU)


Die Versuchung ist jedenfalls groß, sowohl bei Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern als auch bei Ärztin-
nen und Ärzten als auch bei Klinikbetreiberinnen und
Klinikbetreibern und nicht zuletzt bei potenziellen El-
tern. Wenn es uns um das Menschenbild geht, muss ich
daran erinnern, welche Schritte logischerweise folgen,
wenn wir heute kein deutliches „Halt!“ setzen.

Ein weiterer Punkt, auf den ich häufig angesprochen
wurde, war die Aussage, dass jede Debatte über Präim-
plantationsdiagnostik die Frage nach dem Wert oder
eben auch Unwert menschlichen Lebens stellt, ob wir es
wollen oder nicht. Lassen Sie uns also bitte eine Ent-
scheidung treffen, die niemandes Leben abwertet.


(Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD)


Besondere Beachtung, sei es in Form von Zustim-
mung, sei es in Form von Ablehnung, fand meine Aus-
sage, dass ich Dutzende von Frauen und Männern unter-
schiedlichen Alters kenne, die angesichts der aktuellen
Debatte und der damit verbundenen Erwartungen nichts
anderes denken können als: Hätte diese Möglichkeit





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)

schon vor meiner Geburt existiert, gäbe es mich nicht. –
Sie, diese Menschen, nehmen die PID und übrigens auch
die Auswirkungen der Pränataldiagnostik sehr persön-
lich. Sie haben schlicht Angst, per Gesetz als „nicht nö-
tig“, als „vermeidbar“ zu erscheinen.

Zustimmung kam von denen, die in genau dieser Lage
sind. Sie hatten das Gefühl, dass ihre Lebensinteressen
gegen den Wunsch einiger Paare nach einem genetisch
eigenen Kind, nach einem genetisch eigenen, gesunden
Kind ausgespielt werden. Die Ablehnung bestand darin,
dass man mir unfaire Stimmungsmache vorwarf, weil
ich Emotionen heraufbeschwört hätte. Ja, dazu bekenne
ich mich: Diese Debatte ist hochemotional.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Heute werden wir abstimmen. Auch diejenigen von
Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen, die sich bisher
nicht festlegten, werden sich entscheiden. Ich versuche,
Sie von der Richtigkeit eines vollständigen PID-Verbots
zu überzeugen. Deshalb wiederhole ich: Niemand be-
streitet, dass ein Leben mit schweren Beeinträchtigun-
gen weder sonderlich wünschens- noch gar erstrebens-
wert ist. Wer aber ein solches Leben führt, für die- oder
denjenigen gibt es nichts Wichtigeres. Es ist nämlich das
einzige Leben. Es hat gute und weniger gute Tage, trau-
rige und weniger traurige Momente, Erfolgs- und Miss-
erfolgserlebnisse. Aber: Es ist das Leben.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich möchte zwei weitere Argumentationslinien in-
frage stellen, über die eine mehr oder weniger begrenzte
Zulassung der PID befürwortet wird. Da hören wir ers-
tens das Argument, sie sei nur eine kleine Ergänzung des
ohnehin seit Jahren bestehenden Reproduktionsrechts.
Zweitens sagt man, die PID sei in vielen anderen Län-
dern gang und gäbe; wir würden also nur den PID-Tou-
rismus derjenigen, die es sich leisten können, organisie-
ren. Ich bitte Sie: Wieso müssen wir einen Weg
weitergehen, von dem wir wissen – zumindest ahnen wir
es –, dass er ein Irrweg ist? Mag sein, dass wir zum ge-
genwärtigen Zeitpunkt nicht die Kraft aufbringen, ge-
meinsam umzukehren; aber innehalten können wir.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wir können unsere ethischen Maßstäbe offensiv vertre-
ten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen:
liebe noch suchende Kolleginnen und Kollegen, spätes-
tens seit der UN-Behindertenrechtskonvention wissen
wir und wollen wir, dass Menschen mit Behinderungen
Teil der Menschheit, Teil unseres gesamten Wirs sind.
Sie gehören dazu. Wir wissen, dass noch große Anstren-
gungen erforderlich sind, ihnen gleiche Teilhabe und
freie Persönlichkeitsentfaltung zu verschaffen. Es ist viel
besser, diese Bedingungen zu schaffen, als vergeblich zu
versuchen, Menschen, die anders sind, zu verhindern.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712005000

Michael Kretschmer hat das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1712005100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ge-

spräche zum Thema PID verlaufen anders als diejenigen,
bei denen es um die embryonale Stammzellforschung
oder ähnliche ethische Themen geht. Man merkt ganz
schnell, dass es viele Betroffene gibt. Viele Leute ken-
nen in ihrer Familie oder bei ihren Freunden Fälle von
künstlicher Befruchtung. Man ist erstaunt darüber, wie
viele Personen, die man kennt und von denen man es
nicht gedacht hätte, ins Ausland gehen – nach Tsche-
chien fahren, nach Österreich reisen, nach Barcelona
fliegen –, um dort eine künstliche Befruchtung oder PID
vornehmen zu lassen. Das zeigt, dass wir viel weiter
sind, als wir es uns vielleicht eingestehen wollen.

Ich habe mich entschieden, für eine begrenzte Zulas-
sung einzutreten, weil wir eine widerspruchsfreie, eine
konsistente Lösung brauchen. Wir haben eben nicht ein
weißes Blatt vor uns und können nicht neu entscheiden.
Vielmehr wurden in diesem Bereich in der Vergangen-
heit sowohl hier als auch vor Gericht viele ethische Ent-
scheidungen getroffen, die mittlerweile gesellschaftlich
akzeptiert sind.

Es gibt Pränataldiagnostik; es gibt die Polkörperchen-
Untersuchung; es gibt die Spirale. Meine Damen und
Herren, es gibt viel zu viele Abtreibungen, nämlich
110 400 pro Jahr. Ich halte das für einen ganz dramati-
schen Wert, über den es sich zu reden lohnt. Über
110 000 Abtreibungen muss es in einem aufgeklärten
Land wie Deutschland nicht geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Außerdem gibt es die künstliche Befruchtung. Ohne
die künstliche Befruchtung würden wir über PID über-
haupt nicht sprechen. Sie ist aber gewollt. Es gibt Bun-
desländer, die sogar stolz darauf sind, dass sie noch den
vierten, fünften oder sechsten Versuch finanziell unter-
stützen, wenn die Krankenkassen schon nicht mehr be-
zahlen.

Wenn man an diesem Punkt ist, muss man sich dieser
Sache auch stellen und kann nicht sagen: Nein, ich will
damit nichts zu tun haben; ich will über diese Frage
nicht reden. Schließlich kann der Arzt bei der Untersu-
chung sehen, ob eine befruchtete Eizelle lebensfähig ist
oder nicht. Man kann doch nicht sehenden Auges die El-
tern, insbesondere die Mütter, in die Situation bringen,
dass sie am Ende das dramatische Erlebnis einer Totge-
burt erleiden oder zu entscheiden haben, eine Abtrei-
bung vornehmen zu müssen, wenn man es vorher anders
klären kann.

Zugegebenermaßen geht es um eine geringe Anzahl
von Fällen, vielleicht um wenige Hundert. Das sind aber
dramatische Fälle. Diesen Menschen muss man zu hel-
fen versuchen. Das steht für mich außer Frage.





Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist kein weißes Blatt. Man muss die vorhandenen
Dinge zur Kenntnis nehmen und auf diesen Entscheidun-
gen aufbauen.

Deswegen haben wir uns für eine Lösung ausgespro-
chen, die klar auf schwere bzw. schwerste erbliche Vor-
erkrankungen begrenzt ist. Das entspricht dem, was der
Bundesgerichtshof jetzt entschieden hat. Die PID ist in
solchen Fällen zulässig. Deswegen wäre es meines Er-
achtens gut, sie heute auch vom Verfahren her zu klären.

Wir haben gesagt: Diese Behandlung soll nur an we-
nigen Zentren vorgenommen werden; vorher soll eine
Ethikkommission entscheiden. Ich halte es für richtig,
dass in dieser Situation tatsächlich nur unter klaren Kri-
terien eine Behandlung vorgenommen wird und dass
Ärzte sowie Theologen noch einmal die Möglichkeit ha-
ben, zu beraten und am Ende entweder „Nein, wir raten
davon ab“ oder „Ja, wenn die Mutter das möchte, soll es
so sein“ zu sagen.

Meine Damen und Herren, in der Tat sind die Situa-
tion und die Geschichten, die wir erzählt bekommen, in
einem solchen Maße dramatisch und anrührend, dass
man sich nicht einfach wegducken kann, ohne darüber
zu reden.

Diese Debatte war sehr sachlich und von gegenseiti-
ger Rücksichtnahme und Akzeptanz geprägt. In den letz-
ten Wortmeldungen gab es allerdings einen Zungen-
schlag, der mir überhaupt nicht gefällt. Ich finde, dass
wir ihn auch nicht hineinbringen sollten. Wir dürfen un-
sere Wissenschaft nicht in den Verdacht bringen, dass sie
leichtfertig oder unethisch vorgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es sind dieselben Wissenschaftler, von denen wir uns in
schwersten Fällen – wenn wir selbst erkranken oder
wenn es um die Medizin im Allgemeinen geht – Hilfe
erwarten, die wir jetzt hier so leichtfertig in den Verdacht
setzen.

Nein, die deutsche Wissenschaft hat klare Regeln.
Wir können froh darüber sein, dass wir die Leopoldina,
die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den Wissen-
schaftsrat und unsere Wissenschaftsorganisationen ha-
ben, die uns mit Rat zur Verfügung stehen, und wir soll-
ten hier nicht leichtfertig irgendwelche Verdächtigungen
aussprechen. Sie sind unbegründet. Wir können froh
sein, dass wir die deutsche Wissenschaft haben.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712005200

Die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt

das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1712005300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Es ist nicht leicht und vielleicht sogar un-
möglich, hier irgendeinen intellektuellen Schachzug, ir-
gendeine sprachliche Raffinesse aufzubieten, die Sie
überraschen und überzeugen könnte, nachdem so viele
Argumente ausgetauscht wurden. Ich stehe hier, um mit
aller Eindringlichkeit dafür zu werben, dass Sie die PID
nicht zulassen. Es geht bei der PID auch um das, was Vo-
raussetzung dafür ist, dass menschliches Leben entsteht.
Einem Leben, das entstanden ist, wird womöglich das
Lebensrecht nicht zugestanden, weil es einen Test nicht
bestanden hat, weil es Standards nicht erfüllt.

Wir könnten hier die medizinische Dimension be-
leuchten: Wie wahrscheinlich ist das? Wie hoch ist die
Baby-take-Home-Rate? Was muten sich die Frauen zu?
Ich muss sagen: Das sind für mich nicht die entscheiden-
den Argumente. Ich maße mir nicht an, für eine Frau die
Entscheidung zu treffen, welcher Leidensdruck höher
ist. Ist es der Leidensdruck, diese Prozeduren durchzu-
führen bzw. über sich ergehen zu lassen, oder ist es der
Leidensdruck, sich den Kinderwunsch nicht erfüllen zu
können? Darin sehe ich nicht die Aufgabe des Staates.
Ich könnte mich als Juristin hier hinstellen und sagen:
Das Bundesverfassungsgericht hat 1975 entschieden,
dass mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle die
Sache entschieden ist. Das würde dem Konflikt, um den
es geht, und der Situation der Eltern nicht gerecht.

Aber was ist dann entscheidend? Keiner von uns
kommt heute an der Frage vorbei, wann menschliches
Leben beginnt. Wir, die wir heute hier entscheiden müs-
sen, kommen nicht daran vorbei, und auch die Eltern und
Mediziner kommen nicht daran vorbei, wenn sie das
dann im konkreten Fall beantworten müssen.

Hat ein Mensch schon in diesem frühen Entwick-
lungsstadium mit wenigen Zellen die gleiche Würde und
das gleiche Lebensrecht wie der geborene Mensch, der
gesunde Mensch, der kranke Mensch, der alte Mensch?
Das ist die Kernfrage. Wer sie verneint, der kann über-
haupt keine Einwände gegen PID haben, und zwar im
umfassenden Sinne nicht. Wer sich einmal auf den
Standpunkt stellt, dass Lebensrecht und Menschenwürde
erst zu einem späteren Zeitpunkt entstehen – welcher das
sein soll, hat mir noch keiner überzeugend dargelegt –,
der braucht dem Auswahlrecht der Eltern im Prinzip
überhaupt keine Schranken zu setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß: Den Befürwortern der PID geht es heute
nicht darum, Schrankenlosigkeit zu etablieren. Sie wol-
len nicht die Wunschbabys mit vorbestimmtem Ge-
schlecht, vorbestimmter Haarfarbe und maßgeschneider-
ten Eigenschaften. Sie haben Familien im Blick, denen
man wirklich helfen möchte. Wenn man das konsequent
zu Ende denkt, dann erkennt man: Es gibt keinen Grund,
die Auswahl auf bestimmte, definierte Krankheiten zu
begrenzen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Völlig richtig!)






Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

Wenn dem Embryo in diesem Stadium das Lebensrecht
aberkannt wird, dann brauchen wir auch keine Ethik-
kommission.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Das ist der Grund, weshalb sich die restriktive Linie,
die hier aufgezeigt wird, nicht halten lassen wird. Das,
was ich hier von den Kollegen in der Debatte gehört
habe, bestärkt mich sehr in meinen Befürchtungen, dass
das nur der erste Schritt hin zur völligen Freigabe ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Ich finde in der Entwicklung des Babys keine Stufe,
von der man sagen könnte: Hier, an dieser Stelle, ändert
sich etwas so gravierend, dass man vorher noch nicht
von einem Menschen spricht, ab einem bestimmten Zeit-
punkt aber schon. Im Embryo, auch in diesem Stadium,
ist schon alles da; alles ist auf Entwicklung angelegt –
auf eine Entwicklung hin zu dem Menschen, dem wir
später womöglich begegnen, den wir womöglich sehen.
Das sagt mir nicht nur mein Verstand, das sagen mir
auch Herz und Bauch, und das war auch mein Empfin-
den in den ersten Tagen meiner Schwangerschaften. Das
ist kein Zellhaufen. Das ist ein Mensch, eine Person, ein
Du, das sich auf den Weg ins Leben gemacht hat.


(Beifall bei Abgeordneten des ganzen Hauses)


Ich habe ganz viel Sympathie für den Wunsch von El-
tern nach einem Kind. Ich kann natürlich verstehen, dass
sie sich für dieses Kind Gesundheit und eine gute Ent-
wicklung wünschen. Aber das kann die PID nicht leisten.
Sie sorgt nicht dafür, dass nur ein gesundes Kind gezeugt
wird. Sie erhöht noch nicht einmal die Wahrscheinlich-
keit. PID sorgt nicht dafür, dass von vornherein kein Le-
ben mit irgendwelchen von der Medizin, der Gesellschaft
oder der Politik definierten Defiziten entsteht, sondern sie
ermöglicht nur, dass dieses Leben in einem möglichst frü-
hen Stadium aussortiert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)


PID ist kein Ansatz für eine Heilung. Sie führt nicht
dazu, dass ein geliebtes, konkretes Kind zum Beispiel
die Krankheit Mukoviszidose nicht hat; vielmehr hätten
die Eltern ein anderes Kind. Das Kind mit der Normab-
weichung, mit der Krankheit, hätten sie verworfen und
niemals kennengelernt. Das ist der ganze Unterschied.

Um ein gesundes Kind zu haben, wird die Herstellung
weiterer überzähliger Embryonen in Kauf genommen,
denen dann kein Lebensrecht zugestanden wird. Oft
wird die Freude über das gesunde Kind nicht auf Dauer
vergessen machen können, dass auf seinem Weg ins Le-
ben einmaliges menschliches Leben zurückgelassen
wurde. Wie kann man mit diesem Wissen glücklich und
beruhigt leben? Wie kann das Kind, das das Rennen ge-
macht hat, mit dem Druck leben, dass es diese Auswahl-
entscheidung und sein Lebensrecht auf Kosten der ande-
ren rechtfertigen muss?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Richtig!)


Wie kann eigentlich ein behindertes Kind damit le-
ben, zu wissen, dass die Eltern beim nächsten Mal die
PID in Anspruch genommen haben, weil sie eine solche
Krankheit nicht noch einmal erleben wollten? Wie wol-
len wir als Gesellschaft damit leben, dass wir den An-
passungsdruck an vorgegebene Normen und Standards
erhöhen, indem wir ein Verfahren etablieren, mit dem
man möglichst früh Menschen mit Abweichungen aus-
sortieren kann? Ich meine, dieser Preis ist zu hoch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Wir wollen nicht schauen, welche Fähigkeiten fehlen
und daran ein Verdikt knüpfen, mit dem das Lebensrecht
abgesprochen wird. Wir wollen nicht so tun, als hätte
nicht jeder von uns irgendwo eine Macke. Wir wollen
das in den Mittelpunkt stellen, was jeder mitbringt. Nach
meiner Überzeugung entspricht nur das der Unantastbar-
keit der Würde des Menschen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712005400

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach-

Kasan von der FDP.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1712005500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

meine, wir haben hier eine sehr ernsthafte Debatte ge-
führt. Ich wünsche mir sehr, dass wir am Ende dieser
ernsthaften Debatte ein Ergebnis bekommen, mit dem
wir alle leben können.

Im Sommer des vergangenen Jahres hat der Bundes-
gerichtshof entschieden, dass nach dem heute noch gel-
tenden Recht die Präimplantationsdiagnostik zulässig
ist. Wir wollen heute darüber entscheiden, in welcher
Weise wir die Nutzung der Präimplantationsdiagnostik
einschränken oder ob wir sie gänzlich verbieten.

Wir alle haben sicherlich Briefe von Paaren bekom-
men, die Überträger ein schweren Erbkrankheit sind und
die Leid erfahren haben, die einen Schwangerschaftsab-
bruch vorgenommen haben, die kranke Kinder haben
sterben sehen, die sich nach einer Pränataldiagnostik
entschieden haben, einen Schwangerschaftsabbruch vor-
zunehmen. Ich meine, wir müssen darüber entscheiden,
wie wir mit diesem Thema umgehen. Wir müssen dies in
Konsistenz mit der aktuellen Gesetzgebung entscheiden.

Ein Vorredner hatte darauf hingewiesen, dass jedes
Jahr über 100 000 Schwangerschaftsabbrüchen etwa
650 000 Geburten gegenüberstehen. Schon 1999 hatte





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz
festgestellt:

Es wäre ein Wertungswiderspruch, den Paaren, bei
denen das Risiko der Übertragung eines Gendefekts
festgestellt wurde, die Präimplantationsdiagnostik
aus Rechtsgründen zu verwehren und dann diesen
Paaren gleichwohl die Durchführung der Pränatal-
diagnostik zu erlauben, die im Fall einer festgestell-
ten Indikationslage zum Schwangerschaftsabbruch
führen kann.

Wir haben hier auch gehört: Die „Pille danach“ ist
rechtmäßig, die Spirale, die die Einnistung des Embryos
verhindert, ebenfalls.

Eine befruchtete Eizelle ist der Beginn menschlichen
Lebens. Aber wir wissen auch: Nicht jede befruchtete
Eizelle wächst zum Menschen heran. Nur etwa 30 Pro-
zent der Eizellen – das haben wir in den Anhörungen ge-
hört – nisten sich ein, wachsen zu einem menschlichen
Leben heran, 70 Prozent sterben ab, und wir können
diese Embryonen in keiner Weise schützen.

Das heißt für uns: Die befruchtete Eizelle braucht die
Einnistung in die Gebärmutter. Sie braucht die Mutter.
Der menschliche Embryo ist nicht autonom lebensfähig.
Wir können dem menschlichen Embryo Rechte nicht au-
tonom zuweisen, weil er ohne Mutter nicht lebensfähig
ist.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Nur mit der Mutter können wir den Embryo schützen.

Paare, bei denen einer oder beide Partner Überträger
einer schweren Erbkrankheit sind, wissen in sehr vielen
Fällen um die in ihren Familien vorhandene Erbkrank-
heit. Ich habe in Marburg studiert, und dort gab es zu
meiner Studienzeit bereits eine Beratungsstelle für Paare
mit genetischer Belastung – lange bevor es irgendwelche
Genomuntersuchungen des Menschen gegeben hat –,
weil man aus Stammbaumuntersuchungen wusste, dass
Menschen Überträger genetischer Krankheiten sind.

Paare mit einer solchen genetischen Belastung stehen
schon im Konflikt, wenn sie sich ein gesundes Kind
wünschen. Sie können dem Konflikt nur dann auswei-
chen, wenn sie von vornherein auf eigene Kinder ver-
zichten. Dies halte ich für nicht angemessen. Ich meine:
Es gibt ein Recht darauf, sich ein gesundes Kind zu wün-
schen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wünschen kann man sich alles!)


Wir als Gesellschaft haben auch die Pflicht, diesen
Menschen die Möglichkeiten des medizinischen Fort-
schritts zu eröffnen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts der emotionalen Not von Paaren mit einer
erblichen Belastung, die sich eigene Kinder wünschen,
sollten wir für die Anwendung der PID einen rechtlichen
Rahmen schaffen. Ich habe mich entschieden, den Ge-
setzentwurf von Frau Flach, Herrn Hintze und Frau
Reimann zu unterstützen, weil ich meine, dass dieser
Gesetzentwurf am ehesten gewährleistet, dass solche
Paare entsprechende Möglichkeiten bekommen.

Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass die Eingrenzung
der Zulassung der PID schwierig ist. Aber eine solche
Schwierigkeit kann doch für uns als Gesetzgeber keine
Begründung dafür sein, ein vollständiges Verbot auszu-
sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben sehr viele gesetzliche Vorlagen, bei denen
eine Abwägung zu erfolgen hat, und wir drücken uns da-
vor nicht. Es ist richtig, dass wir bei jeder PID eine Ein-
zelfallentscheidung vorsehen. Nur so können wir unserer
Verantwortung gegenüber menschlichem Leben gerecht
werden. Ich möchte, dass die angesprochenen Paare die
inzwischen entwickelten medizinischen Möglichkeiten
erhalten, damit sie gesunde Kinder bekommen können.
Ich bin mir bewusst, dass dies nur auf wenige Paare zu-
trifft. Ich bin mir auch bewusst, dass wir keine Garantie
geben. Niemand hier hat von einem Versprechen, nie-
mand hat von einer Garantie gesprochen.

Ich meine, wir können Vertrauen in den verantwor-
tungsvollen Umgang von Eltern und Ärzten mit der PID
haben. Wir sehen die Erfahrungen aus dem benachbarten
Ausland. Ich meine, dies bestärkt uns darin, dass wir
Vertrauen haben können. Deswegen bitte ich Sie um Zu-
stimmung zu dem Gesetzentwurf der Kollegen Flach,
Hintze und Reimann.

Danke schön für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712005600

Jetzt hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das

Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ja, wir haben eine schwere, eine sehr schwere Entschei-
dung vor uns. Ganz wenige in diesem Haus werden von
Anfang an genau gewusst haben, wie es richtig ist. Wir
haben keine Entscheidung vor uns, die nur ganz wenige
Paare, die nur ganz wenige Eltern, die nur ganz wenige
Kinder betrifft, sondern wir haben eine Entscheidung
vor uns, in der es um unsere Gesellschaft als Ganzes
geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Da stehen zwei Menschen vor uns: Der eine hat eine
Behinderung, und die andere nicht. Niemand käme auf
die Idee, zu der einen zu sagen: „Wie schön, dass du auf
der Welt bist“, und zu dem anderen: Dich hätte es lieber





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

nicht geben sollen. – Wir haben ein untrügliches Gespür
dafür, dass das nicht sein darf.

Heute entscheiden wir über Verbot oder Zulassung
der PID. Wenn wir sie zulassen, machen wir genau das,
nur dass wir dem Menschen nicht direkt gegenüberste-
hen, sondern mit Blick in die Petrischale entscheiden.
Nein, es ist dann noch kein für uns erkennbarer Mensch,
der uns etwa anlächeln könnte. Aber in ihm ist alles an-
gelegt, was ihn oder sie zum Menschen machen wird,
und zwar so unterschiedlich, wie er oder sie ist. Es geht
nicht um den Streit, wann das Leben beginnt; es geht um
diese Unterschiedlichkeit und um die Frage: Wollen wir
sie in unserer Gesellschaft zulassen, ja oder nein?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Mich beunruhigt das Argument, das in der Diskussion
immer wieder zu hören war, die PID erspare eine belas-
tende Abtreibung zu einem späteren Zeitpunkt der
Schwangerschaft; es sei besser, die Embryos vorher aus-
zusortieren. Es scheint also nicht nur selbstverständlich
zu sein, dass in unserem Land Spätabtreibungen wegen
Behinderung stattfinden sollen, was ethisch höchst frag-
würdig ist; entscheidend ist, dass wir als Gesetzgeber
auch noch annehmen, wir müssten eine gesetzeswidrige
Haltung zustimmungsfähig finden. Als Gesetzgeber soll-
ten wir das definitiv nicht tun, meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)


Was ist eigentlich mit dem Selbstbestimmungsrecht
der Frau, um das es heute immer wieder ging? Was mei-
nen wir, wenn wir heute von Selbstbestimmungsrecht re-
den? Welche Frau kann sich unter den Bedingungen, die
der Gesetzentwurf Flach/Hintze vorsieht und die andere
schon vorgesehen haben, heute noch ohne gesellschaftli-
chen Druck, ohne familiäre Ansprüche, ohne Ansprüche
des Freundeskreises und ohne Druck der Ärzteschaft
entscheiden?

Die Pränataldiagnostik, die ursprünglich nur für ganz
wenige Ausnahmefälle gedacht war, ist zu einer Regel-
untersuchung geworden und wird mit entsprechendem
Druck „angeboten“; man muss das schon in Anführungs-
zeichen setzen. Damit ist das Selbstbestimmungsrecht
alles andere als gewährleistet.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)


Es sind wieder die Frauen, die das alles auf sich neh-
men sollen. Es sind die Frauen, die die Belastungen, die
durch die künstliche Befruchtung entstehen, auf sich
nehmen sollen. Es sind im Wesentlichen auch wieder die
Frauen, die letztendlich zu entscheiden haben.

Die Befürworter der PID legen großen Wert darauf,
dass sie eigentlich verboten bleibe und nur in ganz engen
Grenzen zugelassen werde. Wie belastbar ist diese Grenz-
ziehung? Ich sage Ihnen: Die Grenzen werden nicht erst
in Zukunft erweitert werden; die Erweiterung ist in die-
sem Gesetzentwurf schon angelegt.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig! Leider wahr!)


Denn erstens sind die schwerwiegenden Erkrankungen
nicht definiert. Zweitens soll es um Erkrankungen ge-
hen, die häufig erst dann auftreten, wenn man 40 Jahre
oder älter ist. Brustkrebs gehört zu diesen Erkrankungen.
Das wollen wir aussortieren. Das wollen wir verhindern.
Dem wollen wir nicht zum Leben verhelfen. Ich kann es
nicht verstehen. Diese Ausweitung der Grenzziehung
gibt es bereits heute in dem von Ihnen vorgelegten Ge-
setzentwurf.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)


Es wurde immer wieder argumentiert, es gebe die
Spirale, die „Pille danach“ etc. Bei diesen Verhütungs-
methoden geht es doch mitnichten darum, auszusortie-
ren, welches Leben wir wollen und welches Leben wir
nicht wollen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)


Hier geht es eindeutig um etwas anderes. Wir sollten sol-
che Vergleiche nicht anstellen.

Sie haben auch gesagt, dass es keine Liste geben
werde; eine Ethikkommission werde in Einzelfällen ent-
scheiden. Was glauben Sie, was mit den Einzelfällen
passiert, über die entschieden worden ist? Selbstver-
ständlich werden sie öffentlich; es wird faktisch eine
Liste geben, auf der Menschen nachsehen können, ob
sie, die mit einer Behinderung leben, aussortiert worden
wären. Dass es keine Liste gibt, ist ein Pro-forma-Argu-
ment, das dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf de-
finitiv nicht entspricht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Dass Sie nicht wagen, deutlich zu machen, dass man
mehr als drei Embryonen benötigt, wie es in der Anhö-
rung unter anderem von Herrn Hintze gesagt worden ist,
und was mit den Embryonen, die dann verworfen wer-
den, geschehen soll, halte ich für unzulässig. Sie versu-
chen, zu verwischen. Sie versuchen, mit unklaren Argu-
menten deutlich zu machen, Sie würden nur für eine
kleine Gruppe entscheiden. In Wirklichkeit ist in diesem
Gesetz schon mehr als ein Dammbruch angelegt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] und des Abg. Pascal Kober [FDP])


Zum Schluss: Die Nebenbefunde, die es bei dieser
Untersuchung geben wird – das Downsyndrom gehört
dazu –, werden nicht verschwiegen werden können; sie
werden gesagt werden, und wir werden erleben – das





Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

gibt es heute schon –, dass empfohlen wird, dass ein
Kind mit Behinderung eben gar nicht erst zur Welt kom-
men soll.

Meine Damen und Herren, wir sind nicht auf einer In-
sel. Wir diskutieren nicht für einige wenige Paare. Wir
reden über eine Gesellschaft, in der jeder seinen Platz
haben soll: die Mutter, die ohne Druck entscheidet, das
Kind, das mit oder ohne Behinderung in unserer Gesell-
schaft lebt. Ja, es geht um Hilfe, es geht um die Gewäh-
rung von Unterstützung, aber eben nicht darum, Leben
überhaupt zu verhindern oder zu verhindern, dass unter-
schiedliche Menschen auf die Welt kommen. Manche sa-
gen, das sei religiös. Ich finde, das ist zuerst einmal ein-
fach menschlich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] und des Abg. Pascal Kober [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712005700

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1712005800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich glaube, die Rede von Frau Göring-Eckardt hat
den Punkt getroffen. Im Prinzip geht es doch darum:
Kann der Embryo schon als Mensch gesehen werden,
muss er gar als Mensch gesehen werden, oder ist er et-
was anderes?

Ich halte die Position, dass der Embryo schon ein
Mensch ist, für eine religiöse Position, die ich persönlich
nicht teile.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ab wann ist er es dann?)


Sie darf auch nicht Grundlage für unsere Gesetzgebung
sein. Wenn man die Position, der Embryo sei schon ein
Mensch, zu Ende denkt, dann stellt der Einsatz der Spi-
rale zwar keine Selektion dar, aber im Prinzip die Abtö-
tung eines Menschen; denn der Mensch „Embryo“
würde durch die Spirale getötet. Wenn man den Embryo
schon als Menschen versteht, dann müsste man im Übri-
gen auch die In-vitro-Fertilisation in Gänze verbieten;
denn damit produziert man Menschen, die man dann
sterben lässt. Das ist eine Position, die völlig unhaltbar
ist, wenn man sie zu Ende denkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)


Ich respektiere diese Position als eine religiöse Position,
aber sie kann nicht Grundlage unserer Gesetzgebung
sein.

Weiterhin wird hier gesagt, PID sei der Beginn der
Selektion von Menschen. Das ist nicht richtig. Wenn
man den Embryo nicht einsetzt, dann ist das die Selek-
tion eines Embryos, aber nicht die Selektion eines Men-
schen. Aber wenn man denselben Embryo einsetzt, um
ihn als Kind spät abzutreiben, meine sehr verehrten Da-
men und Herren, dann ist das die Selektion eines Men-
schen, und das ist, wenn möglich, immer abzulehnen.
Das ist oft auch eine Verzweiflungstat, und damit
nicht immer illegal, wie Wolfgang Thierse angedeutet
hat – Schwangerschaft auf Probe –; viele der betroffenen
Frauen sind nämlich verzweifelt, und ihre seelische Ge-
sundheit ist gefährdet; von daher ist der Eingriff in die-
sem Fall legal.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Richtig!)


Er ist aber dennoch, wann immer möglich, zu vermei-
den. Daher vertrete ich die Position: Wenn es mit der
PID möglich ist, die Zahl von Spätabtreibungen auch nur
zu reduzieren, dann ist das aller Ehren wert.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Das ist ein menschliches Anliegen. Das ist ein Fort-
schritt. Das ist eine Hilfestellung.

Es ist auch kein Dammbruch. Der Dammbruch ist im
Prinzip längst dort erfolgt, wo die PND missbraucht
wird. Solche Fälle – Wolfgang Thierse, das ist völlig
richtig – gibt es. Diesen Dammbruch dürfen wir nicht
hinnehmen. Es gibt legale Fälle, es gibt aber auch ille-
gale Fälle. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie dies
genauer zu prüfen ist.

Ich sprach heute Morgen mit einem befreundeten Psy-
chiater, der Gutachten zu der Frage zu formulieren hat,
aus welchen Gründen nach der PND die Spätabtreibung
erfolgt: Ist die seelische Gesundheit tatsächlich gefähr-
det, oder handelt es sich im Prinzip um Selektion? –
Selbst dieser Gutachter kann die Antwort nicht geben.
Oft wissen die Frauen selbst die Antwort nicht. Daher
gilt es, die PND zu vermeiden, wo immer wir können.

Es gibt hier bei der Entstehung des Menschen auch ei-
nen qualitativen Unterschied. Herr Kauder, Sie haben
gesagt, nach dem Embryo gebe es bei der Entstehung
des Menschen


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nach der Verschmelzung!)


– nach der Verschmelzung – keinen qualitativen Unter-
schied. Es gibt diesen qualitativen Unterschied, den wir
rechtlich immer gewürdigt haben: Es ist die Einnistung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)


Denn ohne die Einnistung ist der Embryo nicht lebensfä-
hig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU])


Die Wissenschaft belegt ganz eindeutig – das wird sich
auch nie ändern –: Nur der nach der Verschmelzung ein-
genistete Embryo ist lebensfähig. Wenn es diesen Unter-
schied nicht gäbe, hätten wir hier ganz andere Rechtsfol-
gen zu beachten.

Ich will noch auf das Argument von Herrn Seifert ein-
gehen – ich halte dies für sehr wichtig –, dass wir hier
mit einer Diskriminierung beginnen würden. Die Diskri-
minierung von behinderten Menschen wäre unerträglich.





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

Das gilt für unser Land in ganz besonderer Weise. Un-
sere Geschichte verpflichtet uns, dass wir dieses Argu-
ment besonders ernst nehmen. Ich persönlich glaube,
dass wir mehr tun müssen, um Diskriminierung zu ver-
meiden. Die Menschlichkeit im Umgang mit behinder-
ten Menschen zeigt sich in der Art und Weise, wie wir
ihre Teilhabe organisieren. Die Menschlichkeit zeigt sich
nicht darin, wie viele behinderte Menschen wir in der
Gesellschaft haben, sondern wie wir mit ihnen umgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bitte daher Folgendes zu beachten – dies ist meine
letzte Bemerkung; denn ich habe die Redezeit schon
überschritten –: Wir, die wir uns für die PID einsetzen,
haben genau die gleiche Position zu behinderten Men-
schen wie Sie. Wir möchten, dass sich die Lebensbedin-
gungen für behinderte Menschen verbessern. Das gilt
übrigens auch für die Mütter. Herr Zöller, bitte unterstel-
len Sie den Müttern, die sich für die PID entscheiden,
nicht, sie würden ihre Kinder weniger lieben. Das
stimmt nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hat doch niemand gesagt!)


– Sie haben gesagt, die Kinder hätten ein Recht auf
Liebe. Sie haben damit angedeutet, dass die Eltern, die
sich für die PID entscheiden, ihre Kinder nicht lieben.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein! Das ist doch abwegig!)


Gerade die Eltern, die ihre Kinder lieben, leiden am
stärksten unter der Behinderung und an dem zum Teil
qualvollen Tod ihrer Kinder, den sie miterleben müssen,
wenn es zu diesen Krankheiten kommt.

Die PID ist, wie Herr Hintze gesagt hat, eine Hilfe-
stellung und ein Baustein zur Humanisierung unserer
Gesellschaft.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712005900

Jens Spahn hat das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1712006000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Lauterbach, es ist selten so deutlich gewor-
den wie in dieser Debatte – das zeigen Ihre Formulierun-
gen –, dass Sie als Unterstützer des Antrages auf Frei-
gabe der PID einem Embryo im Grunde genommen das
Menschsein absprechen. Das bestärkt mich in meiner
Überzeugung, warum ich Probleme mit den Gesetzent-
würfen habe, mit denen die PID möglich gemacht wer-
den soll.

Herr Kollege Hintze, Frau Kollegin Flach und Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, die diesen Gesetzent-
wurf unterstützen, ich bin beeindruckt, mit welcher
Überzeugung Sie hier Ihre Positionen vortragen: frei von
Zweifeln und mit dem Anspruch, das ethisch Richtige zu
tun. Ich allerdings habe viele Zweifel und viele offene
Fragen. Mir bereitet die Eindeutigkeit, mit der Sie Ihre
Position hier vertreten, große Sorge, ob alle Fragen aus-
reichend beachtet werden, insbesondere die Fragen, die
Ihr eigener Gesetzentwurf aufwirft.

Bis heute, bis zu dieser Debatte, weigern Sie sich
– mich irritiert schon, dass Sie damit in der Diskussion
immer durchkommen –, klar zu definieren, bei welchen
Erkrankungen PID möglich sein soll und bei welchen
nicht.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Sie verhalten sich zu dieser Frage nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Sie verhalten sich nicht dazu, dass die Sorge besteht,
dass die PID Schritt für Schritt ausgeweitet wird, und
dass die Entscheidungen der Ethikkommission, da es
keine klare Definition gibt, dazu führen, dass nach und
nach eine Liste entsteht.

Sie verhalten sich nicht dazu, dass es zwischen Prä-
nataldiagnostik und PID einen Unterschied gibt, was die
spätmanifestierenden Krankheiten angeht.

Sie verhalten sich nicht dazu, dass die Zentrenbildung
an sich wahrscheinlich schon eine Ausweitung bedeutet,
weil jedes Zentrum eine Daseinsberechtigung braucht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Zu alldem sagen Sie nichts. Das lässt Zweifel auf-
kommen, und diese Zweifel lassen mich Nein zu Ihrem
Antrag sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Auch eine weitere Frage beantworten Sie nicht wirk-
lich: Was passiert mit den überschüssigen Embryonen?
Es heißt dann immer – mir tut allein der Begriff weh –,
sie würden verworfen. Verworfen! Sie brauchen mehr
als drei – das ist in der Anhörung sehr deutlich gewor-
den; das ist Ihnen ja auch bewusst –, nämlich sieben,
acht Embryonen für die PID. Da bleiben welche übrig.
Ich finde, dass Sie diese Frage, was passiert mit denen,
die übrig bleiben, die das Potenzial menschlichen Le-
bens, ein Kind zu werden, in sich tragen, schon beant-
worten müssen. Einfach nur in den Gefrierschrank – das
wird als Antwort auf Dauer nicht reichen. Denn da stel-
len sich ganz andere Fragen, und auch dazu müssen Sie





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

etwas sagen. Da können Sie die Dinge nicht einfach so
offen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich habe auch Zweifel, wenn es um die Frage geht:
Was passiert eigentlich mit den weiteren Erkenntnissen,
die gewonnen werden? Die moderne Diagnostik, DNA-
Chips und anderes machen es möglich, dass wahrschein-
lich nicht nur auf die eine Erbkrankheit hin untersucht
wird, sondern dass es viele weitere Informationen gibt.
Die Frage ist schon: Wie ist denn mit diesen Informatio-
nen umzugehen? Dürfen die vorenthalten werden? Müs-
sen sie, wenn sie da sind, nicht auch mit einbezogen
werden in die Entscheidung, die dann da getroffen wird?
Angesichts dessen, was moderne Technik wahrschein-
lich noch möglich machen wird, ist das eine Frage, die
man zu Beginn einer solchen Entwicklung gleich mit be-
achten und mitdiskutieren muss, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Frau Göring-Eckardt und andere haben das ja
gerade noch einmal deutlich gemacht.

Sie haben die „Ethik des Helfens“ angesprochen, Herr
Kollege Hintze. Das suggeriert das Versprechen, dass
dank PID auf jeden Fall ein Kind zur Welt kommt und
dass ein gesundes Kind zur Welt kommt. Dieses Verspre-
chen kann PID nicht geben. Das wissen Sie. Deswegen,
finde ich, ist der Begriff „Ethik des Helfens“ an dieser
Stelle schwierig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe auch Zweifel in Bezug auf das, was in der
Folge passiert. „Dammbruch“ ist mit Sicherheit der fal-
sche Begriff. Ich habe eher die Sorge, dass das eine lang-
sam anschwellende Flut wird, jeden Tag verschieben
sich da ein bisschen die Rahmenbedingungen.

Es ist übrigens absurd, zu sagen, beim Schwanger-
schaftsabbruch und bei der PND, also bei der Pränataldia-
gnostik, hätten wir schon eine solche Entwicklung. Es
käme doch gar nicht mehr – das wurde sogar in der An-
hörung von Sachverständigen gesagt – nur auf die Ab-
wägung zwischen der Situation der Mutter und dem
Recht des Kindes an, sondern es wäre im Grunde eine
Entscheidung nach Diagnostik dann für das Kind oder
gegen das Kind. Das ist rechtswidrig. Aber es wurde so
in der Anhörung gesagt.

Es ist doch absurd, aus der Rechtswidrigkeit eines Zu-
standes, den wir heute haben, der sich eben Schritt für
Schritt durch eine Türöffnung entwickelt hat, abzuleiten,
dass man eine andere Tür öffnen könne, wobei man die
Sorge haben muss, dass sich genau das Gleiche entwi-
ckelt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube nicht,
dass ich alles weiß, schon gar nicht in diesen Fragen;
vielmehr habe ich Zweifel, große Zweifel. Ich glaube,
wenn man in einer solchen Frage Zweifel hat – diese
Entscheidung ist nicht so revidierbar wie vielleicht Ent-
scheidungen in der Energiepolitik oder bei anderen Din-
gen; diese Entscheidung weist in eine Richtung und wird
unumkehrbar sein –, dann muss man sich, glaube ich, im
Zweifel für ein Verbot entscheiden.

Es mag sein, dass ich in drei Jahren, in fünf Jahren, in
zehn Jahren klüger bin, es mag sein, dass wir diese
Zweifel, die ich habe, und die Fragen, die ich aufgewor-
fen habe, zu einem späteren Zeitpunkt so ausräumen
bzw. beantworten können, dass da keine Zweifel mehr
sind. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir im
Zweifel in einer solchen Frage die Entscheidung für das
Leben treffen müssen. Deswegen bitte ich insbesondere
die Kolleginnen und Kollegen, die sich noch nicht ent-
schlossen haben, die unentschlossen sind, die zweifeln,
sich für das Verbot zu entscheiden, weil sie eben diese
Zweifel haben und weil man im Zweifel eine solch
grundlegende Entscheidung nicht treffen sollte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712006100

Kerstin Müller hat das Wort.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier
wurde von manchen gesagt, es gehe um Kinder, um die
Selektion solcher Kinder, die lebenswert seien, und sol-
chen, die das nicht seien, weil sie behindert sind. Ich
sage: Das ist nicht richtig, und das wird auch nicht richti-
ger, wenn man es hier wiederholt.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Es geht bei der Frage, ob der Gesetzgeber die PID
verbieten oder begrenzt zulassen soll, nicht um die Se-
lektion von Menschen oder behinderten Lebens. Es geht
um den Schutz und die Achtung einer befruchteten Ei-
zelle in der Petrischale. Genauer gesagt geht es um ihren
Schutz bis zur Einpflanzung in den weiblichen Körper.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur einer!)


Schon hier beginnen meines Erachtens die Widersprüch-
lichkeiten der Position derjenigen, die ein Totalverbot
der PID in Deutschland fordern. Den absoluten Schutz,
den hier viele von Ihnen für den in vitro gezeugten Em-
bryo fordern, gewähren die meisten der Unterstützer
dem auf natürliche Weise gezeugten Embryo im Mutter-
leib seit langem nicht mehr. Warum, frage ich Sie, soll
dieses beginnende Leben, also die befruchtete Eizelle,
vor der Einnistung im Körper der Frau schützenswerter
sein als das bereits fortgeschrittene Leben im Bauch der
Frau? Das ist es nicht, und das kann es nicht sein.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Das wissen die meisten von Ihnen sehr genau. Auch
der BGH hat das sehr deutlich gemacht. Die Schutzwür-
digkeit des sogenannten werdenden Lebens steigt, je äl-





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

ter der Embryo wird, und nicht umgekehrt. Das muss in
einem Rechtsstaat so sein. Ihre Positionen sind dahin ge-
hend weiter sehr widersprüchlich. Darauf geben Sie
auch heute keine Antwort.

Noch widersprüchlicher wird es – das wurde hier be-
reits angesprochen –, wenn man bedenkt, dass den
Frauen, die ohne oder mit In-vitro-Fertilisation bzw. mit
oder ohne PID schwanger werden, ab dem 35. Lebens-
jahr die Pränataldiagnostik zur Verfügung steht. Sie wis-
sen: Werden bei dieser schwere Erbschädigungen oder
mögliche Behinderungen festgestellt, kann die Frau ent-
scheiden, die Schwangerschaft abzubrechen, wenn sie in
einer möglichen Behinderung eine für sie schwerwie-
gende seelische und körperliche Belastung für ihr künf-
tiges Leben sieht; so steht es auch im Gesetz. Bei der
PND wird also geprüft, was bei der PID schon hätte ge-
prüft werden können. Es kann doch nicht sein, dass das
eine – die Erbschädigung der befruchteten Eizelle –
schützenswerter ist als das werdende Leben ab dem fünf-
ten Monat. Auch darauf geben Sie hier keine Antwort.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Woher nehmen Sie das Recht, zu beurteilen, dass die
eine Entscheidung moralisch unangreifbar ist, die andere
– die der verantwortlich entscheidenden Eltern – aber
nicht? Der geltenden Rechtsordnung kann man diese Be-
wertung jedenfalls definitiv nicht entnehmen.

Ich sage Ihnen hier sehr offen: Wegen dieser Unge-
reimtheiten in Ihrer Argumentation bin ich zu der Über-
zeugung gelangt, dass es, jedenfalls bei manchen, in die-
ser Debatte um die PID auch um ein Nachhutgefecht zu
der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch geht. Ich
will das hier sehr offen ansprechen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Unerhört!)


Ich will es begründen: Sie können nicht verhindern, dass
sich eine Frau nach einer Amniozentese für den Abbruch
entscheidet, weil sie sich den Belastungen nicht gewach-
sen fühlt. Sie können ihr das Leben aber möglichst
schwer machen. Wenn sie sich schon gegen die Austra-
gung möglicherweise schwerbehinderten Lebens ent-
scheidet, dann soll sie mit dem Leid des Schwanger-
schaftsabbruchs zahlen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist dieser Debatte nicht würdig! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unerhört!)


Jerzy Montag hat doch hier den Landesbischof der Evan-
gelischen Kirche in Bayern zitiert, der genau von diesem
„Leid“ der Frauen spricht. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass die Mehrheit von Ihnen diese Auffassung teilt.

Es gibt Paare, die in der Angst leben, ihr Kind könnte
mit einer schrecklichen Erbkrankheit geboren werden
und, wie etwa bei Morbus Krabbe, nach den ersten fünf
Monaten qualvoll vor ihren Augen sterben. Diese Paare
können sich heute für eine künstliche Befruchtung und
die PND entscheiden. Aber sie müssen ins Ausland fah-
ren – nach Belgien zum Beispiel –, um das machen zu
können. Was macht das für einen Sinn? Wenn es nicht
darum geht, diesen Paaren das Leben schwer zu machen,
stellt sich für mich zumindest die Frage: Was ist denn
dann Ihre konkrete Empfehlung? Was bieten Sie diesen
Paaren denn an?

Im Rahmen der Debatten zum § 218 StGB – ich erin-
nere mich gut daran – wurde den Frauen immer wieder
unterstellt, sie würden keine verantwortliche Entschei-
dung treffen oder treffen können. Man hat von wenigen
Fehlentscheidungen auf die Mehrheit geschlossen.
Schauen wir uns den Konflikt hier noch einmal an: Glau-
ben Sie wirklich, dass es eine leichte Entscheidung ist,
sich für den mühsamen und schmerzhaften Weg – das ist
hier mehrmals gesagt worden – der künstlichen Befruch-
tung, die nur mit 15-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu
einer Schwangerschaft führt, zu entscheiden? Die Paare
entscheiden doch nicht leichtfertig, dass die geschädigte
Eizelle nicht eingenistet werden soll. Sie machen es sich
mit ihrer Entscheidung schwer. Sie stecken da in einem
schlimmen Konflikt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Man darf ihnen auch nicht unterstellen – das kam ja in
dem einen oder anderen Interview zum Ausdruck –, dass
der Wunsch nach einem Designerkind dahinterstecke.
Ich finde das paternalistisch und infam. Darum geht es
diesen Paaren, über die wir hier sprechen, sicher nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Ich glaube: Wer es sich mit der künstlichen Befruchtung
bereits so schwer gemacht hat, der trifft auch im Hin-
blick auf die PID und deren Folgen eine gewissenhafte
und sorgfältige Entscheidung.

Der Entwurf, den wir vorgelegt haben, antwortet auf
diese Widersprüche und verfängt sich nicht darin. Er geht
von den betroffenen Paaren aus, die eine verantwortliche
Entscheidung treffen, und gibt ihnen dabei – etwa durch
die vorgesehene Beratung – Hilfestellung.

Ich bitte diejenigen von Ihnen, die sich noch nicht
entschieden haben: Bedenken Sie Ihre Entscheidung.
Trauen Sie den Paaren eine verantwortliche Entschei-
dung zu. Unterstützen Sie unseren Entwurf, der diesen
vielleicht 200 Paaren in Deutschland die Möglichkeit zu
einer informierten Entscheidung geben will. Um nicht
mehr und nicht weniger geht es heute.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712006200

Andrea Nahles hat das Wort.


Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1712006300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich habe einen unerfüllten Kinderwunsch





Andrea Nahles


(A) (C)



(D)(B)

gehabt: Jahrelang hatte ich zunächst Hoffnung. Dann
hatte ich jahrelang wenig Hoffnung. Das Schwierigste,
das ich in meinem ganzen Leben bisher zu meistern
hatte, war – gegen Ende 30 –, die Hoffnung loszulassen,
dass es mir vielleicht vergönnt sein könnte, doch noch
ein eigenes Kind zu haben.

Deswegen möchte ich stellvertretend für alle, die sich
für ein Verbot der PID aussprechen – das tue nämlich
auch ich –, festhalten, dass die Unterstellung, wir könn-
ten die Schwierigkeiten für die betroffenen Ehepaare
nicht nachvollziehen oder wüssten nicht darum, nicht
wahr ist. Es geht schlicht und ergreifend um etwas ande-
res: Es geht um den Respekt vor dem Leben von Anfang
an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Im Übrigen geht es darum, dass die Würde des Men-
schen in dem Moment beginnt, in dem Ei- und Samen-
zelle verschmelzen. Und es gibt nur einen, der den
Schutz für diesen Embryo gewährleisten kann: Das ist
der Staat, das sind wir. Die einzelnen Paare oder Ehe-
paare können das nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der LINKEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, welche Aufgabe wir
heute haben. Wir haben nämlich die Aufgabe, darüber zu
entscheiden, auf welchem ethischen Fundament wir eine
solch weitgehende Entscheidung treffen.

Den Dammbruch, Frau Flach, mache ich nicht daran
fest, um wie viele Fälle es geht. Ob es 200 oder 2 000
sind, spielt für mich überhaupt keine Rolle. Es stellt viel-
mehr einen Dammbruch dar, wenn ein Embryo, bevor er
eingepflanzt wird, eine genetische Qualitätskontrolle
durchlaufen muss, aus dem Embryo also nicht so, wie er
ist, ein Kind aus sich selbst heraus geboren wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der Dammbruch. Es ist mir dabei völlig egal, wie
viele Fälle das sind.

Die Schutzverpflichtung des Staates, lieber Karl
Lauterbach, beginnt übrigens sehr früh, und zwar genau
da, wo ich sie markiert habe. Ganz offenbar sind eine
Masse von Gesetzesänderungen geplant. Wenn man
nämlich das ernst nimmt, was Karl Lauterbach und an-
dere vorgetragen haben, dann müsste man eine ganze
Reihe anderer Gesetze dementsprechend ändern. Wollen
wir das wirklich?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Dann muss man das hier offen sagen.
Im Rahmen dieser Debatte ist häufig die Rede von ei-
ner „begrenzten“ Erlaubnis. Das klingt für die Unent-
schlossenen nach „nicht so ganz“ oder „nicht ganz so
schlimm“. Ich habe eine Freundin, die heißt Birgit. Sie
hat zwei Kinder. Das erste Kind wurde mit einer Hasen-
scharte geboren. Bei der Geburt des zweiten Kindes lau-
tete ihre erste Frage im Kreißsaal natürlich: Ist das Kind
gesund? Die Ärztin sagte ihr: Nein, wieder Hasen-
scharte. – Meine Freundin fing an zu weinen, weil sie
weiß, wie viele Operationen das bedeutet, wie viel Ar-
beit und Mühe damit verbunden sind und weil sie sich
natürlich ein gesundes Kind gewünscht hätte. Das ist
doch klar. Da sagt diese junge Ärztin so im Vorbeigehen
von einem Patienten zum anderen: Haben Sie sich denn
nicht genetisch beraten lassen? Ich meine, dass deswe-
gen das, was hier als Selbstverwirklichung bzw. als Frei-
heit der Entscheidung und Wahlmöglichkeit verkauft
wird, ungewollt ganz schnell zum Zwang werden kann.

Ich glaube Ihnen, Frau Flach, dass Sie keine Designer-
babys wollen. Ich glaube allen, die diesen Antrag unter-
stützen, dass sie das nicht wollen. Aber ich glaube nicht,
dass die Grenzen, die Sie aufgezeigt haben, Grenzen
sind, sondern ich glaube, dass es eine neue Praxis, eine
neue Realität geben wird und dass die Frage: „Haben Sie
sich denn nicht genetisch beraten lassen?“, eine Stan-
dardfrage in Deutschland wird, wenn wir heute diesen
Dammbruch begehen. Deswegen stimmen Sie bitte für
ein Verbot der PID.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712006400

Gabriele Molitor hat das Wort.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1712006500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir führen hier heute Morgen eine sehr ernsthafte und
wichtige Debatte. Ich möchte an dieser Stelle nicht über
Motivlagen urteilen. Ich möchte diejenigen gewinnen,
die sich noch nicht entschieden haben, indem ich sie teil-
haben lasse an dem Weg, wie ich meine Entscheidung
getroffen habe.

Darf ich als behindertenpolitische Sprecherin meiner
Fraktion für die Zulassung der PID sein?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)


Wie ich diese Frage für mich entschieden habe, möchte
ich Ihnen gern erläutern: Vor einigen Monaten habe ich
mit einem mir nahestehenden Arzt über die PID gespro-
chen. Er hat darum gebeten, Klarheit und Rechtssicher-
heit zu schaffen. Der medizinische Fortschritt macht es
eben immer wieder notwendig, dass wir grundsätzliche
Fragen entscheiden, und damit dürfen wir die Medizin
nicht alleinlassen.

Die Gegner der Präimplantationsdiagnostik befürch-
ten, dass durch die begrenzte Zulassung Dämme gebro-
chen werden. Das ist hier heute immer wieder angeklun-
gen. Doch diese Argumentation geht weit über das





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)

hinaus, was eine PID heute möglich machen kann. Für
mich hat das Eintreten für die Zulassung der PID unter
strengen Auflagen auch etwas mit Vertrauen zu tun. Ich
vertraue darauf, dass die für die Zulassung verantwort-
lichen Experten der Ethikkommission, die behandelnden
Ärzte, die hoffnungsvollen Paare verantwortungsvoll
und sorgsam mit diesem Diagnoseverfahren umgehen;
denn auch nach einer PID gibt es keine Gewissheit, dass
ein Kind gesund zur Welt kommt.

Lediglich knapp 5 Prozent der bei uns lebenden Men-
schen mit Behinderungen sind bereits mit einer Behinde-
rung auf die Welt gekommen. 95 Prozent der Menschen
mit Handicap werden erst durch einen Unfall oder durch
eine schwere Erkrankung in diese Situation gebracht, die
ihr Leben vor neue Herausforderungen stellt.

Vielfach wird die Sorge geäußert, dass die PID Men-
schen mit Behinderung an den Rand der Gesellschaft
drückt. Ich sage dagegen: Jeder Einzelne – auch von den
hier Versammelten – hat es mit in der Hand, dass Men-
schen mit Behinderung ganz selbstverständlich zu unse-
rer Gesellschaft gehören. Deswegen lade ich Sie alle
sehr herzlich ein, morgen bei der Debatte rund um die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in ge-
nauso großer Zahl zu erscheinen und mit uns zu diskutie-
ren, wie die Situation von Menschen mit Behinderungen
verbessert werden kann.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich denke, es ist wichtig, Menschen mit Behinderung
nicht als Opfer zu betrachten oder immer nur darauf ab-
zuheben, welchen Mangel oder welche Beeinträchtigung
sie haben. Es geht darum, sie ganz selbstverständlich
miteinzubeziehen in unser Leben, in unsere Gesellschaft,
und dafür können wir alle einen Beitrag leisten.

Ich für meinen Teil bringe es nicht über das Herz, ge-
genüber Paaren mit nachgewiesenen Erbschädigungen
Nein zu sagen und ihnen die Möglichkeit der PID zu
verwehren oder ihnen gar zu sagen, sie müssten gänzlich
auf Kinder verzichten, oder ihnen zu raten: Geht in euro-
päische Nachbarländer, in denen die PID möglich ist.

Ein Hinweis ist mir wichtig: In vielen europäischen
Ländern ist die PID erlaubt; dort ist keineswegs festzu-
stellen, dass Menschen mit Behinderung diskriminiert
werden.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Die Zulassung der PID ist für mich eine Frage der
Nächstenliebe. Aus all den genannten Gründen möchte
ich Sie bitten, den Antrag von Ulrike Flach, Peter
Hintze, Carola Reimann und anderen zu unterstützen
und die PID zuzulassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712006600

Kerstin Griese hat das Wort.

Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1712006700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte begründen, warum ich den Gesetzentwurf
von Flach, Hintze und Reimann unterstütze. Ich möchte
das vor zwei Hintergründen tun: zum einen vor dem
Hintergrund meines christlichen Menschenbildes, das
mich in meinen Vorstellungen von umfassender Men-
schenwürde leitet, zum anderen vor dem Hintergrund,
dass ich 2009 mit vielen anderen in diesem Haus, die
sich jetzt auf die drei Gesetzentwürfe verteilen, einen
Gesetzentwurf eingebracht habe, der die bessere psycho-
soziale Beratung bei eventueller Spätabtreibung vor-
sieht; für mich gibt es da einen inneren Zusammenhang.

Ich will erstens ganz ausdrücklich sagen: Der Gesetz-
entwurf, den ich unterstütze, sieht vor, dass die PID zwar
grundsätzlich verboten bleibt, aber in besonders schwer
wiegenden Fällen aus ethischen Gründen Ausnahmen
möglich sind. Die Perspektive der werdenden Eltern ein-
zubeziehen, ist mir wichtig. Wir haben die Ausnahmen
klar definiert: ein hohes Risiko schwerwiegender Erb-
krankheiten, Vorerfahrungen mit Totgeburten und
schwersten Behinderungen, die oft zu einem qualvollen
Tod der Kinder führen, den die Eltern miterleben müssen.
Wir haben festgesetzt, dass eine Ethikkommission über
die Anwendung der PID entscheidet. Wer sich einmal da-
mit beschäftigt hat, was Ethikkommissionen in Kranken-
häusern schon heute leisten, wenn es um den Anfang und
das Ende des Lebens geht, der weiß, wie wichtig die in-
dividuelle Beratung ist.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich will ausdrücklich sagen: Die Anzahl der Fälle ist
kein Argument. Es ist wichtig, zu wissen, dass es ver-
mutlich um etwa 200 Fälle von PID im Jahr geht, also
nicht um eine hohe Zahl. Die Anzahl ist aber nicht das
Argument; wir müssen diese Frage grundsätzlich klären.

Deshalb sage ich zweitens: Als evangelische Christin
bin ich natürlich der Überzeugung, dass der Embryo
auch außerhalb des Mutterleibes schützenswert ist; aber
ich bin der festen Überzeugung – ich weiß es –, dass al-
lein im Reagenzglas noch kein Mensch heranreift, der zu
einer eigenständigen Persönlichkeit werden kann. Erst
zusammen mit der Mutter entsteht werdendes Leben. Ja,
ein Embryo ist werdendes Leben, aber nur im Bauch der
Mutter wird es Leben.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Der evangelische Theologe Richard Schröder hat es bei
der großen Anhörung im Gesundheitsausschuss sehr gut
auf den Punkt gebracht: Geboren werden zu können, ist
eine Voraussetzung von Menschsein. – Wenn ich mir die
Stellungnahmen der Kirchen, die mir durchaus wichtig
sind, ansehe, dann erkenne ich, dass es in der evangeli-
schen Kirche zwar keine einheitliche Haltung gibt, aber
auch bei ihr das Argument der Perspektive der Eltern
eine Rolle spielt.

Ich habe mich gefreut, einen Brief von Donum Vitae
aus Nordrhein-Westfalen zu bekommen, wo man mit der
Schwangerschaftskonfliktberatung, der Pränataldiagnos-
tik und der Frage eines unerfüllten Kinderwunsches sehr





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)

viel Erfahrung hat. Donum Vitae spricht sich ausdrück-
lich für eine begrenzte Zulassung der PID aus.

Mein drittes Argument. Ich habe es schon gesagt: Die
PID darf nur in besonderen Fällen zugelassen werden.
Ich will ausdrücklich sagen: Da geht es nicht um eine
Hasenscharte oder das Downsyndrom, sondern um
schwerste genetisch bedingte, vererbbare Krankheiten
und Behinderungen oder um Totgeburten.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Es ist doch klar: Wenn man den erblich schwer vorbe-
lasteten Eltern die Möglichkeit der PID nicht geben
würde, würde man sie auf die Pränataldiagnostik verwei-
sen. Dann würden sie in den Schwangerschaftskonflikt
kommen, der in § 218 StGB mit der Möglichkeit der so-
genannten Spätabtreibung beschrieben ist, nämlich dann,
wenn die Mutter sagt: Ich kann das psychisch nicht ertra-
gen; ich werde das nicht schaffen. – Wir haben uns 2009
sehr intensiv mit der Spätabtreibung beschäftigt. Ich
glaube, ich habe alle Berichte gelesen. Ich habe mit
Frauen gesprochen, die eine Spätabtreibung erlebt ha-
ben; das ist so schlimm. Wenn die Hilfe für die betroffe-
nen Frauen und Eltern für uns im Mittelpunkt steht, dann
halte ich die PID für ethisch hinnehmbarer als eine even-
tuelle Spätabtreibung; ich finde, die PID ist für die
Frauen erträglicher.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Insofern ist meine Entscheidung auch frauenpolitisch
motiviert. Denn wir wissen, dass es für Frauen weniger
belastend ist und es ihnen viele traumatische Erfahrun-
gen erspart, wenn sie den schweren Konflikt um die
Frage „Kann ich die Geburt eines schwerstbehinderten
Kindes oder sogar eine Totgeburt ertragen?“ zu einem
frühen Zeitpunkt lösen können und nicht erst später,
wenn es sie – nach allem, was wir wissen, darüber gehört
und gelesen haben – fürchterlich mitnimmt.

Ein weiterer Punkt: Die Rechtsetzung wird in ethi-
schen Fragen immer wieder vom medizinisch Möglichen
überholt. Das gilt ganz besonders für die Pränataldia-
gnostik. Ich bitte aber ausdrücklich darum, dass wir die
Debatte über die Pränataldiagnostik nicht mit der PID-
Debatte vermischen. Wir kritisieren sicherlich gemein-
sam, dass die Pränataldiagnostik überhand genommen
hat und Druck auf Frauen ausgeübt wird. Wir müssen
endlich einmal eine Debatte darüber führen, was sich in
den letzten Jahren auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik
verändert hat. Wir müssen uns damit beschäftigen, wel-
che Veränderungen man herbeiführen sollte, auch um
das Recht auf Nichtwissen zu verankern. Das hat aber
nichts mit dieser PID-Debatte zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ein letzter Punkt, der mir eigentlich der wichtigste ist:
Ich finde es ganz schlimm, wenn uns unterstellt wird,
uns würde nichts an der Teilhabe von Menschen mit Be-
hinderung liegen. Wir alle wissen, dass es weiterhin,
auch bei Anwendung von PID und PND, behinderte
Menschen geben wird. Die meisten Behinderungen ent-
stehen bei oder nach der Geburt. Es wird niemals Leid-
freiheit geben. Es wird keine Perfektion geben; das ist
auch nicht mein Menschenbild. Deshalb sollten wir die-
ser Idee nicht nachhängen, sondern Behinderung als Teil
unseres Lebens ansehen und anerkennen, dass behin-
derte Menschen zur Mitte unserer Gesellschaft gehören.
Wir sollten endlich mehr für die Inklusion behinderter
Menschen tun und nicht nur in Sonntagsreden darüber
sprechen. Das würde ihnen wirklich helfen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


In den Ländern, in denen die PID angewendet wird, gibt
es zum Teil eine bessere Inklusion behinderter Men-
schen.

Aus diesen Gründen habe ich mich entschlossen, den
Gesetzentwurf von Flach, Hintze, Reimann und anderen
zu unterstützen, der genau definierte, enge Regeln zur
begrenzten Zulassung der PID in Ausnahmefällen fest-
setzt, der Aufklärung und Beratung verpflichtend veran-
kert und der in jedem individuellen Fall die Entschei-
dung einer Ethikkommission vorsieht. Das ist für mich
eine Entscheidung für das Leben. Das ist eine Entschei-
dung für die Hilfe für Betroffene. Für mich ist das Ethik
für das Leben.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712006800

Der Kollege Rudolf Henke hat das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1712006900

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Enge Grenzen, eng
umschrieben, Beratung notwendig, Ethikkommission
notwendig, eine Auswahl ganz bestimmter Zentren, in
denen das durchgeführt werden kann, ist notwendig,
kein Designerbaby – aber die Frage ist doch, Frau Flach,
Herr Hintze: Wofür öffnet Ihr Gesetzentwurf die An-
wendbarkeit der PID?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, erlaubt
die PID auch im Falle von spätmanifestierenden Erkran-
kungen. Spätmanifestierende Erkrankungen treten in der
Regel erst im Erwachsenenalter auf. Sie ermöglichen ein
jahrzehntelanges gesundes Leben. Das Gendiagnostik-
gesetz, das wir hier mit großer Mehrheit verabschiedet
haben, verbietet solche Tests während der Schwanger-
schaft ausdrücklich; dieser Gesetzentwurf aber ermög-
licht sie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Entwurf, der „enge Grenzen“ vorsieht, lässt of-
fen, was schwerwiegende Erkrankungen sind, bei denen
die PID erlaubt werden soll. Wir haben dann einen unbe-
stimmten Rechtsbegriff. Dieser unbestimmte Rechtsbe-
griff wird von Ethikkommissionen und Gerichten gefüllt





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)

werden. Diese Auseinandersetzungen werden Leid über
die Menschen bringen, die daran beteiligt sind. Eine Su-
che nach immer mehr Erbanlagen, auch nach solchen, die
nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen überhaupt zu
einer Erkrankung führen oder deren Folgeerkrankungen
gut behandelbar sind, würde möglich. Damit ist die
schleichende Ausweitung der Anwendungsbereiche der
PID angelegt, wie Jens Spahn das dargestellt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer Punkt. Vielleicht wollen viele von Ihnen
das nicht, vielleicht ist das nicht das Ziel, vielleicht geht
es Ihnen auch gar nicht darum, aber nach Text und Wort-
laut Ihres Gesetzentwurfs soll die PID als Reihenunter-
suchung auch bei gesunden Paaren zugelassen sein.


(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Nach Ihrem Gesetzentwurf ist die PID „zur Feststellung
einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos …, die
mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlge-
burt“ führen würde, erlaubt. Weil in Ihrem Gesetzent-
wurf für diese Suche keinerlei Voraussetzungen – weder
genetische Belastung der Eltern noch bereits erlittene
Fehl- oder Totgeburten – festgelegt werden, wäre die
PID damit bei nahezu jeder künstlichen Befruchtung
möglich. Das will ich nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Lauterbach hat von der Schwierigkeit der reli-
giösen und naturwissenschaftlichen Analyse gespro-
chen. Er hat gefragt, was dieses menschliche Leben in
den ersten 14 Tagen vor der Nidation repräsentiert. Wir
würden da religiös argumentieren. Aber, Herr
Lauterbach, jede andere Position im Hinblick darauf,
wann das Menschlichsein, das Menschsein bzw. der
Charakter des Menschen hinzutritt, ist wesentlich religi-
öser als die naturwissenschaftliche Annahme, dass dies
mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle passiert.
Jede andere Annahme ist nur pseudonaturwissenschaft-
lich.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ein Letztes. Auf den Tag genau ein Jahr nachdem
meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte, kam ein
Bruder zur Welt, der fünf Stunden gelebt hat. Ich habe
ihn nie gesehen. Ich erinnere mich an die Besuche – über
Jahrzehnte hinweg – am Grab, und ich weiß, dass dieser
Bruder eine wesentliche Rolle in unserer Familie, bei
meinem Lernen über den Zusammenhalt von Menschen
und bei meinem Lernen über die Verhältnisse der Be-
grenztheit menschlichen Glücks gespielt hat.

Wir sind nicht die Herren über Leben und Tod. Ich
will nicht, dass wir Menschen, weil sie eine Schädigung
aufweisen, die dafür sorgt, dass sie nach fünf Stunden tot
sind, den Weg vor die Tür unserer Gattung weisen. Ge-
nau das geschieht, wenn wir das Recht von Menschen,
weiterzuleben, an genetischen Merkmalen festmachen.
Deswegen sage ich Ihnen: Das dürfen wir heute nicht
tun. Vielleicht gelingt es, einen besseren Gesetzentwurf
zu entwickeln als den, den Sie jetzt vorgelegt haben.
Aber bis das der Fall ist, bitte ich Sie alle sehr, sehr herz-
lich darum: Stimmen Sie jetzt für den Gesetzentwurf,
der ein Verbot der PID vorsieht. Stimmen Sie für den
Gesetzentwurf, der den Namen „Göring-Eckardt“ trägt.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712007000

Priska Hinz spricht jetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)


Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier im
Bundestag scheint es unversöhnliche Positionen zwi-
schen Gegnern und Befürwortern der PID zu geben.
Deswegen möchte ich noch einmal ausdrücklich sagen:
Es gibt einen weiteren Gesetzentwurf, der ein Mittelweg
sein könnte, um zu einer gemeinsamen Mehrheit zu fin-
den und damit Eltern zu helfen, gleichzeitig aber wirk-
lich enge Grenzziehungen zu schaffen, damit wir Em-
bryonen nicht nach Qualitätskriterien auswählen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es
möglich macht, die Überlebensfähigkeit des Embryos in
den Mittelpunkt der Entscheidung zu stellen. Es geht um
die Frage: „Kann ein Kind lebend zur Welt kommen?“
und nicht um die Frage: Ist das Kind behindert, oder hat
es aufgrund der genetischen Disposition der Eltern eine
Erbkrankheit? Alle Sachverständigen – auch die der
Gegner der PID – haben gesagt: Wenn es eine Grenzzie-
hung gibt, die eingehalten werden kann, dann ist es
diese. Deswegen bitte ich Sie, noch einmal darüber
nachzudenken, ob es nicht möglich sein kann, zu einer
gemeinsamen Entscheidung zu kommen, um Leid von
Eltern, die wiederholt Fehl- und Totgeburten erleben, zu
lindern und trotzdem Behinderungen nicht aus unserem
Leben auszugrenzen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Der Gesetzentwurf der Kollegin Flach und anderer
Kolleginnen und Kollegen sieht meines Erachtens keine
Begrenzung der PID vor, sondern trägt in sich schon eine
Erweiterung; das ist vorhin schon einmal erwähnt wor-
den. Ich persönlich sage – ich war dabei, als wir über die
Frage der spätmanifestierenden Krankheiten diskutiert
haben –: Wir haben erst vor zwei Jahren ein Gendiagnos-
tikgesetz beschlossen, in dem spätmanifestierende
Krankheiten als Untersuchungsgrund bei der PND aus-
geschlossen werden. Jetzt wollen Sie einen Gesetzent-
wurf verabschieden, durch den eine genetische Untersu-
chung auf spätmanifestierende Krankheiten zugelassen
wird. Das bedeutet doch, dass wir Menschen abspre-
chen, 30 oder 40 Jahre lang ein glückliches Leben führen





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

zu können, bevor eine Krankheit ausbricht. Wir alle wis-
sen: Es gibt nicht nur Krankheiten, die aufgrund von
Erbanlagen ausbrechen, sondern jeden von uns kann
eine Krankheit treffen oder wir können als Folge eines
Unfalls behindert sein. Niemand würde uns ein glück-
liches Leben vor oder mit der Krankheit oder Behinde-
rung absprechen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Ein weiteres Problem ist das Screening, das in Ihrem
Gesetzentwurf angelegt ist. Sie tun immer so, als sei das
in Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten. Aber erstaun-
licherweise haben die Sachverständigen in der Anhörung
auf genau diesen Punkt hingewiesen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, wenn wir eine Fachanhörung mit Sachverstän-
digen, die noch mehr Ahnung von der Materie haben als
wir, durchführen, dann sollten wir zumindest auf die
Warnungen, die sie aussprechen, hören. Natürlich kann
es sein, dass Sie nicht wollen, dass ein Screening mög-
lich ist, aber dann hätten Sie Ihren Gesetzentwurf an ge-
nau diesem Punkt ändern müssen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Durch diesen Gesetzentwurf wäre bei allen künstlichen
Befruchtungen ein Screening auf Erbkrankheiten und
genetische Dispositionen zulässig.

Ein Argument möchte ich noch aufgreifen, weil es
immer wieder in der Diskussion genannt wird, nämlich
die Frage, ob durch die PID Schwangerschaftsabbrüche
vermieden werden. Abgesehen davon, dass ich nicht
glaube, dass ein Schwangerschaftskonflikt mit einer PID
zu vergleichen ist – es ist ein Unterschied, ob ich ein
Kind im Bauch trage und mich mit dem Konflikt aus-
einandersetzen muss, ob ich das Kind austragen kann,
oder ob es um einen Embryo geht, der extrakorporal ge-
zeugt wurde, und ich mich frage, ob er eine genetische
Störung hat oder nicht –, wissen wir aufgrund der Zahlen
aus anderen Ländern, in denen es die PID gibt, dass die
Zahl der Schwangerschaftsabbrüche deutlich zunimmt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)


Insofern ist es keine Vorwegnahme von Schwanger-
schaftsabbrüchen.

Meine Damen und Herren, es handelt sich um eine
schwierige Entscheidung und Abwägung zwischen ver-
meintlich zwei Wegen. Deswegen bitte ich darum, dass
Sie sich noch einmal überlegen, ob wir es nicht tatsäch-
lich möglich machen können, einen medizinischen Fort-
schritt dafür zu nutzen, dass in einem engbegrenzten
Rahmen Eltern geholfen werden kann, die nur Tot- oder
Fehlgeburten erleben, ohne dass die Möglichkeit besteht,
Embryonen nach Qualitätskriterien auszusuchen. Wenn
Sie dieser Auffassung sind, dann stimmen Sie bitte unse-
rem Gesetzentwurf zu. Dann hätten wir in dieser ethisch
schwierigen Frage große Einigkeit im Parlament.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712007100

Das Wort hat Ursula von der Leyen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Ursula von der Leyen (CDU):
Rede ID: ID1712007200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Ich habe als junge Ärztin gleich nach dem Stu-
dium in der Gynäkologie und Geburtshilfe angefangen.
Ich habe damals in der Ambulanz unserer Klinik unend-
lich viele Gefühlslagen werdender Eltern erlebt. Ich
habe sehr viele glückliche Paare in froher Erwartung er-
lebt, aber auch Paare voller Angst, die sich mit einer
Diagnose überfordert fühlten. Ich habe verzweifelte
Frauen im siebten oder achten Schwangerschaftsmonat
erlebt, die keine Kindsbewegungen mehr spürten und
ahnten, dass ein früher Kindstod eingetreten ist. Ich habe
resignierte Paare erlebt, die schon Fehlgeburten erlitten
haben und wieder eine Fehlgeburt erleiden mussten. Ich
glaubte am Anfang, nach acht langen Jahren Studium
und Ausbildung vieles zu wissen. Aber die Wucht des
Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt hat
mich sehr still werden lassen. Seitdem bin ich mit dem
Urteil, was in solchen Situationen absolut richtig oder
absolut falsch ist, sehr vorsichtig geworden.


(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Der entscheidende Punkt ist für mich heute die Frage:
Auf wessen Schultern lastet am Ende die Verantwor-
tung?


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Lastet sie auf den Abgeordneten, die die Gesetze ma-
chen? Ja, sicher, wir stehen in der Verantwortung. Dafür
haben uns die Menschen gewählt. Deshalb macht es sich
keiner und keine in diesem Hause leicht. Aber bei aller
Sorgfalt, die wir aufwenden, und bei allem Anteil, den
wir nehmen, spüren wir die Wucht des Schicksals am
Ende nicht am eigenen Leib und an der eigenen Seele.
Es sind die Paare mit schweren erblichen Vorerkrankun-
gen, die den Schwangerschaftskonflikt bereits erlebt ha-
ben, die eine Fehl- oder Totgeburt bereits erlebt haben,
die ein behindertes Kind bereits liebevoll pflegen, deren
gemeinsames Bangen und Hoffen nicht aufhört. Auf ih-
nen lastet letztendlich die Verantwortung vor Gott, die
Verantwortung vor dem ungeborenen Leben und die Ver-
antwortung vor den eigenen Kindern, seien sie behindert
oder seien sie nichtbehindert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, ich trete dafür ein, dass wir
diesen Paaren mit schwerer genetischer Vorbelastung den
gesetzlichen Freiraum geben, zu wissen. Wir sagen bis-
her Ja zum Wissen aufgrund ausführlicher Diagnostik in
der Schwangerschaft. Mit welchem Recht sagen wir
dann Nein zu dem früheren Wissen durch die PID vor ei-
ner Schwangerschaft? Die Erkenntnis bzw. das Ergebnis
ist ein und dasselbe. Wenn wir das frühe Wissen vor Ein-
tritt einer Schwangerschaft zulassen, dann können wir
den Betroffenen das spätere Leid in der Schwangerschaft
und den Schwangerschaftskonflikt ersparen. Darum geht
es.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Niemand entscheidet sich leichtfertig für eine künst-
liche Befruchtung und eine PID. Das ist ein körperlich
und psychisch in hohem Maße belastendes und scham-
befangenes Verfahren. Paare, die diesen Weg gehen, ha-
ben bereits eine lange Leidensgeschichte hinter sich.
Deshalb finde ich es wichtig, die Gewissensfrage nicht
gegen die Wissensfrage auszuspielen. Natürlich werden
durch die PID die Grenzen des Wissens erweitert, aber
innerhalb der Grenzen unserer ethischen Maßstäbe. Da-
rum geht es.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Entwicklung der Menschheit ist voll von Wis-
senserweiterung gewesen. Niemand hier im Raum
würde doch sagen, dass unsere gesamte Geschichte eine
Geschichte des Irrens und des moralischen Fehlens ist.
Wir leuchten mit der PID in einen Bereich des Lebens, in
dem wir in Deutschland – nicht andere Länder, aber wir
in Deutschland – bisher vollständig im Dunkeln tappen.
Das verändert, was wir sehen. Aber das verändert doch
nicht, wie wir es sehen. Die verantwortungsvolle Abwä-
gung einer Frau und eines Mannes, was sie sich zutrauen
und was sie überfordert, bleibt doch bestehen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht die
Augen bewusst davor verschließen können, wie wir den
Stand der Medizin mit Maß und Mitte nutzen können,
um diese leidgeprüften Familien zu unterstützen und ih-
nen zu helfen. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass
sowohl die deutsche Ärzteschaft als auch die betroffenen
Eltern mit den Möglichkeiten der PID verantwortungs-
voll umgehen werden.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Zwei Jahrzehnte guter Erfahrungen im Ausland sprechen
für diesen Weg.

Zum Abschluss: Ich bin als junge Ärztin oft von Pa-
tienten in verzweifelten Situationen gefragt worden: Wie
würden Sie entscheiden, wenn Sie an meiner Stelle wä-
ren? Ich möchte diese Frage heute in diesen Raum geben
und sie an uns gemeinsam stellen: Wie würden Sie ent-
scheiden, wenn es zu einem Verbot käme? Würden Sie
für immer auf Kinder verzichten? Würden Sie immer
wieder den Versuch einer Schwangerschaft wagen – mit
all dem Wissen, das Ihnen dann in der Schwangerschaft
zur Verfügung steht? Oder würden Sie ins Ausland ge-
hen, wo die PID seit vielen Jahren mit hoher Verantwor-
tung angewendet wird?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir
für die Menschen in unserem Land, in dem wir als Abge-
ordnete in der Verantwortung sind, gemeinsam eine Lö-
sung mit Augenmaß finden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Das Totalverbot geht eher von einem unmündigen Men-
schen aus. Wir gehen von einem mündigen Menschen
aus.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich bitte Sie: Trauen wir den Menschen, den Eltern et-
was zu. Und vor allem: Geben wir ihrer Gewissensent-
scheidung Raum. Darum geht es jetzt. Deswegen bitte
ich Sie, für den Entwurf von Ulrike Flach, Peter Hintze
und Carola Reimann zu stimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712007300

Ich schließe die Aussprache.

Bevor wir zur Abstimmung kommen, bitte ich um
Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Abstim-
mungsverfahren, wie wir es vorhin beschlossen haben.

Zur Abstimmung stehen drei Gesetzentwürfe zum
künftigen Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik.
Es handelt sich um den Gesetzentwurf der Abgeordneten
Flach, Hintze, Dr. Reimann, Dr. Sitte, Montag und wei-
terer Abgeordneter zur Regelung der Präimplantations-
diagnostik, den Gesetzentwurf der Abgeordneten
Göring-Eckardt, Volker Kauder, Kober, Singhammer,
Dr. h. c. Thierse und weiterer Abgeordneter zum Verbot
der Präimplantationsdiagnostik sowie um den Gesetz-
entwurf der Abgeordneten Röspel, Hinz, Meinhardt,
Dr. Lammert und weiterer Abgeordneter zur begrenzten
Zulassung der Präimplantationsdiagnostik.

Der Ausschuss für Gesundheit hat in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6400 nur emp-
fohlen, über die Gesetzentwürfe im Plenum einen Be-
schluss zu fassen, selbst aber keine inhaltliche
Empfehlung abgegeben. Für die Entscheidung hier hat
der Ausschuss die Gesetzentwürfe der Gruppe Flach und
der Gruppe Röspel jeweils in einer Ausschussfassung
vorgelegt. Der Gesetzentwurf Göring-Eckardt ist unver-
ändert geblieben.

Bei dem Stimmzettelverfahren werden zunächst die
drei Entwürfe gemeinsam zur Abstimmung gestellt. Auf
diesem Stimmzettel können Sie sich für einen der Ent-
würfe entscheiden oder Ihr Kreuz bei „Nein gegenüber
allen Gesetzentwürfen“ oder bei „Enthaltung gegenüber
allen Gesetzentwürfen“ machen. Es darf also nur eine
Alternative angekreuzt werden, nur ein Kreuz auf dem
Stimmzettel sein.

Die erforderliche Mehrheit für einen Entwurf ist er-
reicht, wenn dieser mehr Jastimmen als die konkurrie-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(B)


renden Vorlagen zusammen zuzüglich der Neinstimmen
auf sich vereinen kann.

auf Drucksache 17/5451 – Frau Kollegin Flach und an-
dere – entfielen 306 Stimmen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Falls kein Entwurf diese Mehrheit erhält, kommt es in
einem zweiten Abstimmungsgang zur Abstimmung über
die beiden bestplatzierten Gesetzentwürfe. Dieser würde
ebenfalls mithilfe eines Stimmzettels durchgeführt. Er-
hält auch im zweiten Abstimmungsgang keiner der bei-
den Gesetzentwürfe die erforderliche Mehrheit, müsste
anschließend über den Entwurf mit dem besseren Ergeb-
nis mit den üblichen Stimmkarten, also namentlich, ent-
schieden werden.

Würde dieser Gesetzentwurf nicht die Mehrheit der
abgegebenen Stimmen erhalten, wäre dieser damit in
zweiter Beratung abgelehnt, und eine dritte Beratung
würde entsprechend unseren Regelungen entfallen.
Wäre dieser erfolgreich, käme es sofort zur dritten Bera-
tung, in der ebenfalls namentlich abgestimmt wird.

Wir kommen jetzt zum ersten Abstimmungsgang.

Die weißen Stimmzettel wurden bereits verteilt bzw.
werden noch weiter verteilt. Zunächst tragen Sie bitte Ih-
ren Namen lesbar und einschließlich eines eventuellen
Ortszusatzes und Ihre Fraktion ein. Sie können einen der
Gesetzentwürfe ankreuzen, Sie können aber auch – ich
wiederhole das – mit Nein stimmen oder sich enthalten.
Das betrifft dann jeweils alle Gesetzentwürfe.

Ungültig sind alle Stimmzettel, die keine Namensan-
gabe oder mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz ent-
halten. Nur die Abgabe eines mit Namen versehenen
Stimmzettels gilt als Nachweis der Teilnahme an der Ab-
stimmung.

Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, ihre Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? –
Dann ist hiermit die Abstimmung eröffnet.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712007400

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine

Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall.

Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Abstim-
mung unterbreche ich die Sitzung.


(Unterbrechung von 13.06 bis 13.25 Uhr)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712007500

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,

wieder Platz zu nehmen.

Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung im Stimmzettelverfahren über drei Gesetzent-
würfe bekannt: abgegebene Stimmzettel 596, ungültig
waren keine, gültig waren 596. Auf den Gesetzentwurf
Auf den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5450 – Frau
Kollegin Göring-Eckardt und andere – entfielen 228
Stimmen. Auf den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5452
– Kollege Röspel und andere – entfielen 58 Stimmen.
Mit Nein gegenüber allen Gesetzentwürfen hat einer
bzw. eine gestimmt, Enthaltungen gegenüber allen Ge-
setzentwürfen 3.1)

Ein Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenom-
men, wenn er mehr Jastimmen als die beiden anderen
Gesetzentwürfe zusammen zuzüglich der Neinstimmen
erhalten hat. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/5451
– Frau Kollegin Flach und andere – hat im ersten Ab-
stimmungsgang die erforderliche Mehrheit erhalten und
ist damit in zweiter Lesung angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Wir kommen somit zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf auf
Drucksache 17/5451 – Frau Kollegin Flach und andere.
Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen.

Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall.

Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Ich unterbreche die Sitzung, bis das Ergebnis vor-
liegt.


(Unterbrechung von 13.36 bis 13.44 Uhr)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712007600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,

wieder Platz zu nehmen.

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Regelung der
Präimplantationsdiagnostik der Abgeordneten Ulrike
Flach, Peter Hintze, Dr. Carola Reimann, Dr. Petra Sitte,
Jerzy Montag und weiterer Abgeordneter in dritter Bera-
tung bekannt: abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben
gestimmt 326,


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


mit Nein haben gestimmt 260, Enthaltungen 8. Der Ge-
setzentwurf ist in dritter Beratung angenommen.

1) Endgültiges Ergebnis siehe Anlage 2.

(D)






Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 594;
davon

ja: 326
nein: 260
enthalten: 8

Ja

CDU/CSU

Peter Altmaier
Norbert Barthle
Günter Baumann
Peter Beyer
Clemens Binninger
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Cajus Caesar
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Ingo Gädechens
Michael Glos
Olav Gutting
Jürgen Hardt
Ursula Heinen-Esser
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Thomas Jarzombek
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Dr. Jan-Marco Luczak
Karin Maag
Andreas Mattfeldt
Dietrich Monstadt
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Ruprecht Polenz
Katherina Reiche (Potsdam)

Erwin Rüddel
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Dr. Ole Schröder
Detlef Seif
Bernd Siebert
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Gero Storjohann
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Kai Wegner
Ingo Wellenreuther
Dagmar Wöhrl

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Werner Schieder (Weiden)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Wolfgang Tiefensee
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


DIE LINKE

Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Sahra Wagenknecht
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Ekin Deligöz
Kai Gehring
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Till Seiler
Dorothea Steiner
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Hartmut Koschyk
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Stephan Stracke
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Petra Ernstberger
Elke Ferner
Sigmar Gabriel
Wolfgang Gunkel
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Gabriele Hiller-Ohm
Christel Humme
Josip Juratovic
Ulrich Kelber
Daniela Kolbe (Leipzig)

Burkhard Lischka
Hilde Mattheis
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Aydan Özoğuz
Heinz Paula





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in unserer

Tagesordnung fortfahren, werde ich allen kurz die Mög-
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
lichkeit geben, sich auf den
punkt vorzubereiten.

Ich rufe die Tagesordnung
satzpunkt 4 auf:

7 a) Beratung des Antrag
Philip Winkler, Vio
Volker Beck (Köln),
der Fraktion BÜNDN

60 Jahre Genfer Flü
gna Charta des int
schutzes umsetzen un

– Drucksache 17/6347
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrec
Ausschuss für die Angelege

b) Beratung des Antrag
Jelpke, Jan Korte, Sev
geordneter und der Fra

60 Jahre Genfer Flüc
lungsbedarf auf nat
ler Ebene

– Drucksache 17/6095
nächsten Tagesordnungs-

spunkte 7 a bis e sowie Zu-

s der Abgeordneten Josef
la von Cramon-Taubadel,
weiterer Abgeordneter und
IS 90/DIE GRÜNEN

chtlingskonvention – Ma-
ernationalen Flüchtlings-
d fortentwickeln



hte und Humanitäre Hilfe
nheiten der Europäischen Union

s der Abgeordneten Ulla
im Dağdelen, weiterer Ab-
ktion DIE LINKE

htlingskonvention – Hand-
ionaler und internationa-


Ausschuss für die Angelege

c) Beratung der Beschlu
richts des Innenaussch

– zu dem Antrag der
Jan Korte, Matthias
geordneter und der F

Für ein offenes,
rechtes europäisch

– zu dem Antrag der
Winkler, Viola von
Beck (Köln), weite
Fraktion BÜNDNIS

Für wirksamen Re
ren – Konsequenz
des Europäischen
schenrechte ziehen

– Drucksachen 17/467

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard
Rüdiger Veit

(RemsUlla Jelpke Josef Philip Winkler nheiten der Europäischen Union ssempfehlung und des Beusses Abgeordneten Ulla Jelpke, W. Birkwald, weiterer Abraktion DIE LINKE rechtsstaatliches und gees Asylsystem Abgeordneten Josef Philip Cramon-Taubadel, Volker rer Abgeordneter und der 90/DIE GRÜNEN chtsschutz im Asylverfahen aus der Entscheidung Gerichtshofs für Men 9, 17/4886, 17/5362 – Grindel Murr)

Gerold Reichenbach
René Röspel
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Marianne Schieder


(Schwandorf)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Ottmar Schreiner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


FDP

Pascal Kober
Michael Link (Heilbronn)

Patrick Meinhardt
Dr. Stefan Ruppert
Torsten Staffeldt

DIE LINKE

Jan van Aken
Karin Binder
Eva Bulling-Schröter

Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jutta Krellmann
Ralph Lenkert
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Alexander Süßmair
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Volker Beck (Köln)



(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Oliver Krischer
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Tobias Lindner
Agnes Malczak
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Claudia Roth (Augsburg)

Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel

Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Dr. Harald Terpe
Josef Philip Winkler

Enthalten

CDU/CSU

Helmut Heiderich
Bartholomäus Kalb
Dr. Mathias Middelberg

SPD

Frank Schwabe

DIE LINKE

Heidrun Bluhm
Dr. Diether Dehm

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Katja Dörner
Monika Lazar

Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)






Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-
Taubadel, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einheitlichen EU-Flüchtlingsschutz garantie-
ren

– Drucksachen 17/4439, 17/5361 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-
Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Unverzügliche Aussetzung des Deutsch-Syri-
schen Rückübernahmeabkommens

– Drucksachen 17/5775, 17/6383 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe (Leipzig)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck

(Köln), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Ab-

geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und
der Flüchtlinge aus Libyen und für eine men-
schenwürdige Behandlung und Aufnahme von
Schutzbedürftigen

– Drucksachen 17/5909, 17/6266 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Angelika Graf (Rosenheim)

Serkan Tören
Annette Groth
Tom Koenigs

Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem Deutsch-Syri-
schen Rückübernahmeabkommen werden wir später na-
mentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Sind
Sie damit einverstanden? – Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Josef Winkler. Bitte schön, Kollege Josef Winkler.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 28. Juli wird die Genfer Flüchtlingskon-
vention 60 Jahre alt. Ihr Ziel war und ist es, Menschen
zu schützen, die aufgrund von Verfolgung über Staats-
grenzen geflohen sind. Auch 60 Jahre nach Verabschie-
dung der Genfer Flüchtlingskonvention müssen Men-
schen aus Angst vor politischer Unterdrückung, vor
Bedrohung durch Bürgerkriege oder vor willkürlicher
Gewalt ihre Herkunftsländer verlassen und sind auf den
Schutz der Aufnahmeländer angewiesen.

Auf derzeit bis zu 50 Millionen Personen schätzt man
weltweit die Zahl der Opfer von Flucht und Vertreibung.
Die allermeisten von ihnen finden Aufnahme in Nach-
barländern, die ihrerseits ebenfalls zu den ärmsten Län-
dern der Welt zählen. Trotz des Wandels globaler Migra-
tionsbewegungen hat die Genfer Flüchtlingskonvention
also auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Sie ist und bleibt die Magna Charta des internationalen
Flüchtlingsschutzes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP])


Wir finden, ihre Bedeutung für den Schutz politisch
Verfolgter ist durch die jüngsten Ereignisse in der arabi-
schen Welt erneut eindrücklich bestätigt worden.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ausdrücklich al-
len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hohen Flücht-
lingskommissariats der Vereinten Nationen, aber auch
den vielen anderen international und national tätigen
Flüchtlingsorganisationen für ihren unermüdlichen Ein-
satz zu danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Leider finden sie in der Politik der Bundesregierung
bisher viel zu wenig Gehör.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Na, na, na! – Erika Steinbach [CDU/CSU]: Das stimmt ja nicht!)


Es wäre schön, wenn sich das wandeln könnte.

Meine Damen und Herren, aus der Genfer Flücht-
lingskonvention folgt auch zwingend, dass Schutzsu-
chenden Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewährt
werden muss. Aber wie ist die reale Situation in Europa?
Anstatt mehr legale Möglichkeiten für die sichere Ein-
reise von Flüchtlingen zu eröffnen, errichtet Europa im-
mer neue und höhere Hürden, zunehmend unter Einfluss
von angrenzenden Staaten, zum Beispiel im Mittelmeer-
raum. Da es kaum noch Möglichkeiten gibt, Europa auf
legalem und sicherem Weg zu erreichen, gehen Flücht-
linge lebensgefährliche Risiken ein, um Schutz in der
EU zu finden. Wenn man sich vor Augen hält, dass allein





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)

in den letzten vier Monaten mindestens 1 650 Menschen
auf ihrer Flucht vor Menschenrechtsverletzungen, Ge-
walt und Armut im Mittelmeer ertrunken sind, muss man
festhalten: Diese Situation ist aus humanitärer Sicht un-
haltbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Deshalb ist klar: Alle Grenzschutzmaßnahmen – grund-
sätzlich sind sie natürlich legitim – müssen mit interna-
tionalem Recht im Einklang stehen. Deshalb muss die
Verantwortung für Frontex-Einsätze endlich unzweideu-
tig festgeschrieben werden. Die Bundesregierung muss
sich dazu bekennen, dass die Genfer Flüchtlingskonven-
tion neben anderen Schutzstandards an den EU-Außen-
grenzen und auf hoher See Anwendung finden muss.
Diesbezügliche Anfragen, die wir gestellt haben, sind von
der Bundesregierung bisher nicht unzweideutig beant-
wortet worden. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Es muss klar sein, dass ein faires Asylverfahren tat-
sächlich möglich ist. Deshalb dürfen Schutzsuchende
nicht inhaftiert werden. Haft und Lagerunterbringung
sind insbesondere für die Menschen, die bereits in ihren
Herkunftsländern inhaftiert waren, verstörend und zer-
störend. Stattdessen sollte man den Asylsuchenden wäh-
rend des Verfahrens zur Feststellung ihres Status größt-
mögliche Freizügigkeit im Aufnahmeland zubilligen.
Die einschneidenden Einschränkungen der Bewegungs-
freiheit, die im Rahmen der sogenannten Residenzpflicht
in Deutschland zunächst für alle Schutzsuchenden ge-
setzlich vorgesehen sind, sind weder notwendig noch an-
gemessen und sollten endlich abgeschafft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zu einem fairen Asylverfahren gehört zwingend der
Zugang zu Unterstützungsleistungen während der gesam-
ten Dauer des Verfahrens; das hört sich selbstverständlich
an, ist es aber in Europa nicht überall. Unterkunft, Ver-
pflegung und ausreichende Versorgung inklusive medizi-
nischer Versorgung müssen gewährleistet sein. Es ist
unwürdig, dass Asylantragsteller in bestimmten EU-Mit-
gliedstaaten monatelang auf der Straße leben müssen,
ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen und zu medizi-
nischer Hilfe, ohne die Möglichkeit – ganz allgemein ge-
sagt –, grundlegende menschliche Bedürfnisse zu befrie-
digen. Das kann so nicht bleiben; das folgt schon allein
aus dem Grundsatz der Menschenwürde, der sich nicht
nach dem Aufenthaltsstatus einer Person richtet. Die
Bundesregierung muss auf der europäischen Ebene stär-
ker als bisher intervenieren, damit diese Zustände zum
Beispiel in Griechenland und Italien nicht mehr auftreten
und endlich abgestellt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Man muss aber nicht nur in andere Länder schauen;
denn – das ist richtig – auch vor der eigenen Tür ist ge-
nug zu tun. Das gilt auch für das Flüchtlingsrecht. Viele
Menschen wissen gar nicht, dass der effektive Recht-
schutz, der nach den europäischen Richtlinien vorge-
schrieben ist – das Einlegen von Rechtsmitteln hat im
Asylverfahren demnach aufschiebende Wirkung –, in
Deutschland nicht mehr gewährleistet ist. Das halten wir
für nicht vereinbar mit der Europäischen Menschen-
rechtskonvention und den entsprechenden Richtlinien;
der Gesetzgeber muss das korrigieren. Wir haben Ihnen
heute eine Korrektur in Form eines Antrags vorgelegt,
weil Sie offensichtlich nicht selber in der Lage sind,
diese einfache Korrektur vorzunehmen. Lesen Sie sich
diesen Antrag durch und stimmen Sie ihm zu!


(Rüdiger Veit [SPD]: Guter Antrag!)


Dann halten Sie das Europarecht endlich wieder ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben
verabredet, dass beim Asylrecht möglichst viel in der
Hand der Nationalstaaten bleiben soll; bei Asylfragen
solle so wenig wie möglich auf europäischer Ebene gere-
gelt werden. Das führt zu einem schlimmen Gefälle in
der EU. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel aus dem Bereich
der Flüchtlingsanerkennung: Die Wahrscheinlichkeit,
dass einem afghanischen Flüchtling Asyl oder Abschie-
bungsschutz gewährt wird, liegt in den EU-Mitgliedstaa-
ten zwischen 0 und 90 Prozent, je nachdem, in welchem
Land der Asylantrag gestellt wurde. Das, meine Damen
und Herren, kann einfach nicht gerecht sein; das kann
nicht europäisches Flüchtlingsrecht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Angesichts der warmherzigen Worte der Bundeskanz-
lerin in Richtung der Demonstranten im Zusammenhang
mit dem arabischen Frühling sage ich: Es ist nicht allen
gegeben, an den Demos teilnehmen zu können; viele
mussten fliehen oder waren schon aus anderen Ländern
zum Beispiel nach Libyen geflüchtet. Die Flüchtlinge,
die in Libyen gestrandet sind, müssen das Land nun an-
gesichts der dortigen Auseinandersetzungen verlassen.
Man könnte auch in diesem Zusammenhang ein konkre-
tes Zeichen setzen, indem man sofort Flüchtlinge aus Li-
byen aufnimmt. Auch hierzu legen wir Ihnen heute einen
Antrag vor.

Ein letzter Punkt: Syrien. Wir legen Ihnen einen An-
trag zur unverzüglichen Aussetzung des Deutsch-Syri-
schen Rückübernahmeabkommens vor, über den wir na-
mentlich abstimmen lassen wollen. Es ist unverschämt
genug, dass es so ein Abkommen mit einer Diktatur wie
Syrien überhaupt gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das Bundesinnenministerium hat zwar einen Ent-
scheidungsstopp für das Bundesamt für Migration ver-
hängt – es wird also weder pro noch kontra entschieden;
es wird nicht gesagt, ob die Flüchtlinge bleiben können





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)

oder nicht –, und in einem Schreiben an die Länder
stand, dass Abschiebungen nach Syrien derzeit nicht rat-
sam seien, das ist aber windelweich. Das ist kein gene-
reller Abschiebestopp, sondern nur eine Empfehlung.
Man weiß auch nicht, ob diese Zeiten als legaler Aufent-
halt angerechnet werden, wenn zu einem späteren Zeit-
punkt eine Bleiberechtsregelung gefunden wird. Deshalb
sagen wir: Es muss ein genereller Abschiebestopp her.
Die Länder sollen entsprechend angewiesen werden.
Niemand darf von deutschem Boden nach Syrien abge-
schoben werden. Dieses unsägliche Rückübernahmeab-
kommen muss zurückgenommen werden, und zwar so-
fort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu hat meine Fraktion einen Antrag vorgelegt. Er ist
gerade zum 60. Jubiläum der Genfer Flüchtlingskonven-
tion das richtige Zeichen, um zu sagen: Wir haben ver-
standen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712007700

Vielen Dank, Kollege Joseph Winkler. – Als Nächster

in unserer Debatte spricht der Parlamentarische Staatsse-
kretär Dr. Christoph Bergner. Bitte schön, Herr Staatsse-
kretär.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1712007800


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-
lass für diese Anträge – 60 Jahre Genfer Flüchtlingskon-
vention – ist es wert, gewürdigt zu werden. Herr Kollege
Winkler, ich würde gerne mit einer Rede, die einem Ju-
biläum angemessenen ist, reagieren. Ich bin sicher, dass
über all die offenen Punkte, die Sie hier kritisch ange-
merkt haben, an anderer Stelle noch einmal diskutiert
werden kann.

Aus Sicht der Bundesregierung ist die Genfer Flücht-
lingskonvention heute unzweifelhaft bedeutsamer denn
je. Sie ist Teil der humanitären Fortschrittsgeschichte.
Sie ist ein Erfolgsmodell. Der Erfolg dieser Flüchtlings-
konvention ist zum einen darauf zurückzuführen, dass
die Staaten es verstanden haben, auf neue Verfolgungssi-
tuationen mithilfe der Konvention adäquat zu reagieren.
An dieser Stelle erinnere ich an das Gesetzgebungsver-
fahren zum Zuwanderungsgesetz. Für den die Zeiten
überdauernden Erfolg war zum Zweiten ausschlagge-
bend, dass viele Signatarstaaten selbst unter schwierigs-
ten Bedingungen großes Geschick bei der Anwendung
der Konvention bewiesen haben. Die große Herausfor-
derung bestand darin, eine hohe Zahl von Asylanträgen
zu bewältigen und gleichzeitig dem einzelnen Verfol-
gungsschicksal gerecht zu werden.

Deutschland und andere Staaten haben sich dieser He-
rausforderung gestellt. Hier ließe sich auf viele Debat-
ten, die in der Vergangenheit geführt wurden, verweisen.
Wir sind der Meinung, dass Deutschland diese Aufgabe
erfolgreich gemeistert hat und dass es jetzt darauf an-
kommt, den immensen Erfahrungsschatz, der in diesem
Zusammenhang gesammelt wurde, auch auf europäi-
scher Ebene im Rahmen der weiteren Harmonisierung
des Asylrechts zu nutzen.

60 Jahre Genfer Konvention, das ist auch für
Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Wir sollten anläss-
lich dieses Datums mit Stolz auf die Leistungen verwei-
sen, über die zwar durchaus kontrovers diskutiert wurde,
die aber einen humanitären Fortschritt darstellen. In den
Anfangsjahren suchten vor allen Dingen Menschen aus
den ehemaligen Ostblockstaaten Zuflucht in der Bundes-
republik Deutschland. Später – ab Anfang der 80er-Jahre
des vergangenen Jahrhunderts – kamen verstärkt außer-
europäische Asylbewerber hinzu. Nach dem Fall des Ei-
sernen Vorhangs erlebten wir einen Massenzustrom vor
allem aus Osteuropa. Mit 438 000 Asylbewerbern er-
reichte er 1993 den Höchststand. Ich mache darauf auf-
merksam, dass gleichzeitig auf vertriebenenrechtlicher
Basis auch ein großer Zuzug von Deutschen aus den
Staaten Mittelost- und Osteuropas nach Deutschland
stattfand.

Dies alles hat unser Asylsystem damals an den Rand
des Zusammenbruchs gebracht. Die Zugangszahlen sind
seither zwar erheblich zurückgegangen; aber gerade im
vergangenen Jahr stiegen die Asylbewerberzahlen wie-
der deutlich an. Nach einem zwischenzeitlichen Tiefst-
stand von 19 000 Asylbewerbern im Jahre 2007 hatten
wir im vergangenen Jahr 41 000 Asylbewerber zu ver-
zeichnen. Dieser Trend setzt sich weiter fort. In den ers-
ten sechs Monaten dieses Jahres kamen 21 000 Asylbe-
werber, was gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um
32 Prozent bedeutet.


(Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Kollege Wiefelspütz, ich bitte um Verständnis:
Ich habe gesagt, dass diese Rede durchaus den Charakter
einer Jubiläumsrede haben soll. Ich möchte die Debatte
gern an anderer Stelle führen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aber dann bitte nicht mit Prozentzahlen! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Reden Sie mal von denen, die Sie wieder abgeschoben haben!)


In all den Jahren haben wir tatsächlich Verfolgten
großzügig Schutz gewährt. Seit dem Inkrafttreten der
Konvention haben mehr als 385 000 Personen in
Deutschland den Flüchtlingsstatus erhalten. Viele sind
inzwischen eingebürgert. Gegenwärtig leben noch
115 000 Personen mit Flüchtlingsstatus in Deutschland.
Hinzu kommen rund 26 000 Personen mit einem huma-
nitären – subsidiären – Schutzstatus.

Unsere gegenwärtige Schutzquote ist hoch. Durch-
schnittlich erhalten rund 21 Prozent der Schutzsuchen-
den den Flüchtlingsstatus oder humanitären Schutz.
Schutz wurde und wird jedoch nicht nur über das Asyl-
verfahren gewährt, sondern auch durch besondere Auf-
nahmeaktionen oder im Wege des sogenannten vorüber-





Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

gehenden Schutzes. In den 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts wurde mehreren Tausend Bootsflüchtlin-
gen aus Indochina ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt.
Mitte der 90er-Jahre kamen über 400 000 Bürgerkriegs-
flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns. Wir
haben sie unbürokratisch aufgenommen und ihnen
Schutz gewährt. Um die Jahrtausendwende nahmen wir
im Rahmen einer Ad-hoc-Aktion innerhalb weniger
Tage abermals 12 000 Vertriebene aus dem Kosovo auf.
In jüngerer Zeit erhielten 2 500 irakische Christen ein
dauerhaftes Bleiberecht. Gegenwärtig bereiten wir, wie
Sie wissen, die Aufnahme von 150 Flüchtlingen aus
Malta vor.

Das sind bei weitem nicht alle Aufnahmemaßnahmen,
die Deutschland durchgeführt hat. Sie zeigen jedoch
exemplarisch unsere anhaltende Bereitschaft, Verfolg-
ten beizustehen und ihnen Schutz zu gewähren. Nach
Angaben des UNHCR – ich glaube, an dieser Wertung
kommt niemand vorbei – gehört Deutschland damit zu
den weltweit führenden Aufnahmestaaten von Flüchtlin-
gen.

60 Jahre Genfer Konvention sind aber auch aus einem
weiteren Grund für Deutschland zu einer besonderen
Geschichte des Erfolgs geworden. Es ist uns gelungen,
das Asylverfahren für Migranten mit asylfernen Motiven


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn?)


unattraktiv zu machen. Das geschah vor allem durch
Maßnahmen, die im Rahmen der Asylrechtsreformen
Anfang der 90er-Jahre getroffen wurden.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie halten die Rede als Bürokrat!)


– Herr Kollege Wiefelspütz, es geht mir um eine Ge-
samtschau. – Die große Zahl derjenigen, die in früheren
Jahren versuchten, über den Asylweg nach Deutschland
zu gelangen, ohne verfolgt zu sein, ist dadurch drastisch
zurückgegangen. Das geschah aber nicht zulasten der
Verfolgten. Tatsächlich kommt ein großer Teil der Asyl-
bewerber nunmehr aus Ländern, in denen Verfolgung
verbreitet und der Schutz der Menschenrechte insgesamt
unzureichend ist. Dazu zählen Afghanistan, Iran und
Irak. Ich könnte die Anerkennungsquoten für diese Län-
der, die im Moment festzustellen sind, im Einzelnen auf-
führen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Kommen Sie jetzt wieder mit Prozentzahlen?)


Dies ist aus meiner Sicht eine Mahnung an diejenigen,
die leichtfertig mit dem Vorwurf agieren, restriktive Re-
gelungen würden Verfolgten bereits den Verfahrenszu-
gang versperren, Stichwort „Festung Europa“. Dies trifft
offenkundig so nicht zu.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt das?)


Die zukünftige Asylpolitik wird nicht mehr allein auf
nationaler Ebene, sondern im Verbund mit den europäi-
schen Partnern gestaltet. Auf EU-Ebene laufen derzeit
die Verhandlungen über ein gemeinsames europäisches
Asylsystem. Deutschland unterstützt dieses Anliegen
nachdrücklich. Die aktuellen Verhandlungen über die
Vorschläge der Kommission sind allerdings schwierig.
Die Vorschläge der Kommission sind aus Sicht Deutsch-
lands und vieler anderer Mitgliedstaaten nicht ausgewo-
gen, da die Interessen der Mitgliedstaaten, insbesondere
bei der Bekämpfung des Asylmissbrauchs, nicht hinrei-
chend berücksichtigt sind.

Ziel muss es sein, einen fairen Ausgleich zwischen
den berechtigten Anliegen der Schutzsuchenden einer-
seits und der Mitgliedstaaten andererseits zu schaffen.
Wichtig ist für uns vor allem, dass bewährte Verfahren in
den Mitgliedstaaten nicht infrage gestellt werden. Diese
Positionen werden auch von der Mehrheit der Mitglied-
staaten vertreten. Die Kommission hat dies in ihren ers-
ten Vorschlägen zu wenig berücksichtigt. Sie wurden zu-
rückgezogen und überarbeitet. Die neuen, Anfang Juni
2011 von der Kommission vorgelegten Vorschläge ent-
halten bereits Verbesserungen. Aus unserer Sicht bedarf
es aber noch erheblicher weiterer Änderungen, um zu ei-
nem erfolgreichen Abschluss zu kommen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland hat da blockiert!)


Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wie-
derholen. Es ist nicht akzeptabel, wenn die neuen Vor-
schläge Regelungen enthalten, die erfahrungsgemäß
Anreiz für einen verstärkten Zuzug von Wirtschaftsmi-
granten sein können. Man mag einwenden, dass das
Asylrecht heutzutage Lockerungen verträgt, zumal die
Asylbewerberzahlen ja immer noch wesentlich niedriger
sind als in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Aber Asylpolitik darf nicht allein tagesaktuellen Erfor-
dernissen genügen, sie muss auch Eventualitäten gerecht
werden. Die Asylsysteme müssen so effizient und flexi-
bel ausgestaltet sein, dass auch hohe Zugangszahlen an-
gemessen bewältigt werden können.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind sie aber nicht!)


Das gilt umso mehr, als ein gemeinsames europäisches
Asylsystem langfristig Gültigkeit haben wird. Wenn es
einmal beschlossen ist, wird es kaum mehr möglich sein,
kurzfristige Änderungen vorzunehmen.

Wir sehen gegenwärtig auch die Gefahr, dass nicht
alle Staaten mit dem gegenwärtigen Harmonisierungs-
tempo Schritt halten können. Ich verweise auf Griechen-
land und das Vereinigte Königreich. Ich denke, dass es
aus diesem Grunde an der Zeit ist, auf europäischer
Ebene darauf hinzuwirken, dass diese Nachzügler auf-
schließen können. Andernfalls laufen wir Gefahr, uns
auf dem Gebiet des Asylrechts zu einem Europa der
zwei oder mehr Geschwindigkeiten zu entwickeln. Ich
hoffe, dass zumindest darüber Einvernehmen besteht,
dass dies unbedingt zu verhindern ist.

Ein Kernthema für Deutschland ist die EU-interne
Solidarität bei der Flüchtlingspolitik.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh ja! Solidarität!)






Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass der Asylbe-
werberzugang in die gesamte EU seit einigen Jahren nur
geringen Schwankungen unterliegt, während es gleich-
zeitig bei der Belastung einzelner Mitgliedstaaten zu
teilweise gravierenden Verschiebungen kommt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo ist Ihre Leidenschaft geblieben?)


Aus eigener Erfahrung zu Beginn der 90er-Jahre haben
wir Verständnis für Mitgliedstaaten, die einen unverhält-
nismäßig hohen Zustrom von Asylbewerbern haben. Wir
wissen aber auch, was Mitgliedstaaten bei hohen Asyl-
bewerberzahlen leisten können.

Grundlage für die Verteilung von Asylbewerbern ist das
Dublin-System. Die Zuständigkeitskriterien der Dublin-
Verordnung nehmen einen angemessenen Ausgleich
zwischen den legitimen Interessen der Beteiligten vor.
Grundsätzlich gilt das Veranlasserprinzip. Das heißt, zu-
ständig für das Asylverfahren ist der Mitgliedstaat, der
für die Einreise des Asylbewerbers verantwortlich ist.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712007900

Herr Staatssekretär, würden Sie bitte zum Ende kom-

men?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1712008000


Meine Damen und Herren, ich hätte jetzt gern noch
ausgeführt,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Jetzt fangen Sie noch mal von vorne an, Herr Bergner! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ach! Schönfärberei ist das hier! Mehr nicht!)


wie wir die Prognose einschätzen und welche Maßnah-
men wir im Sinne der Lastenteilung innerhalb der EU
anpacken wollen.

Herrn Kollegen Wiefelspütz, Herrn Winkler und allen
anderen sage ich: Ich weiß – angesichts der Kritik, die
Sie in Ihrer Rede geäußert haben,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das war meine Leidenschaft!)


bzw. angesichts der Kritik, die in Ihren Anträgen zum
Ausdruck gekommen ist –, dass Sie sich möglicherweise
eine Art Schlagabtausch über Einzelregelungen ge-
wünscht hätten.


(Christoph Strässer [SPD]: Einen Schlagabtausch? Wieso das denn?)


Es werden noch Abgeordnete sprechen, die in dieser
Richtung argumentieren werden; ich will bloß darauf
aufmerksam machen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712008100

Da haben Sie recht. Man sollte ihnen auch ihre Rede-

zeit lassen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1712008200


Herr Präsident, wenn ich noch einen Satz sagen darf:


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Es war von Ihnen nichts anderes zu erwarten!)


Mir ist es wichtig, einmal eine Gesamtdarstellung geben
zu können,


(Christoph Strässer [SPD]: Ja, ja! Jetzt langt es aber!)


um den von Ihnen oft zu Unrecht vermittelten Eindruck,
Deutschland würde sich sperren, humanitären Verpflich-
tungen gegenüber Flüchtlingen nachzukommen, endgül-
tig zu widerlegen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihnen aber nicht gelungen!)


Die Geschichte von 60 Jahren Genfer Flüchtlingskon-
vention zeigt, dass Deutschland einen erheblichen Bei-
trag geleistet hat.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Versuch ist misslungen!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712008300

Nächste Rednerin in unserer Debatte ist unsere Kolle-

gin Daniela Kolbe für die Fraktion der Sozialdemokra-
ten.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1712008400

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Der Anlass
ist feierlich. Am 28. Juli 1951 trat eine UN-Sonderkon-
ferenz zusammen und beschloss die Genfer Flüchtlings-
konvention. Endlich wurden Kriterien festgelegt, wann
ein Mensch ein Flüchtling ist und welche Schutzmög-
lichkeiten er hat.

Wie viele Menschen betrifft diese Konvention im
Moment? Weltweit gibt es etwa 43,7 Millionen Flücht-
linge. Als Vergleich: In Deutschland leben circa 81 Mil-
lionen Menschen. Wenn man sich also die Hälfte der
Einwohner Deutschlands vor Augen führt, dann hat man
eine Vorstellung davon, wie viel Flüchtlingsleid es auf
dieser Welt gibt. 15,4 Millionen Menschen mussten ihre
Länder verlassen. In all diesen Zahlen ist Nordafrika
nicht berücksichtigt. Wir wissen, dass dort gerade Mil-
lionen von Menschen auf der Flucht sind. Viele dieser
Flüchtlinge stecken fest. Sie stecken zum Beispiel in
Flüchtlingslagern fest. Sie kommen weder vor – sie ha-
ben also keine Möglichkeit, sich irgendwo fest anzusie-
deln –, noch kommen sie zurück in ihre Heimatländer.





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

Ich finde, dies ist ein guter Moment, dass wir in Eu-
ropa und Deutschland reflektieren über unsere Rolle und
unsere Verantwortung in dieser ganzen Angelegenheit.
Hier gibt es viele Punkte; einige sind angesprochen wor-
den. Wir diskutieren derzeit auch im Hinblick auf das
Asylbewerberleistungsgesetz unter anderem über Ab-
schiebungen und die Residenzpflicht.

Ich will mich in meiner Rede auf einen Punkt konzen-
trieren, nämlich auf die Außengrenzen der Europäischen
Union und die Frage, ob es überhaupt noch möglich ist,
dass Menschen nach Europa kommen, um hier Schutz zu
suchen und zu finden. Die übergroße Mehrheit der
Flüchtlinge findet sich in sehr armen Ländern. Gleich-
zeitig erleben wir in Europa eine massive Angst vor gro-
ßen Flüchtlingsströmen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Die wird gemacht!)


António Guterres – das ist der Hohe Flüchtlingskom-
missar der Vereinten Nationen – sagt dazu sehr treffend:

Ängste vor angeblichen Massenbewegungen von
Flüchtlingen in die Industrieländer sind massiv
übertrieben oder fälschlicherweise mit Fragen der
Migration verknüpft. Währenddessen tragen die üb-
rigen ärmeren Länder die Belastungen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Es stimmt: In Europa beobachten wir den Reflex, uns
weiter abzuschotten – mit allen Konsequenzen. Wir erle-
ben, dass Leute in immer kleineren Booten lange Stre-
cken fahren, dass sie sich in die Hände von Schleppern
begeben, dass viele von ihnen sterben. Eine Konsequenz
ist auch, dass Menschen, die schutzbedürftig sind, über-
haupt keine Möglichkeit mehr haben, nach Europa zu
kommen. Wir sind hier in der Verantwortung. Wir müs-
sen endlich neu abwägen: zwischen dem legitimen Inte-
resse, unsere Grenzen zu sichern, und dem Recht auf Le-
ben, dem Recht auf Asyl und der Möglichkeit, Asyl zu
beantragen.

Eine Möglichkeit bestünde darin, legale Wege für
Schutzsuchende zu schaffen, zum Beispiel mit Resettle-
ment-Programmen. Eine kurze Erklärung: Dabei geht es
darum, dass Menschen, die längere Zeit in Flüchtlingsla-
gern festsitzen – um einmal eine Zahl zu nennen: alleine
in Syrien halten sich derzeit 1,1 Millionen Flüchtlinge
auf, davon sehr viele dauerhaft –, dauerhaft von Drittlän-
dern aufgenommen werden und sich dort niederlassen
dürfen.

Der UNHCR sagt, dass von den 11 Millionen Men-
schen, die er betreut, 7,2 Millionen länger als fünf Jahre
ihre Länder verlassen haben, ohne sich niederlassen zu
können.

Der UNHCR weist auch darauf hin, dass wir jedes
Jahr 800 000 Resettlement-Plätze bräuchten. Leider gibt
es nur weniger als 80 000, viele davon in den USA.

Was sagt die Bundesregierung? Im Zusammenhang
mit der seitens der Vereinten Nationen an Europa gestell-
ten Bitte, mehr Resettlement-Plätze zur Verfügung zu
s
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1712008500
Wir machen doch schon etwas. Wir nehmen nicht
nur 100 Flüchtlinge aus Malta auf; wir nehmen
150 Flüchtlinge aus Malta auf. – Ich freue mich für diese
150 Menschen, bin aber beschämt von dieser Bundesre-
gierung und davon, dass das der Beitrag sein soll.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Als weiteren Aspekt möchte ich hier die Verantwor-
tung für Flüchtlinge auch in der Kooperation mit Dritt-
staaten ansprechen. Von dieser Stelle aus wurde schon
vielfach der Deal kritisiert, den Berlusconi mit Gaddafi
geschlossen hat: Milliarden an Hilfe an das Gaddafi-Re-
gime zu zahlen – implizit mit der Forderung, man möge
ihn mit Flüchtlingen verschonen. Und die Flüchtlinge
kamen nicht mehr. Sie sind auf dem libyschen Arbeits-
markt oder in Lagern oder in der Wüste gelandet. Die
Verurteilung dieses Vorgehens ist einhellig, denke ich;
wenn nicht, bitte ich um Signale der Regierung.

Umso mehr bin ich persönlich beunruhigt, weil wir
seit wenigen Tagen wissen, dass offensichtlich ein Deal
der deutschen Bundesregierung mit Algerien, also einem
autoritären Regime, über Rüstungsgüter, Sicherheits-
technik und Grenzschutztechnik in Höhe von 10 Milliar-
den Euro zustande gekommen ist.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Das ist eine Eins mit zehn Nullen dahinter.

Bundeskanzlerin Merkel hat sich zu diesem Thema
auch geäußert. Sie wurde vorgestern in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung zitiert. Das Zitat stammt von Ende
letzten Jahres und lautet:

Solche Grenzsicherungsprojekte tragen natürlich
auch dazu bei, die Flüchtlingsströme zu unterbin-
den.

Das heißt: 10 Milliarden Euro für die deutsche Rüs-
tungsindustrie und weniger Flüchtlinge – das ist ja ein
ganz toller Deal für dieses Land. Ehrlich gesagt: Ich
schäme mich wirklich für diese Bundesregierung. Was
hier gerade passiert, finde ich moralisch abgrundtief.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Opposition in Algerien sowie die Flüchtlinge dort
und an der Südgrenze von Algerien scheinen dieser Bun-
desregierung reichlich egal zu sein.

Das ist für mich ein weiterer Grund dafür, dass wir
endlich eine parlamentarische Kontrolle von Rüstungs-
exporten brauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ebenso brauchen wir ein moralisches Umschwenken
dieser Regierung. Eigentlich möchte man fast sagen: Wir
brauchen eine andere Regierung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712008600

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster spricht

für die Fraktion der FDP unser Kollege Hartfrid Wolff.
Bitte schön, Kollege Hartfrid Wolff.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP

freut sich, dass die Genfer Flüchtlingskonvention, zu
Zeiten einer christlich-liberalen Koalition in Deutsch-
land geschlossen, bei Linken und Grünen diese Unter-
stützung findet. Es ist immer gut, wenn die Arbeit einer
christlich-liberalen Koalition auch von der Opposition
gelobt wird – besonders, wenn das Lob zu Recht erfolgt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Konjunktiv: Es wäre, es wäre! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: In dem Kino war ich nicht, wo du den Film gesehen hast!)


Wir fühlen uns einer humanitären Flüchtlingshilfe ver-
pflichtet.

Im Hinblick auf das, was die Vorrednerin gesagt hat,
möchte ich aber auch klarstellen: Betroffenheitspolitik
hilft den Menschen nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nicht neu ist, dass wir heute Gelegenheit haben, wie-
der über eine Vielzahl von Anträgen zu immer den glei-
chen Themen der Flüchtlingspolitik aus den Reihen der
Oppositionsparteien zu sprechen.

Auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem gibt
es auch aus Sicht der Liberalen durchaus Verbesserungs-
bedarf. So ist jedoch beispielsweise die Abschaffung der
EU-Rückführungsrichtlinie ebenso wenig ein ernst zu
nehmender Vorschlag wie die Auflösung von Frontex.

Die Abschiebehaft ist – bei aller Notwendigkeit, sich
die Bedingungen hierzu immer wieder genau anzusehen –
legitime Ultima Ratio, um einen Abschiebevollzug zu
gewährleisten, und damit ein leider notwendiges Instru-
ment im Rahmen des Vollzugs demokratisch zustande
gekommenen Aufenthaltsrechts.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das sieht die niedersächsische FDP anders! Darauf komme ich später noch zu sprechen! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht aus dem normalen Gefängnis abschieben!)


Die Abschaffung der EU-Rückführungsrichtlinie ist
kontraproduktiv, da dort zum ersten Mal Mindeststan-
dards für alle Mitgliedstaaten festgeschrieben worden
sind. Die Linken schaffen mit ihrer Abschaffungsforde-
rung nicht mehr, sondern gerade weniger Rechte für die
Betroffenen. Dieser linke Populismus schadet den
Schwächsten – gerade auch in der Migrationspolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das müssen Sie aber noch mal erklären!)


Das gilt auch für die Forderung, die Grenzschutz-
agentur Frontex aufzulösen, die die Abgeordneten der
Oppositionsfraktionen auf der Suche nach dem verlore-
nen Kommunismus erheben.


(Lachen der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Es ist vielmehr sehr richtig, dass angesichts des gemein-
samen EU-Binnenraums die Grenzeinsätze über Frontex
koordiniert werden.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Darauf muss man erst mal kommen: Von Frontex zum Kommunismus! – Gegenruf des Abg. Manuel Höferlin [FDP]: Mit Grenzsicherung habt ihr ja Erfahrung!)


Ein rechtsstaatlicher Ausbau von Frontex erscheint mir
nicht fernliegend.

Bestimmte Vorfälle, etwa auf dem Mittelmeer, müs-
sen natürlich rückhaltlos untersucht und rechtsstaatliche
und völkerrechtliche Unsicherheiten müssen geklärt
werden. In den letzten Jahren hat es aber schon wichtige
Verbesserungen bei Frontex gegeben – gerade im Ein-
satz.

Eine, wie von der Opposition gefordert, zusätzliche
Behörde, eine „europäische Koordinierungsstelle zur
menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Aufnahme von
Flüchtlingen“, hat Europa und der Welt gerade noch ge-
fehlt. Es gibt für manche offenbar noch nicht genug Bü-
rokratie in Brüssel.

Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-
nen gehen, wie ich finde, sehr verantwortungsvoll mit
dem Thema Rückführungen um. Rückführungen werden
ausgesetzt, wenn sie nicht vertretbar sind. Das gilt für
Syrien ebenso wie für Griechenland. Das Bundesminis-
terium des Innern hat etwa alle Überstellungen nach der
Dublin-II-Verordnung nach Griechenland ausgesetzt,
Kollege Winkler.


(Rüdiger Veit [SPD]: Gezwungenermaßen! – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Seit einem Jahr! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange haben wir denn dafür gekämpft?)


Hier gibt es die volle Unterstützung auch der FDP-Bun-
destagsfraktion. Damit wird die schwierige Situation be-
rücksichtigt, die in Griechenland gerade für Asylbewer-
ber besteht.

Zudem hat die Bundesregierung konkrete Hilfe etwa
für die griechischen Behörden angeboten. Dies ist zum
Beispiel hinsichtlich einer menschenwürdigeren und
schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rah-
menbedingungen hierzu


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat nur nichts geholfen!)


ebenso wie zur Erhöhung der Grenzsicherheit tatsächlich
vor Ort vonnöten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundespolizisten sind doch gleich wieder weggegangen!)






Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

Nicht zuletzt aufgrund der Verhältnisse in Griechen-
land, des Urteils des EGMR und der Verfassungsge-
richtsbeschlüsse zu Dublin II muss man über das System
nachdenken und das auch bei den anstehenden Verhand-
lungen zum Ausdruck bringen. Eine Nachjustierung ist
aus meiner Sicht nötig. In diesem Zusammenhang plaka-
tiv von menschen- und europarechtswidrigen Bestim-
mungen des deutschen Rechts zu sprechen, wie die An-
tragsteller, halte ich für völlig überzogen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sachgerecht!)


Meine Damen und Herren, die Menschenrechtslage in
Syrien hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch
verschärft. Die syrische Regierung kämpft gegen ihr ei-
genes Volk. Die Lage ist äußerst besorgniserregend,
wenn nicht noch schlimmer. Deshalb hat das Bundesin-
nenministerium den zuständigen Ländern dringend emp-
fohlen, nicht nach Syrien abzuschieben. Die FDP unter-
stützt diese konsequente Haltung.


(Rüdiger Veit [SPD]: Dann könnt ihr ja auch dem Antrag zustimmen!)


Mehr kann durch eine Aussetzung des Abkommens,
wie von den Grünen gefordert, aber auch nicht bewirkt
werden. Lieber Kollege Veit, das ist übrigens ein Ab-
kommen, das damals noch von Vizekanzler Steinmeier
ausgehandelt wurde und durch das allein technisch das
Wie einer Rückführung und nicht das Ob-überhaupt ge-
regelt wird. Die Rückführung selbst – das ist das Ent-
scheidende – bleibt eine individuelle Entscheidung.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollte aber ausbleiben! – Manuel Höferlin [FDP]: Sehr interessant!)


Wir sind uns der Verantwortung Deutschlands auf
diesem Gebiet bewusst. Menschenrechte verpflichten!
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Asyl- und Flüchtlingspolitik weiterhin verantwortungs-
bewusst und sensibel gestalten


(Rüdiger Veit [SPD]: Habe ich da „weiterhin“ gehört?)


und die EU-Planungen konstruktiv begleiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Das kann ja nur als Drohung aufgefasst werden!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712008700

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in

unserer Debatte ist unsere Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin Jelpke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712008800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch die

Art, wie die Debatte heute von der Koalition geführt
wird, zeigt sich schon, wie berechtigt es ist, dass wir
heute nicht nur allgemein über diese wichtige Errungen-
schaft der Flüchtlingspolitik, die Genfer Flüchtlingskon-
vention, sondern auch ganz konkret über ganz aktuelle
Flüchtlingsdramen reden.

Diese spielen sich, wie wir eben schon gehört haben,
vor allen Dingen in Nordafrika ab, wo Tausende schutz-
bedürftige Menschen weiterhin feststecken. Vor allem
das Lager im tunesischen Choucha, wo 4 000 Menschen
unter extremen Lebensbedingungen dahinvegetieren,
muss erwähnt werden. Es gab dort sogar bewaffnete An-
griffe und Brandstiftungen von tunesischen Milizen und
dem Militär. Einige Flüchtlinge haben versucht, das La-
ger zu verlassen und über das Mittelmeer zu fliehen,
wurden dabei gestoppt und zurückverfrachtet. Nicht alle
haben diesen Ausbruch überlebt.

Die Linke fordert ganz klar, dass Flüchtlingen aus
Choucha und anderen Krisengebieten dringend geholfen
werden muss. Es bedarf einer Regelung, damit die
Flüchtlinge nach Europa geholt werden und gemäß ei-
nem aufzustellenden Schlüssel auf die EU-Staaten ver-
teilt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt eben nicht
nur, wer als Flüchtling zu gelten hat und welche Rechte
ein Flüchtling genießt. Sie sollte vor allem sicherstellen,
dass Flüchtlinge nicht in die Staaten zurückkehren müs-
sen, in denen sie verfolgt werden. Das bedeutet auch,
dass niemand in einen Staat verbracht werden darf, in
dem ihm wiederum die Abschiebung in das Verfolger-
land droht. Dieses Gebot der Nichtzurückweisung ist das
Herzstück der Flüchtlingskonvention. Genau dieser zen-
trale Bestandteil, Staatssekretär Bergner, wird durch die
Bundesrepublik und auch durch viele EU-Staaten auf
breiter Front unterlaufen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das sehen wir am Beispiel Nordafrika. Wir haben
neulich sogar an der griechisch-türkischen Grenze er-
lebt, dass griechische Grenzschützer Flüchtlinge mit
Waffengewalt in die Türkei zurückgezwungen haben.
Die Verletzung von Flüchtlingsrechten durch Abschie-
bung in vermeintlich sichere Drittstaaten ist in der EU
leider zu einem System geworden, wie man sagen muss.
Nach der Dublin-Verordnung müssen Asylsuchende dort
ihr Verfahren betreiben, wo sie in die EU eingereist sind.
Flüchtlingsorganisationen sprechen davon, dass die
Flüchtlinge eigentlich vom Himmel fallen müssten.

Ob sich tatsächlich alle Staaten an die Anforderungen
der Flüchtlingskonvention halten, spielt für das Innenmi-
nisterium überhaupt keine Rolle. Asylsuchende können
sich in Deutschland gerichtlich nicht effektiv wehren,
wenn sie in ein anderes EU-Land zurückgeschickt wer-
den sollen. 400 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr
von Deutschland nach Italien zurückverbracht worden,
obwohl die Bundesregierung weiß, dass dort die Flücht-
lingsrechte mit Füßen getreten werden. Ähnlich ist auch
mit Griechenland verfahren worden, auch wenn die ent-
sprechende Regelung für ein Jahr ausgesetzt ist. Das
heißt, wir müssen wirkliche Schutzmaßnahmen ergrei-
fen, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Das Fehlen eines Rechtsschutzes gegen solche Ab-
schiebemaßnahmen ist eindeutig ein Verstoß gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention. Das hat erst
kürzlich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in
einem Urteil ganz klar festgestellt. Er hat darin die Bun-
desregierung sehr deutlich kritisiert und sie aufgefordert,
die Rechte der Flüchtlinge endlich zu achten und umzu-
setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann mich meinem Kollegen Winkler nur an-
schließen: Man muss den Flüchtlingsinitiativen danken,
die immer wachsam sind, den Finger auf die Wunde le-
gen und deutlich machen, wie skandalös die Flüchtlings-
politik ist.

Änderungen im Asylverfahren werden auch vom Ho-
hen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen regel-
mäßig angemahnt. Er kritisiert beispielsweise die Be-
handlung von Asylanträgen an Flughäfen, wo es nur
Schnellverfahren gibt, in denen nicht gründlich geprüft
wird, wodurch natürlich schnelle Ablehnungen produ-
ziert werden. Auch die Praxis, anerkannte Flüchtlinge
hier in Deutschland mit sogenannten Widerrufsverfahren
zu überziehen, um ihnen ihren Status wieder abzuerken-
nen, wird vom UNHCR kritisiert. In den letzten elf Jah-
ren wurde 70 000 Menschen ihr Status aberkannt. Im
letzten Jahr waren es 15 000 Menschen, die mit einem
solchen Verfahren überzogen wurden.

Sie bewirken damit extreme Verhältnisse, vor allem
eine völlig unnötige Verunsicherung der Betroffenen. Ich
meine, dass dieser bürokratische Wahn, den es übrigens
nur in Deutschland und in sonst keinem anderen EU-
Staat gibt, endlich beendet werden muss. Es kann ein-
fach nicht sein, wie hier Flüchtlinge behandelt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Christoph Strässer [SPD] und Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Diejenigen, die es geschafft haben, nach Deutschland
zu kommen, sind immerhin in die Festung Europa vor-
gedrungen. Viele Flüchtlinge schaffen es aber überhaupt
nicht hierher; denn die EU schottet sich immer weiter ab.
Sie liefert den EU-Anrainerstaaten, wie wir schon gehört
haben, Waffen und Technologie, damit sie die Flücht-
linge an ihren Grenzen festhalten. Übrigens war auch
Gaddafi ein Nutznießer dieser Vorverlagerung der
Flüchtlingsabwehr, ebenso wie andere Diktatoren in die-
ser Region. Zusätzlich kreuzen die Schiffe europäischer
Grenzschützer vor den Küsten Nordafrikas, um schon
die Abfahrt nach Europa zu verhindern. Wir haben schon
gehört, dass bei der Abkürzung von Wegen immer mehr
Menschen ertrinken. Das ist ein menschenrechtlicher
Skandal.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist zu einem
Symbol für diese Abschottungspolitik geworden. Die
Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat schon 2009 festge-
stellt, Frontex produziere „ein bedrohliches Schutzva-
kuum … auf hoher See und an den europäischen Außen-
grenzen“. Menschen- und Flüchtlingsrechte gelten bei
Frontex-Einsätzen nichts. Erst auf massiven Druck von
Menschenrechtsgruppen wurden die Leitlinien für Fron-
tex-Einsätze geändert. Es wurde zwar gesagt, dass man
das Gebot der Nichtzurückweisung beachten wolle; aber
die konkrete Umsetzung bleibt den Mitgliedstaaten über-
lassen, und hier gibt es große Fehlentwicklungen.

Der Frontex-Einsatz an der griechisch-türkischen
Landgrenze von Oktober 2010 bis März 2011, den ich
schon angesprochen habe, war durch massive Men-
schenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Darüber haben
sogar die Bundespolizisten berichtet. Trotzdem wurde
dieser Einsatz von der Bundesregierung nicht abgebro-
chen. In den Schlussfolgerungen des Rates der Europäi-
schen Union vom Juni lässt sich ablesen, wo die Prioritä-
ten für Frontex liegen. Demnach soll die Effizienz bei
Grenzsicherungen gesteigert werden. Von einem effi-
zienten Flüchtlingsschutz ist nicht die Rede. Das wäre
aber unserer Meinung nach unbedingt notwendig.


(Beifall bei der LINKEN)


Eines ist doch klar: Diese Abschottungspolitik führt
direkt zum Tod von vielen Menschen. Allein in diesem
Jahr – das haben wir heute schon gehört – waren es über
1 600 bei dem Versuch, nach Europa zu kommen; die
Dunkelziffer kennen wir nicht. Darunter waren etliche
Flüchtlinge aus den afrikanischen Staaten, insbesondere
aus krisen- und kriegsgeschüttelten Ländern wie Soma-
lia, Sudan und Eritrea, die in Libyen festgehalten oder
sogar ins Gefängnis gebracht wurden, wie eine Delega-
tion des Innenausschusses selbst sehen konnte. Es ist
wirklich ein Skandal, dass solchen Regimen Geld gege-
ben wird, damit Flüchtlinge nicht nach Europa kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Anträgen
der Grünen sagen. Die Linke ist der Meinung, dass diese
Abschiebungs- bzw. Rückführungsabkommen gekündigt
werden müssen. Sie dürfen erst gar nicht mit Ländern
zustande kommen, die systematisch Menschenrechtsver-
letzungen betreiben. Deswegen werden wir uns bei die-
sem Antrag enthalten. Außerdem ist es hauptsächlich ein
Prüfantrag. Was Syrien angeht, sind wir der Meinung,
dass dieser Antrag nicht weit genug geht, wenn man nur
prüft. Von der Aussetzung für ein Jahr haben wir gehört.
Wir sind der Meinung, dass nicht zu prüfen ist, sondern
dass Entscheidungen für ein Bleiberecht von Menschen,
die schon viele Jahre hier leben, getroffen werden müs-
sen, und dass diejenigen, die jetzt kommen, ein Asylver-
fahren durchlaufen können. Man darf die Situation nicht
einfach aussitzen und die Menschen in Flüchtlingssam-
melunterkünften belassen, obwohl sie eigentlich ein
Asylrecht in Deutschland hätten.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712008900

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für

die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Michael
Frieser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1712009000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! 60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention – der
Herr Staatssekretär hat versucht, das in Erinnerung zu
rufen –, das hat eine Bedeutung für dieses Land in seiner
Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Es hat auch für
das Europa dieser Stunde eine Bedeutung. Diese
60 Jahre der Geschichte wurden hier als Plattform ge-
nutzt, was gutes demokratisches Recht ist und demokra-
tischer Ordnung entspricht; aber leider Gottes müssen
wir heute sehen, dass der 60. Jahrestag der Genfer
Flüchtlingskonvention als Aufhänger missbraucht wird,
um eine Reihe von Anträgen, die wir schon sehr oft in
diesem Hause diskutiert haben, erneut auf die Tagesord-
nung zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wäre es gar nicht auf der Tagesordnung!)


Unverdrossen wird auch immer wieder gerne der Ver-
such unternommen, ein Bild von der Bundesrepublik als
einen Staat zu zeichnen, der unzuverlässig ist, gegen jeg-
liche Form von Menschenrechten handelt und sich un-
menschlich gegen jede Art von Flüchtlingen stellt. Liebe
Kollegen, bitte hören Sie auf, den Eindruck zu erwe-
cken, als könnte man in irgendeiner Weise allen Flücht-
lingen und Verfolgten dieser Welt Genüge tun. Das wird
nicht funktionieren. Wir müssen nach wie vor den Ein-
zelfall im Blick behalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer zu uns kommt und nach den Grundsätzen der
Genfer Flüchtlingskonvention in seinem Land tatsäch-
lich von Folter oder Tod bedroht ist, hat nicht nur ein
verbrieftes, sondern ein reales und auch praktisch umge-
setztes Recht, hierzubleiben. Genau darum soll es gehen.
Wenn Sie diese Regeln nicht aufrechterhalten wollen,
dann wollen Sie einen anderen Staat. Dann bitte ich aber,
das auch zu sagen; denn damit setzen Sie in gewisser
Weise unsere Rechtsordnung aufs Spiel. Es geht darum,
dass wir denjenigen, die hierherkommen, eine Perspek-
tive bieten müssen, wenn sie in ihrem Land tatsächlich
verfolgt sind. Bei anderen, die weniger schutzbedürftig
sind, können wir versuchen, helfend einzuwirken, was
diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitions-
fraktionen tun. Wir können aber nicht jedes Leid dieser
Welt heilen.

Wenn Sie diejenigen, die nach der Genfer Flücht-
lingskonvention als schutzbedürftig und verfolgt gelten
und Flüchtlinge sind, mit jedem anderen gleichsetzen,
der hierherkommen kann, aus welchen Gründen auch
immer, dann verhalten Sie sich meines Erachtens wirk-
lich inhuman.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das setzt ja keiner gleich! Zugang zu fairen Verfahren!)


Diese Unterscheidung führt dazu, dass Sie jegliche Be-
mühungen in diesem Land, die auch zur Integration bei-
tragen, ad absurdum führen, weil dann letzten Endes de-
nen, die es wirklich nötig haben, nicht mehr geholfen
werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb glaube ich, dass man den Einzelfall im Blick
behalten muss.

Von Griechenland war schon die Rede. Vielen herz-
lichen Dank, aber dieser Antrag ist, wie so oft, obsolet.
Was Dublin II angeht, macht die Bundesregierung von
ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch und führt Asylver-
fahren hier durch.

Zum Thema Syrien haben wir in den 80er-Jahren
schon einmal Bilder der Gewalt gegen das eigene Volk
gesehen. Wir erleben die Wiederholung der Geschichte,
dass erneut ein sozialistisches Baath-Regime nicht davor
zurückschreckt, die eigene Bevölkerung nicht nur zu
drangsalieren, sondern auch über den Haufen zu schie-
ßen. Heute erfährt die Welt davon. Früher konnte noch
verschleiert werden, dass mit Panzern ganze Viertel
plattgemacht wurden. Heute aber kann per Twitter, mit
Fotos oder Filmen die Welt davon erfahren.


(Christoph Strässer [SPD]: Was tun Sie?)


Was passiert dadurch? Wir ändern unsere Verfahren.
Herr Kollege Wolff hat darauf hingewiesen, dass das
BAMF aufgefordert ist und bleibt, bei Rückführungen in
jedem Einzelfall auf eine Prüfung zu achten. Deswegen
ist doch das Rückführungsabkommen, das – darauf ha-
ben Sie hingewiesen – unter der rot-grünen Mehrheit
verhandelt wurde, weder falsch noch obsolet.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte ausgesetzt werden müssen!)


Ich will es nicht zum Lob ausarten lassen. Aber dass
man mit Ländern Rückführungsabkommen aushandelt,
ist notwendig, damit wir in der Lage sind, denen, die
hierbleiben müssen, zu helfen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: In Syrien gab es doch vorher schon Folter!)


Insofern stelle ich fest: Wir sind nach wie vor auch in
diesem Fall in der Lage, Rückführungen durchzuführen.
Das ist aber nach einer Einzelfallprüfung zu entscheiden.
Wir haben das BAMF mit der Kompetenz ausgestattet,
eine Einzelfallprüfung durchzuführen, wenn sich die Si-
tuation vor Ort ändert. Es ist keine Befassung des Deut-
schen Bundestages nötig, wenn das BAMF selbst eine
Rückführung aussetzen kann.

Ich komme daher im Ergebnis dazu, dass das Durch-
setzen der Rückführung von Ausreisepflichtigen not-
wendig ist, um die Funktionsfähigkeit dieses Staates zu
erhalten. Es ist notwendig, dass wir Zuwanderung steu-
ern. Wenn Sie alle Grenzen fallen lassen wollen, dann
verheißen Sie Menschen eine Perspektive. Sie geben
Menschen ein Versprechen, das Sie am Ende des Tages
nicht halten können. Wenn man das will, ist das ein poli-
tischer Auftrag, zu dem wir als Koalitionsfraktionen nur
sagen können: Wir sind anderer Auffassung.





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir gemerkt!)


Bezogen auf die Einhaltung von Menschenrechtsstan-
dards in der Rückführungspolitik bedarf die Bundesre-
gierung keiner Belehrung. Ich glaube auch nicht, dass es
richtig ist, den Eindruck zu erwecken, Sie würden anders
verfahren.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben wir aber schon!)


Ich glaube im Ergebnis, dass „60 Jahre Genfer Flücht-
lingskonvention“ keine Plattform dafür sein sollte, alle
Grenzen fallen zu lassen


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer fordert das?)


und diesen Rechtsstaat vor eine Herausforderung zu stel-
len, deren Folgen Sie meines Erachtens nicht im Griff
haben können.

Wichtig bleibt für uns der Inhalt dieser Flüchtlings-
konvention.


(Rüdiger Veit [SPD]: Dann könnt ihr dem Antrag der Grünen ja zustimmen!)


Menschen, die wirklich mit Verfolgung oder Tod be-
droht sind, sollen bei uns einen Hafen finden. Alles an-
dere ist unter dem Mäntelchen von Gutmenschentum le-
diglich eine andere politische Auffassung, die ich nicht
teile.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712009100

Nächster Redner in unserer Debatte ist der Kollege

Rüdiger Veit für die Fraktion der Sozialdemokraten.
Bitte schön, Kollege Veit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1712009200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-

nes kann ich an dieser Debatte nicht verstehen. Die Grü-
nen haben verdienstvollerweise einen Antrag mit dem
Titel „60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention“ vorge-
legt. Die anderen führen an, gern darüber zu sprechen,
haben aber etwas dagegen, dass alle anderen Anträge zu
dem Thema hier beraten werden. Das passt für meine
Begriffe relativ schlecht zusammen. Wir alle sollten ein-
mal sagen: Es ist ein Verdienst von Bündnis 90/Die Grü-
nen, den Antrag gestellt zu haben,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


sodass wir hier überhaupt zu dem Thema kommen. Die-
ser Antrag ist, nebenbei bemerkt, auch in all seinen For-
mulierungen so ausgezeichnet, dass er aus meiner Sicht
nur einen einzigen Fehler hat, wenn ich das jetzt ein we-
nig scherzhaft sagen darf: dass er nicht von mir oder von
uns stammt.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja reizend!)


Es gibt einen Antrag von den Grünen – liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, das sage ich, damit das am Schluss
nicht zu kurz kommt –, dem wir nicht zustimmen wer-
den. Das ist der Antrag betreffend die libyschen Flücht-
linge. Das hängt damit zusammen, dass aus unserer Sicht
Italien ein Drama der Überbelastung inszeniert, was kei-
ner europäischen Solidarität bedarf, um das nur stich-
wortartig schon einmal zu sagen.

Wir werden auch den Anträgen der Linken nicht zu-
stimmen können, aber nicht deswegen, weil uns der An-
tragsteller nicht passt, sondern deswegen, weil wir in-
haltlich andere Positionen haben.

Es sind schon Zahlen genannt worden. Es schadet
aber nichts, wenn man das wiederholt; denn Wieder-
holung ist bekanntlich ein wichtiges Prinzip in der Pä-
dagogik.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb stellen wir immer die gleichen Anträge!)


Es gibt 47 Millionen Flüchtlinge – Daniela Kolbe hat
das gesagt –, davon 15 Millionen in Drittstaaten, also
nicht Binnenvertriebene. Es gibt im Übrigen – kaum je-
mand denkt daran – sogar 6,6 Millionen Staatenlose auf
dieser Welt, die überhaupt nicht wissen, wohin. Von da-
her ist das Anliegen, das mit der Genfer Flüchtlingskon-
vention verfolgt wird, unbestreitbar aktuell.

Es sollte gerade in Deutschland besonders aktuell
sein, weil es dazu eine historische Verpflichtung beson-
derer Art gibt, über die hier noch niemand geredet hat.
Deswegen will ich das kurz andeuten. Es war im Jahre
1938, als die USA versucht haben, zugunsten der aus
Deutschland vertriebenen Juden so etwas Ähnliches wie
eine Schutzkonvention auf den Weg zu bringen – damals
vergeblich. Als 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention
formuliert und später signiert wurde, galt sie zunächst
einmal im Wesentlichen der Bewältigung der Kriegsfol-
gen, der Flüchtlingsströme, die durch den Krieg ausge-
löst worden waren. Es war der Krieg, den wir Deutsche
ausgelöst haben. Insofern müssten wir mit ganz beson-
derer Sensibilität, aber auch mit ganz besonderem Enga-
gement an den Einsatz dieses völkerrechtlichen Instru-
mentes gehen, wenn wir das auf die heutige Zeit zu
spiegeln versuchen. Da mache ich schon auch Defizite
aus.

Wenn ich das einmal an die Adresse der FDP sagen
darf: Zu rot-grünen Zeiten, aber auch noch zu Zeiten der
Großen Koalition haben Sie sich in der Rolle gefallen,
ausländer- und flüchtlingspolitisch am besten noch die
Linkspartei zu überholen; jedenfalls haben Sie Rot-Grün
ständig gescholten, viel zu wenig zu tun, viel zu spät und
viel zu halbherzig tätig zu werden. Wenn Sie heute sagen
– zwei Jahre sind anscheinend eine sehr lange Zeit in
dieser Koalition –, dass Sie die Ausländer- und Flücht-
lingspolitik dieser Bundesregierung weiterhin konstruk-
tiv begleiten wollen, dann ist das – Entschuldigung, lie-





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

ber Kollege Wolff – in meinen Augen eher eine herbe
Bedrohung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Denn das, was Sie einmal an Inhalten vertreten haben,
haben Sie bei Ihrer Liebesheirat, die heute eher eine
Zwangsheirat zu sein scheint, sozusagen an der Garde-
robe abgegeben.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Es kommt jetzt ins Gesetzblatt!)


Wir haben mehrere Beispiele dafür: Die Bleiberechtsre-
gelung ist unzureichend, die Opfer von Zwangsheirat
sind nicht ausreichend geschützt usw. Diese Punkte kann
ich jetzt allerdings nicht weiter ausführen.

Ich will zum Kernpunkt dessen kommen, was uns
heute wichtig sein muss. Das ist die Frage, wie wir in
Eu
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1712009300
In den letzten fünf Jah-
ren hat Europa 2,3 Flüchtlinge pro 1 000 Einwohner auf-
genommen. Angesichts der Gesamtzahl der Bedrohten,
Bedrängten und Heimatlosen in der Welt ist dies eine
sehr geringe Größenordnung. Wir treten daher ganz ent-
schieden dafür ein, dort, wo die Not am größten ist – also
in den Herkunftsländern, aber auch in den Ländern, in
die die Menschen als Erstes geflohen sind –, zu helfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen ein Resettlement-Programm. Der UNHCR
hat angesichts der Situation in Tunesien und Ägypten
gesagt, dass mindestens 8 000 Resettlement-Plätze zur
Unterbringung derjenigen, die Flüchtlinge im Sinne der
GFK sind, gebraucht werden. Aber es gibt nur 800 da-
von. Vor diesem Hintergrund wird die europäische Ver-
antwortung deutlich. Wir dürfen uns nicht an dem Bei-
spiel Italien orientieren, wo gesagt wird: Wenn es uns
nicht mehr mit der Hilfe von Gaddafi gelingt, die Flücht-
linge, die über das Mittelmeer zu uns flüchten wollen, in
Libyen zu halten, dann wollen wir sie gerne ohne Über-
prüfung weiterreichen. Am Ende würden wir sogar aus
der EU austreten. – Auch Äußerungen des bayerischen
Innenministers Herrmann, man müsse angesichts dieser
Massenbewegung wieder zu Grenzkontrollen zurück-
kehren, sind nicht unbedingt hilfreich.

Wenn wir ein Resettlement-Programm wollen, dann
müssen wir über andere Größenordnungen reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Bundesregierung muss, notfalls vom Parlament,
eine klare Vorgabe gemacht werden, damit sie auf EU-
Ebene entsprechend auftritt. Es reicht nicht, zu sagen,
dass auf freiwilliger Basis und von Fall zu Fall über ein
paar Hundert Plätze entschieden wird.

Ich will hierzu eine Zahl nennen; dafür habe ich einen
unverdächtigen Zeugen. Als wir darüber diskutiert ha-
ben, wie viele Flüchtlinge aus dem Irak, die zwischen-
zeitlich in Jordanien und Syrien Zuflucht gefunden hat-
ten, in Deutschland aufgenommen werden sollten, hat
der damalige Bundesinnenminister Schäuble auf Befra-
gung im Menschenrechtsausschuss gesagt, er könne sich
durchaus eine kleine fünfstellige Zahl vorstellen. Dies
wären also mindestens 10 000. Weil das allein für die
Flüchtlinge aus dem Irak gilt und weil wir einen entspre-
chenden Gesamtansatz für die europäische Verantwor-
tungsteilung brauchen – ich rede nicht von der Lasten-
teilung hinsichtlich der Flüchtlinge, die direkt
hierherkommen; das ist ein anderes Thema –, müssen
wir über ganz andere Größenordnungen reden. Wir müs-
sen zu einer Binnenverteilung in der EU gelangen, die
sich beispielsweise an der Wirtschaftskraft und an der
Einwohnerzahl orientiert.

Zur FDP komme ich angesichts meiner fortgeschritte-
nen Redezeit nicht mehr. Ich würde dem Kollegen Wolff
sehr gerne noch die Thesen der FDP in Niedersachsen
überreichen; ich werde sie ihm nachher geben.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Wollen Sie beitreten?)


Als letzten Punkt möchte ich noch ein Zitat nennen:

Oberstes Gebot einer jeden Flüchtlingspolitik muss
der Schutz der Verfolgten sein. Und der Schutz vor
Verfolgung muss großzügig gewährt werden. Damit
beziehe ich mich vor allem auf den Kreis der
Schutzberechtigten. Ich halte es für unangemessen,
bei der Definition des Verfolgungsbegriffs kleinlich
zu sein.

Sie dürfen dreimal raten, wer das gesagt hat.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Otto Schily!)


– Das war nicht Otto Schily. Dieses Zitat ist jüngeren
Datums. Es war der jetzige Innenminister Friedrich am
20. Juni 2011.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Otto Schily wollte Lager bauen!)


Das Problem ist, dass der Rest der Rede nicht so gut war.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712009400

Sie wollten zu Ihrem letzten Punkt kommen.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1712009500

Sie sollten Ihren eigenen Innenminister beim Wort

nehmen und seiner grundsätzlich begrüßenswerten Auf-
fassung Taten folgen lassen. Darüber würde ich mich
freuen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712009600

Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser

Kollege Serkan Tören. Bitte schön, Kollege Tören.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1712009700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Veit, weil Sie uns direkt angesprochen haben, will
ich sagen: Ich wundere mich manchmal sehr über Ihr Er-
innerungsvermögen


(Rüdiger Veit [SPD]: Das ist ganz gut!)


und wiederhole, was mein Kollege Hartfrid Wolff gesagt
hat: Das deutsch-syrische Rücknahmeübereinkommen
ist von Ihrem damaligen Außenminister ausgehandelt
worden.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


Dann haben Sie noch das Bleiberecht erwähnt. Sie haben
es in elf Jahren nicht hinbekommen, für die betroffenen
Menschen etwas Vernünftiges zu regeln. Wir haben eine
Regelung insbesondere für Jugendliche gefunden, die
hier zur Schule gehen und integriert sind. Darauf können
wir in dieser christlich-liberalen Koalition stolz sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Überhaupt nicht erwähnt haben Sie natürlich – ganz klar –
die Lockerung der Residenzpflicht. Sie haben eben ein-
mal darüber hinweggesehen und es nicht erwähnt, weil
es Ihnen ebenfalls nicht passt.

Für die FDP ist klar: Der Staat hat das Recht und auch
die Pflicht, Zuwanderung mit den ihm hierfür zur Verfü-
gung stehenden Mitteln zu regulieren und zu kontrollie-
ren. Gleichwohl stehen wir auch für eine humanitäre Zu-
wanderungspolitik auf der Grundlage des internationalen
Flüchtlingsrechts, das bedeutet natürlich auch: für ein
rechtsstaatliches und gerechtes Asylsystem.

So ähnlich lautet auch der Titel eines Antrags der Lin-
ken, den wir hier unter anderem debattieren, nur dass der
Titel hier völliger Etikettenschwindel ist.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wie immer bei den Linken!)


Sie fordern unter diesem Deckmantel etwa die Abschaf-
fung der Rückführungsrichtlinie, die Abschaffung der
Abschiebehaft oder auch die Komplettauflösung von
Frontex.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Genau!)


Sie hätten Ihren Antrag schlichtweg „Abschaffung aller
Grenzen“ oder „Freizügigkeit für alle zu jeder Zeit und
überall“ nennen sollen. Das wäre ehrlicher gewesen.


(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Offene Grenzen für Menschen in Not!)


Allein schon die Forderung nach Abschaffung der Rück-
führungsrichtlinie ist absurd und läuft dem Titel zuwider.
Die Rückführungsrichtlinie setzt im Bereich der Rück-
führung doch endlich Mindeststandards in den Mitglied-
staaten. Das ist eine Verbesserung; das gab es bisher
nicht. Entgegen unser aller Wunsch sind die Standards
im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik leider nicht
immer auf einem einheitlich hohen Niveau in der EU.

Ich begrüße übrigens an dieser Stelle auch die Pläne
der Kommission, Frontex zu stärken. Allerdings darf
sich diese Stärkung nicht nur auf die quantitative Erwei-
terung von Mitteln und Personal beziehen. Ich halte es
für dringend geboten, die Schulung und Ausbildung von
Frontex-Mitarbeitern weiter voranzutreiben und insge-
samt für mehr Transparenz zu sorgen. Das muss Hand in
Hand gehen.

Die Europäische Union geht mit Unterstützung der
Bundesregierung hier den Weg, der tatsächlich zu einem
gerechteren und effizienteren Asylsystem führen wird.
Bis 2012 soll ein gemeinsames Asylsystem entstehen.
Das ist ein zugegebenermaßen straffer Zeitplan; aber
wenn es um vernünftige und gemeinsame Standards für
Flüchtlinge in der gesamten EU geht, dürfen wir ruhig
sportliches Engagement zeigen.

Trotz der aktuellen Entwicklung in Nordafrika und
der zeitweise gestiegenen Zahl an Flüchtlingen in der
EU gilt: Die Gesamtzahl der Asylanträge in der EU ist
über die letzten Jahre relativ konstant geblieben. Die An-
träge in den einzelnen Mitgliedstaaten variieren jedoch
stark. Beispielsweise in Deutschland ist die Zahl der
Asylanträge deutlich gestiegen. In der Zeit von Januar
bis Mai 2011 haben insgesamt 17 369 Personen in
Deutschland Asyl beantragt. Gegenüber dem Vergleichs-
zeitraum im Vorjahr bedeutet dies eine Erhöhung um
36,6 Prozent. In Österreich beispielsweise ist die Zahl
der Anträge 2010 um 30 Prozent gesunken. Im Übrigen
ist Deutschland laut UNHCR das Industrieland, in dem
die meisten Flüchtlinge leben, nämlich rund 600 000.

Eines ist klar: Wir haben in Europa ein Verteilungs-
problem. Ich würde mir hierzu zeitnah Vorschläge von
der Kommission wünschen, wie ein nachhaltiges, ver-
antwortungsvolles, effizientes und missbrauchssicheres
Verteilungssystem aussehen kann.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regierung könnte ja auch einen Vorschlag machen!)


Ein solches System würde nicht unbedingt eine Mehrbe-
lastung für Deutschland darstellen; denn – hier kann ich
unserem Innenminister nur zustimmen – Asylpolitik ist
keine Tagespolitik. Wer die EU als einen Raum der Frei-
heit, der Sicherheit und des Rechts erhalten will, wer
dem Schutzbedarf der Flüchtlinge und Vertriebenen im
nächsten Jahrzehnt gerecht werden will, der muss sich
mit der Dynamik der Migrationsströme und der Mobili-
tät von Menschen auseinandersetzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Migration ist nicht statisch. Politische Konflikte, Res-
sourcenknappheit und Umweltfragen werden zuneh-
mend Einfluss auf Wanderungsbewegungen auch nach
Europa haben.

Wir dürfen aber auch die andere Seite der Medaille
nicht vergessen, nämlich die Heimatländer der Flücht-
linge. Ein Großteil der Menschen bleibt heimatverbun-
den, lebt unter schwierigsten Bedingungen und in extre-
mer Armut im Ausland. Viele dieser Menschen wollen
ihre Familie und ihr Land nicht verlassen. Aus diesem
und vielen anderen guten Gründen gilt es vor Ort für
eine Verbesserung der politischen, gesellschaftlichen,





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

ökologischen und ökonomischen Verhältnisse zu sorgen.
Menschen brauchen Perspektive.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Siehe Algerien!)


Dies ist eine wichtige Zukunftsaufgabe, der wir uns mit
viel Engagement und Einsatz widmen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712009800

Vielen Dank. – Nächster Redner in unserer Debatte ist

für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Christoph Strässer. Bitte schön, Kollege Christoph
Strässer.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1712009900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meinen Redebeitrag zum Thema „60 Jahre Genfer
Flüchtlingskonvention“ möchte ich mit einem Zitat des
Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen
aus diesem Jahr beginnen. Herr Guterres hat anlässlich
der Feierlichkeiten Folgendes gesagt – ich glaube, das
trifft den Kern –:

Alles hinter sich zu lassen, was einem lieb und
teuer war, bedeutet, sich in einer unsicheren Zu-
kunft wiederzufinden, in einer fremden Umgebung.
Stellen Sie sich vor, welchen Mut es erfordert, mit
der Aussicht fertigzuwerden, Monate, Jahre, wo-
möglich ein ganzes Leben im Exil verbringen zu
müssen.

Herr Guterres ist kein Gutmensch. Er kennt die Reali-
täten in dieser Welt. In diesem Zitat beschreibt er exakt
das Schicksal von Menschen, die auf der Flucht sind.
Diese Menschen sind keine Last, sondern wollen ein Le-
ben in Würde leben, so wie wir es für uns reklamieren.
Das wünschen wir auch allen anderen Menschen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Einige der Bemerkungen aus den vorangegangenen
Redebeiträgen möchte ich gern aufgreifen; denn ich
denke – das sage ich in aller Offenheit –, dass es sich
hier um unterschiedliche Menschenbilder handelt. Es
geht um unterschiedliche Einschätzungen dahin gehend,
was Staaten aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention,
des, wie ich finde, richtungweisenden Werkes des Völ-
kerflüchtlingsrechts, tun können und müssen. Wir sagen
immer – das ist nicht nur die Auffassung der Sozialde-
mokratie –: Das ist die Magna Charta des Völkerflücht-
lingsrechts. Daran haben wir uns zu halten und zu orien-
tieren. Da gibt es aus meiner Sicht keine Ausnahmen
und keine Ausflüchte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich nur einige Begriffe aufgreifen. Herr
Bergner, Sie haben den Begriff der Lastenverteilung in
die Debatte eingebracht. Ich finde, wenn wir über
Flüchtlinge reden, ist es falsch, von Lasten zu sprechen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig!)


Ich empfinde Flüchtlinge nicht als Lasten, sondern als
Menschen, die auf der Suche nach einem menschenwür-
digen Leben sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man wirklich über Lastenverteilung reden sollte
und wollte, dann müsste man sich doch einmal an-
schauen, wo welche Lasten zu finden sind. Es wurden
bereits viele Zahlen genannt. Ich nenne immer folgendes
Beispiel: In Deutschland gibt es knapp 600 000 regis-
trierte Flüchtlinge. Sie machen weniger als 1 Prozent der
Bevölkerung aus. Im Tschad, dem Nachbarland des Su-
dan und dem viertärmsten Land der Welt, leben dagegen
seit mehr als zehn Jahren 2 Millionen Flüchtlinge. Wenn
wir in Deutschland von Lasten reden, dann ist das ge-
genüber den Ländern, die eine solch hohe Verantwor-
tung tragen, purer Zynismus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich möchte noch eine weitere Bemerkung machen.
Wir alle haben gedacht, die Bundesregierung befände
sich auf einem guten Weg, als sie sich zu einem Morato-
rium für die Rückführung von Flüchtlingen nach Grie-
chenland bereit erklärt hat. In der gerade stattgefundenen
Anhörung im Menschenrechtsausschuss haben wir alle
erst einmal gesagt: Oh prima! Was ist das denn? – Die
Botschaft, die dahinter steht, war unserer Einschätzung
zufolge aber ganz klar: Es handelte sich nicht um die
Einsicht, dass das bisherige Verfahren, die Menschen
dorthin zurückzuführen, wo sie kein Asylverfahren ge-
nießen können, falsch ist. Es handelte sich vielmehr um
schiere Furcht vor einer Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts in der Hauptsache.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig! So sieht es aus!)


Nach acht einstweiligen Anordnungen gegen die
Bundesregierung hatte man Angst, dass es zu einer end-
gültigen Entscheidung kommt, die die Rückführung der
Flüchtlinge nach Griechenland nach der Dublin-II-Ver-
ordnung grundsätzlich verbietet. Das war der eigentliche
Hintergrund.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Ich möchte noch eine Bemerkung zu einer Gruppe
machen, die hier heute noch keine Rolle gespielt hat, die
aber aus meiner Sicht als besonders schutzbedürftig an-
zusehen ist: die Kinder. Ich glaube, der ganze Deutsche
Bundestag hat ein Stück weit gefeiert, als es zur Rück-
nahme der Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskon-





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

vention kam. Eines haben wir in diesem Zusammenhang
aber nicht geregelt – ich weiß, dass es dazu unterschied-
liche Auffassungen gibt –: Es kann und darf nicht sein,
dass nach der Kinderrechtskonvention in Deutschland
für Kinder ein anderes Recht gilt, als nach der Kinder-
rechtskonvention vorgesehen. Auch Kinder in Deutsch-
land müssen nach dem Asylrecht bis zu ihrem 18. Ge-
burtstag als Kinder gelten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Deshalb meine eindringliche Bitte an dieses Haus und an
diese Bundesregierung: Ergreifen Sie endlich die Initia-
tive für Anpassungen im Bundesrecht, insbesondere im
Asylverfahrensrecht. Stellen wir die Kinder den Kindern
in anderen Regionen der Welt gleich, und geben wir ih-
nen die gleichen Chancen und Möglichkeiten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Ich komme zu einem letzten Punkt, der aus meiner
Sicht am Schluss dieser Debatte eine Rolle spielen
sollte. Wir haben auf Einladung des UNHCR im Dezem-
ber dieses Jahres eine Ministerkonferenz über die Fort-
entwicklung der Genfer Flüchtlingskonvention.

Ich hoffe und wünsche – wir werden das hier im Ho-
hen Hause begleiten –, dass von dieser Initiative der
Bundesregierung eine deutliche Verbesserung des
Flüchtlingsrechts in Deutschland und in Europa ausgeht.
Die „Festung Europa“ kann nicht die Zukunft eines fort-
schrittsgerichteten Asylverfahrens sein. Wir brauchen
wieder ein menschliches und würdiges Asylverfahrens-
recht. Darum bitten wir Sie, und dafür bekommen Sie
unsere Unterstützung.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712010000

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist

für die Fraktion der CDU/CSU Kollege Dr. Egon Jüttner.
Wir sollten ihm noch die notwendige Aufmerksamkeit
schenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1712010100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! In den Re-
den zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2011 wurde im-
mer wieder auf die Bedeutung der Genfer Flüchtlings-
konvention hingewiesen. Wenn wir heute daran
erinnern, dass vor 60 Jahren, am 28. Juni 1951, die Gen-
fer Flüchtlingskonvention auf einer UN-Sonderkonfe-
renz in Genf verabschiedet worden ist, so erinnern wir
an einen Akt, der den Übergang vom staatlichen Gna-
denakt hin zum individuellen Schutzanspruch, zum
rechtlich einklagbaren Anspruch auf Abschiebeschutz,
vollzogen hat.
In der Praxis bedeutet dies, dass Menschen, die we-
gen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden, ein per-
sönliches Schutzrecht zugebilligt wird. Zunächst bezog
sich dieses Schutzrecht auf Personen, die infolge von Er-
eignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten waren,
zu Flüchtlingen wurden. Diese zeitliche Beschränkung
und die Einschränkung auf europäische Flüchtlinge wur-
den im Protokoll von 1967 richtigerweise aufgehoben.
Immerhin sind weit über 140 Staaten sowohl der Kon-
vention als auch dem Protokoll beigetreten. Deutsch-
land, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem erheb-
lichen Flüchtlingsstrom konfrontiert war, gehörte zu den
ersten sechs Unterzeichnern der Konvention.

Auch heute, 60 Jahre nach der Unterzeichnung, ist die
Genfer Flüchtlingskonvention eines der wichtigsten Do-
kumente für den internationalen Flüchtlingsschutz. Die
Konvention ist geprägt von einem humanitären Geist,
der auch in Zukunft oberstes Gebot einer jeden Flücht-
lingspolitik sein sollte. Sie legt genau fest, welchen
rechtlichen Schutz Betroffene von den Unterzeichner-
staaten erhalten sollten, aber auch, welche Pflichten ei-
nem Flüchtling dem Gastland gegenüber auferlegt wer-
den.

Die Konvention definiert genau, wer im rechtlichen
Sinne als Flüchtling anerkannt werden soll, nämlich: wer
in seinem Heimatland verfolgt wird, wer seine Heimat
vorübergehend oder auf Dauer verlassen und in einem
anderen Land Schutz beantragen muss. Mit der Genfer
Flüchtlingskonvention wurde die erste völkerrechtlich
verbindliche Regelung zum Umgang mit Flüchtlingen
getroffen.

Wir erleben in vielen Ländern politische Unterdrü-
ckung, Gewalt sowie die Verfolgung Andersdenkender
und religiöser Minderheiten. Hauptflüchtlingsländer
sind zurzeit Angola, Myanmar, Uganda, Kolumbien,
Aserbaidschan und Sudan. Die Situation im Sudan ist
vor der offiziellen Unabhängigkeitserklärung des Südsu-
dan am 9. Juli dieses Jahres sehr angespannt. Nordsu-
dans Präsident Baschir hat gedroht, Abtrünnige in der
Provinz Süd-Kordofan, die Teil des Nordsudans ist, de-
ren Bürger sich aber mehrheitlich dem Süden zugehörig
fühlen, umbringen zu lassen. Hier droht ein erneuter
Völkermord, verbunden mit einem großen Flüchtlings-
strom.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Natio-
nen, UNHCR, geht von weltweit 15,3 Millionen Flücht-
lingen aus, die gezwungen sind, in anderen Ländern als
ihren Heimatländern zu leben. Hinzu kommen rund
27 Millionen Menschen, die innerhalb ihrer jeweiligen
Heimatländer als Binnenflüchtlinge in fremden Regio-
nen leben. Die Zahl der Asylbewerber wird weltweit mit
knapp 1 Million Menschen beziffert. Das sind Zahlen,
hinter denen sehr viele Einzelschicksale stehen – Men-
schen, die alles hinter sich gelassen haben, was ihnen
lieb und teuer war, die sich nach nichts mehr sehnen als
nach einem menschenwürdigen, sicheren Leben. Sie, die
meist alles verloren haben, müssen mit einem unglaubli-
chen Mut durchs Leben gehen. Sie sind auf andere ange-





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)

wiesen, um ihre Grundversorgung mit Nahrung, Klei-
dung und Unterkünften zu sichern.

Nach Angaben des UNHCR gehört Deutschland zu
den führenden Aufnahmestaaten von Flüchtlingen. Der-
zeit haben knapp 600 000 Flüchtlinge in Deutschland
Zuflucht und Schutz gefunden. Damit belegt Deutsch-
land den vierten Rang, noch vor den Vereinigten Staaten
und Großbritannien. Während die Zahl der Asylbewer-
ber im Jahre 2010 gegenüber dem Vorjahr weltweit um
5 Prozent zurückgegangen ist, ist die Zahl der Asylsu-
chenden in Deutschland um 49 Prozent gestiegen. Wir
hatten 2010 mehr als 41 000 Asylbewerber. In der ersten
Hälfte dieses Jahres ist ihre Anzahl im Vergleich zum
Vorjahr noch einmal beträchtlich angestiegen.

Deutschland hat sich auch in der Vergangenheit im-
mer wieder für den Schutz von Flüchtlingen eingesetzt.
Ich erinnere etwa an die vielen Flüchtlinge, die in den
90er-Jahren aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns ka-
men und bei uns aufgenommen wurden. Ich erinnere an
die 2 500 irakischen Christen, bei denen sich Deutsch-
land federführend für eine EU-weite Aufnahme einge-
setzt hat. Leider ist die Religionsfreiheit noch in
64 Ländern der Erde stark eingeschränkt oder gar nicht
existent. Wir fordern deshalb weltweit Religionsfreiheit
als eine zentrale Voraussetzung für ein freiheitliches Le-
ben in Würde; denn bei Fragen von Glaubensüberzeu-
gung und Weltanschauung ist der Kernbereich der Per-
sönlichkeit eines jeden Menschen betroffen, den es zu
schützen gilt. Gewissens- und Religionsfreiheit sind ele-
mentare Menschenrechte, die bereits in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte verankert sind.


(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/ CSU])


Insofern haben wir konsequent gehandelt, als wir uns für
die Aufnahme der 2 500 irakischen Christen eingesetzt
haben, denen dauerhafter Schutz gewährt wurde.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur Christen!)


Leider mussten wir in der Vergangenheit auch die Er-
fahrung machen, dass die durch die Genfer Flüchtlings-
konvention definierten gesetzlichen Bestimmungen
missbraucht wurden, indem Wirtschafts- und Armuts-
flüchtlinge die Situation ausgenutzt haben. Sie haben auf
diese Weise denjenigen geschadet, die aufgrund ihrer
politischen Überzeugung, ihrer Religion oder ihrer
Rasse verfolgt werden. Trotz dieser Mängel, die manch-
mal die öffentliche Meinung über die Asyl- und Flücht-
lingspolitik negativ beeinflusst haben, ist der Schutz
Verfolgter oberstes Gebot unserer Flüchtlingspolitik ge-
blieben. Die Akzeptanz der Genfer Flüchtlingskonven-
tion ist nach wie vor hoch. Alle politischen Kräfte sind
sich darin einig, dass der Schutz vor Verfolgung großzü-
gig gewährt werden muss. Gerade auf europäischer
Ebene ist die zentrale Bedeutung der Genfer Flüchtlings-
konvention unstrittig.

Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäu-
schen, dass es innerhalb der EU Unterschiede gibt. Da ist
auf der einen Seite beispielsweise Italien, das sich auf-
grund seiner geografischen Lage mit einem massiven
Flüchtlingsstrom konfrontiert sieht, und auf der anderen
Seite Dänemark, dessen Bevölkerung eher skeptisch ist,
was sich in der Wiedereinführung von Grenzkontrollen
widerspiegelt. Solche Disparitäten müssen aufgelöst
werden. Hierfür wird sich die Bundesregierung auf EU-
Ebene auch entsprechend einsetzen.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Sind Sie sich da sicher?)


Bei den derzeitigen Verhandlungen auf EU-Ebene
plädiert Deutschland für ein möglichst umfassendes Ver-
ständnis der Verfolgungsgründe und unternimmt alles,
um bei den Mitgliedstaaten Überzeugungsarbeit zu leis-
ten. Dabei muss alles darangesetzt werden, dass sowohl
den Interessen eines Landes als auch dem Recht Schutz-
suchender und Verfolgter auf Aufnahme Rechnung ge-
tragen wird. Dies muss auch der Maßstab für die neuen
Vorschläge der EU-Kommission sein, die auf Solidarität
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union untereinan-
der aufbauen sollten. Darüber hinaus muss sichergestellt
werden, dass das geltende EU-Recht in allen Mitglied-
staaten angewandt wird und Auslegungsunterschiede,
etwa bei der Flüchtlingsanerkennung, beseitigt werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712010200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6347 und 17/6095 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses auf Drucksache 17/5362. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4679 mit dem Titel „Für ein offenes,
rechtsstaatliches und gerechtes europäisches Asylsys-
tem“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Kann ich
bitte das Abstimmungsverhalten der Grünen noch ein-
mal signalisiert bekommen? Das war hier nicht zu erken-
nen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Enthaltung!)


– Gut. – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4886 mit dem Titel „Für wirksa-
men Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequenzen
aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte ziehen“. Wer stimmt für diese Be-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 d. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einheitlichen EU-
Flüchtlingsschutz garantieren“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5361, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4439 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der antragstellenden Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der SPD
und der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 e. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bün-
dnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Unverzügliche Aus-
setzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkom-
mens“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6383, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5775
abzulehnen. Wir stimmen nun auf Verlangen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen namentlich über die Be-
schlussempfehlung ab. Daraus folgt, dass die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer ihre Plätze einnehmen und die
Kolleginnen und Kollegen bitte kontrollieren, ob die Ab-
stimmungskarten ihren Namen tragen. – Sind alle
Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? – Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme bislang noch nicht abgeben konnte? – Das ist
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte Sie um
die notwendige Aufmerksamkeit und darum, die Gesprä-
che am Rande des Plenums so einzuschränken, dass wir
uns verstehen können.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Für die Unterstützung der humanitären Hilfe
zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der
Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige
Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen“.


(Unruhe)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass Sie
gerne wählen möchten. Wir sind aber noch nicht bei der
Wahl, sondern immer noch bei der Abstimmung über die
Beschlussempfehlung. Ich bitte Sie, die notwendige
Aufmerksamkeit herzustellen und mir hier vorne den
Blick freizumachen.

1) Ergebnis Seite 13932 D
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6266. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5909 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3
des Bundesschuldenwesengesetzes

– Drucksache 17/6439 –

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt auf
Drucksache 17/6439 die Kollegin Priska Hinz (Herborn)

vor.


(Unruhe)


– Liebe Kollegen, es hilft nichts. Die Wahl werde ich
erst eröffnen, wenn die notwendige Aufmerksamkeit
hergestellt ist und die notwendigen Erläuterungen erfolgt
sind.

Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich Sie um Auf-
merksamkeit für einige Hinweise. Die erforderlichen
Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch keine
Stimmkarte haben, können Sie diese von den Plenar-
assistenten bekommen. Für die Wahl benötigen Sie au-
ßerdem einen Wahlausweis, den Sie in der Lobby aus Ih-
rem Stimmkartenfach entnehmen können.

Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mit-
glieder des Bundestages auf sich vereint, das heißt min-
destens 311 Stimmen erhält. Stimmkarten, die mehr als
ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind
ungültig. Die Wahl ist nicht geheim; Sie können deshalb
die Stimmkarte an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte einwerfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahl-
ausweis an der Wahlurne einer der Schriftführerinnen
oder einem der Schriftführer.

Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an ih-
ren vorgegebenen Plätzen? – Das ist offensichtlich der
Fall. Dann eröffne ich jetzt die Wahl.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712010300

Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schrift-

führerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgege-
ben? – Das ist der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Sie sind einverstanden, dass das
Ergebnis der Wahl später bekannt gegeben wird.2)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis g und 53 i
bis m sowie die Zusatzpunkte 5 a und b auf:

53. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsände-
rungsgesetzes zur Umsetzung der Richtlinie

2) Ergebnis Seite 13938 D





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

des Europäischen Parlaments und des Rates
über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt

– Drucksache 17/5391 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Güterkraftverkehrsgesetzes und des
Personenbeförderungsgesetzes

– Drucksache 17/6262 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Seefischereigesetzes und des Seeauf-
gabengesetzes

– Drucksache 17/6332 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Seesicherheits-Untersuchungs-
Gesetzes

– Drucksache 17/6334 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Überweisung des Goldstone-Berichtes an den
Internationalen Strafgerichtshof durch den
UN-Sicherheitsrat

– Drucksache 17/6339 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Kathrin Vogler, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Behandlungs- und Betreuungsangebote für
traumatisierte Soldatinnen und Soldaten, zi-
vile Kräfte und Angehörige ausbauen

– Drucksache 17/6342 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),
Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Sören Bartol, Martin
Dörmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD, der Abgeordneten Patrick Kurth

(Kyffhäuser), Reiner Deutschmann, Patrick

Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP sowie der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Josef Philip Winkler, Katrin Göring-
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 –
Ein Ereignis von Weltrang

– Drucksache 17/6465 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

i) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Menschenrechte in der Tourismuswirtschaft
achten, schützen und gewährleisten

– Drucksache 17/6458 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Christel Humme, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Zeit zwischen den Geschlechtern gerecht ver-
teilen – Partnerschaftlichkeit stärken

– Drucksache 17/6466 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Seenotrettung im Mittelmeer konsequent
durchsetzen und verbessern

– Drucksache 17/6467 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine glaubwürdige Außenpolitik gegen-

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 54 a bis 54 q sowie

über Usbekistan
– Drucksache 17/6498 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Kerstin Müller (Köln),
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ausbildungstätigkeit der Bundespolizei in
Saudi-Arabien beenden
– Drucksache 17/6468 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss

ZP 5 a Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Sören Bartol, Willi Brase, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Vorrang für Verbraucherinteressen im Gen-
technikrecht verankern
– Drucksache 17/6479 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Stephan Kühn, Dr. Valerie Wilms, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für ein einheitliches Lkw-Tempolimit von
80 km/h auf Autobahnen in Europa
– Drucksache 17/6480 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
die Zusatzpunkte 6 a bis 6 l auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 54 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vierten, Fünften und Sechsten Änderung
des Europäischen Übereinkommens vom
1. Juli 1970 über die Arbeit des im internatio-
nalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrper-
sonals (AETR)


– Drucksache 17/6061 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/6440 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Herbert Behrens

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6440, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/6061 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke.
Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Fraktion der
Sozialdemokraten. Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das
sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen
und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Nie-
mand. Enthaltungen? – Fraktion der Sozialdemokraten.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innen-
ausschusses zu dem Antrag „Unverzügliche Aussetzung
des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“ be-
kannt: abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt
312, mit Nein haben gestimmt 200, Enthaltungen 69.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon

ja: 312
nein: 200
enthalten: 69

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth

Deutschland und der Republik San Marino
über die Unterstützung in Steuer- und Steuer-
strafsachen durch Informationsaustausch
Dirk Becker
Michael Kauch
Dorothee Menzner
Hans-Josef Fell

Der Ausschuss für Umwel
sicherheit empfiehlt in seine
Drucksache 17/6464, den Ge
gierung auf Drucksachen 17/6
men. Ich bitte diejenigen, d
stimmen wollen, um das H
dagegen? – Enthaltungen? – S
in zweiter Beratung einstimm

Dritte Be

und Schlussabstimmung. Ich
Gesetzentwurf zustimmen w
Wer stimmt dagegen? – Niem
mand. Somit ist der Gesetz
nommen.
t, Naturschutz und Reaktor-
r Beschlussempfehlung auf
setzentwurf der Bundesre-
039 und 17/6265 anzuneh-

ie dem Gesetzentwurf zu-
andzeichen. – Wer stimmt
omit ist der Gesetzentwurf
ig angenommen.

ratung

bitte diejenigen, die dem
ollen, sich zu erheben. –
and. Enthaltungen? – Nie-
entwurf einstimmig ange-
– Drucksache 17/6058

– Zweite Beratung un
von der Bundesregieru
eines Gesetzes zu dem
tober 2010 zwischen
desrepublik Deutsch
der Britischen Jungf
stützung in Steuer-
durch Informationsa

– Drucksache 17/6059

– Zweite Beratung un
von der Bundesregieru
eines Gesetzes zu
9. März 2010 zwisc
Deutschland und d
Uruguay zur Verme
rung und der Steuer


d Schlussabstimmung des
ng eingebrachten Entwurfs
Abkommen vom 5. Ok-

der Regierung der Bun-
land und der Regierung
erninseln über die Unter-
und Steuerstrafsachen
ustausch



d Schlussabstimmung des
ng eingebrachten Entwurfs
dem Abkommen vom

hen der Bundesrepublik
er Republik Östlich des
idung der Doppelbesteue-
verkürzung auf dem Ge-
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz

Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping

Tagesordnungspunkt 54 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 5. April 2011 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Internationalen Organisation für erneuer-
bare Energien über den Sitz des IRENA-Inno-
vations- und Technologiezentrums

– Drucksachen 17/6039, 17/6265 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/6464 –
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers

Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

Tagesordnungspunkt 54 c:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juni
2010 zwischen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung der
Turks- und Caicosinseln über den steuerlichen
Informationsaustausch

– Drucksache 17/6057 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
21. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

biet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen

– Drucksache 17/6056 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Fe-
bruar 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Republik Ungarn zur Ver-
meidung der Doppelbesteuerung und zur Ver-
hinderung der Steuerverkürzung auf dem Ge-
biet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen

– Drucksache 17/6060 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/6388 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding (Heidelberg)


Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstaben a bis e
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6388,
die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/6057,
17/6058, 17/6059, 17/6056 und 17/6060 anzunehmen.
Sind Sie damit einverstanden, dass wir über diese fünf
Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen? – Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte nun diejenigen, die
den Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Alle
anderen waren dafür. Die Gesetzentwürfe sind angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 54 d:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Europäischen Dienstleis-
tungsrichtlinie im Gesetz zum Schutz der Teil-

(Fernunterrichtsschutzgesetz)


– Drucksache 17/6208 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (18. Ausschuss)


– Drucksache 17/6494 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)

Oliver Kaczmarek
Heiner Kamp
Dr. Rosemarie Hein
Kai Gehring

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/6494, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6208 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Das sind alle Mitglieder
des Hauses. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Auch
niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem

Grünbuch

Europäischer Corporate Governance-Rahmen
KOM(2011)164 endg.; Ratsdok. 8830/11

hier: Stellungnahme im Rahmen eines Kon-
sultationsverfahrens der EU-Kommis-
sion

– Drucksachen 17/5822 Nr. A. 20, 17/6506 –

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6506, in Kenntnis des Grün-
buchs eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitions-
fraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Oppositionsfrak-
tionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 f:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja
Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kulturelle Bildung von Bundesseite nachhaltig
fördern – Auflegung eines Förderprogramms
„Jugendkultur Jetzt“

– Drucksachen 17/3066, 17/4595 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn)

Ulla Schmidt (Aachen)

Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Agnes Krumwiede

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4595, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3066 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das
sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Tagesordnungspunkt 54 g:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Alexander Bonde, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäi-
schen Rat am 28./29. Oktober 2010 in Brüssel
und zum G-20-Gipfel am 11./12. November
2010 in Seoul

hier: Stellungnahme gemäß Artikel 23 Ab-
satz 3 des Grundgesetzes

– Drucksachen 17/3425, 17/4246 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4246, den Entschließungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/3425 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind
die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 h:

Beratung der vierten Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (1. Ausschuss)


zu 43 Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am
27. September 2009

– Drucksache 17/6300 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Bernhard Kaster
Michael Hartmann (Wackernheim)

Christian Lange (Backnang)

Stephan Thomae
Dr. Dagmar Enkelmann
Josef Philip Winkler

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das
sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenprobe! – Keine.
Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.

Es ist vereinbart, hierzu dem Kollegen Thomas Strobl
das Wort zu geben. Bitte schön, Kollege Thomas Strobl.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1712010400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute haben Sie über die letzte von insgesamt vier Be-
schlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses zu
Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum
17. Deutschen Bundestag zu entscheiden. Nachdem die
Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl der Abgeord-
neten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepu-
blik Deutschland vom 7. Juni 2009 bereits vor einem
Jahr abschließend beraten worden sind, schließen wir
heute, wenn Sie der Empfehlung des Ausschusses folgen
und die Einsprüche zurückweisen, auch die Prüfung der
Bundestagswahl vom 27. September 2009 ab, gegen die
insgesamt 163 Einsprüche eingereicht worden sind.

Die heute zu behandelnden letzten 43 Wahleinsprüche
richten sich unter anderem gegen die Wahlen in einzel-
nen Justizvollzugsanstalten, die Briefwahl, die Über-
hangmandate sowie die Kandidatenaufstellung in einzel-
nen Fällen. In allen Fällen schlägt der Wahlprüfungs-
ausschuss vor, den Wahleinspruch zurückzuweisen. Der
Grund hierfür liegt darin, dass ein Wahleinspruch nur Er-
folg haben kann, wenn, erstens, ein Wahlfehler festzu-
stellen ist und dieser, zweitens, für die Verteilung der
Mandate relevant sein kann. Beides – ein Wahlfehler und
die Möglichkeit, dass dieser Fehler sich auch auf das Er-
gebnis auswirkt – muss für den Erfolg eines Wahlein-
spruchs kumulativ vorliegen.

Der Ausschuss hat auch im Rahmen der Prüfung der
letzten 43 Einsprüche nicht und damit bei keinem der
insgesamt 163 Einsprüche festgestellt, dass beide Vo-
raussetzungen vorliegen.

Der Ausschuss ist dennoch allen behaupteten Verstö-
ßen gegen Vorschriften für die Vorbereitung oder Durch-
führung der Wahl gründlich nachgegangen und hat in ei-
nem Fall nicht mit Sicherheit feststellen können, dass
kein Wahlfehler vorgelegen hat. Dabei ging es um die
Aufstellung einer Wahlkabine in einem Wahlraum, der
mit einer Überwachungskamera ausgestattet war. Es
handelte sich hier, was häufiger vorkommt, um einen als
Wahllokal genutzten Raum einer Sparkasse. Es ist natür-
lich nicht so, dass die Kameras zur Überwachung der
Wahl installiert worden sind. Da aber aus versicherungs-
rechtlichen Gründen das Verdecken oder Abschalten die-
ser Kameras am Wahltag problematisch war, fühlten sich
einzelne Wähler in dieser Situation verständlicherweise
unwohl.

Daher hat der Ausschuss seine Bedenken, dass es hier
zu einem Verstoß gegen die wahlrechtlichen Vorgaben
zum Schutz des Wahlgeheimnisses gekommen sein
könnte, deutlich geäußert. Jedoch war auch in diesem
Fall das erforderliche zweite Kriterium, der Einfluss des
Wahlfehlers auf die Sitzverteilung im Bundestag, nicht
erfüllt.

In einem weiteren Fall ist es nicht auszuschließen,
dass es zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Chan-
cengleichheit bei der Vergabe von Plakatflächen an Par-
teien für die Wahlwerbung gekommen ist. Auch hier
fehlte es aber an der Mandatsrelevanz des Wahlfehlers.





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

Diese Einsprüche werden zwar – wie auch die in den
vorherigen Beschlussempfehlungen behandelten Ein-
sprüche, in denen Wahlfehler bestätigt wurden – vom
Ausschuss als unbegründet zurückgewiesen, ich gehe
aber davon aus, dass die zuständigen Stellen unsere Hin-
weise auf die Mängel beachten und Sorge tragen, dass
derartige Wahlfehler in Zukunft nicht mehr vorkommen.

Zusätzlich hat der Ausschuss aufgrund der Erfahrun-
gen in Wahlprüfungsangelegenheiten die Bundesregie-
rung in bestimmten Fällen um Prüfung gebeten, ob und
inwieweit Defizite des geltenden Wahlrechts bzw. seiner
Anwendung behoben werden können.

Eine dieser Prüfbitten bezieht sich auf die Frage, ob
der Rechtsschutz für politische Vereinigungen, die nicht
zur Bundestagswahl zugelassen werden, verbessert wer-
den kann. Der Hintergrund ist hier, dass nach der jetzi-
gen Gesetzeslage Rechtsmittel erst nach der Wahl einge-
legt werden können, zu der die Partei nicht zugelassen
worden ist.

In Bezug auf den geschilderten Fall eines Wahllokals
mit bereits vor der Wahl installierter Überwachungska-
mera wurde die Regierung gebeten, solche Räumlichkeiten
zukünftig grundsätzlich nicht als Wahllokale zu nutzen.

Gegen die Entscheidung des Hohen Hauses über ei-
nen gegen die Bundestags- oder Europawahl gerichteten
Wahleinspruch ist, wie Sie alle wissen, die Beschwerde
an das Bundesverfassungsgericht zulässig. Hier ist zur-
zeit ein Verfahren anhängig, das von einiger Bedeutung
ist. Dabei geht es um die vom Ausschuss, wie eingangs
erwähnt, bereits im Juni letzten Jahres abgeschlossene
Prüfung der gegen die Europawahl gerichteten Einsprü-
che. In dem konkreten Fall wendet sich der Einspruchs-
führer gegen die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europa-
wahlrecht. Hierzu hat es vor einigen Wochen eine
mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsge-
richt in Karlsruhe gegeben, an der neben Mitgliedern des
Bundestages auch deutsche Abgeordnete des Europapar-
laments teilgenommen haben, die dem Gericht wertvolle
Eindrücke aus der Praxis des Europäischen Parlaments
schildern konnten. Eine Prognose über den Ausgang die-
ses Verfahrens in Karlsruhe möchte ich nicht wagen.

Zum Abschluss der Wahlprüfung möchte ich die
sachliche Atmosphäre, die bei den Beratungen im Aus-
schuss herrschte, ebenso hervorheben wie die Tatsache,
dass im Hinblick auf das Ergebnis der meisten Wahlprü-
fungsentscheidungen im Ausschuss ein breiter, partei-
übergreifender Konsens bestand. Deshalb möchte ich
mich bei der Kollegin und den Kollegen im Wahlprü-
fungsausschuss herzlich für die kollegiale und konstruk-
tive Zusammenarbeit bedanken. Außerdem danke ich
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss-
sekretariats für ihre gute Arbeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie nun,
den Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschus-
ses Ihre Zustimmung zu geben.

Danke sehr fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712010500

Vielen Dank, Herr Kollege. – Das haben wir auch ge-

macht. Insofern wird dieser Bitte in der Tat entsprochen.

Jetzt kommen wir aber noch zur Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/6450. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke? – Das ist die Frak-
tion Die Linke. Gegenprobe! – Das sind die Koalitions-
fraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? –
Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ent-
schließungsantrag ist somit abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 54 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 5
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

– Drucksache 17/6453 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das
sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen
und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Niemand.
Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er-
gebnis der Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes bekannt: abgege-
bene Stimmen 580, davon gültig 577. Mit Ja haben ge-
stimmt 517, mit Nein 33, Enthaltungen 27. Ungültige
Stimmkarten 3. Die Abgeordnete Priska Hinz (Herborn)

hat die erforderliche Mehrheit von 311 Stimmen er-
reicht. Sie ist damit als Mitglied des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes gewählt.1)

Wir fahren in der Tagesordnung fort. Wir kommen zu
den Tagesordnungspunkten 54 j bis 54 q. Sie betreffen
die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 54 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 287 zu Petitionen

– Drucksache 17/6323 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Sozialdemo-
kraten und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? –
Niemand. Enthaltungen? – Niemand. Damit ist die Sam-
melübersicht angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Sammelübersicht 288 zu Petitionen
– Drucksache 17/6324 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, SPD-Frak-
tion und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammel-
übersicht ist somit angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 289 zu Petitionen

– Drucksache 17/6325 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-
mokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt da-
gegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. So-
mit ist die Sammelübersicht angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 290 zu Petitionen
– Drucksache 17/6326 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand.
Somit ist die Sammelübersicht angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 291 zu Petitionen

– Drucksache 17/6327 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – SPD und
Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Die Sammel-
übersicht ist somit angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 292 zu Petitionen
– Drucksache 17/6328 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Sozial-
demokraten. Enthaltungen? – Linksfraktion. Somit ist
die Sammelübersicht angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 293 zu Petitionen

– Drucksache 17/6329 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Sozialdemokraten und Linksfraktion.
Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammel-
übersicht ist somit angenommen.

Tagesordnungspunkt 54 q:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 294 zu Petitionen

– Drucksache 17/6330 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Alle drei Oppositionsfraktionen. Ent-
haltungen? – Keine. Die Sammelübersicht ist somit an-
genommen.

Zusatzpunkt 6 a:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Grenzüberschreitende Bürgerrechte beim Atom-
kraftwerksprojekt Temelín 3 und 4

– Drucksache 17/6481 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind die Opposi-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Niemand. Somit
ist der Antrag abgelehnt.

Zusatzpunkt 6 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP

Mobilität nachhaltig sichern – Elektromobili-
tät fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf,
Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nachhaltige Mobilität fördern – Elektromobi-
lität vorantreiben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig,
Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Klimaschutz im Verkehr braucht wesentlich
mehr als Elektroautos

– zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Mit grüner Elektromobilität ins postfossile
Zeitalter

– Drucksachen 17/3479, 17/3647, 17/2022, 17/1164,
17/6441 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Beckmeyer
Werner Simmling





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3479
mit dem Titel „Mobilität nachhaltig sichern – Elektro-
mobilität fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegen-
probe! – Fraktion Die Linke. Enthaltungen? –
Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Be-
schlussempfehlung ist somit angenommen.

Wir sind noch beim Zusatzpunkt 6 b. Weiterhin emp-
fiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/3647 mit dem Titel „Nachhal-
tige Mobilität fördern – Elektromobilität vorantreiben“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegen-
probe! – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Ent-
haltungen? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/2022 mit dem Titel „Klimaschutz im Verkehr
braucht wesentlich mehr als Elektroautos“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten.
Gegenprobe! – Die Linksfraktion. Enthaltungen? –
Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.

Wir sind immer noch beim Zusatzpunkt 6 b.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/1164 mit dem Titel „Mit grüner Elektromobili-
tät ins postfossile Zeitalter“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? – Sozialdemokraten und Links-
fraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.

Zusatzpunkt 6 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 295 zu Petitionen

– Drucksache 17/6469 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und alle anderen Fraktionen dieses Hauses. Vor-
sichtshalber frage ich: Wer stimmt dagegen? – Niemand.
Stimmenthaltungen? – Auch niemand. Somit ist die
Sammelübersicht 295 angenommen.

Zusatzpunkt 6 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 296 zu Petitionen

– Drucksache 17/6470 –
Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und alle anderen Fraktionen des Hauses. Vorsichts-
halber: Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Keine.
Somit ist die Sammelübersicht 296 angenommen.

Zusatzpunkt 6 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 297 zu Petitionen

– Drucksache 17/6471 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Linksfraktion. Stimmenthaltungen? – Bündnis 90/Die
Grünen. Die Sammelübersicht 297 ist somit angenom-
men.

Zusatzpunkt 6 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 298 zu Petitionen

– Drucksache 17/6472 –

Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und
alle anderen Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dage-
gen? – Niemand. Stimmenthaltungen? – Auch niemand.
Die Sammelübersicht 298 ist somit angenommen.

Zusatzpunkt 6 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 299 zu Petitionen

– Drucksache 17/6473 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und alle anderen Fraktionen des Hauses. Ich frage
vorsichtshalber: Wer stimmt dagegen? – Niemand. Ent-
haltungen? – Auch niemand. Die Sammelübersicht 299
ist somit angenommen.

Zusatzpunkt 6 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 300 zu Petitionen

– Drucksache 17/6474 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Sozialde-
mokraten, Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? – Bünd-
nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die Sam-
melübersicht 300 ist somit angenommen.

Zusatzpunkt 6 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 301 zu Petitionen

– Drucksache 17/6475 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen, Bünd-
nis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten. Wer stimmt





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

dagegen? – Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand.
Die Sammelübersicht 301 ist somit angenommen.

Zusatzpunkt 6 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 302 zu Petitionen

– Drucksache 17/6476 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelüber-
sicht 302 angenommen.

Zusatzpunkt 6 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 303 zu Petitionen

– Drucksache 17/6477 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltun-
gen? – Niemand. Somit ist die Sammelübersicht 303 an-
genommen.

Zusatzpunkt 6 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 304 zu Petitionen

– Drucksache 17/6478 –

Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Alle drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? – Niemand. Somit ist die Sammelüber-
sicht 304 angenommen. – Jetzt haben wir es geschafft.

Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 2 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP

Anhaltend positive Entwicklung auf dem deut-
schen Arbeitsmarkt

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De-
batte ist der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Kol-
lege Volker Kauder. Bitte schön, Kollege Volker Kauder.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1712010600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Seit einiger Zeit hören wir jeden Monat positive Arbeits-
marktzahlen. Außerdem können wir alle erkennen, dass
es in Deutschland boomt. Eine der Lokomotiven, eine
der Schlüsselindustrien – die deutsche Automobilwirt-
schaft –, meldet in diesen Tagen, dass sie in ihrer 125-
jährigen Geschichte das beste Absatzergebnis erwartet,
das sie je hatte: 5,9 Millionen Autos sollen in Deutsch-
land produziert werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Trotz der Bundesregierung! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Wegen der Bundesregierung!)


Ein Erfolg ist nicht nur, dass so viele Autos verkauft
werden, sondern auch, dass es Tausende von neuen Ar-
beitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unternehmer, die können was! Gute Unternehmer, gute Arbeitnehmer, trotz dieser Bundesregierung!)


Dieses großartige Ergebnis einer klugen Politik, das
sich übrigens auch in den Kassen der Sozialversicherun-
gen auswirkt, weshalb wir in der Lage sein werden, die
Beiträge zu senken und somit die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu entlasten, ist eine große Gemein-
schaftsleistung in diesem Land, eine Gemeinschaftsleis-
tung von fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern sowie von risikofreudigen Unternehmern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eine Leistung der Großen Koalition, Herr Kauder!)


– Herr Kollege Heil, ich habe überhaupt keinen Grund,
zu bestreiten, dass die SPD unter Führung einer CDU-
Kanzlerin dazu in der Lage ist, dem Land etwas Gutes zu
tun.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer führt denn jetzt die Kanzlerin?)


Aber allein können Sie es auf gar keinen Fall,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und mit Grün zusammen wird es ohnehin nichts.


(Zuruf von der SPD)


Wir haben zum Schluss der Großen Koalition tatsächlich
ein paar richtige Entscheidungen getroffen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Fragen Sie doch mal Steinbrück und Steinmeier!)


Es war diese Regierungskoalition, die angesichts des
drohenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit aufgrund der Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise mit einer guten Politik – wir
haben die Kurzarbeit erleichtert – dafür gesorgt hat,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war der Scholz, Olaf Scholz, Herr Kauder!)


dass die Menschen im Boot bleiben konnten, dass Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer beieinander bleiben
und eine gute Zukunft haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hat Herr Brüderle die Kurzarbeit erfunden, oder was?)


– Herr Heil, Sie sollten hier nicht so herumschreien. Sie
sind nachher an der Reihe.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, leider nicht! – Rainer Brüderle [FDP]: Der darf nicht!)


Wenn Sie wollen, dass Herr Steinbrück Kanzlerkandidat
wird, können Sie es nachher hier sagen und mit Herrn
Steinmeier klären, warum Sie dafür und nicht für etwas
anderes sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wen stellen Sie denn auf, Herr Kauder?)


Ich glaube, das ist genau das, was die Menschen irri-
tiert. Die Menschen sind nämlich stolz auf das, was sie
miteinander erreicht haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Trotz dieser Regierung!)


Sie wollen nicht solche Leute, die so herumbrüllen und
ihnen damit den notwendigen Respekt versagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Heil, es bleibt dabei: Die Deutschen sind stolz
auf das, was sie erreicht haben, und darauf, dass sie bes-
ser aus der Wirtschaftskrise herausgekommen sind als
andere in Europa. Mit Ihnen hat dies wahrhaftig nichts
zu tun. Gar nichts hat das mit Ihnen zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Und mit Ihnen noch weniger!)


Wir lassen uns da auch gar nicht beirren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Anarchisten in der Regierung! Regierungsunfähig!)


Wir haben jetzt die große Aufgabe, dass wir uns mit
dem Thema beschäftigen, welche Konsequenzen der Al-
tersaufbau in unserem Land hat und was die demografi-
sche Veränderung verlangt, damit wir auch in Zukunft
genügend Menschen in Ausbildung bekommen, damit
wir genügend Facharbeiterinnen und Facharbeiter ha-
ben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nur nicht in der Regierung!)


Deswegen ist es nur konsequent – da kann ich die So-
zialdemokraten überhaupt nicht verstehen –, dass wir sa-
gen: Diejenigen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und die
jetzt Lohnerhöhungen bekommen,


(Zuruf von der SPD: Müssen auch davon leben können!)


sollen von diesen Lohnerhöhungen auch etwas mehr ha-
ben als nur ein paar zusätzliche Prozent.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Mindestlohn!)


Wir werden die schnell steigende Progression korrigie-
ren. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Der Mindestlohn auch und Leiharbeit auch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Davon haben Sie keine Ahnung!)


Dagegen können Sie lang polemisieren.

Ich kann Ihnen nur sagen: Wir stoßen beim Handwerk
und bei der Wirtschaft auf Zustimmung.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vor allen Dingen bei Herrn Keitel!)


Dort sagt man: Jawohl, wenn die Menschen von uns
schon einen guten Lohn bekommen, dann sollen sie auch
etwas haben. Dafür sorgt diese Regierungskoalition.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit dieser Regierung? Oh Gott!)


So weit müssen Sie es erst einmal bringen.

Gestern Abend wurde im deutschen Fernsehen eine
von der Unionsfraktion herausgebrachte Broschüre dar-
gestellt, in der gezeigt wird: Dem Land geht es gut. In
der Sendung wurde das bestätigt. Es wurde gesagt: Das
ist richtig. Deutschland geht es gut. Daran haben alle ih-
ren Anteil.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nur Sie nicht! Das weiß jeder in Deutschland!)


Die Deutschen sind stolz darauf, dass sie dies erreicht
haben, und das lassen sie sich von Ihnen nicht wegbrül-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit können wir zeigen: Diese Regierungskoalition ist
gut für unser Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sieht die Menschheit anders!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712010700

Das Wort hat der Kollege Juratovic für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1712010800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Kauder, ich werde das Gefühl nicht los,
dass jetzt, vor der Sommerpause, mit dieser Aktuellen
Stunde der schlechte Ruf der Bundesregierung etwas
aufpoliert werden soll.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Lassen Sie uns in Ruhe und Sachlichkeit weiterma-
chen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jeder so, wie er es kann!)


Es stimmt, dass wir, was die nackten Zahlen betrifft,
noch nie eine so hohe Beschäftigungsquote hatten. Es ist
allerdings fraglich, welche Bundesregierung dafür die





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)

Weichen gestellt hat. Fraglich ist auch, wie viel Einfluss
wir Politiker tatsächlich auf die konjunkturelle Lage ha-
ben. Aber das nur am Rande.

Was eine Bundesregierung tatsächlich beeinflussen
kann, ist die Arbeitsqualität und somit die Lebensquali-
tät der Menschen in unserem Land. Doch dazu später.

Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die Zahlen
werfen: Wir haben 40,8 Millionen Erwerbstätige. Davon
sind über 4 Millionen Selbstständige, darunter viele
Scheinselbstständige. Von den 36 Millionen abhängig
Beschäftigten sind 23,5 Millionen in Vollzeit; also sind
knapp 13 Millionen in verschiedenen Teilzeitarbeitsver-
hältnissen tätig. Jede dritte Stelle, die bei der Bundes-
agentur für Arbeit gemeldet ist, ist ein Leiharbeitsver-
hältnis. 1,4 Millionen Menschen, darunter 300 000
Vollzeitbeschäftigte, müssen trotz Arbeit zusätzlich zum
Sozialamt, um sich und ihre Familie ernähren zu können,
wenn sie sich überhaupt noch eine Familie leisten kön-
nen. Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Jobwunder,
von dem die Bundesregierung immer spricht, ein Job-
wunder der prekären Beschäftigung ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Es ist ja da!)


Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie wundern sich wahrscheinlich, warum viele Men-
schen trotz der Rekordzahlen der Erwerbstätigen unzu-
frieden sind und das Vertrauen in Ihre Politik verloren
haben. Das liegt auf der Hand: weil dieser Bundesregie-
rung der Kompass aus Menschenwürde, Gerechtigkeit,
Fairness und Wertschätzung der Arbeit völlig abhanden-
gekommen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Menschenrecht auf eine würdevolle Arbeit spielt
in dieser Bundesregierung so gut wie keine Rolle mehr.
Das Einzige, was zählt, sind Zahlen und geschönte Sta-
tistiken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Die Menschen spüren das, und sie merken, dass in der
Politik der Bundesregierung nicht das Schicksal jedes
einzelnen Menschen zählt.

Die Menschen in unserem Land hatten viel Verständ-
nis für Probleme während der Wirtschaftskrise. Aber sie
haben zu Recht kein Verständnis dafür, dass es jetzt, nach
der Krise, auf dem Arbeitsmarkt immer noch ungerecht
zugeht. Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Praktika, Minijobs, Ar-
beit auf Abruf und Hungerlöhne sind zum selbstverständ-
lichen Kalkulationsgegenstand der Unternehmen gewor-
den.

Diese teils menschenunwürdigen Beschäftigungsver-
hältnisse werden von der Bundesregierung geduldet, da
die Unternehmen behaupten, sonst seien die Jobs in
Deutschland nicht mehr bezahlbar. Der Mensch ist zum
Kalkulationsgegenstand der Unternehmen verkommen.

Aber auch im Facharbeiterbereich gibt es viele Men-
schen, die mit ihrem Lohn am Rande des Existenzmini-
mums stehen. Auch bei gut verdienenden Akademikern
machen sich alarmierende Arbeitsverhältnisse breit. Sie
müssen rund um die Uhr erreichbar sein und haben keine
Grenze mehr zwischen Arbeit und Privatleben. Daran
scheitern viele Ehen. Psychische Erkrankungen und
Burn-out nehmen immer weiter zu.

Allen, die sich über die Wachstumsraten freuen, sage
ich: Diese Zahlen sind das Zwischenergebnis dieser er-
schreckenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Das
Endergebnis dieser Entwicklungen muss unsere Gesell-
schaft bezahlen, wenn wir es mit Altersarmut wegen pre-
kärer Beschäftigung, Erwerbsunfähigkeit und vielen so-
zialen Problemen durch gescheiterte Familien zu tun
haben.

Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass sich manch
einer in der Bundesregierung nur schwer vorstellen
kann, worüber der Fließbandarbeiter hier am Rednerpult
spricht. Ich kann Ihnen dazu einen Tipp geben: Reden
Sie mal mit den Fahrern aus unserem Fahrdienst, mit den
Reinigungskräften und dem Wachpersonal!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie werden sehen, dass all das, worüber ich rede, inzwi-
schen über externe Dienstleister auch im Bundestag Ein-
zug gehalten hat. Hier sind wir als Auftraggeber dafür
verantwortlich, gute Arbeitsbedingungen und faire
Löhne umzusetzen. Damit könnten wir ein Beispiel für
andere Arbeitgeber in unserem Land sein,


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und damit könnte die Politik wieder Glaubwürdigkeit bei
den Menschen zurückgewinnen. Dazu könnte auch die
sofortige Einführung des von der SPD geforderten flä-
chendeckenden Mindestlohnes beitragen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen
schöne Tage in der Sommerpause. Von der Bundesregie-
rung erwarte ich allerdings, dass sie sich ausreichend
Zeit zum Nachsitzen nimmt, damit wir zu mehr Gerech-
tigkeit auf dem Arbeitsmarkt kommen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712010900

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Rainer

Brüderle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt wieder fünf Minuten Selbstbeweihräucherung! Wie unerträglich!)







(A) (C)



(D)(B)


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1712011000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Deutschland ist Wachstumsland.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Trotz Brüderle! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ CSU]: Sei doch mal ruhig, Mensch!)


– Herr Heil, Ihr Vorgänger als König der Zwischenrufer
in der SPD war Herr Tauss.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist eigentlich Ihr Job?)


Ich hätte nicht gedacht, dass das Niveau von Herrn Tauss
noch unterboten werden kann.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Seien Sie vorsichtig mit solchen Vergleichen, Herr Brüderle!)


Sie unterbieten es. Sie belegen das durch Ihre Zwischen-
rufe.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind im Keller mit Ihrem Niveau!)


Deutschland ist Wachstumsland.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Trotz Brüderle!)


Das Gewerkschaftsinstitut – nicht die Regierung! – pro-
gnostiziert 4 Prozent reales Wachstum für dieses Jahr.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Trotz Chaosregierung!)


Aber eines ist sicher: Der XL-Aufschwung setzt sich
megamäßig fort. Die Rekordmarke vom letzten Jahr mit
3,5 Prozent können wir in diesem Jahr wieder erreichen.
Schwarz-Gelb sorgt dafür. Der XL-Aufschwung ist extra
stark und extra lang.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Der war schon einmal XXL!)


Das ganze Land freut sich. Wir können stolz darauf
sein, dass unsere fleißigen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer dies möglich machen. Wir können stolz da-
rauf sein, dass unsere Industrie, Mittelstand und Hand-
werk – alle erfolgreich! – dies möglich machen. Wir
können stolz darauf sein, dass unser Land das erreicht.
Nur die Opposition miesepetert vor sich hin


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!)


und versucht, das schlechtzureden, das Land schlechtzu-
reden, die Leistung schlechtzureden.

Herr Gabriel hat noch im letzten Jahr von der Ab-
schwungspirale der schwarz-gelben Regierung schwa-
droniert.


(Anette Kramme [SPD]: 4 Prozent!)


Das Gegenteil ist der Fall: Schnellstraße zur Vollbe-
schäftigung! Deutschland wird Vollbeschäftigungsland.

(Zurufe von der SPD)


– Auch wenn Sie schreien: Das ist die Realität. Wir bele-
gen das.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Herr Steinmeier sieht das übrigens genauso; ich
verweise auf seine Äußerungen in der Süddeutschen Zei-
tung. Er ist eben der Vernunftbegabte in der Sozialdemo-
kratie. Vernunft macht aber bei Ihnen in der SPD sehr
einsam.


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


Deutschland hat noch nie so viele Menschen in Be-
schäftigung gehabt wie jetzt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie über Prozent oder Promille?)


40,9 Millionen Arbeitsplätze gab es noch nie in Deutsch-
land. Wir werden im nächsten Jahr mit 41 Millionen alle
Beschäftigungsrekorde brechen. Die Arbeitslosenquote
in Deutschland ist so niedrig wie seit 30 Jahren nicht
mehr.


(Zurufe der Abg. Katja Mast [SPD])


Das ist der Erfolg einer gemeinsamen Anstrengung und
einer gemeinsamen Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Schwarz-Gelb macht Vollbeschäftigungspolitik. Grün-
Rot war Massenarbeitslosigkeit. Schwarz-Gelb ist Voll-
beschäftigung. Das ist der Unterschied.

Wir haben mit Steuerentlastungen in Höhe von
24 Milliarden Euro das Wachstum beschleunigt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ein Programm für Politikverdrossenheit, Herr Brüderle, mit solchen Sprüchen!)


Wir werden noch eine Schippe drauflegen. Wir entlasten
die Mitte bei Steuern und Abgaben. Wir befreien die un-
teren und mittleren Einkommen von der kalten Progres-
sion.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie wissen doch noch gar nicht, wie viel Sie entlasten!)


Ich bin sehr gespannt, wie die SPD dem Monteur bei
Bosch, dem Bandarbeiter bei Volkswagen oder der
Krankenschwester im Krankenhaus erklären wird, dass
sie von den Lohnzuwächsen nichts übrig behalten, weil
sie in die nächste Progressionsstufe kommen, weil das
wegbesteuert wird.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist denn Herr Schäuble heute? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Luftbuchung!)


Sie verweigern den kleinen und mittleren Einkommen,
Anteil am Aufschwung zu haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Sie wollen das nur bei den Konzernen und den Finanz-
ministern haben, aber nicht bei den hart arbeitenden
Menschen im Lande. Das ist Ihre Politik.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ihre sind Luftbuchungen! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Sie verweigern Teilhabe am Aufschwung in Deutsch-
land.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Viel Spaß beim Sommertheater!)


Wir stabilisieren die Binnennachfrage, um diesen
Wachstumspfad langfristig fortsetzen zu können.


(Zuruf von der SPD: Wie viele Milliarden geben Sie dafür aus?)


Das ist unsere erfolgreiche Politik. Sie schwadronieren
aber nur davon, dass das „auf Pump“ geschehe. Die
größte Pumpstation ist Ihr Möchtegernkanzlerkandidat
Steinbrück. Er hat 86 Milliarden Euro Neuverschuldung
zu verantworten. Wir stehen jetzt bei 27 Milliarden
Euro, und die Neuverschuldung wird weiter herunterge-
hen. Das ist der Unterschied zwischen uns.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Einen Verfassungsbruch können Sie in Nordrhein-
Westfalen, durch das dortige Verfassungsgericht bestä-
tigt, erleben. Wir müssen Ihren Kollegen dort mit Bun-
desmitteln helfen, damit die WestLB nicht in Konkurs
geht.


(Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ihre Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ist dazu
nicht in der Lage. Das ist Sozial- und Haushaltspolitik
à la SPD.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Agenda in Deutschland hat sich völlig gewandelt.
Unsere Themen sind jetzt Fachkräftemangel.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In der FDP vor allem! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: In der Bundesregierung herrscht Fachkräftemangel! Das kann man wohl sagen! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Unser Thema ist nicht der Mangel an Ausbildungsplät-
zen, sondern ein Mangel an Auszubildenden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie haben doch den Rösler als Auszubildenden!)


Deshalb müssen wir die Reserve im Land mobilisieren,
die Ausbildungsreife weiter steigern und die inländi-
schen Potenziale stärken.

Wir müssen auch die Hinzuverdienstmöglichkeiten
für die Rentner erweitern. Außerdem müssen wir der
Bundesagentur für Arbeit einmal Beine machen. Bei
5 Millionen Arbeitslosen hatte sie 90 000 Beschäftigte.
Jetzt gibt es über 2 Millionen Arbeitslose weniger, und
die Bundesagentur hat 115 000 Beschäftigte.

(Zuruf von der LINKEN: Wie viele Aufstocker gibt es?)


Das kann nicht angehen; dieser Trend muss umgekehrt
werden. Jetzt endlich fangen sie damit an.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das sind die Entlastungspotenziale, die wir im Haushalt
brauchen. In der Bundesagentur wird zu viel verwaltet
und zu wenig vermittelt. Das muss sich ändern.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Wer hat denn die 1-Euro-Jobs eingeführt, Herr Heil?
Das war Grün-Rot. Wir schaffen Vollbeschäftigung und
ordentliche Arbeitsverhältnisse.


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


Sie haben die 1-Euro-Jobs geschaffen und anschließend
die betreffenden Menschen stigmatisiert. Wer hat denn
die Veränderungsprozesse eingeleitet, die zu prekären
Arbeitsverhältnissen geführt haben? Das waren Sie.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir machen aus 1-Euro-Jobs Dauerarbeitsplätze. Das
entspricht der Menschenwürde.


(Anette Kramme [SPD]: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist nicht gesunken!)


Ich bekenne mich klar zu Wachstum; ich finde
Wachstum prima. Wachstum ist toll. Wir brauchen es.
Wer wie die Grünen meint, mit Nullwachstum die Le-
bensqualität verbessern zu können, der irrt. Für sie ist es
vielleicht ein freudiges Erlebnis – aber dies gilt nicht für
Deutschland und Bayern –, dass unser Land den Zu-
schlag für die Olympischen Spiele nicht bekommen hat.
Sie wollten die Olympiade nicht haben, weil sie nicht
einmal diese den Menschen in Deutschland gönnen.
Gönnen Sie, meine Damen und Herren, den Menschen
wenigstens, was wir für sie tun! Bekennen Sie sich dazu,
dass wir in Deutschland eine erfolgreiche Politik ma-
chen!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712011100

Das Wort hat der Kollege Steffen Bockhahn für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712011200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Um an Herrn Brüderle anzuknüp-
fen: Es stimmt, Deutschland freut sich über die konstant
niedrigen Umfragewerte der FDP. Sie liegen sauber un-
ter 5 Prozent. Sie haben gerade bewiesen, warum.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


52 Prozent der Beschäftigten in der Bundesrepublik
Deutschland unterliegen noch Branchen- oder Haustari-





Steffen Bockhahn


(A) (C)



(D)(B)

fen. Das heißt, 48 Prozent der Beschäftigten unterliegen
keinerlei tariflichem Schutz mehr. Das zeigt, in welche
Richtung sich der Arbeitsmarkt entwickelt. Von 36 Mil-
lionen Beschäftigten hat ein Drittel nur Teilzeitjobs mit
etwa 15 Wochenstunden. Wer soll denn davon leben?
Das sind die Erfolge Ihrer Arbeitsmarktpolitik, die Sie
hier feiern. Es gibt 1 Million Leiharbeiter in Deutsch-
land, die keinen ausreichenden Schutz vor Kündigung
haben und die keine ordentlichen Mitbestimmungsrechte
haben. Das verkaufen Sie als Erfolg.

Herr Brüderle und Herr Kauder, wenn Sie hier große
Lohnerhöhungen für die kommenden Monate ankündi-
gen, dann haben Sie vielleicht recht hinsichtlich der ganz
wenigen Beschäftigten, die in der Exportwirtschaft ar-
beiten. Aber die vielen Menschen, die in den Dienstleis-
tungsberufen und in den sozialen Berufen arbeiten, ha-
ben seit Jahren brutal sinkende Löhne, was zu einer
weiteren Verarmung dieser Menschen führt, die eine so
wichtige Arbeit machen. Das ist das Ergebnis Ihrer Ar-
beitsmarktpolitik.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Mecklenburg-Vorpommern, dem bekanntlich
schönsten Bundesland,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist nicht richtig! Das ist Niedersachsen!)


geht es vielen Menschen nicht so gut. 45 Prozent aller
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Mecklenburg-
Vorpommern, also fast die Hälfte, arbeiten im Niedrig-
lohnbereich. Etwa zwei Drittel aller unter 25-Jährigen
arbeiten ebenfalls im Niedriglohnbereich.


(Zuruf von der FDP: Wer regiert dort?)


– Um Ihre Frage zu beantworten: In Mecklenburg-Vor-
pommern regiert die CDU zusammen mit der SPD. Das
ist richtig.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wie die Linke mitregiert hat, war es noch schlimmer!)


Ich habe kein Problem damit, dass die SPD da regiert,
aber die brauchen künftig einen ordentlichen Koalitions-
partner. Das wird, denke ich, nach dem 4. September
auch wieder möglich sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber um Ihnen zu sagen, was das bedeutet: In Meck-
lenburg-Vorpommern erhält man bei einer 40-Stunden-
Woche nur etwa 1 000 Euro brutto im Monat – nicht in
der Woche, im Monat! 1 000 Euro brutto für Voller-
werbsarbeit – das ist unwürdig. Es ist unwürdig, dafür
Leute arbeiten zu schicken, und es ist kein Erfolg, wenn
man solche Arbeitsplätze schafft.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann sehr wohl etwas dagegen tun. Man könnte
zum Beispiel mal damit anfangen, einen flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen gleich-
zeitig einzuführen. Das wäre ein Schutz für all diejeni-
gen, die, wie ich eingangs erwähnte, dieser tariflichen
Bindung nicht mehr unterliegen. Das wäre eine vernünf-
tige Maßnahme auch im Bereich der Arbeitsmarktpoli-
tik.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Richtung SPD muss ich aber – das tut mir leid – sa-
gen, dass ich nicht verstehe, warum Sie gerade wieder
Mindestlöhnen zugestimmt haben, die im Osten und im
Westen unterschiedlich hoch sind – und dann auch noch
in der Leiharbeit. Das funktioniert leider auch nicht. Das
müssen Sie noch mal überdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich glaube aber, dass Ihre vermeintlichen Erfolge am
Arbeitsmarkt noch zu ganz anderen Problemen führen.
Laut Statistik haben wir etwa 3 Millionen Arbeitslose.
Das ist ein Erfolg, sagen Sie. Das Problem ist, dass die
Zahl, wenn Sie sich einmal anschauen, wen Sie alles
nicht mehr in die Statistik hineinrechnen, plötzlich nicht
mehr so kuschelig wirkt.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Genau!)


Wen betrifft das also? Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer über 58 Jahre tauchen nicht mehr in Ihrer Statis-
tik auf. Leute, die gerade Arbeitsgelegenheiten mit
Mehraufwandsentschädigung haben, also 1-Euro-Jobber,
werden da nicht mehr eingerechnet.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: In der Tradition, wo Sie stehen, ist Statistikfälschung Grundprinzip!)


Leute, die in Bildungsmaßnahmen sind, werden da nicht
mehr eingerechnet. Aber noch verrückter ist – das finde
ich besonders toll –, Arbeitslose, die krankgeschrieben
sind, sind nicht mehr arbeitslos. Die werden in die Statis-
tik nicht eingerechnet. Da drücken Sie jeden Monat
70 000 bis 80 000 Arbeitslose aus der Statistik. Ihre Sta-
tistiken sind nicht ehrlich. Wir haben etwa 4 Millionen
fehlende Arbeitsplätze in Deutschland, wir haben 4 Mil-
lionen Arbeitslose in Deutschland. Das ist der Erfolg Ih-
rer Politik.

Das ist aber kein Erfolg; denn er führt dazu, dass die
Kommunen gravierende Probleme bekommen. Es mag
Sie verwundern, dass ich das sage. Aber das Problem
sind die vielen Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die
vielen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten –
gerade im Bereich des Tourismus, gerade im Bereich des
Hotel- und Gaststättengewerbes. Die gehen als Aufsto-
ckerinnen und Aufstocker zum Jobcenter.

Ich weiß nicht, Herr Brüderle, ob Ihnen das klar ist,
wenn Sie die Lohnerfolge so bejubeln: 13 Milliarden
Euro – 13 Milliarden Euro! – geben wir in jedem Jahr
für Aufstockerinnen und Aufstocker im Hartz-IV-Bezug
aus.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist gelebte Solidarität!)


Das sind 13 Milliarden Euro direkte Lohnsubvention an
die Unternehmerinnen und Unternehmer. Ich finde, das





Steffen Bockhahn


(A) (C)



(D)(B)

Geld ist falsch angelegt. Ich glaube, damit könnten wir
Besseres machen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, das nächste Problem in
dem Bereich besteht darin, dass den Kommunen dieses
Geld, das sie unter anderem mit aufwenden müssen, um
diese Armut trotz Arbeit auszugleichen, fehlt, um Schu-
len zu sanieren, um Sportplätze offen und in einem guten
Zustand zu halten, das fehlt, um Kulturarbeit zu ermögli-
chen, das fehlt an allen Ecken und Enden.

Ihre Arbeitsmarktpolitik führt nicht nur zu einer stär-
keren Spaltung in Arm und Reich, Ihre Arbeitsmarktpo-
litik führt nicht nur dazu, dass Menschen in Armut leben,
obwohl sie arbeiten, sondern Ihre Arbeitsmarktpolitik
führt auch dazu, dass die Kommunen in Deutschland
pleite sind und damit das Land von unten her kaputtgeht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712011300

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712011400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kauder, Herr Brüderle, ich verstehe Sie ja. Ich kann ver-
stehen,


(Zuruf von der FDP: Das ist neu bei Ihnen!)


dass die Bundesregierung jetzt kurz vor der parlamenta-
rischen Sommerpause noch einmal versucht, sich im
schönen Schein der Arbeitsmarktpolitik zu sonnen.
Also: Wenn eine Bundesregierung so eine katastrophale
Zwischenbilanz vorlegt,


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


wenn eine Bundesregierung so ein schlechtes Ansehen
selbst bei Topmanagern hat, wenn der Streit bei den Ko-
alitionspartnern einfach nicht enden will, dann kann ich
verstehen, dass Sie versuchen, das mit dieser Bilanz zu
überdecken. Aber Sie wissen natürlich schon, dass die
offiziellen Arbeitsmarktzahlen auch nur ein Teil der
Wahrheit sind.

Der andere Teil der Wahrheit ist das Problem der
Langzeitarbeitslosen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, Herr
Brüderle, dass Deutschland zu den Ländern gehört, in
denen die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu allen anderen
OECD-Ländern im Durchschnitt am längsten andauert.
Nur noch die Slowakei ist schlechter als wir.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil wir auch die längsten Bezugszeiten haben, Frau Kollegin!)


Sie, Herr Brüderle, haben dann davon geredet, dass
wir mehr Ausbildungsplätze als Auszubildende haben.

Ich will Ihnen an dieser Stelle einmal sagen, dass im-
merhin noch 17 Prozent der 25- bis 29-Jährigen weder
einen Arbeits- noch einen Ausbildungsplatz haben.
6,5 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohn-
bereich. Hunderttausende Menschen arbeiten als Leihar-
beiter und machen bei den Aufstockern die größte
Gruppe aus. Jeder fünfte Job in Deutschland ist inzwi-
schen ein Minijob. Hinter dem deutschen Jobwunder
verbirgt sich in Wahrheit also ein zutiefst gespaltener
Arbeitsmarkt. Dagegen unternehmen Sie rein gar nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Rainer Brüderle [FDP]: Den haben Sie doch gespalten! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da lacht doch die Koralle!)


Diese Spaltung findet in doppelter Hinsicht statt. Auf
der einen Seite gibt es diejenigen, die gut qualifiziert
sind, die mobil sind und die in der Tat glänzende Aus-
sichten haben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch
diejenigen, die gering qualifiziert sind, die langzeitar-
beitslos sind und die trotz Aufschwung noch immer kei-
nen Arbeitsplatz gefunden haben. Für diese Menschen
tun Sie gar nichts. Das nehmen wir nicht hin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir kommen da gut voran!)


Die Spaltung setzt sich im Übrigen auch bei denen
fort, die Teilnehmer des Arbeitsmarktes sind, nämlich
zwischen der Stammbelegschaft und der Randbeleg-
schaft. Die einen verdienen relativ gut und arbeiten zu
fairen Bedingungen. Die anderen arbeiten in prekären
Arbeitsverhältnissen. An dieser Stelle gibt es gar keine
Durchlässigkeit. Ich sage Ihnen: Arbeitsmarktpolitik
fängt nicht damit an, dass Sie sich für den Aufschwung
bejubeln lassen. Arbeitsmarktpolitik fängt damit an, dass
Sie beginnen, diese Spaltung zu überwinden. Und genau
an dieser Stelle haben Sie eine negative Bilanz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: Spalten tun Sie selbst!)


Doch gerade hier könnte Arbeitsmarktpolitik zeigen,
was sie kann.

Herr Brüderle, Sie reden davon, dass Deutschland ein
Land ist, das Vollbeschäftigung erreichen kann. Das
finde ich auch. Aber nicht mit dieser Regierung!


(Patrick Döring [FDP]: Nur wer Wachstum schafft, schafft Arbeit!)


Denn das Versagen Ihrer Arbeitsmarktpolitik zeigt sich
an folgender Situation:


(Patrick Döring [FDP]: Sie wollen doch gar kein Wachstum! Da läuft gar nichts!)


Sie haben auf der einen Seite einen Fachkräftemangel
und auf der anderen Seite gleichzeitig eine hohe Arbeits-
losigkeit. Daran wird das Versagen dieser Regierung
deutlich. Daran wird das Versagen Ihrer Arbeitsmarkt-
politik deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben 5 Millionen Arbeitslose produziert! – Patrick Döring Brigitte Pothmer [FDP]: Mit Nullwachstum werden wir noch mehr Arbeitslose haben!)





(A) (C)


(D)(B)


Ich sage Ihnen etwas: Die Kürzung der Mittel in der akti-
ven Arbeitsmarktpolitik, für die Sie sich gerade noch ge-
rühmt haben, Herr Brüderle,


(Rainer Brüderle [FDP]: Ja, ja!)


ist wirklich der falsche Weg. Damit treiben Sie die Spal-
tung des Arbeitsmarktes immer weiter voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Regierung streicht das Geld für die Integration der
Ärmsten der Armen. Genau damit, Herr Brüderle, sind
Sie gerade dabei, den wirtschaftlichen Aufschwung zu
gefährden.


(Rainer Brüderle [FDP]: Wir bauen ja gerade ab!)


Der Fachkräftemangel ist aktuell das größte Risiko für
den wirtschaftlichen Aufschwung.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Nein! Das ist die Opposition!)


In genau dieser Situation wollen Sie jetzt die Steuern
senken.


(Rainer Brüderle [FDP]: So ist es! Sonst macht es nämlich keiner!)


Gleichzeitig wollen Sie uns hier erzählen, dass die Steu-
ersenkung insbesondere denen zugutekommt, die mitt-
lere und geringe Einkommen haben.


(Patrick Döring [FDP]: Natürlich kommt es denen zugute!)


Herr Brüderle, die Hälfte der Bevölkerung zahlt gar
keine Steuern. Die haben von Ihrer Steuersenkung rein
gar nichts.


(Patrick Döring [FDP]: Steuerentlastung kann man nur bei Leuten machen, die Steuern zahlen!)


Sie behaupten, Ihnen ginge es darum, dass die Beschäf-
tigten ihren Anteil vom Aufschwung kriegen. Ihnen geht
es aber ausschließlich um sich selbst. Ihnen geht es da-
rum, dass Sie noch einen kleinen Anteil der Wählerstim-
men kriegen.


(Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)


Diese Steuersenkung ist nichts weiter als ein Reanima-
tionsprogramm für die FDP.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das können Sie ja den Arbeitern und Arbeiterinnen am Band sagen! – Rainer Brüderle [FDP]: Selbst wenn es so wäre, wäre es eine gute Tat!)


Das wird aber nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712011500

Die Kollegin Gerda Hasselfeldt spricht nun für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1712011600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1712011700
Wir
werden gestärkt aus der Krise herauskommen. – Heute
können wir sagen: Sie hat damals schon recht gehabt.
Wir sind nicht nur gut herausgekommen, sondern stehen
heute besser da als viele andere Länder in unserer Nach-
barschaft. Wir stehen besser da als vor der Krise. Das ist
das Ergebnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD und der LINKEN)


All das ist kein Zufall und auch keine Selbstverständ-
lichkeit, sondern es ist das Ergebnis von klugen Ent-
scheidungen der Unternehmer –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dank Olaf Scholz! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und zwar nicht nur der Manager in großen Unternehmen,
sondern vieler mittelständischer Unternehmer –, die ihre
Verantwortung ernst genommen und die ihre Arbeitneh-
mer nicht vorschnell entlassen haben.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Gewerkschafter!)


Durch Unternehmensentscheidungen wurde so deutlich
gemacht, dass auch in schwierigen Zeiten weiterhin auf
Innovation und Forschung gesetzt wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist auch das Ergebnis von Tarifentscheidungen ver-
antwortungsvoller Tarifpartner, das Ergebnis von fleißi-
gen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – Volker
Kauder hat darauf hingewiesen –; es ist das Ergebnis ei-
ner riesengroßen Gemeinschaftsleistung, auf das die
Deutschen stolz sein können und wir mit ihnen stolz sein
sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, es ist auch das Ergebnis
einer klugen Politik. Einiges wurde bereits in der letzten
Legislaturperiode – das ist richtig – unter Kanzlerin
Angela Merkel eingeleitet und in dieser Legislatur-
periode fortgeführt. Es ist das Ergebnis einer Politik, die
auf Regulierung des Finanzmarktes, auf Einsparungen in
den öffentlichen Haushalten und auf konjunkturelle Be-
lebung setzte. Dieses Zusammenspiel war es, das posi-
tive Signale nicht nur für die internationalen und natio-
nalen Finanzmärkte, sondern auch für die Verbraucher
und Investoren gegeben hat. Das ist eine riesengroße
politische Leistung, die wir nicht gering schätzen soll-
ten; denn sie hat zu diesem positiven Ergebnis beigetra-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Die Gewinner dieser Politik sind die Arbeitsuchenden
– wenn auch noch nicht alle, aber doch viele –, die in
weiten Bereichen wieder eine Beschäftigung gefunden
haben. Gewinner sind auch die Hochschulabsolventen,
die Schulabsolventen und die Ausbildungsabsolventen.
Gewinner sind diejenigen, die aus der Kurzarbeit wieder
in die Vollzeitbeschäftigung wechseln konnten. Gewin-
ner sind die Arbeitnehmer, die als ihren Anteil vom grö-
ßer gewordenen Kuchen Lohn- und Gehaltserhöhungen
erhielten.


(Zuruf von der SPD: Wo denn?)


Gewinner sind auch die Unternehmer, die durch zusätz-
liche Aufträge aus dem In- und Ausland wieder mehr
Gewinne erzielen. Meine Damen und Herren, es wurde
Politik für die Menschen gemacht. Das ist das Ergebnis
dieser Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


Ganz persönlich sage ich Ihnen: Ich freue mich sehr,
dass die Entwicklung in meiner Heimat, in Bayern, ganz
besonders gut ist. Wir haben eine ganze Reihe von Re-
gionen mit einer ganz geringen Arbeitslosenquote. Den
Daten liegt übrigens die gleiche statistische Erhebungs-
weise zugrunde, die vor Jahren bereits galt; daran hat
sich nichts geändert. Wenn Sie das alles schlechtreden
wollen, dann will ich in dem Zusammenhang festhalten,
dass es sich um die gleiche statistische Grundlage han-
delt.


(Zurufe von der SPD)


Es gibt Regionen mit einer Arbeitslosenquote von unter
2 Prozent, in Eichstätt liegt sie sogar bei 1,2 Prozent.


(Anette Kramme [SPD]: Auch in Hof und Wunsiedel?)


Diese Zahl ist nicht gottgegeben, auch nicht in Bayern,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


sondern es ist letztlich die Dividende einer weitsichti-
gen, klugen, über Jahrzehnte hinweg geleisteten regiona-
len Wirtschaftspolitik –


(Widerspruch des Abg. Anette Kramme [SPD])


eine Wirtschaftspolitik, die alle Regionen bedachte und
die immer auf Bildung, Qualifikation und auf Innovation
gesetzt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


An diesem Beispiel merken Sie, dass diese Erfolge nicht
selbstverständlich sind und dass es auch nicht egal ist,
wer Politik macht.

Jetzt geht es darum, die durch den Aufschwung ent-
standene Situation zu stabilisieren und weiterzuentwi-
ckeln. Spielräume dafür gibt es in den Haushalten, aber
auch in den Sozialversicherungen. Es geht darum, diese
Spielräume richtig zu nutzen – für Haushaltskonsolidie-
rungen, aber auch für die Herstellung von Gerechtigkeit.
Die geplanten Entlastungen für die unteren und mittleren
Einkommensschichten – sowohl im steuerlichen als auch
im Sozialversicherungsbereich – sind eine Frage der Ge-
rechtigkeit.

Es wundert mich, wenn sich die Sozialdemokraten
und die Grünen nun davon verabschieden. Ich habe in
früheren Jahren – ich möchte fast sagen: in meinem frü-
heren Leben – gelernt, dass sich gerade die Sozialdemo-
kraten um die Anliegen der kleinen Leute gekümmert
haben. Wo ist eigentlich Ihr Herz geblieben für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: An Luftbuchungen nehmen wir nicht teil! Wo sind Ihre konkreten Zahlen, wie Sie die Leute entlasten wollen, statt die Leute für dumm zu verkaufen? – Weitere Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Es trifft Sie offensichtlich stark.

Ich möchte Sie herzlich bitten, meine Damen und
Herren: Lassen Sie uns auf diesem Weg fortfahren. Wir
haben Erfolge erzielt. Darauf sind wir stolz, und darauf
werden wir auch künftig aufbauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712011800

Der Kollege Klaus Barthel hat nun für die SPD-Frak-

tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1712011900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der Tat, der Arbeitsmarkt entwickelt sich positiver als
erwartet. Man könnte fast sagen: Diesen Aufschwung in
seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. Das ist
bei dieser Bundesregierung das eigentliche Beschäfti-
gungswunder in diesem Land.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Ha! Ha! Supernummer!)


Wir haben die Vollbeschäftigung noch nicht erreicht.
Es gibt enorme regionale Verwerfungen, Frau
Hasselfeldt, gerade auch innerhalb von einzelnen Bun-
desländern, so etwa in Bayern, wo die Spannen zwischen
den guten und den schlechten Arbeitsmarktregionen ge-
nauso groß sind wie zwischen Ost und West. In der gan-
zen Republik gibt es solche Orte, wo Sie die Struktur-
probleme nicht in den Griff kriegen. Die Arbeitslosigkeit
in Oberfranken schießt nur deshalb nicht durch die
10-Prozent-Decke, weil die Menschen dort weg- und
den Arbeitsplätzen hinterherziehen. Das ist ein Problem
auf dem Arbeitsmarkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Weiterhin haben wir es mit der Prekarisierung, mit
der Polarisierung, mit dem hohen Sockel an Langzeitar-
beitslosigkeit und mit den verdorbenen Preisen auf dem
Arbeitsmarkt, also den niedrigen Löhnen, zu tun.

Aber richtig ist eines – das müssen wir heute auch
festhalten –: Vollbeschäftigung rückt in greifbare Nähe.





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)

Es gab Sozialdemokraten, die das schon vor vier, fünf,
sechs Jahren gesagt haben und die damals als Utopisten
verlacht worden sind. Aber wir wollen festhalten: Wir
kämpfen weiter für das Ziel der Vollbeschäftigung.

Die Ursachen für den Erfolg müssen wir uns aber
noch einmal genauer anschauen, weil es ja nicht die Ar-
beitsmarktpolitik im engeren Sinne war, durch die der
Erfolg erzielt worden ist; denn noch so viel Druck auf
Arbeitslose, noch so viele Leistungskürzungen, noch so
viel Flexibilisierung bringen nichts, solange die Wirt-
schaft nicht läuft und solange nicht tatsächlich die Ar-
beitsplätze da sind. Um es mit Bill Clinton zu sagen: It’s
the economy, stupid!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das heißt aber gerade nicht, dass sich der Staat und
die Politik heraushalten dürfen oder heraushalten kön-
nen. Im Gegenteil: Gerade die letzten drei Jahre zeigen
doch, dass der Staat die richtigen makroökonomischen
Impulse setzen muss, dass er antizyklisch in die Wirt-
schaft eingreifen muss. Deswegen haben wir in der Gro-
ßen Koalition durchgesetzt, dass erstens die unteren
Einkommen gestützt wurden, dass zweitens Konjunktur-
programme aufgelegt wurden, dass drittens eine expan-
sive Haushaltspolitik gemacht wurde, eine antizyklische,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber nichts dazu getan!)


und zwar unter dem vehementen Protest der FDP und
von Herrn Brüderle – wir können uns alle noch gut daran
erinnern – und dass viertens eine Kurzarbeiterregelung
eingeführt wurde. Genau dieses klassisch keynesiani-
sche Teufelszeug hat uns gestärkt aus der Krise heraus-
gebracht. Das ist die Tatsache, vor der wir heute stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die verteufelten Konjunkturprogramme wirken heute
noch nach, und sie haben wieder einmal enorme Hebel-
wirkungen bewiesen. Es hat sich in der Städtebauförde-
rung, in der energetischen Gebäudesanierung, bei der öf-
fentlichen Infrastruktur gezeigt, dass ein ausgegebener
Euro für solche Programme 7, 8, 9 Euro an Investitionen
in Bewegung setzt. Genau das ist der Unterschied zu den
Hotelsteuergeschenken, bei denen die Proportion genau
umgekehrt ist.

Wir haben mit der Kurzarbeiterregelung gezeigt – da-
mals waren rechnerisch eigentlich 2 Millionen Arbeits-
plätze übrig –, dass Flexibilität in der Arbeit, Flexibilität
im Betrieb stattfinden muss und dass es keine externe
Flexibilität durch Hire and Fire geben darf. Wir haben
das mit Arbeitszeitkonten und mit dem Kurzarbeitergeld
gemacht. Diese Flexibilität hat auf der Grundlage von
Sicherheit und von Mitbestimmung stattgefunden, mit
den Gewerkschaften, mit den Betriebsräten und nicht ge-
gen sie.


(Beifall bei der SPD)


Das hat erstens bewiesen, dass so etwas nur auf der
Grundlage von stabilen, geregelten und mitbestimmten
Arbeitsverhältnissen möglich ist. Das hat zweitens be-
wiesen, dass das Teufelszeug Arbeitszeitverkürzung im
Zweifelsfall sehr wohl Arbeitsplätze sichern kann und
nicht gefährdet. Das steht ja ganz im Gegensatz zu dem,
was hier immer behauptet wird.

Ich komme zu den Konsequenzen, die wir auch aus
der heutigen Debatte ziehen müssen. Wir sind gespannt,
was im Sommer passiert. Es ist doch völlig pervers,


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Pervers ist was ganz anderes!)


was die Bundesregierung im Moment mit der EU-Kom-
mission und anderen in Europa treibt: Trotz der Erfah-
rungen, die wir gemacht haben, zwingen Sie die Grie-
chen, Portugiesen und Spanier genau das Gegenteil von
dem zu tun, was bei uns positiv gewirkt hat. Sie zwingen
sie, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und den Kündi-
gungsschutz kaputtzumachen. Sparen, sparen, umvertei-
len! Sie zerschlagen die Tarifautonomie und reden einer
Politik der dezentralen Lohnfindung das Wort. Das ist
genau das Gegenteil von dem, was wir hier erfolgreich
gemacht haben. Die erste Konsequenz lautet: Wir brau-
chen eine Neuorientierung in der europäischen Wirt-
schaftspolitik.

Zur zweiten Konsequenz. Nur die Binnenwirtschaft
kann auf Dauer den Aufschwung tragen. Wir dürfen uns
nicht weiter von der Konjunktur in China, in den europäi-
schen Nachbarländern und den USA, also vom Export,
abhängig machen. Wir müssen die Ungleichgewichte in
der Leistungsbilanz abbauen. Die Binnennachfrage ist die
Achillesferse des Aufschwungs. Schauen wir uns einmal
die Zahlen zum ersten Quartal an: ein Plus von 1,9 Pro-
zent beim privaten Konsum, ein Plus von 13 Prozent bei
den Exporten. Das heißt, da gibt es ein riesiges Ungleich-
gewicht. Jeder kann sich vorstellen, was passiert, wenn
die Stimmung bei den Exporten abkühlt.

Letzte Bemerkung. Die Löhne brauchen natürlich ei-
nen Schub. Sie werden sagen: Das ist Sache der Tarif-
vertragsparteien. Wir alle wissen aber ganz genau – das
wurde schon angesprochen –, von welchen Rahmenbe-
dingungen die Lohnfindung abhängt. Jetzt wäre eigent-
lich die Kanzlerin gefordert.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712012000

Kollege Barthel, es genügt nicht, dass Sie mir signali-

sieren, dass Sie mein Signal sehen. Sie müssen jetzt zum
Schluss kommen.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1712012100

Ich bin beim letzten Satz.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt sind Sie mal gefordert, abzutreten!)


Man kann nicht durch die Weltgeschichte reisen, die
Gewerkschaften preisen, von den Erfolgen, die man
daheim aufgrund der Sozialpartnerschaft erreicht hat, er-
zählen und dann, wenn man wieder nach Hause zurück-
kommt, die Gewerkschaften sowie die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer am ausgestreckten Arm zappeln
lassen.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712012200

Der Kollege Heinrich Kolb hat für die FDP-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1712012300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte zunächst der Kollegin Gerda Hasselfeldt sehr
herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.


(Beifall)


Frau Kollegin Hasselfeldt, ich glaube, man hat Ihrer
charmanten Rede angemerkt, dass Sie sich gar kein
schöneres Geburtstagsgeschenk hätten wünschen kön-
nen als die Arbeitsmarktbilanz, über die wir heute hier
reden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Man muss einmal die Zahlen nennen. Frau Kollegin
Pothmer, Sie wollen immer alles schlechtmachen. Eines
ist klar: In Ihrer Dagegen-Republik würde es nie Vollbe-
schäftigung geben.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir leuchten Ihre dunklen Ecken aus!)


Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen sehen so aus:
Im April sind 40,7 Millionen Menschen in diesem Land
erwerbstätig gewesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das ist Rekordniveau.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


28,233 Millionen Menschen waren sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt. Auch das ist Rekordniveau. All das
wirkt in einer Art und Weise zusammen, wie wir es uns
nur wünschen können: Die Steuern sprudeln. Wir erle-
ben, dass sich die Haushaltskassen, aber auch die Kassen
der Sozialversicherungen füllen.


(Klaus Barthel [SPD]: Sie füllen sich eben nicht!)


Das ist doch etwas Erfreuliches. Es ist die beste Sozial-
politik, die man in einem Land machen kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Arbeitslosenquote auf Basis aller zivilen Er-
werbspersonen belief sich im Juni 2011 auf 6,9 Prozent.
Das ist zugegebenermaßen noch keine Vollbeschäfti-
gung; aber der Trend nach unten ist ungebrochen. Ich
will hier sehr deutlich sagen: Da ist noch einiges drin.

Wenn ich mir den Rechtskreis des SGB III anschaue,
dann kann ich festhalten: Mit etwa 804 000 betreuten
Personen ist hier mittlerweile eine Größenordnung er-
reicht, bei der man davon ausgehen kann, dass es sich
überwiegend um Sucharbeitslosigkeit handelt; diese
Zahl lässt sich in einer in Bewegung befindlichen Volks-
wirtschaft kaum weiter reduzieren. Es sind aber auch
23,1 Prozent weniger Arbeitslose als noch im Vorjahres-
monat; da ist eine irre Bewegung drin. Das sollten Sie
hier nicht verschweigen, sondern positiv und anerken-
nend zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Rechtskreis des SGB II müssen wir arbeiten:
2 089 000 Menschen sind in Langzeitarbeitslosigkeit.
Ich will Sie aber darauf hinweisen, dass das 4 Prozent
weniger als im Vorjahr sind. Zugegebenermaßen gibt es
hier nicht die gleiche Dynamik wie im Rechtskreis des
SGB III. Die Probleme der Menschen, die langzeitar-
beitslos sind, sind aber auch komplexer; sie müssen an-
gegangen werden.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, wie denn?)


– Auf die Frage „Ja, wie denn?“ antworte ich: beispiels-
weise indem wir in die Qualifikation und Weiterbildung
dieser Menschen investieren.


(Anette Kramme [SPD]: 26,5 Milliarden weniger! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kürzen doch!)


Ich nenne Ihnen jetzt einmal die nackten Zahlen zu
den Weiterbildungsausgaben – Rechtskreise SGB II und
SGB III – und parallel dazu die Zahlen zur Entwicklung
der Arbeitslosigkeit:


(Anette Kramme [SPD]: 26,5 Milliarden!)


Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für die Weiterbil-
dungsförderung 2 Milliarden Euro, 2,002 Milliarden Euro,
um ganz exakt zu sein. Im Jahr 2011 beträgt das Soll für
das Aufgabengebiet Weiterbildung – Frau Kollegin
Hagedorn, als Haushälterin müssten Sie das eigentlich
wissen – 3,076 Milliarden Euro, mithin 1 Milliarde Euro
mehr als im Jahr 2005.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Um das zu komplettieren: Die Zahl der Arbeitslosen be-
trug 2005 4,861 Millionen, im Jahr 2011 2,919 Millio-
nen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Plus 1 Million, die ihr aus der Statistik herausgefiltert habt!)


Das heißt, 2011 waren knapp 2 Millionen Menschen we-
niger arbeitslos, und die Aufwendungen für diesen Be-
reich sind um 1 Milliarde Euro gestiegen. Das zeigt: Wir
nehmen die Herausforderungen an. Wir kämpfen um je-
den einzelnen Menschen, der langzeitarbeitslos ist, da-
mit er eine Chance zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt
hat. Das ist die Politik dieser Regierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Deswegen kürzen Sie erst mal!)


Zum Schluss will ich an die Adresse der SPD sagen
– heute redet der Kollege Schreiner nach mir; manchmal
redet er auch vor mir, sodass ich ihn replizieren kann –:


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wollen Sie sagen, dass er immer das Gleiche redet?)


Das Problem ist, dass Sie nicht mehr wahrhaben wollen,
wie Sie gehandelt haben. Mit der Agenda 2010 haben
Sie im Bereich der Arbeitsmarktpolitik vieles richtig ge-
macht. Das hat doch gewirkt; das muss man doch aner-





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

kennen. Das Problem ist – das ist Ihr Fehler –, dass Sie
mit der Agenda 2010 heute überhaupt nichts mehr zu tun
haben wollen. Sie wollen die Agenda 2010, wo immer
das geht, rückabwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da machen Sie sich mal keine Sorgen! Wer 4 Prozent in Deutschland hat, braucht sich keine Sorgen zu machen!)


Sie müssen einmal einen Gang runterschalten und sich
sagen lassen, dass Sie die Orientierung vollkommen ver-
loren haben.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


– Sie hätten doch reden können, Herr Kollege Heil,
wenn Sie das Thema so sehr interessiert. Ich hätte gerne
gehört, was Sie vom Rednerpult aus gesagt hätten. Das
findet heute aber offensichtlich nicht statt.

Wie die SPD mittlerweile tickt, hat man an der Rede
des Kollegen Barthel sehr schön gesehen. Wir sind auf
die Tarifautonomie in diesem Land, auf die Tariffindung
von Arbeitgebern und Gewerkschaften stolz.


(Anette Kramme [SPD]: Sie verspotten die Gewerkschaften mit diesen Sprüchen!)


Sie aber stellen sich hier bettelnd hin und sagen: Der Ge-
setzgeber soll es richten. Das ist doch der falsche Weg.
Das zeigt: Sie sind nach den diversen Pirouetten, die Sie
in den letzten Jahren gedreht haben, völlig irritiert. Neh-
men Sie wieder Vernunft an. Nehmen Sie sich ein Bei-
spiel an dieser Koalitionsregierung,


(Lachen bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schwarz-Gelbes Chaos! Sonst nichts!)


die vieles richtig macht und mit guten Arbeitsmarktzah-
len dafür belohnt wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712012400

Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Ottmar, jetzt aber!)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1712012500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach dem etwas radauhaften Beitrag des Kollegen
Kauder – –


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was? Ottmar!)


– Ja, das war schon ein bisschen radauhaft. Das war un-
gewöhnlich für das Hohe Haus. Der Kollege Brüderle
hat das sogar noch getoppt. Er hat hier fünf Minuten he-
rumgetobt, ohne irgendetwas Konkretes zu sagen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht zugehört!)


Ich habe versucht, sorgfältig mitzuschreiben. Ich habe
aber nichts zu Papier gebracht, weil er nichts Konkretes
gesagt hat.


(Rainer Brüderle [FDP]: Das liegt am Empfänger!)


Sie vermitteln den Eindruck, dass diese Bundesregie-
rung aus lauter Heldinnen und Helden besteht. Sie stim-
men die schönsten Lieder an, sodass man meinen
könnte, man habe es mit einem Heldenepos zu tun.


(Anette Kramme [SPD]: Wie in der WagnerOper!)


Die Hälfte der Heldinnen und Helden stellt die FDP, in
qualitativer Hinsicht natürlich.


(Rainer Brüderle [FDP]: Ein Drittel!)


– Ein Drittel. Das ist auch gut. – Wenn das so ist, müssen
Sie mir erklären, Herr Brüderle, wieso die von Ihnen
prognostizierten Wachstumsraten der Wirtschaft deutlich
höher sind als die Umfrageergebnisse der FDP in Pro-
zent. Mit dem Heldentum kann es also nicht so weit her
sein.


(Beifall bei der SPD)


Der Kollege Kolb hat behauptet, die SPD hätte die
Orientierung verloren. Dazu kann ich nur sagen: Die
Orientierung kann man nur verlieren, wenn man eine
hat. Mir ist völlig unklar, woran sich die FDP orientiert.


(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD])


Sie müssen sich doch irgendwann einmal fragen, worin
die Gründe für den politischen Absturz Ihrer Partei lie-
gen. Einen Absturz dieses Ausmaßes hat man in der Ge-
schichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht er-
lebt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das kommt doch nicht aus heiterem Himmel. Dafür
muss es doch Gründe geben. Vermutlich liegt das in Ih-
ren Aktivitäten oder Nichtaktivitäten begründet.


(Patrick Döring [FDP]: Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand!)


Anstatt an diesem Pult oberlehrerhaft aufzutreten, soll-
ten Sie während der Sommerferien lieber in sich gehen
und darüber nachdenken, was Sie alles falsch gemacht
haben. Richtiges werden Sie kaum finden.

Nun zum Kollegen Kauder.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt aber! – Zurufe von der FDP)


– Jetzt seid mal ruhig. Nun seid mal friedlich. Jetzt sind
die Schwarzen dran. Die waren auch nicht viel besser.

Lieber Kollege Kauder, Sie haben zwei Punkte ge-
nannt. Erstens haben Sie darauf hingewiesen, dass die





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

amtierende Koalition die Regelungen der Kurzarbeit er-
leichtert habe, um die Anpassungsprozesse in der Krise
deutlich zu befördern. Das war eine der gröbsten Fehlin-
formationen, die man in diesem Hause geben konnte.
Das Kurzarbeitergeld war – zusammen mit den soge-
nannten Langzeitkonten im Rahmen der Arbeitszeit –
eine wirksame Waffe gegen die möglichen Folgen der
Krise, zum Beispiel eine abrupt steigende Arbeitslosig-
keit.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das habe ich gesagt!)


Das ist vom ehemaligen Bundesarbeitsminister Scholz,
der nachweislich nicht der Union angehört, formuliert,
konzipiert und durchgesetzt worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das hat mit der CDU/CSU-FDP-Regierung überhaupt
nichts zu tun. Sie haben nach einem langen, radaumäßi-
gen Anlauf von zwei Minuten verkündet, das sei im Üb-
rigen einer der großen Erfolge dieser Koalition.

Der zweite Versuch war auch nicht besser. Sie haben
die Sozialdemokraten gemahnt, wir sollten gemeinsam
mit Ihnen, und zwar mithilfe Ihrer angekündigten Steu-
erpolitik, diejenigen, die jeden Tag arbeiten gehen, etwas
besser stellen,


(Patrick Döring [FDP]: Das wäre doch schon mal was!)


als das jetzt der Fall ist. Sie kündigen im 14-Tage-Rhyth-
mus eine andere Steuerpolitik und Erleichterungen an.
Im 14-Tage-Rhythmus werden die dann wieder gekippt.
Wenn Sie mir einen einzigen christdemokratischen Mi-
nisterpräsidenten nennen können, der Ihre Vorgaben in
den letzten Wochen unterstützt hat, lobe ich für Sie ein
Preisgeld aus, Herr Kollege Kauder.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gewinne ich! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wer denn?)


– Das gewinnen Sie? Sie haben zehn Minuten Bedenk-
zeit. Dann komme ich in Ihren Wahlkreis, und wir füh-
ren gemeinsam eine Podiumsdiskussion durch. Sie wer-
den niemanden finden. Sie müssen erst einmal, bevor Sie
hier die Sozialdemokraten angreifen, sehen, dass Sie in
den eigenen Reihen Zustimmung finden.

Die christdemokratischen Ministerpräsidenten – ich
sehe das am Beispiel des saarländischen – haben doch
ihre Gründe. Die Kassen der Bundesländer sind weitge-
hend leer. Die Länder sind blank bzw. bankrott. Sie ver-
kraften keine weiteren Steuererleichterungen mehr, weil
sie dann ihre originären Aufgaben im Bereich der Kin-
derbetreuung bzw. der Kinderkrippen, der Bildung, der
Sicherheit usw. nicht mehr wahrnehmen können.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Bei Ihnen in Nordrhein-Westfalen!)


Sie, Herr Kollege Kauder, sind ein massives Sicherheits-
risiko geworden – aufgrund weiterer Pläne, die dazu bei-
tragen, dass genau diese Infrastruktur noch stärker lä-
diert wird, als sie in den vergangenen Jahren sowieso
schon beschädigt worden ist. Das kann so nicht gut sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben in der Sache gar nichts gesagt, außer dass
Sie diese beiden grässlichen Fehlinformationen gegeben
haben. Das ist im Hinblick auf den Status eines Frak-
tionsvorsitzenden auch nicht gerade furchtbar angemes-
sen.


(Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Was sagen Sie jetzt?)


Wenn Sie über Löhne bzw. Erleichterungen für dieje-
nigen geredet hätten, die es verdient haben, hätten Sie
über die Lohnentwicklung bei der Arbeitnehmerschaft in
Deutschland reden müssen. Dazu hat Ihnen vor wenigen
Wochen die Internationale Arbeitsorganisation gesagt,
dass die Bundesrepublik Deutschland die schlechteste
Lohnentwicklung aller OECD-Länder gehabt hat, näm-
lich minus 4,5 Prozent in den letzten zehn Jahren.


(Patrick Döring [FDP]: Wir sind immer noch ein Hochlohnland! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Letzter Platz!)


Sie hätten dann etwas sagen müssen zu Mindestlöhnen
und zur Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhält-
nisse, die es in den allermeisten Fällen ebenfalls im Nie-
driglohnsektor gibt. Weiter hätten Sie etwas über den
Bereich der Leiharbeit sagen müssen, der, relativ gese-
hen, über den höchsten Anteil an Aufstockern verfügt.
Die Steuerzahler zahlen jährlich allein 500 Millionen
Euro, um die Betriebe zu unterstützen, die ihre Leute mit
miserablen Löhnen nach Hause schicken. All dies hätte
Ihnen einfallen können, als Sie über diejenigen geredet
haben, die die Lasten in diesem Land tragen, nämlich die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
hätten auch etwas zur Arbeitsmarktpolitik sagen können.
Der Kollege Kolb hat eben vorgetragen, dass es bei den
Langzeitarbeitslosen zu einem Minus von 4 Prozent ge-
kommen ist. Bei den übrigen Arbeitslosen liegen die
Zahlen wesentlich höher. Der Anteil der Langzeitarbeits-
losen an der Gesamtarbeitslosigkeit ist im Übrigen in
den letzten Jahren auf jetzt 34 Prozent gestiegen. Ich
kann hierzu zitieren – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712012600

Herr Kollege, das funktioniert jetzt nicht mehr. Ach-

ten Sie bitte auf die Zeit.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1712012700

Ich komme sofort zum Schluss; bedauerlicherweise

kann ich das nicht mehr zitieren. – Die OECD beschei-
nigt Ihnen, dass die Bundesrepublik Deutschland, was
die Unterstützung der Langzeitarbeitslosen anbelangt, an
allerletzter Stelle aller entwickelten Industrieländer
steht. Das ist im Kern Ihre Bilanz. Für die Schwächsten





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

der Schwachen machen Sie gar nichts. Die Situation der
Arbeitnehmerschaft ist Ihnen relativ egal, Hauptsache
die Töpfe derjenigen werden gefüllt, für die Sie sich per-
sönlich verantwortlich fühlen.

Herr Kollege Kolb, das hat mit einer sozial ausgewo-
genen Politik nichts zu tun. Deshalb sollten Sie in die
Sommerpause gehen und dort intensiv Gewissenserfor-
schung betreiben. Dann haben Sie sehr viel zu tun. Die
Pause müsste eigentlich bis in den Herbst hinein verlän-
gert werden, damit Sie zu Potte kommen. Berichten Sie
dann darüber, damit wir hier eine neue Debatte führen
können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712012800

Die Redezeit verlängern wir jetzt aber nicht mehr.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1712012900

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Bravo!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712013000

Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1712013100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schreiner, ich
hatte bei Ihnen gerade den Eindruck, das blanke Elend
Deutschlands spreche zu uns.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit. Sie haben es
nicht einfach. In der Zeit, in der Sie dem Deutschen
Bundestag angehört haben, waren Sie – soweit ich das
beobachten konnte –, egal wer regiert hat, in der Opposi-
tion.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist natürlich nicht einfach. Viele Dinge, die Sie ge-
rade genannt und kritisiert haben, sind zu anderen Regie-
rungszeiten und nicht zu unseren Regierungszeiten ent-
standen.


(Ottmar Schreiner [SPD]: Dann reparieren Sie das doch!)


Richten Sie also Ihre Kritik, bitte schön, nicht an uns,
sondern an andere.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Wir haben vor
sechs Jahren noch von 5 Millionen Arbeitslosen gespro-
chen. Mittlerweile sprechen wir von 2,8 Millionen Ar-
beitslosen, und wir diskutieren über Facharbeitermangel.
Wenn uns jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass wir
2011 über Fachkräftemangel diskutieren, wäre er von
vielen Leuten, einschließlich Ihrer eigenen Fraktion,
ausgelacht worden. Sie haben damals gesagt: Vollbe-
schäftigung wird es nie geben. Sie haben nicht daran ge-
glaubt; das hat auch der Vorredner Ihrer Fraktion in sei-
ner Rede gesagt. Aber wir haben daran geglaubt, und wir
sind ganz sicher, dass wir es schaffen, dass die Men-
schen wieder ordentlich in Beschäftigung kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich einen Satz zu den Arbeitslosenzah-
len und zu der Mär von der Statistikfälschung sagen. Die
Parameter der Statistik sind in Zeiten der jetzigen Koali-
tion aus CDU/CSU und FDP nicht geändert worden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)


Die letzte Änderung der Parameter erfolgte während der
Großen Koalition. Da haben wir die 58er-Regelung mit
aufgenommen. Wir haben die Statistik dadurch, tech-
nisch gesehen, sogar noch verschlechtert. Zu sagen, die
Zahlen seien alle falsch, halte ich für abenteuerlich.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist dreist!)


Die Zahlen haben Bestand.

Ich bin froh, dass die Zahlen so sind, wie sie sind. Wir
haben übrigens im OECD-Vergleich die Statistik, die am
konsequentesten und unter strengsten Gesichtspunkten
die Arbeitslosigkeit beschreibt. Alle anderen Länder fas-
sen die Arbeitslosigkeit enger bzw. weiter


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ja, was denn jetzt?)


und sorgen dafür, dass die Arbeitslosenquote schönge-
rechnet wird.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist richtig!)


Bei uns wird strenger gerechnet. Deswegen können wir
mit diesen Zahlen bestehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber es kommt nicht nur auf die Arbeitslosenzahlen
an, auch wenn diese wichtig sind. Bedeutsam ist in die-
sem Zusammenhang auch der Aufwuchs an Beschäfti-
gung. Fast 41 Millionen Menschen sind jetzt in Erwerbs-
tätigkeit.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Immer mehr prekäre Jobs! Immer weniger Vollzeit! Das ist die Richtung!)


760 000 Menschen mehr sind in sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.

Ich möchte auch etwas zur Mär der Aufstocker sagen.
Natürlich haben wir Aufstocker. Aber warum? Eine Fa-
milie mit drei Kindern in Hartz-IV-Bezug bekommt bei
uns im Münsterland Pi mal Daumen 1 700 Euro. Wenn
einer allein diese Familie ernähren wollte, müsste er, um
netto auf diesen Betrag zu kommen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Netto!)






Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)

einen Durchschnittsverdienst von 15 Euro pro Stunde
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weil dies nicht immer funktioniert, bekommt die Familie
Geld vom Staat dazu. Das ist keine Schande, sondern
eine Solidarleistung, die vom Steuerzahler erbracht wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In der Tat ist das Jobwunder, das wir erleben, nicht
vom Himmel gefallen. Es ist auch kein Wunder, sondern
hat ganz reale Ursachen. Die wirtschaftliche Entwick-
lung und die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen
haben eine Menge damit zu tun. Sie alle wissen genauso
gut wie ich: Arbeitsmarktpolitik schafft keine Arbeits-
plätze. Arbeitsmarktpolitik setzt die Rahmenbedingun-
gen, damit sich Arbeitsplätze entfalten können und Men-
schen wieder in Beschäftigung kommen. Wir haben die
richtigen Rahmenbedingungen gesetzt.

Ich muss – auch wenn es der Opposition wehtut –
kurz auf Folgendes hinweisen: In den vergangenen an-
derthalb Jahren haben wir im Bereich der Arbeitsmarkt-
und Sozialpolitik gemeinsam mit Ihnen und dem Bun-
desrat die Jobcenterreform beschlossen. Wir haben ge-
meinsam mit Ihnen und dem Bundesrat die Frage der
Regelsätze geklärt.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Genau 3 Euro mehr! Echt toll!)


Wir haben in der Zeitarbeit die sogenannte Drehtürklau-
sel unterbunden und einen Mindestlohn eingeführt. Ich
möchte es Ihnen deutlich sagen: In der Zeitarbeit haben
wir die größte Dichte an Tarifverträgen. 98 Prozent aller
Beschäftigten arbeiten auf Basis von Tarifverträgen.

Angesichts Ihrer Rede über die blanke Verelendung
Deutschlands könnte man glatt meinen, Sie seien in die-
sem komischen Ausschuss der UN gewesen, dessen Mit-
glieder von New York aus offensichtlich einmal schräg
nach Deutschland geschaut haben und glauben, sie
könnten unser Land beurteilen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ganz schön arrogant! Die haben Ihnen einen Spiegel vorgehalten!)


– Das sage nicht nur ich, sondern das sagen mittlerweile
auch alle Zeitungskommentatoren, die sich mit diesen
Fragen beschäftigt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist arrogant!)


Ich sage in aller Klarheit: Wir geben den Menschen in
diesem Land die Hoffnung, dass sie in Zukunft mit ihrer
eigenen Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt für sich und
ihre Familien verdienen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist die Perspektive, mit der wir arbeiten. Wir arbei-
ten damit erfolgreich. Ich denke, dass wir es auf diesem
Weg tatsächlich schaffen, in den Bereich, den wir als
Vollbeschäftigung bezeichnen, zu kommen. Der Fach-
kräftemangel ist ein Zeichen dafür.

Mittlerweile sind 235 000 Menschen aus dem Ar-
beitslosengeld-II-Bezug in Beschäftigung gekommen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Welche Fachkräfte denn? Was ist denn mit den Tischlern und den Industriemechanikern?)


Ich hoffe sehr, dass sich diese Zahl noch erhöht. Wir
werden alles dafür tun. Die arbeitsmarktpolitischen In-
strumente sind darauf ausgerichtet. Ich hoffe sehr, dass
Sie mit uns gemeinsam konstruktiv daran arbeiten, damit
wir auch den Menschen, die es nicht so leicht haben,
eine gute Perspektive eröffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712013200

Der Kollege Johannes Vogel hat für die FDP-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1712013300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Kollege Schreiner hat eben das Kunststück hinbe-
kommen, seine Rede damit zu beginnen, den Kollegen
Kauder dafür zu kritisieren, dass er nicht zur Arbeits-
marktpolitik gesprochen habe, und dann seinerseits
99 Prozent seiner Redezeit nicht zur Arbeitsmarktpolitik
zu sprechen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber ich verstehe, warum. Weil die Zahlen so sind,
wie sie sind, und weil es Ihnen wehtut – leider tut es Ih-
nen weh –, zugeben zu müssen, dass es auf dem Arbeits-
markt in Deutschland gut aussieht, dass wir die nied-
rigste Arbeitslosenquote seit 20 Jahren haben und dass
wir übrigens auch – das ist wichtig – die zweitniedrigste
Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Andere Länder wären froh und dankbar, wenn sie in un-
serer Situation wären.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Keine Übernahme! Die Facharbeiter werden in die Leiharbeit geschickt!)


Alles, was Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, dazu einfällt, ist, das deutsche Job-
wunder schlechtzureden und zu behaupten, das seien nur
schlechte Jobs. Das Problem ist: Dabei erzählen Sie
gerne auch Märchen. Ich habe durchaus Verständnis da-
für, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
dass Sie Kollegen in diese Debatte schicken, die mit Ar-
beitsmarktpolitik weniger zu tun haben


(Patrick Döring [FDP]: Genau! Herrn Bockhahn! Wo ist der eigentlich? – Gegenruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]: Vielleicht ein Johannes Vogel Bier trinken! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau! Der ist ein Bier trinken gegangen!)





(A) (C)


(D)(B)


– „Wo ist der eigentlich?“, ist eine gute Frage –, weil sie
zum Beispiel aus Landesverbänden kommen, die bald
Wahlkampf machen müssen. Dafür habe ich, wie gesagt,
Verständnis.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Danke schön!)


– Das gehört dazu, Herr Birkwald. – Aber dann sollten
Sie sie vorher vielleicht briefen, wie die Lage ist. Wenn
Sie sich allen Ernstes hier hinstellen und sagen, all die
Jobs, die in Deutschland neu entstehen, seien schlecht-
bezahlte Jobs, bei denen man aufstocken muss, dann
muss ich Ihnen entgegnen: Das stimmt nicht. Das wissen
Sie ganz genau.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Kollege Schiewerling hat es Ihnen eben schon er-
klärt: Drei Viertel derjenigen, die in Deutschland aufsto-
ckendes Hartz IV bekommen, bekommen es nicht, weil
ihr Lohn zu niedrig ist, sondern weil sie Teilzeit arbeiten.
Bei der Mehrheit des restlichen Viertels bekommen sie
Hartz IV deshalb, weil wir, die Solidargemeinschaft, ih-
nen Geld dazugeben wollen, weil sie eine große Familie
haben. Bei denjenigen, die in Deutschland Vollzeit arbei-
ten, alleinstehend sind und nur wegen der Höhe ihres
Lohns aufstocken, handelt es sich um einige Zehntau-
send. Tun Sie also nicht so, als würden Millionen Men-
schen in diesem Land für Billiglöhne arbeiten! Das
stimmt schlicht nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was, 10 000? 400 000! – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Es sind zu viele! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die Arroganz der Jugend und der FDP!)


Nun zu den Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen. Liebe Frau Pothmer,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie haben wieder einmal ein Bild gezeichnet, das Sie
gerne zeichnen. Sie sagten, wir würden jetzt, in Zeiten
des Fachkräftemangels, bei der Qualifikation der Men-
schen sparen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es, ja!)


Ich freue mich, dass wir an einer Stelle einer Meinung
sind: dass für die Menschen am unteren Rand des Ar-
beitsmarktes, für die wir alle noch mehr Perspektiven
schaffen wollen, Qualifikation das A und O ist und dass
Qualifikation das Beste ist, was wir als Gesellschaft in
diese Menschen investieren können. Nur, zu behaupten,
diese christlich-liberale Koalition würde an dieser Stelle
sparen, das ist schlicht falsch. Ja, die Mittel für die ak-
tive Arbeitsmarktpolitik gehen zurück. Aber warum
denn? Weil die Arbeitslosenzahl zurückgeht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht die Langzeitarbeitslosigkeit!)


Außerdem konzentrieren wir unsere Anstrengungen
auf die Mittel, die wirklich wirken. Das sind die Mittel
für Qualifikation. Als der Kollege Kolb es Ihnen eben
erklärt hat, haben Sie verschämt in Ihren Papieren ge-
blättert: Wir geben heute 3 Milliarden Euro für die Qua-
lifikation von Arbeitslosen aus. 2005 – damals haben Sie
von den Grünen mitregiert –, als es 2 Millionen Arbeits-
lose mehr gab, waren es nur 2 Milliarden Euro. Zu be-
haupten, wir würden bei der Qualifikation sparen, ist al-
les Mögliche; aber richtig ist es nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rainer Brüderle [FDP]: Oh! Jetzt ist Frau Pothmer plötzlich ganz ruhig!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die
wesentliche Aussage, die ich heute von Ihnen zum
Thema Arbeitsmarkt gehört habe, lautete – dies wird
auch deutlich, wenn man die Zwischenrufe des Kollegen
Heil, der leider nicht mehr hier ist, interpretiert –: Ja, auf
dem deutschen Arbeitsmarkt sieht es gut aus – trotz der
Regierung.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein! Trotz der FDP! Das ist die Wahrheit, Herr Kollege!)


Ich verstehe, dass man dann, wenn man sich für all das
schämt, was man, als man an der Regierung war, ge-
macht hat, und wenn man all das zurücknehmen will,
was man mit der Agenda 2010 erreicht hat, diese Per-
spektive einnimmt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau!)


Deswegen sollten Sie aber nicht den Blick auf das verlie-
ren, was wir für den Arbeitsmarkt erreicht haben.


(Klaus Barthel [SPD]: Was haben Sie denn gemacht? Nennen Sie bitte einmal eine konkrete Maßnahme! Wir hören! Eine Maßnahme bitte!)


Ich sage es einmal so: Schon dann, wenn diese Koalition
auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr erreicht hätte, als die
Gräueltaten zu verhindern, die Sie zum Beispiel im
Hartz-IV-Vermittlungsverfahren auf dem Arbeitsmarkt
anrichten wollten, hätte es sich für die Menschen in die-
sem Land gelohnt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber dabei ist es ja nicht geblieben. Wir haben
Hartz IV fairer gemacht. Wir haben die Regelung zum
Kurzarbeitergeld – die Sie richtigerweise eingeführt ha-
ben; das will ich gerne zugestehen – verlängert. Wir un-
ternehmen Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel.
Wir reformieren jetzt die arbeitsmarktpolitischen Instru-
mente. Wir flankieren den wirtschaftlichen Aufschwung
in der Arbeitsmarktpolitik sehr erfolgreich. Das ist auch
Teil des Jobwunders in diesem Land.





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

Wir fördern aber auch den wirtschaftlichen Auf-
schwung; das wurde heute schon angesprochen. Wir sa-
gen: Die Menschen müssen auch einen Anteil an ihren
Lohnsteigerungen haben;


(Klaus Barthel [SPD]: Was haben Sie denn dazu beigetragen?)


diese dürfen nicht durch die kalte Progression aufgefres-
sen werden. Deswegen wollen wir durch eine Steuersen-
kung die kleinen und mittleren Einkommen weiter ent-
lasten – das zweite Mal in dieser Legislaturperiode.


(Klaus Barthel [SPD]: Das kündigen Sie jetzt zum 25. Mal an! Was kommt denn nun?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden darüber
hinausgehen. Wir wollen nämlich auch die Sozialabga-
ben reduzieren.


(Klaus Barthel [SPD]: Ach ja? Auch das noch!)


Das Beste, was man dafür tun kann, ist, Ihre Forderung,
den Bereich der Rente mit immer neuen Aufgaben auf-
zublähen, abzuwehren. Auch das werden wir tun, damit
es auf dem Arbeitsmarkt weiter aufwärtsgeht und die
Menschen auch etwas davon haben.

Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie aufhören
würden, das deutsche Jobwunder, um das man uns im
Ausland beneidet, hier schlechtzureden – nicht weil wir
nicht darüber streiten sollten, welchen Anteil die Politik
daran hat, sondern weil den größten Anteil am deutschen
Jobwunder – und es sind eben nicht nur schlechte Jobs –
die Menschen in diesem Land haben: die Unternehmer,
die Menschen in den Unternehmen, die Betriebsräte und
die Gewerkschaftler. Sie alle erarbeiten das, was dieses
Land und das Jobwunder ausmacht, hart. Auch ihren Er-
folg machen Sie madig, weil Sie permanent so tun, als
sei die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt schlecht.
Das sollten Sie beenden. Dann haben wir auch eine bes-
sere Diskussionsgrundlage.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712013400

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol-

lege Straubinger für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wir haben es gleich geschafft!)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1712013500

Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Wir ha-

ben heute natürlich die Erfolge der Bundesregierung dar-
zustellen. Ich glaube, dass es entscheidend ist, den Men-
schen das Signal zu geben, dass diese Erfolge weiterhin
anhalten werden – im Sinne der Menschen, damit sie in
Arbeit kommen. Hier haben die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen großartige Erfolge erzielt.
Die entsprechenden Zahlen wurden schon dargestellt:
Im Juni dieses Jahres hatten wir 2,89 Millionen Arbeits-
lose.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Rechnen Sie 1 Million drauf!)


Das sind 255 000 Arbeitslose weniger als vor einem
Jahr, und damit sind mehr Menschen in Lohn und Brot.
282 000 Menschen weniger beziehen Hartz-IV-Leistun-
gen. Das zeigt sehr deutlich, dass sich die wirtschaftliche
Entwicklung in Deutschland für die Menschen gelohnt
hat. Dass wir noch nie so viele Erwerbstätige hatten wie
jetzt, wurde schon mehrmals dargestellt.


(Klaus Barthel [SPD]: Was haben Sie konkret dazu beigetragen?)


Das Ganze ist zusätzlich mit positiven Zukunftsaus-
sichten verbunden. Das IAB hat geschätzt, dass es in un-
serem Land noch 1 Million offene Arbeitsstellen gibt.
Das bedeutet auch 1 Million Chancen mehr für die Men-
schen in unserem Land, ihre Zukunft selbstbestimmt zu
gestalten, ohne von staatlichen Leistungen abhängig zu
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ganz besonders ist dies in Bayern spürbar, das mit
3,5 Prozent die geringste Arbeitslosigkeit aller Bundes-
länder aufzuweisen hat. Der wesentliche Beitrag dort ist
die fundierte Strukturpolitik der Staatsregierung mit un-
serem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer
von der CSU an der Spitze.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Prost Mahlzeit! Was hat denn der damit zu tun?)


Das ist letztendlich die Grundlage und hier mit zu be-
rücksichtigen.


(Klaus Barthel [SPD]: Gelächter in den eigenen Reihen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Prost Mahlzeit!)


Es war schon großartig, dass man versucht hat, diese
positiven Zahlen auf eine angebliche Statistikverfäl-
schung oder statistische Veränderungen zurückzufüh-
ren, wie es der Kollege Bockhahn getan hat, der die De-
batte leider Gottes schon verlassen musste. Das zeigt
aber auch sehr deutlich, dass die Linke offensichtlich nur
in ihrer Tradition denkt: früher Wahlfälschung


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: So ein Bart!)


und jetzt offensichtlich kein Beherrschen der Mitglieder-
listen. Auch hier können Sie keine richtige Statistik füh-
ren, und dann glauben Sie, dass das bei der Bundesagen-
tur für Arbeit auch so sei. Das weisen wir mit
Entschiedenheit zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hanebüchener Unsinn! Das sind alles offizielle Zahlen!)


Es ist hier schon auch bedeutsam, dass dieser wirt-
schaftliche Aufschwung vor allen Dingen auf die politi-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

schen Entscheidungen in unserem Land zurückzuführen
ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Auf welche denn?)


Es kann ja nicht so sein, dass immer die Regierung
schuld ist, wenn es bergab geht, außer bei Rot-Grün.


(Klaus Barthel [SPD]: Sagen Sie eine Maßnahme dieser Bundesregierung!)


Ich habe ja Verständnis für die Einstellung der Kollegin-
nen und Kollegen der SPD und auch der Grünen, dass
Sie an vieles nicht mehr erinnert werden wollen und tat-
sächlich glauben, Politik könne nichts gestalten; denn
für die 5 Millionen Arbeitslosen im Jahre 2005 wollten
Sie ja wirklich nicht verantwortlich sein. Dafür habe ich
auch Verständnis.

Als aber die Union in Regierungsverantwortung kam,
gab es eine Veränderung der Politik, nämlich dahin ge-
hend, dass wir die Belastungen der Menschen verringert
haben, während Rot-Grün sie über ständige Beitragsstei-
gerungen – Sie mussten den Arbeitslosenversicherungs-
beitrag ständig erhöhen, weil es immer mehr Arbeitslose
gab – erhöht hat. Wir hatten in der Regierung den Mut,
die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken,


(Klaus Barthel [SPD]: Wer war denn der zuständige Minister?)


die steuerliche Belastung der Betriebe zurückzunehmen
und damit die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen da-
für zu schaffen, dass sich die Wirtschaft entwickeln
kann. Das ist letztendlich das Geheimnis des Erfolges,
den die Bundesregierung jetzt für sich in Anspruch neh-
men kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Schwarz-Gelb kann das für sich in Anspruch nehmen? Da klatschen die, die dagegen waren!)


Wir werden auf diesem Wege auch weiterarbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der linken
Ecke dieses Hauses, zum Januar 2010 haben wir die
Steuern gesenkt und die Bürgerinnen und Bürger um
20 Milliarden Euro entlastet. Jetzt haben wir einen Wirt-
schaftsaufschwung zu verzeichnen. Im ersten Quartal
dieses Jahres betrug der Zuwachs über 5 Prozent, wo-
durch viele Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.
Das ist auf die anspringende Binnenkonjunktur zurück-
zuführen. Es wird in unserem Land mehr investiert, weil
wieder Zutrauen in die Zukunft gegeben ist und die
Menschen letztendlich gute Startchancen haben.


(Klaus Barthel [SPD]: Jetzt haben wir immer noch kein Beispiel gehört!)


Deshalb werden wir die steuerlichen Rahmenbedingun-
gen weiterhin verbessern.

Wir sind die Entlastungspartei, SPD und Grüne sind
die Belastungsparteien.

(Patrick Döring [FDP]: So ist es! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nicht unser Land schlechtreden! Das ist ja unglaublich!)


Das gilt gerade für Baden-Württemberg, wo sofort nach
der Wahl die Grunderwerbsteuer erhöht wurde.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist unglaublich! Das ist doch unser Autoland! Ein großes Lob nach Baden-Württemberg!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712013600

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1712013700

Das ist der Unterschied zwischen der bürgerlich-libe-

ralen Regierungskunst und Rot-Grün und den Linken in
unserem Land.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712013800

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 16 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Demonstration und Anwen-
dung von Technologien zur Abscheidung,
zum Transport und zur dauerhaften Spei-
cherung von Kohlendioxid

– Drucksachen 17/5750, 17/6264 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Eva Bulling-Schröter, Katrin Kunert,
Wolfgang Nešković, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der
Speicherung von Kohlendioxid in den Un-
tergrund des Hoheitsgebietes der Bundesre-

(CO2-Speicher-Verbotsgesetz – CSpVG)


– Drucksache 17/5232 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/6507 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Dr. Matthias Miersch
Klaus Breil
Eva Bulling-Schröter
Oliver Krischer

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Jens Koeppen, Marie-
Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

geordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch,
Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Umfassende Datenbasis für Nutzungsmöglich-
keiten des Untergrunds schaffen

– Drucksachen 17/3056, 17/6507 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Dr. Matthias Miersch
Klaus Breil
Eva Bulling-Schröter
Oliver Krischer

Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung und
über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke werden
wir später namentlich abstimmen. Zu diesem Gesetzent-
wurf liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jens
Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1712013900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Einführung der CCS-Technologie ist aus der Sicht von
vielen und auch aus meiner eine unendliche Geschichte,
die heute aber wahrscheinlich zu einem guten Ende ge-
führt wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben aber nur Sie!)


Das ist dann der Anfang einer guten CCS-Story in
Deutschland.

CCS ist auf der einen Seite für viele eine Horrortech-
nologie, die mit vielen Risiken belastet ist. Auf der ande-
ren Seite – das ist die Ambivalenz – ist sie eine Wunder-
waffe gegen den Klimawandel. Diese Ambivalenz in der
Politik und in der Gesellschaft müssen wir auflösen. Mir
als Techniker fällt das vielleicht ein bisschen leichter als
anderen.

Die Technologie, die ja noch gar nicht auf dem Markt
ist, ist ideologisch kontaminiert. Die Diskussion darüber
ist mit Unwissenheit gespickt, und vor allen Dingen wer-
den Wissenschaft und Forschung ignoriert, obwohl sie
noch gar nicht erprobt ist und obwohl es noch keine
Großanlagen gibt. Hier ist sie wieder, die German
Angst- und die German Dagegen-Gesellschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Verantwortliche Bürger! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Hier sollten wir gegensteuern.
Trotzdem möchte ich einen Blick nach vorne wagen.
Warum haben wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet? Wa-
rum wollen wir diese Technologie?

Erstens. Wir brauchen einen Rechtsrahmen. Wir müs-
sen und wollen schlicht und ergreifend die EU-Richtlinie
umsetzen.

Zweitens. Das gibt uns dann die Möglichkeit, diese
Technologie überhaupt erst einmal zu demonstrieren und
zu erproben.

Drittens. Es ist – das dürfte Ihnen sehr entgegenkom-
men – eine Klimaschutztechnologie.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Kommt Ihnen das nicht entgegen?)


– Das kommt mir sehr entgegen. Ohne CCS werden
beim Klimaschutz bis zu 70 Prozent höhere Kosten ent-
stehen. Ohne CCS werden wir das 2-Grad-Ziel nicht er-
reichen. Das sage nicht ich, sondern das sagt der IPCC,
der Weltklimarat. Ihn tragen Sie doch immer wie eine
Monstranz vor sich her und nutzen ihn als Kronzeugen
für alles. Jetzt müssen Sie nicht nur den Mund spitzen,
sondern auch pfeifen. Es geht jetzt darum, dem IPCC
recht zu geben, wenn er sagt: CCS ist eine risikoarme
Technologie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zum Gesetzentwurf. Es ist schwierig, alle zufrieden-
zustellen. Es ist schwierig, ein einfaches Gesetz zu ma-
chen. Es ist auch schwierig – ich sage es einmal so –, die
reine Lehre zu vertreten. Wir müssen Kompromisse ma-
chen. Aber wenn wir irgendwann die Realitäten betrach-
tet und Kompromisse geschlossen haben,


(Frank Schwabe [SPD]: Scheitern Sie!)


dann sollten wir handeln.

Ich möchte etwas zum Gesetz und zur Länderklausel
sagen. Ich bin kein Freund der Länderklausel; das habe
ich erklärt. Aber es ist ein Mittel, um die Länder und
auch die Menschen in den Ländern einzubeziehen. Aber
es ist ein Märchen, dass die Länderklausel ein Vetorecht
darstellt.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Da sagt Herr McAllister etwas ganz anderes!)


Die Demonstration ist möglich, und sie ist in allen Län-
dern möglich. Das ist keine Lex Brandenburg. Es ist
auch für mehrere Projekte möglich. Deswegen ist es
auch keine Lex Vattenfall.

Es gibt kein Vetorecht für die Länder. Es ist die Wie-
derholung und Verschärfung des Raumordnungsrechtes.
Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, SPD und
Linke, in Brandenburg haben gesagt: Wir wollen das Ge-
setz, das steht so im Koalitionsvertrag. – Jetzt will Bran-
denburg den panikartigen Rückzug. CCS-Gegner in
Brandenburg wollen demonstrieren. Brandenburg will
jetzt ein durchsichtiges Manöver starten, indem es sagt:
Wir steigen aus diesem Vorhaben aus.





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal Ihre Kollegen in Schleswig-Holstein!)


Sich in die Furche zu legen, bis der Sturm vorbei ist,
wird nicht funktionieren. Das funktioniert schon gar
nicht, wenn man in einer Regierung ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Gesetz ist wichtig. Wir haben – das habe ich ge-
sagt – einen juristischen Rahmen. Mit dem Gesetz wird
die Akzeptanz gestärkt. Mit dem Gesetz wird die Sicher-
heit erprobt. Mit dem Gesetz zeigen wir, dass diese
Technologie beherrschbar ist.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Mit dem Gesetz wird ein Signal nach außen gesandt,
dass es jetzt losgehen kann. Das ist auch ein Zeichen an
die Industrie, nicht nur in Richtung Kohleverstromung,
sondern auch an die energieintensive Industrie, von der
ich mir ein stärkeres Bekenntnis gewünscht hätte. Aber
dieses Signal ist auch ein Zeichen für Investitionssicher-
heit.

Es werden keine Steuergelder vergraben, wie das im
Brandenburger Sand so oft passiert ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was sagt denn eigentlich Herr Carstensen dazu?)


Im Rahmen dieses Projekts fließen sehr viele Steuergel-
der in Forschung und Entwicklung. Es ist gut, dass wir
dieses Gesetz heute nicht begraben.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sollte man in die erneuerbaren Energien stecken! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was sagt der Ministerpräsident von SchleswigHolstein dazu? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn Herr McAllister dazu?)


Ein letzter Punkt – das ist der wichtigste –: Wir haben
bezogen auf diese Technologie bei Forschung und Ent-
wicklung zurzeit eine Spitzenposition inne.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind Sie eigentlich mit Ihren Ländern einer Meinung?)


CCS wird kommen. CCS wird weltweit vorangetrieben,
ob wir das wollen oder nicht. Aus meiner Sicht ist CCS
nur eine Übergangstechnologie. Ich bin seit einiger Zeit
mit dem Wort „Brückentechnologie“ ein bisschen vor-
sichtig.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das sollten Sie auch sein!)


– Das bin ich auch.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Miersch [SPD]: Das steht Ihnen gut an!)


Die CCS-Technologie ist aus meiner Sicht ein Über-
gang zu CCU, und zwar zur CO2-Nutzung im industriel-
len Maßstab, zum Beispiel bei den Algen und bei vielen
anderen Dingen. Wer heute bei CCS die Nase vorn hat,
der spielt morgen bei CCU in der Champions League
mit. Ich bitte um Ihre Unterstützung und Zustimmung
für dieses Gesetz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712014000

Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1712014100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In der schwarz-gelben Energiepolitik ist die
Rolle rückwärts sozusagen schon enthalten. Aber das,
was wir heute erleben, ist doch ein Novum, weil die
Rolle rückwärts jetzt schon im Verfahren selbst imple-
mentiert ist. Während Herr Koeppen sagt, das Ganze
werde hier zu einem guten Ende geführt – möglicher-
weise ist es tatsächlich das Ende dieser Technologie –,
erklären die Ministerpräsidenten der CDU, diese Tech-
nologie sei eine Sackgasse, und sie komme in den Län-
dern nicht an. Herr Koeppen, einen größeren Wider-
spruch können Sie gar nicht schaffen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie sagen, das sei eine der
am stärksten umstrittenen Technologien. Aber gerade
weil sie so umstritten ist – beispielsweise zwischen den
Umweltverbänden oder den Mitgliedern von Parteien –,
muss man eine Herangehensweise wählen, die auf diese
Dinge Rücksicht nimmt. Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU und FDP, haben Sie mit diesem
Gesetz an keiner Stelle getan.


(Zuruf des Abg. Michael Kauch [FDP])


Sie haben eben keine Rücksicht auf die Einwände ge-
nommen, die Ihre eigenen Mitglieder vor Ort überall ar-
tikulieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was hätten Sie tun müssen? Sie hätten Antworten auf
die Fragen geben müssen: Wo wollen wir eigentlich mit
dieser Technologie hin? Warum wollen wir sie einsetzen,
und in welchen Bereichen wollen wir sie einsetzen?


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das habe ich gerade gesagt!)


Sie hätten auf die Fragen zu Risiken und Haftungen ein-
deutige Antworten finden müssen. Stattdessen erklären
Sie hier, Sie hätten ein Gesetz gefunden, welches die
Technik sicher macht. Das ist eine Gesetzesbegründung,
die ich in diesem Hause ehrlich gesagt noch nie erlebt
habe, Herr Koeppen.

Und Sie hätten weitere Fragen beantworten müssen.
Sie hätten beispielsweise die Frage beantworten müssen:





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

Bringt uns diese Technologie im Bereich der Energieer-
zeugung überhaupt etwas? – Denn wann steht sie allen-
falls zur Verfügung? Wollen wir dann nicht längst aus
der fossilen Energieerzeugung ausgestiegen sein?

Sie hätten die Frage beantworten müssen, warum die
großen Prestigeobjekte im Ausland zum großen Teil ver-
sandet und gestoppt worden sind. Sie hätten die Fragen
zu möglichen Gefährdungen durch Trinkwasserbelastun-
gen beantworten müssen, die beispielsweise auch in der
Anhörung aufgekommen sind. Sie hätten die Frage be-
antworten müssen, wie Sie das mit dem Pipelinebau ma-
chen wollen, da wir parallel dazu eine Riesenanstren-
gung bei dem Ausbau von Netzen unternehmen. Sie
hätten die Frage beantworten müssen, wie es sich mit der
Haftung verhält. – All diese Fragen haben Sie nicht be-
antwortet.


(Patrick Döring [FDP]: Beantworten Sie die doch mal!)


– Ja, ich komme gleich dazu. Sie haben auch nicht die
Frage beantwortet, ob es trotz dieser Fragen sinnvoll
sein kann, sich eine solche Option offenzuhalten. In Ih-
rem Gesetzentwurf machen Sie gar nichts.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Lesen hilft!)


Ich kann Ihnen hier drei wesentliche Punkte nennen,
weshalb man diesen Gesetzentwurf ablehnen muss.

Das Erste ist die Haftung. 30 Jahre soll ein Unterneh-
men haften. Das riecht doch schon wieder nach dem Mo-
dus, der auch beim Atomdeal Anwendung gefunden hat:
Alle Risiken werden von der Öffentlichkeit, dem Steuer-
zahler, getragen, und die Unternehmen, die davon profi-
tieren, müssen gar keine Risiken tragen. – Eine völlig
unzureichende Haftungsregel!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Zweite. Sie haben jetzt im Gesetzgebungsverfah-
ren noch einen aus meiner Sicht elementaren Fehler ein-
gebaut, indem Sie bei der Haftungsfrage folgenden Pas-
sus ändern: Die Höhe der Deckungsvorsorge soll nicht
mehr danach bemessen werden, wie viel CO2 gespei-
chert wird, sondern danach, wie viel CO2 im Schadens-
fall austreten könnte.

Welcher Widerspruch ergibt sich denn dort? Auf der
einen Seite soll die Langzeitsicherheit gewährleistet
sein. Dann muss auf der anderen Seite auch ausreichend
Vorsorge für den Klagefall getroffen werden. Es muss
die Pflicht bestehen, eine Haftungs- und Deckungsvor-
sorge in Höhe eines möglichen Gesamtschadens zu tref-
fen. Dies ist ein aus meiner Sicht unerklärbarer Wider-
spruch, der jetzt im Gesetzgebungsverfahren noch mit
aufgenommen wurde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann haben Sie eine Länderklausel geschaffen, die
besagt: Wir machen hier in den Bundestagsfraktionen
von CDU/CSU und FDP große Klimapolitik. Aber
gleichzeitig soll die Klimapolitik – Ihrer Denke gemäß –
vor der Haustür der Länder enden. Sie räumen ein Veto-
recht ein, sagen aber gleichzeitig, es gebe kein Veto-
recht.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Gibt es auch nicht!)


Klären Sie den Sachverhalt einmal auf! Soll ich dann
Herrn McAllister der Lüge bezichtigen? Er hat nämlich
in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung festgestellt,
er habe ein Vetorecht durchgesetzt, Herr Koeppen. Sie
widersprechen Ihrem eigenen Landesfürsten.

An Ihren Äußerungen wird deutlich, dass Sie etwas
konstruieren, was nur Rechtsunsicherheit schafft. Das
wird keiner Seite gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie sollten mal ein Rechtsgutachten in Auftrag geben!)


Letztlich ziehen Sie – insbesondere vor dem Hinter-
grund der kritischen Diskussion – keine klare Grenze und
sagen nicht, dass Sie ein Forschungsgesetz machen. In
der Anhörung haben mehrere Sachverständige exempla-
risch erläutert, wie schnell daraus eine weitflächige Nut-
zung der CCS-Technologie entstehen kann. Sie machen
eben kein reines Forschungsgesetz. Das ist aus unserer
Sicht ein gravierender Fehler.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man kann das Thema möglicherweise heute noch
nicht mit Schwarz oder Weiß bewerten. Umso wün-
schenswerter wäre es gewesen, dass Sie sensibel und
ausführlich auf die Fragen und möglichen Risiken einge-
hen und dann prüfen, ob es möglich ist, sich eine Option
nicht für die Energieerzeugung, sondern vor allen Din-
gen für die energieintensive Industrie, beispielsweise im
Bereich Stahl und Zement, offenzulassen. Aber davon
findet sich nichts in Ihrem Gesetzentwurf; Sie zielen da-
mit in die Breite.

Sie haben leider einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
niemandem hilft. Ich hätte mir gewünscht, dass wir die
Fragen gemeinsam klären. Das machen Sie aber nicht.
Sie wollen heute einen Gesetzentwurf beschließen, der
schon morgen nicht mehr gilt, weil die Länder ausstei-
gen werden.


(Patrick Döring [FDP]: Es steht gar kein Antrag der SPD auf der Tagesordnung! Kein Antrag, Gesetzentwurf, nichts! Wieso haben Sie es nicht beantragt?)


Aus unserer Sicht wäre es wünschenswert gewesen,
ein Forschungsgesetz zu machen, das sehr enge Grenzen
vorsieht und die Haftungsfragen eindeutig klärt, und sich
dann zu fragen, ob das eine Option für die Bundesrepu-
blik Deutschland ist. Dann hätten Sie auch die Frage be-
antworten müssen, welche Nutzungskonkurrenzen es
beispielsweise zur Geothermie oder zur Druckluftspei-
cherung gibt. All das lassen Sie außen vor.





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

Ich komme abschließend zu der Fraktion der Linken.
Man kann es sich auch nicht so leicht machen, zu sagen:
Diese Technologie gehört verboten.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Doch! – Michael Kauch [FDP]: Genau!)


Ich glaube, wir haben derzeit noch keine ausreichenden
Erkenntnisse, um uns in dieser Frage ausreichend posi-
tionieren zu können. Ihr eigener Wirtschaftsminister und
Ihre eigene Fraktion in Brandenburg sehen das anders
als Sie. Es gibt Zukunftsfragen, die im Parlament sensi-
bel erörtert werden müssen. Das macht weder die CDU/
CSU, noch machen es die Linken.

Ich lade Sie alle herzlich ein: Kehren Sie um, wenn
Sie merken, dass das Ganze zum Scheitern verurteilt ist
und ein Rohrkrepierer wird! Möglicherweise haben wir
dann schon wieder andere Mehrheiten. Dann lassen Sie
uns das Thema sachlich diskutieren. So geht es jeden-
falls nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712014200

Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1712014300

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Lassen Sie uns zunächst klären, worüber wir heute
entscheiden. In der Begründung zum Entschließungsan-
trag der Grünen zu diesem Gesetzentwurf heißt es:

Das vorliegende CCS-Gesetz schafft Fakten, bevor
ergebnisoffen die Tauglichkeit der Technik und ihre
Risiken … geklärt sind.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Genau das tut es nicht.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir wissen: Das Abspeichern von CO2 im Unter-
grund bereitet vielen Bürgern Sorge. Daher schaffen wir
mit diesem Gesetzentwurf keine Fakten. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf setzt einen Rechtsrahmen für die
großtechnische Erprobung. Deshalb wird erstens in ei-
nem genau begrenzten Umfang und zweitens zum Zwe-
cke der Demonstration das Speichern von CO2 im Unter-
grund zugelassen.

Es geht also nicht darum, heute über die zeitnahe
kommerzielle Anwendung von CCS-Technologien zu
entscheiden. Deswegen sehe ich auch die typisch grüne
Forderung nach einem CCS-Sofortausstieg als völlig
überflüssig an.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woraus sollen wir denn aussteigen, Herr Breil?)


Diese Entscheidung steht erst an, wenn wir mit einer
Demoanlage genügend Erfahrungen über die Umwelt-
auswirkungen und die technische und wirtschaftliche
Machbarkeit gesammelt haben.

Jeder, der die Erprobung dieser neuen Technologie
ohne jegliche Erfahrungen für überflüssig oder gefähr-
lich hält, ist hochmütig. So eine Haltung können wir uns
als Industrienation, die wirtschaftlich weiter wachsen
will und wahrscheinlich auch weiter wachsen muss,
nicht leisten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An dieser Stelle empfehle ich uns allen einen Besuch bei
der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
in Hannover. Dort kann man sich bei unabhängigen und
hochkompetenten Wissenschaftlern über die wahren Ge-
fahrenpotenziale dieser Technologie und über die Maß-
nahmen zur Gefahrenvermeidung kundig machen.

Noch haben wir in Deutschland eine Grundstoffin-
dustrie. In vielen Prozessen in diesen Branchen ist es
rein technisch gar nicht möglich, CO2-Emissionen noch
stärker oder überhaupt zu vermeiden. Die Unternehmen
stehen am Anfang der Wertschöpfungsketten von Pro-
dukten, die wir gerade jetzt für unsere Energiewende
brauchen. Denken Sie zum Beispiel an Dämmstoffe für
die Gebäudesanierung, an neue, hochbelastbare Stähle
– die brauchen wir für die hocheffizienten Dampferzeu-
ger in Gas-, Steinkohle- und Braunkohlekraftwerken –
oder an Windkraftanlagen an Land und auf See!

Es geht bei dem CCS-Gesetz also darum, Zukunfts-
chancen zu erhalten: Chancen für neue Technologien,
Chancen für Menschen und für eine Energiewende, die
Umweltschutz und Versorgungssicherheit zu bezahlba-
ren Preisen miteinander verbindet.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712014400

Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712014500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Linke lehnt den Regierungsentwurf eines CCS-Gesetzes
weiterhin ab;


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Welche Linke? – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Die in Brandenburg oder die hier?)


denn CCS ist ein gefährlicher und teurer Irrweg. Genau
aus diesen Gründen wenden sich nicht nur viele Bürger-
initiativen dagegen, zum Beispiel an der Nordseeküste,





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

in der Altmark oder in Ostbrandenburg; auch die Mehr-
heit der Umweltverbände kämpft gegen diese neue Be-
drohung.

Jenen wenigen Verbänden, die CCS zumindest für
prozessbedingte Emissionen der Industrie befürworten,
möchte ich sagen: Zur Erfüllung der Klimaziele benöti-
gen wir kein CCS.


(Beifall bei der LINKEN)


Das hat die Bundesregierung gerade in einer Antwort auf
eine Anfrage bestätigt. Wenn wir aber CCS nicht benöti-
gen, dann frage ich erneut: Wozu wollen wir uns ein
neues Endlagerproblem unter die Füße pressen? Reicht
nicht das Dilemma um die Asse?

CCS ist auch politisch ein falsches Signal; denn es
gilt, zu beweisen, dass eine Industrienation wie Deutsch-
land in der Lage ist, ihre Wirtschaft emissionsfrei zu ge-
stalten, und zwar – das halte ich für wichtig – ohne neue
Langzeitprobleme zu schaffen. Stecken wir Geld und
Grips also da hinein, wo es notwendig ist, um etwa Pho-
tovoltaik effektiver zu machen, preiswerte Stromspei-
cher zu entwickeln und einen sinnvollen internationalen
Stromverbund für erneuerbare Energien zu befördern!


(Beifall bei der LINKEN)


Ohnehin wird als Zeitpunkt für die großtechnische
Einsatzfähigkeit von CCS mittlerweile das Jahr 2030 ge-
handelt – liebe Kolleginnen und Kollegen: 2030! –,
wenn es überhaupt dazu kommt. Bis dahin aber werden
die Erneuerbaren schon deutlich billiger sein als eine
fossile Stromerzeugung mit CCS. Wir schmeißen also
mit beiden Händen Geld aus dem Fenster. „Wem nützt
das, außer den Kohlekonzernen?“, frage ich Sie.


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Der rot-roten Landesregierung!)


Ein zentrales Problem von CCS bleibt die Gefähr-
dung des Trinkwassers durch verdrängte Salzwässer. In
der Anhörung letztens hat der Vertreter des GeoFor-
schungsZentrums Potsdam behauptet, das wäre be-
herrschbar; die Ergebnisse der Forschungsverpressung
von CO2 in Ketzin hätten ergeben, dass die geologischen
Barrieren halten werden.


(Rainer Brüderle [FDP]: Aber Sie wissen es besser!)


Komisch nur, dass eine Vertreterin der gleichen Einrich-
tung vor einiger Zeit erklärte, Ketzin eigne sich über-
haupt nicht dazu, Aussagen über die Langzeitsicherheit
der CO2-Lagerung zu machen; dort gehe es allein darum,
erst einmal Methoden und Instrumente zu entwickeln,
um die Ausbreitung des CO2 im Untergrund besser ver-
stehen zu können.

Herr Krischer von den Grünen – wie auch ein Kollege
von der CDU/CSU – hat mich in der letzten CCS-De-
batte auf die Rolle der rot-roten Landesregierung in
Brandenburg hingewiesen. Darum sage ich heute noch
einmal: Ja, wir in der Bundestagsfraktion halten die
Position der Brandenburger Landesregierung für einen
Fehler.

(Beifall bei der LINKEN)


Eine Technologie zu befördern, die weder nachhaltig
noch wirtschaftlich ist – und das noch gegen den Wider-
stand der Bevölkerung –, ergibt für uns keinen Sinn.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau! Völlig richtig! – Marie-Luise Dött [CDU/ CSU]: So etwas nennt man populistisch!)


Allerdings möchte ich eine Frage an die Grünen stel-
len: Sind Sie nun eigentlich gegen CCS oder dafür?


(Patrick Döring [FDP]: Schön, dass wir jetzt neben der Befragung der Bundesregierung noch eine Befragung der Opposition haben!)


Bislang haben Sie sich zwar stets gegen CCS bei Kraft-
werken gewandt, aber gleichzeitig zur CO2-Verpressung
für die Industrie bekannt. Ich verweise da auf Ihren Ent-
schließungsantrag.

Ich frage mich jetzt Folgendes: Wenn Sie für Indus-
trie-CCS sind, dann können Sie natürlich nicht gegen
Forschungs- und Demonstrationsspeicher sein.


(Michael Kauch [FDP]: So ist es!)


Denn dann würde es ja höchste Zeit, auszuloten, ob eine
Langzeitspeicherung gefahrlos möglich wäre oder nicht.
Warum aber verkaufen Sie sich dann an den Brennpunk-
ten vor Ort als Kämpfer gegen die CO2-Speicherung?
Sowohl die SPD als auch die Grünen können ihre ableh-
nende Haltung unter Beweis stellen, indem Sie unserem
Antrag zustimmen. Daran kann die Bevölkerung vor Ort
sehen, wo Sie wirklich stehen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712014600

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712014700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

CCS-Euphorie, die wir vor zwei oder drei Jahren euro-
paweit hatten, ist verflogen. In Europa haben einstige
Musterländer wie die Niederlande entsprechende Pro-
jekte gestoppt und beschränken sich auf Offshorelösun-
gen. Das Gleiche gilt für Großbritannien. Die Mehrzahl
der EU-Staaten hat bis heute noch nicht einmal die ent-
sprechende Richtlinie umgesetzt, obwohl die Frist schon
abgelaufen ist. Auch das einstige Musterland Norwegen,
das eine Reihe von Projekten geplant hatte, hat all diese
Projekte auf Eis gelegt. Das zeigt: CCS ist keine Zu-
kunftstechnologie in Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


In Deutschland verhält es sich ähnlich. Es ist nicht so,
wie Sie hier behaupten, dass es nur die Grünen, die So-
zialdemokraten oder die Bürgerinitiativen sind, die vor
Ort gegen CCS sind. Der Riss geht doch mitten durch





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

die Regierungskoalition, also durch CDU/CSU und FDP.
Das zeigt, dass auch bei Ihnen die Akzeptanz fehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang eine Äu-
ßerung aus dem Bayerischen Landtag präsentieren. Bay-
ern ist eigentlich unverdächtig, etwas mit dem Thema
CCS zu tun zu haben. Ich habe jedenfalls noch nie von
einem Projekt dort gehört. Ich zitiere:

Beim Thema CCS sollten wir nicht den Fehler wie-
derholen, den wir beispielsweise bei der Kernener-
gie gemacht haben, indem wir versuchen, irgend-
welche Abfallstoffe irgendwo zu verstecken. Ich
möchte aus Gründen des Klimaschutzes, aber auch
aus einem Verantwortungsbewusstsein für kom-
mende Generationen CO2 vermeiden und nicht CO2
verbuddeln.

Das Protokoll vermerkt danach „Beifall bei der FDP“.
Das hat Herr Thalhammer gesagt, ein bayerischer Frei-
demokrat, der ganz offensichtlich eine Position vertritt,
die von der FDP-Landtagsfraktion in Bayern getragen
wird, die aber mit Ihrer überhaupt nicht deckungsgleich
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Um diese Widersprüche zuzukleistern, haben Sie eine
Länderklausel erfunden. Diese Klausel, in der sich jeder
wiederfinden kann, soll es allen recht machen. Herr
Röttgen erzählt seit Monaten, dass jedes Land auf
Wunsch CCS ausschließen kann. Der Parlamentarische
Staatssekretär Otto hat uns noch gestern im Wirtschafts-
ausschuss erklärt, nein, so gehe es nicht, es müsse einen
komplizierten Abwägungsprozess geben. Heute lesen
wir in der Süddeutschen Zeitung eine Äußerung von
Herrn de Jager, seines Zeichens Wirtschaftsminister in
Schleswig-Holstein. Er erklärt, man werde sofort ein Ge-
setz auf den Weg bringen, mit dem CCS in Schleswig-
Holstein insgesamt verboten wird. Das zeigt doch: Sie
verkleistern Ihre Widersprüche und schaffen es nicht,
sich an dieser Stelle zu einigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Außerdem haben Sie noch Folgendes bewirkt: Die
einzigen Befürworter, die es deutschlandweit gab, näm-
lich die Sozialdemokraten und die Linken in Branden-
burg, müssen jetzt ebenfalls gegen Ihr CCS-Gesetz sein,
weil sie – das ist aus ihrer Sicht nachvollziehbar – nicht
die Deppen der Nation sein wollen, die als Einzige diese
Technologie anwenden, während sich andere aus dem
Staub machen.

Das geht doch nicht. Das ist unseriöse Gesetzgebung.
Das hat mit einer seriösen Gesetzgebung nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Krönung setzt dem Ganzen der Kollege
Meierhofer auf, der uns hier kurz vor der Plenardebatte
in einer Agenturmeldung mitteilt: Wer für CCS ist, muss
gegen diesen Gesetzentwurf stimmen. – Meine Damen
und Herren, das ist die Position des umweltpolitischen
Sprechers der FDP zu diesem Thema, zum vorliegenden
Gesetzentwurf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das ist er nicht!)


Deshalb sage ich: Tun Sie das, was Sie schon lange
hätten tun sollen: Werfen Sie diesen Gesetzentwurf in
die Tonne; er bringt CCS nicht weiter, er löst das Pro-
blem nicht, er schürt nur weitere Konflikte. CCS ist oh-
nehin keine Zukunftslösung, es ist, wenn überhaupt, eine
Rückfalloption für prozessbedingte Emissionen, wenn es
uns in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingt, diese zu
vermeiden. Dafür brauchen wir Forschung, wie wir sie
in Ketzin betreiben. Das müssen wir fortsetzen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gutes CCS, schlechtes CCS!)


Dafür brauchen wir ein Forschungsgesetz, wie wir es in
unserem Antrag vorschlagen. Wenn Sie es ernst meinten,
würden Sie sich auf unseren Vorschlag zubewegen. Da-
mit kämen wir dann weiter, damit hätten wir auch etwas
für den Klimaschutz getan.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712014800

Das Wort hat nun Georg Nüßlein für die Fraktion der

CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Er muss immer das Unerklärliche erklären: Atom, CCS!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1712014900

Schicksal. – Herr Präsident! Meine Damen! Meine

Herren! Ich bedanke mich für das Mitleid der SPD, dass
ich angeblich immer das Unerklärliche erklären muss.
Das fällt mir heute aber, glaube ich, relativ leicht. Ich
möchte dennoch mit einer allgemeinen Vorbemerkung
beginnen.

Wir führen in diesem Haus in steter Regelmäßigkeit
Akzeptanzdiskussionen. Immer geht es dabei um die
Frage, was wir denn noch hinzunehmen bereit sind. Lei-
der Gottes wird dabei zu wenig mit Blick auf das Ziel
formuliert. Akzeptanz hinnehmen, akzeptieren heißt
doch, dass man auch ein Ziel, einen Maßstab im Auge
haben muss. Ich habe den Eindruck, dass viele in diesem
Hohen Haus diesen Maßstab mittlerweile nicht mehr im
Blick haben, dass sie glauben, Wohlstand, Arbeitsplätze,
Industrie seien etwas, was in diesem Land komplett
selbstverständlich ist. Meine Damen und Herren, das ist
falsch.

Wir leben in einer dynamischen Welt. Wir müssen uns
diesen Wohlstand, diese Arbeitsplätze täglich wieder er-
arbeiten. Dazu gehört es auch, offen und offensiv da-





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

rüber nachzudenken, wie alles weitergeht und was man
tun muss.

Damit sind wir bei unserem heutigen Thema. Natür-
lich ist CCS kein einfaches Thema, bei dem man einfach
mal so aus der Hüfte geschossen sagt: Jawohl, das ist
prima, das löst unsere Probleme, das nehmen wir hin.

Das ist nicht der Fall. Es ist uns in der Tat, wie es
auch etliche beschrieben haben, nicht leicht gefallen,
eine Position zu finden; denn auf der einen Seite geht es
um die Sicherheit von Menschen und Umwelt und auf
der anderen Seite um Eigentumspositionen. Ich möchte
in der Debatte ausdrücklich betonen, dass es hier auch
um Eigentumspositionen geht.

Wir sind zu einem Ergebnis gekommen, das ich per-
sönlich für einen sinnvollen und gangbaren Weg mit
Blick auf das Ziel erachte. Das Ziel heißt nämlich Erpro-
bung, Demonstration. Das ist – um mal auf die Vorred-
ner, insbesondere von den Grünen und von der SPD ein-
zugehen – ein gutes Stück mehr als einfach nur
Erforschung, Forschung im Labor, wie Sie es wohl im
Kopf haben. Wir gehen einen notwendigen Schritt wei-
ter. Denn die Forschungsspeicherung in Ketzin hat uns
gezeigt, dass 60 000 Tonnen eingelagert werden können.
Das, was man machen kann, ist von der Forschung schon
belegt. Also müssen Sie ein Stück weiter gehen.

Wir haben internationale Erfahrungen mit einer jährli-
chen Speicherung von 1 Million Tonnen pro Jahr in Nor-
wegen und in Algerien. Also müssen Sie auch hier einen
Schritt weitergehen, wenn Sie eine Technologie erpro-
ben, demonstrieren und mit Blick auf ihre Anwendbar-
keit weiter erforschen wollen. Ich halte es für entschei-
dend, dass wir hier einen Schritt nach vorn tun.

Dass wir das im Rahmen einer Vereinbarung mit den
Ländern, im Rahmen dieser vielfach zitierten Länder-
klausel tun, ist auch richtig und wichtig. Man kann beim
besten Willen nicht einfach von einem Vetorecht spre-
chen. Es muss abgewogene Kriterien geben, die einen
Gebietsausschluss zulassen. Diese Kriterien müssen
fachlich und gerichtlich überprüfbar sein, um bestimmte
Gebiete wegen geologischer Besonderheiten, wegen
Nutzungskonkurrenzen und wegen anderer öffentlicher
Interessen auszuschließen. Man kann das eben nicht
nach Gutdünken irgendwelcher Ministerpräsidenten
handhaben. Das formuliere ich so klar an die Adresse
derjenigen, die das anders sehen. Das muss man aus mei-
ner Sicht klar in den Raum stellen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Heißt das, McAllister lügt? Das ist ja eine unglaubliche Unterstellung!)


Man muss über die Forderungen, die von der Opposi-
tion vorgetragen werden, diskutieren. Das Ziel ist die
Eingrenzung auf prozessbedingte Emissionen, also nur
auf die Emissionen der produzierenden Industrie. Bevor
wir über das Ziel sprechen, müssen wir aber diskutieren,
ob wir dies auf den gesamten Bereich der Energiepro-
duktion anwenden wollen. Wo wollen wir denn solche
Prozesse zum Einsatz bringen? Dort, wo es keine Substi-
tutionsmöglichkeiten und keine Alternativen gibt, sind
sie natürlich ganz besonders wichtig; da haben Sie recht.
Jetzt in der Erprobungsphase geht es aber nicht um die
Frage, wo das CO2 herkommt. Thema ist auch nicht, ob
CO2 gut oder schlecht ist oder was auch immer Sie damit
sagen wollen.

Es kommt darauf an, dass wir diese Phase in Überein-
stimmung mit der Europäischen Union durchschreiten,
um diese Technologie überhaupt einsatzfähig zu ma-
chen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es nicht auf
die Einsatzfähigkeit in Deutschland allein ankommt. Es
wird darauf ankommen, dass wir solche Technologien
insbesondere in den Schwellenländern voranbringen. Es
gab in China Jahre, in denen jeden zweiten Tag ein Koh-
lekraftwerk ans Netz gegangen ist. Es gab in China auch
Jahre, in denen der jährliche Zuwachs an CO2-Ausstoß
so groß war wie unser Gesamtausstoß.

Jenseits aller grünen Traumtänzereien in Bezug auf
die Themen Kohle und fossile Brennstoffe ist mir eines
vollständig klar: Die Kohle dieser Welt wird verbrannt,
wenn uns nichts Besseres im Bereich der Energieversor-
gung einfällt. Wenn sie verbrannt wird, kommt es ent-
scheidend darauf an, mit welcher Technologie sie ver-
brannt wird. Dass wir die Wirkungsgrade erhöhen und
den CO2-Ausstoß im Auge behalten, halte ich für eine
ganz wichtige Aufgabe, der sich eine Industrie- bzw. eine
Ingenieurnation – das sage ich mit Entschlossenheit –
wie Deutschland annehmen will. Ich sage ganz klipp und
klar: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass diese Techno-
logie so weit vorangebracht wird, dass man sie beispiels-
weise in den Schwellenländern einsetzen kann. Ich lade
Sie herzlich ein, heute mit uns diesen nächsten Schritt zu
gehen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt haben Sie das Unerklärliche verklärt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712015000

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich dem Kollegen Michael Kauch für die FDP-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1712015100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde

es schon unverfroren, dass sich Herr Miersch von der
SPD hier hinstellt, sich aufplustert und uns erzählen will,
was man alles hätte besser machen können. Es war ein
roter Umweltminister, der es in der letzten Wahlperiode
nicht geschafft hat,


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Weil die CDU das nicht wollte!)


ein Gesetz zur Umsetzung der CCS-Richtlinie durch den
Deutschen Bundestag zu bringen. Jetzt ist er Ihr Partei-
vorsitzender.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

Sie haben es nicht hinbekommen. Sie sind die einzige
Fraktion im Deutschen Bundestag, die zu dieser Debatte
keine Vorlage eingebracht hat. Die SPD-Fraktion weiß
offensichtlich nicht, ob das, was Herr Miersch erzählt,
auch das ist, was die SPD-Fraktion denkt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Sagt gerade die FDP! Machen Sie mal eine Fraktionssitzung!)


Ich sage mit Blick auf das Parlament und auch auf die
Länderparlamente ganz deutlich: Es gibt in Deutschland
immer schnell Koalitionen zum Neinsagen. Die gehen
über die Parteien hinweg und sagen vor Ort immer Nein.
Ich frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, in Deutsch-
land nicht nur über die Risiken, sondern auch über die
Chancen von Technologien zu reden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal Ja zur Windkraft!)


Meine Damen und Herren, die Vertreterin der Um-
weltorganisation WWF hat in der Anhörung ausgeführt,
dass es Menschen gibt, die meinen, wir sollten uns nicht
auf CCS einlassen, sondern lieber Bäume pflanzen, um
CO2 zu binden. Daraufhin hat sie gesagt: Ja, wir müssen
Bäume pflanzen – diese Bäume müssen wir aber in je-
dem Fall pflanzen, unabhängig davon, ob wir CCS zu-
lassen. Wir müssen beides machen; nur dann werden wir
bis 2050 eine CO2-Reduktion von 95 Prozent erreichen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen gar nichts! Das ist das Problem!)


Das ist der entscheidende Punkt. Wir können uns
nicht einfach entspannt hinsetzen und zusehen, dass wir
in Deutschland unsere Ziele erreichen. Wir müssen glo-
bal mehr als die Hälfte der CO2-Emissionen einsparen;
das sind in den Industrieländern bis 2050 95 Prozent. Es
gibt aber Industrien, die ihre Emissionen nicht senken
können, weil sie prozessbedingt sind. Wenn Sie diese In-
dustrien nicht nach China vertreiben wollen, dann müs-
sen Sie eine Lösung hier im Land anbieten.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Aber nicht so eine!)


Dazu muss auch die CO2-Abspeicherung und -Einlage-
rung in die Erde gehören.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Und das mit Landesklausel!)


Jetzt tragen die Länder eine besondere Verantwor-
tung.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir gesehen!)


Sie haben die Verantwortung, mit ihren Kompetenzen
sinnvoll und verantwortungsvoll umzugehen. Ich sage
ganz deutlich – auch an eigene Parteifreundinnen und
Parteifreunde –: Wer es mit dem Klimaschutz ernst
meint, der kann in seinem eigenen Bundesland entspre-
chende Technologien nicht pauschal ablehnen. Sie haben
die Verantwortung, und die müssen sie jetzt tragen.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712015200

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1712015300

Zum Abschluss sage ich Ihnen ganz deutlich: Die

SPD hat behauptet, wir würden uns nicht um Nutzungs-
konkurrenzen kümmern. Wenn Sie einmal die Vorlagen
des Deutschen Bundestages lesen würden, dann würden
Sie erkennen, dass es diese Koalition ist, die mit einem
Antrag die Bundesregierung beauftragt, einen Atlas zu
erstellen,


(Ulrich Kelber [SPD]: Es geht ums Gesetz!)


in dem die Nutzungskonkurrenzen zwischen Geother-
mie,


(Ulrich Kelber [SPD]: Prüfauftrag, nicht Auftrag!)


CCS und weiteren energetischen Nutzungen – wie bei-
spielsweise Druckluftspeichern – aufgeführt sind.

Es muss endlich klargestellt werden, dass die Regio-
nen in Deutschland nicht mehrfach


(Ulrich Kelber [SPD]: Prüfauftrag!)


für die Nutzungen verplant werden, die wir klimapoli-
tisch erreichen wollen. CCS ist notwendig. Die Einfüh-
rung von CCS über die Länderklausel ist nicht der Weg
unserer Wahl gewesen; es ist aber der einzige Weg, die-
ses Gesetz durch den Bundesrat zu bringen. Deshalb
nehmen wir die Länderklausel in Kauf und appellieren
an die Länder, sensibel mit ihrer neuen Verantwortung
umzugehen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712015400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur De-
monstration und Anwendung von Technologien zur
Abscheidung, zum Transport und zur dauerhaften Spei-
cherung von Kohlendioxid. Der Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6507, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/5750 und 17/6264 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der beiden Regierungsfrak-
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Ge-
setzentwurf namentlich ab. Ich möchte darauf hinwei-
sen, dass wir im Anschluss noch eine weitere nament-
liche Abstimmung durchführen wollen. Es liegen zu
dieser Abstimmung eine ganze Reihe persönlicher Er-
klärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Ich
bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen be-
setzt? – Das scheint der Fall zu sein.

Ich eröffne die Abstimmung.

Die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mitglie-
der des Hauses sich an der Abstimmung beteiligt? – Das
ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6513. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Stimmenthaltun-
gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen und der Linken gegen
die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD
abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke zum Verbot der Speicherung von
Kohlendioxid in den Untergrund des Hoheitsgebietes der
Bundesrepublik Deutschland. Der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6507, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/5232 abzulehnen.

Wir stimmen über den Gesetzentwurf namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist offensicht-
lich der Fall.

Dann eröffne ich die Abstimmung.

Die obligate Frage: Haben alle Mitglieder des Hauses
ihre Stimme abgegeben? – Das ist offensichtlich der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergebnis
der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.3)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte
Platz; denn wir setzen die Abstimmungen fort.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit
dem Titel „Umfassende Datenbasis für Nutzungsmög-
lichkeiten des Untergrunds schaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/6507, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3056 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer

1) Anlage 7
2) Ergebnis Seite 13970 D
3) Ergebnis Seite 13973 B
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen bei Stimmenthaltung von SPD und Linken gegen
die Stimmen der Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Mast, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Arbeitsmarktpolitik an den Herausforderun-
gen der Zeit orientieren – Weichen für gute
Arbeit, Vollbeschäftigung und Fachkräfte-
sicherung stellen

– Drucksache 17/6454 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Katja
Mast für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1712015500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Heute diskutieren wir den arbeitsmarktpolitischen An-
trag der SPD. Dieser Antrag ist notwendig, weil Kahl-
schlag in der Arbeitsmarktpolitik zwei Farben hat:


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Nein!)


Schwarz und Gelb. Das wissen Sie. Deshalb behaupten
Sie immer in den Debatten über die massiven Haushalts-
kürzungen, das sei alles gar nicht so.

Hier sitzt die Lobby für aktive Arbeitsmarktpolitik.
Hier sitzen diejenigen, die in der Arbeitsmarktpolitik
fördern und fordern wollen. Diese Gedanken liegen un-
serem Antrag „Arbeitsmarktpolitik an den Herausforde-
rungen der Zeit orientieren – Weichen für gute Arbeit,
Vollbeschäftigung und Fachkräftesicherung stellen“ zu-
grunde, über den wir jetzt diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Uns geht es darum, die Spaltung am Arbeitsmarkt zu
überwinden. Darin sehen wir eine Aufgabe der Politik.
Auch das unterscheidet uns von Schwarz-Gelb. Wir wol-
len, dass die Spaltung am Arbeitsmarkt ein Ende hat.
Wann, wenn nicht jetzt, ist der richtige Zeitpunkt dafür?


(Beifall bei der SPD)


Vollbeschäftigung ist ein hehres Ziel; das wissen wir
alle. Wenn es um Vollbeschäftigung geht, dürfen wir
aber nicht nur die Menschen, die Arbeitslosengeld I be-





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)

ziehen, in den Blick nehmen, sondern wir müssen auch
die Menschen berücksichtigen, die Arbeitslosengeld II
beziehen, also diejenigen, die langzeitarbeitslos sind. An
dieser Stelle möchte ich mit Erlaubnis des Präsidenten
Herrn Weise zitieren, der – das können wir heute nachle-
sen – ein Zehnjahresprogramm gegen Sockelarbeitslo-
sigkeit gefordert hat. Er fordert die Bundesregierung auf,
dafür Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Er appel-
liert an die Bundesregierung, die Mittel für die Bundes-
agentur für Arbeit nicht voreilig zu kürzen. Das Geld sei
bei der Bundesagentur zur Vermeidung von Arbeitslo-
sigkeit und zur Vermeidung der sozialen Folgekosten gut
angelegt. Er sagt: Geben Sie uns das Geld. Bei uns gibt
es Rendite. Woanders wird es verbrannt. – Er bringt es
auf den Punkt, Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-
Gelb: Machen Sie Schluss mit Ihren massiven Kürzun-
gen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben in dieser Woche im Ausschuss über den
Gesetzentwurf diskutiert, den Sie in der letzten Woche
ins Plenum eingebracht haben. In dieser Woche haben
Sie im Ausschuss gesagt, dass Sie ihn nicht in den Bun-
desrat schicken können, weil er dort vielleicht keine Zu-
stimmung bekommen würde. Wenn dieser Gesetzent-
wurf so gut wäre, wie Sie sagen, brauchten Sie keine
Angst vor den Bundesländern zu haben. Wenn Sie über
diesen Gesetzentwurf Chancen schaffen könnten, sollten
Sie damit in den Bundesrat gehen. Unsere Unterstützung
haben Sie.

Jetzt zu unserem Antrag, der auf sieben Leitideen ba-
siert. Ich will an dieser Stelle auf einige eingehen.

Wir setzen erstens eine klare Priorität bei der Heraus-
forderung unserer Zeit: Wir müssen sicherstellen, dass
der Fachkräftebedarf auch in Zukunft gedeckt wird. Das
ist die größte wirtschaftliche Herausforderung für unsere
Volkswirtschaft. Deshalb rücken wir – das ist unser ers-
ter Punkt – Ausbildung, Bildung, Qualifizierung und
Weiterbildung in das Zentrum der Arbeitsmarktpolitik.
In unserem Antrag finden Sie das Recht auf Ausbildung,
die Forderung nach mehr Praxisbezug im Rahmen der
Berufsvorbereitung junger Menschen und die Entfris-
tung der Einstiegsqualifizierung, die vielen Jugendlichen
die Chance auf Ausbildung eröffnet. Das ist unser erster
Punkt. Diesen Punkt finden wir in Ihrem Gesetzentwurf
nicht. Deshalb mussten wir einen eigenen Antrag einrei-
chen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nur ein Antrag!)


Zweiter Punkt: Wir wollen einen sozialen Arbeits-
markt. Wir wollen öffentlich geförderte Beschäftigung,
die auf Dauer angelegt ist, damit die Menschen, die am
Rand des Arbeitsmarktes stehen, weil bei ihnen vielfäl-
tige Vermittlungshemmnisse vorhanden sind, die zum
Beispiel schon sehr lange arbeitslos sind, endlich eine
dauerhafte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
finden. Sie wollen das nicht. Mit Ihrem Gesetzentwurf
wollen Sie die Chancen dieser Menschen reduzieren.
Wir wollen neue Chancen schaffen. Deshalb haben wir
diesen Antrag eingebracht. Wir stehen zu einem sozialen
Arbeitsmarkt, den wir über einen Passiv-Aktiv-Transfer
finanzieren. Das ist ganz im Sinne der Menschen, die ein
Recht auf Beschäftigung wollen.


(Beifall bei der SPD)


Drittens – und auch dazu sagen Sie im Rahmen Ihrer
uninspirierten Arbeitsmarktpolitik nichts –: Alle arbeits-
marktpolitischen Fachleute wissen, dass wir Langzeitar-
beitslose am besten in Arbeit bringen, wenn wir die Ar-
beitsvermittler stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Vermittler weniger Menschen betreuen, als das heute
der Fall ist. Das Verhältnis liegt heute im Schnitt bei
1 : 158. Wir finden, dieser Schnitt muss deutlich gesenkt
werden. Nur so können wir genug Fachkräfte für die Zu-
kunft ausbilden.

Wir wollen spezifische Angebote für Frauen, Migran-
tinnen, Migranten und Jugendliche. Dafür brauchen wir
gut qualifizierte Vermittlerinnen und Vermittler sowie ei-
nen besseren Betreuungsschlüssel. Dazu sagen Sie in Ih-
rem zentralen Arbeitsmarktprogramm, das Sie letzte
Woche vorgelegt haben, nichts.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist eine Instrumentenreform, Frau Abgeordnete!)


Auch deshalb bekommen Sie heute die Antwort der
SPD: Wir wollen einen besseren Vermittlungs- und Be-
treuungsschlüssel insbesondere im Sozialgesetzbuch II
verankern.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen aber auch, dass die wissenschaftliche Be-
gleitung unserer Arbeitsmarktpolitik besser wird. Wir
wollen nicht nur wie Sie – das ist wichtig; das ist das
zentrale Ziel der Arbeitsmarktpolitik – den ersten Ar-
beitsmarkt im Blick haben, sondern auch soziale Teil-
habe gerade für langzeitarbeitslose Menschen in die wis-
senschaftliche Begleitung mit aufnehmen.

Ich freue mich auf die Debatte mit Ihnen. Im Sep-
tember wird es eine Anhörung zu unseren Gesetzent-
würfen und Anträgen geben. Ich fordere Sie noch ein-
mal auf – wir brauchen eine Lobby für aktive
Arbeitsmarktpolitik –: Kämpfen Sie dafür, dass die Kür-
zungen, Ihre Sparorgien ein Ende haben! Kämpfen Sie
für die Menschen, die in Ihrer Verantwortung sind, für
Arbeitslose, die Arbeit haben wollen und die ein Recht
auf Beschäftigung haben!


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712015600

Das Wort hat nun Peter Weiß für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Jetzt kommt wieder ein wenig Theater!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1712015700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Im Herbst 2005 – nach der Wahl von Angela Merkel zur
Bundeskanzlerin – hat die Bild-Zeitung getitelt: „Frau
Merkel, das sind jetzt Ihre Arbeitslosen“. Nun will ich





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Ihnen die Bilanz vorlegen. Im Jahr 2005 – beim Regie-
rungsantritt von Angela Merkel – lag die Arbeitslosig-
keit in Deutschland bei 4,86 Millionen Personen oder
12 Prozent. Im Jahr 2009 – nach der erneuten Wahl von
Angela Merkel zur Kanzlerin – lag die Arbeitslosigkeit
in Deutschland bei 3,41 Millionen Menschen, sprich:
8,2 Prozent. Und heute, im Juni 2011, liegt die Arbeits-
losigkeit in Deutschland bei 2,83 Millionen Menschen
oder 6,9 Prozent. Nichts kann mehr als diese klaren und
eindeutigen Zahlen, die niemand bezweifeln kann, bele-
gen: Diese Bundesregierung unter Angela Merkel ist die
erfolgreichste, was die Bekämpfung von Arbeitslosig-
keit in Deutschland anbelangt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unter Rot-Grün war die Arbeitsmarkpolitik von der
Frage „Was machen wir gegen die Massenarbeitslosig-
keit?“ bestimmt. Heute diskutieren wir über die Perspek-
tive, dass wieder Vollbeschäftigung in Deutschland
möglich ist, und darüber, dass wir in einigen Bereichen
bereits einen Mangel an Fachkräften erleben. Auch die
Debatte über „gute Arbeit“ ist von Rot-Grün in den Zei-
ten der Massenarbeitslosigkeit nicht geführt worden. Im
Gegenteil: All die Verwerfungen am Arbeitsmarkt, die
die Sozialdemokraten in dem vorliegenden Antrag be-
klagen und vorhin in der Aktuellen Stunde beklagt ha-
ben, sind Ausfluss der Gesetzgebung von Rot-Grün.
Deswegen müssten Sie ehrlicherweise über Ihren Antrag
schreiben: Schluss! Nie wieder Rot-Grün! Das wäre
konsequent.


(Ulrich Lange [CDU/CSU]: Jawohl, das wäre konsequent! – Katja Mast [SPD]: Da lohnt es sich noch nicht mal mehr, sich darüber aufzuregen!)


Nun zu dem Geld, das der Staat zur Verfügung stellt.
Ich glaube, jedem wird einleuchten, dass eine veränderte
Situation auf dem Arbeitsmarkt auch Auswirkungen auf
die finanzielle Ausstattung der Arbeitsmarktpolitik ha-
ben muss.


(Katja Mast [SPD]: Sie kürzen die Mittel überproportional!)


Bei 2,8 Millionen Arbeitslosen muss und kann der finan-
zielle Rahmen nicht genauso aussehen wie bei 4,8 Mil-
lionen Arbeitslosen.

Ich komme zu den konkreten Zahlen. Im Jahr 2006
– das war das Jahr,


(Katja Mast [SPD]: 2008 ist das Basisjahr!)


in dem eine Bundesregierung unter Führung von Angela
Merkel die Verantwortung trug;


(Katja Mast [SPD]: 2008 ist das Vorkrisenjahr!)


es war die die Große Koalition von CDU/CSU und SPD –
haben wir für 2,82 Millionen Arbeitsuchende im SGB-II-
Bereich, also Arbeitslosengeld-II-Bezieher, 4,5 Milliar-
den Euro für Vermittlung und Förderung zur Verfügung
gestellt.


(Katja Mast [SPD]: Sie rechnen sich das schön, Herr Weiß!)

Das waren damals – Sie können das nachrechnen – pro
Kopf rund 1 600 Euro.


(Katja Mast [SPD]: Sie machen hier Pippi Langstrumpf!)


Im Entwurf für den Bundeshaushalt 2012, den der Herr
Bundesfinanzminister kürzlich vorgestellt hat,


(Katja Mast [SPD]: Sie machen sich die Welt, wie es Ihnen gefällt!)


stellen wir für 1,86 Millionen Arbeitslose, die derzeit Ar-
beitslosengeld II beziehen, einen Betrag von 4,4 Milliar-
den Euro zur Verfügung, also pro Kopf knapp 2 400 Euro.
2 400 Euro sind deutlich mehr als 1 600 Euro.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Zahlen sind falsch! – Gegenruf des Abg. Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Stimmt nicht! Die Zahlen sind richtig!)


Zweitens zu den Zahlen für die Bezieher von Arbeits-
losengeld I. Im Jahr 2006 gab es 1,66 Millionen Bezie-
her von Arbeitslosengeld I; für diese haben wir 2,7 Mil-
liarden Euro aufgewandt. Für das Jahr 2012 werden wir
für geschätzte 0,8 Millionen Personen ziemlich genau
die Hälfte der Summe zur Verfügung stellen, die wir
2006 zur Verfügung gestellt haben. Sowohl für die Be-
zieher von Arbeitslosengeld I als auch für die Bezieher
von Arbeitslosengeld II wird es im nächsten Jahr pro
Kopf deutlich mehr finanzielle Förderung durch den
Staat und die Arbeitslosenversicherung geben als 2006.
Wer hier von einem finanziellen Kahlschlag bei der Ar-
beitsmarktpolitik spricht, kann schlichtweg nicht rech-
nen. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Abg. Bettina Hagedorn [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Die Haushälterin Frau Hagedorn möchte mir eine
Frage stellen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712015800

Ich war so im Zuhören begriffen, dass ich das nicht

bemerkt habe.


(Heiterkeit)


Bitte schön, Kollegin Hagedorn.


Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1712015900

Herr Kollege Weiß, weil Sie hier versuchen, einen

vollkommen falschen Eindruck zu erwecken,


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Was?)


möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir einig sind, dass die
Bundesregierung vor ziemlich genau einem Jahr ein so-
genanntes Sparpaket beschlossen hat, durch das die Mit-
tel im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik um über
40 Prozent gekürzt werden sollten. Dieses Paket ist mit
dem Haushaltsbegleitgesetz umgesetzt worden. Die In-
strumentenreform, über die wir hier jetzt diskutieren, ist
nichts anderes als ein Etikettenschwindel; denn durch
die im Rahmen der Instrumentenreform geplanten Maß-





Bettina Hagedorn


(A) (C)



(D)(B)

nahmen sollen die angestrebten Kürzungen erreicht wer-
den. Genau das haben Sie vor. Daher muss man auch
nach vorne und nicht nur zurückschauen, Herr Kollege
Weiß, um Ihre Politik zu beurteilen.

Es ist ganz klar – Zahlen lügen an dieser Stelle nicht –,
dass Sie bis 2015 strukturelle Kürzungen vornehmen:
bei der Bundesagentur für Arbeit 11,5 Milliarden Euro
und ein halber Mehrwertsteuerpunkt, 4 Milliarden Euro,
pro Jahr. Zusätzlich kassieren Sie den Überschuss bei
der Insolvenzgeldumlage von 1,1 Milliarden Euro in die-
sem Jahr und kürzen im Bereich des SGB II, also bei
Langzeitarbeitslosen, um 15 Milliarden Euro. Diese
Kürzungsorgie haben wir noch vor uns; sie wird erst
2013, wenn Sie möglicherweise nicht mehr regieren, ih-
ren Höhepunkt erreichen. Das ist die Folge Ihres Kür-
zungspakets, das Sie hier beschlossen haben. Sie sagen,
dass Sie dadurch die Schuldenbremse einhalten wollen.
Aber in Wahrheit nehmen Sie den Menschen damit die
Chancen und verbrämen alles mit dem Etikettenschwin-
del „Instrumentenreform“.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Frage! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Mal in die Geschäftsordnung schauen!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1712016000

Frau Kollegin Hagedorn, zunächst einmal möchte ich

sagen, dass ich bemerkenswert finde, dass Sie die Zah-
len, die ich vorgetragen habe, überhaupt nicht infrage
stellen. Als Mitglied des Haushaltsausschusses und als
zuständige Berichterstatterin für den Haushalt des Bun-
desministeriums für Arbeit und Soziales kennen Sie
diese Zahlen. Ich möchte also zuerst einmal festhalten,
dass meine Zahlen von Ihnen nicht bezweifelt worden
sind.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ich bin gar nicht darauf eingegangen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bezweifle die!)


Zweitens. Da uns alle Wirtschaftsforschungsinstitute,
auch die gewerkschaftsnahen, voraussagen, dass die
Zahl der Arbeitslosen Gott sei Dank in den kommenden
Jahren weiter zurückgehen wird,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist Konjunktur! Nicht strukturell!)


können wir die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik
insgesamt zurückführen, selbstverständlich auch struktu-
rell.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Auch in Krisenzeiten!)


„Strukturell“ heißt zum Beispiel: Wenn wir deutlich we-
niger Arbeitslose haben, dann brauchen wir auch nicht
mehr den vollen Apparat, den die Bundesagentur für Ar-
beit heute zur Verfügung hat.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Nein! So nicht!)

Hier sind in der Tat strukturelle Einsparungen und Ver-
änderungen – ich muss sagen: Gott sei Dank – notwen-
dig. Denn es geht nicht darum, Arbeitslosigkeit zu ver-
walten, sondern darum, Menschen aus der
Arbeitslosigkeit hinauszuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Mit aktiver Arbeitsmarktpolitik!)


– Jawohl.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Für die man Geld braucht!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Frage
ist: Greift unsere aktive Arbeitsmarktpolitik auch mit der
Mittelausstattung, die wir in Zukunft haben werden? Ich
finde es ganz interessant, dass zum Beispiel eine aktuelle
Untersuchung unter Beteiligung der gewerkschaftsnahen
Hans-Böckler-Stiftung zu dem Ergebnis kommt, dass
wir mittlerweile auch klassische Problembereiche des
Arbeitsmarktes zusehends aufbrechen. Im Altersüber-
gangs-Report 2011 heißt es:

Noch nie waren so viele Ältere ab 50 Jahren sozial-
versicherungspflichtig beschäftigt wie heute.

Das zeigt doch: Wir haben mit der Arbeitsmarktpolitik,
die wir gemeinsam verantworten, Erfolg.


(Katja Mast [SPD]: Also keine Kürzungen mehr?)


Um was es geht, ist: Wir wollen mit der Reform der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente deren Effizienz er-
höhen. Wir wollen Maßnahmen, die sich nach der Evalu-
ierung und der wissenschaftlichen Untersuchung, die
Frau Mast gefordert hat,


(Zurufe von der SPD)


als nicht wirksam erwiesen haben, künftig nicht mehr
anwenden und Maßnahmen, die effektiv sind, verstärkt
anwenden. So – da sind wir uns sicher – werden wir die
positive Entwicklung am Arbeitsmarkt auch in Zukunft
fortführen. Von Streichorgien zu reden, ist schlichtweg
falsch.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)


Die Zahlen strafen Sie Lügen. Bitte unterlassen Sie in
Zukunft eine solche Argumentation der Verunsicherung!


(Katja Mast [SPD]: Gehen Sie doch auch mal auf die Zahlen von 2008 ein!)


Wir setzen das notwendige Geld ein, damit die Arbeits-
losigkeit in Deutschland in Zukunft weiter erfolgreich
bekämpft werden kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712016100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch darf

ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich

Volkmar Klein
Axel Knoerig

Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)


Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk

Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

(Hof) Jens Koeppen Lothar Riebsamen Elisabeth Winkelmeier-

mung über den Entwurf ein
gierung zur Demonstratio
Technologien zur Abscheidu
dauerhaften Speicherung von

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 573;
davon

ja: 306
nein: 266
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
es Gesetzes der Bundesre-
n und Anwendung von
ng, zum Transport und zur
Kohlendioxid bekannt ge-

Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
ben: abgegebene Stimmen 5
306, mit Nein haben gestimm
Gesetzentwurf ist damit ange

Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
73. Mit Ja haben gestimmt
t 266, Enthaltungen 1. Der

nommen.

Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Hans-Georg von der Marwitz
Josef Rief

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)


Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Horst Meierhofer
Judith Skudelny

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 575;
davon

ja: 65
nein: 445
enthalten: 65

Ja

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Des Weiteren darf ich Ihnen das von den Schriftführe-
rinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na-
mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Ge-
setzes der Fraktion Die Linke zum Verbot der
Speicherung von Kohlendioxid in den Untergrund des
Hoheitsgebietes der Bundesrepublik Deutschland be-
kannt geben: abgegebene Stimmen 575. Mit Ja haben
gestimmt 65, mit Nein haben gestimmt 445, Enthaltun-
gen 65. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

SPD

Gerd Bollmann





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich

Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)


Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Neumann

(Lausitz)


Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Enthalten

CDU/CSU

Hans-Georg von der Marwitz

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Till Seiler
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9 zurück. Ich
erteile Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die
Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712016200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im vorlie-

genden Antrag wird die schwarz-gelbe Arbeitsmarkt-
politik kritisiert, und das zu Recht. Ich möchte die Kri-
tikpunkte aus Sicht der Linken darstellen.

Die Pläne der Bundesregierung – das können Sie
nicht einfach wegrechnen, Herr Weiß – gehen Hand in
Hand mit Kürzungen in der Arbeitsmarktpolitik.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Bei zurückgehenden Arbeitslosenzahlen!)


Wir hatten die Vertreter des Verwaltungsrates der Bun-
desagentur für Arbeit bei uns im Ausschuss. Herr Clever,
der parteipolitisch wahrlich nicht im Verdacht steht, Mit-
glied der Linken zu sein, hat dort gesagt: Diese Kürzun-
gen gehen nur mit enorm tiefen Einschnitten in der Ar-
beitsmarktpolitik.


(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD] – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und recht hat er!)


Sie haben hier ein verzerrtes Bild gezeichnet. In der
Summe sind zwar jeweils weniger Erwerbslose zu ver-
zeichnen. Weil die Beschäftigungsdauer kürzer ist, die
Leute also schneller gefeuert werden und sich schneller
wieder arbeitslos melden müssen, gibt es aber einen hö-
heren Umschlag und demzufolge bei der Bundesagentur
für Arbeit mehr zu tun. Deshalb kann man dort nicht ein-
fach kürzen.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Schwarz-Gelb über dieses Thema redet, dann
klingt das immer ganz schön. Sie sagen dann: Wir wol-
len Ordnung im Instrumentenkoffer schaffen. – Jeder,
der schon einmal vor einem chaotischen Werkzeugkoffer
stand, denkt dann: Na ja, da ist bestimmt etwas dran. –
Aber dieses Bild ist verlogen. Denn Sie kürzen gerade
bei den Maßnahmen, die zu vergleichsweise guten Er-
gebnissen geführt haben, und führen die Maßnahmen
fort, die in der wissenschaftlichen Evaluation schlecht
abgeschnitten haben.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das stimmt nicht! Das ist doch dummes Zeug, was Sie da reden!)


Um beim sprachlichen Bild des Werkzeugkoffers zu
bleiben: Es ist schon ein Problem, wenn man nur noch
einen Hammer im Werkzeugkasten hat, aber eigentlich
einen Schraubenzieher bräuchte.

Da ich neulich in meiner WG renoviert habe, kann ich
nur sagen: Versuchen Sie einmal, einen Wandschrank
ohne den passenden Schraubenzieher anzubringen!
Bei der Arbeitsmarktpolitik reden wir über Men-
schen, bei denen Mangel verheerende Folgen hat. Das
heißt nämlich ganz konkret, dass der Sachbearbeiter
dann zum Erwerbslosen sagen muss: Tja, für Sie habe
ich heute weder Weiterbildung noch eine Arbeitsgele-
genheit mit Entgelt. – Für uns als Linke ist das nicht ak-
zeptabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass aus Pflichtleistungen
Ermessensleistungen werden. Ermessensleistungen – das
ist Behördendeutsch. Da schreckt man erst einmal gar
nicht auf. Und wenn die FDP davon redet, klingt das
nach etwas ganz Tollem,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


nämlich so, als ob dann aus der reichen Theke des Ange-
botes das Beste ausgesucht würde. Ich kann den Zuhö-
rern nur empfehlen: Lassen Sie sich davon nicht täu-
schen! Denn in Verbindung mit Mittelkürzung bedeutet
Ermessensleistung vor allen Dingen eines: Der Entschei-
dungsspielraum wird am Ende bei null liegen. Dann
wird der Sachbearbeiter nur noch sagen können: Für Sie
haben wir heute leider keine Förderung. – Die Verant-
wortung dafür liegt bei CDU/CSU und FDP.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der Willkür wird Tür und Tor geöffnet!)


Die schwarz-gelbe Arbeitsmarktpolitik konzentriert
sich vor allen Dingen auf die Vermittlung in den ersten
Arbeitsmarkt. Das ist gut, aber eben zu kurz gegriffen.
Gegenüber dem wichtigen Potenzial einer öffentlich ge-
förderten Beschäftigung sind Sie vollkommen blind. Öf-
fentlich geförderte Beschäftigung kann nämlich Pro-
jekte, die nicht sofort der Profitlogik entsprechen, in
denen aber notwendige gesellschaftliche Arbeit geleistet
wird, wie das in Frauenzentren der Fall ist, mit Langzeit-
erwerbslosen zusammenbringen, die auf der Suche nach
sozialen Kontakten sind. Das ist eine wichtige Dimen-
sion, die Sie nicht einfach ignorieren können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deswegen setzen wir uns für öffentlich geförderte Be-
schäftigung ein. Ich finde die Idee eines Arbeitsmarktes
von unten sinnvoll. Man sollte besser bei Projekten wie
der Nachbarschaftshilfe, bei der Erwerbslose selbstbe-
stimmt sinnvolle Tätigkeiten stiften, Jobs finanzieren.
Dort ist das Geld allemal besser aufgehoben, als wenn
man es in den Sanktionsapparat steckt.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun gäbe es tatsächlich Veränderungsbedarf. Genau
die notwendigen Veränderungen werden von Ihnen aber
nicht in Angriff genommen. Um nur einmal ein Beispiel
zu nennen: Es gibt einen enormen Bedarf an Altenpfle-
gern. Altenpfleger ist aber ein Beruf mit einer Ausbil-
dung, die mindestens drei Jahre dauert. Das Problem ist,
dass die meisten Maßnahmen in der Berufsförderung nur





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

auf zwei Jahre angelegt sind. Diese wichtige Verände-
rung nehmen Sie nicht in Angriff.

Aus all diesen Gründen und Kritikpunkten sagen wir
ganz deutlich Nein zur schwarz-gelben Arbeitsmarkt-
politik. Sie kürzen an der falschen Stelle. Die wirklich
notwendigen Änderungen nehmen Sie nicht in Angriff.

Wir haben als Linke unsere Alternativen hier bereits
vor mehreren Wochen in einem Antrag vorgestellt. Ich
will sie noch einmal kurz zusammentragen.

Wir als Linke setzen auf eine Vermittlung in gute Ar-
beit. Gute Arbeit meint: gut bezahlt, ohne Zwang, sinn-
stiftend und mit familienfreundlichen Arbeitszeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen die vorhandene Erwerbsarbeit besser ver-
teilen. Eines der zentralen Mittel dabei ist die Arbeits-
zeitverkürzung. Wir setzen auch auf eine öffentlich ge-
förderte Beschäftigung in sinnvollen Tätigkeiten, die
mindestens mit dem Mindestlohn bezahlt werden, die
voll sozialversicherungspflichtig sind und deren An-
nahme freiwillig ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Um all dies zu finanzieren, haben wir auch ein eige-
nes Steuerkonzept eingebracht. Lassen Sie mich den Un-
terschied einmal auf den Punkt bringen: Im Zentrum
Ihrer Arbeitsmarktpolitik, der schwarz-gelben Arbeits-
marktpolitik, steht der Rotstift. Im Zentrum unserer Ar-
beitsmarktpolitik steht der Mensch – einfach weil er ein
Mensch ist.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712016300

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1712016400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
als Einzige Ihren Antrag nicht zu unserem Gesetzent-
wurf letzte Woche vorgelegt haben, will ich jetzt nicht
nur über unseren Gesetzentwurf reden. Vielmehr habe
ich mir konkret Ihren Antrag angeschaut. Darin findet
man wirklich interessante Sachen.

So schreiben Sie, wir würden den wissenschaftlichen
Evaluationsergebnissen kaum folgen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! – Katja Mast [SPD]: Existenzgründerzuschuss!)


Erstens ist das falsch. Zweitens, Frau Kollegin Mast,
wäre das noch gut gegenüber dem, was Sie hier tun;
denn Sie ignorieren sie einfach komplett.

Ich will nur aus dem Evaluationsbericht des IAB zu
einer ganz interessanten Maßnahme, den sogenannten
ABM-Stellen, zitieren. Warum ist diese Maßnahme so
interessant? Weil Sie in Ihrem Antrag fordern, dass die
ABM wieder eingerichtet werden sollen. Das IAB
schreibt dazu:

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schaden der Ten-
denz nach eher den Integrationschancen der Geför-
derten.

Und weiter:

Vor diesem Hintergrund stimmt es bedenklich,
wenn ABM für viele Teilnehmergruppen signifi-
kant negative Eingliederungswirkungen auslösen.
Der Bedeutungsverlust im SGB III ist damit richtig
und zwangsläufig. Auch ihre Abschaffung im
Rechtskreis SGB II ist nachvollziehbar: …

Frau Kollegin Mast, wie Sie vor diesem Hintergrund
allen Ernstes sagen können, das sei moderne Arbeits-
marktpolitik – durch dieses Instrument werden Men-
schen aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten anstatt
hineingebracht –, kann ich nicht nachvollziehen. Richti-
gerweise ist das nicht unsere Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Nur wenn sie marktnah sind, ist es richtig!)


Ich würde mich wirklich freuen und unsere Debatte
wäre viel anregender, wenn Sie zwei Dinge auseinander-
halten würden: Das eine ist die Reform der arbeitsmarkt-
politischen Instrumente, das andere ist die Kürzung im
Eingliederungstitel.


(Katja Mast [SPD]: Das geht aber nur zusammen!)


– Das gehört eben nicht zusammen.


(Katja Mast [SPD]: Natürlich gehört das zusammen!)


Das eine ist in der Tat – liebe Frau Kollegin Kipping, ich
freue mich, dass Sie unsere Intention verstanden haben –,
dass wir wollen, dass der Werkzeugkasten für die Ar-
beitsmarktpolitik aufgeräumt wird,


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber die wichtigen Instrumente fehlen!)


und das andere ist, dass die Mittel für die aktive Arbeits-
marktpolitik in Zeiten sinkender Arbeitslosenzahlen na-
türlich auch ein Stück weit sinken.


(Bettina Hagedorn [SPD]: So ein Quatsch! Das ist keine konjunkturelle Kürzung, sondern eine strukturelle Kürzung!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD – auch
an Sie, Frau Kollegin Hagedorn –, das ist deshalb noch
lange kein Kahlschlag.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Doch! Genau das ist es!)


– Das ist es nicht. – Das ist kein Kahlschlag; denn – wir
haben es Ihnen schon mehrfach vorgerechnet – Sie dür-
fen ja nicht nur die absolute Höhe der Mittel, sondern





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

Sie müssen auch die Relation zu den Arbeitslosen be-
trachten.


(Katja Mast [SPD]: Reden Sie doch mal mit den Beschäftigungsträgern oder den Weiterbildungsträgern!)


Wenn Sie sich das anschauen, dann stellen Sie fest, dass
jetzt im Schnitt jedes Jahr noch immer mehr Geld pro
Arbeitslosen zur Verfügung steht, als das in den letzten
vier Jahren der Fall war, als Sie den Bundesarbeitsminis-
ter gestellt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Sie wollten die Zahlen für 2008 nehmen!)


Ich komme zum letzten Punkt aus Ihrem Antrag, zu
dem ich etwas sagen will. Frau Kollegin Mast, ich finde
wirklich, es ist Chuzpe, dass Sie in Ihrem Antrag allen
Ernstes schreiben, Sie würden sich gegen die weit ver-
breitete Einschätzung wehren, Deutschland stünde – als
würde das nicht stimmen – bei der Jugendarbeitslosig-
keit gut da. Sie sagen, das würde nicht stimmen. Sie
wehren sich gegen diese Einschätzung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie verweigern!)


Anstatt dass Sie sich freuen, dass wir bei der Jugend-
arbeitslosigkeit die zweitbesten Zahlen in ganz Europa
haben, bemühen Sie irgendwelche statistischen Tricks,
um das schlechtzureden.


(Katja Mast [SPD]: Weil Sie sie mit Maßnahmen versorgen, die sie nicht in Arbeit bringen!)


Ich verweise hier auf Eurostat. Wenn man Eurostat
fragt, dann sagen sie: „Zur Jugend gehört jemand bis
25 Jahre“, also nicht bis 29 Jahre, wie Sie sich das zu-
rechtgelegt haben. Hier haben wir die zweitbesten Zah-
len in ganz Europa. Das sollten Sie in Ihrem Antrag bei
aller Liebe nicht schlechtreden. Das ist den Menschen in
unserem Land gegenüber unfair und irreführend. Das ist
keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Kollegin Mast, wir haben übrigens keine Angst
vor dem Bundesrat. Das haben Sie uns eben ja unter-
stellt. Wir haben nur erlebt, dass Sie im Bundesrat bei
den Hartz-IV-Verhandlungen Unsinn veranstaltet haben
und die Arbeitsmarktpolitik schlechter machen wollen.
Das wollen wir uns und dem Land nicht noch einmal an-
tun.

Zu unseren Instrumenten will ich nur kurz etwas sa-
gen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem
der Instrumentenkasten in der Tat aufgeräumt wird.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Leergeräumt wird!)


Alleine dadurch wird die Arbeitsmarktpolitik besser und
werden mehr Menschen in diesem Land Chancen gege-
ben, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Perspektive zu
haben.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Darum geht es! Richtig!)


Das ist die Politik unserer Regierung. Was Sie hier ma-
chen – ABM wieder einführen und die Erfolge bei der
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit schlechtreden –,
ist in meinen Augen alles, aber keine verantwortungs-
volle Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Trotzdem möchte ich das Blinken der Uhr zum An-
lass nehmen, Ihnen allen einen schönen Sommer zu
wünschen. Ich freue mich auf das Wiedersehen nach der
Sommerpause und insbesondere auf die Anhörung zu
unseren arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und die
Fortsetzung der Debatte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712016500

Herr Kollege, ich dachte, wir sehen uns morgen noch

einmal.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1712016600

Ich arbeite auch morgen noch, aber wir sehen uns

nicht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712016700

Mal sehen. – Das Wort hat nun Kollegin Brigitte

Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712016800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

… das deutsche Jobwunder ist kein Selbstläufer,
der Arbeitsmarkt braucht weiter unsere Aufmerk-
samkeit.

Das hat Ursula von der Leyen am letzten Donnerstag an-
lässlich der Verkündung der Arbeitsmarktzahlen gesagt.
Daran kann man wieder einmal sehen, wie weit Handeln
und Reden bei dieser Regierung auseinanderliegen; denn
von Unterstützung auf diesem Feld kann man bei Ihrer
Politik nun wirklich nicht mehr reden.

Herr Vogel und Herr Weiß, ich will jetzt noch etwas
zu Ihrem halbseidenen Zahlenvergleich sagen:


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: „Halbseidenen“!)


Sie vergleichen hier Äpfel mit Birnen. Wir sind uns
einig: Wir vergleichen das Jahr 2006 mit dem Jahr 2012.
Wenn wir von Ansätzen reden, dann sollten wir auch in
Bezug auf 2006 von Ansätzen reden. Sie vergleichen
hier aber das Ist mit den Ansätzen. Der Ansatz für 2006
betrug 6,75 Milliarden Euro, der Ansatz für 2012 beträgt
4,4 Milliarden Euro. Also sind die Zahlen, die Sie hier
vorlegen, einfach falsch.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ CSU]: Nein!)


Nicht nur Ihre Zahlenvergleiche sind unseriös, son-
dern auch Ihre Arbeitsmarktpolitik ist sehr unseriös. Es
ist einfach Unsinn, wenn Sie sagen, Herr Vogel, man
könne den Gesetzentwurf zur Instrumentenreform nicht
im Kontext mit den Einsparungen diskutieren. Es ist
doch so, dass zu diesem Gesetzentwurf das Finanz-
tableau quasi mitgeliefert wird.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712016900

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Vogel?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712017000

Selbstverständlich.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Begeisterung sieht anders aus!)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1712017100

Frau Kollegin Pothmer, Sie haben uns eben vorge-

worfen, dass wir für die Jahre, die noch vor uns liegen,
nur Ansätze vergleichen. Ich wüsste nicht, wie das an-
ders gehen sollte; denn für die Jahre, die vor uns liegen,
können wir noch keine Istzahlen nehmen. Das ist das
Wesen der Zukunft.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir können uns zum Beispiel anschauen, dass die Ist-
zahlen pro Arbeitslosen im Zusammenhang mit Leistun-
gen nach dem SGB II 2010 immer noch höher liegen als
2008. Sind Sie mit mir der Meinung, dass dann Ihr Ge-
rede von einem Kahlschlag einfach nicht angemessen
ist, Frau Kollegin?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712017200

Nein. Herr Vogel, das ist vollkommen falsch. Selbst-

verständlich können Sie die Istzahlen von 2012 noch
nicht wissen. Ich fürchte, dass sie noch unter 4,4 Milliar-
den Euro liegen werden. Aber Sie können sehr wohl die
Istzahl von 2006 wissen. Sie ist nämlich schon 2006 zur
Kenntnis gebracht worden. Deswegen sind Sie sehr wohl
in der Lage, Äpfel mit Äpfeln und Birnen mit Birnen zu
vergleichen, und müssen nicht Äpfel mit Birnen verglei-
chen. Das ist unseriös; das wissen Sie auch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Herr Vogel, es ist wirklich Quatsch mit Soße, wenn
Sie sagen, man dürfe den Gesetzentwurf zur Instrumen-
tenreform nicht mit dem Finanztableau in Einklang brin-
gen. Sie selber haben das zusammen vorgelegt. Sie ma-
chen das in Teilen sogar instrumentenscharf.
Im Zusammenhang mit dem Gründungszuschuss
schreiben Sie in das Gesetz hinein, dass hier 5 Milliar-
den Euro eingespart werden. Gleichzeitig sagen Sie hier,
wir dürften das nicht in einem Kontext sehen. Da lacht
doch wirklich die Koralle, die schon lange nicht mehr zu
Wort gekommen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Endlich! – Weitere Zurufe von Abgeordneten der CDU/ CSU)


Sie machen eines der wirksamsten Instrumente der
aktiven Arbeitsmarktpolitik kaputt. Herr Vogel und Herr
Weiß, das sehe nicht nur ich so. Das sehen doch auch
Ihre Parteikollegen so. Die schwarz-gelbe Koalition in
Bayern hat angekündigt, den Veränderungen, die Sie
beim Gründungszuschuss angekündigt und im Gesetz-
entwurf festgelegt haben, nicht zuzustimmen. Der ge-
samte Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik des Bun-
desrates hat gesagt:

Beim Gründungszuschuss handelt es sich um ein
erfolgreiches Instrument der Arbeitsförderung, das
… nicht verkürzt oder verschlechtert werden darf.
… Gerade beim Gründungszuschuss handelt es sich
um ein Instrument, das direkt in Erwerbstätigkeit
führt, die Chance bietet, dass weitere sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung geschaffen wird,
und gleichzeitig auch wirtschaftspolitische Impulse
setzt.

Das ist eine kluge Empfehlung des Ausschusses. Die
Kritik an Ihrer Politik ist vollkommen berechtigt. Auch
Ihre Ministerinnen und Minister haben dieser Empfeh-
lung zugestimmt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Koalitionsvertrag versprechen Sie, Deutschland zu
einem Gründerland werden zu lassen. Sie wollen sogar
eine Gründerkampagne machen. Was sollen denn die Ar-
beitslosen dazu sagen? Sind sie Gründer zweiter Klasse?
Der Gründungszuschuss im Jahre 2010 hat allein bei den
Gründern, also nur bei denjenigen, die für sich selbst Ar-
beitsplätze geschaffen haben, 146 500 zusätzliche Ar-
beitsplätze geschaffen. Diese Gründer haben zusätzliche
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
in einer Größenordnung von über 100 000 geschaffen.
Mit anderen Worten: 250 000 neue, zusätzliche Arbeits-
plätze werden durch Ihre Politik gefährdet.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712017300

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Weiß?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712017400

Aber gerne.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1712017500

Frau Kollegin Pothmer, –






(A) (C)



(D)(B)


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712017600

Herr Kollege Weiß!


(Heiterkeit)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1712017700

– da Ihre Partei Bündnis 90/Die Grünen tendenziell

immer noch besonders gern mit den Sozialdemokraten
koalieren möchte –


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712017800

Das liegt aber nicht an den Sozialdemokraten. Das

liegt an Ihnen.


(Heiterkeit)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1712017900

– gut, ich nehme diese Liebeserklärung zur Kenntnis –

und die Frau Kollegin Mast darum gebeten hat, dass die
wissenschaftliche Begleitforschung zu den arbeitsmarkt-
politischen Instrumenten auch wirklich ernst genommen
wird, frage ich Sie, was Sie zu der Untersuchung des
IAB sagen, nach der beim Gründungszuschuss ein Mit-
nahmeeffekt von bis zu 75 Prozent festzustellen ist, dass
also öffentliches Geld verausgabt wird, das man für die-
sen Zweck gar nicht hätte verausgaben müssen. Warum
wollen Sie diese Feststellung des IAB schlichtweg nicht
zur Kenntnis nehmen?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712018000

Lieber Herr Weiß, das IAB hat diese Feststellung nie

getroffen. Das IAB hat sich presseöffentlich darüber be-
schwert, dass die Bundesarbeitsministerin angebliche
Forschungsergebnisse des IAB instrumentalisiert, um
ihre Kürzungspolitik zu rechtfertigen. So weit zu Ihrer
sauberen wissenschaftlichen Arbeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712018100

Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage

der Kollegin Mast?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712018200

Ja, gerne.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1712018300

Frau Kollegin Pothmer, sind Sie mit mir der Meinung,

dass das IAB in seinem Kurzbericht 11/2011 Folgendes
festgehalten hat:

Eingliederungszuschüsse, betriebliche Trainings-
maßnahmen und die Gründungsförderung haben
besonders positive Effekte …

Meines Wissens findet sich das auf der Titelseite des
IAB-Berichts. Haben Sie wissenschaftliche Belege da-
für, dass man den Vermittlungsgutschein weiterführen
soll?

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712018400

Der Vermittlungsgutschein ist ein Instrument, gegen

das wir uns nicht wehren. Es ist aber schon sehr auffäl-
lig, dass die Lobbyistenpolitik der FDP


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Lobbyistenpolitik?)


dieses eine Instrument eben nicht zu einer Pflichtleistung
gemacht hat. Es ist vielmehr eine Ermessensleistung und
stellt insoweit eine Ausnahme dar.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Weil es keinen Sinn macht, Frau Kollegin!)


Aber gegen die Vermittlungsgutscheine an sich setze ich
mich nicht zur Wehr.

Was das Forschungsergebnis des IAB angeht, würde
ich Sie doch bitten, nicht mir diese Information zur
Kenntnis zu geben, sondern dem Kollegen Weiß. Der hat
da eine echte Wissenslücke.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Sie könnten doch mal zum Antrag der SPD sprechen! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das mit dem Mitnahmeeffekt stimmt! Das steht im Bericht!)


Ich habe jetzt nur noch sehr wenig Redezeit. Lassen
Sie mich noch eines sagen: Diese Instrumentenreform ist
doch auch eine sehr wichtige Weichenstellung für die
Behebung des Fachkräftemangels. Das, was Sie in Sa-
chen Fachkräftemangel vorgelegt haben, ist ein 30-seiti-
ger Besinnungsaufsatz. Sie reden zwar davon, dass Sie
Migranten, Ältere und Frauen verstärkt in den Arbeits-
markt bringen wollen. Sie nennen aber keine Instru-
mente, und Sie unterlegen das auch nicht mit Mitteln.
Das sind Appelle, von denen sich die Leute nichts kau-
fen können. Sie brauchen handfeste Unterstützung. Das
– das sage ich an dieser Stelle noch einmal – sehen die
Länder genauso, ebenso die Verbände und die arbeits-
marktpolitischen Experten. Ich bitte Sie an dieser Stelle:
Stellen Sie sich nicht gegen diese Expertisen. Stellen Sie
sich hinter die Arbeitslosen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712018500

Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1712018600

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Nachdem wir über das Thema Arbeitsmarkt heute
in der Aktuellen Stunde schon sehr ausführlich gespro-
chen haben, haben wir uns in einer Art ABM nunmehr
mit diesem Antrag der SPD auseinanderzusetzen.


(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])






Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Die SPD möchte nicht über die Erfolge reden, sondern
springt, liebe Kollegin Mast, in einer negativen Art und
Weise in diese Debatte, die wir nicht ganz nachvollzie-
hen können. Aber während der Regierungszeit von Rot-
Grün blühte nicht die Wirtschaft, sondern die Arbeitslo-
sigkeit. Wenn Sie sich jetzt als Lobby für aktive Arbeits-
marktpolitik darstellen wollen, dann muss ich sagen
– seien Sie mir nicht böse –: Bei über 5 Millionen Ar-
beitslosen und einer Quote von 13 Prozent ist das eher
eine Lobby des Versagens. Die Zahlen zur gegenwärti-
gen Lage wurden heute oft genannt. Das zeigt, wie wich-
tig richtige Politik und richtige Rahmenbedingungen für
die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sind. Es ist eben
nicht egal, wer regiert, wie es heute Nachmittag anklang,
als es hieß: Es ist egal, wer regiert; die Lage wird besser. –
Nein, weil wir regiert haben, ist es besser geworden. Wo
Schwarz-Gelb regiert – ich nenne nur Bayern im Ver-
gleich zu Berlin –, ist die Lage deutlich besser, um nicht
zu sagen: gut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben letzte Woche über den Gesetzentwurf der
Bundesregierung diskutiert. Wir haben schon festge-
stellt, liebe Kollegin Mast, dass die Langzeitarbeitslosig-
keit sehr wohl zurückgeht. Sie haben heute vorsichtiger-
weise die Zahlen von letztem Freitag nicht wiederholt;
denn wir haben festgestellt, dass die Zahlen, mit denen
Sie letzten Freitag operiert haben, nicht richtig waren.
Uns geht es darum, Langzeitarbeitslose zu mobilisieren
und in Arbeit zu bringen. Erste Erfolge zeigen sich in der
Konjunktur. Eine gute Konjunktur ist auch immer eine
Frage der Struktur von Arbeitslosigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Sie müssen sich mal die Zahlen genauer ansehen! – Katja Mast [SPD]: Ich schicke sie Ihnen gerne zu!)


Wenn Sie von Kahlschlag oder Rotstift reden, dann
kann ich nur sagen: Auch dies ist falsch. Das haben wir
ebenfalls letzte Woche diskutiert. Wir führen gerne jede
Woche eine Debatte als Nachhilfe für die SPD in Zah-
lenlehre.

Liebe Kollegin Kipping, wenn Sie sagen, bei Ihnen
stehe der Mensch im Mittelpunkt, dann entgegne ich
sehr deutlich: Nach unserer christlichen Soziallehre steht
sehr wohl der Mensch im Mittelpunkt. Bei Ihnen ist es
nichts anderes als die rote Ideologie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie haben die Sommerpause jetzt echt langsam verdient!)


Ich glaube, unser Hauptaugenmerk muss auch auf der
Sicherung des Fachkräfteangebots liegen. Das wird eine
der großen Herausforderungen der nächsten Monate und
Jahre, damit die gute Konjunktur nicht ins Holpern
kommt. Ich glaube, dass wir auch dort mit den ange-
dachten Maßnahmen zur Bildungsinitiative und Berufs-
bildung vorankommen. Wir müssen uns darum bemü-
hen, dass die Zahl der Hochschulabbrüche sinkt, und wir
müssen vor allem dafür sorgen, dass weniger Hochquali-
fizierte unser Land verlassen.
Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang auch
in den Anhörungen über die Instrumente hinaus viel zu
diskutieren haben. Ich freue mich auf die sachliche Aus-
einandersetzung


(Katja Mast [SPD]: Sind Sie dazu in der Lage?)


und glaube, dass sie uns weiterbringt als die wöchentli-
che Wiederholung der Debatte über vergleichbare An-
träge mit gleichem Inhalt.

Lassen Sie uns in der Sache arbeiten. Die Struktur der
Langzeitarbeitslosigkeit ist nicht festgezurrt. Wir haben
in der jetzigen Konjunktur eine echte Chance. Das be-
deutet auch, Instrumente neu auszurichten, finanzielle
Mittelströme zu überprüfen und das eine oder andere In-
strument in diesem Zusammenhang effektiver zu gestal-
ten. Ich bin mir sicher, dass das gelingen wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712018700

Das Wort hat nun Gabriele Lösekrug-Möller für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1712018800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wir haben heute Nachmittag
eine Aktuelle Stunde zur Entwicklung auf dem Arbeits-
markt durchgeführt. Ich kam mir vor wie beim Schüt-
zenfest in Niedersachsen; denn die Beiträge hatten ein
Niveau wie im Bierzelt.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Die SPD war ja auch beteiligt!)


Ich bedauere das ausdrücklich. Es gibt mehr als 4 Millio-
nen Menschen in Deutschland, die sich Teilhabe durch
Arbeit, und zwar durch gute Arbeit, wünschen. Ich weiß
nicht, wie sich diese Menschen fühlen müssen, wenn sie
gehört haben, auf welchem Niveau hier heute Nachmit-
tag diskutiert wurde.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Dazu haben Sie aber einen Beitrag geleistet!)


Ich freue mich, dass unter anderem auch aufgrund unse-
res Antrags der eine oder andere Beitrag beginnt sich da-
von abzuheben; denn diese Menschen haben das ver-
dient.

Herr Kollege Weiß, Sie haben Martin Brussig zitiert.
Sie haben auf die Untersuchung abgehoben, die die
Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht hat. Sie haben sich
an die Brust geheftet, dass Sie es geschafft haben, mehr
Ältere auf dem Arbeitsmarkt in Beschäftigung zu brin-
gen. Es wäre gut gewesen, Sie hätten uns den ganzen
Satz zur Kenntnis gegeben. Das ist nämlich nicht ein Er-
folg Ihrer Arbeitsmarktpolitik, sondern: Kohorten älter
als 50 drängen stärker auf den Arbeitsmarkt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Aber das ist doch positiv!)






Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)

Das ist etwas, an dem nicht einmal Kanzlerin Merkel
persönlich einen Anteil hat.

Wenn Sie darstellen, wie wunderbar Ihre Politik allen
geholfen hat, die in Beschäftigung gekommen sind, dann
will ich Ihnen sagen: Ich habe da so eine Idee, woran das
liegt. Das lag daran, dass wir konjunkturpolitisch die
richtigen Weichen gestellt haben. Wissen Sie, wer mir da
einfällt? Herr Scholz, Herr Steinmeier, Herr Steinbrück.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Von der Leyen!)


Ehrlich gesagt: Die verorte ich alle bei den Sozialdemo-
kraten und nicht bei Ihnen.


(Beifall bei der SPD – Ulrich Lange [CDU/ CSU]: Rente mit 67!)


Insofern finde ich: Was wir mit unserem Antrag vor-
schlagen, ist die konsequente Fortentwicklung einer
Politik, die denen Hilfe zuteilwerden lässt, die sie ver-
dient haben. Latent – latent! – schimmert bei Ihnen
durch: Den Langzeitarbeitslosen muss man nicht nur un-
ter die Arme greifen; sie brauchen geradezu Druck, dass
sie in Beschäftigung kommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat denn „Fordern und Fördern“ erfunden? – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Wie war das mit „Fordern und Fördern“, Frau Kollegin?)


Sie wissen, dass das nicht der Fall ist. Deshalb möchte
ich all denen, die sich jahrelang um Arbeit bemühen, sa-
gen: Dieses Bemühen erkennen wir an, wir respektieren
das. Wir wollen helfen. Das ist die Zielrichtung unseres
Antrags.


(Beifall bei der SPD)


Meine Kollegin Mast hat schon Herrn Weise zitiert.
Den würde ich auch nicht gerade in unseren Reihen zu
Hause sehen. Er hat recht, wenn er sagt: Jetzt haben wir
eine Chance, Arbeitsmarktpolitik so zu machen, dass
Langzeitarbeitslose einen Vorteil davon haben können. –
Aber was machen Sie? Strukturell ziehen Sie blank, was
den Haushalt anbelangt; Frau Hagedorn hat doch recht.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Pro Kopf!)


Wenn Sie meinen, Sie könnten auf der einen Seite In-
strumente reformieren und auf einer ganz anderen Seite,
kilometerweit entfernt, Milliarden kürzen,


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Sie müssen doch pro Kopf rechnen, Frau Kollegin!)


dann kann ich nur sagen: Beides kommt bei den Men-
schen an. Das Resultat vor Ort ist: Was vorher ein
Rechtsanspruch war, wird zur Ermessensleistung. Die
Fallmanager haben das Ermessen, Nein zu sagen, wenn
sie eigentlich gute Lösungen vorschlagen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist ärgerlich. Ich finde, das ist auch Augenwischerei.
Ich will Ihnen noch etwas zum Thema Fachkräfte sa-
gen; denn es stimmt ja – das wurde mehrfach angespro-
chen –: Wir haben schon einen gespaltenen Arbeits-
markt. Ihre Politik trägt dazu bei, dass diese Spaltung
massiv voranschreitet. Wir haben einen Fachkräfteman-
gel, schon akut im Bereich von Pflege und Erziehung.
Fachkräftebedarf haben wir ohne Ende, zukünftig stär-
ker auch in anderen Branchen. Es gab ein Zitat dazu.
Ihre Kanzlerin hat einmal gesagt: Man kann nicht aus je-
dem Langzeitarbeitslosen einen Ingenieur machen. –
Lassen Sie sich das einmal auf der Zunge zergehen! Da-
mit hat sie vielleicht sogar ein bisschen recht, aber ich
sehe: Auf der Strecke vom Langzeitarbeitslosen zum In-
genieur liegen zehn Berufe, für die man qualifizieren
kann, die am Ende ein ordentliches Einkommen erzeu-
gen, wenn es denn gute Arbeit ist. Darum sollten wir uns
bemühen.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Genau das machen wir!)


Insofern ist unser Antrag – wir haben es gesehen – bitter
notwendig. Ich freue mich auf die Debatte.

Eines will ich Ihnen noch sagen, Herr Vogel. Sie ha-
ben am Mittwoch im Ausschuss so nett gesprochen von
narrativer Evidenz; Sie werden sich erinnern.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Anekdotische Evidenz! – Sebastian Blumenthal [FDP]: Das war ein anderer! – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das muss ein anderer Beitrag gewesen sein!)


– Nein, Sie haben „narrativ“ gesagt; „anekdotisch“ war
das nicht. – Gelegentlich habe ich ein Wort im Kopf,
wenn ich Sie höre, und das hat zu tun mit juveniler Arro-
ganz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712018900

Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1712019000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktio-
nen, insbesondere von Bündnis 90/Die Grünen und von
der SPD, ich finde es ein bisschen schade, dass Sie die
gesamte Diskussion um die Reform der arbeitsmarkt-
politischen Instrumente blockieren, indem Sie perma-
nent versuchen, den Menschen Angst zu machen mit der
Behauptung, wir würden unangemessene Kürzungen im
Haushalt bei den Mitteln für die aktive Arbeitsmarkt-
politik vornehmen.


(Katja Mast [SPD]: Reden Sie mal mit den Fachleuten!)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Es ist ja richtig, dass wir die Mittel der aktiven Ar-
beitsmarktpolitik zurückführen. Aber dies ist kein
Grund, den Menschen Angst zu machen.

Frau Mast, Frau Lösekrug-Möller und Frau Pothmer,
was dahinter steckt, möchte ich Ihnen an einem einfa-
chen Beispiel erläutern:


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie mal eine einfache Rechnung!)


Wenn Sie einen Kuchen für acht Personen backen, dann
brauchen Sie weniger Eier, Mehl und Milch, als wenn
Sie einen Kuchen für 16 Personen backen. Wenn die Ar-
beitslosigkeit sinkt, dann brauchen Sie weniger finan-
zielle Mittel, um diese Menschen in Arbeit zu bringen.


(Katja Mast [SPD]: Aber zuerst muss ich für eine neue Kuchenform Geld investieren! – Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist eine Verhöhnung der Menschen!)


Es zeigt unsere Verantwortung gegenüber künftigen Ge-
nerationen, dass wir auf diese Weise den Bundeshaushalt
gestalten.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Langzeitarbeitslosen, Herr Kober!)


Je weniger Menschen auf aktive Arbeitsmarktpolitik an-
gewiesen sind, desto weniger Geld müssen wir einset-
zen.

Wichtig ist aber festzustellen, dass wir in jedem Fall
mehr Geld für die Menschen ausgeben, als Sie von
Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD in Ihrer ge-
meinsamen Koalition je bereit waren, zu geben. Man
muss dabei bedenken, dass es nicht um die absolute
Höhe geht, sondern darum, wie viel jeweils für den Ein-
zelnen zur Verfügung steht. Sie waren bereit, während
Ihrer Regierungszeit etwa 1 500 bis 1 600 Euro pro
Langzeitarbeitslosen zur Verfügung zu stellen. Wenn
man das mit dem vergleicht, was wir aktuell im Jahr
2011 zur Verfügung stellen, nämlich 1 980 Euro, dann
sieht man daran, dass wir mehr für den Einzelnen tun als
Sie zu Ihrer Regierungszeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Wo wollen Sie denn mehr tun mit weniger Geld?)


Ich würde mich für die Menschen, die auf aktive Ar-
beitsmarktpolitik angewiesen sind, freuen, wenn Sie sich
an der Sachdebatte über die einzelnen Instrumente betei-
ligen würden und diese Diskussion nicht mit dem Vor-
wurf belasten würden, wir würden hier Kahlschlag be-
treiben oder in unangemessener Form kürzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist nicht der Fall. Wir machen eine verantwortliche
Arbeitsmarktpolitik. Vor allen Dingen schaffen wir mit
unserer Politik die Voraussetzung dafür, dass die Ar-
beitsmarktpolitik überhaupt wirksam werden kann.
Durch eine kluge und verantwortungsvolle Wirtschafts-,
Finanz- und Steuerpolitik schaffen wir Anreize für In-
vestitionen, die dann zur Schaffung von Arbeitsplätzen
führen. Durch eine gute Bildungspolitik in den Ländern,
in denen wir zusammen mit der Union regieren, erzielen
wir gute Ergebnisse bei der Schulausbildung der Jugend-
lichen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Bayern stimmen Ihnen da doch nicht zu!)


Das ist später die Voraussetzung dafür, ohne staatliche
Unterstützung und ohne Unterstützung durch die Ar-
beitsmarktpolitik in Arbeit zu kommen.

Wir können es einfach, und Sie konnten und können
es nicht.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh!)


Wir sind besser.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Wie billig, Herr Kober!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712019100

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Paul Lehrieder das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1712019200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Die letzten Wochen unserer Ausschuss-
arbeit waren durch eine Vielzahl freudiger Ereignisse ge-
kennzeichnet. Die Kollegin Mast hat vor wenigen Tagen
geheiratet. Frau Mast, bei allen Unterschieden in der Sa-
che gratuliere ich Ihnen an dieser Stelle sehr herzlich
zum Einlaufen in den Hafen der Ehe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aus gleichem Anlass gratuliere ich dem Kollegen Kolb.
Auch wenn wir uns manchmal streiten, werden solche
persönlichen Ereignisse hier honoriert.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mindestens genauso wichtig wie diese persönlichen
Ereignisse war das Angehen der Reform der arbeits-
marktpolitischen Instrumente.


(Katja Mast [SPD]: Ich habe nicht Herrn Kolb geheiratet!)


– Ich will warten, bis die Heiterkeit der Kollegin Mast
abgeklungen ist, damit sie sich auf meine Ausführungen
konzentrieren kann. Diese werden aber nicht mehr so
heiter sein.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Jetzt kommt die SPD mit ihrem nachgehechelten An-
trag, um direkt nach der Sommerpause eine Ausschuss-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

anhörung durchführen zu können. Frau Kollegin Mast,
in Ihrem Antrag klingt es am Anfang ganz gut:

Fairness ist der Schlüssel für gute Arbeit. … Trotz
des wirtschaftlichen Aufschwungs, der derzeit nach
der schweren Krise der letzten Jahre ordentlich in
Fahrt kommt, ist Fairness … noch lange nicht er-
reicht.

Jetzt geht Ihr Lamento wieder los. Sie attestieren
aber: Der Aufschwung ist da, er ist ordentlich in Fahrt
gekommen. Sie haben während der Großen Koalition
diesbezüglich sicherlich auch nicht viel falsch gemacht.
Diesen Aufschwung hat die christlich-liberale Koalition
weiter begleitet.

Meine Damen und Herren, Sie monieren in Ihrem An-
trag:

… jungen Menschen, Frauen, Migrantinnen und
Migranten … wird der Zugang zu Arbeit und Be-
schäftigung oftmals erschwert.

Einige Vorredner haben dazu bereits Ausführungen
gemacht. Die beste Erleichterung für den Zugang zu Ar-
beit gerade bei den von Ihnen angesprochenen Gruppen
ist natürlich die Schaffung von ausreichenden Arbeits-
möglichkeiten, also die Schaffung eines gut funktionie-
renden und brummenden Arbeitsmarktes. Wenn Sie sich
den Arbeitsmarkt anschauen, dann stellen Sie fest: Die
Arbeitslosigkeit liegt im Westen bei 5,8 Prozent; das
sind 1,9 Millionen Arbeitslose. Im Vergleich zum letzten
Jahr sank sie um immerhin 200 000, im Osten um
55 000.


(Katja Mast [SPD]: Wie sieht es bei den Langzeitarbeitslosen aus?)


Wir haben also seit Jahresfrist für eine Viertelmillion
Menschen neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies reduziert
natürlich die Zahl der von Ihnen angesprochenen Pro-
blembereiche.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Heute Nachmittag stand hier ein Redner der SPD am
Pult – den Namen weiß ich nicht mehr; so ähnlich wie
Barthel oder so –,


(Anette Kramme [SPD]: Nicht „oder so“!)


kein Arbeitsmarktpolitiker – den hätten Sie lieber nicht
reden lassen sollen; da hätten Sie besser Toni Schaaf ge-
nommen oder jemanden, der etwas von der Sache ver-
steht –, der sagte: In Bayern sind die regionalen Unter-
schiede ähnlich wie auf Bundesebene. – Ich habe mir
einmal die Zahlen für Bayern herausgesucht und möchte
– Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis – ein bisschen da-
raus vorlesen: In Bayern haben wir zugegebenermaßen
auch Bereiche, bei denen die Arbeitslosigkeit über
5 Prozent liegt.


(Anette Kramme [SPD]: Ehrlich? Darauf wäre ich nicht gekommen!)


– Hören Sie halt zu, Frau Kramme. Sie wissen das doch,
Menschenskind; Sie kommen doch auch aus Bayern. Sie
müssen froh sein; darüber können Sie sich gemeinsam
mit uns freuen, zum Kuckuck.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Es bedarf eines gewissen Intellekts, Ironie zu verstehen!)


Wir haben aber auch Landkreise wie Freising mit
1,8 Prozent, Erding mit 1,9 Prozent, Pfaffenhofen an der
Ilm mit 1,9 Prozent, Neuburg-Schrobenhausen mit
1,8 Prozent und meinen eigenen Landkreis Würzburg
mit 2,6 Prozent. Das heißt, wir haben eine Supersitua-
tion, um hier geschwind neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Nach der Strukturreform im Hartz-IV-Bereich gehen wir
nun daran, geschwind die arbeitsmarktpolitischen Instru-
mente voranzubringen. Wirtschaft schafft Arbeitsplätze
– das hatte ich gerade ausgeführt –, und wir setzen die
Rahmenbedingungen dafür.

Warum zieht sich die SPD aus der Agenda 2010, die
sie in besseren Zeiten auf den Weg gebracht hat, zurück?
Kollege Müntefering hat die Rente mit 67 eingeführt.


(Katja Mast [SPD]: Wir wollen fördern und fordern! Sie wollen nur fordern!)


Es gibt auch gute Sozialdemokraten, die wissen, wie es
geht.


(Zuruf von der FDP: Aber es werden immer weniger!)


Die Wirtschaft hat seit 2009 Vertrauen gefasst. Das ist
der wichtigste Beitrag unserer Koalition.


(Anette Kramme [SPD]: Die Wirtschaft vertraut ganz intensiv auf Sie, habe ich letztens gelesen!)


Damit aber nicht genug. Wir verbessern mit der Reform
der arbeitsmarktpolitischen Instrumente die Möglichkei-
ten der Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Das ist
ein gutes Gesetz. Dem können Sie eigentlich auch zu-
stimmen.

Gestern kam der Antrag der SPD. Er wird den He-
rausforderungen am Arbeitsmarkt in keinster Weise ge-
recht. Er ist ein typisches SPD-Papier, aus meiner Sicht
konfus und wenig ausgewogen. Die SPD will bei sinken-
der Arbeitslosigkeit mehr Geld pro Kopf ausgeben. Die
Berechnungen – ich habe sie in meinem Skript – kann
ich Ihnen vorhalten: Wir haben 2006 im Schnitt
1 600 Euro pro Kopf ausgegeben und 2010 im Schnitt
2 400 Euro pro Kopf. Liebe Frau Kollegin Pothmer, wir
sollten jetzt nicht die Zahlen für 2012 antizipieren.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch Herr Vogel und Herr Weiß, die das immer vorrechnen!)


Lassen Sie uns die Istzahlen berücksichtigen, dann funk-
tioniert das.

Frau Kollegin Kipping, Sie haben moniert, dass wir
den Werkzeugkasten aufgeräumt haben.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Leergeräumt!)


– Sortiert, aufgeräumt, Frau Kollegin. Die wichtigsten
Werkzeuge sind noch drin. Da brauchen Sie keine Angst
zu haben. – Gleichzeitig haben Sie gesagt, Sie hätten
beim Tapezieren Ihren Schraubenzieher vermisst. Ich





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

würde mir wirklich gerne vorstellen, wie die Frau Kol-
legin Kipping beim Tapezieren mit dem Schraubenzie-
her hantiert. Wir haben jetzt aber ein sogenanntes
Leatherman-Messer im Werkzeugkasten, ein Messer
mit mehreren Werkzeugen, das es dem Jobcenter-Mitar-
beiter vor Ort ermöglicht, selbst zu entscheiden, mit
welchem – bildlich gesprochen – Werkzeug er welche
Maßnahme auf den Weg bringt. Damit ist dem Arbeitslo-
sen, auch dem Langzeitarbeitslosen mehr geholfen als
mit populistischen Anträgen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712019300

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1712019400

Herr Präsident, ich habe noch nicht einmal eine Mi-

nute überzogen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, glauben Sie uns: Nach der
Sommerpause werden wir mit Ihnen –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712019500

Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kom-

men.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1712019600

– in einer dreistündigen Anhörung über die Anträge

diskutieren, und dann begleiten Sie uns.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident, danke für Ihren

Langmut.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712019700

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6454 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes
und eines … Gesetzes zur Änderung des Abge-
ordnetengesetzes
– Drucksache 17/6291 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 17/6496 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Gabriele Fograscher
Dr. Stefan Ruppert
Raju Sharma
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Bernhard Kaster für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Nicht so lange! Das ist alles schon gesagt worden!)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1712019800

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen!

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbil-
dung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei.

So lautet Art. 21 unseres Grundgesetzes. Die demokra-
tischen Parteien unseres Landes sind Kernbestandteil un-
serer parlamentarischen Demokratie. Durch ihre zumeist
breite Verankerung auf kommunaler Ebene, auf Landes-
ebene und im Bund schaffen sie letztlich die entschei-
dende Stabilität für Demokratie und Freiheit. Dabei wird
häufig übersehen, dass die politische Nachwuchsgewin-
nung ganz überwiegend über die örtliche Basis, also von
unten nach oben, erfolgt.

Der Wert unserer Parteien in der Demokratie wird uns
als Bundestagsabgeordnete im Alltagsgeschäft oft erst
dann richtig bewusst, wenn wir nichtdemokratische Län-
der besuchen – das ist leider die große Mehrheit – und
wir dann hören, wie sehr man uns um unsere parlamen-
tarische Demokratie und die partei- und gesellschaftspo-
litische Vielfalt beneidet, für die in vielen Ländern mit
Leib und Leben gekämpft wird.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Na ja!)


Es ist richtig, dass wir uns schon vor vielen Jahren für
eine staatliche Teilfinanzierung entschieden haben.
Diese haben wir seit nunmehr bereits neun Jahren in un-
veränderter Höhe belassen,


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das lag nur an Ihnen!)


obwohl sich die Aufgaben und Anforderungen verändert
und vergrößert haben. Es gäbe jetzt viel dazu zu sagen,
auf welchen Aufgabengebieten wir noch besser werden
müssen. Aber das ist die Situation.

Mit der jetzigen Erhöhung der allgemeinen Ober-
grenze der Finanzierung gehen wir einen maßvollen
Schritt. Das gesetzlich mögliche Volumen schöpfen wir
nicht aus und bleiben somit in einem gut vertretbaren
Rahmen. Wir sprechen insgesamt über eine Größenord-
nung – für alle Parteien auf allen Ebenen im ganzen
Land – von 141,9 Millionen Euro bzw. 150,8 Millionen
Euro. Wenn man das auf den Bundeshaushalt bezieht,
sieht man, dass wir uns hier im Promillebereich bewe-
gen.

Ich komme zur Änderung des Abgeordnetengesetzes.
Die Erhöhung der Diäten ist immer ein sensibles Thema;
dessen sind wir uns alle bewusst. Es ist allerdings ein
Thema, das bei weitem nicht so häufig vorkommt, wie es
die Diskussion in den vergangenen Jahren oft hat er-





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)

scheinen lassen. Der letzte Beschluss des Deutschen
Bundestages zur Erhöhung der Diäten erfolgte Ende
2007 zum 1. Januar 2009. Wir wollen nunmehr eine Er-
höhung in zwei Schritten, und zwar zum 1. Januar 2012
sowie zum 1. Januar 2013, beschließen. Damit fand und
findet über einen Zeitraum von drei Jahren faktisch
keine Diätenerhöhung statt.

Um bei dem schwierigen Thema der angemessenen
Abgeordnetenbezahlung einen vertretbaren Maßstab zu
finden, haben wir uns richtigerweise schon Anfang der
90er-Jahre dazu entschieden, die Besoldung von Bürger-
meistern kleinerer und mittlerer Städte als Maßstab zu
wählen. Diesen Maßstab haben wir übrigens in der Ver-
gangenheit nie erreicht. Wir werden ihn auch künftig
nicht erreichen. So schwierig die Diskussion auch ist:
Wir haben eine große Verantwortung gegenüber dem
Parlament und seinen Abgeordneten in ihrer Gesamtheit.

Der Deutsche Bundestag und seine Abgeordneten
brauchen den Vergleich zu anderen Führungsaufgaben
und Verantwortlichkeiten nicht zu scheuen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt in Bezug auf die Verantwortung für die gesamte
Gesetzgebung des Bundes, die Verantwortung der kri-
tisch hinterfragenden Regierungskontrolle, die Verant-
wortung für Alternativen, die Verantwortung für die De-
tailarbeit und Kärrnerarbeit in den Ausschüssen und die
Aufgaben im wöchentlichen Spagat zwischen Berlin und
den Wahlkreisen, also die Kommunikation mit den Bür-
gern bei zahlreichen Terminen und Veranstaltungen.

Ein Aspekt kommt meines Erachtens immer etwas zu
kurz: 40 Prozent aller Bundestagsabgeordneten verlas-
sen das Parlament bereits nach zwei Legislaturperioden.
Der Gesamtdurchschnitt liegt bei einer Verweildauer von
etwa zehn Jahren. Das heißt, dass die meisten Kollegin-
nen und Kollegen für einen überschaubaren Zeitraum
ihre eigene Lebens- und Arbeitsbiografie unterbrechen,
um als Parlamentarier an der Entwicklung ihres Landes
und ihrer Heimat mitzuwirken. Auch deshalb haben wir
die Verpflichtung, einer letztlich immer befristeten Ver-
antwortung eine adäquate Vergütung gegenüberzustel-
len.

Wer sich für die Politik entscheidet, der tut das nicht
des Geldes wegen.

Das sieht man im Übrigen auch daran, dass bei den al-
lermeisten Kolleginnen und Kollegen dem Einzug in den
Deutschen Bundestag ein jahrelanges ehrenamtliches
Engagement auf den unterschiedlichen Ebenen voraus-
ging.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Auch bei Schreiner?)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit der maßvol-
len Anpassung der Abgeordnetenvergütung werden wir
einerseits der Vorgabe unseres Grundgesetzes bezüglich
einer angemessenen und die Unabhängigkeit sichernden
Entschädigung und andererseits den Erwartungen der
Bürger und der Öffentlichkeit in Bezug auf Vernunft und
Augenmaß durchaus gerecht.
Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1712019900

Das Wort hat nun der Kollege Dieter Wiefelspütz für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Rede ID: ID1712020000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich habe acht Minuten Redezeit. Das ist an die-
ser Stelle viel zu viel. Über die Fragen, die uns heute be-
schäftigen, haben wir schon vor einer Woche ausrei-
chend, angemessen und präzise gesprochen. Wir haben
es heute mit einer Vorlage zu tun, die vor einer Woche
ausgereift und gut war. Sie ist es auch heute noch, und
sie verdient eine breite Zustimmung in diesem Hohen
Hause.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sogar von Porsche-Klaus würde ich mir wünschen, dass
er zustimmt, schon wegen der gestiegenen Benzinpreise.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die Zustimmung werden Sie nicht bekommen! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wen meinen Sie eigentlich?)


Aber ganz ernsthaft: Die Vorlage ist ausgewogen. Im
Bereich des Parteiengesetzes – Kollege Kaster hat schon
darauf hingewiesen – haben wir in Deutschland das Sys-
tem einer staatlichen Teilfinanzierung, die sich für die
Parteien auf das Notwendigste beschränken muss. Die
Parteien sind in unserem Lande nicht alleine auf der
Welt. Sie sind Teil unseres Verfassungsstaates und ver-
dienen eine angemessene Förderung.

Ich glaube, dass wir heute einen Fehler korrigieren.
Neun Jahre lang haben wir die staatliche Parteienfinanzie-
rung nicht verändert. Dadurch haben wir im Deutschen
Bundestag dazu beigetragen, dass sich die strukturellen
Arbeitsbedingungen für die Parteien eher verschlechtert
haben. Das korrigieren wir heute mit Augenmaß.

Ich will darauf hinweisen, dass wir durch die Indexie-
rung – durch einen Kostenindex, bei dem in Zukunft
Kostensteigerungen, wie etwa Tarifabschlüsse im Perso-
nalbereich, berücksichtigt werden – diese Defizite nicht
wieder auflaufen lassen werden. Dieser Index ist eine
ganz wichtige Errungenschaft, die wir vonseiten der
SPD-Fraktion sehr begrüßen. Er ist ein Beitrag zu ver-
nünftigeren Regelungen im Bereich der staatlichen Teil-
finanzierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich danke sehr dafür, dass das gelungen ist. Wir werden
dem heute mit breiter Mehrheit zustimmen.

Lassen Sie mich noch kurz etwas zu dem Thema Ab-
geordnetenentschädigung sagen. Ich möchte noch ein-
mal wiederholen: Als Abgeordnete verfügen wir über
ein ordentliches Gehalt. Die meisten der Bürger, die uns





Dr. Dieter Wiefelspütz


(A) (C)



(D)(B)

wählen, haben deutlich geringere Arbeitseinkünfte; das
ist richtig. Andererseits: Reich werden wir in unserem
Amte nicht. Das muss auch nicht sein. Wer hier nicht
wirklich mit Leidenschaft bei der Sache ist, der hat die-
sen Platz ohnehin nicht verdient. Die Arbeit funktioniert
nur, wenn man wirklich mit Leidenschaft dabei ist.

Wir haben ein ordentliches Gehalt; mehr muss auch
nicht sein. Es ist aber vernünftig und sachgerecht, dass
dieses Gehalt um 1 bis 2 Prozent pro Jahr angehoben
wird. Genau das machen wir mithilfe der gesetzlichen
Regelung in dieser Wahlperiode. Bezogen auf vier Jahre
bedeutet das eine Anhebung unseres Bruttogehalts um
knapp 2 Prozent. Das ist ausgewogen und angemessen.
Herr Kollege Schreiner, das ist für alle über 600 Mitglie-
der dieses Hauses angemessen; es ist vernünftig und
überlegt.

Deswegen ist die öffentliche Reaktion auch entspre-
chend angemessen. Es gibt kein Potenzial für eine Skan-
dalisierung und keine künstlichen Aufgeregtheiten. Des-
wegen, glaube ich, ist nicht zuletzt die öffentliche
Reaktion der Beweis dafür, dass wir eine vernünftige,
solide Gesamtregelung geschaffen haben.

Ich hoffe sehr, dass uns eines Tages auch bei der Ab-
geordnetenentschädigung eine Indexierung gelingt. Vor
einer Woche habe ich in meiner ersten Rede darauf hin-
gewiesen: Die beste Regelung auf diesem Sektor hat
Bayern. Daraus kann man einiges lernen, Herr Uhl. Bay-
ern hat in seinem Landtag die beste Regelung getroffen;
denn im Index und bei der jährlichen Anpassung wird
die Einkommensentwicklung der bayerischen Bevölke-
rung sehr präzise abgebildet.

Wir wollen als Abgeordnete nicht mehr und nicht we-
niger. Wir wollen an der Einkommensentwicklung unse-
res Volkes teilhaben. Wenn die Situation eintreten sollte,
dass die Einkommensentwicklung des Volkes rückläufig
ist, dann sind wir selbstverständlich mit dabei;


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


ich wäre sehr damit einverstanden. Das ist doch auch
eine Frage von Gerechtigkeit. So etwas kann ein Index
sehr wohl leisten. Insoweit verspreche ich mir durchaus
noch den einen oder anderen Hinweis von dieser Kom-
mission. Aber das, was wir heute hier beschließen, kön-
nen wir guten Gewissens beschließen. Es ist ausgewo-
gen, vernünftig und sehr in Ordnung.

Schönen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712020100

Vielen Dank, Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz. – Jetzt

für die Fraktion der FDP Kollege Dr. Stefan Ruppert.
Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1712020200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Als Abgeordneter, der diesem Hohen Haus erst seit
dieser Legislaturperiode angehört, muss man sich gut
überlegen, was man einer breiten Öffentlichkeit zum
Thema Diätenerhöhung sagt. Ich weiß nicht, wie der öf-
fentliche Eindruck unserer heutigen Debatte sein wird,
wenn sich vier Fraktionen im Deutschen Bundestag ei-
nig sind.

Ich stelle aber fest, dass die Menschen, mit denen ich
diskutiere, sehr häufig sagen: Wir wünschen uns eigent-
lich den Typus des unabhängigen Politikers, des Politi-
kers, der zuvor in einem anderen beruflichen Arbeitsfeld
Erfahrungen gesammelt hat, der jederzeit bereit und in
der Lage ist, in sein angestammtes klassisches Arbeits-
feld zurückzukehren. – Diesen Politikertypus, den man
sich in Sonntagsreden so oft wünscht und der sich aus
meiner Sicht unabhängig verhalten sollte, muss man aus
meiner Sicht auch adäquat bezahlen – nicht zu gut, aber
auch nicht zu schlecht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Als jemand, der der FDP angehört und – ich sage das
einmal etwas freundlich – auch Umfragen kennt, mache
ich mir schon den einen oder anderen Gedanken, wie ein
Leben nach der Politik aussehen kann.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sie sollten sich viel häufiger Gedanken machen, Herr Ruppert! – Weiterer Zuruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie fragen sich vielleicht, Herr Montag: Ist unser System
eigentlich durchlässig? Ist unser System so durchlässig,
dass wir den gewünschten Wechsel von der Privatwirt-
schaft – bei mir von der Wissenschaft – in die Politik
und zurück regelmäßig schaffen?


(Christine Lambrecht [SPD]: Sie schaffen das auch wieder zurück!)


Da habe ich schon meine Zweifel, ob unsere Anforde-
rungen an das typische Abgeordnetenprofil mit den Rah-
menbedingungen einhergehen, die wir im Parlament
mitunter schaffen.

Ich glaube, es ist richtig, wenn wir die uns nun einmal
auferlegte Aufgabe, nämlich für eine adäquate Bezah-
lung der Abgeordneten zu sorgen, selbstbewusst und von
vorne – wie ich es sagen würde – verteidigen.

Herr Wiefelspütz hat richtig gesagt, die Erhöhung ist
angemessen. Sie sichert Unabhängigkeit. Sie sichert aber
auch, dass wir nicht auf die Idee kommen, uns vielleicht
noch in zu vielen anderen Tätigkeiten zu ergehen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ach?)


Ich will einen weiteren Aspekt bei der Parteienfinan-
zierung hervorheben. Wenn wir uns Länder in Europa
oder in der Welt daraufhin anschauen, wie sie ihre politi-
schen Eliten oder ihre politischen Abgeordneten rekru-
tieren, dann wird aus meiner Sicht deutlich, dass die oft
geschmähten Parteien in Deutschland sehr wohl eine
gute Aufgabe bei der Rekrutierung politischen Personals
leisten.





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ob das auch für die FDP gilt, weiß ich nicht!)


Oft wird gesagt: Parteien, das sind verfilzte Organisatio-
nen mit mangelnder innerparteilicher Demokratie. Da
werden Hinterzimmerentscheidungen getroffen, die
nicht transparent gemacht werden können. – Die reprä-
sentative Demokratie gerät unter einen gewissen Ver-
dacht.

Wenn Sie aber sehen, wer in Italien, in den USA oder
in anderen Ländern dieser Welt wirklich Mandate er-
ringt, welche persönlichen Voraussetzungen er erfüllen
muss, wie viel Geld er sammeln muss


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Bitte keinen Antiamerikanismus!)


und wie viel Spenden er einwerben muss, dann ist fest-
zustellen: Unsere Parteien leisten, wie ich finde, einen
sehr guten Dienst bei der Rekrutierung des politischen
Personals. Auch das will ich an dieser Stelle einmal
selbstbewusst sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wer diese Parteien nicht in Abhängigkeit von einseiti-
gen Finanzierungsquellen bringen will, der muss eben
dafür sorgen, dass die drei Säulen der Parteienfinanzie-
rung auch weiterhin tragen. Da sind zunächst die Mit-
gliedsbeiträge und Mandatsträgerbeiträge, die viele von
uns bezahlen. Da sind durchaus auch Spenden von natür-
lichen Personen sowie der Wirtschaft


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Mövenpick oder so!)


und von Organisationen, und da ist die staatliche Partei-
enfinanzierung.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Hotels!)


– Sie hatten bei der Debatte eigentlich niveauvoller an-
gefangen, Herr Wiefelspütz. Wenn Sie jetzt wieder auf
dieses Niveau abgleiten, dann ist das eigentlich bedauer-
lich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Das ist die Wahrheit! Das ist doch nur ein wahrhaftes Beispiel!)


Die dritte Säule der Parteienfinanzierung ist Gegen-
stand der heutigen Beratung. Wir haben die Obergrenze
der staatlichen Parteienfinanzierung seit vielen Jahren
nicht angehoben. Wer eine solche Anhebung nicht will,
der muss irgendwann sagen, welche alternative Parteien-
finanzierung oder welche alternative demokratische Or-
ganisationsform er sich für dieses Land vorstellt. Ich
glaube, die staatliche Finanzierung steht in einem ausge-
wogenen, sachgerechten Verhältnis.

Insofern sind beide Aspekte des heutigen Beratungs-
gegenstandes richtig: auf der einen Seite eine moderate,
die Unabhängigkeit des Abgeordneten sichernde Ent-
schädigung, auf der anderen Seite eine ausgewogene
Parteienfinanzierung. Ich bin froh, dass auch die Opposi-
tionsfraktionen der Grünen und der SPD nicht dem Re-
flex erlegen sind, sich aus kurzfristigen Erwägungen der
angemessenen Erhöhung zu verschließen. Ich bin froh,
dass wir eine verantwortungsvolle Opposition haben, die
uns in dieser Frage folgt. Dafür herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf die Opposition können Sie stolz sein!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712020300

Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die

Fraktion Die Linke unser Kollege Raju Sharma. Bitte
schön, Herr Kollege.


(Beifall bei der LINKEN)



Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712020400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin-

nen und Kollegen! In dem von Ihnen allen vorgelegten
Gesetzentwurf haben Sie zwei Themen zusammenge-
fasst – das ist schon gesagt worden –: die Änderung des
Parteiengesetzes und die Diätenerhöhung. Wir Linken
finden das bedauerlich, weil wir dem einen Teil des Ent-
wurfes durchaus hätten zustimmen können. Dabei rede
ich nicht, wie Sie sich denken können, von der Diätener-
höhung, sondern ich spreche von der Änderung des Par-
teiengesetzes.

Die Parteien übernehmen nach unserer Verfassung
eine wichtige Aufgabe: Sie „wirken bei der politischen
Willensbildung des Volkes mit.“ Dafür brauchen wir
eine solide Form der Parteienfinanzierung. Wir haben
drei Säulen der Parteienfinanzierung – der Kollege
Ruppert hat es eben dargestellt –, die alle ordentlich auf-
gebaut sein müssen: erstens die Mitgliedsbeiträge, zwei-
tens die Spenden und Mandatsträgerbeiträge – ich fasse
sie in einer Säule zusammen –, drittens die staatliche
Teilfinanzierung.

Wenn Sie in den Rechenschaftsbericht unserer Partei
schauen, dann werden Sie feststellen, dass wir ungefähr
40 Prozent unserer Gesamtfinanzierung mit Mitglieds-
beiträgen abdecken. Nun sind wir keine Partei, die über
große Finanziers oder sehr viele reiche Mitglieder ver-
fügt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Na ja! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist schon richtig, was er sagt! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


– Wir verlangen von unseren Mitgliedern ganz einfach
ordentliche Mitgliedsbeiträge. Es ist kein Zufall, dass
wir als Linke bei unserer Klientel und unseren Mitglie-
dern – –


(Gisela Piltz [FDP]: Klientelpartei! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Seit 60 Jahren!)


– Herr Krings, kommen Sie jetzt nicht wieder mit den
SED-Milliarden, die niemand kennt, von denen niemand
weiß und die auch nie jemand finden wird! –





Raju Sharma


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gut, dass Sie es angesprochen haben!)


Der Punkt ist: Wir erheben von unseren Mitgliedern or-
dentliche Mitgliedsbeiträge, im Monat durchschnittlich
10 Euro und mehr. Damit haben wir von allen im Bun-
destag vertretenen Parteien die höchsten Durchschnitts-
beiträge.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Wenn die CSU die gleichen Beiträge erheben würde wie
wir, dann wäre sie nicht auf die Spenden von Großunter-
nehmen, von Versicherungen und so etwas, angewiesen;
all das wäre gar nicht nötig.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU])


– Hören Sie einfach einmal zu, Herr Krings!

40 Prozent unserer Parteienfinanzierung basieren also
auf Mitgliedsbeiträgen. Ungefähr 20 Prozent der Finan-
zierung basieren auf Spenden und Mandatsträgerbeiträ-
gen; natürlich zahlen wir Bundestagsabgeordnete or-
dentliche Mandatsträgerbeiträge.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer spendet an die Linke?)


– Wer spendet an die Linke? Das sind nicht die großen
Unternehmen, sondern Menschen, die unsere Politik gut
finden,


(Christine Lambrecht [SPD]: Volkssolidarität!)


die etwas Gutes tun wollen, die ihren mühsam ersparten
Arbeitergroschen einsetzen, um uns und unsere gute Sa-
che zu unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das passiert tatsächlich. So kommt es, dass ich als Bun-
desschatzmeister auch in diesem Jahr mehrere Tausend
Zuwendungsbescheide unterschreiben konnte, und zwar
oft über Zuwendungen in der Größenordnung von 3, 5
oder 10 Euro.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut, das macht sich gut in der Steuererklärung!)


Andere Parteien machen das anders; sie müssen nur
wenige Zuwendungsbescheinigungen unterschreiben.
Da gibt es irgendwie auf einmal sechsstellige Beträge


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Och! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Schön wär’s!)


von Panzerherstellern.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine Unterstellung!)


– Ja, natürlich. Wenn wir nicht dieses aktuelle Beispiel
hätten, hätte ich natürlich wieder das Beispiel Möven-
pick gebracht. Dann hätte Herr Ruppert aus nachvoll-
ziehbaren Gründen gesagt: Das ist langweilig, weil wir
es oft genug gehört haben. – Ich finde, man kann es nicht
oft genug hören. Es ist nach wie vor eine Schweinerei
– Entschuldigung, das war jetzt unparlamentarisch –; es
ist nach wie vor nicht in Ordnung, dass eine Partei zu-
nächst einmal Großspenden einnimmt und dann eine
Politik macht, die zu dem Spender passt. So geht das
einfach nicht; das macht den Glauben der Menschen an
den Parlamentarismus kaputt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die dritte Säule ist die staatliche Teilfinanzierung. Sie
ist wichtig; wir brauchen sie. Deswegen ist auch die Er-
höhung der Teilfinanzierung wichtig.

Ich will kurz etwas zur Diätenerhöhung sagen. Sie
alle haben gesagt, sie sei notwendig. Wir von der Linken
haben eine grundsätzlich andere Auffassung. Wir sagen,
dass Erhöhungen um 3,7 bis 3,8 Prozent angesichts der
geringen Erhöhungen der Löhne, der Renten und des
BAföGs in der Bevölkerung einfach nicht vermittelbar
sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen lehnen wir das ab.

Wir finden es gut, dass eine Kommission eingerichtet
wird, die das Ganze überprüft. Das ist notwendig, und
man sollte das machen. Man muss aber erst die Kommis-
sion einsetzen und die Ergebnisse abwarten. Dann kann
man daraus die richtigen Schlüsse ziehen. So wird ein
Schuh daraus.


(Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Das, was Sie hier veranstalten, ist aus Sicht der Bevölke-
rung nichts anderes als Selbstbedienung. Das wollen wir
als Linke nicht mittragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Flächendeckender Populismus!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712020500

Kollege Ströbele, die Redezeit des Kollegen war

schon abgelaufen. Daher hat er nicht mehr reagiert. –
Nächster Redner auf unserer Liste ist für Bündnis 90/Die
Grünen Volker Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712020600

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Es ist gut, dass wir uns zumindest beim Partei-
engesetz einig sind, obwohl in dem Entwurf ebenfalls
eine prozentuale Steigerung vorgesehen ist.

Die vorgesehene Steigerung halte ich für angemessen.
Außerdem sorgen wir durch die Indexierung für Rechts-
frieden bei diesem Thema; denn letztendlich wird jeder
Cent, der zusätzlich in die Parteien fließt, von der Öf-
fentlichkeit kritisiert, nach dem Motto: Jetzt kriegen die
schon wieder mehr Geld. Gleichzeitig erwarten die Bür-
gerinnen und Bürger von unseren Parteien aber, dass sie
ihnen ihre Konzepte erklären und sagen, mit welchen





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Ideen sie konkurrieren. Die Bürgerinnen und Bürger be-
schweren sich oftmals, dass die Politik sich nicht genü-
gend erklärt. Die Fraktionen dürfen das nicht machen.
Sie dürfen nur ihre parlamentarische Arbeit nach außen
vertreten. Die Zukunftskonzepte zu kommunizieren ist
Aufgabe der Parteien, und zwar über den Wahlkampf hi-
naus.

In einer solchen Debatte muss man auch Folgendes
sagen: Wir Bundestagsabgeordneten, die wir im Lichte
der Öffentlichkeit stehen – das gilt für jeden von uns in
unterschiedlichem Maße –, sind zumindest im Wahlkreis
oftmals viel bekannter als die vielen Aktivistinnen und
Aktivisten in den Parteien, die Plakate kleben, Info-
stände organisieren und die Büros am Laufen halten.
Doch auch ihnen gebührt Dank für diese Arbeit; denn sie
leisten einen Dienst für die Demokratie in unserem
Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Michaela Noll [CDU/CSU]: Da hat er recht! Normalerweise klatsche ich nicht für Sie!)


Herr Kollege Sharma, Sie haben gesagt, die vorgese-
hene Steigerung der Diäten sei unangemessen. Man
muss berücksichtigen, wie lange es keine Anpassung
gab, und sehen, wie hoch die Steigerung ist. Wenn man
das über die Jahre hochrechnet, stellt man wahrschein-
lich fest, dass nicht einmal die Inflationsrate ausgegli-
chen wird. Das ist aber gar nicht der Punkt. Uns Abge-
ordneten geht es gut. Wir werden anständig bezahlt.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ja! – HansChristian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir müssen leider auch Steuern zahlen!)


Darüber gibt es keinen Streit.

Wir brauchen dieses Geld nicht, weil wir notleidend
wären und uns deswegen irgendetwas nicht kaufen könn-
ten, was wir dringend brauchen. Das ist aber nicht der
Punkt. Die Frage ist: Was ist der angemessene Maßstab
für die Bezahlung der Abgeordneten? Wir haben einen
angemessenen Maßstab. Das Bundesverfassungsgericht
hat uns nun aufgegeben, „die reguläre Entschädigung von
Zeit zu Zeit den steigenden Lebenshaltungskosten anzu-
passen; auch dadurch, dass die Entschädigung im Ge-
folge der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die
Grenze der Angemessenheit unterschreitet, wird die Frei-
heit des Mandats gefährdet“. Wenn man einen Maßstab
festgelegt hat, der die Angemessenheit bestimmt,


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Muss er auch gelten!)


muss man diesen Leitsätzen des Bundesverfassungsge-
richts folgen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


§ 11 des Abgeordnetengesetzes – Abgeordnetenent-
schädigung – besagt:
Ein Mitglied des Bundestages erhält eine monatli-
che Abgeordnetenentschädigung, die sich an den
Monatsbezügen
– eines Richters bei einem obersten Gerichtshof des

Bundes (Besoldungsgruppe R 6),

(Besol dungsgruppe B 6)

orientiert.

Das ist der Maßstab, auf den wir uns im Abgeordne-
tengesetz verständigt haben. Das ist natürlich nicht Got-
tes Wort.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der mischt sich da nicht ein!)


Das ist eine politische Entscheidung gewesen. Es ging
um die Frage, was wir für angemessen halten.

Wenn Sie einen anderen Vorschlag zur Angemessen-
heit haben, dann akzeptiere ich das und setze mich damit
auseinander. Es geht aber nicht, dass Sie in Ihrem An-
trag, über den wir in der vergangenen Woche im Zusam-
menhang mit diesem Gesetzentwurf debattiert haben, la-
pidar schreiben:

Der Orientierungsmaßstab der monatlichen Abge-
ordnetenentschädigung ist kritisch zu überprüfen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau!)


Wenn Sie den Maßstab kritisch überprüfen wollen, hätte
ich gerne einmal die Kriterien gewusst, die Sie anwen-
den wollen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das werden wir im Ausschuss gemeinsam besprechen, Herr Kollege Beck!)


Wir sind die Einzigen, die nicht mehr wollen! Wir neh-
men es mit! Wir lehnen es ab, solange die Zustimmung
gesichert ist! – Ist das Ihr Motto?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der schlanke Fuß der Linken!)


Das ist meines Erachtens eine zu billige Nummer.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir werden im Ausschuss einen Vorschlag machen!)


Diese Nummer ziehen Sie auf Kosten des ganzen Hauses
durch, auf Kosten des Ansehens der parlamentarischen
Demokratie. Ich bin durchaus dafür, dass wir die Diskus-
sion noch einmal eröffnen. Dann sollten Sie aber bitte
konkrete Vorschläge für den Maßstab der Angemessen-
heit vorlegen.

Ich hänge nicht an einer Erhöhung um 292 Euro; aber
ich will, dass die Abgeordneten angemessen ausgestattet
sind, weil ich möchte, dass sie unabhängig sind und von
Nebenbeschäftigungen und anderen Einflüssen frei sein
können, wenn sie das für sich so entscheiden. Das gehört
zur Freiheit des Mandats und zu unserer Unabhängig-
keit, die das höchste Gut in der parlamentarischen De-
mokratie ist. Denn nur sie sichert, dass die Abgeordneten
allgemeinwohlorientiert arbeiten.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn Ihnen das alles zu viel ist, wüsste ich gerne ein-
mal, was für Sie angemessen ist. Sie haben auch bei den
letzten Erhöhungen nicht zugestimmt; das war alles zu
viel. Es gibt da – ich will Ihnen gerne helfen – eine Mög-
lichkeit. Ich nenne Ihnen die Bankverbindung für Spen-
den an den Bund:


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da gibt es Einrichtungen, die das viel nötiger haben! Die Tafel zum Beispiel!)


Kontoinhaber Bundeskasse Halle, Kontonummer
860 010 40, Bankleitzahl 860 000 00. Kontoführendes
Institut ist die Bundesbank Leipzig. Dorthin können Sie
das überweisen, was Sie für unangemessen und für zu
viel halten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir spenden das jeden Monat, Herr Kollege! Über 2 000 Euro! Jeden Monat!)


Wenn Sie das nicht tun, sind es leere Worte und blanker
Populismus, was Sie hier abgeliefert haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712020700

Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU

unser Kollege Dr. Hans-Peter Uhl.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1712020800

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Ich möchte mich zunächst beim Kollegen
Beck bedanken, dass er die Heuchelei der Linken bei der
Thematik, die wir hier besprechen, deutlich gemacht hat.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Wer andere Heuchler nennt, ist ein Heuchler!)


Es ist nicht anständig, wie Sie mit dem Thema umgehen.
Wir sind uns einig, dass wir bei beiden Punkten – bei der
Parteienfinanzierung und bei den Abgeordnetendiäten –
das tun müssen, was angezeigt ist. Bei der Parteienfinan-
zierung ist es richtig, die staatliche Finanzierung zu er-
höhen. Wir haben uns darauf verständigt, weil sie seit
zehn Jahren nicht mehr erhöht wurde. Aber wir wissen
auch, dass dieses Thema ein Problem beinhaltet. Bei der
Struktur der Parteienfinanzierung sind wir aus Gründen
der Gleichbehandlung verpflichtet, Parteien staatlich
mitzufinanzieren, die keiner von uns finanziert haben
will: die NPD. Keiner von uns will das, und dennoch
müssen wir es aus Gründen der Gleichbehandlung tun.
Es gibt zwar ein Gutachten, wonach das nicht zwingend
ist; ich halte dieses Gutachten aber nicht für nachvoll-
ziehbar.

Nein, ich will mich nicht mit der Kapitalausstattung
der Linkspartei, ihrem Grundvermögen und ihren Betei-
ligungen an Wirtschaftsunternehmen befassen.

(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Worüber reden Sie eigentlich, Herr Uhl? Fragen Sie doch mal unseren Schatzmeister, der kennt sich aus!)


Wenn man darauf eingehen würde, könnte man einige
Punkte herausarbeiten, die den Linken sicher nicht gefal-
len würden.

Lassen Sie mich noch einige Worte zu den Abgeord-
netenbezügen sagen. Bevor ich in den Bundestag kam,
war ich kommunaler Wahlbeamter in München und im-
merhin elf Jahre lang – es gab 13 Monatsgehälter – in
der Besoldungsgruppe B 7. Wenn man fragt, was man
als Bundestagsabgeordneter verdient, stellt sich heraus:
Eigentlich müsste man B 6 bekommen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie können ja wieder kommunaler Beamter werden!)


Schaut man in die Gehaltstabelle, stellt man fest, dass
die Abgeordneten bis zuletzt nicht immer den Mut hat-
ten, sich die angemessene Besoldungsgruppe B 6 per
Gesetz zu verschaffen. Es ist ein scheinbares Privileg,
dass wir unser Gehalt selbst festlegen können. In Wahr-
heit ist es eine Last. Denn es gibt keinen Tag im Jahr, an
dem es in die politische Landschaft passt, zu sagen: Jetzt
wollen wir – wie die Beamten, die dort eingestuft sind –
die Besoldungsgruppe B 6 bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen muss man einfach die Zivilcourage und den
Mut aufbringen, zu sagen: Jetzt ist der Abstand so groß,
dass wir unsere Besoldung wieder anpassen wollen.

Das versuchen wir jetzt. Wenn wir diese Anpassung
vornehmen, werden wir im Monat 400 Euro weniger
verdienen als ein Beamter, der in der Besoldungsgruppe
B 6 ist, oder als ein Bundesrichter. Was ist ein Beamter
in der Besoldungsgruppe B 6? Er ist Bürgermeister einer
mittelgroßen Stadt mit 40 000 Einwohnern.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wenn Ihnen das lieber ist, machen Sie den Bürgermeister! Sie müssen hier nicht sitzen!)


Der verdient so viel, wie wir uns, wenn man so will, ge-
nehmigen wollen. Das ist angemessen und gerecht.

Ich freue mich immer, wenn Besuchergruppen aus
meinem Wahlkreis hier sind. Dann debattiere ich mit ih-
nen sehr gerne über dieses Thema. Sie wollen dann im-
mer wissen, wie viel ein Abgeordneter arbeitet. Manch-
mal wollen sie auch wissen, was ein Abgeordneter
verdient.

Dann setze ich Arbeitszeit und Arbeitsentgelt in Be-
zug zueinander, und es wird ganz schnell ruhig im
Raum, weil jeder vernünftige Mensch sagt, dass das Ver-
hältnis möglicherweise nicht ganz angemessen ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut, dass wir
die Erhöhung heute so beschließen. Wenn uns das Bun-
desverfassungsgericht schon dazu zwingt, jede Erhö-
hung – und sei es nur um 1 Euro – per Gesetz transparent
zu beschließen





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


– ja, das ist auch richtig –, sollten wir, egal ob es in die
Landschaft passt oder nicht, den Mut aufbringen, hier ei-
nen Rhythmus hineinzubringen und zweimal in der Le-
gislaturperiode zu prüfen, wie weit sich unsere Diäten
von B 6 und R 6 entfernt haben, und sie, wenn es ange-
zeigt ist, erhöhen. Wir sollten uns parteiübergreifend ei-
nigen, daraus kein Thema zu machen, bei dem wir aufei-
nander losgehen. Das wäre eine vernünftige
Umgangsweise. Vielleicht findet sich der Mut, in den
kommenden Legislaturperioden so mit dem Thema um-
zugehen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712020900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Zu einer Kurzinterven-

tion gebe ich das Wort unserer Kollegin Dr. Dagmar
Enkelmann.


Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712021000

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe jetzt bei eini-

gen der Zuhörer Taschentücher gesehen. Vielleicht ha-
ben sie Mitleid mit uns Abgeordneten. Keine Sorge, Mit-
leid ist nicht nötig. Die Abgeordneten bekommen schon
jetzt ausreichend, um davon leben zu können. Sie müs-
sen für uns Abgeordnete nicht unbedingt sammeln.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Uns ist gerade Heuchelei unterstellt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist richtig: Wenn Sie das jetzt hier beschließen, dann
wird das Geld auch auf die Konten unserer Abgeordne-
ten gehen. Aber ich kann Ihnen eines versichern: Wir ge-
hen damit sehr transparent um. Unsere Abgeordneten
spenden mehr als 2 000 Euro im Monat; das ist auf unse-
ren Homepages nachzulesen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wohin denn? – Patrick Döring [FDP]: An wen?)


– Wir spenden an Projekte, zum Beispiel Tafeln, an Or-
ganisationen und Verbände, die dringend Geld brauchen.

Außerdem hat unsere Fraktion einen Fonds, mit des-
sen Hilfe sie an Projekte spendet, die aus staatlichen
Mitteln keine Unterstützung bekommen. Wir haben in
den letzten Jahren sehr viele Projekte unterstützt und da-
für gesorgt, dass sie weiter existieren können, nachdem
Sie an solchen Stellen gekürzt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Ihre Fraktion hat einen Fonds?)


Ich kann Ihnen eines versichern: Auch diese Diätenerhö-
hung wird wieder einem guten Zweck zugeführt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712021100

Zur Entgegnung hat das Wort Kollege Volker Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712021200

Ich will jetzt nicht in den Wettbewerb treten, wer hier

wie viel spendet.


(Zuruf von der LINKEN: Schade!)


Auch unsere Kollegen spenden viel, und ich vermute,
dass das auch für andere Fraktionen gilt. Dafür bekom-
men Sie in der Regel Spendenquittungen, sodass Sie das
steuermindernd absetzen können. Das haben Sie jetzt
wohlweislich verschwiegen.

Wenn Sie der Ansicht sind, dass Ihnen das Geld nicht
zusteht, dann dürfen Sie es nicht spenden, sondern müs-
sen es dem Bund zurückgeben; denn von dem haben Sie
das Geld bekommen. Alles andere ist nicht konsequent;
das wissen Sie. Sie sind dabei erwischt worden,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie bitte?)


dass Sie sagen, es sei zu viel, aber nicht sagen können,
was gerade noch genug wäre. Das ist unehrlich.

Deshalb finde ich es gut, dass wir hier beschließen,
eine Kommission einzurichten, die sich über die Frage
der Angemessenheit unterhält


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja! Altersversorgung! Haben wir nicht!)


und vielleicht auch den Gedanken aufnimmt, über den
wir 1996 diskutiert haben. Dafür hatten wir damals eine
Zweidrittelmehrheit im Bundestag, aber das Vorhaben
wurde im Bundesrat vom niedersächsischen Minister-
präsidenten gestoppt. Es ging darum, das, was wir für
angemessen halten, ins Grundgesetz zu schreiben, um
ein für alle Mal die Diskussion, ob es mehr oder weniger
geben sollte, zu beenden. Dann müssten wir uns nicht
mehr selber die Gehälter erhöhen; bisher darf es nie-
mand anders.

Ich fände es gut, wenn wir diese Verantwortung durch
einen sauberen, verfassungsrechtlich korrekten Akt los-
werden und ein für alle Mal klären, was angemessen ist.
Das bliebe dann die Regel, nach der wir uns gemeinsam
richten. Dann müsste man sich nicht für jeden Euro
rechtfertigen, und dann wäre solcher Populismus auf
Kosten der parlamentarischen Demokratie nicht mehr
möglich.

In diesem Zusammenhang kann man auch über die
Altersversorgungssysteme diskutieren.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die gesetzliche Rente! Da sind wir sehr dafür!)


Das Beamtenversorgungssystem und das Abgeordneten-
versorgungssystem sind im Wesentlichen gleich.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Abgeordnete zahlen zum jetzigen Zeitpunkt nichts in die Rente, gar nichts! Sagen Sie doch mal was dazu!)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

– Frau Kollegin, ein Beamter zahlt auch nichts in die
Rente. Trotzdem gibt es Beamte, denen es finanziell
nicht so gut geht.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die zahlen inzwischen! Nicht viel, aber ein bisschen!)


– Pumpen Sie sich nicht so auf; seien Sie ganz entspannt.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Doch, wenn ich Sie höre, kann ich gar nicht anders!)


Wir führen hier eine sachliche Debatte. Diese Fragen
sollten von der Kommission, die wir einrichten, beant-
wortet werden. Dort sind es nicht Abgeordnete, die da-
rüber befinden und Vorschläge machen. Vielleicht kann
man so die erforderliche Akzeptanz gewinnen.

Sicher darf man sich allerdings nicht sein. Ich weise
auf das hin, was sich im Abgeordnetenhaus von Berlin
zugetragen hat. Dort gab es eine solche Kommission;
aber niemand hatte den Mut, ihren Vorschlägen zu fol-
gen. Auch so kann es gehen. Am Ende muss diese Ent-
scheidung ohnehin vom Hohen Haus getroffen werden.
Die Gefahr, der Versuchung des Populismus zu erliegen,
ist bei Ihnen leider sehr groß.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Werben für soziale Projekte ist kein Populismus, Herr Kollege!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712021300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die

Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Parteiengesetzes und eines Gesetzes zur Ände-
rung des Abgeordnetengesetzes. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6496, den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/6291 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen, das Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? – Das sind die Linksfraktion und eine
Stimme aus dem Kreise der Sozialdemokraten. Enthal-
tungen? – Eine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenprobe! – Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? –
Enthaltung des Kollegen Ströbele. Der Gesetzentwurf ist
somit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert
Behrens, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten
und zur Begrenzung von Energieverbrauch
und Energiekosten

– Drucksache 17/6371 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Niemand
widerspricht. Dann ist dies so beschlossen.

Die erste Rednerin kommt aus der Fraktion Die
Linke. Es ist unsere Kollegin Ingrid Remmers. Frau Kol-
legin Ingrid Remmers hat das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712021400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wohnen zu bezahlbaren Mieten, in Wohnungen, die bar-
rierefrei und klimagerecht ausgestattet sind, wird immer
mehr zu einem zentralen Thema der Sozialpolitik. Im-
mer mehr zeigt sich dabei, dass Wohnen unter den heuti-
gen Herausforderungen der sozialen, demografischen
und ökologischen Entwicklung nicht mehr allein den Re-
gulierungsmechanismen des Marktes überlassen werden
kann. Der Markt allein – das sagen im Übrigen alle Ak-
teure in der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft – ist
mit dieser Herkulesaufgabe hoffnungslos überfordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Immer drängender werden auf der einen Seite die
Forderungen aus der Bau- und Wohnungsbranche nach
staatlichen Zuschüssen in Form von Fördermitteln und
steuerlichen Vergünstigungen. Begleitet werden diese
Forderungen vom Drängen nach Änderungen des ord-
nungspolitischen Gefüges – konkret: nach der geplanten
Änderung des Mietrechts –, um Investitionen leichter re-
alisieren und sicherer davon profitieren zu können.

Gleichzeitig wächst auf der anderen Seite die Sorge
von Mieterinnen und Mietern, dass sie am Ende die Ze-
che für die ökologische Sanierung, für den barrierefreien
Umbau und für den klimagerechten, barrierefreien Neu-
bau allein zahlen sollen. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, sie sorgen sich zu Recht. Alle politischen Ideen und
Absichten der Bundesregierung, die bis jetzt in der Pipe-
line sind, bestätigen diese Befürchtungen leider: einer-
seits ehrgeizig formulierte Ziele, die CO2-Emissionen im
Gebäudebereich zu vermindern – das ist richtig und wird
von uns allen unterstützt –, andererseits eine völlig unzu-
reichende und ungewisse Ausstattung der entsprechen-
den Förderprogramme; einerseits steuerliche Zugeständ-
nisse an Haus- und Wohnungseigentümer als Anreiz zur
ökologischen Sanierung, andererseits die völlig offenen
Fragen, wie die umzulegenden Modernisierungskosten
von den Mieterinnen und Mietern aufgebracht werden





Ingrid Remmers


(A) (C)



(D)(B)

können und wie sie sich künftig gegen unzumutbare
Härten zur Wehr setzen sollen.

Parallel zu den Sanierungsvorgaben und den steuerli-
chen Entlastungen befindet sich ein Referentenentwurf
mit dem bedeutungsschwangeren Titel „Gesetz über die
energetische Modernisierung von vermietetem Wohn-
raum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räu-
mungstiteln“ in der Ressortabstimmung. Schon die
Vermischung einer wirklichen Generationenaufgabe, der
energetischen Sanierung, mit einer gutachterlich be-
scheinigten Marginalie, dem sogenannten Mietnomaden-
tum, geht gar nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Um eine Marginalie handelt es sich deshalb, weil wir
beim Mietnomadentum von lediglich 0,02 Prozent aller
insgesamt 38 Millionen Mietwohnungen sprechen. Die-
ses marginale Argument nutzen Sie, um das Mietrecht zu
verschlechtern. Schon diese Vermischung zeigt die Kon-
fusion oder, was noch viel schlimmer wäre, die Klientel-
steuerung der Koalition auch in der Wohnungsfrage.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist deshalb drin-
gend notwendig, gesetzliche Rahmenbedingungen zu
schaffen, die bezahlbare Mieten für alle sichern, und
gleichzeitig auf die Begrenzung von Energieverbrauch
und Energiekosten hinzuwirken. Genau dieses Ziel ver-
folgt der Gesetzesantrag, den das Land Berlin Anfang
November 2010 in den Bundesrat eingebracht hat. Zuge-
geben, der Gesetzesantrag ist nur ein Kompromiss zwi-
schen der Berliner SPD und der Berliner Linken. Aber
auch wir als Fraktion Die Linke im Deutschen Bundes-
tag unterstützen das Anliegen dieser Initiative.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch wenn die darin gemachten Forderungen noch
hinter unseren eigenen Vorstellungen zurückbleiben
– Sie erinnern sich, dass ich an dieser Stelle vor drei Wo-
chen für eine Senkung der Modernisierungsumlage nicht
auf neun, sondern auf fünf vom Hundert geworben habe –,
geht der Berliner Antrag einen großen Schritt in die rich-
tige Richtung. Deshalb übernehmen wir hier den Berli-
ner Gesetzesantrag und machen ihn zu unserem eigenen
Gesetzentwurf.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir, die Linke, wollen, dass im Interesse von Millio-
nen Mieterinnen und Mietern Bewegung in die Sache
kommt und Sicherheiten geschaffen werden.

Es kann doch zumindest für die Oppositionsfraktio-
nen hier im Hause eigentlich keine unüberwindliche
Hürde sein, einem Antrag wohlwollend zuzustimmen,
der von der in Berlin regierenden SPD verfasst worden
ist, oder?

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712021500

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner

kommt aus der Fraktion der CDU/CSU und ist unser
Kollege Jan-Marco Luczak. Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1712021600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Frau Kollegin Remmers, ich finde es einiger-
maßen ehrlich,


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: So sind wir!)


dass Sie bei Ihren Ausführungen hier zumindest zugeste-
hen, einen Gesetzesantrag übernommen zu haben, der
vom Land Berlin vor fast einem Jahr in den Bundesrat
eingebracht worden ist. Dabei haben Sie allerdings ein
wenig überspielt, dass Sie diesen Antrag wirklich wort-
wörtlich übernommen haben. Sie haben ihn einfach ab-
geschrieben und gesagt: Wir übernehmen ihn und ma-
chen ihn jetzt zu unserem eigenen Gesetzentwurf. – Man
kann mit Fug und Recht darüber streiten, ob das in dieser
Form richtig ist.

Nicht streiten kann man allerdings darüber, dass man
sich, wenn man so etwas tut, auch die Mühe machen
muss, zu schauen, was in der Zwischenzeit passiert ist.
Da ist die Welt nämlich nicht stehen geblieben – Sie ha-
ben das auch selbst erwähnt –: Es gibt mittlerweile einen
Referentenentwurf zur Novellierung des Mietrechts. Da-
raus haben Sie ja auch einige Dinge zitiert; Sie haben
von Mietnomaden gesprochen. Das hat mit unserer The-
matik heute Abend zwar überhaupt nichts zu tun, aber
lassen wir das einmal dahingestellt sein. Jedenfalls ha-
ben Sie diesen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Mietrechts ganz offensichtlich zur Kenntnis genommen.

Was Sie aber nicht gemacht haben, ist Folgendes: Sie
haben Ihren Gesetzentwurf in keiner Weise angepasst.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Den müssen wir auch nicht anpassen!)


Mit keiner Silbe haben Sie die Forderung, die Sie dem
im Bundesrat eingebrachten Gesetzesantrag entnommen
haben, dem aktuellen Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Mietrechts angepasst.

Das hätten Sie besser einmal machen sollen. Schließ-
lich fordern Sie zum Beispiel in Bezug auf die gewerbli-
che Wärmelieferung, das Contracting, dass die dafür
anfallenden Kosten die bisherigen Heizkosten nicht
übersteigen dürfen. Wenn Sie unseren Entwurf gelesen
hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass die Forderung
nach Kostenneutralität dort längst erfüllt ist.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann können Sie doch zustimmen!)


– Moment.

Tatsächlich geht unser Gesetzentwurf sogar noch wei-
ter als der Ihrige. Bei uns gilt nämlich strikt und ohne
Ausnahme, dass die Betriebskosten nach der Umstellung
auf Contracting nicht höher sein dürfen als vorher. Nach
Ihrem Gesetzentwurf kann das in bestimmten Fällen
aber sehr wohl erlaubt sein. Das heißt, Sie bleiben hinter
Ihrem selbst gesteckten Ziel des Mieterschutzes sogar
noch zurück.


(Otto Fricke [FDP]: Unglaublich!)


Meine Damen und Herren, diesen Vorwurf müssen
Sie sich in der Tat gefallen lassen. Konstruktive Opposi-





Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)

tionsarbeit sieht nun wirklich anders aus. Dafür hat man
möglicherweise ein bisschen Verständnis: Momentan ha-
ben Sie ja viel mit innerparteilichen Streitigkeiten zu
tun. Das hindert Sie vielleicht daran, hier eigenen Sach-
verstand einzubringen, weshalb Sie sich dann einfach
auf andere Gesetzentwürfe stützen.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Das ist genau dieselbe Vermischung von Themen, die nicht zusammengehören!)


Machen Sie aber ruhig weiter so. Dann merken die Men-
schen nämlich umso deutlicher, dass Sie inhaltlich gar
nichts zu bieten haben.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Tosender Beifall!)


Das alles ginge ja vielleicht noch, wenn nicht auch Ihr
Gesetzentwurf in der Sache genauso ideenlos und ver-
fehlt wäre.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Wie Ihrer!)


Wir alle wissen: Vom Mietrecht ist wirklich fast jeder
in unserem Land betroffen, entweder als Mieter oder als
Vermieter. Es gibt 24 Millionen Menschen, die in Miet-
wohnungen leben. Deswegen hat die Ausgestaltung des
Mietrechts wirklich eine existenzielle Bedeutung. Ein
ausgewogenes und soziales Mietrecht ist für die christ-
lich-liberale Koalition eine bare Selbstverständlichkeit.

Wir sagen: Jeder Eingriff in das Mietrecht muss sorg-
fältig abgewogen sein, damit der gebotene Ausgleich
zwischen den unterschiedlichen Interessen auch wirklich
gewährleistet bleibt. Mit dem, was Sie uns hier präsen-
tieren, werden Sie der notwendigen gesellschaftlichen
Ausgewogenheit aber in keiner Weise gerecht. Im Ge-
genteil: Die Änderungen, die Sie in Ihrem Gesetzent-
wurf vorschlagen, führen zu einer absolut einseitigen
Belastung der Vermieter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie schaffen es damit gerade nicht, dem eigenen An-
spruch zu genügen, einen gerechten Interessenausgleich
zwischen den Beteiligten zu erreichen. Ihr Gesetzent-
wurf ist von der ersten Zeile an ein Widerspruch in sich.

Ich kann das sehr gerne einmal an Beispielen festma-
chen:

Erstes Beispiel. Mit Ihrer Initiative wollen Sie die
Möglichkeiten der Umlage von Modernisierungskosten
erschweren, indem Sie die Umlagefähigkeit von 11 Pro-
zent auf 9 Prozent reduzieren. Dadurch soll die Akzep-
tanz von Modernisierungsmaßnahmen bei Mietern er-
höht werden. Aber was hat das zur Folge? Natürlich
werden die Anreize für Vermieter sinken, Modernisie-
rungen vorzunehmen, weil sie die Kosten nicht mehr in
gleicher Weise umlegen können und vielleicht sogar auf
diesen sitzen bleiben.

Wir alle reden in diesen Monaten vermehrt über den
Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir
alle reden über Klimaschutz. Auch die Linken tun das.
Sie haben das selber gerade gemacht, Frau Kollegin
Remmers. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, dass
sich die Wohnungswirtschaft an einer nachhaltigen, be-
triebskostensparenden und klimaschützenden Investi-
tionspolitik orientieren soll, weil das Vorteile für alle Be-
teiligten und die Umwelt bringt. Ich dachte eigentlich
nicht, dass ich Ihnen einmal recht geben würde; aber an
dieser Stelle haben Sie wirklich recht.

Ich frage mich allerdings, warum Sie mit Ihrem Ge-
setzentwurf genau das Gegenteil davon anstreben. Sie
wollen rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, durch
die die energetische Modernisierung erschwert wird. Das
macht doch keinen Sinn. Meine Damen und Herren von
den Linken, wie wollen Sie die Eigentümer zu den not-
wendigen, aber teuren Modernisierungsmaßnahmen mo-
tivieren, wenn Sie ihnen Steine in den Weg legen? Das
ist doch kontraproduktiv.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Das ist doch Ihr Gesetzentwurf, der die Kosten abwälzt!)


Modernisierungsmaßnahmen müssen für Vermieter wirt-
schaftlich tragbar sein. Deswegen bedarf es wirtschaftli-
cher Anreize und nicht zusätzlicher Hürden.

Zweites Beispiel. Die Kappungsgrenze für die Erhö-
hung der Miete bis zur ortüblichen Vergleichsmiete soll
reduziert werden. Derzeit kann die Miete innerhalb von
drei Jahren um maximal 20 Prozent in Richtung der orts-
üblichen Vergleichsmiete angehoben werden. Sie wollen
jetzt, dass nur noch 15 Prozent in vier Jahren erlaubt
sind. Dabei vergessen Sie, dass die Kappungsgrenze be-
reits 2001 gesenkt worden ist. Ich finde, wir haben mit
der derzeitigen Regelung einen gerechten Ausgleich der
Interessen geschaffen. Diesen sollten wir aufrechterhal-
ten.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sagt der Lobbyist!)


Im Übrigen greift die Kappungsgrenze ohnehin nur in
den Fällen, in denen zwischen tatsächlicher Miete und
der ortsüblichen Vergleichsmiete ein Gefälle besteht. Re-
gelmäßig ist das aber gar nicht der Fall; es kommt näm-
lich sehr darauf an; die Situation in den einzelnen Regio-
nen ist sehr unterschiedlich. Deswegen spielt das, was
Sie hier vorschlagen, in der Praxis eigentlich keine
Rolle. Was Sie hier machen, ist wieder einmal nichts
weiter als Symbolpolitik.

Damit, dass Sie die Vermieter auch noch mit einer
Verschärfung des Wirtschaftsstrafgesetzes drangsalieren
wollen, machen Sie endgültig klar, wes Geistes Kind Sie
sind. Sie haben sich noch immer nicht von alten Ideolo-
gien verabschiedet. Die Eigentümer sind bei Ihnen im-
mer die Bösen. Fangen Sie endlich einmal an, zu begrei-
fen, dass wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben, wo
Eigentum nichts Schlechtes ist.

Ich könnte jetzt noch einige weitere Punkte nennen.
Sie schlagen vor, § 550 a BGB zu ändern. Da geht es da-
rum, dass ein Mietvertrag nur dann geschlossen werden
darf, wenn der Energieausweis Bestandteil des Mietver-
trages ist. Hier kann man sich schon fragen, ob die Mie-
ter damit einverstanden sind. Was ist denn die Folge,
wenn der Vermieter dagegen verstößt? Hinterher steht





Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)

der Mieter ohne Mietvertrag da. Das heißt, er kann bei
der Wohnungssuche möglicherweise von vorne anfan-
gen. Sie geben den Mietern damit Steine statt Brot. Die
Mieter werden sich bei Ihnen bedanken.

Zum Schluss kann ich nur feststellen: Ihr Gesetzent-
wurf ist nicht nur abgeschrieben, sondern er ist auch
handwerklich schlecht gemacht. Damit verfehlen Sie die
selbst gesetzten Ziele. Deswegen werden wir diesen Ge-
setzentwurf ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das gehört zum Lobbyismus dazu!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712021700

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner aus

der Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Ingo Egloff. Bitte schön, Kollege Ingo Egloff.


(Beifall bei der SPD)



Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1712021800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist richtig, Herr Kollege, dass wir eine soziale
Marktwirtschaft haben. Aber weil das so ist – Sie haben
hier das Thema Eigentum erwähnt –, gibt es kaum einen
anderen Bereich, auf den das, was in Art. 14 Grundge-
setz steht, „Eigentum verpflichtet“, so zutrifft wie auf
das Mietrecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir streiten hier immer wieder über die Fragen eines
sozialen Mietrechts, und zwar zu Recht. Die Linke hat
selber zugegeben, dass sie den Gesetzesantrag, den die
Bürgermeisterin und Senatorin Junge-Reyer für das
Land Berlin im November 2010 in den Bundesrat einge-
bracht hat – im dortigen Rechtsausschuss ist er meines
Erachtens noch anhängig –, als Vorlage genommen hat.

Nun freuen wir uns natürlich, wenn ein Gesetzesan-
trag, den ein SPD-geführter Senat in den Bundesrat ein-
gebracht hat, von der Linken als Gesetzentwurf in den
Bundestag eingebracht wird. Das Ganze verläuft ein
bisschen nach dem Motto: Ich kann zwar nicht bestim-
men, wohin der Zug fährt, aber ich will auf jeden Fall
mit in der Lok sitzen.


(Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


In der Sache beschreibt der Gesetzentwurf die Pro-
blemlagen richtig. Die Tatsache, dass in bestimmten Tei-
len großer Städte die Mieten steigen, meist einhergehend
mit einer Verdrängung der angestammten Bevölkerung,
führt bei der Erstellung des Mietspiegels für die gesamte
Stadt automatisch dazu, dass das Mietniveau auch in we-
niger privilegierten Wohnvierteln steigt, weil das Niveau
in der gesamten Stadt steigt. Hier aus sozialpolitischen
Gründen einen Riegel vorzuschieben und die Mietent-
wicklung in bestimmten Teilgebieten steuern zu können,
ist zumindest für große Städte wie Hamburg, Berlin,
München und Köln wichtig. Ich finde, angesichts dessen
lohnt es sich, über diesen Gesetzentwurf zu reden. Sie
können natürlich anderer Auffassung sein. Aber tun Sie
das bestehende Problem nicht einfach ab, sondern lassen
Sie uns über bessere Lösungen streiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


In keinem anderen europäischen Land ist der Anteil
am Einkommen, den die Bevölkerung für Mieten aus-
gibt, so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland.
Deshalb ist eine solche Regelung, mit der wir Grenzen
einziehen, zumindest für diejenigen Bevölkerungs-
schichten besonders wichtig, bei denen das Einkom-
mensniveau eine Steigerung schon jetzt nicht zulässt.

Genauso verhält es sich bei den Energiekosten. Wir
sind uns alle einig, dass energetische Gebäudesanierung
sinnvoll ist und durchgeführt werden muss. Das haben
wir alle in der letzten Woche beschlossen. Aber wir soll-
ten uns auch darin einig sein, dass energetische Gebäu-
desanierung nicht dazu führen darf, dass der Mietraum
nicht mehr bezahlbar ist. Es kann schwierige Situationen
geben, auch wenn Sie dies bestreiten, Herr Kollege. Ein
Beispiel dafür sind Frauen, deren Ehemann verstorben
ist und deren Einkommen dadurch geringer wird. Die
Wohnungen dieser Frauen müssen womöglich saniert
werden, ohne dass sie dies noch bezahlen können. Wenn
eine solche Situation eintritt, dann ist das schlicht und
ergreifend nicht richtig. Das ist eines Sozialstaates nicht
würdig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Wer bezahlt?)


Ich kann Ihnen solche Beispiele bei mir im Wahlkreis,
in Hamburg-Großlohe, zeigen. Das ist keine privilegierte
Gegend. Dort ist genau das eingetreten. Ich finde, da
müssen wir aufpassen. Wenn die energetische Gebäude-
sanierung durchgeführt wird, dann müssen wir aufpas-
sen, dass am Ende nicht diejenigen, die sich das nicht er-
lauben können, in nicht sanierten Wohnungen wohnen
müssen, weil sie andere Wohnungen nicht mehr bezah-
len können. Das hieße, das Kind mit dem Bade auszu-
schütten.


(Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD] – Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Wo ist Ihre Lösung?)


Wir müssen uns über die Frage Gedanken machen:
Wie ist das mit der Umlagefähigkeit? Wie ist das mit der
Senkung der Modernisierungsumlage von 11 auf 9 Pro-
zent? Eine Senkung auf 5 Prozent halte ich für illuso-
risch; aber über eine Senkung von 11 auf 9 Prozent müs-
sen wir nachdenken.

Auch die Sache mit dem Energiepass ist sinnvoll. Die
Frage ist nur: Ist die Aushändigung des Energiepasses
eine zugesicherte Eigenschaft? Dann tritt das nicht ein,
Herr Kollege, was Sie gesagt haben: dass der Mietver-
trag keine Gültigkeit mehr hat. Vielmehr hat dann der
Vermieter eine Mietsache zur Verfügung gestellt, die
nicht die zugesicherte Eigenschaft hat.


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Sie sollten den Gesetzentwurf lesen, Herr Kollege!)






Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)

Diese Frage haben wir im Rahmen dieses Gesetzge-
bungsverfahrens zu klären.

Die Bundesregierung hat sich schon Gedanken da-
rüber gemacht – Sie haben darauf hingewiesen –, im
Zuge der energetischen Gebäudesanierung das Mietrecht
zu ändern. Der Referentenentwurf hat uns zwar offiziell
noch nicht erreicht, aber jeder hat schon einmal hinein-
geschaut. Ich finde, die Bundesregierung tut gut daran,
diesen Gesetzentwurf endlich vorzulegen, damit wir ihn
im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
diskutieren können. Im Referentenentwurf steht bei-
spielsweise: Bei energetischer Gebäudesanierung darf
der Mieter in Zukunft für drei Monate kein Recht auf
Mietminderung geltend machen.

Schon bisher gab es die energetische Gebäudesanie-
rung. Wenn die Mietsache beeinträchtigt, also nicht in
vertragsgemäßem Zustand, war, konnte man Mietminde-
rung geltend machen. Wo wollen Sie die Abgrenzung
zwischen regelmäßig durchzuführenden Instandhal-
tungsmaßnahmen und energetischen Gebäudesanie-
rungsmaßnahmen vornehmen? Ich glaube, an dieser
Stelle ist der Gesetzentwurf, den Sie hier in der Pipeline
haben, noch nicht ausgereift. Wir müssen noch disku-
tieren, damit in der Praxis unnötige Prozesse vermieden
werden. Solche Prozesse wären das Einfallstor für
Streitigkeiten zwischen dem Mieter und dem Vermie-
ter: Wo fängt Instandhaltung an – da kann man die
Miete kürzen –, und wo hört die energetische Gebäude-
sanierung auf? Was Sie da tun, ist nicht praxisgerecht.

Wir sollten uns jedenfalls hüten, im Zuge der Überar-
beitung des Mietrechts im Hinblick auf die energetische
Gebäudesanierung Dinge zu regeln, die eigentlich nicht
in diesen Kontext gehören.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Wir Sozialdemokraten sind dagegen, dass unser soziales
Mietrecht zulasten der Mieter weiter eingeschränkt wird.

Über das Thema Contracting und darüber, ob die hier
vorgelegte Regelung oder eine andere Regelung zielfüh-
rend ist, werden wir uns im Ausschuss noch in aller Aus-
führlichkeit unterhalten müssen. Auf jeden Fall gibt es
unterschiedliche Aussagen dazu. Frau Junge-Reyer hat
im Bundesrat gesagt, Contracting führe regelmäßig zu
Mietminderung. Wenn Sie mit den Mietervereinen re-
den, erzählen sie Ihnen das Gegenteil.


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Wir stellen es gesetzlich sicher! – Sebastian Körber [FDP]: Sie müssen die Warmmiete in Betracht ziehen!)


Wir haben solche Gespräche letzte Woche geführt.

Wir sollten das klären. Wir sollten eine Anhörung
durchführen, und wir sollten ein Mietrecht schaffen, das
einerseits dem Ziel, das wir beim Klimaschutz alle mit-
einander verfolgen, gerecht wird, und andererseits die
Frage der sozialen Gerechtigkeit nicht ausblendet. Wenn
das geschieht, dann haben Sie uns an Ihrer Seite, sonst
nicht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712021900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP-Fraktion

spricht unser Kollege Stephan Thomae. Bitte schön,
Kollege Stephan Thomae.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1712022000

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Links-
fraktion will mit dem vorgelegten Entwurf die Mieten
bezahlbar halten, Energie einsparen und Energiekosten
senken. Es wird Sie nicht verwundern, dass ich skeptisch
bin, ob Sie mit diesem Entwurf das Ziel erreichen kön-
nen. Ich will an einigen Punkten deutlich machen, wes-
halb wir meinen, dass der von Ihnen vorgelegte Entwurf
abzulehnen ist.

Der erste Punkt betrifft das Thema Energieausweis. In
Ihrem Entwurf schreiben Sie, dass der Mietvertrag über
Wohnraum nur dann wirksam ist, wenn der Vermieter
bei Abschluss des Vertrages einen Energieausweis für
den Wohnraum vorlegt. Die Folge ist aber logischer-
weise, dass immer dann, wenn bei Abschluss des Vertra-
ges kein Energieausweis vorliegt, auch kein wirksamer
Mietvertrag zustande kommt. Die Folge ist – Kollege
Luczak hat es schon anklingen lassen –, dass eben kein
wirksamer Mietvertrag zustande kommt.

Man muss sich einmal überlegen – das ist ein Punkt,
der in dem von Ihnen vorgelegten Entwurf überhaupt
nicht bedacht ist –, was das für die Altfälle, also für die
schon bestehenden Mietverträge, bedeutet. Muss dann
der Energieausweis nachgereicht werden, oder welche
Konsequenzen sind ansonsten zu gewärtigen? Das ist ein
Punkt, der bei der Übergangsregelung zu bedenken
wäre. Dazu besagt Ihr Entwurf nichts.

Der zweite Punkt: Was gilt für die faktischen Mietver-
hältnisse, etwa wenn bei Eingehung des Mietvertrags ein
solcher Energieausweis nicht vorgelegt wird, weil die
Parteien es nicht bedenken, die Vorschriften nicht ken-
nen, sie ihnen gleichgültig sind oder keiner von beiden
Wert darauf legt? Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an
dem zu klären ist, ob ein wirksamer Vertrag geschlossen
worden ist. Dann kann genau das passieren, was schon
angesprochen worden ist: Der Mieter ist rechtlos, weil er
im Falle des Beendigungswunsches des Vermieters auf
keinen wirksamen Mietvertrag zurückgreifen kann.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Das kann man doch regeln!)


Sie wollen mit Ihrem Entwurf vielleicht die Vermieter
ärgern. In Wirklichkeit erzeugen Sie aber eine gewaltige
Rechtsunsicherheit für Hunderttausende, ja für Millio-
nen von Mietverhältnissen. Das ist die Gefahr, die Sie
den Mietern hiermit sozusagen ins Nest legen. Sie erzeu-
gen genau das Gegenteil dessen, was Sie eigentlich er-
reichen wollen.





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Otto Fricke [FDP]: Vielleicht sollten wir zustimmen! – Das war natürlich Ironie!)


Der dritte Punkt sind gewerbliche Wärmelieferungen,
Contracting-Verträge. Wir begrüßen, dass Sie diesem
Punkt zustimmen. Überraschenderweise sieht Ihr Ent-
wurf vor, dass dem Mieter für Wärme-Contracting hö-
here Nebenkosten entstehen dürfen. Da kann ich Ihnen
sagen: Die Regierung will erreichen, dass sich der Ver-
trag beim Wärme-Contracting für den Mieter kostenneu-
tral auswirkt. Wir meinen: Das Ganze ist für den Mieter
eine neutrale Investition, da sie mit einer Wertverbesse-
rung einhergeht.

Sie haben zwei Voraussetzungen in Ihren Gesetzent-
wurf eingebaut, nämlich zum einen, dass der Primär-
energiebedarf um mindestens 15 Prozent sinken muss,
und zum anderen, dass bei größeren Mietobjekten die
Hälfte der Mieter zustimmen muss. Für uns haben Sie zu
viele Voraussetzungen mit eingebaut. Diese Vorausset-
zungen gefährden unser Vorhaben, ein Energieeinspar-
ziel zu erreichen. Sie senken den Modernisierungsanreiz
und verhindern geradezu das, was wir beabsichtigen,
nämlich die energetische Sanierung des Wohnraums bei
uns in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein weiterer Punkt ist die Kappungsgrenze; das ist
ebenfalls schon angeklungen. Nach der bisherigen Rege-
lung darf die Miete innerhalb von drei Jahren um maxi-
mal 20 Prozent erhöht werden. Sie wollen diese Grenze
nun dahin gehend verändern, dass innerhalb von vier
Jahren die Miete um maximal 15 Prozent ansteigen darf.

In diesem Zusammenhang muss man berücksichtigen,
was auf dem Mietmarkt geschieht. Die Anschaffung von
Wohnungsmietraum in Form einer Immobilie ist für den
Vermieter zunächst eine Geldanlage. Dabei muss man
sich vor Augen halten, dass diese Geldanlage im Ver-
gleich zu anderen Anlageformen eher als rendite-
schwach gilt. Sie gilt als sichere Geldanlage, aber Liqui-
dität und Rendite sind schwach. Insofern muss man
berücksichtigen, dass diese Anlageform mit anderen An-
lageformen konkurrieren muss. Die Gewinnerzielung ist
nichts Illegitimes. Auch das muss man sehen.

Sie wollen die Obergrenze ändern, wobei man nicht
übersehen darf, dass eine wirksame Begrenzung der
Mieten heute über den Markt stattfindet. Das berück-
sichtigen Sie in Ihrer Denklogik nicht in derselben Weise
wie wir. In vielen Regionen Deutschlands bzw. auf vie-
len Mietmärkten gibt der Mietmarkt sogar viel weniger
her als die gesetzlich erlaubte Erhöhung. Das ist nur eine
Obergrenze. Die eigentliche Obergrenze für Mieterhö-
hungen bildet aber der Markt. Wenn der Vermieter die
Miete zu stark erhöht, riskiert er Mietleerstand und Miet-
ausfälle gerade in Gegenden fernab der Innenstädte gro-
ßer Städte. Dieses Risiko trägt der Vermieter ebenfalls.
Das ist als eigentliche Kappungsgrenze anzusehen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Der letzte Punkt sind die Modernisierungskosten.
Derzeit können bis zu 11 Prozent dieser Kosten auf die
Jahresmiete umgelegt werden. Sie wollen den Anteil auf
9 Prozent senken. An dieser Stelle muss man sich vor
Augen halten, was die Miete wirtschaftlich betrachtet ist.
Die Miete ist eine Abzinsung, die der Mieter auf die An-
schaffungskosten des Vermieters entrichtet. Der Vermie-
ter schafft Eigentum an, das er finanzieren muss. Er hat
Kapitalkosten, muss Zinsen zahlen sowie Investitions-
kosten und vielleicht auch Kosten für Instandhaltung
und Instandsetzung tragen. Das schießt er dem Mieter
sozusagen vor. Die Miete ist also eine Abzinsung. Des-
wegen heißt es auch Mietzins.

Diese Aufwendung darf der Vermieter refinanzieren.
Wenn wir diese Möglichkeiten beschneiden, dann riskie-
ren wir, dass immer weniger Eigentümer bereit sind, in
Wohnraum zu investieren. Auch das ist nicht im Inte-
resse der Mieter, weil sich dann die Lage auf dem Miet-
markt verschärft.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben recht, Kollege Egloff: Eigentum verpflich-
tet; aber es muss auch jemand Eigentum schaffen; je-
mand muss investieren. Deswegen dürfen wir die An-
schaffung von Eigentum nicht allzu sehr erschweren.
Aus diesem Grund werden wir Ihren Entwurf ablehnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das unterscheidet uns! Sie haben die Vermieter und wir die Mieter im Blick!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712022100

Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin
Daniela Wagner. Bitte schön, Frau Kollegin Daniela
Wagner.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712022200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Debatte und die Rede von Kollegin Remmers haben
deutlich gemacht, dass die wohnungs- und mietpoliti-
schen Träumereien der Linken von der Berliner SPD
mittlerweile erfolgreich geglättet worden sind. Heraus-
gekommen ist ein Gesetzentwurf, dem man seine Zu-
stimmung, jedenfalls über weite Strecken, nicht verwei-
gern kann.


(Sebastian Körber [FDP]: Na bitte!)


Man hat allerdings ein bisschen den Eindruck, dass die
Debatte zur Unzeit stattfindet. Sie steht eigentlich dann
an, wenn wir über eine Mietrechtsnovelle reden.

Richtig ist aber auch – damit haben Sie recht –, dass
unsere Wohnungsmärkte vor massiven Herausforderun-
gen stehen. Ohne die umfassende energetische Moderni-
sierung unseres Gebäudebestands wird die Ener-
giewende nicht zu schaffen sein.





Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)

Wir alle wissen: 40 Prozent der Energie wird zurzeit
im Gebäudebestand verbraucht.

Außerdem haben wir aufgrund des demografischen
Wandels einen Mehrbedarf an ungefähr 2,5 Millionen
barrierereduzierten bzw. barrierefreien Wohnungen. Bis
2030 wird dieser sogar noch auf 3 Millionen steigen.

Die weitreichenden Investitionen, die dafür zu tätigen
sind, werden erhebliche Folgen sowohl für die Gebäude-
eigentümer als auch für die Mieterinnen und Mieter ha-
ben. Das Mietrecht ist nun einmal das zentrale Instru-
ment, mit dem man solche Fragen regeln und Konflikte
entschärfen kann. So kann man ja Mietanstiegsdynami-
ken ausbremsen oder beschleunigen. Insbesondere in
Metropolregionen mit angespannten Wohnungsmärkten
besteht im Moment durchaus die Gefahr – das ist wahr –,
dass einkommensschwächere Mieterinnen und Mieter
unter dem Deckmantel der energetischen Sanierung aus
ihren Wohnungen heraussaniert werden. Das kann man
nicht wollen. Dem muss man etwas entgegensetzen.

Wir sind aber auch der Meinung, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass Mieterinnen bzw. Mieter, Vermieter,
Klima- und Mieterschutz nicht gegeneinander ausge-
spielt werden dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir glauben, dass ein soziales und klimafreundliches
Mietrecht möglich ist und dass der Interessenausgleich
mit den bestehenden Regelungen zu bewältigen ist. Wir
glauben vor allen Dingen, dass sich eine angemessene
Förderung, sowohl KfW-Förderprogramme als auch
steuerliche Entlastung – beides muss ja gemäß § 559 a
BGB weitergegeben werden –, mietmindernd auswirkt.
Von jeder Art von Entlastung des Eigentümers soll näm-
lich auch die Mietpartei etwas haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Moment ist vorgesehen, dass das Gebäudesanie-
rungsprogramm künftig aus dem Sondervermögen
„Energie- und Klimafonds“ finanziert werden soll. Täg-
lich lese ich in der Zeitung neue Berichte darüber, was
aus diesem Fonds noch alles finanziert werden soll. In-
sofern sind wir skeptisch, dass das Geld tatsächlich dort
landet, wo es landen müsste. Für das KfW-Förderpro-
gramm „Altersgerecht Umbauen“ stehen praktisch gar
keine Mittel mehr zur Verfügung, obwohl seine Bedeu-
tung in jeder Rede betont wird. Das ist, finde ich, eine
Art wohnungspolitischer Geisterfahrt, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Koalition.

Jenseits vom Mietrecht und jenseits der Frage „Ab-
senkung der Kappungsgrenze“ ist das Wirtschaftsstraf-
recht zu erwähnen, das auch jetzt schon wirksam wird.
Im Volksmund ist das der Mietwucherparagraf. Das Be-
gehren ist nun, dass dieser Paragraf auch stadtteilbezo-
gen angewendet werden kann. Das ist sinnvoll; denn auf
die ganze Stadt bezogen kommt er praktisch nie zur An-
wendung, weil extreme Wuchermieten durch niedrige
Mieten im Mittel ausgeglichen werden. Auch Sie wissen
natürlich, dass es vernünftig ist, diesen Paragrafen ge-
bietsweise zur Anwendung zu bringen.

(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Und woher wissen Sie das?)


Die einzelnen mietrechtlichen Normen werden wir si-
cher im September einer eingehenden Würdigung unter-
ziehen. Lassen Sie mich jetzt nur so viel sagen: Die Drit-
telung der Belastung ist unser Credo. Wir wollen, dass
die Mieterinnen und Mieter, die Vermieter und der Staat
sich die Last der energetischen Gebäudesanierung und
der Energiewende teilen, und dazu ist es erforderlich,
dass für die Förderprogramme zur energetischen Gebäu-
desanierung auf jeden Fall Mittel in ausreichender Höhe
und vor allem verstetigt zur Verfügung stehen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Und woher kommt da das Geld?)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712022300

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt für die Fraktion

der CDU/CSU unser Kollege Gero Storjohann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1712022400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche
Mietrecht ist ein fein abgestimmter Mechanismus, und
die berechtigten Interessen von Mietern und Vermietern
werden nach meiner Auffassung gleichermaßen berück-
sichtigt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist meines Er-
achtens ein Angriff auf diese Ausgewogenheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In Deutschland ist das Gut „Wohnen“ für jedermann
erschwinglich und möglich. Wir Abgeordnete wohnen
hier in Berlin ja fast alle zur Miete. Ich habe mich ge-
wundert, dass ich für 5 Euro in einem Altbau, saniert,
Erstbezug, unterkommen kann. Das ist günstiger als in
meinem Dorf.

Wenn ich im Ausland bin, frage ich nach der Miet-
situation in den Städten. Gerade die Botschaftsangehöri-
gen machen mir dann immer sehr deutlich, dass sie für
eine Miete unter 2 000, 3 000 oder 4 000 Euro keine ver-
nünftige Bleibe finden können. Daher kann man sagen:
In Deutschland ist grundsätzlich eine gute Wohnsitua-
tion, in den letzten Jahren politisch begleitet, erreicht
worden. Das muss an der bisherigen Förderpolitik und
auch an der Investitionsbereitschaft von Unternehmen
und Privaten gelegen haben. Bisher hat noch keiner das
Förderinstrument Wohngeld erwähnt, das auch zu einem
Ausgleich beiträgt und schwächeren Mietparteien die
Möglichkeit gibt, angemessen zu wohnen. Auch das
muss man in diesem Kontext sehen.

Die Bestimmungen im Gesetzentwurf der Linken
würden zu einer einseitigen Belastung der Vermieter
führen. Das sagen Sie ganz offen am Ende Ihres Ent-
wurfs. Frau Wagner von den Grünen hat schon den Be-
darf dargestellt, der sich in den nächsten Jahren ergibt
und den wir bewältigen müssen.





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Das geht aber nicht kostenneutral für den Bund!)


Das heißt, wir brauchen die Bereitschaft, Investitionen
zu tätigen. Mein Kollege Thomae von der FDP hat be-
reits gesagt, dass wir diese Bereitschaft fördern und
nicht abwürgen wollen. Wir müssen daher aufpassen,
dass wir hier nicht zu falschen Zielsetzungen kommen.

Herr Egloff, was ausbleibender Wohnungsneubau be-
wirkt, konnten wir in Hamburg genau beobachten.


(Ingo Egloff [SPD]: Zehn Jahre CDU-Regierung waren das!)


– Über 20 Jahre kann ich die Planung auch zurückverfol-
gen. – Die Ausweisung von billigen Grundstücken ist in
Städten schwierig. Aber wenn man es schafft, kann es
Neubau geben. Das hat dann eine dämpfende Wirkung
auf die Mieten.


(Ingo Egloff [SPD]: Die SPD hat von 1991 bis 2001 75 000 Wohnungen gebaut! Sie haben nur 600 Projekte pro Jahr gebaut!)


Das ist das Geheimnis: Wir dürfen eine Verknappung
nicht zulassen. Ein entsprechendes Angebot wirkt einer
Verknappung entgegen.

Insofern würden die Linken mit ihrem Entwurf mit-
telfristig dem Anliegen auf bezahlbaren Wohnraum er-
heblichen Schaden zufügen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Gesetzentwurf blendet völlig aus, dass es in großen
Städten zwar Mietspiegel gibt, dass dies in Stadtrandla-
gen oder verdichteten ländlichen Regionen jedoch nicht
der Fall ist. Zudem gibt es keine gesetzliche Verpflich-
tung für die Kommunen, Mietspiegel aufzustellen.

Die geltenden Regelungen zum Schutz der Mieter vor
unverhältnismäßigen Mieterhöhungen haben sich da-
rüber hinaus bewährt. Die Kappungsgrenze, die verhin-
dert, dass sich die Miete in großen Sprüngen erhöht,
wurde zuletzt 2001 unter Rot-Grün neu festgelegt. Man
hat sich damals, so glaube ich, etwas dabei gedacht.

Wie richtig erkannt wurde, bietet die energetische
Modernisierung von Mietshäusern ein großes Potenzial,
um CO2-Ausstoß einzusparen. Diese Modernisierungs-
maßnahmen kosten Geld. Wir von der Union meinen,
dass diese Kosten gleichmäßig von Mietern und Vermie-
tern getragen werden müssen und dass wir den Staat an
dieser Stelle größtenteils heraushalten sollten. Das ist
also ein klares Votum gegen die Drittelungslösung.

Die Linke möchte die entstehenden Kosten stärker als
bisher an den Vermieter weitergeben. Wir aber denken,
dass sich die Vorteile bei der Nebenkostenabrechnung in
einem Beitrag zu den Investitionen niederschlagen kön-
nen. Dann werden die Investitionen getätigt, und nur
dann – das ist unser Ziel – wird auch ein Beitrag zum
Klimaschutz geleistet. Diesen Punkt dürfen wir nicht au-
ßer Acht lassen.

Bei einer Umsetzung der Vorschläge der Linken
würde die Bereitschaft der Vermieter, Modernisierungen
anzupacken, erheblich sinken. Wenn Vermieter einseitig
die Kosten von Modernisierungsmaßnahmen tragen
müssen, werden diese in Zukunft schlicht ausbleiben.
Sie können die Vermieter nicht dazu zwingen. Mit einem
engagierten Klimaschutz hat dies nichts zu tun.


(Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Dann müssen Sie Anreize setzen! Und nicht auf Kosten der Mieter das Ganze machen!)


Anders als die Linke fühlen sich CDU und CSU Mie-
tern und Vermietern gleichermaßen verpflichtet. Die ein-
seitigen Vorschläge der Linken, die eher zu höheren
Mieten führen würden, werden wir in den anstehenden
Ausschussberatungen nicht unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stephan Thomae [FDP]: Wir auch nicht!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712022500

Vielen Dank, Herr Kollege. – Wir sind damit am Ende

der Rednerliste, sodass ich die Aussprache schließen
kann.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/6371 zur federführenden Bera-
tung an den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines … Ge-
setzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs –
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte

– Drucksache 17/4143 –

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur

(… Strafrechtsänderungsgesetz – … StRÄndG)


– Drucksache 17/2165 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/6505 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Sebastian Edathy
Dr. Eva Högl
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider-
spruch erhebt sich nicht. Somit ist das beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De-
batte ist unser Kollege Jörg van Essen von der Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Jörg van Essen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Dann kann es ja nur eine gute Debatte werden!)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1712022600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wer gelegentlich in einem Streifenwagen mitfährt – ich
habe das in meinem früheren Beruf getan, tue es jetzt ge-
legentlich auch noch –, der macht sofort eine Beobach-
tung: Egal, wie die Polizisten unterwegs sind, ob sie
helfend unterwegs sind – dann bekommen sie böse Vor-
würfe, man hätte viel schneller sein können – oder ob sie
eingreifend unterwegs sind, es gibt immer Zoff und Zun-
der. Deshalb zunächst einmal am Beginn dieser Debatte
ein herzliches Dankeschön, dass so viele Polizeibeamte
in diesem Land dann immer so ruhig reagieren, für den
Rechtsstaat stehen, die Gesetze anwenden und alles da-
für tun, dass die ganze Situation nicht eskaliert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man dabeisteht, dann weiß man, wie schwer das
oft ist. Ich persönlich hätte in der einen oder anderen Si-
tuation mit Sicherheit nicht so ruhig reagiert, wie es die
erfahrenden Polizeibeamten getan haben.

Die Zahlen zeichnen aber im Übrigen auch ein deutli-
ches Bild: Zwischen 1999 und 2008, also innerhalb eines
Zeitraums von zehn Jahren, hat die Zahl der Wider-
standshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte um über
30 Prozent zugenommen. Das ist eine unglaubliche Stei-
gerung, die wir dort haben. Alle wissen, dass das nach
2008 nicht weniger, sondern, ganz im Gegenteil, noch
mehr geworden ist.

Der Verfassungsschutzbericht hat gerade deutlich ge-
macht, dass die Gewaltbereitschaft bei Extremisten bei-
der Lager, links wie rechts, noch einmal erheblich ge-
stiegen ist. Diejenigen, die es auszubaden haben, sind
die Polizeibeamten. Deshalb sind wir als diejenigen, die
die Polizeibeamten in ihrem Dienst für den Staat auch zu
schützen haben, aufgerufen, zu prüfen, was wir tun kön-
nen. Die dafür im Strafgesetzbuch vorgesehene Vor-
schrift, nämlich der § 113 Strafgesetzbuch „Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte“, ist dafür zunächst einmal
grundsätzlich der richtige Ort.

Der § 113 normiert alle typischen Widerstandshand-
lungen, die dann passieren, wenn es zu Auseinanderset-
zungen zwischen Polizeibeamten und Bürgern kommt,
und setzt dafür die Strafen fest. Er beinhaltet im Ver-
gleich zu den Vorschriften allgemeiner Art, die wir
haben, also beispielsweise Vorschriften zu Körperverlet-
zung oder gefährlicher Körperverletzung, eine Privile-
gierung der Bürger. Privilegierung heißt, die Bürger wer-
den grundsätzlich besser gestellt. Dafür gibt es auch
einen Grund, weil es sich bei solchen Einsätzen – das
weiß jeder, der einmal dabei war – auch schon mal auf-
schaukelt. Deshalb soll den Bürgern entgegengekommen
werden; deshalb gibt es andere Strafrahmen als bei den
Grundtatbeständen, also beispielsweise bei der Körper-
verletzung oder bei der gefährlichen Körperverletzung.
Dennoch, finde ich, ist es angemessen, auch in einer
solchen privilegierenden Vorschrift auf Entwicklungen
zu reagieren und auch auf Gerichtsentscheidungen zu
antworten. Eine der Maßnahmen, die wir heute vorschla-
gen, stellt somit auch eine Reaktion auf die Rechtspre-
chung des Bundesgerichtshofs dar. Die Rechtsprechung
der Gerichte hat insofern für eine Erweiterung gesorgt,
als gefährliche Werkzeuge auch als Waffe im Sinne des
§ 113 betrachtet wurden. Der Bundesgerichtshof hat in
einer Kammerentscheidung darauf hingewiesen, dass
das eine zu weite Auslegung ist, und hat deutlich ge-
macht, dass eine entsprechende Rechtsprechung in Zu-
kunft nicht weiter vorgenommen werden darf. Wir än-
dern das, denn es ist völlig klar: Egal, ob man eine Waffe
oder ein gewöhnliches Werkzeug bei der Tat benutzt,
beides ist gefährlich für die Polizeibeamten und muss
deshalb bei der Strafzumessung gleichermaßen berück-
sichtigt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auf die allgemeine Entwicklung antworten wir mit
einer Erweiterung des Strafrahmens. Auch danach bleibt
aber die Privilegierung noch bestehen. Der Gesetzgeber
ist nämlich frei, wie weit er diese Privilegierung anwen-
det; er kann sie besonders weit ziehen, aber er kann sie
natürlich auch ein Stück zurücknehmen, wenn aus der
Entwicklung deutlich wird, dass man härter gegenüber
den Tätern sein muss. Wir hatten ja – ich erinnere noch-
mals daran – bei den Fallzahlen eine Steigerung von
über 30 Prozent. Von daher macht es Sinn, den Strafrah-
men vorsichtig auszuweiten.

Wir reagieren auch auf eine weitere Entwicklung der
letzten Jahre. Dies halte ich für ebenfalls richtig und
wichtig. Wir merken nämlich, dass es zunehmend
Brandanschläge auf Fahrzeuge gibt. Das ist hier in Ber-
lin in besonderer Weise zu beobachten. Ein Bekannter
von mir hat gerade seinen Privatwagen verloren. Sein
ganz alter Mercedes, der am Straßenrand abgestellt war,
ist abgefackelt worden. Wir alle wissen, dass es auch
konzertierte Aktionen gegen die Polizei, gegen die Ret-
tungsdienste, gegen den Katastrophenschutz und viele
andere gibt, bei denen deren Fahrzeuge in Brand gesetzt
werden. Auch deshalb ist es sinnvoll, die entsprechenden
Brandstiftungsvorschriften zu ergänzen. Auf diese Weise
kann man aktuell auf das Verhalten der Täter reagieren.
Von daher ist das, wie ich glaube, richtig.

Insgesamt lautet die Botschaft, die meine Fraktion
heute an die Polizeibeamten sendet: Wir unterstützen sie
in ihrem Dienst. Wir nehmen es nicht hin, dass sie zu-
nehmend Opfer von Gewalt werden. Deswegen nehmen
wir diese Änderungen vor. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung für die-
sen Gesetzentwurf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712022700

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist

unsere Kollegin Dr. Eva Högl für die sozialdemokrati-
sche Fraktion. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1712022800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Beim vor-
liegenden Gesetzentwurf geht es um die Verschärfung
des Strafrechts. Bei der Verschärfung des Strafrechts
müssen wir immer ganz sorgfältig prüfen, ob das not-
wendig ist. Deswegen müssen wir uns anschauen, ob es
eine Lücke im Strafrecht gibt und ob es tatsächlich, wie
Sie gesagt haben, Herr Kollege, eine gestiegene Zahl
von Fällen gibt. Wir müssen uns auch anhören, was die
Experten sagen.

Ich möchte etwas zur gestiegenen Zahl der Fälle sa-
gen. Wir können uns jetzt lange darüber streiten, ob die
Anzahl der Fälle um 30 Prozent gestiegen ist oder nicht.
Alle Expertinnen und Experten haben gesagt: Es lässt
sich nicht nachweisen, dass die Anzahl der Fälle signifi-
kant gestiegen ist. Diese Aufgeregtheit muss es also
nicht geben.


(Jörg van Essen [FDP]: Was sind denn das für Experten? – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten dabei sein sollen!)


Darum geht es aber in der Debatte gar nicht. Ich will nur
angesprochen haben, dass man diese 30 Prozent nicht
pauschal in die Debatte werfen kann. Ich möchte an die-
ser Stelle aber auch sagen: Jeder einzelne Fall einer Poli-
zistin oder eines Polizisten, gegen den Widerstand ge-
leistet wird, ist wichtig und rechtfertigt diese Debatte.
Die Frage ist allerdings, ob es dadurch gerechtfertigt ist,
das Strafrecht zu verschärfen. Das ist die Frage, die wir
uns heute hier stellen müssen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir rufen bei gesellschaftlichen Entwicklungen, die
uns nicht gefallen, nur allzu gerne nach dem Strafrecht.
Ich persönlich sage, dass eine Verschärfung des Straf-
rechts in vielen Fällen nicht die richtige Antwort ist. An-
dere Maßnahmen greifen häufig viel besser. Darüber
müssen wir uns hier Gedanken machen.

Es gab eine Expertenanhörung, an der alle Fraktionen
beteiligt waren. Alle Fraktionen konnten Experten einla-
den. Die Experten haben uns nicht geraten, das Straf-
recht zu verschärfen. Deswegen bin ich persönlich sehr
skeptisch gegenüber einer Strafrechtsverschärfung. Wir
müssen hier im Deutschen Bundestag mit symbolischer
Gesetzgebung sehr vorsichtig sein. Allerdings sind
manchmal auch starke Signale notwendig – das will ich
gerne zugestehen –, wenn die Adressatinnen und Adres-
saten – in diesem Fall die Vollstreckungsbeamten – ein
starkes Signal brauchen. Die Polizistinnen und Polizis-
ten brauchen ein starkes Signal aus dem Deutschen Bun-
destag; das haben Sie, Herr van Essen, schon angespro-
chen. Sie brauchen unsere Unterstützung gegen Gewalt
und gegen Widerstand in jeder Form. Dafür stehen wir
hier im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend ein.


(Beifall bei der SPD)

Sie brauchen Dank für ihre Arbeit. Sie brauchen unsere
Unterstützung. Sie brauchen auch im täglichen Geschäft
unsere Wertschätzung.

Ich bin unterwegs gewesen und habe mit Polizistin-
nen und mit Polizisten ganz offen diskutiert. Ich habe Ih-
nen gesagt: Ich bin Mitglied des Deutschen Bundestages
und sitze im Rechtsausschuss. Sagt mir bitte, ob ihr eine
Strafverschärfung braucht. – Die Rückmeldung, die ich
bekommen habe, lautete ganz überwiegend: Wir brau-
chen Unterstützung von unseren Dienststellen bei der
Anwendung des geltenden Rechts. Wir brauchen Unter-
stützung der Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von
Straftätern. Wir brauchen außerdem Unterstützung bei
der Durchführung der gerichtlichen Verfahren. Das war
unisono die Rückmeldung, die ich in diesen Gesprächen
bekommen habe. Ich habe nicht gehört, dass Strafver-
schärfung hierfür das richtige Mittel ist.

Trotzdem möchten ich konstatieren, dass der Gesetz-
entwurf auch einige richtige Aspekte enthält, die wir als
SPD-Fraktion durchaus würdigen. Wir halten es für rich-
tig, in den Geltungsbereich des § 114 die Feuerwehr, die
Rettungsdienste und insbesondere – auch dafür haben
wir uns eingesetzt – den Katastrophenschutz einzubezie-
hen. Hierzu hatten wir eine gute Diskussion. Ich habe
mich in dem Zusammenhang darüber informiert, wie es
derzeit bei der Feuerwehr und den Rettungsdiensten aus-
sieht. Da war ich schon erschrocken – ich rede jetzt nicht
von 30 Prozent –, insbesondere von Feuerwehrleute zu
hören, dass sie zunehmend auf Widerstand stoßen und
attackiert werden. Nennen Sie mich bitte naiv, aber da-
rüber habe ich mich gewundert; denn ich ging nicht da-
von aus, dass Menschen gegenüber jemandem, der
kommt, um andere Menschen zu retten, Widerstand leis-
tet.


(Otto Fricke [FDP]: Das ist nicht naiv, das ist gute Erziehung!)


Die Einbeziehung des Katastrophenschutzes, der Feuer-
wehr und der Rettungsdienste begrüßen wir insofern
ganz ausdrücklich.

Wir begrüßen ebenfalls ausdrücklich die Einbezie-
hung der Definition „ein anderes gefährliches Werk-
zeug“ in die Norm. Das ist ein richtiger Schritt.

Von der Gesamtanlage sind wir zwar durchaus kri-
tisch – das habe ich für die SPD-Bundestagsfraktion be-
reits gesagt –, aber wir erkennen einige gute Ansätze. Es
möge nützen! In diesem Sinne: Hoffen wir, dass das
starke Signal ankommt und dass es nicht nur ein sym-
bolischer Akt ist, sondern auch die Richtigen erreicht
und die zunehmende Gewalt gegen Polizeibeamtinnen
und -beamte verhindert.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trügerische Hoffnung!)


Deswegen ist dieser Schritt richtig.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Stimmen Sie denn zu?)







(A) (C)



(D)(B)


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712022900

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für

die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Ansgar
Heveling.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1712023000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

Hamburg wurden im Juni des letzten Jahres fünf Polizis-
ten brutal mit Steinen angegriffen und durch Fußtritte
schwer verletzt. Der Einsatz war eigentlich ein Routine-
einsatz; die Beamten hatten nicht mit dem Angriff ge-
rechnet. In Mönchengladbach erlitt im August 2010 ein
Polizist schwerste Kopfverletzungen. Nach einem Ein-
bruch wollten die Polizisten bei einer Gruppe von Män-
nern im Umfeld des Tatorts die Personalien feststellen –
eigentlich eine Routineangelegenheit. Gleich zweimal in
einer Woche wurde im September des vergangenen Jah-
res in Dachau eine 17-Jährige auffällig. Zuerst bewarf
sie einen Polizeiwagen mit einer Flasche und leistete
dann bei der anschließenden Ingewahrsamnahme hefti-
gen Widerstand. Wenige Tage später kam sie zur Polizei-
station zurück, beschimpfte die Beamten und leistete
wiederum heftigen Widerstand, als sie in Gewahrsam
genommen wurde.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das alles hört ab morgen auf!)


Das sind drei wahllos aus der Presseberichterstattung he-
rausgegriffene Fälle.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712023100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage unse-

res Kollegen Jerzy Montag?


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1712023200

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712023300

Bitte schön, Herr Kollege.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712023400

Herr Kollege, auch Sie haben jetzt einige Beispiele

genannt. Seit Monaten hören wir in dieser Debatte im-
mer wieder Beispiele. Würden Sie mir zustimmen, dass
alle Beispiele, die Sie genannt haben, Straftatbestände
beschreiben – versuchter Totschlag, gefährliche Körper-
verletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung, anderes ge-
fährliches Vorgehen –, die mit dem Widerstandsbegriff
in § 113 überhaupt nichts zu tun haben? Wären Sie be-
reit, zuzugestehen, dass Ihre eigenen Beispiele nicht dem
Thema gerecht werden, über das wir heute reden?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1712023500

Lieber Herr Kollege Montag, zum einen habe ich

diese Frage erwartet,

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hätten Sie andere Beispiele nehmen sollen!)


zum anderen waren es eigentlich zwei Fragen; denn der
zweite Teil Ihrer Ausführungen bezog sich eigentlich gar
nicht auf die erste Frage.

Ich bin natürlich bereit, anzuerkennen, dass in dem
diskutierten Zusammenhang auch andere Straftatbe-
stände relevant werden, was im Übrigen im Bereich des
Strafrechts ein ganz normaler Vorgang ist; denn in den
meisten Fällen sind in eine Handlung unterschiedliche
Straftatbestände einbezogen. Trotzdem wird man letzt-
lich wegen aller Straftatbestände angeklagt; und es ist
später eine Frage der Strafzumessung, wie die einzelnen
Straftatbestände berücksichtigt werden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Anzeige wegen Privilegierung!)


Insofern machen die Beispiele im Kontext „Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte“ in der Tat Sinn.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, gut!)


– Herr Montag, schön, dass Sie sich schon hingesetzt ha-
ben, aber ich war eigentlich noch mit der Beantwortung
der Frage beschäftigt. Wenn Sie aber den Rest nicht
mehr hören wollen, dann höre ich gerne auf und mache
weiter.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Sitzen hören wir den Rest!)


Schon diese drei Fälle lassen ein Muster erkennen,
das die Polizei sowie andere Einsatz- und Rettungskräfte
vermehrt beschäftigt: Fälle, die zeigen, dass sich in unse-
rer Gesellschaft etwas verändert hat; Fälle, die zeigen,
dass wir uns diesen Konstellationen ohne ideologische
Scheuklappen nähern müssen, egal von welchen politi-
schen Seiten wir kommen.

Ich bin mir natürlich bewusst, dass der Straftatbe-
stand „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ poli-
tisch aufgeladen ist. Während konservativ veranlagte
Menschen wie ich da oft an Demonstrationssituationen
denken, mag bei anderen ein anderes Bild im Kopf be-
stehen. Ohne Frage sind Übergriffe im Rahmen von De-
monstrationen nach wie vor auch eine strafrechtlich
nicht zu vernachlässigende Größe. Gerade in diesen Fäl-
len ist auch – das zeigen Untersuchungen – der Einsatz
von Waffen häufig.

Unser Hauptaugenmerk muss aber den Situationen
gelten, die ich in den eingangs beispielhaft genannten
Fällen beschrieben habe. Sie zeigen eine neue Qualität
von Angriffen auf Polizistinnen und Polizisten sowie auf
andere Einsatz- und Rettungskräfte. Es geht um An-
griffe, die in scheinbaren Routinesituationen erfolgen,
um ein dumpfes Draufschlagen aus ebenso dumpfer
grundsätzlicher Feindschaft gegen die Polizei und den
Staat schlechthin. Oftmals ist auch noch Alkohol im
Spiel.

Keine Frage, das Problem ist vielschichtig und bedarf
eines Ansetzens an vielen Stellen. Respekt vor dem Staat





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

und seinen Organen erzeuge ich sicherlich nicht oder
nicht allein durch Repressionen und die Mittel des Straf-
rechts. Strategien hierfür müssen früher und an anderer
Stelle ansetzen. Aber angesichts dieser Entwicklung dür-
fen wir gerade die Instrumente des Strafrechts auch
nicht aus dem Blick lassen. Wenn sich – die Zahlen be-
legen dies – eine zunehmende Bereitschaft zur Gewalt
in der gesamten Bandbreite – beim einfachen Streifen-
gang wie bei der Großdemonstration – konstatieren
lässt, müssen wir darauf auch aus dem Blickwinkel des
Strafrechts reagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben uns entschieden, hier anzusetzen. Es ist ein
klares Signal an die zur Vollstreckung berufenen Organe
– seien es Polizisten, Gerichtsvollzieher, Justizvollzugs-
beamte oder sonstige Amtsträger im Sinne des § 11 des
Strafgesetzbuches –, dass der Strafrahmen in § 113 er-
höht wird. Zwar sollte durch den niedrigeren Grundstraf-
rahmen eine Privilegierung in der konkreten Tatsituation
gegenüber dem Straftatbestand der Nötigung zum Aus-
druck kommen – sprich: es sollte zu berücksichtigen
sein, dass sich der Täter in einer Extremsituation befin-
det, weil er sich der staatlichen Gewalt ausgesetzt fühlt –,
aber die Wirklichkeit in unserer Gesellschaft zeigt eben,
dass wir es mit einem veränderten Täterbild zu tun ha-
ben. Mehr und mehr geraten die staatlichen Organe in
eine Extremsituation, weil sie sich jederzeit einer unkon-
trollierten und unerwarteten Gewaltsituation ausgesetzt
sehen können.

Leider zeigt sich, dass der Respekt gegenüber dem
Staat und damit der Respekt vor den für ihn Handelnden
sinkt. Dies drückt sich auch in den deutlich gestiegenen
Zahlen der Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte
aus. So sind ausweislich der polizeilichen Kriminalsta-
tistik die Fälle von Widerstandshandlungen von 1993 bis
2009 um 44 Prozent auf 26 344 Fälle gestiegen.

Es ist der christlich-liberalen Koalition ein ganz be-
sonderes und ein grundsätzliches Anliegen, die staat-
liche Handlungsfähigkeit und Sicherheit zu gewährleis-
ten; denn geben wir diese Werte preis, geben wir auch
das Vertrauen der Bürger, dass der Staat sie schützen
kann, preis. Ist der Staat nicht in der Lage, sein Handeln
und die Personen staatlichen Handelns zu schützen, wer-
den wir dem Bürger auch nicht vermitteln können, dass
wir in der Lage sind, ihn, den Bürger, zu schützen. Damit
würde das Gewaltmonopol des Staates insgesamt infrage
gestellt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was für Vollstreckungs- und Vollzugsbeamte im Ein-
satz gilt, muss auch für Rettungs- und Einsatzkräfte gel-
ten: also zum Beispiel für Feuerwehrleute und Angehö-
rige des Technischen Hilfsdienstes, die bei Gefahren,
Unglücken und Katastrophen auch Angriffen von ge-
waltbereiten Personen an Einsatzorten ausgesetzt sind.
Anders als Polizisten, Gerichtsvollzieher und Justizvoll-
zugsbeamte zum Beispiel sind diese Personen oftmals
nicht Amtsträger und deshalb nicht von § 113 erfasst.

Derjenige, der sich gegen den Vollzugsakt eines Poli-
zeibeamten wehrt, ist im Zweifel auch gegen die am Ein-
satzort anwesenden Sanitäter, Feuerwehrleute und Ret-
tungskräfte gewaltbereit. Häufig unter Alkoholeinfluss
gewinnt der Widerstand gegen jegliche Maßnahmen eine
Eigendynamik und richtet sich gegen alles und jeden,
der an der Abwicklung beteiligt ist. Berichte von Feuer-
wehrleuten sowie Einsatz- und Rettungskräften haben
uns immer wieder deutlich gemacht, dass die Gewaltbe-
reitschaft auch gegen diese Rettungs- und Hilfskräfte zu-
nimmt und dass diese sich gegen die Angriffe nicht aus-
reichend geschützt fühlen. Hier geht es um ein positives
Signal an die Berufstätigen in diesem Bereich: Wir wol-
len sie vor Nötigung und Gewalttaten schützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schließlich passen wir die Regelbeispiele des § 113
Abs. 2 StGB an die Rechtsprechung an. Das Bundesver-
fassungsgericht hat im Jahr 2008 die bis dahin gängige
Auslegung des Begriffs „Waffe“ als zu weit beanstandet.
So wurden nicht nur klassische Waffen wie Schuss-,
Hieb- und Stichwaffen sowie Wurfgeschosse unter den
Waffenbegriff subsumiert, sondern auch andere Gegen-
stände, die konkret zum Angriff genutzt wurden. In dem
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu-
grunde liegenden Fall ging es konkret um ein Kraftfahr-
zeug, das als „Waffe“ eingesetzt wurde. In Zukunft wer-
den diese bisher untechnisch als „Waffe“ bezeichneten
Gegenstände nunmehr als „andere gefährliche Werk-
zeuge“ erfasst sein.

Quintessenz unserer Änderungen ist und bleibt aber:
Wir lassen am staatlichen Gewaltmonopol nicht rütteln.
Der Schutz von Polizistinnen und Polizisten sowie ande-
ren Vollstreckungsbeamten bedeutet Schutz und Sicher-
heit für unsere Bürger.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712023600

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion Die Linke unser Kol-
lege Jörn Wunderlich. Bitte schön, Herr Kollege Jörn
Wunderlich.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712023700

Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Man sollte regeln, wo Rege-
lungsbedarf ist. Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht
es fast ausnahmslos um Strafverschärfungen. Die Anhe-
bung des Strafrahmens in § 113 StGB – Widerstand ge-
gen Vollstreckungsbeamte – ist unangemessen und nicht
notwendig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist schon gesagt worden: Der unter diesen Tatbe-
stand fallende Täter war bisher beispielsweise gegenüber
dem Tatbestand der Nötigung privilegiert. Diese Privile-
gierung folgte der Erkenntnis, dass es in Vollstreckungs-
situationen leicht zu Affekthandlungen des Betroffenen
oder eines Dritten, der für ihn Partei ergreift, kommen





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

kann. Die Privilegierung trug diesem nachvollziehbaren
Umstand Rechnung. Jetzt wird die Privilegierung ohne
Anführung von Argumenten abgeschafft.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht aber die Irrtumsproblematik! Organisierter Irrsinn!)


Alkoholisierte oder sich im Recht glaubende Perso-
nen, worum es sich bei den Tätern im Sinne des § 113
StGB meist handelt, lassen sich doch nicht durch einen
höheren Strafrahmen abschrecken. Sie machen zu Be-
ginn der Tat keine Kosten-Nutzen-Abwägung, sondern
handeln spontan und emotional.


(Florian Toncar [FDP]: Das hätte interessante Konsequenzen, wenn wir das überall so sehen würden!)


Gegenwärtig wird in den abgeurteilten Fällen des § 113
– die Zahlen, die Herr van Essen genannt hat, bezogen
sich nur auf Anzeigen, nicht auf abgeurteilte Taten –


(Beifall bei der LINKEN)


der Strafrahmen von den Gerichten äußerst selten nach
oben hin voll ausgenutzt. Deshalb frage ich: Warum sol-
len wir den Strafrahmen weiter erhöhen?

Bei dem Gesetzentwurf handelt es sich wirklich um
reine Symbolpolitik. Es ist doch kriminologisch erwie-
sen, dass eine Strafandrohung allein keine abschre-
ckende Wirkung hat. Man muss auch sagen: Die Sorgen
der Polizei werden doch nicht dadurch gelöst oder ver-
ringert, dass wir die Zahl der Stellen auf Landesebene
um 30 Prozent reduzieren und dafür den Strafrahmen des
§ 113 StGB um 50 Prozent anheben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Kümmern Sie sich mal in Berlin darum! 4 000 Stellen in den letzten zehn Jahren abgebaut!)


Dadurch ist die Welt nicht wieder in Ordnung. Wer das
glaubt, hat von Kriminologie, von der Justiz und vom
Polizeidienst keine Ahnung. Gehen Sie raus, reden Sie
mit den Polizisten! Die Realität sieht ganz anders aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann nur sagen: Willkommen in der Wirklichkeit.

Die Einbeziehung von Feuerwehrleuten und Ret-
tungskräften ist nicht sachgerecht; denn sie wurden be-
reits – das ist schon gesagt worden – durch § 240 StGB
und andere Strafrechtsnormen entsprechend geschützt.

Ich halte es auch für verfehlt, die Wörter „gefährli-
ches Werkzeug“ in den Gesetzentwurf aufzunehmen und
dies letztendlich mit Waffen gleichzusetzen. Von Waffen
geht eine andere Gefährdung aus. Bislang konnte der er-
kennende Richter, wenn gefährliche Werkzeuge mitge-
führt wurden, dies in der Strafzumessung berücksichti-
gen. Das muss man nicht als Tatbestandsmerkmal in den
Paragrafen aufnehmen.


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Schon einmal etwas von der Warnfunktion des Tatbestandes gehört?)

Das einzig Positive an dem Gesetzentwurf ist die Ein-
führung des minderschweren Falls beim Diebstahl mit
Waffen. Bislang zieht allein das Mitführen einer Waffe
eine erhöhte Strafe nach sich, auch wenn nicht die Ab-
sicht bestand, sie zu benutzen. Das hat in der Vergangen-
heit im Einzelfall zu ungerecht hohen Strafen geführt.
Das einzig Positive an diesem Gesetzentwurf ist also,
dass jetzt der minderschwere Fall eingeführt wird. We-
gen seines repressiven Charakters – außer bei diesem
Punkt – ist der Gesetzentwurf im Übrigen in Gänze ab-
zulehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Deutsche Anwaltverein und der Deutsche Richter-
bund haben sich in ihren Stellungnahmen und in der An-
hörung am 27. Januar ganz überwiegend ablehnend zu
dem Gesetzentwurf geäußert.

Die Strafbarkeitslücke, die es möglicherweise zu
schließen gilt, wird in dem Gesetzentwurf weder be-
hauptet noch dargestellt noch ist sie an irgendeiner Stelle
ersichtlich. Der Polizei soll ein bisschen der Bauch ge-
streichelt werden, ohne dass ihr tatsächlich geholfen
wird. Wir sollten keine Gesetzentwürfe verabschieden,
die lediglich Symbolcharakter haben, sondern, wie ein-
gangs gesagt, dort regeln, wo Regelungsbedarf ist.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712023800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-

serer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
unser Kollege Jerzy Montag. Bitte schön, Herr Kollege
Montag.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712023900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der

letzten Woche konnte die Öffentlichkeit in der Zeit über
die Koalition und die Regierung ein vernichtendes Urteil
lesen.


(Sebastian Edathy [SPD]: Nicht nur da!)


Das Urteil lautete – ich darf zitieren –: Wir haben die
„schlechteste Regierung seit 1949“.


(Zurufe von der SPD: Sehr wahr! – Dr. JanMarco Luczak [CDU/CSU]: Sie lesen die falsche Zeitung!)


Das Urteil war eine Mischung aus Hohn und Spott, ge-
mischt mit leichter Verzweiflung. Unter der Überschrift
„Kopflos glücklich“ wurde der Regierung und der Koali-
tion völlige Unfähigkeit attestiert.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ein wahres Wort!)


Mit diesem Gesetzentwurf sind Sie auch auf dem Ge-
biet der Rechtspolitik auf diesem Niveau angekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)






Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

– Hören Sie mir einmal zu. – Es ist interessant, was Ju-
rastudenten zurzeit über Ihre Reform des § 113 StGB
– Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte – lernen. In
der Aprilausgabe der Juristischen Arbeitsblätter – Grund-
studium –


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Wer liest das denn? Damit fällt man durch das Studium!)


liest unter anderem meine Tochter, die jetzt Jura studiert,
über Sie – das lernen alle Jurastudenten in Deutschland –:
Das systematische Verhältnis zwischen den §§ 113 und
240 StGB wird auf den Kopf gestellt. Eine rechtsgutorien-
tierte Anwendung wird ungemein erschwert. Zum
Schluss steht da – Zitat –: Die abwegigen Gesetzesbe-
gründungen zeigen, dass sich der Gesetzgeber weder des
Privilegierungscharakters der Norm noch ihres Schutz-
zwecks auch nur im Ansatz bewusst ist.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein vernichtendes Urteil! – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Haben Sie das geschrieben? Ist das Ihr Artikel?)


Das lernen Jurastudenten in diesen Monaten über den
Gesetzentwurf, über den wir hier diskutieren.

Der Deutsche Richterbund sagt Nein zu diesem Ge-
setzentwurf. Die Anwaltsverbände sagen Nein. Von drei
Sachverständigen, die wir angehört haben, haben zwei
erklärt, sie lehnen diese Regelung ab. Der Dritte war ein
Vertreter des Deutschen Feuerwehrverbandes. Er hat so-
zusagen in eigener Sache geredet, als er angehört wor-
den ist.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ja, ja!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712024000

Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Siegfried Kauder?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712024100

Es ist zu spät. Alle wollen nach Hause. Heute nicht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Was Sie da betreiben, ist eine unheilvolle Zersetzung
des rechtsgüterorientierten, systematisch geordneten
Strafrechts nur und ausschließlich zugunsten von reins-
tem Populismus, ohne jeglichen Sinn und Verstand.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das ist man von Ihnen gar nicht gewöhnt! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie übertreiben!)


Die Gesetzentwürfe von Bundesregierung und Bun-
desrat beginnen mit dem Hinweis, dass Vollstreckungs-
beamte und Polizeibeamte in den letzten Monaten und
Jahren vermehrt angegriffen und verletzt worden sind.
Das ist richtig; das stimmt.


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Dafür haben wir Straftatbestimmungen: von Mord und
Totschlag über gefährliche Körperverletzung und
schwere Körperverletzung bis runter zur Nötigung.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Ihre Rede ist auch Körperverletzung!)


Diese Straftaten sind alle mit Strafrahmen bewehrt, die
höher sind als derjenige, den Sie jetzt für den Wider-
standsparagrafen anbringen wollen. Deswegen sage ich
Ihnen: Diese Reform ist nur ein fragwürdiges Signal an
die Polizei – wir tun irgendetwas für euch –,


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die Polizei begrüßt es!)


und macht darüber hinaus überhaupt keinen Sinn. Die
Täter erreichen Sie so sowieso nicht. Sie müssten die
Deutsche Richterzeitung lesen. Darin stand im April et-
was über die Typologie des Täters, der Widerstand leis-
tet. Dort stand, dass er sich um eine Strafrahmenerhö-
hung von zwei auf drei Jahre nicht im Geringsten schert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Deswegen erinnere ich Sie zum Schluss an das, was
die Bundesjustizministerin in der letzten Woche im Vor-
griff auf die Strafrechtslehrertagung in Leipzig gesagt
hat: Wünsche nach ständiger Ausdehnung des Straf-
rechts sind zurückzuweisen. Neue Gesetze sind nur reine
Symbolpolitik. Diejenigen, die immer davon sprechen,
dass Strafbarkeitslücken geschlossen werden müssen,
blenden aus, dass das Strafrecht als Allheilmittel zur Lö-
sung gesellschaftlicher Probleme nicht taugt. – Das sind
die Worte Ihrer Bundesjustizministerin.

Deswegen sage ich, Herr Kollege Stadler: Diesen Ge-
setzentwurf der Koalition hätten Sie sich von der CDU
niemals aufzwingen lassen dürfen. Er ist schlecht und
unbrauchbar, und wir lehnen ihn ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712024200

Herr Kollege Montag, Ihr Wunsch, nach Hause gehen

zu wollen, ist nachvollziehbar. Trotzdem hat es den Kol-
legen Siegfried Kauder nicht daran gehindert, sich zu ei-
ner Kurzintervention zu melden. – Bitte schön, Kollege
Siegfried Kauder.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr sitzt so nahe beisammen, dass ihr das untereinander lösen könnt! – Heiterkeit)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege Montag, erstens schätze ich es durch-
aus, wenn Sie im Rechtsausschuss sachlich argumentie-
ren; aber hier haben Sie unnötig den Scharfmacher ge-
spielt. Sie haben aus den Juristischen Arbeitsblättern
zitiert. Mich würde interessieren, wer das geschrieben
hat, ob das ein Professor oder so ein Scharfmacher wie
Sie war. Das ist vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung.





Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)



(A) (C)



(D)(B)


(Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein falscher Doktor aus der CDU/CSU-Fraktion!)


Zweitens. Herr Kollege Montag, was Konkurrenz-
lehre ist, brauche ich Ihnen nicht zu erklären;


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte nicht, nein!)


Sie wissen es. Bei einem Tötungsversuch, von dem der
Täter zurücktritt, bleibt § 113 StGB übrig. Auch bei ei-
ner gefährlichen Körperverletzung, von der der Angrei-
fer zurücktritt, bleibt § 113 StGB übrig. Das ist einfache
Konkurrenzlehre. Das lernt Ihre Tochter schon im zwei-
ten Semester. Deswegen sollten auch Sie es wissen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihre Tochter lernt aber auch, was Generalprävention
ist. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass Strafe
nicht abschreckt, brauchen wir sie nicht. Dann können
wir es ganz sein lassen. Es ist anerkannt, dass General-
prävention ein strafverschärfendes Mittel darstellt, wel-
ches wichtig und notwendig ist. Deswegen wissen Sie
genau, dass das, was Sie erzählt haben, Unfug war. Blei-
ben Sie bei dem Niveau, das Sie im Rechtsausschuss
pflegen, dann können wir auch wieder anständig mit-
einander umgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712024300

Das Wort zur Entgegnung hat Kollege Jerzy Montag.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wer hat den Aufsatz geschrieben?)



Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712024400

Danke sehr, Herr Präsident. – Die Beispiele, die Sie in

Bezug auf die Konkurrenzlehre erwähnt haben, können
wir im Rechtsausschuss oder im Rahmen eines Privatis-
simums miteinander diskutieren. Das waren aber nicht
die Fälle, die der Kollege Heveling angesprochen hat. Es
sind auch nicht die Fälle von brutalen Übergriffen auf
die Polizei, die in der Öffentlichkeit seit Jahren – völlig
zu Recht, wie ich finde – diskutiert werden. Da gibt es
keinen strafbefreienden Rücktritt. Es gibt da Verletzte
bzw. Polizeibeamte, die im Krankenhaus landen, und es
gibt Sachbeschädigungen. Das alles muss und kann un-
sere Rechtsordnung ohne Ihr Gesetz von heute sehr wohl
ahnden und verfolgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu der Frage, wer hier polemisiert oder nicht, will ich
Ihnen Folgendes sagen: Ich habe keine linksradikale
Kampfzeitschrift zitiert, sondern die Zeit. Die mögen Sie
nicht mögen; aber dass es eine seriöse Zeitung ist, Herr
Kollege, werden Sie nicht abstreiten können. Es war nun
einmal in der Zeit der letzten Woche zu lesen, dass wir
die schlechteste Regierung seit 1949 haben und dass Sie
sich auf allen Politikfeldern nur durch Unfähigkeit aus-
zeichnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP)


Zum Schluss komme ich zu den Juristischen Arbeits-
blättern. Ich habe aus einem Beitrag zitiert, der nicht von
einer Studentin oder einem Studenten und auch nicht
von einem wild gewordenen Rechtsreferendar geschrie-
ben worden ist, sondern von Herrn Professor
Dr. Nikolaus Bosch, der – man höre und staune – in Bay-
reuth, also an einer bayerischen Universität, lehrt. So
viel zu Ihren Überlegungen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712024500

Wir fahren in unserer Debatte fort. Für die Fraktion

der CDU/CSU hat Kollege Armin Schuster das Wort.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1712024600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Herr Montag, auch wenn das nicht
die beste Rede seit 1949 in diesem Hause war,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sie war schon gut!)


möchte ich mich erbarmen und Ihrer Tochter Unterstüt-
zung anbieten.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die braucht sie von Ihnen sicher nicht!)


Als ehemaliger Behördenleiter – das darf ich Ihnen ver-
sichern – war eine meiner allerbesten Erfahrungen,
junge Staatsanwälte nach ihrer juristischen Ausbildung
in meine Behörde zu bitten – meistens haben die LOStA
das mitgemacht – und sie eine komplette Schicht mit
ganz normalen Polizeibeamten mitfahren zu lassen. Sie
ahnen nicht, von wie vielen juristischen Schriften und
Kommentaren die sich danach gedanklich verabschiedet
haben


(Sebastian Edathy [SPD]: Das ist aber schlecht! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für ein antiakademischer Anspruch?)


und gesagt haben: Jetzt habe ich gelernt, wie ich juristi-
sches Wissen mit Praxis kombinieren muss. – Das ist
das, was Herr Kauder Ihnen erklärt hat. Schicken Sie
Ihre Tochter einmal eine Schicht lang zu den 250 000
Polizistinnen und Polizisten, die tagtäglich in diesem
Land für die Sicherheit sorgen und das Gewaltmonopol
durchsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Bürger hat das Recht, bei Gefahr Schutz zu su-
chen und auszuweichen. Wir verlangen von Vollzugs-
und Vollstreckungsbeamten, dass sie ihrer Pflicht nach-
kommen und aktiv einschreiten. Diese Pflicht bürden
wir ihnen per Gesetz auf. Sie tragen damit erhöhte Ge-





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)

fahren, oft zum Nachteil ihrer Gesundheit. Deswegen
müssen wir hier darüber diskutieren, wie wir diesen Be-
amten einen besonderen Schutz bieten; diese Debatte ist
richtig.

Polizeidienst auf der Straße wird leider immer gefähr-
licher, und dabei kommt es immer häufiger zu offener
Feindschaft. Herr Montag, ich erspare Ihnen jetzt die
Aufzählung von Beispielen. Sie haben mich durch Ihre
Rede nicht davon überzeugt, dass der Gesetzentwurf
falsch ist. Es gibt aber nicht nur Gefahren bei Demon-
strationen; diese werden immer hervorgehoben. Für
mich ist der alltägliche Einsatz, wo die Lagen eskalieren,
viel prekärer. Beamte werden bespuckt, getreten, ge-
schlagen, mit Flaschen und Steinen beworfen, sogar mit
Waffen bedroht oder angegriffen. Dass eine enorme Er-
höhung der Zahl solcher Vorkommnisse in der PKS
nachweisbar ist, haben Sie gehört. Dass PMK, politisch
motivierte Kriminalität, insbesondere von links, dabei
eine erhebliche Rolle spielt, finde ich besonders besorg-
niserregend. Über die Dunkelziffer haben wir nicht ge-
sprochen. Wir wissen nicht, wie viele Delikte von Poli-
zeibeamten gar nicht erst angezeigt werden. Das ist noch
gar nicht zur Sprache gekommen.

Am 17. November 2010 wurde ein Rettungssanitäter
während eines Notfalleinsatzes der Feuerwehr Bremer-
haven schwer verletzt, als zwei Männer ohne Vorwar-
nung und ohne erkennbaren Grund auf ihn einschlugen.
Diese – auch durch Studien belegte – zunehmende Ge-
walt zeigt, wie wichtig es ist, den strafrechtlichen Schutz
für die Angehörigen der Polizei, der Rettungs- und Kata-
strophenschutzdienste und der Feuerwehr schnell und
spürbar zu verbessern. Es ist richtig, dass die Koalition
mit der Verschärfung des § 113 Strafgesetzbuch ein Zei-
chen setzt: Wir stehen hinter unseren Einsatzkräften. Der
Staat duldet diese Taten nicht, im Gegenteil: Wir verur-
teilen sie. Das möchte ich hier ganz nachdrücklich zum
Ausdruck bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Frau Dr. Högl, ich weiß nicht, mit welchen Polizei-
beamten Sie gesprochen haben. Ich spreche regelmäßig
in Arbeitskreisen mit Polizisten. Diese sagen mir: Das ist
keine Symbolpolitik. Wir erwarten von euch glasklar
eine Strafverschärfung. Das ist eine ganz klare Erwar-
tung. Deswegen bin ich heute froh, dass wir politisch
endlich liefern. Ich werde seit eineinhalb Jahren gefragt,
wann wir endlich etwas tun. Wenn ich den Polizisten
nun am Samstag gegenüberstehe, habe ich ein gutes Ge-
fühl. Wir wissen: Widerstand gegen Vollstreckungs-
beamte ist in bestimmten Bereichen mittlerweile zum
Kavaliersdelikt, fast zum Angeberdelikt geworden. Des-
halb wollen wir hier ausdrücklich zeigen, dass wir das
nicht dulden.

Dass Rettungskräfte, Feuerwehrleute und THW-Ein-
satzkräfte einbezogen werden konnten, finde ich beson-
ders gut. Ich verspreche Ihnen – insbesondere Ihnen,
Frau Dr. Högl, weil Sie uns eine Chance geben; das habe
ich wohl gehört –, dass dieses Gesetz seine Wirkung in
der Praxis nicht verfehlen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was Polizisten und Rettungskräfte betrifft, haben wir
alles getan, um deeskalierend zu wirken. Wir trainieren
sie. Wir verbessern die Eigensicherung. Wir sorgen für
klare Befehlstaktik und gute Einsatzführung. Wenn Täter
dennoch vorsätzlich gewalttätig werden, ist das ein uner-
hörter Angriff auf unsere Polizeibeamten, aber auch auf
unseren Rechtsstaat. Daher stimmen wir der heute vor-
geschlagenen Verschärfung der Gesetzeslage, die aller-
dings mit einer deutlichen Verbesserung des präventiven
Schutzes unserer Einsatzkräfte einhergeht, ausdrücklich
zu.

Abschließend: Ich freue mich – jetzt, kurz vor der
Sommerpause, sogar ganz besonders –, dass wir mit der
Verlängerung der Antiterrorgesetze und der Verschär-
fung des § 113 des Strafgesetzbuches die von uns erwar-
teten klaren Zeichen an die Betroffenen – sprich: an die-
jenigen, die in diesem Land im Bereich der inneren
Sicherheit tätig sind – gegeben haben.


(Sebastian Edathy [SPD]: Was ist denn mit der Vorratsdatenspeicherung?)


– Dazu komme ich noch.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712024700

Ich glaube nicht, dass Sie dazu noch kommen, weil

Ihre Redezeit nicht ausreicht.


(Heiterkeit – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu den Antiterrorgesetzen hatten wir ja noch nicht mal die erste Lesung!)



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1712024800

Die Antwort will ich ihm nicht schuldig bleiben: Das

Glück wäre gar nicht auszuhalten gewesen, wenn wir
auch noch eine Regelung zur Vorratsdatenspeicherung
hinbekommen hätten.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Um Gottes willen!)


Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin für das zweite Halb-
jahr dieses Jahres optimistisch. Schnell und falsch kann
nämlich jeder.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Das merken wir ständig! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das denn heißen? Das sagt mir gar nichts!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712024900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die

Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Sebastian
Edathy. Bitte schön, Herr Kollege.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1712025000

Herr Präsident! Guten Abend, sehr geehrte Damen

und Herren! Herr Schuster hat etwas Richtiges gesagt:
Schnell und falsch kann jeder. – Langsam, träge und
falsch, das bekommt allerdings nur Schwarz-Gelb hin,
wie wir seit zwei Jahren beobachten können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Herr Schuster, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Unionsfraktion und aus dem übrigen Hause, bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf geht es nicht um eine mas-
sive Verschärfung des Strafgesetzbuches. Das kann man
schon dem Umstand entnehmen, dass die FDP dem Ge-
setzentwurf zustimmt. Wenn es im Bereich der inneren
Sicherheit um wirklich wichtige Stellschrauben geht,
tritt die FDP auf die Bremse. Sie sind offenkundig gut-
gläubig genug, sich mit Placebos abspeisen zu lassen;
das ist von vielen Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Opposition zu Recht gesagt worden. Auch
wenn Sie, Herr Schuster, von schweren Körperverlet-
zungen gesprochen haben, muss ich Ihnen sagen: In den
einschlägigen Kapiteln des Strafgesetzbuches ist ein
deutlich höheres Strafmaß als drei Jahre vorgesehen, wie
Sie es jetzt in § 113 des Strafgesetzbuches einführen
wollen. Hier sollte man redlich und realistisch bleiben.

Ich habe eben im Handbuch des Deutschen Bundes-
tages nachgeschlagen. Herr Schuster, Sie haben bis zum
Einzug in den Bundestag unter anderem leitende Funk-
tionen bei der Bundespolizei bekleidet. Ich kann Ihnen
nur sagen: In meinen Gesprächen, ob mit Landespolizis-
ten oder mit Vertretern der Bundespolizei, stellte ich
fest: Am meisten wurde von den Beamtinnen und Beam-
ten bemängelt, dass der Gesetzgeber bzw. die jeweils zu-
ständige Regierung nicht genug für ihre Motivation tut.
Ich glaube, Sie hätten einen größeren Beitrag zur Unter-
stützung der Bundespolizei geleistet, wenn Sie zum Bei-
spiel die sogenannten Weihnachtsgelder nicht weiterhin
eingefroren, sondern sie zur Steigerung der Motivation
der Beamten verwendet hätten.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Die Gewerkschaft der Polizei weist immer wieder da-
rauf hin, dass 10 000 Polizeibeamte fehlen. Ich glaube,
es wäre auch ein Gewinn für die innere Sicherheit, wenn
man dafür sorgen würde, dass hoch motivierte Beamte in
einen solchen Einsatz gehen und nicht solche, die schon
viele Überstunden geleistet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Beitrag, den man damit leisten würde, wäre mit Si-
cherheit größer als der Beitrag, den Sie durch die Verän-
derungen in § 113 des Strafgesetzbuches leisten.


(Burkhard Lischka [SPD]: Sehr wahr!)


Weil ich glaube, dass einige Beispiele, die die Redner
der Koalitionsfraktionen angeführt haben, irreführend
sind, will ich betonen: Nötigung wird schon jetzt mit ei-
ner Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft, in be-
sonders schweren Fällen sogar mit einer Freiheitsstrafe
von bis zu fünf Jahren. Körperverletzung wird schon
jetzt mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren be-
straft, gefährliche Körperverletzung sogar mit einer Frei-
heitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Das Einzige, das man
Ihrem Gesetzentwurf abgewinnen kann, ist, dass Sie in
§ 114 des Strafgesetzbuches auch diejenigen Kräfte, die
im Rettungsdienst und im Katastrophenschutz tätig sind,
aufnehmen; das ist richtig. Diese Berufsgruppen neben
den Polizeikräften auch in § 305 a des Strafgesetzbuches
aufzunehmen – hier geht es um die Sanktionierung der
Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel –, ist ebenfalls ver-
nünftig und richtig.

Unter dem Strich ist Ihr Gesetzentwurf ziemlich viel
Wind um ziemlich wenig Substanz. An dieser Stelle hat
Herr Montag recht: Ihr Gesetzentwurf reiht sich nahtlos
in die traurige Geschichte ein, in der es darum geht, was
Sie der Öffentlichkeit als vermeintliche Erfolge dieser
Koalition zu präsentieren versuchen.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Herr Montag hat doch den meisten Wind gemacht!)


Was den Bereich der inneren Sicherheit betrifft, ist das,
was Sie heute vorschlagen – ich will es einmal so formu-
lieren –, nicht schädlich, punktuell sogar begrüßenswert.
Aber im Grunde genommen ist es nichts, was uns sub-
stanziell voranbringt. Deswegen wird sich die SPD-
Fraktion bei der Abstimmung enthalten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1712025100

Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit sind wir am

Ende der Rednerliste.

Mir liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsord-
nung unseres Kollegen Kai Wegner von der Fraktion der
CDU/CSU vor.1)

Somit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Strafgesetzbuches – Widerstand gegen Vollstre-
ckungsbeamte. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6505, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/4143 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Das sind die Linksfraktion und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Das
ist die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Gesetzent-
wurf ist damit in der zweiten Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

1) Anlage 7





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)

und die Linksfraktion. Enthaltungen? – Das ist die Frak-
tion der Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist somit
angenommen.

Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6505, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/2165
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Ent-
haltungen? – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abge-
lehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die
dritte Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eva
Högl, Michael Hartmann (Wackernheim),
Christian Lange (Backnang), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD

Interessenvertretung sinnvoll regeln – Lobby-
ismus transparent machen
– Drucksache 17/6442 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Michael
Hartmann. Bitte schön, Kollege Michael Hartmann.


(Beifall bei der SPD)



Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1712025200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich darf Sie alle zu dieser späten sommerlichen
Abendstunde darum bitten, noch einen Moment einem
tatsächlich wichtigen Thema Aufmerksamkeit zu schen-
ken. Dieses Thema ist deshalb wichtig und zentral, weil
es nicht nur um die in dem Antrag formulierte Fragestel-
lung geht, sondern im Zusammenhang damit auch sehr
viel weiter gehende Aspekte diskutiert werden.

Wir hören immer wieder und zunehmend Klagen über
den abnehmenden Stellenwert, die abnehmende Bedeu-
tung des Parlaments und parlamentarischer Prozesse.
Unser Bundespräsident hat erst jüngst in einem Inter-
view davor gewarnt. Unser Bundestagspräsident wird
nicht müde, als unser Fürsprecher in dieser Sache zu
agieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir in Zeiten, in de-
nen das parlamentarische Regierungssystem vermeint-
lich in eine Krise zu geraten droht, auch Selbstheilungs-
kräfte entwickeln.

Ein Instrument, eine Therapie kann es sein, dass sich
das Parlament in Zeiten, in denen immer schneller im-
mer komplexere Entwürfe diskutiert und verabschiedet
werden müssen, in Zeiten, in denen es so aussieht, als
würden wir immer fremdbestimmter agieren, eigene
Entscheidungskompetenz mit Selbstbewusstsein zurück-
holt. Das gilt auch für das Thema Lobbyismus.

Es lässt sich natürlich nichts dagegen einwenden, dass
wir alle immer wieder mit interessengeleiteten Stellung-
nahmen aller möglichen Verbände und Vereinigungen
konfrontiert werden. Das beginnt meinethalben bei den
großen Kirchen und endet noch lange nicht beim BDI
und anderen Organisationen. Das ist in Ordnung.

Es geht aber darum, dass wir präziser und genauer al-
les das erfassen können, womit wir konfrontiert werden.
Mit unserem Antrag ist die Chance gegeben, hier tat-
sächlich weiter zu gehen.

Bereits seit 1972 – das wird niemand leugnen – haben
wir hier im Deutschen Bundestag eine Registrierungs-
pflicht für alle, die Zugang zum Parlament bekommen
sollen. Trotzdem kommt es einem gelegentlich so vor,
als würden sich die vielen Lobbyisten, die hier registriert
sind, wahnsinnig schnell vermehren.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Da stehen wir selbstbewusst drüber!)


Das ist also tatsächlich nicht das Problem. Zugang wird
gefunden. Daran, dass dieser Zugang immer legitimiert
und berechtigt ist, haben wir aber Zweifel.

Deshalb wollen wir mit Ihnen offen einen Antrag dis-
kutieren – das, was wir vorschlagen, ist nicht in Stein ge-
meißelt –, der vorsieht, dass erstens ein wahrhaftig ver-
bindliches Lobbyistenregister eingeführt wird, zweitens
ein Verstoß gegen die darin enthaltenen Regelungen nun
endlich sanktionsbewehrt wird und drittens – das ist für
uns der wichtigste Punkt – die Finanzierungsströme und
die Hintergründe der Finanzierung aller Lobbyistenver-
bände, die hier beim Deutschen Bundestag registriert
sein sollen, offengelegt werden;


(Beifall bei der SPD)


denn hinter manchem, der hier im Gewande des Schüt-
zers des Allgemeinwohls daherkommt, verbirgt sich eine
knüppelharte, egoistische und kleinkarierte Interessen-
vertretung.


(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Das wissen wir doch alles!)


Indem die Finanzierungsströme offengelegt werden,
wird dieses getarnte Unterwegssein in dieser Weise nicht
mehr möglich sein.

Denken Sie bitte darüber nach, ob es nicht mit Ihren
Stimmen seitens der Koalition möglich ist – ich weiß,
dass viele Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-
tionen das allgemeine Unbehagen teilen –, dass wir die-
ses verbindliche und transparente Lobbyistenregister un-
terhalb der Regelung eines Gesetzes im Sinne einer
Selbstreinigung und Selbstheilung einführen.

Das ist natürlich nur ein Mosaikstein neben vielen
weiteren Bemühungen. Dazu gehören auch – Sie wissen
es – die Registrierungspflicht und die Meldepflicht von





Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)

Externen in den Bundesministerien. Last, not least ge-
hört auch die Änderung des Straftatbestands der Abge-
ordnetenbestechung dazu; wir werden bald einen Vor-
schlag dazu unterbreiten.

Helfen Sie bitte mit, unser Parlament transparenter zu
machen. Helfen Sie mit, zu verhindern, dass Lobbyisten
hier scheinbar die Macht übernehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712025300

Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sagen Sie etwas Vernünftiges, Herr Kaster!)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1712025400

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Es ist gerade einmal drei Monate her, dass
wir hier den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Einführung eines Lobbyistenregisters diskutiert ha-
ben.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Schön, dass Sie es ansprechen!)


Ich habe den damaligen Antrag als einen Schaufenster-
antrag bezeichnet,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war schon damals falsch!)


und zwar deshalb, weil er ausschließlich darauf ausge-
richtet war, sich aktuelle politische Stimmungen zu Ei-
gen zu machen und den Begriff „Lobbyismus“ als – man
kann ihn inzwischen so bezeichnen – politischen Kampf-
begriff zu nutzen, trotz des Wissens, dass die parlamen-
tarische Wirklichkeit anders aussieht.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Der heutige Antrag ist nicht nur ein schlechter zweiter
Aufguss, sondern er ist mehr als ein Schaufensterantrag.
Ich muss das so sagen: Er ist quasi ein Phantomantrag,
der in den Details überhaupt nichts mehr mit unserer Ar-
beit zu tun hat.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kam er auf die Tagesordnung? – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ein Phantom stellt man nicht ins Schaufenster! Das sieht man doch gar nicht!)


Über Ihren Debattenbeitrag können wir diskutieren, aber
die Details Ihres Antrags haben mit der Wirklichkeit
nichts zu tun.

(Beifall des Abg. Manuel Höferlin [FDP] – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Seit wann lesen Sie unsere Anträge?)


– Ich habe ihn gelesen.

Damit ich nicht missverstanden werde: In Ihren Be-
gründungen stehen Formulierungen, die wir gemeinsam
durchaus sehr ernst nehmen müssen. Wenn im Land
wirklich der Eindruck entsteht, dass wir als Parlamenta-
rier nicht mehr in der Lage sind, Interessen richtig abzu-
wägen oder auch abzuwehren, und dass sich vielleicht
Interessen einseitig – ich sage es einmal so – auf dunklen
Wegen durchsetzen, dann muss uns das schon alarmie-
ren. Wenn es in der Parlamentspraxis denn so wäre!

Zunächst einmal sei festgestellt, dass unsere Parla-
mentariertätigkeit, ja, Politik überhaupt, letztlich nichts
anderes als die ständige Wahrnehmung von Interessen
ist.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ohne Frage!)


Das fängt bei jedem Kollegen schon in seiner Heimat an.
Jeder von uns bringt hier in Berlin Wahlkreisinteressen
ein. Das sind im Übrigen oft auch Wirtschaftsinteressen:
das Interesse am Erhalt und der Sicherung von Arbeits-
plätzen und Branchen, die im jeweiligen Wahlkreis von
besonderer Bedeutung sind.

Durch jeden Beschluss und jedes Gesetz treffen wir
Menschen und Gruppen unserer Gesellschaft mal posi-
tiv, mal negativ. Diese Menschen und Gruppen haben
sich in der Regel schon vorher durch Einzelstimmen,
Verbandsvertreter oder die Mobilisierung der Öffentlich-
keit gemeldet. Es ist sogar so, dass wir Interessenvertre-
ter sehr bewusst einladen, am Gesetzgebungsverfahren
teilzunehmen, indem wir öffentliche, transparente Anhö-
rungen durchführen,


(Florian Toncar [FDP]: Kaster ist ein vernünftiger Mann!)


mit der ausdrücklichen Erwartung, dass von den oft be-
schimpften Verbandsvertretern zusätzlicher Sachver-
stand in die Debatte, in die Diskussion eingebracht wer-
den kann. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie
wichtig mir als Abgeordneter von der Mosel die Stel-
lungnahmen der Bauern- und Winzerverbände waren, als
wir das Weingesetz diskutiert haben, um hier zu einer
guten Lösung zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck aufkommt,
dass die Interessen einzelner Gruppen – Sie haben einige
genannt –, seien es spezielle Wirtschaftsverbände, seien
es Gewerkschaften, seien es Sozialverbände, Kirchen
oder Einzelinteressen, in politisch nicht wünschenswer-
ter Weise in ein Gesetz Eingang gefunden haben, dann
muss das hier in der Debatte ganz konkret benannt wer-
den. Das geschieht auch. Das tragen wir hier miteinander
aus: in erster, zweiter und dritter Lesung. Wir tragen das
in Ausschussberatungen und Anhörungen aus.

Dabei helfen keine bürokratischen und weltfremden
Vorschläge – ich muss sie einfach so bezeichnen – wie





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)

die in Ihrem Antrag. Ein immer wieder aktualisiertes
Lobbyistenregister liegt bereits seit Jahrzehnten vor. Sie
werden es nie schaffen – es wäre schlimm, wenn es an-
ders wäre –, den Bundestagsabgeordneten Vorschriften
zu machen, mit wem sie wann und wo sprechen oder
nicht sprechen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Darum geht es auch gar nicht! – Gegenruf des Abg. Manuel Höferlin [FDP]: In Ihrem Antrag steht das drin!)


– Doch, ich komme jetzt zu Ihrem Antrag. In Ihrem An-
trag heißt es:

Als entscheidendes Kriterium der Kontaktauf-
nahme zu Bundestagsabgeordneten oder Bundesbe-
hörden müssen finanzielle wie zeitliche Schwellen-
werte festgelegt werden.

Oder:

Definitionen von Interessenvertretung müssen for-
muliert werden.

Sagen Sie uns, wie das in der Praxis gehen soll. Ich
frage Sie im Ernst: Wie definieren Sie gute und
schlechte Interessenvertreter? Wo fängt für Sie der Inte-
ressenvertreter überhaupt an?


(Florian Toncar [FDP]: In der Bürgersprechstunde wahrscheinlich!)


Was ist dafür die Definition?

Der Gipfel des Ganzen ist der Vorschlag, Ordnungs-
widrigkeitstatbestände einzuführen bzw. neu zu schaf-
fen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das machen Sie doch für Abgeordnete!)


An dieser Stelle sage ich ganz klar: Bei Bestechung und
Korruption gilt das Strafrecht. Dann helfen keine irgend-
wie gearteten Register, Listen oder das Vorzeigen von
Gehaltsbescheinigungen von Gesprächspartnern.

Ich möchte zum Schluss mit einem Zitat unseres Bun-
destagspräsidenten Dr. Lammert aus einer wie immer,
wie ich finde, sehr bemerkenswerten Rede am 28. März
2011 in der Frauenkirche in Dresden enden, und zwar
zum Thema „Interessen gegen Gemeinwohl – Gerechtig-
keit in der Politik“. Er hat dabei sehr zutreffend ausge-
führt, dass die meisten Menschen mit der Wahrnehmung
von Interessen, auch in organisierter Form, kein Problem
haben – ich zitiere –,

… wenn es sich um ihre Interessen handelt, wäh-
rend dann, wenn eigene Interessen mit anderen kol-
lidieren, die ärgerlicherweise auch noch organisiert
vertreten werden, sich beinahe reflexhaft Empörung
einstellt. Und die inzwischen handelsübliche Form
der Empörung ist heutzutage mit dem Begriff
„Lobbyismus“ verbunden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712025500

Das Wort hat der Kollege Raju Sharma von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712025600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Kollege Kaster hat eben von Phantomanträgen gespro-
chen. Wenn eine Sache etwas Phantomhaftes hat, dann
ist es eher der Lobbyismus, weil man ihn nicht sehen
kann, aber man weiß, dass es ihn gibt. Der Lobbyismus
ist ein Phänomen, dessen Existenz man nicht bestreiten
kann.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Lobbyismus gibt es! Das muss auch sein!)


– Lobbyismus gibt es. Er ist eine Form von gesellschaft-
licher Beteiligung an politischen Entscheidungsprozes-
sen. Wir als Linke sagen: Wir finden, es gibt bessere,
transparentere und richtigere Formen der gesellschaftli-
chen Beteiligung, zum Beispiel Volksentscheide auf
Bundesebene. Dafür streiten wir.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD])


Da es den Lobbyismus nun einmal gibt, muss man ihn
regulieren.


(Otto Fricke [FDP]: Alles, was es gibt, muss man regulieren!)


– Sicher muss man ihn regulieren. Ich nenne Ihnen nach-
her ein Beispiel, wie sich ein unregulierter Lobbyismus
auswirkt. Dabei komme ich auch ganz speziell auf die
FDP zu sprechen.


(Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Das wundert uns nicht!)


Immerhin sind Sie realistisch genug, zu erkennen, dass
Sie mit dem unregulierten Lobbyismus am meisten Pro-
fite machen können. Dazu kommen wir nachher.


(Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Das ist unterirdisch!)


Der Punkt ist: Die SPD hat jetzt als dritte Partei einen
Antrag zur Regulierung des Lobbyismus vorgelegt. Die-
ser Antrag sieht im Wesentlichen ein verpflichtendes
Lobbyistenregister vor. Das ist gut, das ist richtig, und
das ist überfällig. Es ist in gewisser Weise auch so etwas
wie ein Akt der Selbstkritik der SPD. Das Schöne an
Selbstkritik ist, dass es den anderen die Notwendigkeit
nimmt, auch noch den Finger in die Wunde zu legen und
darin herumzubohren.


(Otto Fricke [FDP]: Woher wollen Sie als Linker das denn wissen?)


Ansonsten könnte ich jetzt einen Haufen Beispiele brin-
gen, um zu belegen, warum gerade die SPD in den letz-
ten und auch in früheren Jahren mit dem Lobbyismus
Probleme gehabt hat. Das will ich jetzt jedoch nicht ma-
chen.





Raju Sharma


(A) (C)



(D)(B)

Ein Beispiel will ich Ihnen aber nicht ersparen, weil
es so aktuell ist und weil ich es auch heute Nachmittag
schon beim Thema Parteienfinanzierung angesprochen
habe. Es betrifft ein Thema, über das wir auch morgen
reden werden. Die Bundesregierung beabsichtigt näm-
lich, Panzer nach Saudi-Arabien zu liefern. Panzer nach
Saudi-Arabien – das allein ist schon fragwürdig. Aber
wenn man dann sieht, dass FDP, CDU/CSU und auch die
SPD in den letzten Jahren über 600 000 Euro an Spen-
den von den Hauptherstellerfirmen der Panzer bekom-
men haben, macht man sich schon Gedanken, ob hier
wirklich alles so unabhängig ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Manuel Höferlin [FDP]: Wenn Sie das wissen, dann ist es doch transparent!)


Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der inhaltlich
weitgehend dem Antrag der Linken folgt. Das finden wir
natürlich begrüßenswert. Wir können uns vielleicht für
zukünftige Fälle vornehmen, dass wir solche Anträge
gleich zusammen formulieren. Dann kann man sich bes-
ser dabei unterstützen. Das machen wir gerne.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Angebot! – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sammelt euch hinter den Besten!)


Fakt ist jedenfalls, dass wir uns jetzt auf Oppositions-
seite einig sind, dass der Lobbyismus mit einem ver-
pflichtenden, verbindlichen Lobbyistenregister reguliert
werden muss. Wir sind uns einig, die Bürgerinnen und
Bürger wollen das auch. Im Grunde muss man sich nur
fragen, warum Sie nicht mitmachen. Warum weigern Sie
sich, hier für mehr Transparenz zu sorgen? Warum wei-
gern Sie sich, das alles auf den Tisch zu legen? Es würde
der Demokratie guttun, es würde auch uns in diesem
Hause guttun. Arbeiten Sie mit! Es gibt genug Vor-
schläge, die alle auf dem Tisch liegen. Sie sind herzlich
eingeladen, daran mitzuwirken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712025700

Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1712025800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir beraten heute den Antrag der SPD zum Lobby-
istenregister. Ich muss sagen, Kollege Hartmann, Ihren
Wortbeitrag kann man in Teilen unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Eva Högl [SPD]: Na bitte! – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Vollständig!)

Aber das, was Sie als Antrag vorgelegt haben, entspricht
nicht dem, was Sie hier an dem Pult wörtlich von sich
gegeben haben.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Insofern unterstütze ich das, was Herr Kaster sagt.
Grundsätzlich liegen Sie mit der Feststellung richtig,
dass es offensichtlich eine öffentliche Wahrnehmung
gibt, die nahelegt, dass man das Thema Lobbyismus
vielleicht genauer betrachten muss. Das unterstützen wir.
Es gibt auch ein Lobbyistenregister. Aber Ihren Antrag,
so wie Sie ihn gestellt haben – den werde ich mir gleich
mit Ihnen zusammen angucken –, lehnen wir ab, weil da-
rin Kriterien stehen, die schwammig sind, und Forderun-
gen, die nicht umzusetzen sind.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Reden wir im Ausschuss darüber! Da machen wir ihn besser!)


Lassen Sie mich zum Beispiel feststellen: Sie fordern,
dass Lobbyarbeit dann erfasst werden soll, wenn sie ent-
weder einen bestimmten zeitlichen oder einen bestimm-
ten finanziellen Rahmen überschreitet. Da frage ich
mich: Was sind das für Kriterien? Sie sind übrigens auch
beide falsch, wie ich Ihnen gleich noch erläutern werde,
weil sie willkürlich gewählt sind und – das ist natürlich
die Zielrichtung Ihres Antrages – vor allen Dingen auf
unternehmerisch tätige oder verbandlich organisierte
Lobbyisten abzielen. Aber wir haben natürlich – wenn
man den Lobbyistenbegriff wirklich genau nimmt – eine
Vielzahl von Lobbyisten. Im Grunde sind wir alle ein
Stück weit Lobbyisten für das Volk; denn wir hier im
Parlament sind gewählte Interessenvertreter und deswe-
gen sicher auch Lobbyisten für das Volk im guten Sinne.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mövenpick!)


– Wenn Sie sich nicht als Lobbyist für das Volk sehen,
müssen Sie das mit sich ausmachen; das tut mir leid.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Sind wir im Parlament, oder nicht?)


Nun zu Ihren Kriterien: Was soll das Kriterium Zeit
genau bedeuten? Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass ein
bestimmter zeitlicher Rahmen überschritten werden
muss. Wie stellen Sie sich das vor? Die aufgewendete
Lobbyarbeit soll irgendwie erfasst werden. Das kann
doch angesichts der vielen Gespräche mit Interessenver-
tretern nicht funktionieren. Das wissen Sie selbst.
Manchmal ist eine kleine Bemerkung am Rande eines
Treffens oder ein kurzes Telefonat genauso wirkungsvoll
wie eine Lobbyarbeit von großem zeitlichem Aufwand.

Auch Geld oder Organisation sind Kriterien, die ich
ganz vehement infrage stelle, weil wir auch jede Menge
ehrenamtlich tätige Lobbyisten haben, übrigens auch
durchaus und gerade aus Ihren Reihen.

In der Zeitschrift AWO in Bayern zum Beispiel
schreibt der AWO-Bezirksvorsitzende im Juni 2011:

In der Tat haben Lobbyisten großen Einfluss.





Manuel Höferlin


(A) (C)



(D)(B)

Die AWO könnte, heißt es weiter, „diese Karte noch viel
öfter und besser spielen, wenn sie sich im Interesse ihrer
Klientel zusammentun und noch mehr gemeinsam agie-
ren würden. Wir haben ein hohes Ansehen, Tausende
Beschäftigte, unzählige Sozialeinrichtungen.“

Dieses Zitat zeigt ganz klar, dass Ihre Kriterien, näm-
lich Zeitaufwand und Geld, nicht zur Abgrenzung von
Lobbyismus geeignet ist. Kollegin Högl und Kollege
Hartmann, Sie sind beide Mitglied der AWO und damit
sozusagen Teil dieses Lobbyistenverbandes. In jedem
Ortsverband der SPD gibt es auch Mitglieder der AWO.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das ist Pflicht! Sie sollten auch beitreten!)


Das ist eine große ehrenamtliche Lobbyistenvereini-
gung. Wie wollen Sie bei ihr die Kriterien Zeitaufwand
und Geld anlegen?

Nein, dieses System funktioniert, weil Ehrenamtler
organisatorische Unterstützung leisten. Deswegen ist das
Kriterium ungeeignet.

Zu den Offenlegungspflichten in Ihrem Antrag haben
Sie nichts gesagt. Sie sind ebenfalls kritisch zu betrach-
ten. Sie fordern eine detaillierte Aufschlüsselung und die
Veröffentlichung von Auftragsvolumina, und zwar nicht
nur von Lobbyistenverbänden, sondern auch von den
Angestellten dieser Lobbyistenverbände. Das heißt, dass
Lobbyisten, die als Angestellte arbeiten, den Anteil ihres
Gehaltes für sogenannte Lobbyaktivitäten veröffent-
lichen sollen.

Ich frage mich, wie Sie, die immer den Arbeitnehmer-
datenschutz anführen, das miteinander in Einklang brin-
gen wollen. Wie wollen Sie das vor allen Dingen prak-
tisch handhaben? Das funktioniert nicht. Sie verletzen
damit die Privatsphäre dieser Arbeitnehmer, die viel-
leicht für ihren Arbeitgeber Lobbyarbeit machen müs-
sen.

Sie wollen zudem, dass deren Postanschrift veröffent-
licht wird. Wozu eigentlich? Damit irgendwelche Ver-
rückten radikale Extreme, wie es sie in manchen politi-
schen Interessenvertretungen gibt, zu der Privatanschrift
von Angestellten kommen und Drohbriefe schicken oder
Ähnliches? An dieser Stelle geht Ihr Wunsch nach
Transparenz ein großes Stück zu weit.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sie haben ihn doch nicht gelesen!)


Ich glaube, dass Ihr Antrag wegen dieser Mängel ab-
zulehnen ist.


(Widerspruch bei der SPD)


– Lesen Sie doch den Antrag. Dann merken Sie, dass
das, was ich beschreibe, genauso darin enthalten ist.

Sie erklären auch nicht genau, wie die Überwachung
Ihrer Forderungen funktionieren soll. Das kann nur
funktionieren, indem man zusätzlich zu dem Lobbyis-
tenregister, das es seit Jahrzehnten gibt, eine große Über-
prüfung der Gespräche vorsieht, die wir führen. Es
wurde bereits gesagt: Wir führen viele Einzelgespräche.
Jetzt sollen wir auch noch in irgendeiner Form vorher
kontrollieren, ob jedes Einzelgespräch diesen Lobbyis-
tenkriterien entspricht, die auch noch, wie gesagt, unge-
eignet sind. Das funktioniert mit Sicherheit nicht.

Liebe Freunde von den Linken, was Sie machen, ist
die Regulierung politischer Meinungsbildung in der De-
mokratie. Mir ist klar, dass Sie gerne alles regulieren
wollen. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir Mei-
nungsbildung in unserer Demokratie nicht regulieren
müssen. Das geht einen entscheidenden Schritt zu weit.

Wir lehnen aus den genannten Gründen den Antrag
ab. Wir können aber gerne in Ruhe weiter diskutieren.
Herr Hartmann, Ihr Wortbeitrag hat interessante Aspekte
enthalten. Darüber können wir gerne weiter reden, aber
über den Antrag nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712025900

Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz

von Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! De-
mokratie braucht Transparenz. So schlicht ist das. Darin
werden Sie mir wahrscheinlich noch zustimmen, Herr
Kollege Kaster. Aber wenn Sie von einer weltfremden
Phantomdebatte reden und gleichzeitig Bürgergesprä-
che mit dem 100 Millionen Euro schweren Lobbyismus
im Regierungsviertel vergleichen, dann ist nicht der An-
trag zur Einführung eines Lobbyistenregisters, sondern
Ihre Ansicht weltfremd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: 100 Millionen Euro schwerer Lobbyismus! Sind wir jetzt bei der Photovoltaik, oder was?)


Ich will in dieser Debatte zu vorgerückter Stunde eine
kurze Geschichte erzählen. Ich bin vor circa drei Jahren
auf die Landesliste in Schleswig-Holstein gewählt wor-
den. Kurze Zeit später schenkte mir ein alter Freund aus
Studienzeiten ein Buch „LobbyPlanet Berlin – Der Rei-
seführer durch den Lobbydschungel“. Es ist ein interes-
santes Buch. Darin steht viel über Lobbyismus in Berlin.
Ich empfehle jedem sehr, es zu lesen.

Ich erzählte das meiner Kollegin Ingrid Nestle, die
auch auf die Landesliste der schleswig-holsteinischen
Grünen gewählt worden war. Sie sagte: Das ist ja lustig.
Eine Freundin hat mir gestern genau dasselbe Buch ge-
schenkt. – Weil ich fand, dass das ein merkwürdiger Zu-
fall war, erzählte ich die Geschichte auf dem Neujahrs-
empfang der Oberbürgermeisterin in Kiel. Dort kam die
CDU-Direktkandidatin aus Kiel auf mich zu und sagte:
Mir hat das Buch auch gerade jemand geschenkt.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was ist bloß in Schleswig-Holstein los? – Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])






Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

– Genau! In Schleswig-Holstein werden Bücher ver-
schenkt, und das ist ein schönes Zeichen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Die Frage ist, warum man es Ihnen schenkt!)


Ich schenke es dir gleich, Halina.

Ob das nun statistisch ein Zufall ist oder nicht: Auf je-
den Fall kommt doch zum Ausdruck, dass in der Bevöl-
kerung ein massives Problembewusstsein bezüglich des
Lobbyismus besteht, der hier stattfindet.


(Marco Buschmann [FDP]: Da hat eine Agentur einen Kampagnenauftrag bekommen!)


Wenn Sie dieses Zusammentreffen als zufällig abtun,
dann nehmen Sie aber bitte die vielen Gespräche mit
Bürgerinnen und Bürgern ernst. Die können bei Ihnen ja
nicht total anders verlaufen als bei uns.


(Manuel Höferlin [FDP]: Es gibt auch Einzellobbyisten, die wir gern anhören! Das sind mir die liebsten Lobbyisten!)


Man wird immer wieder darauf angesprochen, dass der
Wunsch besteht, mehr Transparenz in den Lobbyismus
in Berlin zu bekommen. Das geht bis hin zu statistischen
Erhebungen, nach denen der Einfluss der Wirtschaft auf
die Politik zu stark ist und man mehr Transparenz
braucht.

Wir brauchen miteinander nicht zu diskutieren, dass
Lobbyismus, Interessenvertretung das alltägliche Ge-
schäft hier ist und dass wir alle jeden Tag damit zu tun
haben. Vom THW über das Rote Kreuz bis hin zum Ver-
band der Chemischen Industrie –


(Otto Fricke [FDP]: DGB! BUND!)


alle bringen ihre Positionen vor. Anders kann Politik
nicht funktionieren. Wir als Abgeordnete müssen sozu-
sagen auf der Basis unserer lauteren Werte – das ist ein
ganzer Kanon – dann die richtige Entscheidung treffen.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: So ist es! – Manuel Höferlin [FDP]: Eigenverantwortung für die Kollegen!)


– So ist es, Herr Kaster. Aber wenn es so ist, dann müs-
sen wir nach außen Transparenz darüber schaffen, wer
hier versucht, Einfluss zu nehmen. Die Leute wollen es
wissen. Deswegen ist es einfach eine Selbstverständlich-
keit, ein Lobbyregister einzuführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manuel Höferlin [FDP]: Das gibt es ja! Das haben wir doch!)


– Ja, aber kein verpflichtendes, Herr Höferlin; das wis-
sen auch Sie. Wer sich nicht eintragen lassen will, der
lässt sich eben nicht eintragen. Das reicht nicht.


(Manuel Höferlin [FDP]: 4 000 Einträge, 600 Seiten! Was wollen Sie noch?)


– Dass es heute schon 600 Seiten hat, zeigt doch,


(Manuel Höferlin [FDP]: Wir brauchen nicht noch eines!)

wie viele Lobbyisten es gibt, die das schon freiwillig
tun.


(Manuel Höferlin [FDP]: D’accord! Sehen Sie!)


Interessant wäre es, jetzt noch sozusagen die einzusortie-
ren, die sich nicht freiwillig melden, aus welchen Grün-
den auch immer.


(Manuel Höferlin [FDP]: Da gibt es keine mehr!)


Deswegen haben wir schon vor geraumer Zeit, vor
mehreren Monaten, unseren Antrag vorgelegt. Die Linke
hat einen Antrag vorgelegt. Die SPD hat jetzt nachgezo-
gen. Wir unterstützen auch diesen Antrag.

Weil der Kollege Hartmann von Selbstheilungskräf-
ten gesprochen hat, sage ich: Es geht hier nicht um
Selbstheilungskräfte, sondern es geht bei der Frage eines
Lobbyistenregisters um einen Selbstbehauptungsan-
spruch, den wir als Abgeordnete geltend machen sollten.
Deswegen würde ich Ihnen doch sehr zuraten, sich einen
Ruck zu geben. Ich weiß, die FDP ist gar nicht so weit
davon entfernt, uns hier zuzustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712026000

Herr Kollege, erlauben Sie zum Abschluss noch eine

Zwischenfrage des Kollegen Fricke?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, das ist gut. Sehr gern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712026100

Bitte schön, Herr Fricke.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1712026200

Herr Kollege, wir merken in der Debatte, dass es

durchaus Punkte gibt, über die wir diskutieren, um gute
Lösungen zu finden. Ich will zur Mehrung der Erkennt-
nis einfach zwei, drei Sachen fragen.

Meinen Sie, wenn Sie von Lobbyisten sprechen, auch
Gewerkschaften, –


(Dr. Eva Högl [SPD]: Sicher!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Natürlich.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1712026300

– Kirchen, Umweltverbände, Flüchtlingsverbände

usw., alle?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sozialverbände!)







(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Selbstverständlich.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1712026400

Das ist gar keine kritische Frage, sondern nur eine

Frage zur Aufklärung.

Jetzt habe ich das folgende Problem: Ich habe vor
kurzem ein Gespräch mit Vertretern eines Flüchtlings-
verbandes gehabt, der – ich will es vorsichtig formulie-
ren – im weitesten Sinne die Interessen von Flüchtlingen
aus Syrien vertritt, also ein Lobbyverband ist. Der Ver-
treter hat mir gesagt, dass er mit mir nur sprechen will,
wenn klar ist, dass von seiner Person nichts auftaucht,
und wenn ich als Abgeordneter zusage, dass diese
Gruppe – in Ihrem Sinne eine Lobbygruppe – auf keinen
Fall in die Öffentlichkeit kommt.

Nach dem, was Sie sagen, sind wir uns darüber einig,
dass es aber auch Fälle gibt, und zwar viele Fälle, in de-
nen der Abgeordnete sogar die Pflicht hat, nicht zu sa-
gen, mit welchem Interessenvertreter er spricht.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt nicht für die chemische Industrie, oder? – Weitere Zurufe)


– Ich frage allgemein. Es geht mir um Erkenntnisge-
winn.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Fricke, ich begrüße zunächst einmal
sehr, dass Sie sich auch mit solchen Lobbyistengruppen
treffen. Für diesen besonders gelagerten Fall wird man,
so würde ich behaupten, eine gute Regelung finden, so-
dass die Vertreter nicht ins Licht der Öffentlichkeit gera-
ten.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Klar! Eine Ausnahmeregelung!)


Die Tatsache, dass Sie diesen Fall herauspicken, Herr
Kollege Fricke, lässt doch tief blicken. Wenn Sie einmal
durchs Regierungsviertel schlendern und sich die Haus-
fronten in einem Umkreis von 800 Metern anschauen,
dann sehen Sie, dass hier die gesamte Industrie Haus an
Haus vertreten ist.


(Otto Fricke [FDP]: Ist das schlimm?)


– Nein, das ist überhaupt nicht schlimm. Dieser Wider-
spruch, hinter dem Sie sich ständig verstecken – ich
weiß nicht, wie ich es noch deutlicher sagen soll –, be-
steht aber nicht.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Einem solchen Eindruck muss man doch widerstehen können! Man muss doch souverän genug sein, dem zu widerstehen!)


– Ich stimme Ihnen völlig zu. Sie müssen stark genug
sein, den Anreizen zu widerstehen. Das traue ich Ihnen
auch total zu. Ich sage Ihnen allerdings, viele Länder auf
der Welt haben ein verpflichtendes Lobbyistenregister,
und die Welt ist trotzdem nicht untergegangen. Deswe-
gen steht dies auch Deutschland gut an. Herr Fricke, wir
werden bestimmt Regelungen finden, wie wir da ge-
meinsam zu einem Ergebnis kommen können.

Ich komme zum Schluss. Die Selbstheilungskräfte,
die der Kollege Hartmann angemahnt hat, sind vielmehr
Selbstbehauptungskräfte, die wir als Parlamentarier ent-
wickeln sollten. Es sollte uns ein inneres Bedürfnis sein,
nach außen Transparenz herzustellen. Es ist keine große
Sache. Ich möchte behaupten, dass der Widerstand, den
man eventuell befürchtet, gar nicht vorhanden ist, weil
Unternehmen, gerade auf europäischer Ebene, ein Inte-
resse an Transparenz haben, um diesen Makel loszuwer-
den.

Demokratie braucht Transparenz. Dabei bleibt es.
Stimmen Sie für diesen Antrag, selbst wenn er von der
SPD kommt.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712026500

Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1712026600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es war vorhin schon einmal die Rede von einem
Antrag der Grünen aus dem April und von einem Antrag
der PDS zum selben Thema,


(Zuruf von der LINKEN: Und einem Antrag von der Linken!)


der nicht wesentlich länger zurückliegt. Nun gibt es also
diesen Antrag der SPD. Solche Anträge kann man natür-
lich im monatlichen Rhythmus stellen. Es stellt sich aber
die Frage, ob neuere Erkenntnisse hinzugekommen sind.
Wir sehen diese jedenfalls nicht.

Das Lobbyistenregister gibt es bereits seit 1972 in
Deutschland. Man kann es natürlich auf irgendeine
Weise qualifizieren. Aber dafür muss es aus unserer
Sicht Gründe geben.

Ich denke, wir sind uns alle einig – das merken wir,
wenn wir mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen, Herr
Kollege von Notz –, dass die Wörter „Lobbyismus“ und
„Lobbyist“ negativ besetzt sind. Ich beklage dies, weil
ich es für falsch halte. Anträge wie den, den Sie hier ein-
bringen, und solche Debatten, die wir heute hier führen,
zeichnen ein Zerrbild, das eben nicht der Realität ent-
spricht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn sieben von zehn Bürgerinnen und Bürgern – so
steht es im Antrag der SPD; es wird darin vorausgesetzt,
dass diese Zahlen repräsentativ sind – der Auffassung
sind, dass die Korruption in Deutschland zugenommen
hat, dann besteht in der Tat ein Problem; denn die Zah-
len, die das Ausmaß der Korruption verdeutlichen, besa-





Marco Wanderwitz


(A) (C)



(D)(B)

gen genau das Gegenteil. Es handelt sich also lediglich
um ein dumpfes und subjektives Gefühl, dass dem so
sei. Kollege Hartmann hat vorhin so schön gesagt, Poli-
tik werde immer komplexer. In der Tat kann man deswe-
gen ein solches Gefühl bekommen. Aber die Realität ist
offensichtlich anders.

Lobbyismus ist – Kollege Kaster hat es schon gesagt –
für uns Politiker eine lebenswichtige Form von Interes-
senvermittlung. All die Argumente fallen doch nicht
vom Himmel. Niemand von uns hat das notwendige
Wissen, um Kenntnis über alle möglichen Verästelungen
bei den Interessen zu haben, was die Voraussetzung für
die bestmögliche Abwägung im Rahmen eines Gesetz-
gebungsverfahrens ist. Wir sind also geradezu darauf an-
gewiesen, dass all die Interessenvertreter – viele sind
schon angesprochen worden; sie sind mehr oder weniger
in Verbänden organisiert; ich nenne beispielsweise die
klassischen NGOs und die berufsständischen Vertretun-
gen – auf uns zukommen und uns erläutern, was die
Gruppe, die sie vertreten, bewegt.

Das erleben wir in Berlin, ebenso wie die Kollegen in
Brüssel oder in den Landtagen, im Großen. In den Wahl-
kreisen erleben wir es im Kleinen, wo wir es beispiels-
weise mit Kreisverbänden im Bereich des Sports zu tun
haben. Ich kann daran überhaupt nichts Schlechtes ent-
decken. Ich könnte es einzig und allein nur dann, wenn
wir uns selbst nicht zutrauten, diese subjektiven Interes-
sen als genau das zu erkennen, was sie sind, nämlich
subjektive Interessen, die wir uns genau anschauen und
gegeneinander abwägen müssen, um am Ende das für
uns herauszulesen, was Gemeinwohlinteresse ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Übrigen fand ich das Bild, das Kollege Höferlin
gezeichnet hat, überhaupt nicht kritikwürdig. Das ist
nämlich auch mein Bild. Auch ich empfinde mich als
Lobbyist für die Menschen meiner Heimatregion.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Das sind wir doch alle!)


– Ja, offensichtlich nicht. Die Zwischenrufer von den
Linken haben wir vorhin ja zu diesem Thema gehört.

Ich habe einen positiv besetzten Lobbyistenbegriff.
Sie schreiben im Übrigen in Ihren Antrag selbst hinein:

Eine verbesserte Transparenz kann illegitime For-
men der Einflussnahme oder gar Fälle von Korrup-
tion zwar nicht völlig verhindern, …

Ich will mal den Schwerpunkt nicht auf das „völlig“ le-
gen, obwohl das da steht, sondern will Ihnen sagen:
Eben, schwarze Schafe wird es immer geben.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Ja, klar! Leider!)


Dafür haben wir jetzt schon das Strafrecht. Ich glaube
nicht, dass Ihr Antrag da vieles wesentlich besser ma-
chen würde. Das ist viel weiße Salbe, im Übrigen ver-
bunden mit einer erheblichen Menge an Bürokratie.
Denn das müssen Menschen aufnehmen, vielleicht über-
prüfen. Mit der Meldung ist es ja nicht getan, wenn man
das wirklich alles ernst meint.
Durch diese Formulierungen aber, die hier immer
wieder in die Debatte getragen werden, reden wir nicht
über die schwarzen Schafe, sondern wir tun so, als be-
stünde die ganze Schafherde aus schwarzen Schafen.
Die Herde besteht aber mehrheitlich aus weißen Scha-
fen, um jetzt mal das Bild, dass die schwarzen Schafe
die Schlechteren sind, was der alten Volksmeinung ent-
spricht, zu nehmen. Wir können es auch umdrehen.

Ich glaube, wir müssen einfach aufhören, das Bild
von irgendwelchen Dunkelmännern und Dunkelfrauen
zu zeichnen, die über unsere Gänge schleichen und die
keiner kennt. Zu behaupten, zu Tausenden zögen sie hier
umher, ist doch schlicht falsch.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb das Register!)


Wenn irgendjemand von uns einen Termin will, fra-
gen wir doch: Wer sind Sie denn? Wenn ich darauf keine
befriedigende Antwort bekomme, dann bekommt dieje-
nige oder derjenige bei mir jedenfalls keinen Termin. Ich
höre mir doch irgendjemanden, der mir nicht mal sagen
kann, für wen er steht – es sei denn, er bringt seine urei-
genen Interessen vor –, nicht an.

Einen konkreten Punkt möchte ich noch ansprechen:
Was muss mich interessieren, was ein Verbandsvertreter
oder ein anderer Lobbyist verdient? Dahinter kann doch
nur ein Gedanke stehen: Derjenige, der mehr verdient,
hat die moralisch verwerflichen Interessen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, aber größere Möglichkeiten!)


– Aha, größere Möglichkeiten. Es gibt eine größere
Wirkkraft seiner Argumente, die er mir entgegenhält?


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, er hat die finanziellen Argumente!)


– Ja, Herr Kollege Montag, da kann ich nur für uns sa-
gen – ich glaube, das geht uns allen hier im Haus so; da
hoffe ich doch, dass Sie nicken –, das sind doch die Ar-
gumente, die in dieser Herde, in der die weißen Schafe
überwiegen, hoffentlich niemanden interessieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Da sage ich nur: Mehrwertsteuer und Mövenpick!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712026700

Als letzte Rednerin hat die Kollegin Dr. Eva Högl von

der SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1712026800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, ich habe
es registriert, aber ich habe nicht verstanden, warum Sie
unseren Antrag ablehnen. Ich verstehe es einfach nicht.


(Manuel Höferlin [FDP]: Lesen Sie doch mal Ihren Antrag! Vielleicht verstehen Sie das dann besser!)






Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Ich sehe aber in der Auseinandersetzung mit Details,
insbesondere von Ihnen, Herr Kollege Höferlin, die
Chance, dass wir vielleicht doch zu einer Sachdebatte
kommen. Allerdings setzt das voraus, liebe Kollegen,
dass Sie unseren Antrag erst mal lesen – leider haben Sie
ihn bisher noch nicht gelesen –


(Manuel Höferlin [FDP]: Ich habe ihn sehr genau gelesen! Das ist ja das Problem!)


und ihn dann im zweiten Schritt auch verstehen. Liebe
Kollegen, ich gebe Ihnen die Chance, über die Sommer-
pause diesen Antrag noch einmal zu lesen, dann auch zu
verstehen, und anschließend können wir im Ausschuss
vielleicht sachlich darüber diskutieren.

Ich will dazu ein paar Aspekte ansprechen. Wir kön-
nen das Register, das wir vorschlagen und das auch die
anderen beiden Fraktionen vorgeschlagen haben, nicht
mit dem vergleichen, was wir seit 1972 haben, weil wir
nämlich ein verbindliches Lobbyistenregister fordern –
ein verbindliches mit verbindlichen Vorschriften und
auch mit Sanktionen, wenn nicht eingetragen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Da geht es nicht darum, wer wann mit wem an wel-
chem Ort welche Gespräche geführt hat. Darum geht es
nicht. Das soll auch nicht veröffentlicht werden und
auch nicht in diesem Register niedergelegt werden.


(Otto Fricke [FDP]: Steht im Antrag!)


– Das steht nicht in unserem Antrag, und darum geht es
auch nicht. Es geht darum, diejenigen zu verpflichten,
sich einzutragen, die professionell, hauptamtlich Lobby-
ismus betreiben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Aufschreiben! – Otto Fricke [FDP]: Was ist denn hauptamtlich?)


Darüber können wir uns in der weiteren Debatte ver-
ständigen. Sie haben bereits erste Ansätze gezeigt, die
ermöglichen, dass wir in ein Gespräch kommen.

Wir brauchen Definition und natürlich auch Grenzen.
Wir müssen sagen: Wir unterscheiden, ob jemand gele-
gentlich für bestimmte Interessen wirbt und diese dann
durchsetzt oder ob das vielleicht seine hauptsächliche
Tätigkeit ist. Eine Anwaltskanzlei, die sich überwiegend
mit anderen Dingen beschäftigt und by the way in be-
stimmten Situationen Lobbyismus betreibt, ist natürlich
von einer Kanzlei zu unterscheiden, die professionell für
bestimmte Interessen und mit sehr viel Geld im Hinter-
grund überwiegend Lobbyismus betreibt. Deswegen
steht in unserem Antrag, dass wir zeitliche und finan-
zielle Grenzen und natürlich auch eine saubere Defini-
tion des Begriffs „Lobbyismus“ brauchen.

Es geht nicht darum, zwischen guten und schlechten
Interessenvertretungen und Lobbyisten zu unterschei-
den. Natürlich sind die AWO oder der Deutsche Ge-
werkschaftsbund genauso Interessenvertretungen und
genauso legitim wie BDA, BDI, EADS und andere. Es
geht nicht um gut und schlecht. Es geht darum, Lobbyis-
mus zu benennen. Ich weiß wie Sie alle auch sehr gut,
dass wir als Abgeordnete von der Interessenvertretung
abhängig sind; deswegen verstehe ich nicht, warum Sie
alle dagegen sind. Wir können unsere Meinung nur bil-
den, wenn wir die verschiedenen Einflüsse aufnehmen
und dann als selbstbewusste, gewählte Abgeordnete Ent-
scheidungen treffen. Aber – daher kommt das ungute
Gefühl der Bürgerinnen und Bürger – wir haben ganz
viele Tatbestände registriert, die gezeigt haben, dass das
nicht immer passiert und zum Beispiel Rechtsanwalts-
kanzleien Gesetzentwürfe oder Teile von Gesetzentwür-
fen geschrieben haben.

Ich möchte Folgendes in Richtung FDP sagen – ich
weiß, dass das ein wunder Punkt ist –: In der letzten Zeit
hat Ihnen doch das Stichwort „Mövenpick-Partei“ am
meisten geschadet.


(Manuel Höferlin [FDP]: Von denen haben wir aber nicht gesprochen! Die kennen wir überhaupt nicht! Den Joghurt esse ich im Flugzeug!)


Es war ganz offensichtlich, dass ein Lobbyist die Ge-
setzgebung hier im Deutschen Bundestag in eine be-
stimmte Richtung gelenkt hat. Das schadet nicht nur ei-
ner Partei bzw. einer Fraktion. Das schadet der gesamten
Demokratie. Deswegen müssen wir hier im gesamten
Bundestag selbstbewusst damit umgehen und sagen: Ja
zur Interessenvertretung, Ja zum Lobbyismus. Wir sind
davon abhängig. Wir bilden dadurch unsere Meinung.
Wir führen Gespräche, und zwar mit Flüchtlingsorgani-
sationen genauso wie mit Wirtschaftsverbänden. Wir ge-
hen zu Sommerfesten, gerade in den letzten beiden Wo-
chen. Wir unterhalten uns. Das gehört zu unserer Arbeit
dazu. Das müssen wir selbstbewusst vertreten. Aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das bitte
aus den Hinterzimmern herausholen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie uns das in die Öffentlichkeit holen. Lassen
Sie uns mit diesem Selbstbewusstsein für mehr Transpa-
renz und für mehr öffentliche Kontrolle sorgen. Das geht
nicht, wenn es unverbindlich bleibt. Das geht nur mit ei-
nem verbindlichen Lobbyistenregister. Ich lade Sie ein,
nach der Sommerpause im Ausschuss mit uns eine sach-
orientierte Debatte zu führen. Dann finden wir auch gute
Definitionen und gute Kriterien.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712026900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6442 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 sowie den Zu-
satzpunkt 7 auf:

51 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Rechte von Opfern sexuellen Miss-
brauchs (StORMG)

– Drucksache 17/6261 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verlängerung der zivil-
rechtlichen Verjährungsfristen sowie zur Aus-
weitung der Hemmungsregelungen bei Verlet-
zungen der sexuellen Selbstbestimmung im
Zivil- und Strafrecht
– Drucksache 17/5774 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sowie zu
diesem Zusatzpunkt sollen zu Protokoll gegeben wer-
den.1) Erlauben Sie mir, dass ich die Namen der Redne-
rinnen und Redner nicht einzeln verlese. Sie können Sie
im Protokoll nachlesen. Wir haben noch etwa 30 Tages-
ordnungspunkte vor uns. Die Sitzung wird also noch
eine Weile dauern.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/6261 und 17/5774 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Friedens- und Konfliktforschung stärken –
Deutsche Stiftung Friedensforschung finan-
ziell ausbauen
– Drucksachen 17/1051, 17/6437 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Auch hier werden die Reden zu Protokoll gegeben.2)

1) Anlage 18
2) Anlage 8
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/6437, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1051 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD
und Grünen und Enthaltung der Linken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär,
Markus Grübel, Elisabeth Winkelmeier-Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Christel
Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Christian Ahrendt, Stephan Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Opfern von Unrecht und Misshandlungen in
der Heimerziehung wirksam helfen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unterstützung für Opfer der Heimerziehung –
Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen

– Drucksachen 17/6143, 17/6093, 17/6500 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Nicole Bracht-Bendt
Heidrun Dittrich
Katja Dörner

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Norbert Geis von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1712027000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! In den Kinderheimen des Westens,
mit denen ich mich hauptsächlich befassen werde – mit





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)

den Kinderheimen in der DDR wird sich der Kollege
Kolbe befassen –, waren in der Zeit von 1949 bis 1975
etwa 800 000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche bis
zum 21. Lebensjahr untergebracht.

Die Kinder und Jugendlichen wurden dort eingewie-
sen, weil häufig die Eltern – oft war es nur die Mutter,
weil der Vater gar nicht mehr in der Familie lebte – nicht
mehr in der Lage waren, die Kinder richtig zu erziehen.
Diese Kinder galten oft als „schwer erziehbar“. Deshalb
nannte man diese Heime – was wir heute als abfällig
empfinden – im Volksmund auch Erziehungsheime oder
sogar Erziehungsanstalten. Wer einen Teil seiner Jugend
in einem solchen Heim verbracht hatte, dem haftete oft
ein Makel fürs ganze Leben an.

Aufgrund der Initiative des Petitionsausschusses kam
es dann zu dem Runden Tisch Heimerziehung, der sich
mit den Missständen der Kinderheime in den 50er-,
60er- und in den Anfängen der 70er-Jahre beschäftigte.
Der Runde Tisch nahm nicht Stellung zu den Vorgängen
in den Kinderheimen der DDR; dieses Gebiet muss noch
im Einzelnen erforscht werden. Wir können aber von
vornherein davon ausgehen, dass es auch dort Unrecht
gab.

In vielen Kinderheimen des Westens gab es ebenfalls
große Missstände. Hiervor darf man die Augen nicht
verschließen. Der übergreifende Antrag von SPD, FDP,
Grünen und CDU/CSU hat den Vorschlag des Runden
Tisches aufgegriffen. Im Laufe der Untersuchungen
wurde festgestellt, dass in den Heimen sicherlich für-
sorglich erzogen wurde; man hat aber auch auf die Miss-
stände hingewiesen.

Wir müssen allerdings, so glaube ich, etwas vorsich-
tig sein, was den Begriff „Unrecht“ anbelangt. Es gab
Verletzungen und Missstände; es gab Unrecht, das schon
zur damaligen Zeit nach dem damals geltenden Straf-
recht hätte strafrechtlich verfolgt werden müssen und
das auch zu Schadensersatzansprüchen seitens der Kin-
der hätte führen können.

Es gab aber auch Verhaltensweisen, die wir heute
zwar scharf missbilligen, die aber nach damaliger Praxis
nicht als Unrecht angesehen wurden. Das müssen wir er-
kennen. Nach den damaligen pädagogischen Vorstellun-
gen und der damaligen pädagogischen Praxis wurden
Kinder oder Jugendliche, wenn sie sich ganz auffällig
schlecht verhielten – aber auch in weniger auffälligen
Fällen –, oft hart bestraft. Sie erhielten Arrest oder beka-
men Arbeitsauflagen. Ebenso gab es Entzug des Essens
oder das, was wir heute als Prügelstrafe bezeichnen.


(Zuruf von der SPD: Das war auch damals schon so!)


Das war zum Teil ein grober Missstand. Zum Teil war
es auch gängige Praxis, weil man der Auffassung war,
dass die Kinder, die in ein Kinderheim eingewiesen wur-
den und oft Verwahrlosungszustände aufwiesen oder
schwer erziehbar waren,


(Iris Gleicke [SPD]: Ist das peinlich!)


einem besonderen Rechtsverhältnis unterworfen waren.
Dieses besondere Rechtsverhältnis hat tatsächlich
dazu geführt, dass Grundrechte der Kinder damals nicht
so erkannt worden sind, wie sie eigentlich hätten erkannt
werden müssen. Dieses besondere Rechtsverhältnis oder
besondere Gewaltverhältnis hat das Bundesverfassungs-
gericht 1972 gekippt. Seit dieser Zeit kann auch in Straf-
anstalten nur aufgrund eines Gesetzes vollzogen werden.

Aber es entstand aufgrund der damaligen Praxis so et-
was wie ein rechtsfreier Raum. Das muss man erkennen.
Man darf deshalb nicht alle Maßnahmen, die dort getrof-
fen worden sind, vom damaligen Standpunkt her als
Unrecht bezeichnen, wenngleich wir sie heute scharf
missbilligen und heute scharf als Unrecht bezeichnen
würden. Wir müssen ja von dem ausgehen, was sich da-
mals abgespielt hat.

Nun stellt sich die Frage: Wie können wir dieses da-
mals geschehene Unrecht an den Kindern wiedergutma-
chen? Der Runde Tisch hat sich damit beschäftigt. Da
ging es zunächst um die Frage: Sollen sie individuell
entschädigt werden, oder soll eine pauschale Entschädi-
gung erfolgen? Bei der individuellen Entschädigung ist
man sehr schnell an die Grenze gekommen. Die damali-
gen Vorfälle lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren.
Es ist auch schon Verjährung eingetreten. Man hätte sich
schwergetan, solche individuellen Entschädigungsmaß-
nahmen durchzuführen. Das hat der Runde Tisch so er-
kannt.

Dann ging es um die Frage: Soll pauschal entschädigt
werden? Auch da war man sich sehr unsicher; denn das
hieße ja, dass bei einer pauschalen Entschädigung schon
die Anwesenheit in einem Heim als Unrecht hätte ange-
sehen werden können oder müssen. Daher hat sich der
Runde Tisch davon ebenfalls abgewandt. Der Runde
Tisch ging zu der Überlegung über, die Folgen wieder-
gutzumachen, die heute noch erkennbar sind. Da will der
Runde Tisch eine Wiedergutmachung vorsehen. Ich
meine, dass dies ein richtiger Weg ist.

Allerdings meine ich auch, dass wir uns noch ein we-
nig Gedanken darüber machen müssen, ob nicht auch
– wie beim sexuellen Missbrauch – eine Art Schmer-
zensgeld möglich sein muss. Das wird vom Runden
Tisch in Bezug auf sexuellen Missbrauch vorgeschlagen.
Ich meine, dass wir das, wenn wir eine entsprechende
gesetzliche Regelung finden, auch für die Heimkinder
vorsehen sollten, denen Unrecht widerfahren ist. Auch
das muss man irgendwie gerecht austarieren. Es geht
nicht an, dass die einen entschädigt werden und die an-
deren nicht. Es war in beiden Fällen Unrecht, wenn es
im Falle des sexuellen Missbrauchs auch ein schweres
Unrecht war.

Ich möchte noch ein Wort zu der Frage der Finanzie-
rung sagen, Herr Präsident. Was die Frage der Finanzie-
rung angeht, glaube ich, müssen wir uns einfach noch
zusammensetzen und müssen überlegen, wie das am
besten zu finanzieren ist. Ich bin ganz sicher, dass wir ei-
nen vernünftigen Weg finden werden.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712027100

Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1712027200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Acht Jahre ist es her; seitdem habe ich das Thema Heim-
kinder vor mir. Ich will eine kurze Entwicklung darstel-
len; vielleicht versteht man dann besser, was passiert ist.

Es kamen Menschen zu mir, die gesagt haben, ihnen
sei Unrecht angetan worden. Dabei ging es nicht um das,
was man damals als übliche Erziehung ansah, sondern
um massives Unrecht. Die erste Reaktion war, das waren
Einzelfälle. Das ist bedauerlich; aber es sind Einzelfälle.
Aber nachdem die Einzelfälle immer mehr wurden, habe
ich die Betroffenen aufgefordert, eine Petition zu schrei-
ben; denn als einzelne Abgeordnete kann man nicht hel-
fen. Aber ich fand, dass das ein Thema ist, mit dem sich
das Gremium auseinandersetzen muss, das Verfassungs-
rang und die größten Wirkungsmöglichkeiten hat, näm-
lich der Deutsche Bundestag.

Der Deutsche Bundestag hat im Petitionsausschuss
zwei Jahre darüber beraten und kam zu dem Schluss: Es
muss weiter daran gearbeitet werden. Das wurde von al-
len Abgeordneten einstimmig, im absoluten Konsens, in
großer Verantwortung und Sachlichkeit beschlossen. Wir
haben es als gesamtgesellschaftliches Problem angese-
hen, das wir zu lösen haben. Da sind nämlich Menschen-
rechtsverletzungen passiert; das war nicht ein Klaps oder
eine Ohrfeige, sondern ein Zerbrechen von Menschen,
von Persönlichkeiten. Die Zerstörungen an den Men-
schen halten noch heute an. Das war für uns der Grund,
zu sagen: Wir müssen ein Fachgremium dazu einberu-
fen; deshalb wurde der Runde Tisch Heimerziehung ein-
gerichtet.

Der Runde Tisch hat zwei Jahre lang mit Betroffenen
und anderen, die Mitverantwortung hatten, getagt. Ich
durfte für den Bundestag daran teilnehmen. Wir haben
uns am Runden Tisch informiert, Hintergründe erforscht
und nach Lösungen gesucht. Wir haben damit angefan-
gen, nach tatsächlich tragbaren und umsetzungsfähigen
Lösungen zu suchen.

Im Dezember 2010 hat der Runde Tisch Heimerzie-
hung seinen Abschlussbericht vorgelegt, so wie es der
Bundestag gefordert hatte. Im Januar hat der Bundes-
tagspräsident den Bericht in Empfang genommen. Wir
haben uns geeinigt: So wie wir vorher gemeinsam ver-
sucht haben, Lösungen zu finden, wollen wir die Lö-
sungsvorschläge, die uns der Runde Tisch unterbreitet,
gemeinsam umsetzen.

Die Fraktionen haben sich mehrfach getroffen, um
auf Grundlage der Ergebnisse einen Antrag zu schreiben,
der uns heute zur letzten Abstimmung vorliegt. Diese
Woche haben wir im Ausschuss noch einmal darüber be-
raten und waren uns einig, dass das, was im Antrag und
im Abschlussbericht steht, Wirklichkeit werden soll. Da
habe ich gedacht: Jetzt sind wir eigentlich auf der Ziel-
geraden. Ich habe noch im Ausschuss gesagt: Wir müs-
sen nicht mehr viel diskutieren, weil eigentlich klar ist,
was wir umsetzen wollen. Es ging darum, den Prozess zu
begleiten; denn wir gehen neue Wege. Auch die Regie-
rung muss neue Wege gehen – das ist nicht selbstver-
ständlich –; denn wir haben so etwas vorher noch nie ge-
macht.

Gestern Mittag habe ich dann eine Mitteilung erhal-
ten. Zuvor waren wir uns alle – die vier Fraktionen, die
den Antrag eingebracht haben – wirklich einig: Wir ma-
chen das und wollen nicht, dass ein Ressort die Kosten
in Höhe von 40 Millionen Euro über den laufenden Etat
trägt. Dann haben wir die Mitteilung erhalten; ich
dachte, mich tritt ein Pferd. Im Schwäbischen würde ich
sagen: Leut’, warum redet ihr net mit’nander?

Das Folgende richtet sich an die Koalitionsfraktionen.
Ich versuche sonst wirklich immer, einen Konsens zu
finden; aber jetzt muss ich sagen: Sie müssen Ihre Haus-
hälter dafür, dass sie Ihnen so etwas vorlegen, in Grund
und Boden stampfen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das darf nicht wahr sein. Ich sage Ihnen, warum es nicht
wahr sein darf: Es ist das völlig falsche Signal an die Be-
troffenen. Es ist das falsche Signal an die ehemaligen
Heimkinder aus dem Osten. Es ist ein völlig falsches Si-
gnal an alle jetzt jungen Menschen, wenn wir die Mittel
aus dem Haushalt für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend, aus dem Haushalt für Justiz und dem Haushalt für
Arbeit und Soziales nehmen. Wir können es nicht ver-
antworten – das sage ich; die Familienpolitiker werden
es genauso sagen –, dass wir den heutigen Jugendlichen
das Geld nehmen, damit wir die Sünden der Urgroßväter
und Urgroßmütter ausgleichen, die vor Jahrzehnten ge-
schehen sind. Das ist ein Widersinn.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dafür müssen diejenigen im Haushaltsausschuss, die das
beschlossen haben, wirklich geprügelt werden. Ich bin
Ihnen sonst immer wirklich wohlgesonnen.


(Otto Fricke [FDP]: Das hat doch keiner beschlossen! – Gegenruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Doch! Lesen hilft!)


– Doch, es gibt einen entsprechende Beschlussanhang. –
Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie das nicht spätestens bei
den Haushaltsberatungen revidieren, gibt es einen Eklat;
das geht nicht gut.

Der zweite Effekt dieses Beschlusses ist, dass die
Mittel den Ressorts, die im betreffenden Bereich betei-
ligt sind, entzogen werden. Die Länder müssen jetzt be-
schließen, ebenfalls 40 Millionen Euro einzubringen.
Wenn die Länder sehen, dass der Bund die Mittel aus
den laufenden Etats nimmt, dann entnehmen auch die
Länder die Mittel den Etats. Dann wird vom Bund über
die Länder bis zu den beteiligten Gemeinden genau dort
gespart, wohin das Geld eigentlich muss: Es wird bei
den Kindern und Jugendlichen gespart. Das kann nicht
wahr sein.





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der FDP: Woher nehmen Sie es denn?)


Ich halte es für fatal, wenn wir es so machen.

Ich habe gestern noch versucht, alle möglichen Leute
zu mobilisieren und ihnen zu sagen: Ihr dürft euch das
nicht bieten lassen. – Eigentlich ist es ein Armutszeug-
nis, dass so etwas passiert. Ich glaube nicht einmal, dass
es aus Boshaftigkeit gemacht wurde. Man hat schlicht
und ergreifend nicht miteinander geredet; das ist ein Pro-
blem der Kommunikation. Es hat aber fatale Folgen. Das
ist das Problem.

Ich möchte, dass wir das ganz schnell korrigieren.
Unser Antrag ist auf die betroffenen Menschen ausge-
richtet. Die Betroffenen können jetzt lesen, was
beschlossen worden ist – das steht in der Beschlussemp-
fehlung –: Der Bund, die alten Bundesländer und die
Kirchen zahlen je 40 Millionen Euro. Wenn der Bund
bei den 40 Millionen Euro sparen will, dann geht das nur
durch Einsparungen bei den freiwilligen Leistungen,
also beim Kinder- und Jugendplan. Das heißt, wir sagen
den Kirchen, die viele Kinder- und Jugendverbände ha-
ben: Ihr zahlt nicht bloß 40 Millionen Euro, sondern ihr
zahlt quasi auch einen Anteil an den 40 Millionen Euro
des Bundes, weil ihr weniger Geld für eure Kinder- und
Jugendarbeit bekommt. Wir müssen das Geld ja ir-
gendwo abziehen. Wir müssen es ja irgendwo herneh-
men. – Das ist eine Katastrophe. Bitte korrigieren Sie
das.

Es war ausgemacht, dass von diesen 40 Millionen
Euro keine Leistungen für die sogenannten Ost-Heim-
kinder bezahlt werden. Das, was sie brauchen, sollte zu
einem Drittel vom Bund bezahlt werden. Das war ausge-
macht. Das haben wir, die wir diesen Antrag ausgearbei-
tet haben, gemeinsam so beschlossen. Und dann kommt
so ein dicker Knaller!


(Florian Toncar [FDP]: Das ist ja auch so! Das kommt ja auch!)


– Ich finde das gut. Ich höre Ihr Wort. Hoffentlich
kommt es ins Protokoll. Hoffentlich steht im Protokoll,
dass Sie gesagt haben: Das war ein Versehen; es tut uns
leid; wir wollten das so nicht. Dann ist das okay. Schrift-
lich festgehalten ist aber das, was ich eben gesagt habe,
und das kann so nicht bleiben. Ich bitte unsere Haushäl-
ter dringend, dies zurückzunehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sonst können wir die ganze Arbeit – ich habe acht Jahre
daran gearbeitet – in den Papierkorb schmeißen und den
Menschen sagen: Eigentlich haben wir es gar nicht so
gemeint. Das wäre eine ganz falsche Botschaft.

Ich werde unserem Antrag trotzdem zustimmen.
Meine Fraktion wird zustimmen, weil unser Antrag gut
ist. Wir haben uns eng an die Vorgaben des Runden
Tisches gehalten. Ich hoffe, dass wir, wenn es um die
Umsetzung geht, trotz dieses wirklich nicht tollen Ereig-
nisses wieder zu einer guten sachlichen Arbeit zusam-
menfinden.
In diesem Sinne wünsche ich uns heute einen fast ein-
stimmigen Beschluss. Die Linken haben einen eigenen
Antrag dazu eingebracht. Dazu nehme ich jetzt nicht
mehr Stellung.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Er ist halt besser!)


– Ist gut. Das muss ich euch nicht vorbeten.

Ich hoffe, dass die Fraktionen, die das beantragt ha-
ben, das heute gemeinsam beschließen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712027300

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1712027400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Zuerst ein Wort an Sie, Frau Kollegin Rupprecht:
Ich verstehe Ihre Aufregung angesichts der Tatsache,
dass Sie sich schon sehr lange mit dem Thema befassen
und das ehrliche und nachvollziehbare Ziel verfolgen,
das Thema Heimkinder zu einem guten Ergebnis zu füh-
ren. Dieses Ziel haben wir alle.

Wenn ich den Beschluss des Haushaltsausschusses
richtig verstehe, sind die 40 Millionen Euro, um die es
geht, für die Heimkinder vorgesehen; denn es heißt hier:
Bund, Länder und Kirchen. Dabei ging es immer um die
Kinder, die in Heimen im Westen untergebracht waren.
So verstehe ich das.


(Florian Toncar [FDP]: Genau so ist es!)


Auch das kommt ins Protokoll.

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir das beibehalten,
was wir am Runden Tisch und in den Ausschüssen ge-
schafft haben: ein weitgehend fraktionsübergreifendes,
sachorientiertes Diskussionsklima. Im Ergebnis beraten
wir heute abschließend einen von fast allen Fraktionen
getragenen Antrag, der eine lange Geschichte hat und,
wie ich glaube, rechts- und gesellschaftspolitisch wirk-
lich bedeutsam ist. Wir haben uns die Mühe gemacht
– das haben wir uns vorgenommen –, Unrecht aufzuar-
beiten, das zu der Zeit, als es geschehen ist, vielleicht
nicht als Unrecht verstanden wurde – so habe ich Herrn
Geis gerade verstanden –, auch wenn es das zweifellos
war. Das war ein rechtsfreier Raum. Das kann aber nicht
die Grundlage dafür sein, dass mit Kindern, mit Men-
schen Schindluder getrieben wird. Und das war es. Ich
glaube, das sollten wir ganz deutlich und unumwunden
sehen und uns dem stellen; denn das verlangen die
Heimkinder im Westen und auch im Osten von uns.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Sibylle Laurischk


(A) (C)



(D)(B)

Wenn man das rekapituliert, muss man schon sagen,
dass es eigentlich unglaublich ist, wie damals mit diesen
Kindern umgegangen wurde. Ich war zu dieser Zeit sel-
ber Kind und weiß, dass es damals hieß: Wenn du nicht
parierst, nicht richtig funktionierst, kommst du eben ins
Heim. – Das war eine Drohung, und jeder hat sie ver-
standen.

Ich glaube, wenn wir uns in der Geschichte noch ein
Stück weiter zurückbewegen, dann merken wir: Da wa-
ren andere Drohungen in Deutschland an der Tagesord-
nung. Als Demokraten haben wir uns aus dieser Tradi-
tion gelöst. Darüber haben wir Diskussionen geführt.
Wir müssen sie immer wieder aufs Neue führen, damit
uns klar ist: Wo Recht gesetzt wird, muss auch dafür ge-
sorgt werden, dass Unrecht aus der Vergangenheit aufge-
arbeitet wird.

Der Runde Tisch hat hier Großes geleistet. Es war für
mich sehr eindrucksvoll, in der Anhörung zu hören, wie
Frau Vollmer als Vorsitzende des Runden Tisches sagte:
Es war eine anstrengende, schwere Arbeit. – Es war eine
Arbeit, die nicht jederzeit wieder so geleistet werden
kann. Wir haben ja auch noch einen anderen Runden
Tisch, nämlich zum Thema „Sexueller Missbrauch von
Kindern“.

In der Anhörung war für mich besonders eindrucks-
voll, Betroffene zu hören. Durch die Anhörung habe ich
gelernt, dass es für die Heimkinder auch heute noch sehr,
sehr schwierig ist, mit ihrem Thema in der Öffentlichkeit
umzugehen. Sie sind sehr empfindsam, traumatisiert, ge-
schädigt und teilweise fürs Leben gezeichnet. Sie sind
auch sehr empfindsam in Bezug darauf, wie man mit ih-
nen umgeht. Ich glaube, dass wir uns abverlangen müs-
sen, uns mit ihnen zu beschäftigen, ihnen auch in einer
solchen Anhörung das Wort zu geben. Im Rahmen des
Möglichen ist das auch geschehen. Es hat uns alle er-
schüttert, zu hören, was Heimkinder erlebt haben. Ich
konnte es mir in dieser krassen Form bis dahin nicht vor-
stellen.

Wir haben einen Antrag formuliert, der meiner An-
sicht nach genau das auf den Weg bringt, was den Heim-
kindern am Herzen liegt und was uns als Aufarbeitung
am Herzen liegt. Er beinhaltet den Auftrag an die Bun-
desregierung, zu handeln. Obwohl keine Rechtsansprü-
che mehr bestanden, haben wir gesagt: Es muss hier die
Grundlage, eine gewisse Entschädigung zu leisten, ge-
schaffen werden. Das wird der Fall sein. Ich bin ganz si-
cher, dass eine Finanzierungslösung gefunden wird, die
praktikabel ist. Es sollten in den jetzt vorliegenden An-
trag nicht noch andere offene Themen mit eingearbeitet
werden. Vielmehr werden diese gesondert abgearbeitet,
Stichwort „Behandlung der Heimkinder in der damali-
gen DDR“. Auch sie befanden sich in einer untragbaren
Situation und wurden teilweise ebenfalls mit geradezu
krimineller Energie behandelt, wie wir ebenfalls in der
Anhörung des Ausschusses hören mussten. Das ist ein
weites Feld.

Ich erwarte von der Bundesregierung hier zügiges
Handeln und einen überzeugenden Vorschlag. Wir wer-
den uns im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens
weiter mit dem Thema befassen. Ich hoffe, dass wir dann
eine so konstruktive Vorgehensweise finden werden, wie
es in der Vergangenheit der Fall war. Aufregung und
Emotionen helfen uns nicht weiter. Nach meinem Dafür-
halten ist das so – auch wenn ich gut verstehen kann,
dass Emotionen bei diesem Thema zu Recht eine große
Rolle spielen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712027500

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712027600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Leider kam es nicht zu einem Antrag, der von allen
Fraktionen des Hauses getragen werden kann. Es gab
zwar die interfraktionelle Arbeitsgruppe. Im Ergebnis
entspricht das, was da erarbeitet wurde, allerdings auch
nicht ganz den Vorstellungen meiner Fraktion.

Aus Sicht der Linken ist an die damals betroffenen
Kinder, die in Heimen misshandelt wurden, eine wirk-
liche Entschädigung zu leisten.


(Beifall bei der LINKEN)


Auf die Einzelheiten des Grauens, das diese Kinder da-
mals durchlebt haben – das ist heute auch noch einmal
angesprochen worden –, muss ich nicht noch einmal ein-
gehen.

Wiedergutmachen kann man das nicht, aber man kann
das Leid der Betroffenen anerkennen und ein Schmer-
zensgeld zahlen, das zumindest angemessen erscheint.
Legt man die Zahlen zugrunde, die auch in der Anhö-
rung im Ausschuss zur Sprache kamen, so entspricht der
von den anderen Fraktionen beantragte Fonds von
120 Millionen Euro einer Entschädigung von 125 Euro
pro Kopf. Von daher waren und sind wir uns fraktions-
übergreifend alle einig, dass die veranschlagten 120 Mil-
lionen Euro nicht ausreichen werden.

Gleichwohl hat der Haushaltsausschuss gestern be-
schlossen, die 40 Millionen Euro Anteil des Bundes als
einmalige maximale Obergrenze zu veranschlagen und
aus dem Einzelplan 17 zu finanzieren. Mit anderen Wor-
ten: Entschädigung der Kinder von gestern auf Kosten
der Kinder von heute.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Sauerei ist das!)


So viel zu der Familien- und Entschädigungspolitik die-
ser Regierung. Darin kann kaum eine Anerkennung des
Leidens oder auch nur ansatzweise eine Schadenswie-
dergutmachung gesehen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb gehen die Forderungen im Antrag der Linken
über die im Antrag der übrigen Fraktionen hinaus. Wir
fordern nicht nur eine angemessene Versorgung anknüp-
fend an noch bestehende Folgeschäden, sondern wirk-





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

liche Entschädigung. Die Entschädigung muss sich an
dem persönlich erlittenen Unrecht orientieren und nach
Überzeugung der Linken bis zu 54 000 Euro betragen; in
besonders schweren Fällen soll der Betrag höher ausfal-
len können. Wenn wir davon ausgehen, dass wir jedes
zehnte Kind mit einem durchschnittlichen Betrag von
27 000 Euro entschädigen müssten, würde dies den
Haushalt mit etwa 2 Milliarden Euro belasten. Die Frage
ist, ob wir bereit sind, 2 Milliarden Euro für die Wieder-
gutmachung von Menschenrechtsverletzungen auszuge-
ben.

Die Berechtigung der finanziellen Forderungen der
betroffenen Heimkinder zeigt ein kurzer Blick ins Zivil-
recht. Im System der deliktischen Handlung spielt das
Schmerzensgeld eine wichtige Rolle für die Anerken-
nung des erlebten Leidens; dies ist nicht in wirtschaft-
liche Kosten, Arztrechnungen etc. übertragbar. Der
Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ ist vorhin
angesprochen worden. Wenn man die Ergebnisse dieses
Runden Tisches betrachtet, muss man feststellen, dass
die Unabhängige Beauftragte Christine Bergmann in ih-
rem Abschlussbericht ein Modell vorgelegt hat, welches
Entschädigungszahlungen in Höhe der entsprechenden
Schmerzensgeldsätze mit einer Obergrenze von 50 000
Euro vorsieht. Aus Sicht der Linken wäre es ein fatales
Signal an die ehemaligen Heimkinder, wenn eine ver-
gleichbare Opfergruppe Entschädigungen mit Genug-
tuungsfunktion erhielte, die für sie selbst nicht vorgese-
hen sind.

Die Einrichtung einer Stiftung oder eines Fonds, wie
es vorgeschlagen wird, reicht nicht aus. Nein, es bedarf
eines Gesetzes – dies fordern wir –, welches den Betrof-
fenen einen Rechtsanspruch auf Entschädigung bei Vor-
liegen der entsprechenden Voraussetzungen gewährt;
dieser kann notfalls auch auf dem Rechtsweg durchge-
setzt werden.

Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die
damals betroffenen Heimkinder teilweise auch in Betrie-
ben als billige oder kostenlose Arbeitskräfte eingesetzt
wurden. Diese Betriebe gilt es festzustellen und zu der
Finanzierung der Entschädigung mit heranzuziehen. Es
darf nicht bei Bund, Ländern und Kirchen bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen sie aber noch lange warten, bis sie etwas kriegen!)


Wir alle sind uns einig, dass wir gemeinsam einen
Kampf gegen Kinderarbeit führen wollen; das kam ges-
tern im Ausschuss zur Sprache. Lassen Sie uns mit ei-
nem entsprechenden Gesetz beginnen, um zu zeigen,
dass wir unsere Vergangenheit nicht verdrängen, die da-
maligen Opfer als solche entsprechend anerkennen und
zumindest ein wenig Wiedergutmachung leisten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712027700

Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Winkler von

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kollegin-
nen und Kollegen! Auch ich bin, so wie Kollegin
Rupprecht, schon etliche Jahre mit diesem Thema be-
fasst. Wir waren gemeinsam im Petitionsausschuss Be-
richterstatter zu diesem Thema und haben den Beschluss
zur Einsetzung des Runden Tisches und auch diesen Be-
schluss, den wir heute hier fassen, mit vielen anderen
Kollegen gemeinsam vorbereitet. Sie können davon aus-
gehen, dass dies durchaus ein besonderer Tag ist. Daher
war es mir nicht möglich, meine Rede zu diesem Thema
zu Protokoll zu geben.

Ich möchte einen Punkt ansprechen: die Entschädi-
gungssummen. Wenn man zum Vergleich darauf hin-
weist, was wir an die Opfer des NS-Regimes ausgezahlt
haben, dann muss man den großen Gesamtzusammen-
hang betrachten. Man kann Unrecht nicht gegeneinander
aufrechnen. Herr Wunderlich, Sie haben gerade ver-
sucht, dies zu machen. Sie haben gesagt: Diese Opfer ha-
ben zum Teil nur Summen um die 5 000 Euro bekom-
men und waren von den Nazis verfolgt. – Das können
Sie nicht mit dem Leid der Heimkinder in einen Bezug
setzen.

Ich finde, wir haben einen historischen Erfolg erzielt.
Er kommt Jahrzehnte zu spät, aber wir können froh sein,
dass wir uns interfraktionell geeinigt haben. Ich persön-
lich muss sagen: Wir können stolz darauf sein, dass wir
diesen Beschluss heute gemeinsam fassen.

Jetzt zu dem, was die Linke hier betreibt. In der An-
hörung hat ein Vertreter der Heimkinder gesagt: Ich
hoffe sehr, dass Sie uns nicht täuschen. – Doch, genau
das tun Sie. Sie wussten von vornherein, dass Ihre For-
derung völlig aussichtslos ist. Wir reden nicht von einem
Betrag von 2 Milliarden. Herr Witti und andere fordern
24 Milliarden Euro. Sie haben immer gesagt, dass Sie
die Forderungen der Vertreter der Heimkinder aufgrei-
fen. Veräppeln Sie diese Leute nicht! Sie sollten sich
schämen, vor diesen Leuten, denen in der Bundesrepu-
blik Deutschland so viel Unrecht angetan wurde, eine
Show zu veranstalten und zu sagen: Die anderen Par-
teien im Parlament wollen Ihnen zu wenig Geld geben,
weil sie Ihnen nicht mehr gönnen. – Sie sollten sich
wirklich schämen! Sie sollten sich nicht hier hinstellen
und solche Aussagen treffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Der zweite Grund, weswegen Sie diesem Antrag nicht
zustimmen, ist – geben Sie es doch zu! –, weil in unse-
rem Antrag steht, dass die Unterbringung in Heimen der
DDR, in einem diktatorischen System, immer die Unter-
ordnung unter das sozialistische System zum Ziel hatte.
Das ist ein weiterer Grund, warum Sie sich herausmo-
geln und sagen, Sie wollen dem Antrag nicht zustimmen.





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben nämlich interfraktionell klar festgestellt: Die
Heimunterbringung in der DDR hatte immer die Unter-
ordnung des Charakters unter die sozialistische Diktatur
zum Ziel.


(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Das ist ja abenteuerlich! – Johanna Voß [DIE LINKE]: Das haben die Kinder im Westen genauso erlebt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712027800

Herr Kollege Winkler, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Wunderlich?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bitte schön.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712027900

Bitte, Herr Wunderlich.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712028000

Herr Kollege Winkler, vielleicht können Sie sich da-

ran erinnern, dass wir in der interfraktionellen Arbeits-
gruppe gemeinsam an den von Ihnen gerade erwähnten
Begriffen gearbeitet haben und dass die Linke insoweit
einverstanden war. Im Übrigen sprechen wir heute nicht
über die Heimkinder in der DDR; dazu werden wir noch
genügend Argumente hören. Das ist nicht Gegenstand
des Antrags. Es geht hier um die Heimkinder aus dem
Westen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist doch gar nicht wahr.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712028100

Wir wissen, dass in der DDR auch Schlimmes pas-

siert ist.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage nur: Beschlussempfehlung.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712028200

Dann haben Sie Ihren eigenen Antrag nicht richtig ge-

lesen.


(Lachen des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das muss aber noch aufgearbeitet werden. Ein entspre-
chendes Gesetz soll auf den Weg gebracht werden. Hier
ist noch Forschung notwendig. Das haben wir allesamt
übereinstimmend festgestellt.

Um auf die Anhörung zurückzukommen: Wenn Sie
hier schon aus der Anhörung zitieren, können Sie sich
vielleicht auch daran erinnern, dass die Sachverständi-
gen von etwa 800 000 Überlebenden der Kinderheime
gesprochen haben – ich finde, das ist ein ganz schlimmer
Begriff – und davon ausgegangen sind, dass jedes dieser
800 000 Kinder mit dem von uns geforderten Betrag von
54 000 Euro – das ist die Obergrenze – entschädigt wird.
Dies führt in der Summe zu einem Betrag von etwa
44 Milliarden Euro. Das ist natürlich Quatsch. Das ist
nämlich keine pauschale, unabhängige Entschädigung.
Vielmehr bemisst sie sich nach dem persönlich erlittenen
Leid. Die Zahlen im Hinblick auf die Antragsteller, die
Sie zugrunde legen, liegen darunter; auch das muss man
feststellen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712028300

Kommen Sie bitte zum Schluss der Frage.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712028400

Ja. – Geht man von einem Mittelwert, nämlich von

27 000 Euro, aus, kommt man auf einen Betrag von etwa
2 Milliarden Euro. Insofern: Rechnen – ich hatte Mathe-
Leistungskurs – kann ich.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich nehme das mal als Zwischenbemerkung, auf die
ich gerne eingehe. Ich will gar nicht abstreiten, dass es
Mitglieder Ihrer Fraktion gibt, die diesen interfraktionel-
len Antrag hätten unterstützen können. Aber ich be-
zweifle wirklich ernsthaft, dass Sie es jemals geschafft
hätten, Ihre Fraktion hinter diesem Antrag zu versam-
meln, völlig unabhängig von den Summen. Der Grund
dafür ist, dass wir uns auch mit der DDR beschäftigt und
gesagt haben: Auch für das, was dort geschehen ist,
muss eine Entschädigung erfolgen, nicht in diesem
Sachzusammenhang, sondern separat und mit eigenen
Mitteln. Daran wird sich der Bund mit einem Drittel be-
teiligen. – Dafür hätten Sie keine Mehrheit gefunden –
das war jedenfalls meine Überzeugung –, weil die For-
mulierung so ist, wie sie ist. Das ist eine Prognose.


(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Da liegen Sie ganz falsch!)


Sie mag falsch sein; das ist schließlich ein „hätte, wäre,
könnte“. Aber das ist, wie gesagt, meine Vermutung. Sie
können sie nicht widerlegen. Die Fakten sprechen dage-
gen.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Mal miteinander reden, nicht übereinander!)


Jetzt muss ich mich der anderen Seite des Hauses zu-
wenden; ich bin nämlich der Auffassung, über die Linke
wurde genug gesprochen. Ich möchte die Entscheidung
des Haushaltsausschusses ansprechen. Weil bei diesem
Thema eben ein bisschen Heiterkeit herrschte, muss ich
sagen: Ich finde, vom Stil her war es schlecht. In dem
langen Prozess, der sich, zumindest was den Bundestag
betrifft, über sechs Jahre hingezogen hat, haben wir im-
mer darauf geachtet, dass wir interfraktionell vorgehen;
zunächst war die Linke ja gar nicht im Parlament vertre-
ten. Dies war das erste Mal, dass die beiden Regierungs-
fraktionen in diesem Prozess im Haushaltsausschuss an-





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)

ders als die Oppositionsfraktionen abgestimmt haben.
Das halte ich einfach für ein schlechtes Signal.

Von allem, was Frau Rupprecht gesagt hat, will ich
hoffen, dass es nicht eintritt. Ich bitte Sie, das noch ein-
mal zu bedenken, es mit Ihren Haushältern zu bespre-
chen und dann zu anderen Empfehlungen zu kommen.
Das ist wirklich keine Petitesse. Für uns ist es jedenfalls
sehr wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Frau Kollegin Rupprecht spricht hier auch nicht nur
für ihre Fraktion, sondern ebenfalls für meine. Wir tra-
gen das so nicht mit, wie es in dieser Fassung im Haus-
haltsausschuss beschlossen worden ist.


(Florian Toncar [FDP]: Sie wissen doch gar nicht, wie es beschlossen worden ist!)


– Wir hörten, wie es beschlossen worden sein soll.

Deshalb sage ich: Die Empfehlungen des Runden Ti-
sches müssen jetzt umgesetzt werden. Auch die Landes-
parlamente müssen die Empfehlungen umsetzen und ein
glaubwürdiges Signal an die Heimkinder aussenden,
dass es zeitnah losgehen kann – am besten zum 1. Januar
des nächsten Jahres. Ich hoffe, dass wir uns dann auch
hier in dieser Gemeinsamkeit wiederfinden.

Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die Geduld, und
Ihnen allen noch einen schönen Abend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712028500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Manfred Kolbe von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1712028600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beraten heute Abend einen Antrag der vier Fraktionen,
bei dem es darum geht, wie wir Opfern von Unrecht und
Misshandlung in West- und Ostdeutschland wirksam
helfen können.

Herr Wunderlich, Sie haben schlicht und ergreifend
unrecht und haben unseren Antrag nicht gelesen. Es geht
heute nicht nur um die Heime West.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)


Wir sind hier weiter als der Runde Tisch. Wir handeln
gesamtdeutsch. Wir behandeln hier im Deutschen Bun-
destag die Problematik Ost und West. Darum geht es
heute Abend.

An dieser Stelle wäre es angemessen gewesen, dass
Sie, statt nur große Forderungen zu stellen – 54 000 Euro
pro Heimkind usw. –, auch einmal ein Wort zu den Zu-
ständen in der ehemaligen DDR gesagt hätten. Dabei
waren Sie natürlich persönlich nicht involviert. Als Ab-
geordneter der Nachfolgepartei der SED hätten Sie aber
schon ein Wort der Entschuldigung hervorbringen kön-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Na ja! Das sagen die Blockflöten!)


Dazu haben Sie aber nichts gesagt. Das ist auch bezeich-
nend.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Es gibt auch noch eine andere Geschichte in Deutschland! Da können Sie sich entschuldigen!)


Wir haben den Runden Tisch gehabt, der unter Vorsitz
von Frau Dr. Antje Vollmer wertvolle Arbeit zur Aufklä-
rung der Heimerziehung West geleistet hat. Kollege
Norbert Geis hat dazu bereits Ausführungen gemacht.

Hier ist Unrecht geschehen. Dieses Unrecht muss ent-
schädigt werden. Dazu wird ein Fonds in Höhe von
120 Millionen Euro aufgelegt, der drittelparitätisch vom
Bund, den Ländern und den Kirchen getragen wird.

Ich sage als Berichterstatter für den Osten, dass dieser
Fonds alleine für die Heimkinder West gedacht ist, Frau
Rupprecht. Wir haben von Anfang an niemals darauf ab-
gezielt, diesen Fonds auch für den Osten zu nutzen. Das
gäbe auch keinen Sinn, weil zum Beispiel die Kirchen
nicht Träger von Kinderheimen im Osten waren, sich
aber natürlich an diesem Fonds beteiligen.

Wir haben von Anfang an einen zusätzlichen, eigen-
ständigen Fonds für den Osten gefordert. Genauso, wie
wir diesen Fonds für den Westen respektieren, haben wir
aber immer gesagt: Wir brauchen zeitgleich auch eine
Lösung für den Osten. Es kann nicht bei der Situation
des Runden Tisches bleiben, wo nur die Situation West
erörtert und entschädigt wird und die Heimkinder Ost
außen vor bleiben. Wir brauchen zeitgleich auch eine
Lösung für die Heimkinder Ost, die mindestens gleiches
Unrecht erlitten haben wie die Heimkinder West.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige
Worte zur DDR-Heimerziehung sagen. Die DDR-Heim-
erziehung war zentralistisch organisiert. Oberstes Organ
war das Ministerium für Volksbildung, seit 1963 unter
Leitung von Margot Honecker. Es ist kein Zufall, dass
der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau, die schlimmste
Einrichtung dieses Systems, 1964 unter ihrer Leitung
eingerichtet wurde. Es gab 474 Heime, Spezialheime,
32 Jugendwerkhöfe und als zentrale Einrichtung den Ge-
schlossenen Jugendwerkhof Torgau.

Die Heimerziehung war auch in der ehemaligen DDR
vielschichtig. Ich kenne ehemalige Heimkinder, die von
einer fürsorglichen Erziehung sprechen und dort gerne
gelebt haben. Ich kenne aber auch Heimkinder, die am
liebsten Selbstmord begangen hätten, um dort nicht wei-
ter leben zu müssen.

Auch die Heimeinweisungen waren vielschichtig: Sie
erfolgten bei wiederholtem und grobem Verstoß gegen
die gesellschaftlichen Normen. Das reichte von Arbeits-
verweigerung und Schulverweigerung bis hin zu politi-
schen Gründen,





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Das gibt es heute auch noch hier!)


wenn die Eltern etwa versuchte Republikflucht began-
gen hatten oder wenn sich die Jugendlichen nicht den so-
zialistischen Normen unterwarfen, indem sie etwa eine
andere Haartracht oder westlich anmutende Kleidung
trugen.

Im Zentrum der DDR-Heimerziehung stand die Er-
ziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten. Der war al-
les untergeordnet. Ich zitiere Eberhard Mannschatz, den
Chefideologen, der die „individualistische Gerichtet-
heit“ der Jugendlichen als den „Kern der psychischen
Besonderheit“ Schwererziehbarer definierte. Deshalb
stand im Mittelpunkt das Kollektiv, die Gruppe. Die
Gruppe wurde für das Versagen Einzelner bestraft, und
die Gruppe hat dann den Einzelnen bestraft. Straffe Ta-
gesordnung, Morgenappell, Sport und Drill waren an der
Tagesordnung.

Die Spitze des ganzen Systems war der Geschlossene
Jugendwerkhof Torgau. Wer nach Ansicht der Organe in
den anderen Einrichtungen noch nicht zur sozialistischen
Persönlichkeit geformt worden war, kam nach Torgau
und sollte dort durch eine Schocktherapie gemäß dem
Motto „Wer nicht hören will, muss fühlen“ zur sozialisti-
schen Persönlichkeit erzogen werden. Horst Kretschmar,
der ehemalige Direktor, schrieb zynisch in seiner Diplo-
marbeit:

In der Regel benötigen wir drei Tage, um die Ju-
gendlichen auf unsere Forderungen einzustimmen.

Welch Zynismus!

Man kann Ost und West nur schwer vergleichen, aber
zwei Dinge muss man zur Situation in der ehemaligen
DDR sagen:

Erstens. Die DDR war im Unterschied zur Bundesre-
publik, die auch in den 50er-Jahren ein demokratischer
Rechtsstaat war, wenn die Erziehungsmethoden viel-
leicht auch nicht den heutigen entsprachen,


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Die sind heute auch noch so! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die ganzen Nazis saßen noch überall drin! Medizin! Die Juristen!)


ein Unrechtsstaat, in dem der Betroffene nicht einmal
theoretisch die Möglichkeit hatte, Abhilfe zu suchen.
Diese Möglichkeit bestand in der Bundesrepublik
manchmal schon.

Zweitens. Die Zustände in der ehemaligen DDR ha-
ben bis 1989 angedauert, ohne irgendeinen gesellschaft-
lichen Wandel wie im Westen. Es geht nicht um die Zu-
stände West.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Die dauern immer noch an bis in unsere Zeit! Alles kein schönes Kapitel!)


Die Zustände in der DDR haben bis 1989 angedauert.
Gerade dieser besagte Horst Kretschmar hat bis zum bit-
teren Ende sein Unwesen getrieben. Er ist – das ist ein
Zufall der Geschichte – in der Nacht des Mauerfalls ei-
nes natürlichen Todes verstorben, was ihn vor einem
Strafverfahren gerettet hat.

Dieses Unrecht wird in Torgau und in den anderen
Stellen aufgearbeitet. Es gibt dort einen Verein, der ver-
dienstvolle Arbeit leistet. So wie wir im Westen eine
Entschädigungsregelung haben, so muss es auch eine
Entschädigungsregelung Ost geben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Wir brauchen einen zusätzlichen Fonds für den Osten.
Die 120 Millionen Euro sind für die Heimkinder im
Westen. Der Bund hat sich bereit erklärt, für den Osten
ebenfalls ein Drittel zu tragen. Das zweite Drittel könnte
von den Ländern im Osten und das dritte Drittel viel-
leicht aus dem Vermögen der Parteien und Massenorga-
nisationen der DDR kommen. Das wird sich aber in den
kommenden Monaten zeigen.

Wichtig ist uns – das ist mein Schlusssatz –, dass wir
das Unrecht in Ost und West hier gleichermaßen auf die
Tagesordnung setzen und dass es zeitgleich eine Rehabi-
litation und Entschädigung in beiden Landesteilen
Deutschlands gibt; denn wir sind mittlerweile seit
20 Jahren ein wiedervereinigtes Land, und deshalb brau-
chen wir eine gesamtdeutsche Lösung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712028700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/6500.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6143 mit dem Titel „Op-
fern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerzie-
hung wirksam helfen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Linken
mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6093 mit dem Ti-
tel „Unterstützung für Opfer der Heimerziehung – Ange-
messene Entschädigung für ehemalige Heimkinder um-
setzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm,





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
und Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik der EU wirksam kontrollieren

– Drucksache 17/5387 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es liegt der Wunsch nur einer Rednerin vor, zu spre-
chen. Die anderen Reden werden zu Protokoll genom-
men.1) Ich erteile daher der Kollegin Sevim Dağdelen
von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt muss aber was kommen! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die sind alle nur für dich gekommen!)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712028800

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Es ist kein Zufall, dass das Hohe Haus
ein so bedeutendes und bedeutsames Thema wie die eu-
ropäische Außen- und Sicherheitspolitik wieder einmal
im Schutz der Dunkelheit behandelt. Die Regierungs-
fraktionen, CDU/CSU und FDP, haben gemeinsam mit
SPD und Grünen wirklich alles unternommen, um eine
Debatte über die parlamentarische Kontrolle der euro-
päischen Außen- und Sicherheitspolitik von der Öffent-
lichkeit fernzuhalten.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie hätten es nur früher aufsetzen müssen!)


Selbst bei der Behandlung Ihrer eigenen Anträge ei-
nigten Sie sich auf ein vereinfachtes Verfahren ohne De-
batte, als ginge es hier lediglich um Bagatellen und nicht
um die zukünftige Ausrichtung der deutschen Außen-
politik.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Deswegen sind auch nur sechs von Ihren Kollegen da!)


Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU bis Grüne,
die so gerne von Demokratie reden, versuchen hier im
Bundestag eine Tradition zu etablieren, bei der Entschei-
dungen über Krieg, Sanktionen, Rüstungsexporte und
Auslandseinsätze als Protokolldebatten geführt werden.
Das macht die Linke wie bei Ihrem klammheimlichen
Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Kollege Spatz von der FDP-Fraktion hat es
letztens auf den Punkt gebracht, wenn auch nur zu Proto-
koll. Es gehe, so meinte er in seiner Protokollrede – ich
zitiere –, „letztlich doch um die Perzeption elementarer
Sicherheitsbedürfnisse“, bei der die Bevölkerung mitge-
nommen werden solle. Ja, es gehört leider doch zu einer

1) Anlage 9
Unsitte der deutschen Außenpolitik von Joschka Fischer
bis Guido Westerwelle, dass das Schüren von Ängsten
und Bedrohungsszenarien die Rechtfertigung einer krie-
gerischen Außenpolitik herstellen sollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hierin scheint auch die einzige Sorge der CDU/CSU-
Fraktion um das, wie es der Kollege Kiesewetter sagte,
„zarte Pflänzchen“ GASP, also die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik, zu liegen. Nur um diese Sorge
geht es Ihnen anscheinend. Unter Kontrolle der gemein-
samen Sicherheitspolitik versteht der Kollege nicht die
Stärkung der parlamentarischen Kontrolle, sondern eben
die Durchsetzungskraft deutscher Interessen im Rahmen
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Im Vertrag von Lissabon werden den nationalstaatli-
chen Parlamenten wie auch dem Europäischen Parla-
ment parlamentarische Kontrollrechte in der EU-Außen-
politik schlicht verweigert; das wissen Sie ganz genau.
Solange dieses Demokratiedefizit in den europäischen
Verträgen selbst nicht beseitigt wird, fordern wir, die
Linke, die Gründung einer interparlamentarischen Ver-
sammlung zur Kontrolle der GASP und auch der GSVP,


(Beifall bei der LINKEN)


allerdings nur dann, wenn damit eine wirksame und um-
fassende parlamentarische Kontrolle gewährleistet wird.
Dazu gehört für uns gerade auch ein Ablehnungs- bzw.
ein Zustimmungsrecht zu allen Maßnahmen der Ge-
meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zu allen Mis-
sionen sowie der Verhängung von Zwangsmaßnahmen
wie Sanktionen, und zwar unabhängig von den Rechten
der einzelstaatlichen Parlamente und auch unabhängig
von den Rechten des Europäischen Parlaments. Eine sol-
che Versammlung muss auch Stellungnahmen vom Eu-
ropäischen Auswärtigen Dienst, von der Kommission
und auch vom Rat erbitten können.

Für uns ist weiterhin zentral, dass die Vertretung von
kleineren Fraktionen in dieser Versammlung sicherge-
stellt werden muss.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ CSU: So viel zum Thema Demokratie!)


Wir schlagen deshalb vor, dass sich die Zusammenset-
zung dieser interparlamentarischen Versammlung nach
dem Vorbild der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates richtet.


(Beifall bei der LINKEN)


Wieder einmal – ich komme zum Schluss – will allein
die Linke eine echte parlamentarische Kontrolle. Sie
steht damit leider im Gegensatz zu allen anderen Frak-
tionen, die es vorziehen, hier mit Placebos zu arbeiten.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, weil
auch Sie als Parlamentarierinnen und Parlamentarier
sich nicht weiter entmachten lassen sollten. Die Ent-
scheidung über Krieg und Frieden


(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie es nicht etwas kleiner, Frau Kollegin?)






Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
wie auch die Entscheidung über Panzerlieferungen nach
Saudi-Arabien darf keine Entscheidung eines geheimen
Kabinetts mehr sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712028900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5387 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir haben jetzt noch eine große Zahl von Tagesord-
nungspunkten, bei denen die Reden zu Protokoll gege-
ben worden sind. Ich bitte Sie, mich dabei noch zu be-
gleiten. Ich werde so schnell machen, wie ich reden
kann.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:1)

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des § 522 der Zivilprozessord-
nung

– Drucksachen 17/5334, 17/5388 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Christine Lambrecht, Sonja Steffen,
Dr. Peter Danckert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Gesetzes zur Änderung der Zivilpro-
zessordnung (§ 522 ZPO)


– Drucksache 17/4431 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, Volker
Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des § 522 der Zivilprozessordnung

– Drucksache 17/5363 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/6406 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Sonja Steffen
Mechthild Dyckmans
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6406, den Gesetzentwurf

1) Anlage 11
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/5334 und
17/5388 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD zur Änderung der Zivilprozessordnung. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/6406, den Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4431 ab-
zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt die
weitere Beratung.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des § 522 der Zi-
vilprozessordnung. Der Rechtsausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/6406, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/5363 abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf abgelehnt. Auch
hier entfällt die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:2)

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kai Gehring, Dr. Harald Terpe, Dr. Konstantin
von Notz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Effektivierung des Jugendschutzes

– Drucksachen 17/3725, 17/5868 –

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 17/6451. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke und Zustimmung von SPD und Grü-
nen abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und auf:3)

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten

2) Anlage 10
3) Anlage 12





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens
vom 4. August 1963 zur Errichtung der Afri-
kanischen Entwicklungsbank

– Drucksache 17/6062 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (19. Ausschuss)


– Drucksache 17/6395 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Dr. Barbara Hendricks
Joachim Günther (Plauen)

Niema Movassat
Ute Koczy

b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
29. November 1972 über die Errichtung des
Afrikanischen Entwicklungsfonds

– Drucksache 17/6063 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (19. Ausschuss)


– Drucksache 17/6396 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Dr. Barbara Hendricks
Joachim Günther (Plauen)

Niema Movassat
Ute Koczy

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/6395, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/6062 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen.

Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6396, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/6063 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:1)

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtli-
nien der Europäischen Union und zur Anpas-
sung nationaler Rechtsvorschriften an den
EU-Visakodex

– Drucksache 17/6053 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufent-
haltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen
Union und zur Anpassung nationaler Rechts-
vorschriften an den EU-Visakodex

– Drucksache 17/5470 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/6497 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/6497, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung
auf Drucksache 17/6053 sowie der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/5470 zusammen-
zuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Oppositionsfraktionen angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:2)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Tack,

1) Anlage 14
2) Anlage 13





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Klonen von Tieren zur Lebensmittelproduk-
tion verbieten

– Drucksachen 17/5485, 17/5893 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Kerstin Tack
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5893, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/5485 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b auf:1)

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Erika
Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina
Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Situation der Sinti und Roma in Europa
verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Graf (Rosenheim), Kerstin Griese, Rüdiger
Veit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Die Integration der Sinti und Roma in Eu-
ropa verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen
Trittin, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für die Umsetzung der Gleichstellung von
Sinti und Roma in Deutschland und Eu-
ropa

– Drucksachen 17/5767, 17/6090, 17/5191,
17/6446 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Angelika Graf (Rosenheim)

Pascal Kober
Annette Groth
Volker Beck (Köln)


1) Anlage 16
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

In historischer Verantwortung – Für ein
Bleiberecht der Roma aus dem Kosovo

– zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Zwangsrückführungen von Minder-
heitenangehörigen in das Kosovo

– Drucksachen 17/784, 17/1569, 17/3735 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 17/6446. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/5767 mit dem Titel „Situation der
Sinti und Roma in Europa verbessern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Oppositions-
fraktionen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/6090 mit dem Titel „Die Integration der Sinti
und Roma in Europa verbessern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und Enthaltung der Linken und der Grünen angenom-
men.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5191 mit dem Titel „Für die Umsetzung der Gleich-
stellung von Sinti und Roma in Deutschland und Eu-
ropa“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Linken und die Grünen bei
Enthaltung der SPD-Fraktion.

Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses auf Drucksache 17/3735. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/784 mit dem Titel „In histori-
scher Verantwortung – Für ein Bleiberecht der Roma aus
dem Kosovo“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken
und Enthaltung von SPD und Grünen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1569 mit dem Titel „Keine
Zwangsrückführungen von Minderheitenangehörigen in
das Kosovo“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen von Linken und Grünen
und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:1)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elke Ferner,
Monika Lazar, Cornelia Möhring und weiterer
Abgeordneter

Erweiterung der Anzahl der Sachverständigen
in der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nach-
haltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem
Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“

– Drucksachen 17/5885, 17/6435 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Michael Hartmann (Wackernheim)

Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck (Köln)


Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6435,
den Antrag der Abgeordneten Elke Ferner, Monika
Lazar, Cornelia Möhring und weiterer Abgeordneter auf
Drucksache 17/5885 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 27:2)

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

zu der Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates betreffend die Aufnahme
und Ausübung der Versicherungs- und Rück-
versicherungstätigkeit (EG) Nr. 2009/138 (Sol-
vabilität II) sowie zum Entwurf einer Richt-
linie des Europäischen Parlaments und des
Rates zur Änderung der Richtlinien 2003/71/
EG und 2009/138/EG im Hinblick auf die Be-

1) Anlage 15
2) Anlage 17
fugnisse der Europäischen Aufsichtsbehörde
für das Versicherungswesen und die betriebli-
che Altersvorsorge und der europäischen
Wertpapieraufsichtsbehörde (Omnibus II)

hier: Stellungnahme nach Artikel 23 Absatz 3

des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

Für eine harmonisierte europäische Versiche-
rungsaufsicht unter Wahrung bewährter Auf-
sichtsinstrumente zur Risikovorsorge in
Deutschland

– Drucksache 17/6456 –

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/6456. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken
und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Gute öffentlich geförderte Beschäftigung –
Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit
und Ein-Euro-Jobs

– Drucksachen 17/1397, 17/5448 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1712029000

Die Arbeitslosigkeit sinkt deutlich unter 3 Millionen,

die Zahl der Jobs geht auf neue Rekordstände zu. Die
umsichtige und kluge Arbeitsmarkt- und Wirtschafts-
politik der Union trägt gute Früchte. Im internationalen
Vergleich steht Deutschland sehr gut da – es wird sogar
vom „German Wunder“ gesprochen. Die Linken aber
ignorieren diese guten Entwicklungen und üben sich
weiterhin in Larmoyanz. Die Linke spricht von der
„Geißel einer hohen Langzeitarbeitslosigkeit“. Es ist
zwar richtig: Jeder Erwerbslose ist einer zu viel – und
das nicht nur aus pekuniären Gründen, sondern weil Er-
werbstätigkeit auch ein Türöffner ist für soziale und ge-
sellschaftliche Teilhabe. Sicher, wir müssen besonderes
Augenmerk darauf legen, dass auch Langzeitarbeitslose
und weniger Qualifizierte zügig den Weg zurück in den
ersten Arbeitsmarkt finden. Dennoch halte ich es für er-
wähnenswert, dass sich die Zahl der Langzeiterwerbslo-
sen unter der Regierung Merkel von durchschnittlich
über 1,8 Millionen im Jahr 2005 auf knapp über 1 Milli-
on im Jahr 2010 erheblich verringert hat. Das ist eine
beachtliche Entwicklung.

Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Ebenso wenig kann ich den Klageruf der Linken
nachvollziehen, die soziale Absicherung verschlechtere
sich. Seit Gründung der BRD haben wir einen stets stei-
genden Sozialhaushalt, der eine politisch gewollte, ef-
fektive soziale Absicherung möglichst breiter gesell-
schaftlicher Schichten widerspiegelt. So sind im Jahr
2010 mit 153 Milliarden Euro fast die Hälfte der gesam-
ten Bundesausgaben auf den Arbeits- und Sozialbereich
entfallen. Das ist Rekord und widerspricht dem Bild der
Linken einer allgemeinen sozialen Kälte in unserem
Land.

Ebenso haltlos ist die Unterstellung, die öffentlichen
Investitionen seien gedrosselt worden. Gerade im Rah-
men der Konjunkturpakete I und II sind die öffentlichen
Investitionen massiv erhöht worden. Hierbei haben wir
– auch in Zusammenarbeit mit den Ländern – vor allem
die Forschung und Entwicklung des Mittelstandes geför-
dert und in nachhaltige Mobilitäts- und Infrastruktur-
projekte investiert. Insgesamt belaufen sich die zusätzli-
chen wachstumspolitischen Maßnahmen der Bundes-
regierung auf rund 100 Milliarden Euro. Wer hier von
einer Drosselung spricht, hat jedweden Sinn für Maß
und Mitte verloren.

Noch mehr irritiert hat mich die Aussage der Linken,
das Land Berlin sei beispielhaft, was die strategische
Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit angeht. Mög-
licherweise haben die Antragschreiber die Diagramme
verkehrt herum gehalten, aber die Zahlen sprechen eine
ganz eindeutige Sprache: Berlin verkörpert mitnichten
ein Jobwunder. Die Erwerbslosenquote entwickelt sich
zwar analog zum Bundesdurchschnitt und damit positiv,
allerdings auf fast doppelt so hohem Niveau. Einen
überdurchschnittlichen Abbau der Arbeitslosigkeit im
Vergleich zum Bundestrend ist hier beim besten Willen
nicht erkennbar. Daher erschließt sich mir Berlin bei der
Entwicklung der Arbeitslosigkeit nicht zwingend als ein
Musterland.

Nun fordern die Linken die Schaffung von 500 000 öf-
fentlich geförderten Beschäftigungsverhältnissen. Die-
ser Bedarf erschließt sich mir nicht. Auch mein ge-
schätzter Kollege Mierscheid, der in seiner Funktion als
Vorsitzender des Kleintiervereins Morbach vehement für
eine Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäfti-
gung gestritten hat, bezeichnete die Forderung der Lin-
ken als nicht praktikabel. Eine solche Zahl würde auch
der Luftkurort Morbach nicht bewältigen können. Öf-
fentlich geförderte Beschäftigung kann ein sinn- und
wirkungsvolles Arbeitsmarktinstrument sein, aber die
Evaluationen des IAB zeigen, dass dieses seine Wirkung
nur dann entfaltet, wenn es auch gezielt eingesetzt wird.
Eine breite und willkürliche Streuung dieser Maßnahme
lehnen wir daher ab. Nicht zuletzt würde eine massen-
hafte Anwendung dieses Instrumentes auch unterstellen,
dass Erwerbslose kongruente Problemlagen hätten.
Dies ist nicht der Fall. Gerade Langzeitarbeitslose wei-
sen multiple Problemlagen auf, weshalb wir auch einen
breiten Kasten arbeitsmarktpolitischer Instrumente be-
reithalten. Diese Instrumente wird die Bundesregierung
nun mit ihrem Gesetzentwurf zur Verbesserung der Ein-
gliederungschancen am Arbeitsmarkt schärfen.
Zu Protokoll
Der Gesetzentwurf wurde am 1. Juli 2011 in erster
Lesung im Deutschen Bundestag beraten. Erst nach der
Sommerpause wird die weitere Behandlung im Aus-
schuss Arbeit und Soziales mit einer Anhörung Anfang
September fortgesetzt. Die zweite und dritte Lesung ist
für den 22. September geplant. Dieser Zeitplan doku-
mentiert, dass die parlamentarische Diskussion gerade
erst beginnt. Uns haben zahlreiche Stellungnahmen von
Verbänden und Institutionen erreicht. Zwischenzeitlich
wurden im vorliegenden Regierungsentwurf bereits ei-
nige Änderungsvorschläge aufgenommen. So wurden
die kritisierten Kriterien der Zusätzlichkeit, des öffentli-
chen Interesses, der Wettbewerbsneutralität teilweise
bereits aufgegeben zugunsten einer anderen Regelung.
Wir werden auch weitere Vorschläge anhand der Zielset-
zung des Gesetzesvorhabens prüfen, wo noch Hand-
lungsbedarf besteht. In allen Debatten hat für uns die In-
tegration der Menschen in den ersten Arbeitsmarkt
oberste Priorität.

Ich meine, dass die vorliegende Reform der arbeits-
marktpolitischen Instrumente eine gute Basis bietet, um
die Integration auf den Arbeitsmarkt zu beschleunigen
und zu verbessern. Sie ermöglicht mehr Flexibilität und
Effizienz. Sie schafft mehr Entscheidungsfreiheit vor
Ort. Die Notwendigkeit der Reform ergibt sich nicht in
erster Linie aus Sparzwängen, sondern auch aus der
Auswertung der Evaluation zu den arbeitsmarktpoliti-
schen Instrumenten. Denn die Prüfung hat ergeben, dass
bislang nicht alle vorhandenen Arbeitsmarktinstrumente
den gewünschten Erfolg hatten, ebenso wie eine willkür-
liche Streuung bestimmter Maßnahmen – wie dies die
Linken fordern – nicht zielführend ist.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1712029100

Befristete Beschäftigungsgelegenheiten im Rahmen

der öffentlich geförderten Beschäftigung sind Arbeitsbe-
schaffungsmaßnahmen, ABM, und Arbeitsgelegenhei-
ten.

Die vorrangige Zielsetzung von öffentlich geförderter
Beschäftigung waren die Heranführung von Langzeitar-
beitslosen an den allgemeinen Arbeitsmarkt und die Ent-
lastung des Arbeitsmarktes. Sie diente insbesondere
dazu, einerseits die „soziale“ Integration zu fördern als
auch die Beschäftigungsfähigkeit aufrechtzuerhalten
oder wiederherzustellen und damit die Chance zur Inte-
gration in den ersten Arbeitsmarkt zu erhöhen. So weit
die Theorie – die jahrelange Praxis sieht aber völlig an-
ders aus.

ABM-Maßnahmen haben sich über die Jahre nicht
bewährt. Die Kosten waren gigantisch, die positiven
Auswirkungen sehr gering mit der Folge, dass die Be-
deutung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen immer
weiter abgenommen hat. Deshalb ist es folgerichtig,
dass wir in unserem jetzigen Gesetzentwurf auf die
ABM-Maßnahmen verzichten.

Trotz der negativen Erfahrungen in der Vergangen-
heit fordert die Linke öffentlich geförderte Beschäfti-
gung, einen zweiten Arbeitsmarkt, immer nach dem
Motto: Der Staat muss es richten, der Staat ist für alles
zuständig. Ja sehen Sie denn nicht, dass viele durch die



gegebene Reden

Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Einbindung in diesen Scheinmarkt mit ihrer Situation
zufrieden sind, sich in dieser Scheinarbeitswelt einrich-
ten und nicht wirklich nach Arbeitsplätzen im ersten Ar-
beitsmarkt suchen, quasi im Bereich der ABM-Maßnah-
men eine Dauerposition beziehen?

Mit Recht weisen Sie darauf hin, dass wir die Lang-
zeitarbeitslosen nicht aus den Augen verlieren dürfen.
Wir haben sie im Blick. In unserem Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeits-
markt haben wir viele Instrumente, die zu einer drasti-
schen Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit führen
werden.

Ein wichtiger Ansatzpunkt ist: Im Rahmen einer Akti-
vierungs- und Vermittlungsoffensive mit innovativer
Förderung werden gezielt die Beschäftigungschancen
wichtiger Zielgruppen erhöht. Insbesondere junge Men-
schen, Alleinerziehende und ältere Leistungsempfänger
sollen dauerhaft aus der Hilfebedürftigkeit geführt wer-
den. Auch Fachkräftemangel und demografischer Wan-
del fordern, dass wir diese Bemühungen intensivieren.

Die Reform findet einerseits in Zeiten der Haushalts-
konsolidierung statt, anderseits aber auch in dem über-
aus freundlichen Umfeld des Arbeitsmarktes. In einigen
Regionen haben wir bereits Vollbeschäftigung, Donau-
Ries. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt, und zwar in die-
sem Monat schon deutlich unter die 3-Millionen-Grenze.
Nicht nur an Fachkräften mangelt es, sondern zum Bei-
spiel im Bereich der Pflege, auf dem Bau werden auch
weniger Qualifizierte sowie Auszubildende dringend ge-
sucht. In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Be-
stand Langzeitarbeitsloser nahezu halbiert. Wir haben
heute über 250 000 weniger Langzeitarbeitslose als vor
der Krise.

Im Fokus der Reform stehen folgende Schwerpunkte:

Höhere Qualität von Beratung und Vermittlung.
Künftig soll dezentral vor Ort flexibler und passgenau
im Hinblick auf die jeweilige Situation der Menschen
entschieden werden, welches das richtige Instrument ist.
Die Eingliederungsmittel werden den Arbeitsagenturen
und Jobcentern pauschal zur Verfügung gestellt. Es liegt
am Entscheider vor Ort, wie die Mittel eingesetzt wer-
den. Eine Qualifizierungsinitiative soll das Personal in
die Lage versetzen, Arbeitsuchende noch effizienter und
passgenauer in den Arbeitsmarkt zu vermitteln. Die Job-
center und Optionskommunen müssen künftig aber auch
verstärkt Rechenschaft ablegen.

Mehr Effizienz. Um vor Ort freieres Arbeiten zu er-
möglichen, wird die unübersichtliche Anzahl der Instru-
mente um ein Viertel reduziert und einfacher geregelt,
ohne die Handlungsmöglichkeiten der aktiven Arbeits-
marktpolitik einzuschränken, weil nur Instrumente mit
geringer Bedeutung wegfallen.

Fördern und Fordern junger Menschen. Es wird eine
Aktivierungs- und Vermittlungsoffensive zur verstärkten
Betreuung junger Menschen in den Grundsicherungs-
stellen gestartet. Ausbildungsreife junge Menschen sol-
len unmittelbar den Weg in die Berufsausbildung finden.
So bietet die jeweilige Grundsicherungsstelle jedem Ar-
beitslosen unter 25 Jahren innerhalb von sechs Wochen
Zu Protokoll
einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz oder eine Arbeits-
gelegenheit an.

Neue Perspektiven für Alleinerziehende. Vorrang soll
künftig die Betreuung und Vermittlung von Alleinerzie-
henden haben, die den weit überproportional größten
Teil der Leistungsempfänger in der Grundsicherung für
Arbeitsuchende stellen und lange in der Hilfebedürftig-
keit verbleiben. Um Alleinerziehende in den Arbeits-
markt eingliedern zu können, muss unter anderem die
Kinderbetreuung angemessen und passgenau geregelt
sein. Neben der Betreuung in Kindertagesstätten sollen
vor Ort Tagesmütterstrukturen aufgebaut werden.

Mehr Chancen für Ältere – Arbeiten bis 67. Die Akti-
vitäten in der Arbeitsmarktpolitik zur Erhöhung der Be-
schäftigungschancen Älterer werden weiter ausgebaut.
Zur Fachkräftesicherung gehören gerade die älteren,
erfahrenen Arbeitnehmer, denen wir die Möglichkeit ge-
ben, sich weiterzuqualifizieren, wenn sie bereits einem
Beruf nachgehen. Genauso sollen sich arbeitsuchende
Ältere weiterbilden können, wenn das die Chance auf
eine Rückkehr in reguläre Arbeit erhöht.

Reduzierung der Mitnahmeeffekte. Der sogenannte
Gründungszuschuss, also die finanzielle Förderung von
Arbeitslosen in der Anlaufphase ihrer Unternehmens-
gründung, wird neu justiert, indem Mitnahmeeffekte ab-
gebaut werden.

Neuausrichtung öffentlich geförderter Beschäftigung.
Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ABM, im Bereich
der Arbeitsförderung werden abgeschafft. Sie wurden in
den vergangenen Jahren kaum noch genutzt und haben
in Bezug auf die Integration in den regulären Arbeits-
markt eine eindeutig negative Wirkung.

Wir verwenden angesichts der guten Konjunktur die
Steuergelder dafür, dass die Menschen schneller wieder
in Arbeit kommen. Nach wie vor ist die Vermittlung in
den regulären Arbeitsmarkt die wichtigste Brücke. Die
Langzeitarbeitslosigkeit ist kein fester Block, es gibt Be-
wegung. Wir haben Erfolge vorzuweisen.

Werfen Sie Ihre rosarote Brille in den Müll, vergessen
Sie Ihr dauerhaftes Gerede vom glorreichen Sozialis-
mus, mit dem Sie schon die Wirtschaft der DDR gegen
die Wand gefahren und dabei versenkt haben. Haben Sie
den Mut, Ihre alten Trampelpfade zu verlassen. Haben
Sie den Mut, Ihrer rückwärtsgewandten Ideologie den
Rücken zu kehren, für die Menschen in unserem Land.
Vergessen Sie Ihren veralteten Antrag, stimmen Sie mit
uns für unseren Gesetzentwurf, damit die Anzahl der
Langzeitarbeitslosen weiter sinken kann.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1712029200

Zunehmender Fachkräftebedarf einerseits, Langzeit-

arbeitslose ohne Perspektive andererseits – beides
Herausforderungen, auf die Arbeitsmarktpolitik Ant-
worten finden muss. Wir denken Arbeitsmarkt- und So-
zialpolitik zusammen und deshalb ist der soziale
Arbeitsmarkt ein wichtiger Teil unserer Vollbeschäfti-
gungsstrategie. Denn nur so können wir für Langzeitar-
beitslose mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, bei-
spielsweise fehlende Ausbildung oder gesundheitliche



gegebene Reden

Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)

Probleme, würdevolle Beschäftigung ermöglichen.
Durch meine jährlichen Praktika mit Langzeitarbeitslo-
sen in meinem Wahlkreis Pforzheim/Enzkreis weiß ich,
was es für sie bedeutet, wenn sie einen Arbeitsvertrag in
der Hand halten. Dieses Strahlen im Gesicht und Leuch-
ten in den Augen spricht für sich.

Warme Worte, kalte Taten. Das ist, was Bundesar-
beitsministerin Ursula von der Leyen mit ihren Plänen
zur Neuordnung der öffentlich geförderten Beschäfti-
gung derzeit umsetzt. Mit warmen Worten verspricht sie,
sich besonders um Langzeitarbeitslose zu kümmern.
Kalt kürzt sie die Mittel für Instrumente wie den Be-
schäftigungszuschuss, Jobperspektive oder die Arbeits-
gelegenheiten in der Entgeltvariante zusammen. Die
Dauer der noch möglichen Förderung wird in ein enges
Korsett gepresst, und so wird es immer wieder zu Unter-
brechungen von Qualifizierungsmaßnahmen kommen.
Das schafft demotivierende Förderlücken und keine
dauerhafte Perspektive auf Beschäftigung und damit
Teilhabe.

Eigentlich wäre es die Aufgabe der Bundessozial-
ministerin, Lobby für Langzeitarbeitslose zu sein. Doch
stattdessen ist Ursula von der Leyen lieber die oberste
Lobbyistin für Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
und kürzt und streicht, wie es ihr aus seinem Ministe-
rium vorgegeben wird. Dies hat mit einer Arbeitsmarkt-
politik, die sich an den Herausforderungen der Zeit
orientiert, nichts zu tun. Diese Politik lässt Menschen
am Rande stehen. Diese Politik nimmt Menschen ihre
Würde.

Über 200 Expertinnen und Experten, die mit Lang-
zeitarbeitslosen arbeiten und ihnen durch Qualifizie-
rung und Beschäftigungsangebote eine Perspektive ge-
ben, waren am 5. Juli 2011 auf Einladung der SPD-
Bundestagsfraktion im Bundestag zu Gast. Die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter der Beschäftigungs- und
Weiterbildungsträger haben uns berichtet, was durch
diese Kürzungspolitik vor Ort passiert. Durch die Politik
Ursula von der Leyens wird ihnen der Boden unter den
Füßen weggezogen. Die dauerhafte Integration von
Langzeitarbeitslosen in Beschäftigung und die dafür
notwendige Qualifizierung sind kaum noch möglich. Ein
Geschäftsführer hat gesagt, dass er seinen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern bereits kündigen musste. Wie
sollen engagierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter zur
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit denn helfen,
wenn Sie durch die Politik von Schwarz-Gelb selbst um
ihre Jobs fürchten müssen?

Wir als SPD-Bundestagsfraktion stehen zum sozialen
Arbeitsmarkt. Deshalb haben wir heute auch einen um-
fassenden Arbeitsmarktantrag eingebracht. Wir wollen
die öffentlich geförderte Beschäftigung ausbauen. Dabei
ist uns wichtig, dass wir uns auf eine enge Zielgruppe
konzentrieren. Wir setzen auf einen Ausbau der Jobper-
spektive, und unsere Vorstellung eines sozialen Arbeits-
marktes folgt klaren Kriterien. Gewerkschaften und Ar-
beitgeber arbeiten vor Ort in sogenannten Beiräten
zusammen, um die Einsatzfelder für öffentlich geförderte
Beschäftigung ausfindig zu machen. Diese Zustim-
mungserfordernis hilft, Missbrauch zu verhindern. Die
Zu Protokoll
Annahme der Beschäftigungsverhältnisse ist freiwillig,
sozialversicherungspflichtig und wird tariflich entlohnt.
Dort, wo dies nicht möglich ist, ist eine ortsübliche Ent-
lohnung Födervoraussetzung. Unterste Haltelinie ist der
jeweils gültige Mindestlohn.

Im Gegensatz zur Fraktion Die Linke und dem vorlie-
genden Antrag, den wir heute hier beraten, diskutieren
wir unsere Arbeitsmarktpolitik nicht in der Vergangen-
heit, sondern unsere Arbeitsmarktpolitik orientiert sich
an den Herausforderungen der Zeit. Deshalb sind wir
für differenzierte Lösungen statt pauschalen Urteilen.
Das trifft auch auf die Arbeitsgelegenheiten – die so-
genannten 1-Euro-Jobs – zu. Die Durchführung von
Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsvariante
wird auf das unumgängliche Maß beschränkt. Sie kom-
men nur im Ausnahmefall zum Einsatz. Wir sehen die
Arbeitsgelegenheiten als Instrument, das ausschließlich
dazu dient, Arbeitsuchende auf eine Beschäftigung vor-
zubereiten, damit beispielsweise ein strukturierter Ta-
gesablauf wieder möglich wird.

Wir picken uns nicht einzelne Instrumente heraus und
leiten daraus eine fehlgeleitete Politik ab, sondern wir
arbeiten konsequent daran, gute Arbeit in Deutschland
im Rahmen einer Vollbeschäftigungsstrategie zu schaf-
fen. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1712029300

Die Arbeitsmarktzahlen und die konjunkturelle Ent-

wicklung sind für uns alle Grund zur Freude. Auch die
Aussichten für die kommenden Monate sind sehr positiv.
Und erstmals seit der deutschen Einheit sinkt aktuell
auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen, was besonders
erfreulich ist. Wir wissen, dass hinter diesen Zahlen, Sta-
tistiken und Prognosen Menschen und ihre Lebens-
schicksale stecken. Und wir wissen um die besondere
Verantwortung, die wir für diese Menschen übernehmen,
wenn wir hier im Bundestag Politik machen.

Die FDP hat immer darauf hingewiesen, dass eine
vernünftige Wirtschaftspolitik die beste Politik für dieje-
nigen ist, die erwerbsfähig, aber ohne Arbeit sind. Denn
was hilft die beste arbeitsmarktpolitische Maßnahme,
wenn keine Arbeitsplätze vorhanden sind, weil Unter-
nehmen nicht investieren können, weil ihre Produkte kei-
nen Abnehmer finden oder Steuern, Abgaben und Büro-
kratie den Unternehmen die Luft abschnüren? Darüber
hinaus haben wir immer betont, dass die Voraussetzun-
gen für eine langfristig positive wirtschaftliche Entwick-
lung eine gute Bildungs- und Familienpolitik sind. Des-
halb haben wir zum Beispiel das Bildungs- und
Teilhabepaket für benachteiligte Kinder geschaffen, da-
mit kein Kind in seiner Entwicklung behindert ist, weil
die Eltern nicht genügend Geld verdienen. Aber ent-
scheidend für das gegenwärtige wirtschaftliche Wachs-
tum ist auch, dass diese Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen durch das Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz und weitere Maßnahmen nicht nur mit ent-
scheidende Wachstumsimpulse, sondern auch Vertrauen
für eine langfristig positive Entwicklung und damit für
Investitionen geschaffen haben, was die Voraussetzun-



gegebene Reden

Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

gen für die Schaffung von Arbeitsplätzen weiter verbes-
sert hat.

Dass Sie ausgerechnet in dieser wirtschaftlichen
Konjunktur und ausgerechnet bei diesen positiven Ent-
wicklungen auf dem Arbeitsmarkt – ausdrücklich auch
bei den Langzeitarbeitslosen – 500 000 öffentlich geför-
derte Arbeitsplätze fordern, mutet doch etwas eigenartig
an. Ziel der aktuellen Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-
politik muss es doch jetzt sein, dass wir die Menschen
wieder oder erstmals in den ersten Arbeitsmarkt inte-
grieren. Wer in dieser konjunkturellen Lage nicht alles
dafür tut, die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu
integrieren, macht sich schuldig.

Natürlich ist uns auch bewusst, dass es Menschen
gibt, denen dies nicht so einfach gelingt. Für diese Men-
schen brauchen wir zielgerichtete, passgenaue, auf die
individuellen Bedürfnisse und Verhältnisse abgestimmte
Angebote der Arbeitsvermittlung. Es kann nicht Ziel öf-
fentlich geförderter Beschäftigung sein, die Menschen in
irgendeiner Art von Arbeit zu parken. Deshalb muss das
Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung
sehr zielgerichtet und einzelfallbezogen eingesetzt wer-
den. Denn was auf gar keinen Fall geschehen darf, ist,
dass Menschen durch Einbindungseffekte die Chance
auf eine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt verlie-
ren.

Studien belegen, dass, wer erst einmal dauerhaft in
öffentlich geförderter Beschäftigung ist, aus dem Blick
der Jobcenter leichter verschwindet, selbst weniger Ei-
geninitiative zeigt und es daher deutlich schwerer hat,
eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Ohne
öffentlich geförderte Beschäftigung geht es nicht. Aber
sie darf nur sehr zielgerichtet und genau auf die Bedürf-
nisse der Betroffenen und ihres Arbeitsmarktumfeldes
eingesetzt werden.

Mit der aktuellen Reform der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente bekennt sich diese Regierungskoalition wei-
terhin zum Instrument der öffentlich geförderten Be-
schäftigung. Unser Ziel ist dabei die Befähigung oder
auch, wo es nötig ist, die Teilhabe des Individuums und
nicht das pauschale Schaffen von öffentlich geförderten
Arbeitsplätzen, mit denen man die Arbeitslosenzahlen
schönen könnte. Dazu kommt, dass die Tätigkeiten für
die Menschen sinnstiftend sein müssen und nicht sinn-
entleert sein dürfen. Arbeitsplätze entstehen in der so-
zialen Marktwirtschaft vorrangig durch unternehmeri-
sches Handeln, nicht vorrangig durch den Staat. So ist
es klar, dass wir nicht als Staat der größte Arbeitgeber
sein dürfen. Die Auswirkungen einer solchen Politik, die
Arbeit bezahlt, für die es keine Nachfrage am Markt
gibt, etwa in Form eines überdimensionierten Staatssek-
tors, können wir gerade in Griechenland erkennen. Und
auch die Kolleginnen und Kollegen der Linken haben
das da, wo sie in Regierungsverantwortung sind, er-
kannt. Denn das Bundesland mit dem größten Abbau
von Stellen im öffentlichen Dienst ist das rot-rot regierte
Berlin.

Unsere Politik zielt darauf ab, die Menschen zu befä-
higen und dort, wo es notwendig ist, auch durch öffent-
lich geförderte Beschäftigung teilhaben zu lassen. Das
Zu Protokoll
kann man aber nicht einfach durch pauschale Forderun-
gen nach einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätzen,
sondern allein durch individuelle und zielgerichtete Un-
terstützung des Einzelnen.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712029400

Die derzeitigen Kürzungspläne der Bundesregierung

zeigen: Der Antrag der Linken, den wir heute abschlie-
ßend beraten, ist bitter nötig. Aus dem Titel geht klar
hervor: Wir wollen gute öffentlich geförderte Beschäfti-
gung einrichten als Alternative zur Langzeiterwerbslo-
sigkeit und zu den 1-Euro-Jobs. Die Bundesregierung
sagt, das sei falsch. Es müsse vielmehr darum gehen, die
Menschen jetzt in den ersten Arbeitsmarkt zu integrie-
ren, statt sie künstlich von diesem fernzuhalten. Das hört
sich gut an, ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn die
Bundesregierung sagt nichts dazu, warum sie bei der
Weiterbildung der Erwerbslosen deutlich kürzt. Und sie
sagt nichts dazu, warum trotz Aufschwung die Zahl der
Langzeiterwerbslosen auf einem hohen Niveau sta-
gniert. 886 026 Menschen sind im Juni dieses Jahres be-
reits länger als ein Jahr arbeitslos. Das sind nur 56 000
weniger als ein Jahr zuvor. Der Anteil der Langzeitar-
beitslosigkeit an der gesamten Arbeitslosigkeit steigt
und liegt inzwischen bei 34 Prozent.

Richtig ist: Viele Langzeiterwerbslosen könnten je-
derzeit einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt anneh-
men. Aber der Aufschwung geht an vielen vorbei. Dafür
gibt es verschiedene Gründe: Sie werden von vielen Ar-
beitgebern abgelehnt. Und die Bundesregierung verwei-
gert notwendige Qualifikationen und Weiterbildungen.
All das ist nicht hinzunehmen und die Politik ist gefor-
dert, hier zu reagieren.

Richtig ist aber auch: Es gibt eben auch eine größere
Zahl von Erwerbslosen, die aus verschiedensten Grün-
den auf absehbare Zeit keine Chance auf dem ersten Ar-
beitsmarkt haben, sei es, weil in manchen Regionen
nach wie vor Arbeitsplätze fehlen. Das trifft insbeson-
dere auf den Osten Deutschlands zu. Hier kommen auf
eine gemeldete Arbeitsstelle zwölf Arbeitslose. Zugleich
hat bei nicht wenigen Menschen die lange Arbeitslosig-
keit deutliche Spuren hinterlassen. Sie sind nicht von
heute auf morgen vermittelbar. Hier geht es zunächst da-
rum, sinnvolle Beschäftigungsprojekte zu fördern, um
sie an den Arbeitsmarkt heranzuführen und mittelfristig
in reguläre Jobs zu integrieren.

Die Linke will diesen Menschen eine Perspektive bie-
ten und fordert, gute öffentlich geförderte Beschäftigung
einzurichten. Es ist tausendmal besser, mit dem Geld der
Arbeitsmarktpoli t ik gesellschaftlich sinnvolle Pro-
jekte zu fördern – und damit dem Einzelnen und der Ge-
meinschaft zu helfen –, als die Betroffenen künstlich in
der Arbeitslosigkeit zu halten oder mit Zwang in einen
1-Euro-Job zu pressen. In dem vorliegenden Antrag hat
die Linke klare Eckpunkte für ein solches Konzept be-
nannt. Wir wollen sinnvolle Beschäftigungsverhält-
nisse schaffen. Diese müssen freiwillig sein und exis-
tenzsichernd, am besten tariflich bezahlt. Das ist das
Gegenteil der derzeitigen 1-Euro-Jobs. Wir wollen diese
Beschäftigung mit Qualifizierung begleiten, denn nur so



gegebene Reden





Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)

wird den Betroffenen eine Perspektive geboten. Wir wol-
len sicherstellen, dass keine reguläre Beschäftigung ver-
drängt wird. Am besten ist dies durch regionale Beiräte
vor Ort zu gewährleisten, die ein Vetorecht besitzen.
Und wir wollen die öffentlich geförderte Beschäftigung
auf eine solide finanzielle Grundlage stellen. Dafür
muss es möglich sein, die verschiedenen Gelder der Ar-
beitsmarktpolitik zur Finanzierung solcher Beschäfti-
gungsverhältnisse zusammenzuführen. Das ist eine For-
derung, die auch immer wieder Sozialverbände erheben.

Die Bundesregierung sagt: All das brauchen wir
nicht. Noch schlimmer: Sie will die öffentlich geförderte
Beschäftigung einstampfen. Das kündigt der aktuelle
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur sogenannten
Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente an.
Jenseits der 1-Euro-Jobs und gescheiterten Bürgerar-
beit soll Beschäftigungsförderung nur noch eine Rand-
größe sein. Für die Schaffung zusätzlicher Arbeitsver-
hältnisse sollen die Jobcenter maximal 5 Prozent ihres
Etats ausgeben dürfen. Umgerechnet sind das bundes-
weit ab dem nächsten Jahr etwa nur noch 200 Millionen
Euro. 2010 war es noch deutlich über 1 Milliarde. Das
zeigt: Diese Regierung hat die Langzeiterwerbslosen
abgeschrieben. Die Linke wird das nicht hinnehmen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712029500

Union und FDP verschärfen die Spaltung des Ar-

beitsmarktes. Die Kürzung der Mittel für die Arbeitsför-
derung, die Konzentration der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente auf diejenigen, die eine schnelle Integration
in den ersten Arbeitsmarkt erwarten lassen, und die Ein-
schränkungen bei der öffentlich geförderten Beschäfti-
gung stellen Langzeitarbeitslose immer weiter ins
Abseits. Sie werden trotz der guten wirtschaftlichen Ent-
wicklung abgehängt und ausgegrenzt, und ihnen wird
die Teilhabe verwehrt.

In Deutschland sind derzeit trotz Aufschwungs und
Fachkräftemangels nahezu 900 000 Menschen länger
als ein Jahr arbeitslos. Sie brauchen dringend eine gute
Förderung. Viele von ihnen könnten bei entsprechender
Qualifizierung offene Stellen übernehmen und damit den
Fachkräftemangel entschärfen. Daher wollen wir Grüne
jetzt im Aufschwung in die Betreuung, Qualifizierung
und Vermittlung Langzeitarbeitsloser investieren. Zu-
sätzlich wollen wir aber auch für diejenigen Chancen
eröffnen, die trotz guter Konjunktur in den kommenden
Jahren den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt nicht
schaffen werden. Für sie fordern wir einen verlässlichen
sozialen Arbeitsmarkt. Genau der rückt aber mit den ar-
beitsmarktpolitischen Vorgaben der Bundesregierung in
weite Ferne.

Die Bedingungen im Bereich geförderter Beschäfti-
gung werden im Rahmen der Instrumentenreform von
Arbeitsministerin von der Leyen so gestrickt, dass eine
sinnvolle, längerfristig angelegte Integrationsstrategie
für die Personengruppe der besonders Benachteiligten
nicht möglich ist. Ihre Teilhabe- und Eingliederungs-
chancen werden damit dramatisch zurückgehen. Richtig
ist zwar, dass die 1-Euro-Jobs in den letzten Jahren mas-
senhaft und teilweise über jedes Maß hinaus geschaffen
wurden. Die Konsequenzen aber, die die Bundesregie-
rung daraus zieht, wie beispielsweise die Kürzung der
Trägerpauschale, sind falsch. Wir schlagen stattdessen
vor, die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsent-
schädigung darauf zu konzentrieren, Kompetenzen zu
stärken, Defizite zu beseitigen und auf eine Erwerbstä-
tigkeit vorzubereiten und dafür ausreichend Mittel zur
Verfügung zu stellen. Das alles muss Bestandteil einer
umfassenden Integrationsstrategie sein. Einer Abschaf-
fung der Ein-Euro-Jobs, wie die Linke in ihrem Antrag
fordert, stimmen wir nicht zu.

Nicht als Alternative zu den 1-Euro-Jobs, sondern da-
rüber hinaus brauchen wir einen gut ausgestalteten und
vernünftig finanzierten sozialen Arbeitsmarkt. Die Rah-
menbedingungen dafür haben wir mit unserem Antrag
„Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit
einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen“
formuliert. Leistungen wie das Arbeitslosengeld II und
die Kosten der Unterkunft wollen wir über einen soge-
nannten Passiv-Aktiv-Transfer in ein Arbeitsentgelt um-
wandeln. Uns geht es darum, sinnstiftende Beschäfti-
gung zu schaffen, von der die gesamte Gesellschaft
profitiert und bei der die Interessen und Fähigkeiten der
Arbeitssuchenden berücksichtigt werden.

Und das ist etwas ganz anderes als das Modell „Bür-
gerarbeit“, mit dem Union und FDP einen sozialen Ar-
beitsmarkt nur vorgaukeln. In der Realität wird „Bür-
gerarbeit“ für die Gruppe von Arbeitssuchenden, die
trotz aller Bemühungen auf dem ersten Arbeitsmarkt
keine Chance hat, kaum Verbesserungen bringen. Mit ei-
nem Lohn von 900 Euro ist der ergänzende Arbeitslosen-
geld-II-Bezug für viele von ihnen vorprogrammiert. Zu-
dem zeigen die aktuellen Zahlen, dass das Modell
„Bürgerarbeit“ ein Flop ist: Die Zahl der bewilligten
Plätze bleibt weit hinter den Erwartungen zurück, und
das liegt nicht daran, dass es keines sozialen Arbeits-
markts bedürfte, sondern an den hohen Hürden.

All dies zeigt: Wir brauchen sowohl mehr und bessere
Qualifizierungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose
als auch gute öffentlich geförderte Beschäftigung inklu-
sive eines sozialen Arbeitsmarktes. Nur dann haben Ar-
beitsuchende eine echte Chance auf Teilhabe an Arbeit.
Und genau darum geht es.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712029600

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/5448, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/1397 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung
der Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Verordnung (EG)

Nr. 1272/2008 und zur Anpassung des





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Chemikaliengesetzes und anderer Gesetze im
Hinblick auf den Vertrag von Lissabon

– Drucksache 17/6054 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/6463 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ingbert Liebing
Dr. Bärbel Kofler
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1712029700

Heute beraten wir abschließend über das CLP-

Anpassungsgesetz. CLP steht für „Classification, Label-
ling, Packaging“. Der uns vorliegende CLP-Gesetzent-
wurf regelt die Einstufung und Kennzeichnung gefährli-
cher Chemikalien neu.

Die Neureglung geht auf Beschlüsse der Konferenz
der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung
im Juni 1992 in Rio de Janeiro zurück. Auf dieser für die
Belange des Umweltschutzes so wichtigen Konferenz
wurden auch Vorgaben für ein weltweit abgestimmtes
System der Einstufung und Kennzeichnung gemacht.
Zwecks schrittweiser Einführung dieses neuen Systems
verabschiedete die EU im Dezember 2008 die europäi-
sche CLP-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008. Ab dem
1. Juni 2015 wird Europa vollständig auf das System der
CLP-Verordnung umgestellt haben.

Die EU-Verordnung gilt in den EU-Mitgliedstaaten
unmittelbar und bedarf keiner gesonderten Umsetzung
in deutsches Recht. Um in Deutschland jedoch einen rei-
bungslosen CLP-Vollzug sicherzustellen, ist es notwen-
dig, das deutsche Chemikalienrecht an die EU-Vorgaben
anzupassen. Beispielsweise müssen die notwendigen
rechtlichen Voraussetzungen für einen Übergangszeit-
raum geschaffen werden: Innerhalb einer Übergangs-
phase bis zum Jahr 2015 sollen das bisherige deutsche
Recht und das neue EU-UN-System parallel neben-
einander bestehen bleiben. Darüber hinaus müssen die
Zuständigkeiten der Behörden festgestellt werden. Hier
werden aus der Verordnung erwachsene Aufgaben zum
Beispiel der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar-
beitsmedizin (BAuA) zugewiesen. Nicht zuletzt werden
überflüssig gewordene nationale Vorschriften gestri-
chen und terminologisch angepasst. Beispielsweise wird
das Wort „Zubereitung“ durch das Wort „Gemisch“ er-
setzt.

Wie aber lauten die wesentlichen inhaltlichen Ände-
rungen, die durch die Umsetzung der EU-CLP-Verord-
nung in deutschem Recht vorgenommen werden? Im Ver-
gleich zum bisherigen Recht führt die CLP-Verordnung
insbesondere neue Einstufungsvorschriften ein. Durch
diese werden die Einzelheiten des Begriffs der chemika-
lienrechtlichen Gefährlichkeit und der zugrunde liegen-
den Gefährlichkeitsmerkmale geändert. Statt der bishe-
rigen Zuordnung zu Gefährlichkeitsmerkmalen erfolgt
die Einstufung gefährlicher Stoffe und Gemische nun in
Gefahrenklassen. Diese werden durch neue Gefahrenka-
tegorien innerhalb der Klassen weiter abgestuft. Die
Kennzeichnungssymbole und sonstige Kennzeichnungs-
bestandteile wurden grundlegend neugestaltet. Das be-
deutet, dass die bisher bekannten orangenen Vierecke
zukünftig durch Symbole bestehend aus weißem Grund
und roter Umrandung ersetzt werden. Die Mitteilungs-
pflichten der Unternehmen an Behörden, wie die Gift-
informationszentren, werden angepasst. Auf diese Weise
wird der Schutz der Verbraucher durch eine verbesserte
Notfallbehandlung erhöht. Gleichzeitig wurden Vorkeh-
rungen getroffen, dass sich der aufgrund dieser Rege-
lung aufseiten der Unternehmen entstehende Mehrauf-
wand in einem angemessenen Verhältnis befindet.

Aus umweltpolitischer Perspektive überzeugt dieser
Gesetzentwurf, weil er dazu beiträgt, das auf der Rio-
Konferenz von 1992 beschlossene CLP-System global
effektiv durchzusetzen. Durch die Harmonisierung der
Einstufung und Kennzeichnung gefährlicher Chemika-
lien auf UN-Ebene wird der gesundheitliche Verbrau-
cherschutz zu Recht gestärkt.

Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht überzeugt die-
ser Gesetzentwurf; denn er garantiert Unternehmen, die
am globalen Markt agieren, einheitliche Wettbewerbs-
bedingungen. Aus diesem Grund wurde nicht zuletzt
auch eine praktikable Umsetzung des neuen Einstu-
fungs- und Kennzeichnungssystems sichergestellt. Im
Rahmen einer Übergangsphase wird den betroffenen
Unternehmen bis 2015 Zeit gegeben, sich an die neuen
Regeln anzupassen. Diese Übergangsphase, in der altes
und neues Recht zum Teil parallel existieren, wurde
transparent ausgestaltet. Dies sorgt für die nötige
Rechtssicherheit.

Vor dem Hintergrund dieser positiven Bewertung des
uns zur Abstimmung vorliegenden Gesetzentwurfs bitte
ich um Ihre Zustimmung.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1712029800

Die 63. Generalversammlung der Vereinten Nationen

hat das Jahr 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie
erklärt. Dieses Jahr steht unter dem Motto „Chemie –
unser Leben, unsere Zukunft“ und soll dazu beitragen,
die Öffentlichkeit noch mehr zu sensibilisieren für die
fundamentale Bedeutung der Chemie. Ein weiteres Ziel
ist, die internationale Zusammenarbeit in diesem Be-
reich zu fördern.

Einen wichtigen Beitrag in diesem Zusammenhang
leistet das schrittweise in der Europäischen Union ein-
geführte neue und weltweit harmonisierte System der
Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien, so-
wohl für die Sicherheit am Arbeitsplatz als auch für den
sicheren Umgang von Verbraucherinnen und Verbrau-
chern mit Chemikalien. Denn mit Chemikalien kommen
wir täglich in Berührung. Sie sind aus unserem Alltag
nicht mehr wegzudenken. Wir benutzen sie als Wasch-
mittel, Reiniger, Lack und Lösemittel im Haushalt, in der
Freizeit oder im Beruf. Oft erleichtern sie unser Leben,
oft sind sie aber auch gefährlich für die menschliche Ge-

Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)

sundheit und für die Umwelt. Denn viele chemische
Stoffe haben unerwünschte Wirkungen auf die mensch-
liche Gesundheit. Manche Stoffe können die Haut oder
die Augen reizen, andere Allergien auslösen oder eine
narkotische Wirkung haben. Auch Vergiftungen kommen
leider immer wieder vor, wenn Chemikalien aus Verse-
hen geschluckt werden. Oft sind hiervon Kinder oder Se-
nioren betroffen.

Um einen verantwortungsbewussten Umgang mit
Chemikalien zu sichern, müssen wir Chemikalien erken-
nen und wissen, wie sie wirken. Vor dem sogenannten In-
verkehrbringen unterliegen alle Chemikalien grundsätz-
lich der Einstufungs- und Kennzeichnungspflicht und
werden hierzu einer toxikologischen Bewertung unterzo-
gen. Werden dabei gefährliche Eigenschaften erkannt,
werden die Stoffe entsprechend eingestuft. Für eine
schnelle Information über die Gefährlichkeit eines Stof-
fes oder Gemisches müssen deren Verpackungen mit ent-
sprechenden Gefahrenkennzeichnungen versehen wer-
den. Dadurch sollen Mensch und Umwelt beim Umgang
mit Chemikalien vor nachteiligen Auswirkungen ge-
schützt werden. Weltweit gibt es jedoch sehr unter-
schiedliche Systeme zur Einstufung und Kennzeichnung
von Chemikalien. Es kann daher passieren, dass ein
Stoff oder Stoffgemisch in einem Land als gefährlich ein-
gestuft und behandelt wird und in einem anderen nicht.
Dies führt nicht nur beim Transport und im Handel zu
Problemen, sondern auch bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern und im Arbeitsschutz.

Auf dem Weltgipfel für Nachhaltigkeit 1992 in Rio de
Janeiro wurde erstmals von den Staaten festgelegt, dass
ein weltweit einheitliches System zur Einstufung und
Kennzeichnung von Chemikalien unter der Leitung der
UN geschaffen werden soll. Das sogenannte Globally
Harmonised System, GHS, wurde 2003 erstmals vorge-
legt und wird seitdem alle zwei Jahre aktualisiert. Ziel
des GHS ist es, erstmals ein weltweit einheitliches Sys-
tem zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien
zu schaffen. Überall, wo dieses global harmonisierte
System eingeführt wird, sei es in China, Indien, den USA
oder in Europa, werden Chemikalien in Zukunft nach
einheitlichen Kriterien eingestuft und gekennzeichnet.
Was zum Beispiel giftig oder umweltgefährlich ist, trägt
dann überall das gleiche Symbol. Uns Sozialdemokra-
tinnen und Sozialdemokraten ist dabei besonders wich-
tig, dass unsere hohen Schutzstandards nicht abgesenkt
werden, sondern weltweit gelten. Wir alle erinnern uns
an die Fälle von gefährlichem Spielzeug aus China.
Deshalb müssen wir uns nicht zuletzt zum Wohl unserer
Kinder für einen universellen Schutz vor gefährlichen
Chemikalien starkmachen. Das GHS auf UN-Ebene ist
jedoch nicht unmittelbar rechtswirksam, sondern wird
erst durch die Umsetzung in den einzelnen Staaten oder
Staatengemeinschaften verbindlich.

Innerhalb der Europäischen Union ist das GHS mit
der sogenannten CLP-Verordnung, Classification, La-
belling and Packaging, am 20. Januar 2009 in Kraft ge-
treten. Damit wurde europaweit ein neues System für die
Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen
und Gemischen eingeführt. Die rechtliche Basis für das
bisher gültige Einstufungs- und Kennzeichnungssystem,
Zu Protokoll
die Stoffrichtlinie und Zubereitungsrichtlinie, werden
zum 1. Juni 2015 aufgehoben.

Ziel des Gesetzes, das wir heute in abschließender
Lesung beraten, ist es, das Chemikaliengesetz und wei-
tere Gesetze an diese CLP-Verordnung anzupassen. Im
Vergleich zum bisherigen europäischen Recht führt die
CLP-Verordnung insbesondere neue Einstufungsvor-
schriften ein, die die Einzelheiten des Begriffs der che-
mikalienrechtlichen Gefährlichkeit und der zugrunde
liegenden Gefährlichkeitsmerkmale ändern. Statt der
bisherigen Zuordnung zu Gefährlichkeitsmerkmalen er-
folgt die Einstufung gefährlicher Stoffe und Gemische
nun in Gefahrenklassen, die durch neue Gefahrenkate-
gorien innerhalb der Klassen weiter abgestuft werden.
Die Kennzeichnungssymbole und sonstige Kennzeich-
nungsbestandteile wurden grundlegend neu gestaltet.

Menschen reisen, Menschen beziehen Produkte aus
anderen Ländern. Wir begrüßen, dass es jetzt weltweit
gleiche Symbole gibt, die unabhängig von Schriftzeichen
und Sprachkenntnissen von allen verstanden werden
können. Es kommt jetzt darauf an, dass die Menschen
aber auch vertraut werden mit den neuen Symbolen.

Als unmittelbar geltendes EG-Recht bedarf die CLP-
Verordnung keiner Umsetzung in nationales Recht. Er-
forderlich ist aber eine Anpassung des nationalen Che-
mikalienrechts, mit der die rechtlichen Voraussetzungen
für eine effektive Anwendung der Verordnung in
Deutschland geschaffen, Zuständigkeiten der Behörden
festgelegt und überflüssig gewordene Vorschriften auf-
gehoben werden. Da die Verordnung bis 2015 einen
Übergangszeitraum vorsieht, in dem Teile des bisheri-
gen Rechts teils optional, teils verpflichtend fortgeführt
werden, besteht dabei die Notwendigkeit, das bisherige
Recht zunächst noch transparent zu halten und so anzu-
passen, dass beide Systeme reibungslos nebeneinander
bestehen können.

Das Gesetzesvorhaben wird gleichzeitig dazu ge-
nutzt, im Chemikaliengesetz, im Wasch- und Reinigungs-
mittelgesetz und im Elektro- und Elektronikgerätegesetz
erforderliche begriffliche Anpassungen an den Vertrag
von Lissabon vorzunehmen, wie zum Beispiel die Ände-
rung von „Europäische Gemeinschaft“ in „Europäische
Union“. Wir stimmen diesem Gesetzentwurf zu, denn er
ist ein weiterer Schritt hin zu einer weltweit einheit-
lichen und klar erkennbaren Zuordnung von Chemika-
lien. Wir setzen uns seit langem auf nationaler wie auf
internationaler Ebene dafür ein, die Chemikaliensicher-
heit zu verbessern und damit die menschliche Gesund-
heit und die Umwelt zu schützen.

Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist die
wichtigste Neuerung, dass die bislang verwendeten
orangefarbenen Gefahrstoffsymbole durch neue rot um-
randete Gefahrenpiktogramme ersetzt werden. Das
muss in der Öffentlichkeit noch mehr bekannt gemacht
werden. In Bayern gab es bereits im letzten Jahr eine
Wanderausstellung, die nicht nur über die neue Kenn-
zeichnung von Chemikalien informierte, sondern Arbeit-
nehmern und Verbrauchern auch hilfreiche Hinweise an
die Hand gab, in welchen Produkten welche Chemika-
lien vorkommen. Besonders für Familien waren gute



gegebene Reden

Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)

Tipps dabei, wie man sich selbst und seine Kinder beim
Umgang mit Chemikalien schützen kann. Das allein
reicht noch nicht. Deshalb würde ich es sehr begrüßen,
wenn solche und ähnliche Informationsveranstaltungen
verstärkt durchgeführt würden. Die eingangs genannte
Intention des diesjährigen Internationalen Jahrs der
Chemie könnte damit konkret umgesetzt werden.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1712029900

Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Anpassung

des deutschen Chemikalienrechts an die 2008 verab-
schiedete EU-Verordnung über die Einstufung, Kenn-
zeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen
und nimmt zudem die durch den Vertrag von Lissabon
erforderlich gewordenen begrifflichen Veränderungen
im nationalen Recht vor. Im Wesentlichen bedarf es ver-
änderter gesetzlicher Regelungen, um während der
Übergangszeit bis 2015 ein strukturiertes Nebeneinan-
der von altem und neuem Chemikalienkennzeichnungs-
system zu gewährleisten. Auch sind die Zuständigkeiten
der nationalen Behörden neu zu regeln. Der Gesetzent-
wurf sieht hierzu vor, die Kompetenzen analog zur 2006
in Kraft getretenen REACH-Verordnung zu strukturie-
ren.

Die erneute Novellierung des deutschen Chemikali-
enrechts ist Teil des mit der REACH-Verordnung begon-
nenen und derzeit noch andauernden Umbaus des euro-
päischen Chemikalienrechts, welches schrittweise von
national umzusetzenden EU-Richtlinien in unmittelbar
geltendes EU-Recht überführt wird. Für meine Fraktion
verbindet sich damit die Hoffnung, insgesamt zu einem
kohärenteren und effizienteren Rechtsrahmen für die
Produktion, die Weiterverarbeitung und die Vermark-
tung von Chemikalien zu gelangen und ein adäquates
Schutzniveau für Arbeitnehmer und Verbraucher im Um-
gang mit Chemikalien zu gewährleisten.

Vor wenigen Tagen hat die Europäische Chemikalien-
agentur ECHA in diesem Zusammenhang den turnusmä-
ßig vorgesehenen ersten Evaluationsbericht zur EU-
weiten Implementierung von REACH vorgelegt. Das Fa-
zit der bisher gemachten Erfahrungen ist durchweg
positiv. REACH funktioniert. Es funktioniert trotz klei-
ner Kinderkrankheiten, wie etwa den zwischenzeitlich
aufgetretenen Problemen mit der REACH-IT, sehr gut,
und es hat gerade erst begonnen, seine positiven Wir-
kungen für den Umwelt- und Gesundheitsschutz zu ent-
falten.

Daher will ich an dieser Stelle auch davor warnen,
vor der vollständigen Umsetzung und dem Inkrafttreten
der einschlägigen mengenabhängigen Vorschriften über
eine weitere Verschärfung des europäischen Chemikali-
enrechts nachzudenken. Der heute vorliegende Gesetz-
entwurf zeigt vielmehr, dass es in den nächsten Jahren
entscheidend darauf ankommt, die zahlreichen Detailre-
gelungen des Chemikalienrechts weiter zu optimieren
und aufeinander abzustimmen. Aus den aus diesem Pro-
zess gewonnenen Erfahrungen können dann Ansätze für
eine punktuelle Weiterentwicklung des Chemikalien-
rechts entwickelt werden. Dies braucht aber seine Zeit
und sollte nicht übereilt geschehen.
Zu Protokoll
Der Gesetzentwurf findet unsere uneingeschränkte
Zustimmung.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712030000

Ohne Chemikalien, ohne verschiedene Stoffe und

Stoffgemische kommt die Menschheit nicht mehr aus,
und leider haben diese gefährliche Nebenwirkungen.
Egal ob sie giftig, explosiv, brennbar oder ätzend sind,
ihre schädlichen Nebenwirkungen entfalten Chemika-
lien weltweit. Die Verordnung 1272/2008 der EG, auch
CLP-Verordnung genannt, beruht auf einem UN-Vor-
schlag. Sie soll die Kennzeichnung von Stoffen und Ge-
mischen regeln und weltweit erkennbar vor möglichen
Gefahren warnen. Außerdem erfasst sie Meldepflichten
zu gefährlichen Stoffen.

Eine international angepasste Kennzeichnung be-
grüßt meine Fraktion, und auch die im Gesetzentwurf
vorgenommene Erweiterung der Liste gefährlicher
Stoffe und erweiterte Mitteilungspflichten für Hersteller
und Nutzer dieser Stoffe unterstützen wir. Aber aus fol-
genden Gründen kann die Linke nicht zustimmen. Die
Bildsymbole sollen zukünftig nur noch mit den Signal-
worten „Gefahr“ und „Achtung“ versehen werden. Es
entfallen also die gewohnten Einstufungen, die aber
durchaus der Systematik in der EU-Verordnung ähneln.
Das ist ein Problem. Eine giftige Flüssigkeit wurde bis-
her mit einem Totenkopf markiert. Eine hautreizende
Flüssigkeit hat derzeit ein Warnkreuz auf dem Etikett.
Zukünftig werden beide dasselbe Warnsymbol haben,
nur das kleingedruckte Wort „Gefahr“ oder „Achtung“
unterscheidet sie noch. Aber wie sollen Menschen, die
nicht Deutsch lesen können, den Unterschied erkennen?
In abgewandelter Form hätte die Regierung klarere Ge-
fahrenhinweise einführen können. Das würde einige Un-
fälle mit Chemikalien und schwerwiegende Gesund-
heits- und Umweltschäden verhindern.

Überall schwärmt man von Nanostoffen; das sind ex-
trem kleine Partikel. Dummerweise besitzen die neben
ihren neuen, gut nutzbaren Eigenschaften auch uner-
wartete, noch unbekannte gefährliche Nebenwirkungen.
Diese Materialien durchdringen aufgrund ihrer gerin-
gen Abmessungen zum Beispiel Haut und Blutgefäße.
Ihre im Verhältnis zur Masse größere Oberfläche ver-
stärkt die Reaktivität mit anderen Stoffen. Mikroskopi-
sche Titanoxidpartikel verändern das Erbgut. Das in
Sonnenschutzmitteln enthaltene Silber in Nanoform
schädigt Wasserorganismen. Die Auswirkungen des
Nanosilbers wurden erst Jahre nach Beginn der Nutzung
erkannt. Ab 2012 müssen Kosmetikartikel, die Nanopar-
tikel enthalten, gekennzeichnet werden. Dazu gehört
dann auch das Nanosilber. Damit Verbraucherinnen und
Verbraucher eine Chance haben, eventuellen Schäden
auszuweichen, fordern wir eine Kennzeichnungspflicht
für neuartige Nanostoffe. Unabhängig davon müssen
natürlich bekannte Risiken, die von Nanostoffen ausge-
hen, mit den entsprechenden Gefahrenhinweisen darge-
stellt werden.

Zuletzt stelle ich eine Frage an die Bundesregierung.
Warum lassen Sie einige Stoffe und Gemische, welche
chronisch schädigende Auswirkungen auf die Gesund-



gegebene Reden





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

heit haben, mit dieser Richtlinie aus der Kennzeich-
nungspflicht herausfallen? Gerade für Arbeitnehmer,
die zum Beispiel in Lackierereien solchen Stoffen täglich
ausgesetzt sind, bedeutet dies, dass sie nicht mehr auf
der Verpackung sehen, dass sie sich vor dem Anlagenrei-
nigungsmittel eigentlich schützen müssten. Firmen er-
kennen nicht mehr, dass sie ihre Beschäftigten gefähr-
den, und werden erhöhte Krankenstände haben. Wie
wollen Sie diese Nebenwirkungen der Richtline aus-
schließen? Wie wollen Sie verhindern, dass Schäden
durch Unkenntnis entstehen? Entscheiden Sie sich wie
wir für die Variante „Lieber eine Kennzeichnung zu viel
als einen Kranken mehr“. In Abwägung der positiven
und negativen Auswirkungen dieser Gesetzesänderung
kommen wir zur Entscheidung, dass wir uns enthalten.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712030100

Heute endlich beraten wir die notwendigen Gesetzes-

änderungen zur Schaffungen der rechtlichen Vorausset-
zungen zum effektiven Vollzug der EU-Verordnung zur
Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Chemi-
kalien in Deutschland. Reichlich spät. Diese Verordnung
wurde schon 2008 verabschiedet und trat am 20. Januar
2009 in Kraft. Da die Verordnung unmittelbar geltendes
Gemeinschaftsrecht ist, muss nun durch Gesetzesände-
rungen, wie der heute vorliegenden, der ordnungsge-
mäße Vollzug sichergestellt werden. Da fragt man sich
doch: Warum braucht die Bundesregierung mehr als
zwei Jahre, um eine rein technische Anpassung zur Voll-
zugssicherstellung einer EU-Verordnung auszuarbei-
ten? Und wie wurde der Vollzug eigentlich bisher sicher-
gestellt?

Dass man allein für technische Anpassung im Chemi-
kalienrecht so lange braucht, spricht Bände. Welchen
Stellenwert hat denn das Thema Chemikalienpolitik
überhaupt noch bei dieser Bundesregierung und im Um-
weltministerium? Ich würde mich freuen, wenn die wirk-
lichen drängenden Herausforderungen in der Chemika-
lienpolitik endlich auch mal hier im Hause umfassend
diskutiert würden. Mit der damals heiß umkämpften
REACH-Verordnung wurde das zuvor sehr mangelhafte
EU-Chemikalienrecht stark verbessert. Aber heute, vier
Jahre nach Inkrafttreten von REACH, ist deutlich ge-
worden, welche gravierenden Lücken und Schwachstel-
len es in der Umsetzung noch immer gibt. Doch was tut
die Bundesregierung auf nationaler und auf europäi-
scher Ebene, um diese Schwachstellen zu beseitigen und
einen Schutz für Mensch und Umwelt vor gefährlichen
Chemikalien sicherzustellen? Sonntagsreden halten!

Ich will nur kurz zwei Bereiche nennen, in denen drin-
gender Handlungsbedarf besteht: Nanomaterialien und
hormonelle Schadstoffe. Der Einsatz von Nanomateria-
lien ist durch REACH bisher nicht erfasst. Nanoteilchen
haben durch ihre Winzigkeit zum Teil völlig andere Ei-
genschaften als die Ursprungsstoffe; sie müssen damit
als Neustoffe eine eigene Sicherheitsbewertung durch-
laufen. Gerade Nanosilber, das immer häufiger in ver-
brauchernahen Produkten, wie Textilien, Spielzeuge und
Kosmetik auftaucht, ist ein besonderes Problem. Um ei-
nen wirksamen Gesundheitsschutz der Verbraucherin-
nen und Verbraucher sicherzustellen, wäre es am besten,
Nanosilber sofort unter REACH zu registrieren. Dafür
sollte sich die Bundesregierung einsetzen und, unabhän-
gig von REACH, in Deutschland die Inverkehrbringung
von verbrauchernahen Produkten mit Nanosilber ver-
bieten. Dazu haben wir Grüne auch einen Antrag ge-
stellt, der derzeit noch beraten wird. Wir werden versu-
chen, die Kollegen der anderen Fraktionen zu überzeu-
gen, unserem Antrag zuzustimmen und so gemeinsam für
den effektiven Schutz von Mensch und Umwelt vor risi-
koreichen Chemikalien wie Nanosilber einzutreten.

Eine zweites drängendes Problem in der Chemikali-
enpolitik ist der mangelnde Schutz der Menschen vor
hormonellen Schadstoffen. Bisher finden sich keine
Stoffe auf der REACH-Kandidatenliste, die speziell auf-
grund ihrer hormonellen Eigenschaften ausgewählt
wurden. Dabei sind gerade diese Stoffe besonders ge-
fährlich und können schwerwiegende gesundheitliche
Folgen nach sich ziehen. Wir begrüßen sehr, dass das
Umweltbundesamt mit Octylphenol jetzt endlich einen
hormonellen Schadstoff auf die Kandidatenliste setzen
will. Liest man dann aber das Positionspapier einer an-
deren Bundesbehörde, dem Bundesinstitut für Risikobe-
wertung, zur Definition von hormonell wirksamen Che-
mikalien, muss man sich fragen, wie ernst es der
Bundesregierung mit dem Schutz von Mensch und Um-
welt vor hormonellen Schadstoffen ist. Die in dem Pa-
pier vorgeschlagenen Definitionskriterien sind ein
Rückschlag für den Gesundheitsschutz. Sie machen es in
der Praxis fast unmöglich, einen Stoff als hormonellen
Schadstoff zu klassifizieren und regulieren.

Wir Grüne würden es begrüßen, wenn die Bundesre-
gierung endlich einmal Vorschläge macht, wie man die
Lücken in der Regulierung von hormonellen Schadstof-
fen und Nanomaterialien schließen kann. Dies sind die
drängenden Themen der Chemiepolitik, über die wir im
Parlament diskutieren müssen. Allein die Diskussion nur
über verspätete rein technische Gesetzesanpassungen,
die geltendes EU-Recht umsetzen, ist unzureichend.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712030200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6463,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/6054 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen ange-
nommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Scheel, Kerstin Andreae, Fritz Kuhn,





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bürokratieabbau vorantreiben: Kleine Unter-
nehmen von der Bilanzierungspflicht befreien

– Drucksache 17/3221 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus


Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1712030300

Bürokratieabbau oder Entbürokratisierung: Wörter,

die regelmäßig in aller Munde sind.

Es ist nicht nur kostbare Zeit, sondern auch jede
Menge Geld, was die Bürokratie verschlingt. Ich höre
die Klagen im Wahlkreis häufig; Bürgerinnen und Bür-
ger und Unternehmen sind ebenso betroffen wie die öf-
fentliche Verwaltung selbst. So klein jeder einzelne Ak-
teur im Wirtschaftskreislauf sein mag, so bedeutend sind
sie insgesamt für die europäische Wirtschaft. Gerade
Handwerker würden vom Abbau unnötiger bürokrati-
scher Formalien profitieren. Wir als CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion arbeiten daher seit geraumer Zeit für Ent-
lastungen und gegen überzogene Bürokratie zugunsten
der Kleinunternehmer aus.

Auch die EU hat für sich 2007, unter deutscher Rats-
präsidentschaft der unionsgeführten Bundesregierung,
Handlungsbedarf an dieser Stelle gesehen. Der Aufwand
für einen Jahresabschluss ist für Kleinunternehmer und
kleine Betriebe beträchtlich und fällt in gehörigem
Maße ins Gewicht. Ein Unternehmen, das sinnvoller-
weise keine Bilanz fertigen muss, soll auch keine ferti-
gen müssen. So weit so gut. Nach einem aktuellen Vor-
schlag des Rates sollen das Unternehmen sein, die am
Bilanzstichtag zwei von drei definierten Schwellenwer-
ten nicht überschreiten: Eine Bilanzsumme von 250 000
Euro, einen Nettoumsatzerlös von 500 000 Euro und/
oder eine durchschnittliche Zahl von zehn Beschäftigten
während des betreffenden Geschäftsjahres.

Die Bundesregierung wirbt intensiv für den soge-
nannten Micro-Vorschlag, wie er letztlich im Ände-
rungsvorschlag der Richtlinie 78/660/EWG Eingang
fand. Ein entsprechender Vorschlag zur gewünschten
kompletten Freistellung von der Bilanzierungs- bzw. Of-
fenlegungspflicht für Kleinunternehmer wurde vom Eu-
ropäischen Parlament dann 2009 mit großer Mehrheit
verabschiedet. Doch Mehrheiten verschieben sich im
politischen Alltag bekanntlich schnell, und so müssen
wir akzeptieren, dass nicht wenige EU-Staaten den Ver-
zicht auf die Offenlegungspflicht mittlerweile nicht mehr
befürworten. Das bedauern wir sehr, denn hier liegen
die größten Potenziale.

Der von Deutschland nun nicht mitgetragene Kom-
promiss gesteht den Kleinunternehmern nur kleine Er-
leichterungen bei der Bilanzierung zu. Eine Befreiung
von den Publizitätspflichten wurde insofern abgelehnt,
als es weiterhin eine Mindestleistung bleibt, dass die Bi-
lanz bei mindestens einer Behörde qualifiziert hinterlegt
und an das Unternehmensregister übermittelt werden
muss.

Das geht uns nicht weit genug. Dass im Ergebnis bei
den Verpflichtungen, die man in eine Bilanz zu schreiben
hat, ein paar Begründungen weggelassen werden kön-
nen, ist unzureichend. Das sorgt nicht für die erhoffte
Entlastung. Wir werden die weitere Entwicklung auf-
merksam begleiten, denn wenn es die EU mit dem Büro-
kratieabbau wirklich ernst meint, ist eine wesentliche
Erleichterung für kleinere Betriebe nur ein Anfang.

Dennoch helfen nationale Schnellschüsse hier nicht.
Die werden wir weder unterstützen noch vorlegen. In
der bevorstehenden zweiten Lesung des Europäischen
Parlaments ist zudem noch einiges möglich. Die Chan-
cen stehen nicht schlecht, das Blatt zugunsten der klei-
neren Betriebe noch einmal wenden zu können.

Nach unserer Auffassung muss den Mitgliedstaaten
die Möglichkeit eröffnet werden, für Kleinunternehmen
Bilanzierungserleichterungen zu schaffen. Aus diesem
Grunde hat der Bundestag im Jahre 2009 bereits mit
großer Mehrheit das Bilanzrechtsmodernisierungsge-
setz verabschiedet, nachdem für kleinere Einzelunter-
nehmer die Verpflichtung zur Buchführung, Stichtagsin-
ventur und Bilanzierung nach Handelsrecht abgeschafft
wurde. Allein dies hat zu einer Entlastung dieser um
über 2 Milliarden Euro pro Jahr geführt.

Aber: Wir haben uns schon damals aus gutem Grunde
gegen eine Bilanzierungserleichterung für Personen-
und Kapitalgesellschaften ausgesprochen. Diese sind
üblicherweise haftungsbeschränkt, weshalb es schon
aus diesem Grunde gegenüber einem Einzelkaufmann,
der vollumfänglich haftet, eines Mehrs an Transparenz
für den Geschäftsverkehr bedarf, wollen wir nicht diese
Unternehmensform diskreditieren. Der Antrag der Grü-
nen geht genau an dieser Stelle in die falsche Richtung;
auch deshalb lehnen wir ihn ab.


Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1712030400

Wir befassen uns heute mit einem Antrag der

Fraktion der Grünen, dessen Kernaussagen quer durch
alle Fraktionen des Bundestages breite Zustimmung fin-
den dürften. Was wollen wir? In der Vierten Richtlinie
78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von
Art. 54 Abs. 3 Buchstabe g des Vertrages über den Jah-
resabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsfor-
men werden die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Gliederung und den Inhalt des
Jahresabschlusses und den Lagebericht, die Bewer-
tungsmethoden sowie die Offenlegung dieser Schriftstü-
cke für sämtliche Kapitalgesellschaften koordiniert. Für
kleine und mittlere Unternehmen können die Mitglied-
staaten unter anderem vorsehen, die Pflicht zur Offenle-
gung der Jahresabschlüsse zu lockern oder kleine Un-
ternehmen von der Prüfung ihres Jahresabschlusses
freizustellen.

Seit 2009 gibt es einen Vorschlag für eine Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates – Vorschlag
vom 26. Februar 2009 – zur Änderung der Richtlinie 78/
660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Ge-

Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)

sellschaften bestimmter Rechtsformen im Hinblick auf
Kleinstunternehmen, Drucksache KOM(2009) 83 endg.
Der Vorschlag sieht vor, Kleinstunternehmen vom
Anwendungsbereich der Richtlinie 78/660/EWG
auszunehmen. Gemeint sind alle diejenigen Unter-
nehmen, deren Bilanzsumme unter einer halben oder
Nettoumsatzerlöse unter 1 Million Euro liegen und die
nicht mehr als zehn Mitarbeiter beschäftigen. Dieser
Vorschlag findet unsere Zustimmung, weil er es gestattet,
bei Privatgesellschaften, Einzelselbstständigen und an-
deren sehr kleinen Unternehmen auf die Verpflichtung
zum Jahresabschluss ganz zu verzichten und stattdessen
eine einfache Gewinnermittlung vorzunehmen. Das wird
Sie nicht überraschen, denn in dem von uns 2009 vorge-
legten Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, BilMoG, das
der Bundestag mit breiter Mehrheit verabschiedet hat,
waren ähnliche Erleichterungsvorschriften für kleine
und mittlere Unternehmen ebenfalls ein wesentlicher
Bestandteil. Bürokratie- und andere Kosten in Höhe von
1 Milliarde Euro und mehr konnten durch die
Maßnahmen des BilMoG bereits eingespart werden.

Der Parlamentarische Staatssekretär im Jus-
tizministerium, Max Stadler, hat hier im letzten Jahr auf
eine Frage der Kollegin Christine Scheel geantwortet,
dass „die Beratungen im Rat über den … Richt-
linienvorschlag der Kommission zu Bilanzerleichte-
rungen für Kleinstunternehmen … bislang durch die
Ablehnung einiger Mitgliedstaaten blockiert worden

(sind).“ In der Zwischenzeit hat sich diese Blockade

offenbar aufgelöst. Mein Eindruck ist, dass der
Einigungsprozess auf europäischer Ebene gute Fort-
schritte gemacht hat. Das Europäische Parlament hatte
bereits im März 2010 eine entsprechende Empfehlung
ausgesprochen. Der Vorschlag der EU-Kommission zu
den neuen Bilanzrichtlinien und der Möglichkeit, kleine
Körperschaften von den Verpflichtungen zu befreien und
mittlere bei bestimmten Vorschriften auszunehmen, deckt
sich mit unserer Auffassung von einer pragmatischen
Lösung für kleine und mittlere Unternehmen in Europa.
Nach den angesprochenen Widerständen bei einigen
Mitgliedstaaten hat sich nun auch der Rat Wett-
bewerbsfähigkeit am 30. Mai für den Vorschlag der
Kommission ausgesprochen. Damit ist der Weg frei für
eine baldige Inkraftsetzung der Richtlinie, und ich bin
ganz sicher, dass der Bundestag nicht zögern wird, diese
Richtlinie unverzüglich zu ratifizieren.

Die SPD-Bundestagsfraktion ist deshalb gegenüber
Geist und Inhalt des Antrags der Grünen aufgeschlos-
sen, hält aber die meisten Aspekte für bereits erfüllt oder
zumindest kurz vor Vollzug. Jedenfalls sehen wir keinen
Anlass zur Sorge, ob diese wirklich vernünftigen Rege-
lungen innerhalb kürzester Frist auch für deutsche Un-
ternehmen gelten werden – ich bin da zuversichtlich.

Die ebenfalls im Antrag der Grünen enthaltene
Forderung nach einer Vereinfachung der Einnahme-
Überschuss-Rechnung unterstützen wir ausdrücklich.
Dies tun wir insbesondere vor dem Hintergrund, dass
die früher formlos eingereichte Gewinnermittlung heute
nach § 60 Einkommensteuer-Durchführungsverordnung
das Ausfüllen einer Anlage EÜR verlangt, die unnötig
kompliziert erscheint und ohne Steuerberater für viele
Zu Protokoll
der betroffenen Kleinstunternehmer nicht fehlerfrei zu
bewältigen ist.

Wir werden darüberhinaus im Rahmen der Aus-
schussbefassung darauf zu achten haben, dass die zü-
gige Umsetzung der EU-Richtlinie weiter im Fokus
steht. Ein eigener Gesetzentwurf zur Befreiung der
Kleinstunternehmer von den Bilanzrichtlinien, wie der
Antrag der Grünen ihn hilfsweise fordert, wäre dann un-
nötig.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1712030500

Wir debattieren heute über einen Antrag der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen. Lassen Sie mich trotzdem mit
einem großen Lob beginnen. Dies ist einer der ganz we-
nigen Anträge Ihrer Fraktion, der ausnahmsweise nicht
neue Bürokratie schafft, sondern welche abbauen
möchte. Sonst ist es Ihnen meist eher ein Anliegen, den
Unternehmen in unserem Land immer neue Pflichten
aufzuerlegen. Insofern begrüßen wir es als FDP, dass
die Grünen erkennen, dass man Bürokratie abbauen und
nicht ausweiten muss.

Leider erkennt jeder kundige Leser sofort, dass Sie
vielleicht dieses richtige Anliegen verfolgen, aber in der
Sache so oberflächlich vorgehen, dass man nur zu einem
Schluss kommen kann: Ein echtes Herzensanliegen kann
es Ihnen wohl doch nicht gewesen sein! Das möchte ich
Ihnen anhand einiger offenkundiger Mängel Ihres An-
trages aufzeigen:

Sie schreiben in Ihrem Antrag auf Seite 1, dass es da-
rum gehe, Kleinstunternehmen – Zitat – „von der
Pflicht, eine Bilanz zu erstellen“ – Zitat Ende – zu be-
freien. Das schreiben Sie sogar noch vor dem Hinter-
grund, dass es um Kapitalgesellschaften gehen solle.
Nun, jedermann weiß, dass man Kapitalgesellschaften –
und seien sie noch so klein – nicht von der Pflicht be-
freien kann, eine Bilanz zu erstellen. Wesentliche
Rechtsvorschriften im Kapitalgesellschaftsrecht setzen
zwingend eine Bilanz voraus. Der Geschäftsführer einer
GmbH braucht eine Bilanz, um zu wissen, ob er rechtzei-
tig einen Insolvenzantrag gestellt hat oder sich nach
§ 15 a InsO strafbar gemacht hat. Die Gesellschafter
brauchen eine Bilanz, um zu wissen, ob sie Gewinnaus-
schüttungen vornehmen dürfen, ohne dafür mit ihrem
Privatvermögen haften zu müssen. Und letztlich ist die
Ermittlung der Besteuerungsgrundlage bei einer Kapi-
talgesellschaft gar nicht anders denkbar als mit einer
Bilanz. Wer die Bilanzierungspflicht für kleine Kapital-
gesellschaften abschafft, muss sagen, wie man all diese
Funktionen der Bilanz, auf die Geschäftsführer, Gesell-
schafter und auch der Staat angewiesen sind, anders er-
füllen möchte. Es wäre ein großer Schritt in Richtung
etwa eines gespaltenen Rechts der großen und der klei-
nen GmbH. Das erleichtert nichts, sondern macht es am
Ende für die Beteiligten nur komplizierter.

Genau das möchte auch der Entwurf für eine Ände-

(KOM den sie sich beziehen, überhaupt nicht. Es geht gar nicht um die Abschaffung der Bilanzierungspflicht im Allgemeinen. Es geht unter anderem nur darum, ob etwa zusätzliche Bilanzierungspflichten und Offenlegungs gegebene Reden Marco Buschmann pflichten, die das europäische Recht vorsieht, in den Mitgliedstaaten zwingend sein sollten oder ob man den Mitgliedstaaten hier einen Handlungsspielraum eröffnet. Da sagen auch wir, dass es sinnvoll ist, Kleinstunternehmen von den zwingenden Vorgaben des EU-Bilanzrechts zu befreien, um auf nationaler Ebene den Spielraum für Bürokratieabbau nutzen zu können, indem Erleichterungen bei der Bilanzierung und der Publizität gewährt werden. Wenn Sie das meinen, dann müssen Sie das auch schreiben. Ein weiterer offenkundiger Mangel Ihres Antrags ist, dass Sie Dinge fordern, die wir schon längst umgesetzt haben. Nehmen wir Ihre Forderung, dass man Einzelkaufleute im Rahmen bestimmter Schwellenwerte von der Bilanzierungspflicht befreien solle. Anders als bei Kapitalgesellschaften ist dies hier unschwer möglich, da aufgrund der persönlichen Haftung die bilanziellen Kontrollgrößen nicht dem Gläubigerschutz dienen. Ihre Forderung können Sie aber nicht aus dem Richtlinienentwurf ableiten, auf den Sie sich beziehen. Denn nach Art. 1 Abs. 1 soll die Richtlinie ausdrücklich nur für Kapitalgesellschaften gelten. Schließlich sind Einzelkaufleute bereits größtenteils von der Bilanzierungspflicht befreit. Das ergibt sich aus § 242 Abs. 4 HGB in Verbindung mit § 241 a HGB. Kurz und knapp lässt sich das Votum der FDP-Fraktion daher wie folgt auf den Punkt bringen: Gut gemeint ist nicht gut gemacht! Daher können wir einem Antrag, der zwar vom Grundanliegen her sympathisch, aber wegen der offenkundigen fachlichen Mängel sachlich untauglich ist, nicht zustimmen. Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen greift einen Regelungspunkt auf, der bereits in der letzten Legislaturperiode im Rahmen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes, BilMoG, umfassend debattiert wurde. Damals wurde mit § 241 a HGB eine Regelung eingeführt, nach der Einzelkaufleute von der Buchführungspflicht und, in der Systematik jedenfalls folgerichtig, von der Pflicht zum Jahresabschluss befreit sind, wenn ihr Handelsgewerbe gewisse Schwellenwerte unterschreitet. Bereits diese Regelung wurde von uns, aber auch der Fachwelt kritisiert. Die Beratungen zum BilMoG fanden im Schatten der durch die Insolvenz der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers eingeleiteten weltweiten Finanzkrise statt, die Millionen Arbeitsplätze vernichtet hat und mit deren Nachbeben wir uns auch heute noch auseinandersetzen müssen. Schon damals hatten die Ziele der Entbürokratisierung, Deregulierung und Flexibilisierung der Bilanzierungsvorschriften sowie die Anpassung an internationale Rechnungslegungsvorschriften einen faden Beigeschmack. Erst nach intensiven Beratungen wurde den tradierten Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung wieder mehr Bedeutung beigemessen. Drei Jahre später zeigt Ihr Antrag, dass die damalige, aber auch die aktuellen Krisen und deren Ursachen von Ihnen nicht verstanden worden sind. Erneut bewerten Zu Protokoll Sie die Vorgaben des HGB zur Buchführung und zur Erstellung eines Jahresabschlusses allein unter den Gesichtspunkten der vermeintlichen Unwirtschaftlichkeit und der unnötigen Bürokratie. Sie fordern daher, die unter diesen Vorschriften „leidenden“ Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften unterhalb der Schwelle von 500 000 Euro Umsatzerlös und 50 000 Euro Jahresüberschuss von der Pflicht zur Erstellung eines Jahresabschlusses zu befreien. Sie verkennen, dass diese Vorschriften in erster Linie dem Kaufmann selbst und seinen Gläubigern dienen. Nur ordnungsmäßige Buchführung und Bilanzierung versetzen den Handelsgewerbetreibenden überhaupt in die Lage, Forderungen und Verbindlichkeiten, aber auch den Status von Anlageund Umlaufvermögen zuverlässig zu bestimmen und sich jederzeit einen realistischen Gesamteindruck über den Stand seines Unternehmens zu verschaffen. Die öffentliche Anhörung zum Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen, ESUG, hat deutlich gemacht, dass eine Vielzahl kleinerer Unternehmen zahlungsunfähig ist, die ihren bestehenden Pflichten zur Buchführung und zur Erstellung von Jahresabschlüssen nicht nachkommt, also gerade keinen Überblick über ihre finanzielle Situation hat. Dem leisten Sie mit Ihrem Antrag nun weiter Vorschub. Als vollkommen abstruse Lösung dafür hat Ihr Abgeordneter Jerzy Montag ja bereits in seiner Rede zum BilMoG vom 25. September 2008 gefordert, man könne und müsse den Risiken erleichterter Buchführungspflichten mit einem verbesserten Insolvenzrecht begegnen. Unabhängig von den grundlegenden Einwänden gegen Ihre Forderungen ist der Antrag auch im Detail von Widersprüchlichkeiten geprägt. Zunächst ist festzuhalten, dass bereits § 241 a HGB in der geltenden Fassung ein Fremdkörper im Handelsrecht ist. Er erlässt die Pflicht zur Buchführung für Einzelkaufleute, obwohl gerade die Notwendigkeit dazu deren Kaufmannseigenschaft überhaupt erst begründet. Nun wollen Sie eine vergleichbare Regelung für Personenund Kapitalgesellschaften. Dass auch Sie die Konkurrenz mit § 141 AO dabei übersehen, mag man verzeihen. Allerdings verlangen Sie, dass nur die Pflicht zum Jahresabschluss entfällt. Gerade kleinere Unternehmen lassen auch die Finanzbuchhaltung durch Steuerberater durchführen. Eine nennenswerte Entlastung allein durch die Herausnahme der Jahresabschlusserstellung dürfte damit nicht eintreten. Konsequent wäre es, wenn Sie wenigstens den § 241 a HGB auf diese Gesellschaften ausdehnen wollten. Stattdessen soll aber offenbar ein weiterer Fremdkörper im Handelsrecht etabliert werden: Kaufleute, die buchführungspflichtig sind, aber keinen Jahresabschluss erstellen müssen. Auch die Begründung für diesen Vorschlag entbehrt jeglicher Logik. Sie führen Liquiditätsengpässe bei Unternehmen aufgrund restriktiver Kreditvergabe durch Banken ins Feld. Statt dieses Problem anzugehen und der unsozialen Kreditvergabepraxis der Banken durch deren Vergesellschaftung entgegenzutreten, wie wir es fordern, sollen Einsparungen für die Jahresabschlusserstellung von 2 500 Euro im Jahr die Liquiditätsprobleme lösen. Endgültig ad absurdum wird die Begrün gegebene Reden Richard Pitterle dung dadurch geführt, dass Unternehmer überhaupt nur eine Chance auf einen Kredit bekommen, wenn sie solide Buchführungsunterlagen und Jahresabschlüsse vorweisen können. Ihr Antrag ist damit nicht mehr als der missglückte Versuch, wirtschaftspolitische Kompetenz zu beweisen, um die FDP als Koalitionspartner in schwarz-grünen Bündnissen ablösen zu können. Zwei Jahre schwarz-gelbe Koalition waren leider auch zwei verlorene Jahre für kleine und mittlere Unternehmen. Nichts ist passiert für den Mittelstand. Die größte Maßnahme war es da noch, als Sie vergangene Woche angekündigt haben, die Grenzwerte der Istbesteuerung zu entfristen – eine Maßnahme der Vorgängerregierung wohlgemerkt. Es reicht einfach nicht, sich immer mal wieder in Schaufensterreden über die Bedeutung des Mittelstands auszulassen. Eine konsequente Mittelstandspolitik kümmert sich auch um Details und tritt konsequent für kleine und mittlere Unternehmen ein. Beides vermisse ich bei dieser Bundesregierung. Die Befreiung von der Bilanzierungspflicht war eines der größten Projekte der EU für einen Bürokratieabbau in der Wirtschaft, eine durch und durch positive Initiative, die mehr als die verbale Unterstützung der Bundesregierung verdient hätte. Stattdessen stehen wir jetzt nach einem Beschluss des EU-Ministerrats vor einem faulen Kompromiss, der fast nichts mehr mit der ursprünglichen Idee zu tun hat. Die Befreiung von der Bilanzierungspflicht wurde vom Ministerrat leider weitestgehend gekippt. Dabei wäre eine Befreiung sehr sinnvoll gewesen: Die Bilanzierung ist für kleine Unternehmen mit hohen Kosten verbunden, die oftmals den Nutzen bei weitem übersteigen. Eine halbe Arbeitskraft allein für die Erstellung des Jahresabschlusses ist für Kleinstunternehmen eine Investition ohne Gegenwert. Die Vorteile des Mittelstands wären beträchtlich gewesen. Mit einer jährlichen Ersparnis von zwischen 1 200 und 2 500 Euro pro Unternehmen würden wichtige Mittel in den Betrieben frei. Diese zusätzlichen Mittel können dann zur Finanzierung und für Investitionen genutzt werden. Daher sollte es kleinen Unternehmen freigestellt werden, ob sie einen Jahresabschluss mit Bilanz, Gewinnund Verlustrechnung, Anlagen und Lagebericht erstellen wollen. Sollten sich kleine Unternehmen geschäftliche Vorteile von einer umfassenden Bilanzierung versprechen, stünde es ihnen selbstverständlich weiterhin frei, diese vorzulegen. Das war die Initiative, bei der Kommission und Parlament auf einer Seite standen. Auch die Bundesregierung hat sich immer wieder positiv geäußert. Aber Worten müssen auch Taten folgen. Bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene hat diese schwarz-gelbe Regierung dann aber leider auf ganzer Linie versagt. Seit mehr als zwei Jahren können Sie sich mit einem konkreten Entwurf der Kommission befassen. Der Rat kennt seit März 2010 den Standpunkt des Parlaments. Sie hatten also weit mehr als ein Jahr Zeit, eine Mehrheit für die Verabschiedung zu organisieren. Stattdessen wurde Ende Mai diesen Jahres ein sogenannter Kompromiss im Rat verabschiedet, der diese Bezeichnung jedoch nicht verdient. Nicht nur, dass die relevanten Schwellenwerte halbiert wurden. Nein, außerdem können bürokratische Entlastungen nur noch in wenigen Punkten innerhalb des Jahresabschlusses realisiert werden. Die Befreiung von der Bilanzierung fällt weg, und ein spürbarer Impuls ist für den deutschen Mittelstand daher nicht mehr zu erwarten. 70 Prozent der deutschen Unternehmen wären davon betroffen gewesen. Erklären Sie diesen Unternehmerinnen und Unternehmern, warum Sie nicht besser verhandelt haben. Wenn man sich das Votum der Bundesregierung im Rat anschaut, muss man festhalten, dass diese Bundesregierung diesen inhaltsleeren Beschluss des Rates sogar zu einer Mehrheit verholfen hat. Jetzt müssen Sie Millionen deutschen Unternehmen erläutern, warum Sie sich bei einem solch schlechten Kompromiss enthalten haben und damit einer Mehrheit den Weg bereiten. Stattdessen hätten Sie konsequenterweise gegen ein solch unbefriedigendes Verhandlungsergebnis stimmen müssen, wenn Ihnen an der Initiative etwas gelegen hätte. Eine Befreiung der Kleinstunternehmen von der Bilanzierungspflicht hätte vielen kleinen Unternehmen gut getan. Heute sind zwar schon Einzelkaufleute mit sehr niedrigen Schwellenwerten befreit. Aber es geht um eine konsequente Befreiung von der Jahresabschlusspflicht unabhängig davon, welche Rechtsform eine Unternehmerin oder ein Unternehmer gewählt haben – es geht darum, dass Einzelkaufleute, Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften gleichermaßen profitieren können. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass sich kleine Unternehmen auf ihr Geschäft konzentrieren können und sich nicht im bürokratischen Klein-Klein verstricken müssen. Das EU-Parlament wird sich hoffentlich gegen den faulen Kompromiss des Rates aussprechen, sodass es noch Chancen zur Korrektur des Ratsbeschlusses gibt. Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich diesmal für den deutschen Mittelstand ein. Hören Sie auf, Politik nur für die großen Konzerne zu machen, und kümmern Sie sich um die Belange der KMU. Mit der jetzigen Beschlusslage ist niemandem geholfen. Aber auch hier im Bundestag können Sie Farbe bekennen: Schon jetzt wäre eine Entlastung der Personengesellschaften nach den für Einzelkaufleute geltenden Grenzwerten möglich. Da müssen Sie nicht auf ein Votum anderer EU-Regierungen warten, das können Sie schon jetzt ganz allein umsetzen. Machen Sie endlich eine konsequente Politik für den Mittelstand, und reden Sie nicht nur davon. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Demokratische Republik Kongo stabilisieren – Drucksache 17/6448 – Zu Beginn meiner Rede möchte ich gerne aus meiner Rede vom 1. Juni 2006 im Deutschen Bundestag zitieren, wo wir im Rahmen der UN-Operation EUFOR RD Congo über die Entsendung deutscher Soldaten zur Absicherung der damals bevorstehenden Präsidentschaftsund Parlamentswahlen in der Demokratischen Republik Kongo zu entscheiden hatten: „… Wir stehen jetzt am Vorabend von Entscheidungen, die dazu beitragen können, dass ein zentraler Unruheherd in Afrika befriedet wird. … Wir haben jetzt die Gelegenheit, mit einem kurzen militärischen Einsatz einem Volk die Chance zu geben, in freier Verantwortung seine Parlamentarier und seinen Präsidenten zu wählen.“ Fünf Jahre nach dieser Rede muss ich leider feststellen, dass die kongolesische Regierung unter Präsident Joseph Kabila das in sie gesetzte Vertrauen und damit die angesprochene Chance nicht genutzt hat. Wir befinden uns heute fast fünf Monate vor den geplanten Präsidentschaftswahlen in der Demokratischen Republik Kongo. Dies haben wir zum Anlass genommen, mit unserem Antrag ein Resümee der vergangenen Jahre zu ziehen und gleichzeitig einen Ausblick in die Zukunft zu wagen. Ich freue mich, dass dieser Antrag als interfraktioneller Antrag heute zur Debatte steht, denn dies zeigt, dass wir hier mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Wir stellen leider zuallererst fest, dass sich die Situation der kongolesischen Bevölkerung, gerade in den östlichen Regionen, seit Jahren nicht gebessert, ja vielerorts sogar verschlechtert hat. Misswirtschaft und Korruption sind nach wie vor an der Tagesordnung. In den letzten Tagen erreichen uns vermehrt Meldungen über die immer größere Ausbreitung einer Choleraepidemie. Die Epidemie war im März in der Stadt Kisangani ausgebrochen und hat sich seitdem immer weiter entlang des Flusses Kongo ausgebreitet. Den Angaben zufolge sind bereits 2 787 Menschen erkrankt und 153 bereits gestorben. Die nahezu ungehinderte Ausbreitung der Cholera hat vor allem folgende Gründe: hohe Bevölkerungsdichte, mangelhafte Hygienebedingungen und eingeschränkter Zugang zu sauberem Wasser. Im Jahre 2006 waren die Wahlen zu 90 Prozent von den Geberstaaten finanziert. Die kongolesische Regierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die kommenden Wahlen mit einem hohen Eigenanteil, nämlich circa 60 Prozent, selber zu finanzieren. Allerdings ist bis heute nicht klar, woher das Geld genau stammen soll. Am 31. Juni 2011 kam es in der Hauptstadt Kinshasa zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Anhängern der Oppositionspartei UDPS und der Polizei vor dem Sitz der Wahlkommission. Die Anhänger der Opposition werfen der Kommission Unregelmäßigkeiten bei der Wählerregistrierung vor. Wir fordern die kongolesische Regierung daher auf, den Fahrplan für die Präsidentschaftswahlen einzuhalten und somit den anvisierten Wahltermin im November 2011 einzuhalten. In der letzten Woche hat der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Verlängerung von MONUSCO, mit 22 000 Mann eine der größten UN-Blauhelmmissionen, um ein Jahr beschlossen. Die jährlichen Kosten für diesen Einsatz werden auf circa 1,4 Milliarden US-Dollar geschätzt. Deutschland als viertgrößter Zahler ist mit rund 10 Prozent an den Kosten beteiligt. Daran sehen Sie, dass die Stabilisierung der Demokratischen Republik Kongo, gerade der östlichen Provinzen, in unserem ureigensten Interesse sein muss. Immer wieder erreichen uns schreckliche Nachrichten von Massenvergewaltigungen, Verschleppungen und Raub aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo. Marodierende Milizen treiben dort weiter ihr Unwesen und betreiben bewusst eine Destabilisierung der Region. Strafund Rechtsfreiheit sind an der Tagesordnung. Dies führt weiterhin zu einem nahezu unkontrollierten Abbau und somit zur Ausbeutung der vorhandenen Rohstoffe. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, in Zusammenarbeit mit der Bundesanstalt für Geowissenschaft und Rohstoffe Jahren an einem Mechanismus für die Zertifizierung der kongolesischen Rohstoffe. Nur so können wir sicherstellen, dass die Rohstoffe zu Weltmarktkonditionen abgebaut, zu Weltmarktpreisen verkauft und nicht wie geschehen gegen Waffen getauscht werden. Wenn wir es nicht schaffen, die Demokratische Republik Kongo zu stabilisieren, können wir auch das gesamte Gebiet der Großen Seen nicht stabilisieren. Lassen Sie uns gemeinsam den vorliegenden Antrag zum Anlass nehmen, die Demokratische Republik Kongo wieder mehr in den Fokus der deutschen Außenpolitik zu rücken. Denn nur mit einer europäisch und international abgestimmten Position können wir eine Verbesserung in und für die Bevölkerung in der Demokratischen Republik Kongo erreichen. Die Menschen sind der Gewalt und des Mordens müde geworden. Unterstützen Sie deshalb den vorliegenden Antrag, denn mit den darin aufgezeigten Mitteln und Wegen wollen wir versuchen, unseren Anteil zur Stabilisierung der Demokratischen Republik Kongo beizutragen. Zum 1. Juli hat Deutschland den Vorsitz im Sicher heitsrat der Vereinten Nationen übernommen. Einen Tag zuvor lief das ursprüngliche Sicherheitsratsmandat für die MONUSCO-Mission der Vereinten Nationen aus. Auch wenn wir zurzeit intensiv über die Umwälzungen in Nordafrika und die Zukunft des Sudans diskutieren, dürfen wir die Demokratische Republik Kongo als zweiten großen Krisenherd auf dem afrikanischen Kontinent nicht aus den Augen verlieren. Sibylle Pfeiffer Daher hat der Antrag zum Ziel, die Bedeutung dieses Konfliktes zu unterstreichen. Wir wollen aber auch, dass die Bundesregierung, die Europäische Union und die Vereinten Nationen eine kohärente Strategie für die Demokratische Republik Kongo entwickeln, um gezielt Druck auf die Regierung und andere relevante Akteure auszuüben. Dazu zeichnet der Antrag zunächst ein ungeschöntes Bild der Lage in der Demokratischen Republik Kongo und nennt die Dinge beim Namen. Er beschreibt konkret die Probleme und Defizite, ohne sie zu verharmlosen. Dies hat sich bei ähnlichen Berichten oder Anträgen zu Afghanistan oder dem Sudan bewährt, und ich freue mich daher auch über die breite interfraktionelle Zustimmung dazu. Diese ungeschönte Analyse fängt bei der Beschreibung der Menschenrechtslage an – sie ist katastrophal. Wir alle kennen die Berichte über die grauenhaften Massenvergewaltigungen vor einem Jahr, bei denen binnen vier Tagen über 300 Frauen und Kinder vergewaltigt wurden. Der Antrag nennt auch ein anderes grauenhaftes Beispiel und klagt die Massenvergewaltigungen an der Grenze zu Angola mit 1 400 Opfern in nur einem Dorf innerhalb weniger Monate an. Folge dessen sind eine katastrophale Sicherheitslage mit über zwei Millionen Binnenvertriebenen, hauptsächlich im Grenzgebiet zu Ruanda. Damit lässt sich nicht abstreiten, dass die Blauhelmmission ihrem prioritären Auftrag, die Zivilbevölkerung des Landes zu schützen, wiederholt nicht gewachsen war. Dies gilt nicht nur für die Verhinderung einzelner Massaker oder Vergewaltigungen, sondern auch für die Niederschlagung größerer regionaler Unruhen. Dabei ist die MONUC/MONUSCO-Mission seit 1999 stetig gewachsen und mittlerweile die größte der Vereinten Nationen. Zurzeit umfasst sie ein robustes Mandat mit rund 20 000 Blauhelmen. Auch Deutschland als viertgrößter Beitragszahler unterstützt diese Mission seit langem. Neben einer verheerenden Bestandsaufnahme umfasst der Antrag aber auch einige wenige Erfolge. Dazu zählen die Wahlen im Jahr 2006, die nicht nur von der Bundesregierung und der EU finanziert, sondern auch im Rahmen der Operation EUFOR RD Congo militärisch abgesichert wurden. Ich erinnere mich noch gut an die damalige Debatte, als deren Ergebnis wir uns trotz mancher Einwände entschieden haben, 780 Soldaten zu entsenden. Im Nachhinein betrachtet war das eine richtige Entscheidung. Jetzt stehen die zweiten demokratischen Präsidentschaftswahlen an, die für den 27. November angesetzt sind. Über deren Bedeutung brauchen wir nicht zu diskutieren. Denn – und das sagt der Antrag klar und deutlich – „das Vertrauen der Bevölkerung in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist jedoch in den letzten Jahren gefährlich gesunken.“ Weder Menschenrechte noch Sicherheit oder eine unabhängige und funktionierende Justiz sind in der Demokratischen Republik Kongo vorhanden. Der Rohstoffreichtum scheint für die BevölkeZu Protokoll rung kein Segen, sondern ein Fluch zu sein. Und ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Vor diesem Hintergrund scheint ein großer Wurf zur schnellen Wende kaum möglich. Daher braucht es langfristige und nachhaltige Arbeit, um das Ruder herumzureißen. Entsprechende Passagen finden sich im Afrika-Konzept der Bundesregierung. Als Entwicklungspolitikerin weiß ich um die Bedeutung der Demokratischen Republik Kongo als bilaterales Partnerland der deutschen Entwicklungspolitik. Doch all das hat in der Vergangenheit nicht zum entscheidenden Durchbruch verholfen. Daher müssen wir darüber nachdenken, wie Sanktionen und Konditionalisierung, aber auch Mechanismen zur Transparenz und Rohstoffzertifizierung sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt werden können. Andernfalls werden Willkür und Korruption jeglichen Fortschritt verhindern. Exemplarisch wird das an dem offensichtlich jeder ernsthaften Grundlage entbehrenden Vorgehen der kongolesischen Justiz gegen die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, deutlich. Daher unterstützt der Deutsche Bundestag auch eine zukünftig deutlichere Ansprache der Bundesregierung und EU gegenüber den kongolesischen Verantwortlichen. Der Antrag macht deutlich, dass die Zeit der Ausreden und leeren Versprechen durch die kongolesische Regierung ein Ende haben muss – deren Verantwortlichkeit für die Entwicklung des Landes wird klar benannt. Wir als Bundesrepublik und internationale Gemeinschaft können nur unsere Hilfe anbieten. Nach Verhandlungen zwischen den oben genannten Fraktionen ist ein interfraktioneller Antrag zur Stabilisierung der Demokratischen Republik, DR, Kongo entstanden, der aufgrund der vorgenommenen Änderungen vonseiten der SPD-Fraktion befürwortet wird. Auf folgende Punkte, die im Verhandlungsprozess Berücksichtigung gefunden haben, möchte ich nochmal eingehen: Von einer positiven Entwicklung der DR Kongo hängt die Sicherheitslage der gesamten Region ab. Das Land ist an Fläche und Bevölkerung eines der größten Afrikas. Seit den ersten Wahlen im Jahre 2006, die von der Europäischen Union in erheblichem Maße mitfinanziert und personell gestützt wurden, lassen sich jedoch kaum Zeichen einer fortschreitenden Demokratisierung ausmachen. Besonders die im November anstehenden Präsidentschaftsund Parlamentswahlen stimmen sorgenvoll und sind mit ein Grund dafür, dass die größte Blauhelmmission der VN, MONUSCO, um ein weiteres Jahr verlängert wurde. Die Lage vor den Wahlen ist angespannt. Darüber hinaus gibt es Unmut in der Bevölkerung über die Maßgabe der Regierung, sich erneut in das Wählerregister eintragen zu lassen, eine fast unüberbrückbare Hürde für viele Kongolesen, die vor der Gewalt im Land flüchten oder vertrieben wurden. Die VN fordern die kongolesische Regierung auf, für faire, regelmäßig und transparente Wahlen zu sorgen. Ohne beträchtliche internationale Unterstützung dürften die gegebene Reden Heidemarie Wieczorek-Zeul Wahlen jedoch – selbst bei einer wohlwollenden Einschätzung – kaum erfolgreich verlaufen. Darum fordert der Antrag die Bundesregierung unter anderem auf, bei der Vorbereitung der Wahlen organisatorische und rechtliche Unterstützung anzubieten und frühzeitig auf die Entsendung internationaler und EU-Wahlbeobachter zu drängen. Diese sollen in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft die Wahlkämpfe und Wahlgänge überwachen. Die Lebensumstände der Menschen insbesondere im Osten und Norden des Landes haben sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verbessert. Etwa 55 Millionen Menschen sind immer noch von eklatanter Armut betroffen und müssen mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag auskommen. Gerade die Sicherheitslage bereitet Anlass zur Sorge. Frauen und Kinder laufen unverändert Gefahr, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Massenvergewaltigungen werden von den Milizen systematisch als Mittel der Kriegsführung eingesetzt, um die Gemeinschaften zu zerstören. Obwohl internationale Programme zur Reform des kongolesischen Sicherheitssektors vorhanden sind, ist es bisher nicht gelungen, einen Großteil der Milizionäre zur Aufgabe ihres Kampfeinsatzes zu bewegen. Kinder werden verstärkt als Kindersoldaten rekrutiert und zum Töten missbraucht – ein lebenslanges Trauma ist die Folge. Besonders bemängelt wird die Tatsache, dass die kongolesische Regierung die Sicherheit der Menschen in ihrem Land nicht gewährleistet und Menschenrechtsverletzungen nicht konsequent verfolgt und geahndet werden. Dies muss insbesondere für Vergewaltigungen gelten, die von der VN in ihrer Sicherheitsratsresolution 1820 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit besonders geächtet wurden. So bleibt es meist Aufgabe anderer, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu untersuchen. So ist es nicht die kongolesische Regierung, sondern die VN-Mission MONUSCO, die prüft, wie es zu den Massenvergewaltigungen im Juni durch desertierende Soldaten im Osten des Landes gekommen ist und wie rechtlich vorgegangen werden muss. Eine Umverteilung des beträchtlichen Ressourcenreichtums steht immer noch aus und bleibt eine der grundlegenden Herausforderungen für die Befriedung des Landes. Die aus Bodenschätzen wie Coltan, Kupfer und Zink gewonnenen Einnahmen werden immer noch allzu oft zur Finanzierung von Kriegsaktivitäten verwendet oder fließen ausländischen Unternehmen zu, die sich durch geschickte Vertragsverhandlungen beträchtliche Erträge sichern. Fehlende Mittel für die Armutsbekämpfung sind die Folge. Die Entwicklung eines einheitlichen und flächendeckenden Zertifizierungsund Transparenzmechanismus muss daher mit besonderem Nachdruck vorangetrieben werden. Mit diesem könnten die Handelswege der aus der DR Kongo abgebauten Rohstoffe nachverfolgt werden. Unsere Fraktion schlägt auch vor, eine europäische Regelung zu schaffen, die analog zum US Financial Reform Act fordert, die Zahlungen von europäischen Firmen transparent zu machen, um damit dem illegalen Ressourcentransfer entgegenzuwirken. Zu Protokoll Bevor ich auf das Inhaltliche eingehe, nur kurz zum Ablauf der Beratungen. Der vorliegende Antrag der CDU/CSU, der SPD, der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen – Drucksache 17/6448 – ist ein interfraktioneller Antrag, der auf Basis des Koalitionsantrages der Koalitionsantrag zurückgezogen und durch den interfraktionellen Antrag ersetzt. Diesen interfraktionellen Antrag stellen wir zur Sofortabstimmung, da wir möchten, dass er noch vor der Sommerpause beschlossen wird, denn in der Demokratischen Republik Kongo stehen im November Präsidentschaftswahlen an. Die Demokratische Republik Kongo hat also nicht nur deswegen eine entscheidende Phase vor sich, in der wir als Parlamentarier mit unserem umfassenden Forderungskatalog konzeptionell zur rechten Zeit kommen. Ich bin erleichtert, dass uns zur Situation in der Demokratische Republik Kongo ein interfraktioneller Antrag gelungen ist und er belegt, dass der erhobene Vorwurf, die Regierungskoalitionen würden grundsätzlich keine interfraktionellen Anträge wünschen, nicht stimmt. Es ist auch bei weitem nicht der erste interfraktionelle Antrag. Zum Beispiel hatten wir interfraktionelle Anträge zum Sudan, zu Belarus, zum Iran, um nur einige zu nennen. Als Mitglied des Menschenrechtsausschusses habe ich im Mai an einer Ausschussreise nach Ruanda und in den Ostkongo – nach Goma und Bukavu – teilnehmen können. Ich möchte an dieser Stelle daher ganz ausdrücklich der Deutschen Botschaft, dem Botschafter Dr. Peter-Christof Blomeyer und seinem Vertreter, Herrn David Schwake, für die hervorragende Vorbereitung und Betreuung danken. Gleiches gilt für die Botschaft in Kigali und dem Geschäftsträger der Botschaft in Ruanda, Herrn Frank Maier. Auch wenn ich natürlich nicht für die anderen Reiseteilnehmer sprechen kann: Diese Reise hat uns – gerade was den Rohstoffhandel betrifft – neue Einblicke vor Ort gebracht. Vieles, was hier in den deutschen Medien manchmal simplifiziert dargestellt wird, sieht in der Realität anders aus. Keine Frage: Die Demokratische Republik Kongo ist reich an Rohstoffen – doch leider kommt dieser Reichtum nicht der Bevölkerung zu Gute, sondern ist vielmehr selbst ein Teil des nicht enden wollenden Gewaltkreislaufs. Es stimmt aber nicht, dass 80 Prozent des Coltans aus der Demokratische Republik Kongo kommen. Der Anteil an Coltan aus der Demokratische Republik Kongo am Weltmarkt beträgt 8,7 Prozent. Auch wird der Preis für Coltan-Kondensatoren in Handys überschätzt – er dürfte bei etwa 2 Cent liegen. Diese Zahlen sollen nichts verharmlosen, nur ins rechte Licht rücken. Denn unser Ziel ist und bleibt das gleiche: Den Rohstoffhandel aus dem Gewaltzirkel herauszulösen und die Erträge einer nachhaltigen Entwicklung zugänglich zu machen. Das ist ein besonders wichtiger Beitrag zur Friedenskonsolidierung im Ostkongo. Durch den Dodd-Frank-Act und das Importverbot Ruandas, das die Einfuhr von nicht zertifizierten Mineralien seit dem 1. März 2011 verbietet, ist endlich ein so hoher Druck auf die kongolesische Regierung ausgeübt worden, dass sie sich bewegen muss. Jetzt hat man vor gegebene Reden Marina Schuster Ort ein hohes Interesse am EITI-Prozess und an der Zertifizierung. Hierbei nimmt Deutschland durch die Arbeit der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Rohstoffe und durch die EITI-Initiative eine weltweite Vorreiterrolle ein. Mein ausdrücklicher Dank gilt daher Dr. Uwe Näher von der BGR und Herrn Götz von Stumpfeldt von der GIZ. Wenn ich die Reise Revue passieren lasse, dann ist es so, dass man die vielen Menschenrechtsverletzungen, die dort nach wie vor geschehen, kaum verarbeiten kann. Wir haben ehemalige Kindersoldaten besucht. Ein Junge, 12 Jahre alt, war vier Jahr Kindersoldat bei den Mai-Mai-Rebellen. Wir haben das Panzi-Krankenhaus in Bukavu besucht, in dem pro Jahr 3 500 Vergewaltigungsopfer behandelt werden Die meisten Vergewaltigungen gehen – auch nach Angaben der UN vor Ort bestätigt – von der offiziellen kongolesischen Armee aus. Wir haben in Bukavu ein Gefängnis besucht – ein Gefängnis, das ausgelegt war auf 400 Häftlinge, in dem 1 200 Häftlinge untergebracht waren, in Schlafsälen mit dreckigen, schimmligen Matratzen und Plastikeimern als WC – und das Gefängnis war sicher das „beste“ in der Region von den Standards her. Wir haben mit Häftlingen gesprochen – einer seit fünf Jahren in Haft, ohne Anklageerhebung, ohne dass er je einen Anwalt gesehen hätte. Wir haben mit inhaftierten Oppositionspolitikern gesprochen – inhaftiert, weil sie etwas Regierungskritisches gelesen haben sollen. Wir haben MONUSCO besucht – die händeringend Hubschrauber brauchen – und wer die Landschaft dort kennt, der weiß, dass ohne Hubschrauber selbst nah gelegene Ortschaften nur in stundenlanger Fahrt auf mehr als holprigen oder schlammigen Pisten erreicht werden können. Dann nämlich kommt die Hilfe zu spät für die Abwehr eines Überfalls. Wir haben eine artisanale Mine gesehen, wo mit bloßen Händen nach Gold geschürft wird und wo sich sämtliche Ausführungen zu Arbeitsstandards erübrigen. Diese Liste ließe sich noch fortsetzen. Fest steht: Die Sicherheitsund Menschenrechtslage bleibt katastrofal, auch wenn es im riesigen Gebiet des Ostkongos natürlich Unterschiede gibt. Deswegen ist es dringend geboten, dass wir uns gerade jetzt intensiv mit der Demokratische Republik Kongo beschäftigen. Die Demokratische Republik Kongo befindet sich nach über einem Jahrzehnt mehrerer, miteinander verknüpfter interner und regionaler Kriege und Konflikte, die nach Angaben des internationale Rescue Committees mehr als 5 Millionen Todesopfer forderten, in einem wechselhaften Übergangsprozess. Etwas Hoffnung keimte auf, als die Kongolesen im Jahr 2006 zur Wahlurne schritten, um erstmals in der Geschichte ihres Landes in freien Wahlen Präsident und Parlament zu wählen. An der Absicherung dieser Wahlen durch die internationale Gemeinschaft war auch die Bundeswehr mit 780 Soldaten im Rahmen der EU-Mission EUFOR RD Congo beteiligt. Fünf Jahre später stehen nun turnusgemäß die nächsten Präsidentschaftsund Parlamentswahlen an. Wir Zu Protokoll wissen aus anderen Postkonflikt-Ländern nur zu gut, dass dieser zweite Urnengang für die Konsolidierung einer neuen Ordnung fast so entscheidend ist wie der erste. Wenn die internationale Medienkarawane längst weitergezogen und der Konflikt aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit verschwunden ist, erst dann zeigt sich, wie nachhaltig die Anstrengungen zur Beendigung des Konfliktes waren und wie stabil die neue Ordnung tatsächlich ist. Der Wahlkampf und die Wahlen erfordern die volle Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft, um glaubwürdige Wahlgänge durchzuführen. Die Wahlvorbereitung erfüllt mich mit Sorge: Es gibt zwei Faktoren, die zu einem Legitimitätsproblem führen könnten. Erstens. Es gibt deutlich weniger Wählerregistrierungsstationen in der Demokratische Republik Kongo als noch 2006. Die Zahlen veranschaulichen dies: Im Südkivu waren es 2006 noch 700 Stationen, heute 303 Stationen. Zweitens. Präsident Kabila hat die Wahlgesetzgebung nach seinen Vorstellungen so umschreiben lassen, so dass eine Stichwahl bei der anstehenden Präsidentschaftswahl als ausgeschlossen gelten kann. Außerdem gibt ihm die Verfassungsänderung, die Möglichkeit, ein Provinzparlament aufzulösen und den Gouverneur abzusetzen. Fest steht: Wir brauchen eine intensive Begleitung des Wahlprozesses. Es muss EU-Wahlbeobachter geben, es muss auch jetzt schon Beobachtung der Wählerregistrierung, des Wahlkampfs geben, und vor allem muss die Opposition Zugang zu staatlichen Medien haben und muss sich frei betätigen können. Eines müssen wir auch klar feststellen: Die Verantwortung für die Gewährleistung eines stabilen Sicherheitsumfelds, die Geltung der Menschenrechte und die Umsetzung sämtlicher Reformprojekte liegt letztlich und zuerst bei der Regierung der Demokratische Republik Kongo. Die internationale Gemeinschaft kann hierzu lediglich Hilfestellung bieten. Aber Deutschland hat ein fundamentales Interesse daran, dass die Konsolidierung der Demokratische Republik Kongo erfolgreich voranschreitet. Denn nicht nur war die Bundeswehr zur Absicherung der Wahlen 2006 im Kongo im Einsatz, seit Jahren engagiert Deutschland sich in diesem Land auch als Geber in der biund multilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Im neuen Afrika-Konzept der Bundesregierung nimmt die Demokratische Republik Kongo in den Bereichen „Frieden und Sicherheit“, „Umwelt und Klima“ sowie „Energie und Rohstoffe“ einen bedeutenden Platz ein. Zwei wichtige Sicherheitssektorreformen der EU werden mit deutschem Geld und Personal unterstützt. Und wir sind viertgrößter Beitragszahler der VNMission MONUSCO, die schon seit 1999 im Land aktiv ist und deren Mandat Ende Juni gerade um ein weiteres Jahr verlängert wurde. Das deutsche Engagement bezüglich der Demokratische Republik Kongo ist unter den Prämissen einer werteund interessengeleiteten Außenpolitik nicht nur gerechtfertigt, es ist vielmehr zwingend geboten. Denn Massaker, Massenvergewaltigungen, Plünderungen, Vertreibungen und weitere Menschenrechtsverletzungen gegebene Reden Marina Schuster durch Rebellengruppen, aber auch Armee-Einheiten sind vor allem in den östlichen Kivu-Provinzen an der Tagesordnung. Ich habe von meinem Besuch im PanziKrankenhaus berichtet. Aber selbst in den Teilen des Landes, in denen kein bewaffneter Konflikt schwelt, ist die Menschenrechtssituation katastrofal. Menschenrechtsaktivisten und Journalisten werden zunehmend in ihrer Arbeit eingeschüchtert, mit dem Leben bedroht oder ermordet. Hierfür zeichnen auch die staatliche Polizei und der nur dem Präsidenten unterstellte Geheimdienst verantwortlich. Eine unabhängige Justiz, die solche Verbrechen aufklären und zur Anklage bringen könnte, existiert in den seltensten Fällen. Verfahren gegen die Täter werden kaum angestrengt und enden oft ohne Verurteilung. Im ganzen Land existiert eine Kultur der Straflosigkeit. Auch die im Kontext des Krieges begangenen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit harren weiter einer systematischen Aufarbeitung. Die Behandlung weniger, prominenter Fälle bleibt dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überlassen. Dies ist die erschütternde Bestandsaufnahme rund fünf Jahre nach den Wahlen von 2006, in die viele Kongolesen so große Hoffnungen gesetzt hatten. Fünf Jahre nach ihrem Amtsantritt hat die Regierung Joseph Kabila kaum eines ihrer zahlreichen Wahlversprechen gehalten. Der Schutz der Zivilbevölkerung ist vor allem in den Kivu-Provinzen nicht gewährleistet. Wichtige Reformen wie etwa die in der Verfassung geforderte dezentralisierte Neugliederung des Landes oder die Einsetzung einer ebenfalls in der Verfassung verankerten Nationalen Menschenrechtskommission unterblieben jedoch. Die anhaltende Stagnation legt die Vermutung nahe, dass Teile der kongolesischen Elite in Kinshasa sich mit dem prekären Zustand ihres Landes arrangiert und kein Interesse an grundlegenden Fortschritten haben. Deutschland und die internationale Gemeinschaft sind daher aufgefordert, ihre Unterstützungsmaßnahmen umfassend auf den Prüfstand zu stellen und ihre Anstrengungen besser zu koordinieren. International muss die Gewährung von Entwicklungszusammenarbeit direkter an messbare Erfolge bei der Verbesserung der Menschenrechtslage geknüpft werden. Insbesondere bei der Reform des kongolesischen Sicherheitssektors – einem Schlüsselprojekt bei der langfristigen Friedenskonsolidierung – sind Verbesserungen notwendig. Hier brauchen wir eine spürbare finanzielle und personelle Aufstockung von den beiden EUPOLund EUSEC-Missionen. Aber auch bei der Unterstützung der MONUSCO-Mission sind eine Überprüfung laufender Maßnahmen und eine verbesserte Abstimmung mit den internationalen Partnern notwendig. Oberste Aufgabe für MONUSCO muss der Schutz der geschundenen Zivilbevölkerung sein. Ich begrüße, dass man nun Gemeinde-Verbindungspersonal einsetzt, die mit Handy ausgestattet, im Notfall schneller Hilfe rufen können. Die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz von MONUSCO hängt entscheidend von dieser Schutzfunktion ab. Und es ist ein nicht hinnehmbarer Zustand, dass sich in der internationalen Gemeinschaft keine Hubschrauber finden. Zu Protokoll Wir müssen auch die regionale, politische Dimension im Blick behalten. Die Demokratische Republik Kongo grenzt an insgesamt neun Staaten und ist damit von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung Zentralafrikas. Politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität im Kongo strahlen positiv auf die gesamte Region aus – umgekehrt haben Instabilität und eine anhaltend schwache wirtschaftliche Entwicklung einen negativen Effekt auf die Anrainer-staaten, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Mit dem vorliegenden Antrag leistet der Deutsche Bundestag einen wichtigen Beitrag für die zukünftige Entwicklung, indem er eine Bestandsaufnahme liefert und konkrete Schwerpunkte für zukünftiges Handeln benennt. Hieran wird die Bundesregierung nun mit konkreten Taten anknüpfen und ihr Engagement fortsetzen. Die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP hat uns gemeinsam mit den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen ein Protokoll des Grauens und der Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo vorgelegt. Es ist zugleich auch ein Protokoll des Versagens der internationalen Gemeinschaft und der bisherigen deutschen Außenpolitik. Ein Versagen Ihrer Politik, meine Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, die de facto auch die Fortführung der rot-grünen Politik in diesem rohstoffreichen afrikanischen Land ist. Wer nach den Ursachen der Konflikte im Kongo sucht, wird sie in diesem interfraktionellen Antrag nicht finden. Systematische Einschüchterungen und Morddrohungen durch die kongolesische Polizei und das Militär gehören zur Tagesordnung. Das Europäische Parlament hat am 22. September 2010 in einem gemeinsamen Entschließungsantrag festgestellt, dass es sich hier um einen eindeutigen Trend handelt und dass „viele nichtstaatliche Organisationen im vergangenen Jahr eine zunehmende Unterdrückung von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Oppositionsführern, Opfern und Zeugen in der Demokratischen Republik Kongo einschließlich Tötungen, rechtswidriger Verhaftungen, Verfolgungen, Drohanrufen und wiederholten Vorladens bei den Geheimdienststellen beobachtet haben“. Sowohl dem Rat der Europäischen Union, EU, als auch der Bundesregierung ist bekannt, dass die allermeisten Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo auf die Polizei und das Militär zurückgehen, die seit Jahren von Deutschland und der EU ausgerüstet und ausgebildet werden. Im Rahmen der Mission EUPOL Kinshasa wurden für 10 Millionen Euro sogenannte Integrierte Polizeieinheiten in der Hauptstadt aufgebaut. Diese Einheiten wurden aufgerüstet, um demokratische Versammlungen niederzuschlagen. Gemäß einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion wurden diese Einheiten im Rahmen der EUPOL-Mission mit „Schutzschildern, Helmen, Schlagstöcken und Tränengas sowie Maschinenpistolen der Marke Uzi“ ausgestattet. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sehen anders aus. Die gegebene Reden Sevim Daðdelen Sevim Dağdelen Linke lehnt es ab, solche Regime mit Repressionsapparaten zu unterstützen! Mit dem skandalösen Urteil vom 23. Juni hat die kongolesische Justiz, wegen der Auftragsmorde an den kongolesischen Menschenrechtsaktivisten Floribert Chebeya und Fidèle Bazana, bewiesen, dass die Täter weitgehende Immunität besitzen. Trotz dieser erdrückenden Faktenlage verweigern Sie von der Regierungskoalition zusammen mit SPD und Grünen eine Evaluierung dieser Missionen. Angesichts des Elends Ihrer bisherigen Afrika-Politik werden uns nur alte Antworten auf aktuelle Fragen präsentiert: mehr Aufrüstung und Ausbildung der kongolesischen Polizei. Ihre Verantwortung für zahlreiche Verbrechen und die Unterdrückung demokratischer Bestrebungen ist erwiesen. Als hätten Sie diesem Zustand durch Ihre Auslandsmissionen nicht aktiv geholfen, fordern sie noch die finanzielle und personelle Aufstockung der EUSECund EUPOL-Missionen bzw. der MONUC/MONUSCO und sehnen sich nach noch mehr Waffen und Hubschraubern, die in das Land gebracht werden sollen. Die Linke fordert hier eine radikale Umkehr. Sie müssen aufhören, meine Damen und Herren von der Koalition, der SPD und den Grünen, die Ausrüstungs-, Ausstattungsund Ausbildungshilfe für autoritäre Regime wie im Kongo fortzuführen. In Bezug auf die Aufarbeitung der verübten Verbrechen halten Sie weiter an einem Rechtsverständnis fest, das unter internationaler Strafgerichtsbarkeit nur die exklusive Verfolgung von Feinden des Westens versteht. Sie entdecken nun sogar das deutsche Völkerstrafgesetzbuch, an welches Sie sich, wenn es um die Verfolgung von Verbrechen geht, die durch Ihre kongolesischen Partner, die NATO oder Bundeswehr verübt werden, nur ungern erinnern wollen. Als Autorinnen und Autoren dieses Antrages wissen Sie genau, dass die Präsenz der Vereinten Nationen nicht erst 2006 und die der EU und einzelner europäischer Staaten erst mit ihrem militärischen Eingreifen 2003 begonnen hat. Vielmehr stehen die in dem Antrag detailliert geschilderten Verbrechen in der Kontinuität des Bestrebens, Kongo als ein Gehege zur Handelsjagd zum Zwecke der Sicherung von Bodenschätzen und geostrategischen Interessen unter der Kontrolle des Westens beizubehalten. In Ihrer Darstellung nehmen die Menschen vor Ort nur eine Statistenrolle ein. Die von Ihnen geschilderten Verbrechen spielen für Sie nur insofern eine Rolle, als dass sie Zeugnis über das Versagen Ihrer bisherigen langjährigen Polizeiund Militärausbildungsmissionen ablegen. Offensichtlich kann die Wahrheit angesichts der massiven Verbrechen nicht mehr unterdrückt werden. Diese Sorge scheint das einzige Motiv dieses Antrages zu sein. In Wirklichkeit versank nämlich in jedem Stadium der von außen als Stabilisierungsmissionen verkauften Interventionen das Land in einem blutigen Bürgerkrieg. Diese militärische Präsenz der UN und EU hat zur Befriedung des Landes nicht beigetragen, sondern seine Eskalation und Verlängerung durch die Unterstützung einer biegsamen Kriegspartei vorangetrieben. AufZu Protokoll grund der völligen Verkennung Ihrer Mitverantwortung für die gegenwärtige Lage und ein Festhalten an Maßnahmen, welche die Eskalation des Bürgerkrieges intensivieren, lehnt die Linksfraktion diesen Antrag ab. Die Linke beteiligt sich nicht an der polizeilichen und militärischen Unterstützung von Despoten. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





(A) (C)


(D)(B)

Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712030600







(A) (C)


(D)(B)

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712030700
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712030800




(A) (C)


(D)(B)

Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1712030900
Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1712031000

(A) (C)


(D)(B)

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1712031100




(A) (C)


(D)(B)

Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1712031200

(Drucksache 17/4691) entstanden ist. Deswegen wird





(A) (C)


(D)(B)


(BGR) mit ihren Zertifizierungssystemen für mehrere





(A) (C)


(D)(B)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712031300




(A) (C)


(D)(B)


Vor der letzten Präsidentschaftswahl 2006 war ich in
der Demokratischen Republik Kongo. Ich habe auch den
Osten des Landes besucht und dort vor Ort viel über die
dramatisch schlechte Sicherheitssituation der Bevölke-
rung erfahren. Auf einem Berg in der Nähe der Stadt
Bukavu in Südkivu wies ein Entwicklungshelfer auf ein
offenes Gelände im weiten Urwald unter uns und erläu-
terte: Dort ist das Lager der FDLR-Hutu-Rebellen. Von
dort aus unternehmen diese die Überfälle auf Dörfer, tö-
ten die Männer, vergewaltigen und verschleppen Frauen
und Mädchen und halten sie im Wald in einer Art Sex-
sklaverei. Die UN-Truppe Monuc wisse das, gehe gegen
das Lager aber nicht vor, weil der UN-Kommandant der
Meinung sei, dies sei von ihrem UN-Auftrag nicht ge-
deckt.

Ich wollte das nicht glauben. Später wurde bestätigt,
Ja, es gebe Streit darüber, was das Mandat erlaube und
was nicht. Einige Kommandeure verweigerten mit dieser
Begründung den unangenehmen und gefährlichen Ein-
satz gegen die Hutu-Rebellen. Später bin ich mit einigen
betroffenen Frauen zusammen getroffen, die „ausge-
dient“ hatten oder entkommen waren. Sie erzählten ihre
grauenhaften Erlebnisse. Ich habe auch ein Hilfskran-
kenhaus für Frauen besucht.

Nach dieser Erfahrung hatte ich dem Einsatz deut-
scher Soldaten zur Sicherung der Wahlen damals nicht
zugestimmt, auch weil ihnen nicht erlaubt wurde, in sol-
chen Notsituationen im Ostkongo zu helfen. Sie blieben
in der Nähe der Hauptstadt Kinshasa, weit weg vom
Ostkongo.

Deshalb habe ich mich immer wieder für eine Ver-
stärkung der UN-Schutztruppe eingesetzt und für eine
Klarstellung in ihrem Mandat, welches Nothilfe gegen
die Rebellen leistet, um die Bevölkerung vor Massaker
und Vergewaltigung zu schützen. Später habe ich gehört,
dass ausreichende Klarheit des Mandats immer noch
nicht erreicht sei. Das heißt nicht, dass ich die Leistung
der UN-Schutztruppe insgesamt schlechtmache. Sie leis-
ten viel für die Sicherheit. Sie haben erreicht, dass in
dem weitaus größten Teil des Landes der 30-jährige
Krieg beendet ist. Sie sorgen weitgehend sogar für eine
Verkehrsinfrastruktur und damit für ein wenig Handel
und Wandel in dem riesigen Land. Sie helfen häufig, die
Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Aber mit
Soldaten kann man ein Land wirtschaftlich nicht entwi-
ckeln, selbst wenn es so unendlich fruchtbar sowie reich
an Ressourcen und wertvollen Bodenschätzen ist wie
dieses Land am Kongo.

Und auch diese größte und teuerste Streitmacht der
UNO konnte nicht eine gute Regierungsführung im Staat
durchsetzen. Von demokratischen Verhältnissen, Ach-



gegebene Reden





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

tung der Menschenrechte und der Pressefreiheit ist das
Land weit entfernt. Kritische Journalisten und Men-
schenrechtsaktivisten werden verfolgt und ermordet.
Nach wie vor ist es nicht gelungen, alle Milizen zu ent-
waffnen und verlässliche Sicherheitskräfte zu schaffen,
denen die Bevölkerung vertrauen kann. Korruption
blüht überall, am meisten in der Staatsspitze. Der Präsi-
dent kann sich eine eigene bewaffnete Garde leisten.
Soldaten der offiziellen Armee werden nicht oder
schlecht bezahlt und plündern, um sich und ihre Fami-
lien durchzubringen. Sie beteiligten sich in der Vergan-
genheit auch an schwersten Verbrechen an der Bevölke-
rung und tun dies bis in die Gegenwart. Ausländische
Konzerne und Regierungen von Nachbarstaaten profi-
tieren weit mehr von den Bodenschätzen des Landes als
die einheimische Bevölkerung, weil sie ihre Interessen
mittels Korruption und zuweilen auch mit militärischer
Intervention durchsetzen.

Wir in Europa haben Verantwortung für die Entwick-
lung des Landes, nicht nur weil Staaten Europas sich als
Kolonialmächte und später mittels skrupelloser Interes-
sendurchsetzung mit allen Mitteln bereichert haben und
noch heute bereichern. Europa kann das ferne Land am
Kongo nicht sanieren. Aber deutsche und europäische
Politik kann Einfluss nehmen, um die Regierungsfüh-
rung zu verbessern. Wir können wirklich freie und faire
Wahlen fordern, und zwar auf allen Ebenen für die Prä-
sidentschafts- und Parlamentswahlen ebenso wie für die
lange zugesagten Regionalwahlen. Wir können Zusam-
menarbeit und Hilfen von der Erfüllung dieser Forde-
rungen und dem wirksamen Schutz von Bürgerechten
und unabhängiger Presse abhängig machen. Wir können
die Beziehungen zu bekannten korrupten Politikern ein-
frieren und abbrechen. Wir können Hilfen auf kontrol-
lierte, direkte Bekämpfung der großen Armut konzen-
trieren. Und wir müssen auf unsere europäischen
Partner einwirken, nachkoloniale Interessen zurückzu-
stellen und gemeinsam wirklich für die Interessen der
kongolesischen Bevölkerung zu wirken.

Im Sicherheitsbereich müssen wir für die Fortsetzung
der UN-Mission und für klare Mandate zum Schutz der
Bevölkerung sorgen. Wir können helfen, die Entwaffnung
der Milizen und Rebellentruppen und die Zivilisierung
der kongolesischen Armee voranzubringen. Wir müssen
dafür eintreten, dass die Verantwortlichen für Massaker,
Massenvergewaltigungen, Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit und Kriegsverbrechen bei den Rebellen und aus
der Regierungsarmee gerichtlich zur Verantwortung ge-
zogen werden. Der gegen den ehemaligen Präsident-
schaftskandidaten Bemba angelaufene Prozess und das
Verfahren gegen den Milizenführer in der kongolesi-
schen Armee Ntaganda beim Internationalen Gerichts-
hof sind ein hoffnungsvoller Anfang.

Seit ich erfahren hatte, dass die Anführer der FDLR-
Hutu-Milizen Ignace Murwanashyaka und Straton Mu-
soni unbehelligt in Deutschland lebten, hier als politi-
sche Flüchtlinge anerkannt sind, aber immer wieder in
den Kongo flogen, um die Hutu-Milizen zu neuen Angrif-
fen gegen die Bevölkerung anzutreiben und von hier aus
zu führen, habe ich mich dafür eingesetzt, dieses Treiben
zu beenden. Ich habe mich bemüht, die deutsche Staats-
anwaltschaft zu interessieren und ihr Belastungsmate-
rial zuzuleiten. Die inzwischen erfolgte Verhaftung der
Beschuldigten und der Beginn des Prozesses sind ein
wichtiges Signal in das Land am Kongo, dass Verbre-
chen nicht folgenlos bleiben und die Beschuldigten sich
in fairen Prozessen auch in Europa verantworten müs-
sen.

In der neuesten UN-Resolution zum Kongo wurde das
Mandat der UN-Mission MONUSCO um ein Jahr bis
Mitte 2012 verlängert, und gleichzeitig werden Warnun-
gen über die Sicherheitslage und die Wahlvorbereitung
zum Ausdruck gebracht. Der UN-Sicherheitsrat äußert
sich in seiner Resolution 1991 vom 28. Juni, genau fünf
Monate vor dem Wahltermin, „sehr besorgt über die hu-
manitäre Lage und das weiterhin große Ausmaß von Ge-
walt und Menschenrechtsverletzungen gegenüber der
Zivilbevölkerung“. Gleichzeitig sei „in erster Linie die
Regierung der Demokratischen Republik Kongo für die
Sicherheit verantwortlich“, und die UNO „ermutigt“
die Regierung, sich der „Kohäsion der nationalen Ar-
mee“ zu widmen und sich professionelle und nachhal-
tige Sicherheitskräfte zu geben.

Die Entwicklung am Kongo ist derzeit kaum kalku-
lierbar und deshalb kann heute nicht beurteilt werden,
wie es nach den Wahlen im Dezember weitergeht. Rich-
tig ist jetzt vor allem, den Dialogprozess – wie im Frie-
densprozess vereinbart – weiter voranzubringen. Das
heißt konkret, die Repräsentanten von Regierung, Oppo-
sition und aus der Zivilgesellschaft an einen Tisch zu be-
kommen, damit es faire und gleiche Wahlen geben kann.

Der von uns mitgetragene überfraktionelle Antrag
soll helfen, diese gemeinsam darin formulierten Ziele zu
erreichen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712031400

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diesen

Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Antrag auf Drucksache 17/6448 ist bei Gegenstimmen
der Linken mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD

Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich ver-
antwortliches unternehmerisches Handeln ak-
tiv unterstützen

– Drucksachen 17/6087, 17/6445 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Ullrich Meßmer
Serkan Tören
Annette Groth
Volker Beck (Köln)


(A) (C)



(D)(B)


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1712031500

Anlass der heutigen Debatte ist die Vorlage von Leit-

linien der Vereinten Nationen für menschenrechtlich
verantwortliches unternehmerisches Handeln als einen
„Global Compact“ durch den UN-Sonderbeauftragten
John Ruggie. In diesen Leitlinien, die Ruggie als Be-
standsaufnahme des geltenden Völkerrechts verstanden
wissen will, werden zehn Gebote zu Menschenrechten,
Arbeit, Umwelt und Korruptionsbekämpfung festge-
schrieben. Inzwischen verpflichten sich rund 5 300 Un-
ternehmen aus 130 Ländern zur Umsetzung dieser Prin-
zipien und einer Fortschrittsberichterstattung.

Fast gleichzeitig wurden auch die OECD-Leitsätze
für multinationale Unternehmen überarbeitet und Ende
Mai dieses Jahres vorgestellt. Hier hat es deutliche Ver-
besserungen gegeben, weil jetzt der Finanzsektor einge-
schlossen wurde und auch Geschäfts- und Lieferbezie-
hungen betrachtet werden.

Inhaltlich enthalten die OECD-Leitsätze ein generel-
les Prinzip der Sorgfaltspflicht. Außerdem ist der Aspekt
der Menschenrechte hier mit einem eigenen Artikel auf-
gewertet worden. Darin werden wichtige Kriterien ge-
nannt, mit denen Unternehmen ihrer menschenrecht-
lichen Verantwortung nachkommen können.

Es bewegt sich also etwas auf der internationalen
Ebene im Bereich der menschenrechtlichen Unterneh-
mensverantwortung. Das ist sehr erfreulich, denn wir
sind hier bei aller berechtigten Kritik auf einem richti-
gen und erfolgversprechenden Weg. Deshalb begrüßen
wir als CDU/CSU sowohl die UN-Leitlinien für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmerisches
Handeln als auch die Fortentwicklung der OECD-Leit-
linien für multinationale Unternehmen.

Insofern ist es grundsätzlich durchaus begrüßens-
wert, dass die SPD einen Antrag eingebracht hat, der
die UN-Leitlinien vor allem unterstützen möchte und der
schon aus diesem Grund auch aus meiner Sicht in die
richtige Richtung zielt. Bei näherer Betrachtung des An-
trags kommen mir aber dann doch Zweifel, ob die For-
derungen im Detail realistisch und zielführend sind:

Das gilt zum Beispiel für die geforderte Bindung der
Außenwirtschaftsförderung an die Verpflichtung des je-
weiligen Unternehmens auf die Einhaltung der Men-
schenrechte in allen Tochter- und Subunternehmen so-
wie bei Zulieferern.

Diese Anforderung wird nicht nur durch die Unter-
nehmen schwer zu leisten sein. Sie ist auch kaum recht-
lich verbindlich international durchsetzbar. Noch
schwerer ist die Umsetzung, denn die Kontrolle müsste
als erstes ausschließlich seitens der Regierungen der
Entwicklungsländer erfolgen. Das ist in vielen Ländern
unrealistisch.

Eine direkte Haftung der Mutterunternehmen bei
Menschenrechtsverletzungen der Töchter, die im Antrag
der SPD ebenfalls enthalten ist, kann aus unserer Sicht
erst der zweite Schritt sein. Unser Primat liegt auf der
Schaffung von Bedingungen, die Menschenrechtsver-
stöße direkt vor Ort in den Entwicklungsländern bei den
Zu Protokoll
Tochterunternehmen ahnden. Die geeignete Maßnahme
in den Industrieländern sehe ich eher im Verbraucher-
boykott.

Der geforderte verbesserte Rechtsschutz der Opfer
gerade bei Unternehmen mit Sitz in Deutschland wider-
spricht völkerrechtlichen Grundsätzen. Will die SPD die
Verfahren in Deutschland durchführen? Das wäre nicht
nur rechtlich problematisch, sondern auch logistisch
aufwändig und mit unkalkulierbaren Kosten verbunden.
Es zeugt auch von einer gewissen Arroganz gegenüber
den Entwicklungsländern, wenn wir deren Angelegen-
heiten hier in Deutschland behandeln wollen, anstatt die
Länder beim Aufbau eines funktionierenden Rechtssys-
tems zu unterstützen.

Grundsätzlich geht es der SPD aus unserer Sicht zu
sehr darum, unrealistische globale Forderungen aufzu-
stellen, die weder international durchsetzbar noch rea-
listisch in absehbarer Zeit umzusetzen sind. Es fehlt der
Ansatz vor Ort in den Entwicklungsländern, und der in-
teressante Ansatz von besseren Verbraucherinformatio-
nen wird auch nicht angesprochen.

Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, diesen An-
trag der SPD abzulehnen, auch wenn wir die Erstellung
von UN-Leitlinien für menschenrechtlich verantwort-
liches unternehmerisches Handeln grundsätzlich begrü-
ßen.

Tatsächlich zielt unsere Politik ja in die gleiche Rich-
tung wie die Leitlinien, nämlich die Menschenrechte in
allen Bereichen weltweit zu stärken.

Wie sehr wir dies als ein Grundthema unserer Arbeit
sehen, kann man an der Entwicklung unserer Entwick-
lungspolitik festmachen, die sich ja mit dem Thema der
Menschenrechte in einer neuen Dimension befasst. Das
gerade verabschiedete Menschenrechtskonzept des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung stellt eine ganz neue Qualität für die
Menschenrechte in diesem Bereich dar, auch weil es für
alle Durchführungsorganisationen der Entwicklungszu-
sammenarbeit verbindlich ist. In deren Monitoring und
deren Evaluierung werden jetzt erstmals Menschen-
rechte einbezogen, Beschwerde- und Sanktionsmecha-
nismen werden geschaffen.

Ich begrüße es ganz außerordentlich, dass die Men-
schenrechte jetzt auch in der Entwicklungszusammenar-
beit kraftvoll verankert werden. Ich wundere mich nur
darüber, dass es in mehr als einem Jahrzehnt, in dem die
SPD das Entwicklungsressort innehatte, nicht gelungen
ist, die Menschenrechte in der Entwicklungspolitik zu in-
stitutionalisieren. Umso froher bin ich über die jetzige
Initiative, die die Entwicklungspolitiker der Union mit
Nachdruck unterstützen.

Um kurz bei der Entwicklungszusammenarbeit zu
bleiben: Auch hier gibt es große Herausforderungen, die
mit den Unternehmen zu tun haben, nämlich die Einbin-
dung der Wirtschaft in die deutsche Entwicklungspolitik
zum gegenseitigen Nutzen. Dabei spielt der Aspekt der
Wahrnehmung von menschenrechtlicher Verantwortung
nicht die einzige, sehr wohl aber eine wichtige Rolle.



gegebene Reden

Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

Einerseits kann die Wahrnehmung der menschen-
rechtlichen Verantwortung für Unternehmen einen
Mehrwert haben. Andererseits können Anstrengungen
der Unternehmen in diesem Bereich zu einer nachhalti-
gen Verbesserung der Menschenrechtssituation in Ent-
wicklungsländern beitragen. Allerdings sehe ich hier
auch noch erheblichen Nachholbedarf.

Deshalb sehe ich internationale Politik hier weiterhin
in der Rahmensetzung, aber auch als Impulsgeber sowie
als Multiplikator von Best-practice-Beispielen gefor-
dert. Nachhaltige Fortschritte müssen jedoch auch
durch die Unternehmen und deren Organisationen er-
reicht werden. Hier sehe ich vor allem den Druck der
Verbraucher als ausschlaggebend an.

Denn gerade in diesem Bereich hat es ganz erhebli-
che Fortschritte bei der Sensibilisierung der Verbrau-
cher für sozial und ökologisch nachhaltige Produktion
gegeben, die wiederum zu einer Rückkopplung bei den
Unternehmen geführt haben und sich zum Beispiel in ei-
ner Corporate-Responsibility-Strategie vieler Unterneh-
men äußern.

Entscheidend für das Funktionieren dieses Mechanis-
mus ist, dass der Verbraucher über Missstände, aber
auch über besonders vorbildliche Unternehmen infor-
miert wird. Hier kommt gerade den Medien eine wich-
tige Rolle zu, weil sie die Versprechen der Unternehmen
zunehmend vor Ort in den Produktionsländern abglei-
chen können. Dass solche Informationen Veränderungen
bewirken können, ist gerade nach einigen Berichten
über unzumutbare Arbeitsbedingungen in der Textilpro-
duktion in Bangladesch augenfällig geworden.

Nachhaltige Veränderungen können jedoch meines
Erachtens nur erfolgen, wenn der Verbraucher dauer-
haft informiert wird. Das kann zum Beispiel durch be-
sondere Siegel geschehen, die die Einhaltung bestimm-
ter Produktionsstandards garantieren und auf die sich
der Verbraucher verlassen kann. Beispiele dafür sind
das Biosiegel, das Fair-Trade-Zeichen oder auch MSC
als Ausweis für nachhaltige Fischerei. Leider hat sich
im Bereich der sozialen Mindeststandards der Produk-
tion zum Beispiel im Bereich der Textilien noch kein sol-
ches Siegel etabliert. Deshalb setze ich mich gerade in
diesem problematischen Bereich für ein mindestens EU-
weites Siegel zum Beispiel mit dem Titel „Social made“
ein.

Für ein solches Siegel müssen Mindeststandards bei
Lohnniveau, Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllt
sein. Unternehmen, die in den Produktionsländern diese
höheren Standards erfüllen, können dann mit dem
„Social-made“-Siegel werben und den Verbraucher
informieren, dass er sozial verantwortungsvoll und öko-
logisch nachhaltig handelt. Umgekehrt werden Unter-
nehmen, die das Siegel nicht besitzen, in Erklärungsnot
kommen, insbesondere wenn sie teure Markenkleidung
in Deutschland verkaufen, aber in Bangladesch oder an-
derswo nicht einmal Mindeststandards erfüllen.

Wir schließen damit also eine wichtige Lücke. Des-
halb würde ich mich freuen, wenn möglichst viele Kolle-
ginnen und Kollegen fraktionsübergreifend diese Idee
Zu Protokoll
unterstützen würden. Die UN-Leitlinien für menschen-
rechtlich verantwortliches unternehmerisches Handeln
sind ein guter und wichtiger Ansatz, den wir in unsere
nationale Entwicklungszusammenarbeit integrieren
sollten und den wir auf internationaler Ebene – zum Bei-
spiel in der Form eines Folgemandats – ausbauen soll-
ten.


Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1712031600

2011 stehen Menschenrechte und Unternehmensver-

antwortung im Zentrum der Aufmerksamkeit. 2011 kön-
nen in entscheidender Weise die Weichen für die Stär-
kung der Menschenrechte und den Ausbau der
gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung gestellt
werden. Im Juni wurde die Revision der OECD-Leitsätze
abgeschlossen.

Zur selben Zeit stimmte auch der UN-Menschen-
rechtsrat über die sogenannten „Guiding Principles“
von John Ruggie, dem UN-Sonderberichterstatter für
Wirtschaft und Menschenrechte, ab. Daneben bestehen
bereits die Erklärung der ILO über multinationale Un-
ternehmen und Sozialpolitik sowie der Global Compact
der Vereinten Nationen.

Während verbindliche Normen sich zumeist in ge-
werkschaftlich erstrittenen tariflichen Vereinbarungen
niederschlagen, umfasst der Begriff CSR – Corporate
Social Responsibility – freiwillige Initiativen der Wirt-
schaft zur Einhaltung von Menschen- und Arbeitneh-
merrechten, zur nachhaltigen Entwicklung und zur Be-
achtung von Umweltfaktoren.

Mit seinem Rahmenwerk „Guiding Principles“ will
Ruggie zwischen sämtlichen bestehenden teils freiwilli-
gen, teils verbindlichen Normen vermitteln.

Sein Rahmenwerk beruht auf drei Säulen: erstens
protect, die staatliche Verpflichtung, die Menschen-
rechte gegenüber Verletzungen Dritter zu schützen,
zweitens respect, die Verantwortung von Unternehmen,
die Menschenrechte zu respektieren, drittens remedy,
Zugang der Opfer zu effektiven Beschwerde- und Abhil-
femaßnahmen.

Damit definiert er neben menschenrechtlichen auch
soziale und ökologische Standards für global tätige Un-
ternehmen. Denn ökologische und soziale Belange be-
rühren die menschenrechtliche Dimension unternehme-
rischen Handelns häufig in erheblichem Umfang. Wenn
Ureinwohnern durch Landgrabbing beispielsweise ihre
Lebensgrundlage entzogen wird, verletzt dies Men-
schenrechte sogar in existenziellem Sinne.

Die Guiding Principles stellen dabei kein neues Re-
gelwerk dar, sie bieten aber Orientierung in der Fülle
von rechtlichen Verpflichtungen, freiwilligen Initiativen
und unklaren Verantwortlichkeiten, und sie klären die
verschiedenen Handlungsebenen für die Staaten, die
Unternehmen und die Betroffenen. Sie enthalten politi-
sche, juristische und verfahrenstechnische Empfehlun-
gen an Unternehmen, wie sie den Menschenrechtsschutz
intern in ihren Tochtergesellschaften und ihren Zuliefer-
betrieben verbessern und Menschenrechtsverletzungen
vermeiden können. Auch werden Unternehmen durch sie



gegebene Reden

Ullrich Meßmer


(A) (C)



(D)(B)

aufgefordert, mögliche Menschenrechtsverletzungen zu
erkennen, zu beseitigen und bereits eingetretene Folgen
wiedergutzumachen und weiteren Verletzungen vorzu-
beugen.

Darüber hinaus enthalten die Leitlinien Anregungen
für einen effektiven Rechtsschutz für die möglichen Op-
fer von Menschenrechtsverletzungen und für nichtjuris-
tische Maßnahmen im Sinne der Opfer. Um die Leit-
linien mit der wünschenswerten Durchsetzungskraft und
Dynamik auszustatten, ist ein UN-Folgemandat für
Menschenrechte und Wirtschaft unerlässlich.

Hier fordern wir als SPD die Bundesregierung aus-
drücklich auf, konstruktiv und nachdrücklich an der
weiteren Ausgestaltung des UN-Folgemandats mitzu-
wirken und dafür zu sorgen, dass dieses Folgemandat
angemessen ausgestattet bleibt, damit die Implementie-
rung der Leitlinien überwacht und ihre Verbreitung und
Weiterentwicklung befördert wird. An dieser Stelle ist
die Zivilgesellschaft ausdrücklich einzubeziehen.

Des Weiteren soll sich die Bundesregierung auf EU-
Ebene für eine Berichts- und Offenlegungspflicht für
Unternehmen engagieren, damit unternehmerisches
Handeln transparenter und der Umgang von Unterneh-
men mit menschenrechtlichen Risiken dokumentiert
wird.

Wir fordern die Bundesregierung weiter auf, dass
auch Freihandelsabkommen eine Menschenrechtsklau-
sel enthalten und Überprüfungs- und Sanktionsmecha-
nismen Bestandteil dieser Abkommen werden. In diesem
Zusammenhang machen wir uns für eine menschen-
rechtliche Risikoanalyse für alle Bereiche der Außen-
wirtschaftsförderung stark: Unternehmen sollen sich für
die Einhaltung der Menschenrechte in allen Tochter-
und Subunternehmen sowie den Zulieferbetrieben ein-
setzen. Eine direkte Haftung von Mutterunternehmen für
alle schuldhaften Menschenrechtsverletzungen von
Tochterunternehmen gehört ebenfalls dazu. Diese Maß-
nahmen müssen insgesamt zu einem verbesserten
Rechtsschutz für die Opfer führen. In diesem Zusammen-
hang müssen auch die viel zu kurzen Verjährungsfristen
erneut auf den Prüfstand gebracht werden.

Wir als SPD fordern die Bundesregierung an dieser
Stelle nachdrücklich dazu auf, ihrer menschenrecht-
lichen Verantwortung gerecht zu werden und unsere
Forderungen eingehend zu prüfen. Der Einsatz für die
Menschenrechte weltweit muss erklärtes Ziel deutscher
Politik, auch der deutschen Außenwirtschaftspolitik
sein.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1712031700

In der heutigen abschließenden Beratung der Be-

schlussempfehlung diskutieren wir den vorgelegten An-
trag der SPD-Fraktion. Der Antrag wird von der FDP-
Bundestagsfraktion abgelehnt.

Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sind die For-
derungen des SPD-Antrags zu wenig differenziert. So
sollen Unternehmen nach Auffassung der SPD umfas-
senden Berichts- und Monitoringpflichten im Hinblick
auf ihre menschenrechtliche Verantwortung unterworfen
Zu Protokoll
werden. Diese Pflichten sollen sich auch auf Tochter-,
Subunternehmen und Zuliefererbetriebe erstrecken. Zu-
dem soll auf EU-Ebene auf verbindliche Berichts- und
Offenlegungspflichten gedrängt werden.

Die Einhaltung von Menschenrechts-, Sozial- und
Umweltstandards trägt zum guten Ruf des Unterneh-
mens bei. Auch die deutsche Wirtschaft insgesamt profi-
tiert von dem guten Ruf ihrer Unternehmen. Aus Sicht
der FDP sollte die menschenrechtliche Verantwortung
ein essenzielles Interesse jedes Unternehmens sein, ins-
besondere dann, wenn es international tätig ist.

Zum einen: Unternehmen möchten ungern mit Men-
schenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht wer-
den. Dies schon allein deshalb nicht, um Imageschäden
zu vermeiden. Zum anderen: Die Beachtung von Men-
schenrechten stellt im Rahmen der sozialen Unterneh-
mensverantwortung einen unternehmerischen Vorteil
dar.

Zudem erhöht sich in einem Umfeld, in dem Men-
schenrechte beachtet werden, die Investitionssicherheit
für das Unternehmen. Umfassende Berichts- und Doku-
mentationspflichten stellen hingegen eine zusätzliche
bürokratische Belastung für Unternehmer dar. Dies gilt
auch für deren Tochter-, Subunternehmen und Zuliefe-
rerbetriebe. Diese Pflichten verursachen zusätzliche
Kosten. Deutschland hat sich verschiedenen Initiativen
internationaler Organisationen angeschlossen. Hinter-
grund ist, die Beachtung von Menschenrechten durch
Unternehmen zu verbessern. Zu nennen sind hier bei-
spielsweise der Global Compact der Vereinten Nationen.
Diese Initiative ist im Jahr 2000 als Allianz zwischen
der UN und der Privatwirtschaft ins Leben gerufen wor-
den. Heute ist sie die weltweit umfassendste freiwillige
Initiative zur Förderung unternehmerischer Verantwor-
tung. Des Weiteren sind die OECD-Leitsätze für multi-
nationale Unternehmen zu erwähnen. Diese OECD-
Leitsätze wurden überarbeitet. Der Round Table, bei
dem diese diskutiert wurden, fand am 29. Juni 2011 in
Paris statt. Im Zuge der Erneuerung der Leitsätze wurde
ein eigenes Menschenrechtskapitel eingefügt. Auch die
Zuliefererbeziehungen sind hierbei thematisiert worden.
Zudem ist die Bundesregierung bestrebt, die OECD-
Leitsätze international zu verbreiten. Damit sollen wei-
tere Staaten diese anerkennen.

Seit 2001 besteht ein „Runder Tisch Verhaltenskodi-
zes“. Hier diskutieren Unternehmen, Wirtschaftsver-
bände, Gewerkschaften, NRO und Bundesministerien
gemeinsam über Verhaltenskodizes und Sozialstandards.

Allein diese drei Beispiele zeigen: Deutschland ist be-
reits sehr aktiv im Hinblick auf die Förderung der men-
schenrechtlichen Unternehmensverantwortung.

Zu dem Forderungskatalog des SPD-Antrags ist fol-
gendes festzustellen:

Zur Forderung 1 des Antrags ist zu erwähnen: Die
„Guiding Principles“ sind am 16. Juni 2011 vom Men-
schenrechtsrat in Genf im Konsens angenommen wor-
den. Somit nur wenige Tage, nachdem die SPD ihren An-
trag vorgelegt hat. Deutschland begrüßt die „Guiding
Principles“ und war Cosponsor der begleitenden Reso-



gegebene Reden

Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

lution. Wenngleich sich der praktische Nutzen dieser Re-
solution in Zukunft erst noch erweisen muss, ist die zen-
trale Forderung des Antrags damit hinfällig.

Zur Forderung 2 ist zu sagen: Der UN-Menschen-
rechtsrat hat am 16. Juni 2011 über ein Nachfolgeman-
dat für den UN-Sonderbeauftragten John Ruggie ent-
schieden. Dieser darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr
kandidieren. Eine Arbeitsgruppe aus fünf Experten wird
sich künftig dem Thema widmen. Die Experten werden
aber erst im Herbst 2011 benannt. Forderung 2 ist dem-
nach obsolet.

Zur Forderung 4 ist zu konstatieren: Die Folgekosten
dieser Forderung sind nicht quantifizierbar. Daher kann
diese aufgrund ihrer Pauschalität nur abgelehnt wer-
den.

Zu der Forderung 5 ist festzustellen: Seit den frühen
1990er-Jahren bezieht die Europäische Gemeinschaft in
alle Rahmenabkommen, die mit Drittstaaten geschlos-
sen werden, eine sogenannte Menschenrechtsklausel
ein.

Dies gilt für Handels- und Kooperationsabkommen
oder Assoziationsabkommen wie die Europa-Abkommen
über die Mittelmeer-Abkommen bis hin zum Abkommen
von Cotonou.

Ausnahmen bilden Abkommen über Landwirtschaft,
Textilien und Fischerei. Über 50 solcher Abkommen sind
bereits unterzeichnet worden, und die Menschenrechts-
klausel gilt derzeit für über 120 Länder. Die ohnehin be-
reits obligatorische Menschenrechtsklausel ist ein Weg,
wie Menschenrechtsprobleme im Verhältnis von EU und
Vertragsstaat adressiert werden können. Sie entbindet
die EU-Staaten nicht, darüber hinaus auch in den bilate-
ralen Beziehungen jeweils Verbesserungen anzumah-
nen.

Die FDP vertritt die Auffassung: Handelsabkommen
sollten in erster Linie darauf abzielen, Wirtschaftsbezie-
hungen zu stärken und somit Armut zu bekämpfen. Das
entscheidende Stichwort ist hier „Wandel durch Han-
del“.

Eine „Überfrachtung“ von solchen Handelsabkom-
men mit einem Forderungskatalog, was die Menschen-
rechte betrifft, würde dem grundsätzlichen Charakter
solcher Abkommen zuwiderlaufen. Damit würde ein Zu-
standekommen unnötig erschwert. Die positiven Effekte
der Wirtschaft auf die Wohlfahrt in den Ländern und da-
mit die Verbesserung der konkreten Lebenssituation vie-
ler Menschen würde verhindert werden. Insbesondere
bei Ländern mit kritischer Menschenrechtslage ist die
Menschenrechtssituation in den Beziehungen zu thema-
tisieren. Ein Freihandelsabkommen bietet einen weite-
ren Gesprächskanal, auf dem gegenüber Regierungen
auch Menschenrechtsanliegen kommuniziert werden
können.

Aufgrund des bereits erfolgenden Engagements
Deutschlands für die Beachtung von Menschenrechten
durch Unternehmen und die zum Teil hinfälligen, zum
Teil problematischen Forderungen im Antrag der SPD
Zu Protokoll
kann dieser von der FDP-Bundestagsfraktion nur abge-
lehnt werden.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712031800

Die Außenhandels- und Wirtschaftspolitik der Bun-

desrepublik zeigt deutlich, dass unverantwortliches un-
ternehmerisches Handeln durch staatliche Politik unter-
stützt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Hermes-
bürgschaft in Höhe von 1,3 Milliarden Euro für den
Atomreaktor Angra 3 in Brasilien. Es ist unverantwort-
lich, dass mit deutscher Hilfe ein fast 25 Jahre alter
Schrottreaktor in Brasilien fertiggebaut wird. Angra 3
ist vergleichbar mit dem Atomkraftwerk Grafenrhein-
feld, das in Deutschland 2015 stillgelegt werden muss.
In Brasilien soll es jedoch mit staatlicher Unterstützung
der Bundesregierung noch Jahrzehnte betrieben wer-
den.

Auch das zweite Großprojekt in Brasilien, der Bau
des Stahlwerks von ThyssenKrupp und dem Brasiliani-
schen Konzern Vale in Sepetiba im Bundesstaat Rio de
Janeiro hat massiv die Menschenrechte verletzt. Über
8 000 Fischerfamilien mit mehr als 40 000 Betroffenen
müssen um ihre Existenz fürchten. Die Fangmengen der
Fischer sind durch den Bau des Stahlwerks um bis zu
80 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig werden die
wertvollen Mangrovenwälder nachhaltig geschädigt.
Um den Protest der Fischerinnen und Fischer zu verhin-
dern, werden Kritikerinnen und Kritiker des Stahlwerk-
baus von Milizen bedroht.

Die Bundesregierung hat den Bau des Stahlwerkes
als Entwicklungsperspektive bezeichnet. Dies ist zy-
nisch. Alle Forderungen der Bundesregierung, die UN-
Leitlinien für menschenrechtlich verantwortliches Han-
deln zu unterstützen, sind unglaubwürdig, wenn sie aus
rein exportegoistischen Gründen eine unverantwort-
liche Politik unterstützt. Menschenrechtlich verantwort-
liches Handeln bedeutet, dass die Industriestaaten keine
Investitionen zulassen oder fördern dürfen, die das
Recht auf Arbeit und Nahrung von anderen Menschen
zerstört. Von den Unternehmensmanagern von Thyssen-
Krupp erwarten wir, dass sie an die Fischerfamilien Ent-
schädigungen zahlen und das Stahlwerk so umbauen,
dass die Existenz der Fischer gesichert werden kann und
die Bucht von Sepetiba nicht mehr verschmutzt wird.

Auch in der neuen Rohstoffstrategie der Bundesregie-
rung kommen Menschenrechte de facto nicht vor. Zwar
wird im Einleitungsteil darauf hingewiesen, dass die
Bundesregierung die „nachhaltige Rohstoffwirtschaft
unter Wahrung der Menschenrechte und Einhaltung in-
ternational anerkannter sozialer und ökologischer Min-
deststandards stärken“ will. Die Rohstoffstrategie ist je-
doch einseitig auf „bilaterale Rohstoffpartnerschaften“,
„europäische Rohstoffpolitik“ und auf die „Bekämpfung
von Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrun-
gen“ ausgerichtet. Damit will die Bundesregierung Län-
der in Afrika und Südamerika zwingen, ihre Exportsteu-
ern auf unverarbeitete Rohstoffe massiv abzubauen oder
abzuschaffen. Sie verhindert damit bewusst die Entwick-
lung von Wertschöpfungsketten in diesen Ländern. Auch



gegebene Reden

Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)

die Staatshaushalte vieler rohstoffexportierender Län-
der werden dadurch massiv gefährdet.

Die gesamte Rohstoffstrategie ist einseitig von den
Interessen der deutschen Industrie bestimmt. Viele For-
derungen wurden im Vorfeld der Erarbeitung der Strate-
gie vom BDI erhoben und finden sich fast wortgleich in
der Rohstoffstrategie der Bundesregierung wieder.
Durch diese Ausrichtung der Rohstoffpolitik Deutsch-
lands auf die Liberalisierung von Handels- und Wirt-
schaftsbeziehungen werden die Menschenrechte in vie-
len Regionen der Welt den ökonomischen Forderungen
der Industriestaaten untergeordnet.

Ein typisches Beispiel für die bewusste Ausblendung
der Folgen deutscher Rohstoffpolitik ist der Abbau von
Uran in Niger. Wenn die Bundesregierung in einer Ant-
wort auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Herkunft des in deutschen Atomkraftwerken ein-
gesetzten Urans mitteilt, dass „unter ‚Herkunft‘ des
Materials das Land verstanden wird, in welchem der
letzte Konversionsschritt bei der Verarbeitung zum Bei-
spiel des Urans durchgeführt worden war“, zeugt das
von einer bewussten Ignoranz der Bundesregierung. All-
gemein bekannt ist, dass Frankreich mehr als 40 Prozent
seiner Uranimporte aus Niger bezieht. Wenn die Bun-
desregierung aber mitteilt, Deutschland beziehe sein
Uran zu großen Teilen aus europäischen Ländern, ist
das die bewusste Unwahrheit, um von den katastropha-
len Abbaubedingungen in den Uranminen Nigers abzu-
lenken. Der französische Konzern Areva betreibt Uran-
minen in Niger. Seit 1968 haben sie mehr als 100 000
Tonnen des Atombrennstoffs in den Minen gefördert. Die
Folgen des Uranabbaus in Niger sind Millionen Tonnen
radioaktiver Abfälle, schwere Krankheiten, verstrahltes
Wasser und ganze Regionen, die radioaktiv verstrahlt
sind.

Der Abbau von metallischen und nichtmetallischen
Rohstoffen sowie die Förderung von Erdöl und Erdgas
sind in vielen Entwicklungsländern einer der wichtigs-
ten Wirtschaftsfaktoren. Häufig führt dieser Rohstoff-
reichtum dazu, dass für die Interessen der Rohstoffkon-
zerne die Armutsbekämpfung auf der Strecke bleibt, das
Recht auf Nahrung, Gesundheit und menschenwürdiges
Wohnen mit Füßen getreten wird. In den Förderländern
leben mehr als die Hälfte der Menschen in äußerster Ar-
mut. Gerade in Ländern mit hohem Rohstoffreichtum
nehmen Armut, Staatszerfall, Gewalt und Korruption
durch die einseitige Umsetzung der Interessen der Roh-
stoffkonzerne massiv zu. Die Landrechte indigener Völ-
ker und lokaler Gemeinschaften werden häufig verletzt.
Umweltzerstörungen führen zu einer Verletzung des
Rechts auf Gesundheit.

Eine Studie des „Open Society Institute of Southern
Africa“ kommt zu dem Ergebnis, dass die Abbauländer
kaum von dem Preisboom der Rohstoffe zwischen 2003
und 2008 profitiert haben, „weil den Bergbauunterneh-
men zu viele Steuererleichterungen gewährt werden und
viele Unternehmen die Zahlung von Steuern durch ge-
heime Verträge und konzerninterne Gewinnverlagerung
umgehen.“ Hierbei nennt die Studie Beispiele aus
Zu Protokoll
Ghana, Tansania, Sierra Leone, Sambia, Malawi, Repu-
blik Südafrika und Demokratische Republik Kongo.

Deshalb weist das Global Policy Forum völlig zu
Recht darauf hin, dass nur „eine faire und ökologisch
tragfähige Rohstoffstrategie die Senkung des Ressour-
cenverbrauchs, Achtung und Schutz der Menschen-
rechte, die Einhaltung der internationalen Umwelt- und
Sozialstandards, die zivile Konfliktprävention sowie die
Eindämmung der Rohstoffspekulation“ Entwicklung in
den rohstoffreichen Ländern ermöglichen und Men-
schenrechtsverletzungen durch die Unternehmen ein-
dämmen kann.

Der bisherige Entwurf der OECD-Leitlinien bezieht
an keiner Stelle die Verantwortung von Geschäftsfüh-
rern, weder im Völkerrecht noch im nationalen Recht
und weder unter straf- noch unter zivilrechtlichen Ge-
sichtspunkten, ein. Das „European Center for Constitu-
tional and Human Rights“, ECCHR, kritisiert, dass mit
der Ausrichtung des Entwurfs der weiteren Untätigkeit
der Staaten des globalen Nordens Vorschub geleistet
wird.

Dies will die Fraktion Die Linke verändern, damit
transnationale Unternehmen und deren Verantwortliche
in Zukunft für ihr Handeln direkt zur Rechenschaft gezo-
gen werden können.

Der Antrag der SPD geht bei einigen Forderungen in
die richtige Richtung und fordert teilweise verbind-
lichere UN-Leitlinien ein. Dennoch fehlen in dem An-
trag weiter gehende Forderungen wie die nach einem
verpflichtenden Zugang der Opfer zu Beschwerde- und
Klagemöglichkeiten und die Möglichkeiten der Betroffe-
nen, Schadenersatzzahlungen von den transnationalen
Unternehmen zu erhalten. Aus diesem Grund wird sich
die Fraktion Die Linke bei diesem Antrag enthalten.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712031900

Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen

stellen das internationale Menschenrechtssystem vor
enorme Herausforderungen. Weder die klassischen,
staatszentrierten Menschenrechtskonzeptionen noch die
aktuelle Rechtslage auf internationaler und nationaler
Ebene werden den menschenrechtlichen Gefahren, die
von Unternehmen ausgehen, gerecht. Professor John
Ruggie, der bis Ende Juni 2011 UN-Sonderbeauftragter
zur menschenrechtlichen Verantwortung internationaler
Konzerne war, hat die Debatte über Menschenrechtsver-
letzungen durch Unternehmen in den letzten sechs Jah-
ren beharrlich vorangebracht und bestehende Rege-
lungslücken aufgezeigt. Dafür gebührt ihm Respekt.

Ruggie hat UN-Leitlinien für menschenrechtlich ver-
antwortliches unternehmerisches Handeln erarbeitet,
die am 16. Juni 2011 vom UN-Menschenrechtsrat be-
schlossen wurden. Sie fassen bestehende Rechtspflichten
von Staaten und Verantwortlichkeiten von Unternehmen
zusammen und geben Empfehlungen ab. Im Dschungel
rechtlicher Verpflichtungen, freiwilliger Initiativen und
unklarer Verantwortlichkeiten bieten sie Orientierung
für Staaten, Unternehmen und Nichtregierungsorgani-
sationen, die sich für einen besseren Menschenrechts-



gegebene Reden





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)

schutz engagieren. Eine konsequente Umsetzung des ge-
forderten Prinzips der menschenrechtlichen Sorgfalts-
plicht, Due Diligence, würde einen großen Schritt nach
vorn bedeuten. Demnach müssen Unternehmen Vorkeh-
rungen treffen, um nachteilige Auswirkungen auf Men-
schenrechte zu vermeiden oder, sollten bereits Schäden
entstanden sein, zu entschädigen. Dabei beziehen sich
die Maßnahmen auch auf die Zulieferer und andere
staatliche und nicht staatliche Geschäftspartner.

Die Leitlinien sind ein Schritt in die richtige Rich-
tung. Er reicht aber nicht aus. So weisen die Leitlinien
eine Reihe von Schwächen auf, die Nichtregierungsor-
ganisationen wie Amnesty International, Human Rights
Watch und FIAN zu Recht kritisieren:

Erstens. Die Leitlinien beruhen auf dem Prinzip der
Freiwilligkeit und sind rechtlich nicht verbindlich. Die
Deutungshoheit über das, was ein angemessenes sozia-
les Verhalten ist, wird also den Unternehmen überlas-
sen.

Zweitens. Den Leitlinien mangelt es an Verzahnung
der drei Säulen der Menschenrechtsumsetzung Protect

(Schutzpflicht des Staates vor Menschenrechtsverletzungen Dritter)

Menschenrechte zu respektieren) und Remedy (Zugang
zu Rechtsmitteln für Opfer von Menschenrechtsverlet-
zungen). Noch werden also staatliche Schutzpflichten
nicht ausreichend mit unternehmerischen Sorgfalts-
pflichten verknüpft. Eine Pflicht von Staaten, Verletzun-
gen der Sorgfaltspflicht durch Unternehmen konsequent
zu ahnden, ist nicht vorgesehen.

Drittens. Die Leitlinien greifen extraterritoriale Staa-
tenpflichten kaum auf. Das wird den ökonomischen und
politischen Realitäten in Zeiten der Globalisierung und
der massiven staatlichen Außenwirtschaftsförderung
nicht gerecht. Hier sind Menschenrechte noch nicht aus-
reichend verankert. Eine menschenrechtliche Risikoana-
lyse fehlt ganz.

Um die Arbeit von John Ruggie weiterzuführen, sollte
ein wirksames Verfahren (Special Procedure) im UN-
Menschenrechtsrat beschlossen werden, wie es ver-
schiedene Nichtregierungsorganisationen fordern. Ein
solches Verfahren sollte vor allem vier Aufgaben erfül-
len:

Erstens. Die bestehenden Rechtsschutzlücken analy-
sieren und international verbindliche Regelungsinstru-
mente entwickeln.

Zweitens. Die Umsetzung des „Protect, Respect and
Remedy“-Ansatzes durch Staaten und Unternehmen im
Hinblick auf die UN-Leitlinien und die entsprechenden
internationalen Menschenrechtspflichten beobachten,
zum Beispiel durch Länderbesuche, das Sammeln von
„Best Practices“ und durch Empfehlungen an Staaten
und Unternehmen.

Drittens. Regierungen, die Zivilgesellschaft und Op-
fer von durch Unternehmen verursachte Menschen-
rechtsverletzungen in Zusammenarbeit mit dem UN-
Hochkomissariat für Menschenrechte unterstützen.
Eine Studie der George-Washington-Universität
schätzt, dass nur 400 von den circa 80 000 multinationa-
len Unternehmen weltweit Menschenrechtsprinzipien in-
tegriert haben. Noch weniger prüfen Auswirkungen ih-
res Unternehmertums auf Menschenrechte. Wir müssen
beharrlich daran arbeiten, dass die Leitlinien für
menschenrechtlich verantwortliches unternehmeri-
sches Handeln Eingang in rechtliche Vorgaben finden.
Nur so können Menschen vor Verletzungen ihrer Rechte
durch Unternehmen geschützt werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712032000

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6445, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6087
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen und
Enthaltung der Linken angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmen-
richtlinie und zur Änderung des Bundeswas-
serstraßengesetzes

– Drucksachen 17/6055, 17/6209 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/6508 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe
Angelika Brunkhorst
Sabine Stüber
Dorothea Steiner

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Unsere Meere brauchen Schutz

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie
Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Schutz der Meere vor Vermüllung und ande-
ren Verschmutzungen

– Drucksachen 17/1960, 17/1763, 17/4566 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Angelika Brunkhorst
Sabine Stüber
Dr. Valerie Wilms


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1712032100

Die Meere sind kostbar. Ihr Schutz ist uns ein wichti-

ges Anliegen. Meeresschutz stellt einen Eigenwert an
sich dar. Der effektive Schutz der Ozeane und Meere ist
aber auch wichtig für uns und unser tägliches Leben.
Der immense Einfluss, den menschliche Aktivitäten auf
die Meere ausüben, steht diesem Schutzanliegen oftmals
entgegen. Um die Potenziale der Meere – wie Fischerei,
Energiegewinnung, marine Wirkstoffe – weiter nutzen zu
können, müssen wir die Meere auch in unserem eigenen
Interesse noch besser schützen.

Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass das
Thema auf den verschiedenen politischen Ebenen zuneh-
mend mehr Aufmerksamkeit erfährt und dass bereits viel
Gutes erreicht wurde. Beispielsweise ist Deutschland im
Bereich der Meeresschutzgebiete Vorreiter. Im Jahr
2010 erfüllt die Ostseeregion als erste Meeresregion
weltweit die Zielvorgabe der UN-Konvention zur biolo-
gischen Vielfalt. Sie ist weltweit die erste Meeresregion,
die es geschafft hat, mindestens 10 Prozent der Meeres-
fläche als Meeresschutzgebiete vorweisen zu können. In-
nerhalb des deutschen Ostseegebietes sind sogar mehr
als 35 Prozent als Meeresschutzgebiete ausgewiesen.
Mit Blick auf die beiden Anträge der Opposition meine
ich deshalb: Wir sollten es vermeiden, den Eindruck zu
erwecken, dass alles schlecht sei und bislang nichts sub-
stanziell Gutes erreicht worden sei. Ich warne davor, ein
falsches Bild zu zeichnen. Von deutscher Passivität beim
Meeresschutz kann jedenfalls keine Rede sein.

Richtig ist jedoch: Wir geben uns mit dem bisher Er-
zielten nicht zufrieden. Noch lange nicht sind alle Pro-
bleme zufriedenstellend gelöst. Gerade weil immer noch
Handlungsbedarf besteht, ist die Vorlage des Gesetzes
zur Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtline,
MSRL, von besonderer Bedeutung. Dies zeigt, dass die
christlich-liberale Bundesregierung dem Thema Meeres-
umweltschutz einen hohen Stellenwert beimisst und ge-
meinsam mit den Bundesländern intensiv an der Redu-
zierung der Belastung der Meere arbeitet.

Die MSRL wurde am 17. Juni 2008 auf EU-Ebene
verabschiedet. Der integrative Politikansatz, der der
Richtlinie zugrunde liegt, dient dem Schutz des marinen
Ökosystems als Ganzes. Dies schließt die biologische
Vielfalt und die Meeresschutzgebiete als Unterpunkte
ein. Das konkrete Ziel der Richtlinie besteht darin, bis
2020 einen guten Umweltzustand der europäischen
Meere zu erreichen.

Zur Erreichung dieses Ziels wurde erstmals ein ein-
heitlicher Rechtsrahmen geschaffen, innerhalb dessen
die EU-Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen. Erstmals
gibt es verbindliche Ziele. Erstmals wird die Durchfüh-
rung systematischer und aufeinander aufbauender Ver-
fahrensschritte zum Schutz der Meere gesetzlich nor-
miert. Hieraus folgen erhöhte Anforderungen an die
Überwachung der Meere und die Koordinierung ent-
Zu Protokoll
sprechender Maßnahmen, auch in Abstimmung mit den
Anrainerstaaten.

Wie sieht der Weg zur Erreichung des guten Umwelt-
zustands genau aus? Das wesentliche Instrument auf
dem Weg ist die Erstellung von Meeresstrategien, die je-
der EU-Mitgliedstaat entwickeln muss. Die sechs
Schritte zur Entwicklung der Meeresstrategie bestehen
in der Anfangsbewertung zur Erfassung des aktuellen
Umweltzustands, der Beschreibung eines guten Umwelt-
zustands, der Festlegung von Umweltzielen und dazuge-
hörigen Indikatoren, der Erstellung und Durchführung
eines Überwachungsprogramms für die laufende Bewer-
tung, der Erstellung eines Maßnahmenprogramms zur
Erreichung des guten Umweltzustands und der prakti-
schen Umsetzung des Maßnahmenprogramms.

Bei der Ausführung dieser Schritte stehen Bund und
Bundesländer gemeinsam in der Verantwortung. Nur in
Zusammenarbeit können die oben genannten Ziele er-
reicht werden. Aufgrund der unterschiedlichen Zustän-
digkeiten – der Bund für die AWZ und die Bundesländer
für die Küstengewässer – gibt es beim Meeresschutz ei-
nen regelrechten Zwang zur Kooperation. Der Schutz
der Meere ist nicht teilbar. Weil das so ist, hat sich die
Umsetzung der europäischen Richtlinie in deutsches
Recht verzögert. Ein Beispiel für die zunehmende
Schwerfälligkeit unseres föderalistischen Systems. Den
Änderungswünschen des Bundesrates hat die Bundesre-
gierung jedoch weitgehend zugestimmt. Wir haben dies
in unseren Änderungsanträgen der Koalition aufgenom-
men.

Wenn wir heute den Gesetzentwurf mit einem Jahr
Verzögerung gegenüber den Fristsetzungen der EU-
Richtlinie beschließen, so heißt das nicht, dass wir auch
in der konkreten Arbeit, zum Beispiel der Anfangsbewer-
tung, im Verzug sind. Es ist gut, dass daran bereits gear-
beitet wird. Ich gehe davon aus und erwarte auch, dass
für alle weiteren Verfahrensschritte zur Umsetzung der
EU-MSRL die darin vorgegebenen Fristen eingehalten
werden.

Die Meere und ihre Bewohner verzeihen uns keine
Verzögerungen! Es ist gut, dass das Gesetz heute be-
schlossen wird. Jetzt können wir beim Meeresschutz wei-
ter voranschreiten. Die MSRL und ihre nationale Umset-
zung sind ein Meilenstein für den Meeresschutz. Wir
müssen das uns Mögliche tun, um marine Lebensräume
zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Aus diesem Grund
bitte ich um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetz-
entwurf.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1712032200

Die Lage der Meere ist dramatisch. Überfischung,

Klimawandel, Vermüllung, Verschmutzungen durch die
Ölförderung. Das sind nur ein paar Bespiele der Bedro-
hungen, denen unsere Meere ausgesetzt sind. Forscher
warnen in einem neuen Bericht sogar vor einem Mas-
sensterben in den Ozeanen – so schlimm, wie es sich zu-
letzt vor rund 55 Millionen Jahren ereignete, als ein be-
deutender Teil der im Meer lebenden Arten verschwand.
Wissenschaftler warnen auch vor kumulativen Effekten
der schädlichen Einflüsse. Ein schädlicher Einfluss ist



gegebene Reden

Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

zum Beispiel die Versauerung der Ozeane. Durch
menschlichen Einfluss erwärmen sich die Ozeane – und
sie versauern, weil sie Kohlendioxid aus der Luft auf-
nehmen. Als Folge schwindet jetzt der Sauerstoffgehalt
in manchen Meeresregionen. Die Pufferkapazität des
Meeres sinkt. Das führt dazu, dass die Ozeane noch
schneller versauern und dass sie weniger CO2 aus der
Atmosphäre aufnehmen können, was wiederum den Kli-
mawandel beschleunigt. Eine andere schädliche Verän-
derung sind das Verschwinden von Fischarten und das
Auftreten gefährlicher Algenblüten. Die Bestände eini-
ger kommerziell wichtiger Fischarten sind um mehr als
90 Prozent reduziert worden. Der kumulative Effekt der
schädlichen Einflüsse sei – so eine Gruppe von Wissen-
schaftlern in einem Bericht über einen Kongress in der
Universität von Oxford im April – größer als bisher an-
genommen – und größer als die Summe der einzelnen
Effekte. So würden etwa gleichzeitige Überfischung,
Überdüngung, klimatische Veränderung und das Einfüh-
ren nicht heimischer Arten dazu führen, dass sich diese
fremden Arten ausbreiten, was sich etwa durch Algen-
blüten bemerkbar mache. Steigende Temperaturen und
Versauerung zerstören gemeinsam tropische Korallen-
riffe.

Der Meeresschutz muss ganz oben auf der politischen
Agenda stehen. Die Meeresstrategierahmenrichtlinie ist
dabei ein wichtiger Schritt hin zu einem besseren Schutz
der Meere. Diese Richtlinie der EU wurde 2008 verab-
schiedet und sollte eigentlich seit letztem Jahr in deut-
sches Recht umgesetzt werden. Mit fast einem Jahr Ver-
spätung liegt der Gesetzentwurf nun dem Deutschen
Bundestag vor. Deutschland hat es versäumt, rechtzeitig
die Meeresschutzrahmenrichtlinie umzusetzen. Dafür
wurde Deutschland im Juni von der EU-Kommission in
einer Stellungnahme gerügt. Die Umsetzungsfrist für
beide Rechtsakte ist bereits im Juli 2010 abgelaufen.
Aber wenigstens ist die jetzige Fassung des Gesetzes
deutlich besser als die Version, die die Bundesregierung
letztes Jahr vorgelegt hat. Der Entwurf vom letzten Jahr
wäre der Richtlinie nicht gerecht geworden. Die aktuelle
Fassung vom 15. April 2011 wird den Vorgaben der
Meeresstrategierahmenrichtlinie in weiten Teilen ge-
recht. Doch noch immer finden sich einige gravierende
Schwachstellen, die unserer Meinung nach dringend
verbessert und angepasst werden müssen:

Die Meeresstrategierahmenrichtlinie schafft einen
Ordnungsrahmen für Maßnahmen der Europäischen
Gemeinschaft zum Schutz der Meeresumwelt. Als Um-
weltsäule der europäischen Meerespolitik hat sie das
Ziel, die europäischen Meere bis zum Jahr 2020 in einen
guten Umweltzustand zu versetzen bzw. diesen zu erhal-
ten. Dabei will diese Richtlinie zur Kohärenz der ver-
schiedenen politischen Maßnahmen beitragen, die sich
auf die Meeresumwelt auswirken. Damit die Ziele der
Meeresstrategie erreicht werden können, ist ein transpa-
renter und einheitlicher Rechtsrahmen erforderlich. Die
Richtlinie schreibt einen „guten Umweltzustand“ für die
europäischen Meere ab 2020 vor. Die Richtlinie schreibt
den EU-Mitgliedstaaten vor, bis 2020 Maßnahmen um-
zusetzen, die geeignet sind, diesen guten Umweltzustand
zu erreichen. Die Richtlinie enthält dazu elf sogenannte
Zu Protokoll
Deskriptoren des guten Umweltzustands, unter anderem
die biologische Vielfaltssicherung oder die Verringe-
rung von Schadstoffeinträgen in die Meere. Diese Dis-
kriptoren sind in die nationale Gesetzgebung überzufüh-
ren.

Trotz verschiedener inhaltlicher Schwächen und
Schlupflöcher im Gesetzestext kann die Meeresstrategie-
rahmenrichtlinie bei ambitionierter nationaler Anwen-
dung ein wertvolles Werkzeug für den europäischen
Meeresnaturschutz darstellen. Der erste wichtige Schritt
besteht dabei in der Umsetzung in nationales Recht. Zur
Umsetzung der Meeresstrategie sind Änderungen des
Wasserhaushaltsgesetzes und wenige Folgeänderungen
des Bundesnaturschutzgesetzes und des Gesetzes über
die Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich. Im Än-
derungsantrag der Koalition ist auch eine Änderung des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes vorgesehen.
Enthalten sind auch Folgeänderungen des Bundeswas-
serstraßengesetzes. Denn die in dem Wasserhaushalts-
gesetz neu übertragenen Aufgaben an die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes, WSV, verlangen eine
verfahrensrechtliche Festschreibung im Bundeswasser-
straßengesetz. Insbesondere werden dazu neue Vor-
schriften zu Zubehör, Unterhaltung und Aus- und Neu-
bau von Bundeswasserstraßen angepasst.

Zwar ist der jetzige Gesetzentwurf besser als der
erste Entwurf. Zu kritisieren ist aber, dass wichtige
Punkte nicht aufgegriffen wurden. So ist zum Beispiel
der Schutz der biologischen Vielfalt nur unzureichend
als eines der Teilziele definiert. In der Begründung wird
dieses Ziel zwar aufgeführt, es sollte jedoch innerhalb
der Problemstellung und Zielsetzung genannt werden,
um die Kohärenz mit dem Übereinkommen über die bio-
logische Vielfalt zu unterstreichen. Der wichtigen Be-
deutung der Meeresschutzgebiete wird der Gesetzent-
wurf nicht gerecht. In der Begründung zur Struktur des
Gesetzentwurfs fehlt die Nennung der Meeresschutzge-
biete. Ebenso fehlt auch an dieser Stelle die Hervorhe-
bung des Schutzes der biologischen Vielfalt und des
Ökosystemansatzes. In § 45 a wird von Bewirtschaf-
tungszielen als Hauptaufhänger der Meeresstrategie-
rahmenrichtlinie gesprochen. Ziel sollte jedoch der all-
gemeine Meeresschutz mitsamt dem Schutz der Biodi-
versität sein. Dies sollte an verschiedenen Stellen des
Gesetzes stärker zum Ausdruck kommen. Auch der Än-
derungsantrag der Koalition ist kritisch zu bewerten. Er
greift Zuständigkeits- und Kompetenzfragen zwischen
Bund und Ländern auf, ändert das Gesetz jedoch auch
inhaltlich. Der Änderungsantrag orientiert sich an der
Stellungnahme des Bundesrates. Der Antrag möchte,
dass die Länder ermächtigt werden, Rechtsverordnun-
gen zu erlassen, wenn der Bund nicht tätig wird. Er
greift die Zuständigkeit der Länder nach dem Bundesna-
turschutzgesetz auf und unterstützt die Forderung der
Länder, dass die Zuständigkeit der Bundeswasserstra-
ßenverwaltung nicht erweitert wird. Der Antrag greift
auch den Vorschlag des Bundesrates auf, eine Änderung
des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes vorzuneh-
men. Der Verweis auf das Düngegesetz in der Ermächti-
gungsgrundlage des Kreislaufwirtschafts- und Abfallge-



gegebene Reden

Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

setzes vollzieht in der Verweisung die Ablösung des
Düngemittelgesetzes durch das Düngegesetz nach.

Abzulehnen ist jedoch die inhaltliche Änderung in
§ 45 Abs. 2 des Wasserhaushaltsgesetzes. Das ist eine
Änderung der Zielsetzung des Gesetzes. Nun sollen vom
Menschen in die Meere eingetragene Stoffe nicht mehr
mit dem Ziel vermindert werden, dass nachteilige Aus-
wirkungen auf die Meeresökosysteme auszuschließen
sind. Es soll nur noch das Ziel gelten, dass diese Schad-
stoffeinträge so weit gemindert werden, dass keine signi-
fikanten nachteiligen Auswirkungen bestehen. Das ist
eine Verschlechterung des Umweltschutzes im Vergleich
zum vorliegenden Entwurf des Gesetzes. Zwar steht in
der Richtlinie, dass es zu „keinen signifikanten Auswir-
kungen auf die Artenvielfalt des Meeres“ kommen soll.
Im Sinne eines ambitionierten Schutzes des Meeres ist
das jedoch kein Argument, warum wir in Deutschland
eine Umsetzung der Richtlinie wählen sollen, die weni-
ger Meeresschutz zulässt. Ziel muss ein hoher Schutz-
standard für unsere Meere sein. Deswegen sollten wir
die Richtlinie zugunsten des Meeresschutzes auslegen.
Wir lehnen den Änderungsantrag der Koalition somit
ab. Zum Gesetzentwurf werden wir uns enthalten, da der
Entwurf neben brauchbaren Elementen auch Punkte
enthält, denen wir nicht zustimmen können.

Die heutige Verabschiedung des Gesetzes ist jedoch
nur der erste Schritt. Jetzt müssen die zuständigen Be-
hörden die Meeresgewässer bewerten und beschreiben,
wie ein guter Zustand dieser Gewässer aussehen kann.
Daraufhin müssen Maßnahmen erarbeitet werden, mit
denen wir bis zum Jahr 2020 einen guten Zustand der
Meere erreichen können, eine anspruchsvolle Aufgabe,
aber angesichts der Bedrohungen der Meere eine Auf-
gabe, die wir dringend anpacken müssen, sei es beim Ar-
tenschutz, bei der Fischerei oder dem Klimaschutz. Ziel
muss sein, die Nutzung und Bewahrung der Meere wie-
der miteinander zu verbinden. Wir müssen den Schutz
der Meere vermehrt auf die politische Agenda setzen
und hartnäckig und mit langem Atem für Verbesserun-
gen kämpfen. Als Politiker müssen wir hierfür den Dia-
log suchen und dafür eintreten, dass kurzfristiges Profit-
denken durch langfristige Verantwortung abgelöst wird.


Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1712032300

Unsere Erde ist zu mehr als 70 Prozent mit Wasser

bedeckt. Die Meeresflora erzeugt täglich einen Großteil
des weltweiten Sauerstoffs und ist somit Quell unseres
Lebens. Viele Lebewesen, die sich unter Wasser in Rif-
fen, Gebirgen, Gräben und Rinnen tummeln, sind noch
völlig unbekannt. Ihre Lebensräume werden jedoch zu-
nehmend durch Müll und Verschmutzung bedroht. Im
Namen der Fraktion der FDP begrüße ich deshalb die
Verabschiedung des Gesetzes zur Umsetzung der Mee-
resstrategie-Rahmenrichtlinien.

Nach einem zweiten Anlauf haben wir jetzt eine sehr
gute Lösung gefunden. Unser Ziel und unsere Verpflich-
tung ist es, eine gute Balance zwischen dem Schutz und
der nachhaltigen Nutzung der Meere zu schaffen. Die
Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie ist
hierfür der Grundstein. Alle europäischen Meeresanrai-
Zu Protokoll
nerstaaten sind im Moment mit der Erarbeitung von na-
tionalen Strategien zur Umsetzung befasst. Europaweit
wird so ein Fundament für eine intakte Meeresumwelt
geschaffen. Dies wird den vielen im Meer lebenden Ar-
ten nutzen. Ihre Lebensräume wollen wir in Zukunft bes-
ser schützen. Deshalb ist vor allem der Biodiversitätsan-
satz in der Richtlinie von großer Bedeutung. Unser
erklärter Wunsch ist es, den Rückgang der maritim-bio-
logischen Vielfalt konsequent zu stoppen. Wir wollen
produktive und dynamische Meeressysteme schaffen.
Der Artenschutz ist dafür die Basis, er soll ein großes
Augenmerk bekommen. Hier gilt es in erster Linie der
Überfischung und Vermüllung der Ozeane entgegenzu-
treten. Nur nachhaltig genutzte Meere versorgen uns
auch morgen noch mit Ihren Gütern.

Die Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtli-
nie ist ambitioniert. In wenigen Jahren wollen wir eine
deutliche Verbesserung der europäischen Meere errei-
chen. In einem ersten Schritt werden wir den Zustand
unserer Meere umfangreich dokumentieren. Dann gilt es
den gewünschten Umweltzustand festzulegen und peu à
peu Ist- und Soll-Zustand anzugleichen. Hierzu zählt
auch die Entwicklung eines maritimen Schutzgebiets-
netzwerkes. Ebenso wie die Entwicklung und Durchfüh-
rung von Monitoring-Programmen. Ab 2016 wollen wir
mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog für eine
bessere Meeresumwelt sorgen. 2020 soll der tatsächli-
che Zustand unseres Meeres dem Soll-Zustand entspre-
chen. Wir haben uns hohe Ziele gesteckt und müssen nun
die Ärmel hochkrempeln.

Europa kann international zum Vorbild werden. Welt-
weit gibt es nur wenige Meeresschutzgebiete. Nach den
ambitionierten Zielen der 10. Vertragsstaatenkonferenz
der CBD in Nagoya sollen endlich neue Schutzzonen fol-
gen. Der Ausbau eines globalen Netzes von Meeres-
schutzgebieten soll fortgeführt und erweitert werden.
Einmalige Unterwasserwelten müssen bewahrt und Rück-
zugsgebiete für bedrohte und seltene Arten gesichert
werden.

Die Meere bergen noch viele Geheimnisse. Rund
30 Prozent der Ozeane sind zwischen 4 000 und 5 000
Meter tief, und etliche Regionen sind noch gänzlich un-
bekannt. Vieles gibt es noch zu erforschen und die Be-
deutung der Meere als Nahrungs- und Rohstoffquelle
wird in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen.
Eines dürfen wir jedoch nicht vergessen: Das Meer ist
ein sensibles Ökosystem, das als Kohlenstoffspeicher
unser Klima sichert. Wir müssen sorgsam mit den Oze-
anen und ihren Bewohnern umgehen. Ein Leben auf der
Erde ist nur im Einklang mit intakten Meeren möglich.
In dieser Position stimmen wir mit der SPD und den
Grünen bei den Zielen überein. Die rot-grünen Lösungs-
wege in den jeweiligen Anträgen können wir jedoch
nicht mittragen.

Der Antrag „Schutz der Meere vor Vermüllung und
anderen Verschmutzungen“ von Bündnis 90/Die Grünen
verfolgt gute Absichten. Er will die Verschmutzungen
der Meeresumwelt aus land- und meeresgestützten Quel-
len verhindern oder wenigstens reduzieren. Auch soll die
Vielfalt der Meere anhand von Schutzgebieten gesichert



gegebene Reden

Angelika Brunkhorst


(A) (C)



(D)(B)

werden. Der einführende Text beschreibt den Sachstand
weitestgehend zutreffend. Der Antrag entpuppt sich je-
doch im weiteren Verlauf als ein ungeordnetes Sammel-
surium aktuell diskutierter Themen des Meeresschutzes.
Er ist in keiner Weise fokussiert, mit Forderungen und
Maßnahmen, die längst in Kraft sind. Dazu zählen unter
anderem das Verbot von Bunker-C-Öl oder die Seekar-
tierung von Munitionsfunden. Der Antrag hinkt den ak-
tuellen Gegebenheiten hinterher. Ein grünes Potpourri
an Verboten, weder ausgegoren noch tragfähig. Deshalb
werden Sie von der FDP auch keine Unterstützung er-
halten.

Auch der Antrag „Unsere Meere brauchen Schutz“
der SPD-Bundestagsfraktion ist nicht viel erquicklicher.
Die SPD fordert Maßnahmen gegen die zunehmende
Überfischung und Verschmutzung der Meere. Anhand
einer neuen Strategie sollen unter anderem Meeres-
schutzgebiete ausgebaut und Verschmutzungen durch
Ölförderungen eingedämmt werden. Auch verlangt der
Antrag ein generelles Moratorium in der Tiefseeölförde-
rung. Mit diesen Maßnahmen soll das Artensterben in
den Meeren gestoppt und die biologische Vielfalt der
Ozeane erhalten werden. Wir haben zwar das gleich
Ziel: Auch wir wollen den Lebensraum Meer schützen.
Doch wir brauchen keine neue Strategie. Wir haben auf
europäischer Ebene die Meeresstrategie-Rahmenrichtli-
nie, die wir heute verabschiedet haben. Sie schafft den
Ordnungsrahmen für die notwendigen Maßnahmen für
alle EU-Mitglieder. Sie ist die Strategie, die den Schutz
der europäischen Meere würdigt. Sie legt den Ökosyste-
mansatz zugrunde und wählt den integrativen Politikan-
satz. Sie gilt es nun konsequent umzusetzen und nicht pa-
rallel etliche neue Strategien zu schaffen, um am Ende
nichts zu erreichen.

Die FDP steht für einen Umweltschutz mit Augenmaß.
Dies gilt auch für die Ölförderung im Meer. Sicherheit
und Umweltschutz müssen dabei jedoch großgeschrie-
ben werden. Die FDP sieht in der verantwortungsvollen
Nutzung der Meeresressourcen eine besondere Heraus-
forderung. Wir sprechen uns deshalb auch gegen ein
pauschales Verbot der Tiefseeförderung aus. Wir wollen
einen Einklang zwischen dem Schutz der Meere, der Nut-
zung der Meeresressourcen und der Entwicklung der ma-
ritimen Wirtschaft erzielen, und nicht ein neues Verbot
an das andere reihen. Der von der SPD vorgelegte An-
trag ist dafür ungeeignet.


Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712032400

Nur ein halbherziger Versuch zum Schutz der Meere

ist die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie in Deutsch-
land. Besser als nichts, hört man allgemein, aber das ist
zu wenig.

Worum geht es? Unsere Meere brauchen Schutz. Ich
kenne niemanden, der das nicht weiß, niemanden, der
dem nicht mit Inbrunst der Überzeugung zustimmen
würde. Und wir kennen alle die Schlagzeilen über Öl-
pest, Überfischung, giftige Chemikalien, Plastikmüll
und radioaktive Stoffe im Meer.

Meer bedeutet im Hochdeutschen, die miteinander
verbundenen Gewässer der Erde, die die Kontinente um-
Zu Protokoll
geben. Es ist das größte, zum Teil noch völlig unbe-
kannte und unerforschte Ökosystem unserer Erde, das
immer mehr zerstört wird, und es ist unsere Maßlosig-
keit, die zur Bedrohung wird, mit der industriellen Fi-
scherei, mit der Öl- und Gasförderung, dem Abbau von
Sand und Kies, dem ständig wachsenden Schiffsverkehr
und der Verklappung von Chemikalien. Die Auswirkun-
gen des Klimawandels kommen noch dazu, aber auch
daran haben wir unsere Aktie. Es gäbe noch viel zu dem
Horrorszenario zu sagen, dass sich täglich in den Mee-
ren abspielt, aber wir wollen nach vorn schauen.

2008 verabschiedete die EU eine Meeresstrategie-
Rahmenrichtlinie. Damit wurde der gesetzliche Hinter-
grund geschaffen, um die Belastungen der Meere zu ver-
ringern. Was wir anstreben, sind saubere und gesunde
europäische Meere mit Fischreichtum und großer Arten-
vielfalt. Das klingt irgendwie nach Märchen und heißt
dann auch im Beamtendeutsch: Erreichung eines „guten
Umweltzustandes“. Wie macht man das? Man nehme die
Erfassung des Ist-Zustandes und rühre eine Definition
für den „guten Zustand“ hinein. Dazu kommen Maßnah-
men, mit denen das Ziel erreicht werden soll und zum Ab-
schluss ein Programm zur Überwachung des Ganzen.

Es gibt gute Nachrichten von der Nordsee. Auswer-
tungen von ersten Langzeitbeobachtungen im Watten-
meer belegen: Überdüngung und viele Schadstoffkon-
zentrationen sind rückläufig, und die Populationen von
Seevögeln und Meeressäugern wachsen wieder an. Of-
fensichtlich ist konsequenter Schutz das Mittel der Wahl.
Das bedeutet, wir sollten einem Netzwerk von Meeres-
schutzgebieten mehr Bedeutung einräumen. Nur so kön-
nen wir Lebensräume und Arten vor der Zerstörung be-
wahren und ihnen die Chance zur Regeneration geben.

Was also ist zu tun? Die Meeresstrategie-Rahmen-
richtlinie in deutsches Recht umsetzen ist der erste
Schritt. Der Gesetzentwurf liegt uns heute mit einem
Jahr Verspätung vor. Er wird den europäischen Anforde-
rungen weit besser gerecht als ein erster Entwurf aus
dem vergangenen Sommer. Und trotzdem bleibt es nur
ein erster Schritt; denn es bleiben Schwachstellen, maß-
geblich im Ergebnis der Beratung mit dem Bundesrat.
Bei einer Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen
Vorgaben geht es auch um Besitzstandsinteressen. Da
wird um Begriffe gefeilscht und gestritten und für den
Meeresschutz läuft es auf so viel Schutz wie gerade nötig
hinaus und keinen Deut mehr.

Ein Beispiel: Im Gesetzentwurf wird das Wort „nach-
teilige“ Auswirkungen für vom Menschen verursachte
Beeinträchtigungen durch das Wort „signifikant“ er-
setzt. In der Begründung dafür heißt es, der Begriff
nachteilig sei in der deutschen Sprache ein Synonym für
ungünstig oder störend und so für wirtschaftliche Aktivi-
täten zu negativ belegt. Aber Überdüngung, Über-
fischung und die Verschmutzung unserer Meere durch
Öl, Chemikalien und Müll sind nachteilige Beeinträchti-
gungen, die vermieden werden müssen. Solange das wei-
ter schöngeredet wird und wir nicht einmal durchsetzen,
dass Ross und Reiter klar benannt werden, fehlt der poli-
tische Wille. Solange nenne ich den deutschen Meeres-
schutz halbherzig.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712032500

Der Zustand der Meere weltweit ist – man kann es lei-

der nicht dramatisch genug ausdrücken – eine Katastro-
phe. Sie scheinen unendlich groß zu sein, und so werden
sie vielfach auch behandelt: Als Ressource, die es scho-
nungslos zu nutzen und auszubeuten gilt. Die Folgen
sind klar, auch wenn sie unter der Wasseroberfläche lie-
gen und zunächst verborgen erscheinen: Massive Über-
fischung bei der jetzt an die letzten Reserven gegangen
und Fisch gefangen wird, den vor wenigen Jahren keiner
kannte, geschweige denn essen wollte, oft sogar noch
bevor sie sich wenigstens einmal fortpflanzen konnten.
Hinzu kommen Schadstoffe aus allen Richtungen: Der
Meeresboden wird nach Öl und Gas angezapft oder auf
der Suche nach Rohstoffen umgepflügt, über die Flüsse
werden Rückstände aus der Landwirtschaft eingeleitet,
befeuern das Algenwachstum und senken den Sauer-
stoffgehalt so weit, dass Teile der Ostsee zum Beispiel
praktisch tot sind. Hinzu kommt die Schifffahrt, die mit
Raffinerieabfällen angetrieben wird, die ihre Abwässer
legal in die Meere kippt und mit ihren Ballasttanks
fremde Arten einschleppt und Heimisches verdrängt.
Nicht zu vergessen ist schließlich die Müllproblematik.
Vor allem Kunststoff kommt von Land in die Meere,
treibt jahrzehntelang herum, zerfällt in kleinste Teile
und wird von Vögeln gefressen, woran sie schließlich
sterben. Für all diese Probleme haben wir bisher nur
Lösungsansätze. Einen durchschlagenden Erfolg gibt es
nicht. Im Gegenteil: Die Ausbeutung wird weiter voran-
getrieben. Die Deepwater Horizon ist fast vergessen,
und manche träumen von den sogenannten Chancen des
Klimawandels, um endlich mit Schiffen durch das sen-
sible Ökosystem Arktis fahren zu können. Die Meeres-
strategie-Rahmenrichtlinie ist überfällig und als euro-
päische gemeinsame Initiative der richtige Weg, denn
Meere kennen keine Grenzen. Müll oder Ölreste schwap-
pen gnadenlos an jeden Strand.

Leider blieb schon die europäische Vorgabe hinter
unseren Vorstellungen zurück. Die Fischerei wurde voll-
kommen ausgenommen. Obwohl die Richtlinie den Er-
halt der Fischbestände und zerstörerische Fangmetho-
den als Teil der Definition zum guten Umweltzustand
betrachtet, können diese Punkte nicht in der nationalen
Gesetzgebung reguliert werden. Die Staaten sollen mit
ihren Gesetzen zwar die Meere schützen, auf die Fische-
rei können sie aber keinen direkten Einfluss ausüben. In
der Zwischenzeit hat auch die Biodiversitätskonvention,
CBD, Ziele zum Meeresschutz verabschiedet. Zentral ist
dabei das Ziel, Fischerei und Aquakultur nachhaltig zu
gestalten. Dieser Bezug wird in der Meeresstrategie-
Rahmenrichtlinie nicht hergestellt. Leider ist die Mee-
resstrategie-Rahmenrichtlinie in sich nicht konsistent:
Einerseits wird ein kohärenter und transparenter
Rechtsrahmen über die relevanten Politikbereiche hin-
weg gefordert, andererseits wird die gemeinsame Fi-
schereipolitik nicht angetastet. Hier wäre eine Ermäch-
tigung der Mitgliedstaaten wünschenswert gewesen, da
eine wirklich weitreichende Ökologisierung der Fische-
reipolitik bisher nicht absehbar ist. Das ist ein echter
Schwachpunkt in der europäischen Vorlage. Sie setzt
kaum einen ausreichenden Handlungsrahmen für die
Mitgliedstaaten. Auch die deutsche Umsetzung hat Män-
gel, das zeigt auch die Kritik von Umwelt- und Natur-
schutzverbänden. So ist der Schutz biologischer Vielfalt
zwar in der Begründung als Ziel aufgeführt, müsste aber
viel stärker das Ineinandergreifen mit dem CBD-Über-
einkommen über die biologische Vielfalt unterstreichen.
Auch die Bedeutung von Meeresschutzgebieten wird zu
wenig berücksichtigt. Bei den Maßnahmen hätte man die
Schutzgebiete herausheben sollen, denn gerade hier
wird die Vielfalt maritimer Ökosysteme repräsentativ
und angemessen berücksichtigt.

Wenn man gewollt hätte, wäre in der Gesamtheit
mehr drin gewesen. Sowohl die europäische Meeresstra-
tegie-Rahmenrichtlinie als auch die deutsche Umset-
zung hätten viel konsequenter sein müssen. Trotz dieser
Kritik ist es wichtig, dass nun endlich eine Grundlage
zum Schutz der Meere vorliegt. Es besteht die Chance,
den Zustand der Meere umfassend zu bewerten und an-
hand dieser konkrete Schritte zu gehen. Dabei dürfen
wir aber keine rosarote Brille aufsetzen. Der Zustand ist
in seiner Dramatik, wie uns fast schon regelmäßig in je-
der neuen Studie vorgehalten wird, kaum zu unterschät-
zen. Die Lücke zu einem guten ökologischen Zustand ist
groß, und ein Maßnahmenprogramm, das diese Lücke
schließen soll, muss es in sich haben. Doch die tatsäch-
lichen Debatten und Ergebnisse stimmen trübe. Eines
der wesentlichen Handlungsfelder – die Fischerei – wird
kaum angetastet. Genau wie bei der jüngst vorgelegten
europäischen Biodiversitätsstrategie schnellen sofort
die Zeigefinger in die Luft, die Strategie dürfe den euro-
päischen Agrar- und Fischereireformen nicht vorgrei-
fen. Falsch! Die Strategien, Richtlinien und legislativen
Umsetzungen sind genau dazu da, ressortübergreifend
einen Rahmen zu setzen. Sonst sind sie das Papier nicht
wert, auf dem sie stehen. Es ist höchste Zeit, und wir alle
müssen viel arbeiten, um nicht zu spät zu kommen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712032600

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie und
zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes. Der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6508, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 17/6055 und 17/6209 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ent-
haltung der Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/4566. Unter Buchstabe a empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

der SPD auf Drucksache 17/1960 mit dem Titel „Unsere
Meere brauchen Schutz“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen?
– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-
fraktionen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1763 mit dem Titel „Schutz der
Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gustav
Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom
Bahnlärm entlasten – Alternative Güterver-
kehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen

– Drucksache 17/6452 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1712032700

Die schwarz-gelbe Koalition hat schon im Koali-

tionsvertrag festgelegt, dass wir mehr Güter auf die
Schiene verlagern wollen. Aber wie alle Verkehrsträger
verursachen auch die Güterwagen Lärm. Der Schienen-
verkehr eignet sich aber wie kein anderes System, Per-
sonen und Güter über große Entfernungen sicher und
schnell zu transportieren. Auch der Umweltvorteil
macht das Rad-Schienensystem wirtschafts- und gesell-
schaftspolitisch sinnvoll. In diesem Kontext gewinnt die
Schiene als umweltverträglichster Verkehrsträger zu-
nehmend an Bedeutung. Diesen Umweltvorteil zu erhal-
ten und auszubauen, ist ein wichtiger Bestandteil unse-
rer Bahnphilosophie.

Es ist allen Bahnpolitikern bewusst, dass die Lärmim-
mission des Schienengüterverkehrs eine Belastung für
die Bevölkerung, insbesondere an stark befahrenen
Schienenstrecken wie im Mittelrheintal, darstellt. Der
umweltfreundliche Schienenverkehr stößt dort auf Vor-
behalte, wo sich die Menschen vom Güterverkehr, insbe-
sondere in der Nacht, gestört fühlen. Wir wissen, dass
viele Anwohner unter Schienenverkehrslärm leiden und
nehmen dieses Problem sehr ernst, auch in dem Be-
wusstsein, dass der leisen Bahn die Zukunft gehört. Eine
signifikante Reduzierung der Lärmimmission ist deshalb
sinnvoll, ja erforderlich, damit die gesellschaftliche Ak-
zeptanz des Schienengüterverkehrs erhalten bleibt.
Lärmminderung ist deshalb ein gemeinsames Anliegen
innerhalb der Koalitionspolitiker.
Dass die Anwohner der Mittelrheintalbahn besonders
betroffen sind, steht außer Frage. Eine Prüfung einer
Machbarkeitsstudie hinsichtlich möglicher neuer Schie-
nengüterverkehrstrassen und der Umleitung des Güter-
fernverkehrs über andere bestehende Bahntrassen sollte
unter dem Gesichtspunkt des Kosten-Nutzen-Verhältnis-
ses erwogen werden. Wichtiger erscheint mir ihre zweite
Forderung nach kurz- und mittelfristig lärmmindernden
Maßnahmen.

Unser Ziel ist, bis zum Jahr 2025 eine Reduzierung
um 50 Prozent des Schienenlärms in hochbelasteten Ge-
bieten zu erreichen. Dies betonte Bundesverkehrsminis-
ter Dr. Peter Ramsauer beim Abschluss der Eckpunkte-
vereinbarung am 5. Juli 2011 zum lärmabhängigen
Trassenentgelt. Deshalb haben wir auch die Beseitigung
des Schienenbonus im Koalitionsvertrag festgeschrie-
ben. Das Reduktionsziel werden wir auf der einen Seite
über den traditionellen Lärmschutz mit Lärmschutzwän-
den, Lärm-schutzfenstern etc. erreichen. Die positiven
Wirkungen bleiben jedoch nur lokal begrenzt.

Lärmursache Nummer eins ist das Rollgeräusch, das
durch den dynamischen Kontakt zwischen Schiene und
Radlaufflächen entsteht. Deshalb setzen wir hier an. Wir
werden eine erhebliche Lärmreduzierung bei den Wag-
gons mithilfe der Flüsterbremsen, LL-Sohlen, erreichen.
Durch die Einführung eines lärmabhängigen Trassen-
preissystems schaffen wir einen rechtlichen Rahmen zum
Ausbau der Flüsterbremsen. Das lärmabhängige Tras-
senpreissystem sieht ab Dezember 2012 höhere Entgelte
für Züge ohne Flüsterbremsen vor und einen Bonus für
Güterwagen, die auf lärmmindernde Technologie umge-
rüstet wurden. Durch die Umrüstung kann die Lärm-
belastung mittelfristig bis zu 10 Dezibel (A) reduziert
werden. Dies entspricht etwa einer Halbierung des
wahrgenommenen Lärms. Der Bonus wird direkt an die
Wagenhalter ausgezahlt. Finanziert wird dies acht Jahre
lang durch einen Bundeszuschuss. Zusammengefasst:
Laute Züge müssen bezahlen, leise Züge erhalten einen
Bonus – Zuckerbrot und Peitsche.

Dadurch werden wir den Schienenlärm deutlich und
spürbar verringern. Durch die Einführung von lärm-
abhängigen Trassenpreisen werden wir in einem Zeit-
raum von acht Jahren den Großteil der hier verkehren-
den Güterzüge auf Flüstertechnik umgerüstet be-
kommen. Damit wird es überall leiser, wo Güterwagen
unterwegs sind, nicht nur auf bestimmten Strecken.
Deutschland stellt sich bei einem weiteren ökologischen
Projekt weltweit an die Spitze.

Trassenentgelte mit Lärmkomponente werden sich
auch wirtschaftlich positiv auswirken, da die Eisen-
bahnunternehmen in den Lärmschutz investieren wer-
den.


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1712032800

Erst einmal möchte ich deutlich machen, dass mir die

Situation der Betroffenen entlang der Bahnstrecke am
Mittelrhein absolut bewusst ist. Bei meinen Besuchen im
Rheintal habe ich nur zu deutlich erfahren, was der
Bahnlärm für die Anwohner bedeutet. In vielen Gesprä-
chen mit Betroffenen wurde mir ihre Last anschaulich

Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)

beschrieben. Aber nicht nur ich, sondern die ganze
Union steht auf der Seite der Menschen, die unter Bahn-
lärm leiden. Und wir drücken dabei eben nicht nur un-
sere Betroffenheit aus, sondern wir handeln auch. Seit
Jahren und Jahrzehnten wird darüber diskutiert, wie wir
die zunehmende Lärmbelastung verringern können.
Dass Lärm krank machen kann, ist auch wissenschaft-
lich hinlänglich erwiesen. Bei meiner Teilnahme am
zweiten Schienenlärmkongress in Freiburg im Breisgau
letztes Jahr ist mir das eindrücklich vor Augen gemalt
worden. Am Kongress in Boppard letztes Jahr hätte ich
ebenfalls gerne teilgenommen, aus terminlichen Grün-
den war mir dies jedoch nicht möglich. Unsere Fraktion
weiß, dass Lärm keine Kleinigkeit ist. Deshalb haben
wir im Koalitionsvertrag mit der FDP auch festgehal-
ten:

„Die Akzeptanz für einen weiteren Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur hängt entscheidend davon ab, dass
die Lärmbelastung der Bevölkerung reduziert wird. Wir
wollen deshalb den Lärmschutz ausweiten. Dazu wollen
wir den Schienenbonus schrittweise reduzieren mit dem
Ziel, ihn ganz abzuschaffen. Gleichzeitig wollen wir eine
lärmabhängige Trassenpreisgestaltung bei der Bahn.
Bei bereits bestehenden Strecken wollen wir das Lärm-
sanierungsprogramm Schiene fortsetzen und intensivie-
ren. Dazu wollen wir auch die Möglichkeiten des techni-
schen Fortschritts bei Fahrzeugen nutzen.“

In unserem Antrag zur Rheintalbahn vom 18. März
2011 haben wir deshalb die Bundesregierung aufgefor-
dert, „den Schienenbonus schrittweise abzuschaffen“.
Auch andere Fraktionen hätten einen solchen Beschluss
in ihrer Regierungszeit fassen können. Wir als christ-
lich-liberale Koalition setzen unsere Ankündigung nun
um. Nach langen Diskussionen und vielen verschiede-
nen Bundesregierungen ist es also die jetzige, die end-
lich nicht mehr zwischen „gutem“ und „bösem“ Lärm
unterscheidet. Dabei sind wir aber nicht stehen geblie-
ben. Gerade diese Woche wurde die Einführung eines
lärmabhängigen Trassenpreissystems zum Dezember
2012 zwischen dem Bundesverkehrsministerium und der
Deutschen Bahn AG beschlossen. Der Schienenlärm soll
damit deutlich und dauerhaft verringert werden. Das
lärmabhängige Trassenpreissystem sieht höhere Ent-
gelte für Züge ohne Flüsterbremsen vor und einen Bonus
für Güterwagen, die auf lärmmindernde Technologie
umgerüstet werden. Durch die Umrüstung kann die
Lärmbelastung mittelfristig bis zu 10 db(A) reduziert
werden. Das kostet sowohl die Bundesregierung Geld
als auch die Deutsche Bahn AG. Die Umrüstung auf so-
genannte Flüsterbremsen wird mit über 300 Millionen
Euro zu Buche schlagen. Das neue Preissystem ist eine
gute Nachricht für alle Menschen, die entlang von Gü-
terverkehrsstrecken wohnen – besonders aber für die
Betroffenen am Mittelrhein.

Die Abschaffung des Schienenbonus und lärmabhän-
gige Trassenpreise ergänzen sich. Wir brauchen beides
und bekommen beides. Ergänzt wird es durch das von
uns weiter vorangetriebene Lärmsanierungsprogramm
Schiene, wie wir es im Koalitionsvertrag festgelegt ha-
ben. Mit diesen drei wichtigen Maßnahmen zeigt die
Zu Protokoll
schwarz-gelbe Koalition, dass sie die Lärmbekämp-
fungskoalition ist!

Ich möchte mich auch an dieser Stelle für die kon-
struktive Arbeit der Bürgerinitiativen bedanken. Wir
brauchen eine gelebte Kultur von Bürgerbeteiligung.
Das kann ich bei Pro Rheintal erkennen. Ich danke auch
meinen Kollegen vor Ort, besonders Peter Bleser und
Ute Granold, die uns Verkehrspolitikern in Berlin immer
wieder vor Augen und Ohren „malen“, was am Mittel-
rhein los ist.

Trotz aller Anstrengungen bei der Lärmminderung ist
natürlich auch uns klar, dass der beste Lärm der ist, der
gar nicht erst entsteht. Da das in unserer Industriege-
sellschaft aber kaum komplett möglich ist, müssen wir
über Maßnahmen nachdenken, damit zumindest nur so
wenig Menschen wie nötig belästigt werden. Deshalb
prüfen wir bei der Rheintalbahn in Baden auch alterna-
tive Strecken. Und dasselbe sollte auch am Mittelrhein
getan werden – und das wird es.

Die Bahn hat in ihrem Wachstumsprogramm schon
genau das vorgelegt, was der Antrag fordert: ein Er-
tüchtigungsprogramm für Entlastungsstrecken. Wer
mehr Güter auf den ökologischen Verkehrsträger
Schiene bekommen möchte, muss die Kapazitäten erhö-
hen. Der Stau auf der Schiene darf sich nicht weiter aus-
weiten. Wir als Bund sind gefordert. Bereits bei der Be-
darfsplanüberprüfung 2010 hat sich gezeigt, dass der
Bereich Köln-Mittelrhein-Mannheim-Karlsruhe im Pro-
gnosejahr 2025 mehrere Engpässe aufweisen könnte. Al-
lein schon deshalb wird das Bundesverkehrsministerium
eine Untersuchung durchführen, in der verkehrliche
Konzepte für die Verkehrsachsen zwischen Köln und in
etwa Karlsruhe ermittelt werden sollen. Derzeit läuft
das Ausschreibungsverfahren für die Studie. Ziel ist die
Entwicklung eines verkehrlich sinnvollen Konzeptes für
den gesamten Korridor. Damit werden die erforderli-
chen Eingangsdaten für den neuen Bundesverkehrswe-
geplan (BVWP) 2015 erarbeitet. Die Untersuchungser-
gebnisse werden wahrscheinlich bis Ende 2012
vorliegen. Die geforderte Prüfung für die nötige Entlas-
tung der Bürger über eine alternative Strecke ist also be-
reits in Auftrag gegeben.

Wir schließen uns also unseren Kollegen in Rhein-
land-Pfalz an. Trotzdem lehnen wir den Antrag der So-
zialdemokraten ab. Wir brauchen hier keine Aufforde-
rungen an die Bundesregierung. Die eine Hälfte davon
wurde schließlich bereits diese Woche umgesetzt, und
die andere Hälfte ist sowieso geplant. Obwohl wir uns
also inhaltlich hinter die Forderungen stellen, lehnen
wir den Antrag als organisatorisch überflüssig ab.


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1712032900

Die Konjunktur nimmt Fahrt auf, die Wirtschaft

brummt und setzt ordentlich Waren um. Es gibt Men-
schen, die nehmen diese im Allgemeinen durchaus posi-
tiven und erfreulichen Nachrichten als Bedrohung ihrer
Gesundheit und Lebensqualität wahr. Und das zu Recht!

Ich rede von den Menschen, die an Güterver-
kehrstrassen leben, arbeiten und tagtäglich einer Lärm-



gegebene Reden

Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)

kulisse ausgesetzt sind, die sich verheerend auf ihre Ge-
sundheit auswirkt. Über 100 Dezibel (A) werden dort
gemessen, Nacht für Nacht! Diese Menschen leiden un-
ter dem Lärm, den Erschütterungen, die insbesondere
von den Güterzügen ausgehen, aber auch Personenzüge
tragen ihren Teil dazu bei. Das Mittelrheintal ist diesbe-
züglich ein wahrer Hexenkessel, weit über 100 Orts-
durchfahrten werden über den Tag registriert, und die
Menschen haben keine Möglichkeit, den Auswirkungen
zu entfliehen, wenn sie ihrer Heimat nicht den Rücken
kehren möchten.

Schon mehrfach haben wir in diesem Jahr hier im
Plenum des Deutschen Bundestages über das Problem
Schienenlärm debattiert, auch in der Debatte zur Rhein-
talbahn war der Lärm zentraler Bestandteil der Reden –
aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, dort wol-
len wir verhindern, was im Mittelrheintal jede Stunde
des Tages und der Nacht bittere Realität ist!

Viele Maßnahmen haben wir unter rot-grüner Bun-
desregierung eingeleitet, die seither geplant, finanziert
und gebaut wurden, viele Millionen Euro haben wir in
die Hand genommen, doch der Durchbruch ist uns nicht
gelungen. Lärmschutzwände und -fenster sind kein Kö-
nigsweg, ganz im Gegenteil; denn diese verschleiern das
Problem. Wie oft habe ich von der jetzigen Bundesregie-
rung gehört, wie viel Geld im Mittelrheintal investiert
wurde – sie tut fast so, als wäre das Problem damit vom
Tisch. Hier wird versucht, alles auszusitzen, es wird be-
schwichtigt, angekündigt und verschoben. Letztlich fehlt
nach wie vor ein Bewusstsein für die Probleme vor Ort.
Ich frage mich, warum es so lange dauern muss, um ein
lärmabhängiges Trassenpreissystem einzuführen. Erst
hieß es: zum Fahrplanwechsel 2011/12; und gestern ver-
kündet unser Verkehrsminister: 2012/13 – und ist auch
noch stolz darauf. Natürlich freue ich mich, dass es ein-
geführt wird; aber warum dauert es so lange? Die Um-
rüstung muss jetzt angeschoben werden, wir müssen jetzt
Impulse setzen, und die Wirtschaft muss jetzt umrüsten;
jeder Tag ist ein verlorener Tag. Bis zum Fahrplanwech-
sel am 15. Dezember 2012 sind es noch 528 Tage, bei
100 Ortsdurchfahrten sind das über 50 000 Züge, die den
Menschen das Leben schwer machen. Ich erwarte hier
entschieden mehr Engagement, und ich bin davon über-
zeugt, das geht den Menschen vor Ort nicht anders. Die
zögerliche Haltung der Bundesregierung und der Koali-
tion bleibt mir ein Rätsel. Vielleicht liegt das daran, dass
Lärm und Erschütterungen hier im fernen Berlin nur
noch als leichtes Rauschen ankommen.

Rheinland-Pfalz übt massiven Druck über den Bun-
desrat aus, und auch der Mainzer Landtag hat am
10. Februar 2011 einen einstimmigen Beschluss gefasst.
Wohlgemerkt, mit den Stimmen von CDU und FDP for-
dert der Landtag den Bund auf, die Suche nach einer al-
ternativen Trassenführung endlich einzuleiten und die
Züge umzuleiten. Kurz- und mittelfristig müssen mit
Nachdruck alle Register gezogen und die Einführung ei-
nes lärmabhängigen Trassenpreissystems unterstützt
werden. Das ist wegweisend, und daher haben wir die-
sen Antrag heute in den Deutschen Bundestag einge-
bracht. Ich fordere meine Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen auf, es ihren Landtagsfraktionen
Zu Protokoll
gleichzutun. Lassen Sie uns gemeinsam für ein leiseres
Mittelrheintal kämpfen und damit auch andernorts Si-
gnale setzen, dass wir das Problem Verkehrslärm er-
kannt haben und nicht länger hinnehmen möchten!

Rüdesheim, Boppard, Kamp-Bornhofen, Spay sind
nur einige Orte, doch sie stehen stellvertretend für ver-
lärmte Regionen in der ganzen Republik – hier muss was
geschehen!

Lassen Sie uns das „Epizentrum“ des Schienenlärms
gemeinsam anpacken! Wir brauchen jetzt kurzfristige
Maßnahmen, um schnell zumindest Linderung zu brin-
gen. Mittelfristig muss der Schienenbonus abgeschafft
werden, und das nicht schrittweise, wie es die Koalition
jetzt verkündet; denn das würde nur Chaos im Planungs-
recht schaffen und für Jahrzehnte einen Flickenteppich
unterschiedlichster Lärmschutzstandards hinterlassen,
den man niemandem erklären kann. Auch brauchen wir
zügig den lärmabhängigen Trassenpreis als Anreizpro-
gramm zur Umrüstung, flankiert mit einem qualifizier-
ten Nachtfahrverbot, um klar der Wirtschaft zu signali-
sieren, dass wir es ernst meinen. Dafür müssen wir eine
rechtliche Grundlage schaffen. Langfristig kommen wir
aber nicht um einen neuen Korridor für den europäi-
schen Güterverkehr herum. Dabei dürfen wir uns nicht
auf den Bundesverkehrswegeplan vertrösten lassen –
jetzt ist Zeit, zu handeln und den Lärm der Zukunft zu
verhindern. Ich freue mich auf die Beratung im Aus-
schuss und dass die vielen Papiere und Gutachten end-
lich umgesetzt werden. Es gibt genug Gutachten, jetzt
müssen wir handeln!


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1712033000

Verkehrslärm ist ein zentrales Umweltproblem. Dau-

erhafter Lärm gefährdet die Gesundheit. Etwa 20 Pro-
zent der deutschen Bevölkerung fühlen sich durch Schie-
nenverkehrslärm belästigt, etwa ein Viertel davon
schwer. Schienenlärm wird weniger durch einen ge-
schlossenen Geräuschpegel als durch laute Einzelereig-
nisse bestimmt. Insbesondere in der Nacht beeinträchti-
gen Aufweckreaktionen, beispielsweise verursacht durch
nächtliche Gütertransporte, die Regenerationsphase des
Körpers – mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit.
Ich habe selbst bei meinen Besuchen entlang der Rhein-
talstrecke die Auswirkungen des Güterverkehrslärms
kennengelernt.

Wir haben an den bestehenden Schienenwegen einen
besonders hohen Bedarf an Lärmsanierung. Das gel-
tende Immissionsschutzrecht verlangt allerdings nur
beim Neubau und der wesentlichen Änderung von Schie-
nenstrecken, dass durch diese keine schädlichen Um-
welteinwirkungen durch Verkehrsgeräusche hervorgeru-
fen werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar
sind. Eine entsprechende Regelung fehlt für bestehende
Strecken. Damit werden die Anwohner an Altstrecken
deutlich höheren Belastungen ausgesetzt. Wir erleben
das aktuell im Rheintal oder auch, wie in ihrem Antrag
erwähnt, im Mittelrheintal.

Aus diesem Grund haben wir der Frage des Lärm-
schutzes im Koalitionsvertrag einen hohen Stellenwert



gegebene Reden

Werner Simmling


(A) (C)



(D)(B)

beigemessen und immer betont, dass wir hier zum
Schutze der Anwohner Änderungen herbeiführen wollen.

Ich freue mich, dass ich Ihnen mitteilen kann, dass
wir Ihrem Antrag bereits zuvorgekommen sind und die
Einführung lärmabhängiger Trassenpreise in einer Eck-
punktevereinbarung zwischen dem Bundesverkehrsmi-
nisterium und der DB AG am vergangenen Dienstag un-
terzeichnet wurde. Damit setzen wir eine wichtige
verkehrs- und umweltpolitische Forderung der schwarz-
gelben Koalition um. Die Bundesregierung macht damit
einen wichtigen Schritt hin zur einer spürbaren Verrin-
gerung des Schienenverkehrslärms.

Der Schienenlärm wird damit deutlich und dauerhaft
verringert werden. Das lärmabhängige Trassenpreissys-
tem sieht höhere Entgelte für Züge ohne Flüsterbremsen
vor und einen Bonus für Güterwagen, die auf lärmmin-
dernde Technologie umgerüstet werden. Durch die Um-
rüstung kann die Lärmbelastung mittelfristig bis zu
10 db(A) reduziert werden. Der Bonus wird direkt an die
Wagenhalter ausgezahlt. Finanziert wird dies acht Jahre
lang durch einen Bundeszuschuss. Damit wird das lärm-
abhängige Trassenpreissystem zu gleichen Teilen durch
den Eisenbahnsektor und die öffentliche Hand finan-
ziert. Bei rund 180 000 umrüstbaren Wagen in Deutsch-
land betragen die Kosten für die Umrüstung über
300 Millionen Euro. Wirksam wird das lärmabhängige
Trassenpreissystem zum Fahrplanwechsel 2012/2013.
Wir handeln nicht nur im Interesse der Anwohner an
Schienenstrecken, sondern auch im Interesse eines leis-
tungsfähigen Schienengüterverkehrs.

Die Fraktionen von FDP und CDU/CSU haben im-
mer wieder deutlich gemacht, dass wir eine ordnungspo-
litische Lösung wollen, um einen Anreiz zur Umrüstung
von Güterzügen mit Flüstersohlen zu setzen. Das wird
jetzt umgesetzt und damit ein wichtiger Beitrag zum flä-
chendeckenden Lärmschutz in Deutschland geleistet.
Das ist allerdings nur der erste Teil der Maßnahmen, die
wir noch in diesem Jahr zur Verbesserung des Lärm-
schutzes im Schienenverkehr aufs Gleis setzen wollen.
Noch in diesem Jahr werden wir für neue Schienenvor-
haben den sogenannten Schienenbonus kippen. Das be-
deutet eine Hebung der Lärmschutzanforderungen um
weitere 5 Dezibel. Damit wollen wir einen Beitrag leis-
ten, um Anwohner von Neubaustrecken in Zukunft bes-
ser zu schützen. Dadurch wird auch die Akzeptanz von
Infrastrukturvorhaben verbessert. Das wird in diesem
Jahr noch Gesetz werden.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat des rhein-
land-pfälzischen Infrastrukturministers Roger Lewenz

(SPD): „Das ist grundsätzlich ein Schritt in die richtige

Richtung“! Ich würde mich freuen, wenn Sie sich Ihrem
Kollegen anschließen und Ihren Antrag zurückziehen
würden.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712033100

Zum wiederholten Male ist der Bahnlärm Thema hier

im Bundestag und wieder geht es um die Rheintalstre-
cke, deren Anwohnerinnen und Anwohner in teilweise
wirklich unerträglicher Weise vom Bahnlärm betroffen
sind. Die Bahn ist ein vergleichsweise umweltfreund-
Zu Protokoll
licher Verkehrsträger – aber wirklich verträglich für An-
wohner, Umwelt und Klima wird er nur, wenn mehr Geld
in die Schiene und insbesondere in den Lärmschutz in-
vestiert wird.

Bei dieser Gelegenheit habe ich gleich eine Frage an
die antragstellende SPD: Können wir nicht auf den
höchst umstrittenen Hochmoselübergang verzichten, für
den die Kosten gerade explodieren und der zudem von
zweifelhaftem Nutzen ist? Brauchen wir das Geld nicht
vielmehr für sinnvolle Schienenprojekte in Rheinland-
Pfalz, zum Beispiel für eine Güterverkehrstrasse zur
Entlastung des Mittelrheins?

Wir unterstützen die Aufforderung aus dem Antrag,
„eine Machbarkeitsstudie hinsichtlich möglicher neuer
Schienenverkehrstrassen und der Umleitung des Güter-
verkehrs über andere bestehende Bahntrassen sowie de-
ren Ertüchtigung zu erstellen“. Dies muss schnellstmög-
lich angegangen werden, um bei den Planungen von
Anfang an eine Bürgerbeteiligung sicherzustellen und
trotzdem nicht erst in Jahrzehnten eine Entlastung der
Rheintaltrasse zu erreichen.

Wir unterstützen außerdem das 10-Punkte-Programm
„Leises Rheintal“. Für die besonders belasteten Ab-
schnitte, bei denen andere Maßnahmen nicht zügig um-
gesetzt werden können und die Grenzwerte weiter über-
schritten werden, müssen die rechtlichen Möglichkeiten
geprüft und ausgeschöpft werden, insbesondere nachts
und für laute Güterzüge Geschwindigkeitsbeschränkun-
gen oder sogar Fahrverbote anzuordnen. Zu prüfen sind
auch die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen, die die
Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschä-
den durch die Bahn e. V. fordert. Als mittelfristige Maß-
nahme fordern wir, an den am höchsten belasteten Ab-
schnitten bis 2015 eine Lärmsanierung vorzunehmen.
Die Haushaltsmittel dafür sind zu verdoppeln.

Am 5. Juli haben sich Bundesministerium und Bahn
auf die Umsetzung einer Forderung aus dem Antrag
bereits verständigt: Die Einführung lärmabhängiger
Trassenpreise. Angesichts der Gesundheitsschäden, der
Einbußen an Lebensqualität und auch der damit verbun-
denen volkswirtschaftlichen Kosten ist das Ziel, inner-
halb von acht Jahre den Großteil der Güterzüge auf
Flüstertechnik umzurüsten, wenig ambitioniert. Sobald
die Technik serienreif ist, muss es deutlich schneller ge-
hen. Es muss auch ein Datum gesetzt werden, ab dem
diese Technik bzw. die Unterschreitung eines damit ein-
zuhaltenden Lärmgrenzwertes für alle Güterwagen ver-
pflichtend wird.

Die Bundesregierung muss nun auch zügig ein Gesetz
vorlegen, mit dem der Schienenbonus wie im Koalitions-
vertrag vorgesehen schrittweise reduziert und dann ganz
abgeschafft wird. Den Stufenplan halten wir allerdings
nicht für sinnvoll: Der Schienenbonus sollte ab 2012
ganz gestrichen werden. Neubaustrecken sollten gleich
so gebaut werden, dass strenge Lärmgrenzwerte einge-
halten werden. Natürlich wird das erheblich teurer, wie
die Regierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage
schreibt. Aber sollen Strecken gebaut werden, die dann
nicht nachgerüstet werden können, von denen also für
die weitere Zukunft eine ständige unzulässige Lärm- und



gegebene Reden





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)

damit Gesundheitsbelastung ausgeht? Wir müssen In-
frastruktur für eine lebenswerte Zukunft bauen. Wenn
wir endlich aufhören, Beton für ein Weiter-so! in die
Landschaft zu gießen, haben wir auch genügend Geld.
Ein Weiter-so! kann es beim Autoverkehr aber nicht ge-
ben – eine Ausweitung schon gar nicht. Autobahnbau ist
daher von gestern.

Es ist zynisch, Lärmschutzmaßnahmen als unbezahl-
bar zu bezeichnen. Tatsächlich verursachen die physi-
schen und psychischen, die sozialen und volkswirt-
schaftlichen Folgen der tagtäglichen Lärmbelastung
immense Kosten, die sich unsere Gesellschaft nicht leis-
ten kann. Das Geld ist da – es ist lediglich eine Frage
der Prioritätensetzung. Brauchen wir Prestigeprojekte
wie Stuttgart 21 und immer weitere Hochgeschwindig-
keitstrassen? Brauchen wir unsinnige Straßenprojekte
wie den Hochmoselübergang? Wir sagen ganz klar:
Nein! Die Bahn muss in der Fläche entwickelt werden
– so sozial- und umweltverträglich wie möglich. Lärm-
schutz ist dabei ein ganz wichtiges Element. Und: Die
tatsächlichen – auch externen – Kosten des Straßenver-
kehrs müssen endlich den Verursachern angelastet wer-
den. Wer den Straßenverkehr weiter subventioniert, aber
kein Geld für Lärmschutz hat, handelt rückwärtsge-
wandt und verantwortungslos.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712033200

Lärm macht krank – das ist keine neue Erkenntnis. Zu

viele Menschen leiden besonders unter den Folgen, wel-
che die starke Zunahme des Verkehrs mit sich bringt. Ein
Exportland wie Deutschland ist darauf angewiesen, die
steigende Nachfrage nach seinen Produkten immer
schneller zu den Kunden in alle Welt zu bringen. Der
Güterverkehr wird weiter ansteigen – und die Politik hat
dafür zu sorgen, dass dies möglichst umweltfreundlich
klima- und ressourcenschonend passiert. Deswegen set-
zen wir auf die Schiene – denn die kann ihre ökologi-
schen Vorteile voll ausspielen. Sie ist umweltfreundli-
cher, klimaschonender, sicherer sowie flächen- und
ressourcensparender. Trotz dieser eindeutigen Vorteile
können wir die Nachteile nicht ignorieren. Besonders an
den Haupttrassen leiden Menschen unter der Verkehrs-
zunahme, vor allem unter dem Lärm. Die Lärmbelas-
tung an viel befahrenen Bahnstrecken ist inzwischen so
hoch, dass sie nicht nur als Belästigung empfunden
wird, sondern auch eine Gesundheitsgefahr für die An-
wohner ist. Darauf müssen wir eingehen, um die Akzep-
tanz für diesen umweltfreundlichsten Verkehrsträger
nicht zu verlieren.

Die Ankündigung des Verkehrsministeriums, lärm-
abhängige Trassenpreise einzuführen, kommt einer un-
serer Forderungen nach. Das ist zu begrüßen. Hierdurch
kann ein Anreiz gesetzt werden, um in leisere Fahrzeuge
zu investieren. Dazu werden mit diesem Vorschlag ex-
terne Kosten internalisiert, und wir Grünen hoffen, dass
dies ein Anstoß für die dringend erforderliche weitere
Internalisierung externer Kosten ist. Viel zu oft muss die
Allgemeinheit für die Vorteile Weniger aufkommen. Wir
müssen uns insgesamt ehrlich machen und die Kosten,
die für die Umwelt – etwa durch den Verkehr – entste-
hen, auf die einzelnen Produkte übertragen. So können
wir klarer sehen, dass Transporte mit Autos nicht nur
Sprit und mit Bahnen nicht nur Strom kosten, sondern
dass darüberhinaus viel mehr Mittel durch die Allge-
meinheit aufgebracht werden. Nicht nur in Infrastruktur
muss investiert werden, auch wenn Kranke wieder ge-
sund werden sollen, wenn zerstörte Natur wieder herge-
stellt werden muss, kostet das sehr viel Geld. Deswegen
können lärmabhängige Trassenpreise für die Bahnen
nur ein erster Schritt sein, um Kostenwahrheit herzustel-
len. Auch bei der Straße müsste nachgezogen werden,
damit hier nicht ein Verkehrsträger – der noch dazu der
umweltfreundlichste ist – einseitig benachteiligt wird.

Neben den lärmabhängigen Trassenpreisen kommt es
jetzt jedoch zusätzlich darauf an, ein Gesamtpaket zu
schnüren; denn die Preise sind nur eine Stellschraube.
Auch der Schienenbonus – mit welchem man beim Bahn-
lärm vom tatsächlichen Schallpegel pauschal 5 Dezibel (A)

abzieht – muss nun endlich abgeschafft werden. Die An-
nahme, dass Bahnlärm weniger belastend ist als der an
Straßen, weil die Frequenzen deutlich geringer ausfal-
len, ist mittlerweile durch zahlreiche Studien widerlegt.
Hinzu kommt, dass auf vielen Strecken inzwischen so
viele Züge unterwegs sind, dass es kaum noch Lärmpau-
sen gibt. Auf diese Entwicklung müssen wir reagieren
und können die Koalition hier nur an ihre eigene Verein-
barung erinnern. Auch wenn wir wissen, dass vieles aus
dem Koalitionsvertrag – zum Glück – wohl nicht umge-
setzt wird, bei der Abschaffung des Schienenbonus ha-
ben Sie unsere Unterstützung. Darüber hinaus macht
unsere Fraktion jedoch noch weitere konkrete Vor-
schläge.

Setzen Sie jetzt auch das Bundesimmissionsschutzge-
setz konsequent um. Dann sind Schienenfahrzeuge end-
lich so zu betreiben, dass vermeidbare Emissionen ver-
hindert und unvermeidbare Emissionen – einschließlich
Lärm – auf ein Mindestmaß reduziert werden. Hierzu
gehört ebenfalls, dass Alternativtrassen für den Güter-
verkehr ernsthaft geprüft und in die Planung von Schie-
nenwegen einbezogen werden. Außerdem müsste das
Lärmsanierungsprogramm des Bundes aufgestockt wer-
den, damit die Sanierung bestehender Strecken beschleu-
nigt wird. Ergreifen Sie als Koalition und Regierung den
breiten gesellschaftlichen Konsens und setzen Sie end-
lich weitere Maßnahmen zum Lärmschutz um!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712033300

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6452 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes
zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes

– Drucksache 17/5515 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Petitionsausschuss

(A) (C)



(D)(B)


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1712033400

Wir beraten heute in erster Lesung den von der Bun-

desregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung
des Bundesvertriebenengesetzes. Es ist die mittlerweile
neunte Änderung des Bundesvertriebenengesetzes und
betrifft insbesondere die Spätaussiedler. Denn im Bun-
desvertriebenenrecht fehlt bisher eine konkrete Rege-
lung, die es beispielsweise dem Ehegatten oder Ab-
kömmling eines Spätaussiedlers ermöglicht, auch
nachträglich ins Bundesgebiet auszusiedeln, wenn ein
Härtefall vorliegt. Damit soll beispielsweise eine unver-
tretbare Familientrennung bei Spätaussiedlern vermie-
den werden.

Nehmen wir an, eine Spätaussiedlerin hat bereits ih-
ren ständigen Aufenthalt in Deutschland. Sie hat einen
Ehegatten oder Nachkommen, der im Aussiedlungsge-
biet verblieben ist und die sonstigen bereits bestehenden
Aufnahmevoraussetzungen erfüllt, die im Bundesvertrie-
benenrecht aufgeführt sind. Nach der vorgeschlagenen
Regelung könnte der Familienangehörige in solchen
Härtefällen ebenfalls nach Deutschland aussiedeln.

Ich begrüße die Bemühung der Bundesregierung, hier
für die Betroffenen Abhilfe zu schaffen, denn mittler-
weile leben rund 2,4 Millionen Spätaussiedler in
Deutschland, die unsere Gesellschaft bereichern. Für
den einen oder anderen unter ihnen wird diese Änderung
mehr als nur überfällig sein.

Darum sehen auch wir eine Änderung und Ergänzung
des § 27 als notwendig an. Denn damit vermeiden wir
das, was in der Vergangenheit bislang immer geschehen
ist, nämlich dass eine Aussiedlung nach Deutschland für
Spätaussiedler wiederholt zu einer nahezu unumgängli-
chen und fortdauernden Trennung von ihrer Familie ge-
führt hat. Wenn zurückbleibende Familienangehörige
sich zunächst dafür entschieden haben, im Aussied-
lungsgebiet zu verbleiben, gab es keine Chance, später
nachzufolgen. Ein späteres Zusammenkommen wurde
dadurch nahezu ausgeschlossen. Dies hat in dem einen
oder anderen Fall auch zu schlimmen menschlichen
Schicksalen geführt. Nehmen wir zum Beispiel ein in
Deutschland lebendes älteres Ehepaar, das aufgrund des
Alters und gesundheitlichen Zustandes unter einer Tren-
nung von ihren Kindern gravierend leidet. Bislang gab
es keine Chance, dass die Kinder oder Enkel folgen
konnten. Mit der vorliegenden Änderung wird es künftig
vereinfacht werden, dass diese Abkömmlinge im Härte-
fall mit in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers
einbezogen werden können und so auch noch später
nach Deutschland folgen können.

Gleichwohl denke ich, dass wir aber auch die Anmer-
kungen des Bundesrates mit in unsere anstehenden Be-
ratungen einfließen lassen sollten. Die Länder fordern
unisono bei der nachträgliche Einbeziehung eine zeitli-
che Befristung, um so Planungssicherheit zu erhalten.
Ich denke, darüber sollten wir noch einmal diskutieren.

Diskussionsbedarf sehe ich hierbei aber auch im Zu-
sammenhang mit den auch von Spätaussiedlern in An-
spruch genommenen Integrationskursen. Insbesondere
im Punkt Kosten für Integrationskurse und Spracher-
werb müssen wir hier dann auch nachbessern, sehr ge-
Zu Protokoll
ehrte Bundesregierung. Ich kann nur schlicht sagen, ich
bin überrascht, dass Sie hier keine weiteren Kosten er-
warten.

Sie rechnen mit einer Mindestzahl von 5 000 Härte-
fallanträgen. Dies wird sich natürlich auch auf die an-
gebotenen Integrationskurse auswirken, die im Übrigen
bereits jetzt schon unterfinanziert sind. Darum fordere
ich Sie hier auch konkret auf, mehr Geld für Integra-
tionskurse und Sprachkurse im Bundeshaushalt zur Ver-
fügung zu stellen. Alles andere wäre blauäugig und fa-
tal. Sorgen Sie dafür, dass die Menschen, die lernen
wollen, die sich integrieren wollen in unser Land, dazu
auch die Möglichkeit finden! Man kann nicht nur von
Verbesserung der Integration reden und sie von den
Menschen fordern, man muss dafür auch die entspre-
chenden Mittel und Wege zur Verfügung stellen. Das
wäre eine Zuwanderungspolitik mit Weitsicht, die ich
mir in anderen Bereichen wünschen würde.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1712033500

Der eine oder andere wird sich wahrscheinlich wun-

dern, dass wir heute dieses Thema auf der Tagesordnung
haben. Die meisten gehen sicherlich davon aus, dass es
für eine Novellierung mangels Betroffener doch heute
eigentlich keinen Bedarf mehr gibt. Große Ströme von
Aussiedlern haben wir heute sicherlich nicht mehr; das
ist richtig.

Aber dieses Kapitel der deutschen Nachkriegsge-
schichte ist noch immer nicht abgeschlossen. Noch im-
mer leben in Osteuropa und den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion Angehörige von anerkannten Spätaussied-
lern, die schon nach Deutschland ausgesiedelt sind.
Diese Familienmitglieder haben bei der Aussiedlung ih-
rer nächsten Angehörigen auf die Möglichkeit verzich-
tet, ihr Recht, mit auszusiedeln, wahrzunehmen. Die
Gründe für diesen Verzicht waren beziehungsweise sind
vielfältig. Einige wollten zum Bespiel bei ihren nicht
deutschstämmigen Ehepartnern bleiben. Andere ließen
aus Unkenntnis Fristen verstreichen und verwirkten so-
mit das Recht, auszusiedeln. Wieder andere Betroffene
wollten das ihnen vertraute Umfeld nicht verlassen. So
unterschiedlich diese Fälle sind, in allen Fällen ist ein
Teil der Familien im Aussiedlungsgebiet geblieben.

Wie sich herausgestellt hat, gibt es Konstellationen,
in denen die Betroffenen sich wünschen, dass die Fami-
lienteile wieder zusammengeführt werden. Die Gründe
hierfür sind so unterschiedlich wie bei dem Wunsch, zu-
nächst nicht mit auszusiedeln. Da gibt es das Problem,
über die weiten Entfernungen einen engen Kontakt zu
halten. Direkte Besuche in Deutschland sind aus visa-
rechtlichen Gründen nahezu unmöglich. Besuche in der
ehemaligen Heimat kommen in vielen Fällen wegen des
fortgeschrittenen Alters der in Deutschland lebenden
Angehörigen nicht in Betracht. Es gibt aber auch Fälle,
bei denen der – nicht deutschstämmige – Ehepartner im
Aussiedlungsgebiet verstorben ist und die nahen Ange-
hörigen nun in Deutschland leben. Da ohne den Ehe-
partner keine familiäre Bindung mehr im Aussiedlungs-
gebiet besteht, will man nun doch zur Familie nach
Deutschland aussiedeln. Oder aber die Angehörigen in



gegebene Reden

Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland sind alt und gebrechlich und sind auf Hilfe
angewiesen und wünschen sich von den Angehörigen,
gepflegt zu werden. Nach derzeitigem Recht ist die nach-
trägliche Einbeziehung in den Aussiedlungsbescheid
ausgeschlossen.

Sofern diese sehr unterschiedlichen Fallkonstellatio-
nen eine extreme Härte für die Betroffenen darstellen,
will die christlich-liberale Koalition durch die Novellie-
rung des Bundesvertriebenengesetzes hier für eine prag-
matische Lösung sorgen. Mit dem nun eingebrachten
Gesetzentwurf wird den Betroffenen nachträglich die
Möglichkeit eröffnet, in den Aussiedlungsbescheid auf-
genommen zu werden. Dies eröffnet dann die Möglich-
keit, ebenfalls nach Deutschland nachträglich auszusie-
deln und die Familie wieder zusammenzuführen.

Wie viele von der angestrebten Lösung Gebrauch ma-
chen werden, kann nicht genau gesagt werden. Bei Zu-
grundelegung verschiedener Indikatoren – bisher abge-
lehnte nachträgliche Einbeziehungsanträge, Petitionen
mit nachträglichem Einbeziehungsersuchen, in den Aus-
siedlungsgebieten verbliebene Abkömmlinge – ist mit
etwa 5 000 Härtefällen zu rechnen. Von diesen 5 000
Fällen werden wohl etwa 2 500 Fälle positiv für die Be-
troffen beschieden werden können.

Uns Liberalen ist das Schicksal der Spätaussiedler
nicht egal! Daher unterstützen wir den Gesetzentwurf
der Bundesregierung, um den betroffenen Familien in
ihrer schwierigen Situation zu helfen. Lassen Sie uns die
Sache schnell anpacken und sorgen wir für eine einfache
und pragmatische Lösung.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712033600

Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Bundesre-

gierung zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes.
Konkret geht es um den Nachzug von Familienangehöri-
gen zu den Spätaussiedlern, die bereits länger in der
Bundesrepublik leben.

Bislang erhalten Spätaussiedler einen Aufnahmebe-
scheid und können dann in die Bundesrepublik übersie-
deln. Im Aufnahmebescheid sind auch die einbezogenen
Angehörigen, also Eheleute und Nachkommen, genannt.
Bislang war ein Nachzug zu einem späteren Zeitpunkt
nicht möglich. Dies soll nun im Rahmen einer Härtefall-
regelung gelockert werden. Wird beispielsweise ein hier
lebender Spätaussiedler krank und ist auf die Hilfe sei-
ner Kinder angewiesen, kann das einen solchen Härte-
fall begründen. Die Kinder können dann nachträglich in
den Aufnahmebescheid aufgenommen werden, obwohl
sie ursprünglich in ihrem Herkunftsland bleiben woll-
ten.

Grundsätzlich ist diese Lockerung begrüßenswert.
Der Gesetzentwurf stellt auch klar, zumindest in seiner
Begründung, dass das Ermessen der Behörden in dieser
Frage recht großzügig ausgeübt werden soll. Dennoch
stellt sich die Frage, warum hier eine solche Härtefall-
regelung notwendig ist und nicht stattdessen der Fami-
liennachzug zu Spätaussiedlern ohne weitere Prüfung
und ohne Fristen zugelassen wird. In der Gesetzesbe-
gründung selbst ist davon die Rede, dass mit 5 000 An-
Zu Protokoll
trägen im Rahmen dieser Regelung zu rechnen ist. Dort
steht auch schon, dass die Hälfte davon abgelehnt wer-
den wird. Das ist doch unsinnig und kleinlich. Man
schafft eine Härtefallregelung für einen sehr überschau-
baren Kreis von Betroffenen, spricht aber gleich der
Hälfte dieser Menschen ab, die Härtefallkriterien zu er-
füllen. Insgesamt ist die Zuwanderung von sogenannten
Spätaussiedlern in den letzten Jahren stark zurückge-
gangen. Nach den Spitzenwerten zu Beginn der 90er-
Jahre mit über 200 000 Aussiedlern und Spätaussiedlern
pro Jahr sind es seit 2006 nur noch wenige Tausend, die
pro Jahr übersiedeln. Selbst bei einer großzügigen Re-
gelung werden sich die Zahlen also sehr in Grenzen hal-
ten.

Wie schon bei den Regelungen zum Familiennachzug
im Aufenthaltsgesetz kritisiert die Linke auch an diesem
Gesetz, dass der Zuzug vom Nachweis deutscher
Sprachkenntnisse abhängig gemacht wird. Das konter-
kariert im Übrigen auch noch einmal den Charakter der
Härtefallregelung. Denn davon soll nach der Gesetzes-
begründung beispielsweise auch der im Aussiedlungsge-
biet verbliebene Abkömmling übergesiedelter Spätaus-
siedler profitieren können, der hilfsbedürftig geworden
ist. Der müsste jetzt also unter extrem erschwerten Be-
dingungen zunächst Deutsch lernen, bevor er mit Aus-
sicht auf Erfolg das Verfahren zur Aufnahme in die Bun-
desrepublik betreiben kann.

Das Bundesvertriebenengesetz hat über Jahrzehnte
diejenigen ausländischen Staatsangehörigen bei der Zu-
wanderung nach Deutschland privilegiert, die nach Kri-
terien der blutsmäßigen Abstammung auf deutsche Vor-
fahren verweisen konnten. Damit sollte den Deutschen
eine Übersiedlung in die Bundesrepublik ermöglicht
werden, die in den sozialistischen Staaten Osteuropas
lebten. Nach 1990 wurde dieses Gesetz fortgeschrieben,
obwohl von einer Vertreibung der Deutschen nicht mehr
die Rede sein konnte. Es wäre also an der Zeit, grund-
sätzlich darüber nachzudenken, ob die Zuwanderung
dieser Gruppe weiterhin in einem speziellen Gesetz statt
im allgemeinen Aufenthaltsgesetz geregelt sein sollte.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712033700

Wir begrüßen die Initiative der Bundesregierung,

eine Härtefallregelung für Spätaussiedler beim Fami-
liennachzug einzuführen. Mit der neuen Härtefallrege-
lung soll es Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaus-
siedern ermöglicht werden, bei besonderen persönlichen
Belastungen nachträglich ihren Familienangehörigen
nach Deutschland zu folgen. In welchem Ausmaß die
Neuregelung die Situation für die Betroffenen verbes-
sern wird, muss sich noch zeigen. Insbesondere die wei-
terhin geforderten Deutschkenntnisse und die Ein-
schränkung, dass nur Umstände nach der Aussiedlung
berücksichtigt werden, könnten die Anwendung der Vor-
schrift erheblich einschränken. Wir Grüne haben eine
Härtefallregelung immer wieder befürwortet. Es ist er-
freulich, dass nun auch die Bundesregierung die große
Bedeutung des Familienzusammenlebens erkennt und
einsieht, dass das Einwanderungsrecht hierauf flexibel
eingehen muss.



gegebene Reden

Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

Im Petitionsausschuss haben uns in den letzen Jahren
eine Vielzahl von Petitionen erreicht, in denen Familien
ihr schweres Leid von ungewollten Trennungen vortru-
gen. Die starren und restriktiven Regelungen zum Fami-
liennachzug versperren insbesondere älteren Menschen
und Personen aus ländlichen Gebieten oder bildungsfer-
nen Schichten den Weg zu ihren Ehegatten in Deutsch-
land. Diese Petitionen betreffen aber nicht nur Spätaus-
siedler – auch in Deutschland lebende Ehegattinnen und
Ehegatten von Türken und Türkinnen, Argentiniern und
Argentinierinnen oder anderen Drittstaatsangehörigen
beklagen viel zu oft die Härten einer jahrelangen oder
dauerhaften Trennung, die das deutsche Einwande-
rungsrecht ihnen und vielen anderen Familien zumutet.

Eine spezielle Härtefallregelung nur zugunsten von
Spätaussiedlern zu schaffen, ist sachlich nicht begründ-
bar. Nach der Gesetzesbegründung ist das erklärte Ziel
der Neuregelung, Härtefälle zu vermeiden, die durch
dauerhafte Familientrennungen entstehen, und dadurch
die Integration von Spätaussiedlern in Deutschland wei-
ter zu fördern. Es gibt keinen Grund, warum dieses Ziel
nicht auch für andere binationale Familien gültig sein
soll. Auch unter Deutschen und Drittstaatsangehörigen
gibt es Familien, die durch die Trennung unzumutbar
belastet werden. Für diese Personen, denen es nicht ge-
lingt, die strengen Voraussetzungen für den Nachzug zu
erfüllen, muss das deutsche Recht auch eine Härtefallre-
gelung vorsehen. Wir fordern daher eine allgemeine
Härtefallregelung bei der Familienzusammenführung
im Aufenthaltsrecht.

Die spezielle Härtefallregelung im Bundesvertriebe-
nengesetz könnte insofern als Grundlage für eine allge-
meine Härtefallregelung dienen, als sie erfreulicher-
weise „nur“ eine „einfache Härte“ für den Familien-
nachzug voraussetzt. Das sollte auch bei einer allgemei-
nen Härtefallregelung beibehalten werden. Die im Auf-
enthaltsgesetz enthaltenen Sonderbestimmungen für
Härtefälle setzen bislang höhere Anforderungen an die
vorgebrachte Härte. Beim Kindernachzug wird etwa
eine „besondere Härte“ verlangt, beim Nachzug sonsti-
ger Familienangehöriger wird der Nachzug sogar nur
zur Vermeidung einer „außergewöhnlichen Härte“ ge-
stattet.

Eine Härtefallregelung für den Familiennachzug ist
dem deutschen Recht auch nicht ganz fremd. So enthielt
bereits das Ausländergesetz von 1990 eine Klausel, nach
der von dem Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung
abgesehen wurde, wenn aus der Ehe ein Kind hervorge-
gangen oder die Ehefrau schwanger ist.

Da die Bundesregierung uns mit dem heutigen Ge-
setzentwurf gezeigt hat, dass sie die Schutzbedürftigkeit
von Familien anerkennt, müsste der nächste Schritt,
nämlich eine allgemeine Härtefallregelung für den Fa-
miliennachzug im Aufenthaltsrecht, in greifbarer Nähe
sein. Alles andere dürfte im Hinblick auf das Grund- und
Menschenrecht auf Familienzusammenführung und
Partnerwahl sowie im Hinblick auf das Gleichheitsgebot
nur schwer zu begründen sein.

Schließlich wächst auch der Druck aus der Europäi-
schen Union für eine Reform des Familiennachzugs. Ge-
Zu Protokoll
rade erst hat die Kommission in einem Verfahren vor
dem EuGH über die Vereinbarkeit des niederländischen
Integrationstests im Ausland mit der Familienzusam-
menführungsrichtlinie erklärt, dass mangelnde Sprach-
kenntnisse nicht zu einer automatischen Sperre des
Nachzugs beim Familiennachzug der Kernfamilie führen
darf, die einen Nachzugsanspruch aus der Richtlinie ab-
leiten kann.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1712033800


Das Bundesvertriebenenrecht kennt seit 20 Jahren
das Instrument des gemeinsamen Aufnahmebescheides
für Spätaussiedler und ihre Abkömmlinge und Ehepart-
ner. Dieses Verfahren knüpft an die besonders bei den
Russlanddeutschen ausgeprägten Familienbindungen
an und ermöglicht ein gemeinsames Aufnahmeverfahren
der Familien. Im Zuge der mehrjährigen Praxis haben
sich jedoch auch Härtefälle eingestellt, die die Wohl-
fahrts- und Vertriebenenverbände ebenso wie den Peti-
tionsausschuss beschäftigt haben. Bis heute kommt es
immer wieder zu tragischen Fällen der Trennung von
Familien von Spätaussiedlern. Die Ursachen hierfür
sind vielfältig.

So können zum Ersten Angehörige, die sich zunächst
entschieden haben, im Herkunftsgebiet zu bleiben, zum
Beispiel weil dort noch ein Angehöriger zu versorgen
war, selbst nach schweren Schicksalsschlägen nicht
nachträglich aussiedeln. Das Gleiche gilt zum Zweiten
für Angehörige, die verschärfte Aufnahmevoraussetzun-
gen nicht erfüllten – zum Beispiel für Ehegatten und Ab-
kömmlinge, die nicht über Grundkenntnisse der deut-
schen Sprache verfügten, wie sie seit Inkrafttreten des
Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 für die Einbezie-
hung in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers
erforderlich sind. Selbst der nachträgliche Erwerb ent-
sprechender Deutschkenntnisse reicht nicht, wenn der
Volksdeutsche Angehörige bereits spätausgesiedelt ist.
Eine sachgerechte Lösung solcher Fälle ist auf der Basis
des geltenden Rechts nicht möglich, da das geltende Ver-
triebenenrecht keine nachträgliche Einbeziehung zu-
lässt. Nicht einmal in Härtefällen gibt das Bundesver-
triebenengesetz diese Möglichkeit.

So ist es zum Beispiel derzeit regelmäßig nicht mög-
lich, dass ein erwachsenes Kind eines Spätaussiedlers
– entgegen seinen früheren Plänen zum Zeitpunkt der
Aussiedlung der Eltern oder Großeltern – nach Deutsch-
land zu seinen hier lebenden Angehörigen übersiedelt.
Selbst nach tragischen familiären Entwicklungen und
Schicksalsschlägen können die Nachkommen gehindert
sein, zu ihren Eltern nach Deutschland zu ziehen. Eine
vertriebenenrechtliche Aufnahmemöglichkeit besteht
nicht einmal dann, wenn in Deutschland lebende Eltern
pflegebedürftig werden oder aufgrund ihres fortge-
schrittenen Alters gravierend unter der Trennung von ih-
ren engsten Familienangehörigen leiden. In solchen und
ähnlichen Härtefällen will die Bundesregierung den be-
troffenen Familien helfen.

Durch das Gesetz sollen tragische Härtefälle vermie-
den werden, die durch dauerhafte Familientrennungen



gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

entstehen. Ehegatten und Abkömmlingen von Spätaus-
siedlern, die sich zunächst bei deren Aussiedlung ent-
schieden hatten, im Aussiedlungsgebiet zu bleiben, soll
im Härtefall die nachträgliche Aussiedlung nach
Deutschland zu ihren Familienangehörigen ermöglicht
werden. Gleiches gilt im Härtefall für Ehegatten und
Abkömmlingen von Spätaussiedlern, die damals Aufnah-
mevoraussetzungen noch nicht erfüllten, diese aber jetzt
erfüllen – zum Beispiel weil sie zwischenzeitlich Grund-
kenntnisse der deutschen Sprache erworben haben.

Die geschilderten Beispiele zeigen: Die Ihnen vorlie-
gende Härtefallregelung ist geboten. Sie ist erstens maß-
voll. So bedeutet die nachträgliche Einbeziehung nicht
etwa den Verzicht auf die üblichen Voraussetzungen ei-
ner Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz.
Eine nachträgliche Einbeziehung kann vielmehr nur
dann erfolgen, wenn alle anderen Voraussetzungen, die
im Falle einer Einbeziehung vor Aussiedlung vorliegen
müssen, erfüllt sind. Damit sind auch weiterhin deutsche
Sprachkenntnisse erforderlich. Auch die Ausschluss-
gründe nach § 5 BVFG gelten ebenso uneingeschränkt,
was bedeutet, dass Personen, die ein Verbrechen began-
gen, den Terrorismus unterstützt oder sich gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet ha-
ben, nicht nachträglich in den Aufnahmebescheid des
hier lebenden Spätaussiedlers einbezogen werden kön-
nen,

Zum Zweiten ist die hier vorgestellte Härtefallrege-
lung sachgerecht: Der deutsche Verfassungsgeber hat
die Solidarität mit Vertriebenen, Flüchtlingen und deren
Ehegatten und Abkömmlingen in Art. 116 Abs. 1 des
Grundgesetzes verankert. Deutschland hat damit seine
dauerhafte historische Verantwortung gegenüber den
Menschen manifestiert, die als Deutsche in Osteuropa
und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehemaligen
Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges
gelitten haben. Dies gilt heute insbesondere noch für die
Deutschen in den Nachfolgestaaten der ehemaligen
Sowjetunion, bei denen das Kriegsfolgenschicksal am
längsten nachgewirkt hat.

Auch die Bundesländer befürworteten die Schaffung
einer neuen Härtefallregelung im Grundsatz. Sie haben
allerdings die Forderung erhoben, die Wirksamkeit der
nachträglichen Einbeziehung gesetzlich zu befristen.
Die Bundesregierung verschließt sich der Absicht der
Länder nicht, missbräuchliche Handhabungen und zeit-
lich unkalkulierbare Zuzüge von Familienangehörigen
zu unterbinden. Die Bundesregierung hält allerdings die
vorgeschlagene Lösung des automatischen Erlöschens
der nachträglichen Einbeziehung nach Ablauf von drei
Jahren für nicht sachgerecht. Es sind einerseits Fälle
denkbar, in denen bereits kurz nach Erteilung eines
nachträglichen Einbeziehungsbescheides kein Härtefall
mehr zu begründen ist. Andererseits sind auch Fälle
denkbar, in denen auch noch nach Ablauf von drei Jah-
ren weiterhin ein Härtefall vorliegt. Hier wollen wir dem
von den Ländern formulierten Anliegen durch unterge-
setzliche Regelungen Rechnung tragen, zum Beispiel
flexible Handhabung ermöglichen. Ich denke hier zum
Beispiel an eine Befristung des nachträglichen Einbe-
ziehungsbescheides mit der Möglichkeit für den Betrof-
fenen, seine spezielle Situation noch einmal darzulegen,
bevor der Einbeziehungsbescheid endgültig verfällt.

Zu guter Letzt: Die hier vorgestellte Härtefallrege-
lung hat keine unüberschaubare Welle neuer Spätaus-
siedlung zur Folge. Sie ist nicht Teil einer Zuwande-
rungspolitik; sie soll auch nicht als ein Teil davon
verstanden werden. Sie ist vielmehr Teil des bis in unsere
Tage fortreichenden Bemühens aller bisherigen Bundes-
regierungen, sich der Verantwortung Deutschlands im
Blick auf die Folgen des Nationalsozialismus und des
Zweiten Weltkrieges für die stärkst betroffenen deut-
schen Minderheiten zu stellen. Die Härtefallregelung
verdient daher unserer aller Unterstützung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712033900

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/5515 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Hände weg von der Initiative „JUGEND
STÄRKEN“

– Drucksache 17/6393 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1712034000

Mit dem vorliegenden Antrag kommt die Fraktion Die

Linke genau eine Woche zu spät. Bereits in der zurück-
liegenden Plenarwoche haben wir einen SPD-Antrag
debattiert, der nahezu identische Forderungen beinhal-
tete. Die Position meiner Fraktion hat sich seit der letz-
ten Woche nicht verändert. Es wäre sinnvoll und effektiv
gewesen, Sie hätten den Antrag zurückgezogen. Bereits
in den letzten Wochen haben wir festgestellt, dass die
Forderungen an den Tatsachen vorbeigehen. Daran hat
sich auch eine Woche später nichts geändert. Es ist da-
her nur konsequent, Ihnen das zu sagen, was ich bereits
zu dem Thema ausgeführt habe.

Mit der Initiative „Jugend Stärken“ hat das Ministe-
rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend seine
bereits bestehenden Programme für benachteiligte junge
Menschen und Jugendliche mit Migrationshintergrund
erheblich gebündelt und geschärft. Gleichzeitig ist es
gelungen, die bestehenden Programme besser aufeinan-
der abzustimmen und sie zum Teil erheblich auszubauen.
Die Initiative „Jugend stärken“ bündelt dabei die Pro-
gramme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“, die
„Kompetenzagenturen“, das Programm „Stärken vor
Ort“ sowie die Jugendmigrationsdienste.

Bundesweit bilden mehr als 1 000 Standorte der Ini-
tiative ein flächendeckendes Netzwerk an Angeboten

Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

und Strukturen. Mit den Programmen ist die Bundesre-
gierung neue Wege gegangen. Benachteiligte junge
Menschen, die bei ihrer Lebensplanung zu scheitern
drohen, erhalten mithilfe der Programme kompetent und
einfühlsam die Hilfe, die sie brauchen, um in ihrem All-
tag künftig besser zu bestehen. Einer der Schwerpunkte
liegt dabei unter anderem auf den Jugendmigrations-
diensten. Wir wollen damit junge Migrantinnen und
Migranten begleiten und sie bei der Integration in die
Gesellschaft unterstützen. Es hat sich dabei ein beacht-
liches Netzwerk gebildet, das jungen Migranten wirk-
sam und unbürokratisch weiterhilft. Dies ist ein voller
Erfolg.

Mit den Programmen werden junge Menschen dort
abgeholt, wo sie sind. Gerade die unbürokratische und
behutsame Herangehensweise stellt sicher, dass junge
Menschen die Angebote als ehrlich und auf Augenhöhe
empfinden. Dies ist der Schlüssel zur Akzeptanz bei den
Betroffenen und damit auch zum konkreten Erfolg der
Programme.

Einer der Schwerpunkte der Initiative ist dabei die
Aktivierung der Stärken junger Menschen. Nicht selten
geht es darum, bestehende Stärken zu wecken, sie förm-
lich wieder zu beleben und den Jugendlichen den Glau-
ben an sich selbst zurückzugeben. Dies gelingt nicht sel-
ten in beachtlicher Art und Weise. Gleichzeitig wird das
Umfeld der Betroffenen angeregt und dabei unterstützt,
sich für die Perspektiven junger Menschen aktiv einzu-
setzen. Und erfreulicherweise bedarf es dazu oft keiner
großen Überredungskunst. Der Punkt ist viel häufiger,
dass es einfach jemanden geben muss, der sein Umfeld
mitzieht und neue Impulse gibt.

Besonders erfreulich ist die geschickte Abstimmung
der Programme auf die tatsächlichen Bedürfnisse be-
nachteiligter Jugendlicher. Das Programm „Aktiv in der
Region“ zielt auf ein möglichst lückenloses Fördersys-
tem, um den Übergang von der Schule in das Berufsle-
ben, wo es leider häufiger Probleme gibt, zu vereinfa-
chen und gleichzeitig wichtige Starthilfe zu geben. Dies
geschieht auch in wohlverstandenem Interesse des Steu-
erzahlers. Denn ein geglückter Einstieg in das Berufsle-
ben kann helfen, hohe Kosten für den Sozialstaat zu spa-
ren.

Das Programm „Schulverweigerung – Die
2. Chance“ soll erreichen, dass junge Menschen, die
den Besuch der Schule verweigern, eine neue Perspek-
tive erhalten, mit dem Ziel, sie wieder in die Schulen ein-
gliedern zu können, damit sie einen Abschluss machen
können und ihre Chance auf ein beruflich erfolgreiches
Leben nicht frühzeitig aufgeben. Dies passiert nicht im
luftleeren Raum, sondern in enger Abstimmung mit El-
tern und Lehrkräften. Damit wird erreicht, dass die För-
dermaßnahmen auch tatsächlich auf den Bedarf jedes
Einzelnen abgestimmt sind.

Die Kompetenzagenturen hingegen unterstützen be-
sonders benachteiligte Jugendliche. Hierbei geht es
häufiger über die Frage hinaus, einen Beruf zu finden.
Häufig geht es darum, den Jugendlichen dabei zu helfen,
einen Weg in die Gesellschaft zurückzufinden. Gerade
Zu Protokoll
diejenigen, die vom bestehenden System der Hilfeange-
bote beim Übergang von der Schule in den Beruf nicht
mehr erreicht werden, erhalten hier engagierte und per-
sönliche Hilfe. Für den Einsatz möchte ich mich im Na-
men meiner Fraktion bei Ministerin Schröder herzlich
bedanken.

Es lohnt sich, noch einmal genau auf die Faktenlage
zu schauen: Im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens
der Programme „Kompetenzagenturen“ und „Schulver-
weigerung – Die 2. Chance“ hat das Familienministe-
rium Ende Mai entschieden, die bisher zur Verfügung
stehenden ESF-Mittel von 50 auf 80 Millionen Euro für
den Förderzeitraum September 2011 bis Ende 2013 zu
erhöhen und sämtliche 409 förderfähigen Träger, die
sich am Interessenbekundungsverfahren beteiligt haben,
zur Antragstellung zuzulassen. Damit erhalten von ins-
gesamt 430 Antragstellern nur 21 aus fachlichen, nicht
aus finanziellen Gründen eine Absage.

Die Antragsaufforderung erfolgte am 31. Mai 2011
durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftli-
che Aufgaben. Bis 1. Juli haben die Träger noch Zeit,
ihren Antrag einzureichen. Danach erfolgt das Bewilli-
gungsverfahren, sodass ab September mit einer nahtlo-
sen Weiterförderung zu rechnen ist. Niemand wird dabei
im Regen stehen gelassen.

Die zur Verfügung stehenden ESF-Mittel von 80 Mil-
lionen werden in einem gerechten Verfahren auf Grund-
lage der ESF-Anforderungen auf die Länder verteilt. Da
die zur Verfügung stehenden Fördermittel nicht ausrei-
chen, um die 409 förderfähigen Träger mit der im Inte-
ressenbekundungsverfahren angegebenen Fördersumme
zu fördern – durch die Träger wurden Mittel von mehr
als 100 Millionen Euro beantragt –, mussten die bean-
tragten Mittel teilweise gedeckelt werden, sofern die
Mittel für das Zielgebiet und das entsprechende Bundes-
land erschöpft waren. Dies ist nichts Unübliches, im Ge-
genteil, es ist Bestandteil eines üblichen Antragsverfah-
rens.

Sämtliche Interessenbekundungen für die ESF-Pro-
gramme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ wurden nach einem einheitli-
chen Bewertungsverfahren geprüft. Die fachlich-inhalt-
liche Bewertung erfolgte durch ein objektives Bewer-
tungsraster und wurde unabhängig von zwei Prüfern
durchgeführt. Die beiden Einzelbewertungen waren
Grundlage für die Gesamtbewertung. Die Deckelung
einzelner Träger ist nach der im Bewertungsverfahren
erreichten Punktzahl und somit nach der Qualität der
Interessenbekundungen erfolgt.

Voraussetzung für eine Förderung und somit Auffor-
derung zur Antragstellung war das Erreichen einer Min-
destpunktzahl. Förderwürdig waren insofern nur Inte-
ressenbekundungen, die mindestens 50 Prozent der
möglichen Punkte erreicht haben. Da es sich dabei um
Fördersummen im sechsstelligen Bereich handelt, ist es
ein Gebot der Verantwortung gegenüber den Steuerzah-
lern, eine maßvolle Vergabe von Steuermitteln zu prakti-
zieren, die sich auf Qualitätsstandards gründet und nicht
einfach wahllos Gelder mit der Gießkanne verteilt.



gegebene Reden

Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

Die Damen und Herren von der Linken greifen mit
der von ihnen gemachten Forderung nach Bereitstellung
von Mitteln in gleichbleibender Höhe wie in der Förder-
periode eindeutig zu kurz. Sie verkennen, dass es nicht
um eine Eins-zu-eins-Weiterförderung bestehender
Standorte geht, sondern die Programme mit neuer Akt-
zentsetzung ausgeschrieben wurden und eine Bewer-
bung der Träger erforderlich ist, die bestimmten Quali-
tätskriterien unterliegt. Wie gesagt: Erst wenn die
Qualität stimmt, wird ein Bescheid erteilt.

Aktuell werden die Programme „Schulverweigerung –
Die 2. Chance“ an 192 Standorten durch 173 Träger
und das Programm „Kompetenzagenturen“ an 204
Standorten durch 200 Träger – insgesamt 396 Standorte,
373 Träger – umgesetzt. Im Rahmen der neuen Aus-
schreibung wurden alle 409 förderfähigen Träger zur
Antragstellung aufgefordert, die insgesamt 408 Stand-
orte, also 208 „Kompetenzagenturen“ und 200 Koordi-
nierungsstellen der „2. Chance“ bedienen. Damit wer-
den ab September 2011 sowohl auf Trägerebene als auch
nach Standorten mehr Aktivitäten als in der aktuellen
Förderphase gefördert. Wenn Sie dann davon schwadro-
nieren, dass das Ende dieses Unterstützungsangebotes
eingeleitet werden würde, dann zeigt das, dass es Ihnen
um die Sache nicht geht, sondern vielmehr um das Be-
dienen von alten Klischees.

Ihre Forderung, eine Kofinanzierung aus dem SGB II/III
über den 1. Januar 2012 hinaus zu ermöglichen, liegt
neben der tatsächlichen Situation. Die Kofinanzierung
des Programms „Kompetenzagenturen“ aus SGB-II/III-
Mitteln ist ab dem 1. Januar 2012 nicht mehr möglich.
Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII obliegt – wie Sie
wissen – den Kommunen, die für die Umsetzung des
SGB VIII zuständig sind. Im Hinblick auf die ge-
wünschte Verstetigung des Angebots und zur Stärkung
der kommunalen Verantwortung sollen daher die erfor-
derlichen Kofinanzierungen in erster Linie aus kommu-
nalen Mitteln erbracht werden. Die nach einer Über-
gangszeit bis Ende 2011 auslaufende Möglichkeit der
20-prozentigen Kofinanzierung aus Mitteln des Zweiten
und Dritten Buches Sozialgesetzbuch trägt diesem An-
liegen Rechnung.

Zudem kann künftig ergänzend auch eine Kofinanzie-
rung aus dem Bundesprogramm der Jugendmigrations-
dienste erbracht werden. Jugendmigrationsdienste und
Kompetenzagenturen weisen sowohl hinsichtlich der
Zielgruppe als auch bei den angewendeten Instrumenten
und Arbeitsmethoden eine große Schnittmenge auf. Da-
her ist beabsichtigt, mit beiden Einrichtungen näher zu-
sammenzurücken. Ein erster Schritt zur Synergie ist die
mit der neuen Ausschreibung zugelassene Möglichkeit
der nationalen Kofinanzierung aus der Bundeszuwen-
dung der Jugendmigrationsdienste, mit der die Zusam-
menarbeit vor Ort positiv befördert werden soll.

Ihre Forderung, das Programm für die Träger zu-
künftig transparenter zu gestalten, deckt sich ebenfalls
nicht mit den Tatsachen. Vielmehr war es doch so, dass
die Träger im zweistufigen Ausschreibungsverfahren
laufend über die ESF-Regiestelle und das Bundesamt für
Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben informiert
Zu Protokoll
worden sind. Neben schriftlichen Informationen, die für
alle Träger relevant waren, bestand jederzeit die Mög-
lichkeit, auch telefonisch individuelle Beratung zu er-
halten. Die Länder wurden ebenfalls sowohl in die Mit-
telverteilung als auch in den Auswahlprozess der
Standorte mit einbezogen.

Wichtig für die Arbeit vor Ort ist daher in meinen Au-
gen ganz besonders die Botschaft, dass beide Pro-
gramme, also sowohl das Programm „Schulverweige-
rung – Die 2. Chance“ als auch das Programm
„Kompetenzagenturen“, in Zukunft weitergeführt wer-
den. Dies ist nicht zuletzt dem Erfolg und der Qualität
der Programme geschuldet, wofür der Bundesregierung
noch einmal ein herzlicher Dank gebührt.

Ein wichtiges Signal ist zudem, dass alle förderfähi-
gen Antragsteller bereits ihre Anträge erhalten haben.
Ich bin sicher, dass es gelingen wird, das flächende-
ckend aufgebaute Hilfesystem der Initiative „Jugend
stärken“ zu erhalten, und dies auf hohem Niveau. Diese
Bundesregierung hat sich die Förderung benachteiligter
Kinder in enger Partnerschaft mit den Kommunen zum
Ziel gemacht und wird diesen Weg konsequent weiter be-
schreiten. Ihr Antrag hingegen läuft den Entwicklungen
hinterher, ihre spekulativen Forderungen sind für die
Antragstellung zudem irrelevant und keinerlei Hilfe für
die Arbeit vor Ort. Ihren Antrag werden wir daher auch
ablehnen. Die christlich-liberale Regierung kümmert
sich stattdessen mit Hochdruck darum, dass alle Förder-
bescheide in den kommenden Wochen erteilt werden, da-
mit die Arbeit im September nahtlos fortgeführt werden
kann.


Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1712034100

Nachdem wir in der vergangenen Woche den Antrag

der SPD-Bundestagsfraktion zu den Programmen
„Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und „Kompe-
tenzagenturen“ beraten haben, beraten wir nun den An-
trag der Fraktion die Linke.

Insgesamt fünf Modellprogramme sind unter dem
Dach der Initiative „Jugend stärken“ beim Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(BMFSFJ) zusammengefasst. Ende 2010 gab das

BMFSFJ das Aus für das Programm „Stärken vor Ort“
bekannt. Für zwei weitere Programme „Schulverweige-
rung – Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ ver-
kündete es, dass diese im Jahr 2011 neu ausgeschrieben
werden sollen. Obwohl die Förderphase ursprünglich
bis ins Jahr 2013 geplant war.

Im Februar 2011 rückte das BMFSFJ dann mit einer
gravierenden Änderung heraus: Im Zuge der Neuaus-
schreibung sollten die Mittel aus dem Europäischen
Sozialfond (ESF) für die Programme „Schulverweige-
rung – Die 2. Chance“ und „Kompetenzagenturen“ um
die Hälfte gekürzt werden. Zusätzlich soll für das Pro-
gramm „Kompetenzagenturen“ die bis zu 20-prozentige
Kofinanzierung über den SGB-II- und SGB-III-Bereich
ab Januar 2012 entfallen.

In der letzten Maiwoche setzte die zuständige Minis-
terin Schröder nach vehementen Protesten der Träger-



gegebene Reden

Stefan Schwartze


(A) (C)



(D)(B)

organisationen kurzerhand die ESF-Mittel für die Pro-
gramme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und
„Kompetenzagenturen“ von 50 Millionen Euro auf
80 Millionen Euro hoch. Die SPD-Bundestagsfraktion
hat das aus einer Pressemitteilung des Ministeriums er-
fahren. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrück-
lich das Heraufsetzen der Fördersumme. Dennoch liegt
der jahresdurchschnittliche Fördermittelbetrag in der
neuen Programmphase von 2011 bis 2013 nur noch bei
34,29 Millionen Euro. Das ist eine Kürzung der Förde-
rung um über 13 Millionen Euro pro Jahr, beziehungs-
weise um 28 Prozent.

Die SPD-Bundestagsfraktion will, dass die Förder-
summe auf die bisherige Höhe von 112 Millionen Euro
aufgestockt wird. Für uns ist nicht nachvollziehbar, wa-
rum das BMFSFJ die ESF-Mittel an dieser Stelle um fast
ein Drittel kürzt.

Aktuell werden rund 40 000 junge Menschen bundes-
weit durch 192 Anlauf- und Beratungsstellen für das
Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ sowie
204 Kompetenzagenturen unterstützt. Es zeichnet sich
ab, dass Länder und Kommunen alleine die drohende
Finanzierungslücke nicht auffangen können. In der Kon-
sequenz bedeutet dies, dass durch die Kürzung der Mit-
tel entweder die Anzahl der Standorte oder die Qualität
der Arbeit vor Ort gefährdet ist.

Logisch zu begründen ist die Kürzung nicht. Beide
Programme werden vom BMFSFJ hochgelobt und ha-
ben eine außergewöhnlich hohe Erfolgsquote, weil es
sich um Programme der aufsuchenden Sozialarbeit han-
delt. 60 Prozent der Schulabbrecherinnen und Schulab-
brecher erreichen mit dem Programm „Schulverweige-
rung – Die 2. Chance“ einen Schulabschluss. Die
„Kompetenzagenturen“ bringen rund 70 Prozent der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Job oder Ausbil-
dung. Auch eine Änderung der Förderschwerpunkte in
der Europäischen Union betrifft diese Programme nicht.

Soweit ich dem Protokoll der 117. Sitzung entnehmen
kann, teilen alle Fraktionen im Deutschen Bundestag
die Auffassung, dass die Programme unter dem Dach
der Initiative „Jugend stärken“ außerordentlich erfolg-
reich sind. Die Menschen in den Trägerorganisationen
leisten hier eine außerordentlich wichtige und enga-
gierte Arbeit.

Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt die Kürzung für
die Programme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“
und „Kompetenzagenturen“ ab. Sie fordert, ESF-Mittel
in Höhe von mindestens 112 Millionen Euro zur Verfü-
gung zu stellen. Außerdem fordert die SPD-Bundestags-
fraktion, eine 20-prozentige Kofinanzierung beim Pro-
gramm „Kompetenzagenturen“ auch über den 1. Januar
2012 hinaus zu ermöglichen.

Ich möchte an dieser Stelle auf einige Behauptungen
von Schwarz-Gelb eingehen. Es ist falsch, wenn behaup-
tet wird, die Programme seien ohnehin nur bis 2011 ge-
laufen. Richtig ist, dass die ESF-Förderperiode bis 2013
reicht und dass die Trägerorganisationen stets davon
ausgingen, beide Programme würden bis 2013 laufen.
So wurden die Programme auch ursprünglich ausge-
Zu Protokoll
schrieben. Schon die Neuausschreibung der Programme
hatte die Trägerorganisationen misstrauisch gemacht,
sodass sie sich an uns gewandt haben. Wir haben da-
raufhin eine Kleine Anfrage gestellt und mit der Antwort
erste wichtige Informationen erhalten.

Es ist weiterhin falsch, zu behaupten, es würden alle
Standorte erhalten bleiben. Wir haben bereits erste Infor-
mationen, wonach sich Kompetenzagenturen nicht mehr
am Antragsverfahren beteiligen werden, weil sie die Ko-
finanzierung nicht hinbekommen. Hier ging es insbeson-
dere um die wegfallenden Mittel aus der SGB-II-
Kofinanzierung.

Auch die Eröffnung der Kofinanzierung über die Ju-
gendmigrationsdienste ist kein geeigneter Weg. Es bleibt
ohnehin bei einer Kürzung; denn die Mittel, die aus den
Jugendmigrationsdiensten für Kompetenzagenturen ent-
zogen werden, fehlen dann bei den Jugendmigrations-
diensten.

Der vorgelegte Antrag der Fraktion die Linke enthält
viele Forderungen der SPD-Bundestagsfraktion. In ei-
nem Punkt geht er aber deutlich weiter, nämlich in dem
Verlagen, diese Programme dauerhaft im Kinder- und
Jugendhilfeplan des Bundes zu verstetigen.

Darüber werden wir im Ausschuss zu beraten haben.
Wir werden beide Anträge gemeinsam nach der Som-
merpause beraten. Vielleicht gibt es bis dahin positive
Neuigkeiten von den Koalitionsfraktionen. Bei ESF-Mit-
teln bleibt stets die Hoffnung, dass Mittel umgeschichtet
werden könnten. Es wäre begrüßenswert, wenn nicht ab-
gerufene Mittel in diese wichtigen Programme fließen.
Aber noch wichtiger wäre die Ermöglichung der Ko-
finanzierung im SGB II und SGB III über den 31. De-
zember 2011 hinaus.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1712034200

Seit 2009 fördert das BMFSFJ gezielt junge Men-

schen, die auf ihrem Weg durch Schule und Berufsaus-
bildung in Schwierigkeiten geraten sind. In der Initiative
„Jugend stärken“ bündelt das Ministerium die fünf Teil-
programme „Jugend stärken: Aktiv in der Region“,
„Schulverweigerung – Die 2. Chance“, „Kompetenz-
agenturen“, „Stärken vor Ort“ sowie die „Jugendmi-
grationsdienste“. Diese Teilprogramme richten sich ge-
zielt an solche Jugendliche, die von regulären Hilfsan-
geboten in Schule oder Jobcenter nur noch unzu-
reichend oder gar nicht mehr erreicht werden.

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke be-
zieht sich in erster Linie auf die beiden Teilprogramme
„Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und „Stärken vor
Ort“. Das Programm für Schulverweigerer unterstützt
junge Menschen bei der Reintegration in einen geregel-
ten Schulalltag und gibt ihnen so eine zweite Chance auf
einen Schulabschluss. „Stärken vor Ort“ setzt daneben
voll auf das Prinzip der Subsidiarität in der Jugendför-
derung, indem es Mikroprojekte zur ganzheitlichen – das
heißt schulischen, sozialen und beruflichen – Integra-
tion bezuschusst.

Den Programmen der Initiative „Jugend stärken“
wurde in der jüngeren Vergangenheit große – vor allem



gegebene Reden

Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

auch mediale – Aufmerksamkeit gewidmet. Leider resul-
tierte diese Aufmerksamkeit nicht aus dem Erfolg der
Programme. Erfolgreich waren sie allesamt, und ich
hätte mir sehr gewünscht, dass dieser Erfolg auch ein-
mal angemessen in der Öffentlichkeit honoriert wird.
Doch dem war nicht so. Aufmerksamkeit erfuhr die Ini-
tiative „Jugend stärken“ erst, als manche Vertreter der
Opposition und der Medien offenbar völlig überra-
schend die Nachricht ereilte, dass die Programme wie
geplant im August 2011 auslaufen sollten. Das muss ei-
nige wirklich völlig unerwartet getroffen haben. Dabei
hilft es einem als Jugendpolitiker an der ein oder ande-
ren Stelle durchaus weiter, sich mit den Förderplänen
des Ministeriums auseinanderzusetzen. Da Sie dies aber
offenbar nicht getan haben, möchte ich Ihnen gerne auf
die Sprünge helfen:

Die Programme der Initiative „Jugend stärken“ wer-
den bis auf die Jugendmigrationsdienste vollständig aus
Mitteln des Europäischen Sozialfonds, ESF, finanziert.
Sie waren von Anfang an bis zum Sommer 2011 ange-
legt, und das war allen Beteiligten auch lange bekannt.
Es kann also gar keine Mittelkürzungen seitens der Bun-
desregierung oder des BMFSFJ gegeben haben, wie von
ihnen behauptet, weil sich an der Höhe der ESF-Mittel
rein gar nichts verändert hat. Die Mittel aus dem Euro-
päischen Sozialfonds sind für mehrere Jahre fest verein-
bart worden. Ist das Geld aufgebraucht, kommt auch
keines mehr nach. Danach ist der Topf leer.

Nichtsdestotrotz hat sich meine Fraktion schon zu ei-
nem Zeitpunkt für eine Anschlussfinanzierung einge-
setzt, als andere noch fleißig Pressemitteilungen ver-
schickt haben. Entsprechende Gespräche zwischen den
Koalitionsfraktionen und den beteiligten Ministerien
fanden über Wochen hinweg statt. Dass uns dabei eine
Fortführung der Programme gelungen ist, ist ein toller
Erfolg, aber die Programme können nur deshalb fortge-
führt werden, weil ursprünglich nicht vorgesehene
Rückflüsse von ESF-Mitteln hierfür aufgewendet wer-
den.

Auch wenn Sie davon nichts mitbekommen haben
wollen, so hätten Sie spätestens am 31. Mai auf der Web-
site des BMFSFJ erfahren können, dass alle Teilpro-
gramme der Initiative „Jugend stärken“ bis 2013 ver-
längert werden. Vor diesem Hintergrund, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen der Linken, kommt Ihr Antrag ge-
nauso zu spät wie der Antrag Ihrer Kollegen von der
SPD in der letzten Woche. Es stellt sich bei mir unwei-
gerlich das Bild ein, dass es Ihnen weniger um die Pro-
gramme an sich geht als vielmehr um ein letztes biss-
chen Aufmerksamkeit. Denn wenn es Ihnen tatsächlich
um die Programme geht und Sie in Ihrem Antrag for-
dern, dass die Finanzierung in mindestens gleichblei-
bender Höhe gewährleistet bleiben soll, dann hoffe ich
auch sehr, dass Sie im Rahmen der Ausschussberatung
die Gegenfinanzierung Ihrer Forderungen einmal aus-
führlich präsentieren. Bis zum heutigen Tage haben Sie
aber leider in keinem einzigen Politikfeld mit konstrukti-
ven Finanzierungsvorschlägen glänzen können.
Zu Protokoll

Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712034300

Die Bundesregierung plant Kürzungen im Bereich

der Initiative „Jugend stärken“. Diese Initiative unter-
stützt Jugendliche beim Übergang von Schule und Aus-
bildung in den Beruf oder hilft schulfremd gewordenen
Jugendlichen zurück in den Schulalltag. Die beiden Teil-
programme „Schulverweigerung – Die zweite Chance“
und „Kompetenzagenturen“ sollen nun ab September
mit nur noch einem Teil der Fördersumme auskommen.
Das Teilprogramm „Stärken vor Ort“ wird ganz gestri-
chen.

Weshalb streicht die Bundesregierung ihr eigenes,
sehr erfolgreiches Programm zur Unterstützung Jugend-
licher derart zusammen? Besteht kein Interesse mehr an
der Förderung benachteiligter Jugendlicher? Durch die
Kürzungen wird sich die Lage an den Standorten um
rund 28 Prozent verschlechtern. Es gibt weniger Perso-
nal bei gleichbleibender Belastung. Wie soll da die Qua-
lität aufrechterhalten werden? Was wird aus dem ange-
strebten Netzwerk von 1 000 Standorten, das ab 2013
aus Mitteln des Bundes und des ESF entstehen sollte?
Bei andauernder Unterfinanzierung wird auch dies wohl
nicht verwirklicht werden können. Angesichts der Kür-
zungen wird die ohnehin schon komplizierte Kofinanzie-
rung der Stellen weiter erschwert. Es ist keine Rede
mehr davon, die Schnittstellenprobleme in der Jugend-
hilfe abzubauen, wie es im Koalitionsvertrag der regie-
renden Parteien heißt.

Bisher werden fast 40 000 Jugendliche individuell
und zielgenau durch die Initiative „Jugend stärken“ be-
gleitet. Sie werden auf Augenhöhe angesprochen, sie be-
kommen ihre eigenen Stärken gespiegelt, und ihr Umfeld
wird aktiviert. Zusätzlich sprechen die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der rund 400 Standorte der Programme
„Kompetenzagenturen“ und „Schulverweigerung – Die
zweite Chance“ mit den Jugendämtern, Schulen, Betrie-
ben, Jobcentern und Arbeitsagenturen. Sie entwickeln
einen Integrationsplan, und entwickeln mit den Jugend-
lichen Strategien, damit Probleme in der Familie oder in
der Schule erst gar nicht mehr auftreten, damit die Ju-
gendlichen einmal ein Leben ohne Transferleistungen
gestalten können, ganz individuell. Die Arbeit muss ge-
tan werden, will man den erfolgreichen Kurs weiterge-
hen.

Was macht also ein Jugendlicher in Zukunft, woh-
nungslos, ohne Schulabschluss? Was würde passieren,
wenn die Programme nicht mehr ausreichend ausgestat-
tet sind? Es gibt niemanden mehr, der ihm hilft, den Weg
zu finden, seine Probleme kennt und hilft, sie zu lösen.
Dieser Jugendliche wäre ohne eine konkrete Anlauf-
stelle wieder sich selbst überlassen. „Jugend stärken“
ist im Ganzen eine erfolgreiche Initiative, und ich bin
überrascht, dass die Ministerin sich nicht mit mehr
Verve für seinen Erhalt einsetzt.

Wie hat die Bundesregierung informiert? Sie hat die
Kürzungen als Ausgabensteigerung verkauft, ein X für
ein U vorgemacht. Erst nach Protesten der Sozialver-
bände wie zum Beispiel dem Kooperationsverbund Ju-
gendsozialarbeit, erst nachdem die Oppositionsparteien
– und insbesondere Die Linke – nachgehakt haben, wur-



gegebene Reden

Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)

den in der letzten Maiwoche die Mittel von 50 Millionen
Euro auf 80 Millionen Euro aufgestockt. Dadurch wurde
das Ende des Teilprogrammes „Stärken vor Ort“ besie-
gelt, ebenso von 200 Programmstandorten, wie der Ko-
operationsverbund Jugendsozialarbeit schätzt.

Es reicht eben nicht, darauf zu verweisen, dass es nur
ein unwahrscheinliches Glück gewesen sei, dass Mittel
aus dem ESF zurückgeflossen sind. Denn wenn es um
die Lebenschancen Jugendlicher geht, wenn es darum
geht, ihnen den Zugang zu Bildung und Arbeit zu ermög-
lichen, dann müssen wir das möglich machen. Das heißt,
sich dafür zu entscheiden, Mittel einzustellen, die recht-
lichen Voraussetzungen zu schaffen und das Programm
„Jugend stärken“ auch in Zukunft im vollen Umfang
fortzuführen. Letztlich konterkariert die Bundesregie-
rung ihre eigene Maßgabe, benachteiligte junge Men-
schen zu stärken. Sie gibt sie verloren, und das auf
Dauer. Die Kürzungen stehen im Widerspruch zu den ju-
gendpolitischen, arbeitsmarktpolitischen und bildungs-
politischen Zielen der Bundesregierung. Man kann sich
nur wundern, dass Sie das Ruder aus der Hand geben.

Nun zu unseren Forderungen. Wir sind nicht die Ein-
zigen, die den Erhalt der Initiative „Jugend stärken“
fordern. Wir möchten allerdings mehr als SPD, Grüne,
CDU/CSU und FDP. Wir wollen, dass das Programm im
vollen Umfang erhalten bleibt und verstetigt wird.

Es sind vier einfache Punkte, die unserer Ansicht
nach notwendig sind: Erstens. Die Finanzierung der Ini-
tiative „Jugend stärken“ muss sichergestellt werden,
und zwar in gleichbleibender Höhe wie in der letzten
Förderperiode. Zweitens. Die Kofinanzierung der Pro-
gramme durch Jobcenter und Agenturen für Arbeit muss
über den gesamten Förderzeitraum bis Ende 2013 wei-
terhin möglich sein. Drittens. Die Finanzierung der Pro-
gramme muss dauerhaft über den Etat des Bundesminis-
teriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
gesichert werden. Viertens. Die Programme der Initia-
tive „Jugend stärken“ müssen transparent gestaltet wer-
den. Sie müssen über Mittelherkunft, Mittelhöhe, Verga-
bekriterien und Mittelverwendung eindeutig informieren
und Trägern wie Betroffenen einen Überblick über die
Unterstützungsangebote bieten.

Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir stehen für eine
eigenständige Jugendpolitik, eine starke Jugendhilfe
und eine starke Jugendarbeit, die junge Menschen teil-
haben lässt und ihre Potenziale fördert und ausbaut. Wir
wollen Jugendliche beim Übergang von Ausbildung in
den Beruf besser unterstützen. Wir betonen die zentrale
Bedeutung der kulturellen Kinder- und Jugendbildung
für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Men-
schen. Es gilt die neuen Möglichkeiten im Schnittfeld Ju-
gend, Kultur und Schule zu nutzen und qualitativ und
quantitativ auszubauen.“ Das kann man unterschrei-
ben! Doch bitte fangen Sie endlich an, danach zu han-
deln! Sie sind in der Verantwortung dafür, dass jeder
junge Mensch mit ganzer Kraft dahin gehend gefördert
wird, dass ihm die bestmöglichen Chancen für sein zu-
künftiges Leben bereitgestellt werden.
Zu Protokoll

Till Seiler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712034400

Wir erleben derzeit, wie sich die soziale Kluft in

Deutschland immer weiter vertieft. Dies gilt gerade für
die junge Generation: einer gut ausgebildeten Gruppe
junger Menschen, die vor dem Hintergrund der aktuel-
len positiven wirtschaftlichen Entwicklung hervorra-
gende Berufsperspektiven hat, steht eine benachteiligte
Gruppe gegenüber. Viele dieser jungen Menschen sind
in den Arbeitsmarkt nicht integriert, sodass der Weg in
die Langzeitarbeitslosigkeit vorgezeichnet ist. Nach ei-
ner Studie der Bertelsmann-Stiftung betrifft dies 17 Pro-
zent der Jugendlichen. Sie befinden sich in nutzlosen
Warteschleifen, die zu selten individuelle Defizite der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer beheben, und haben
keine wirkliche Chance auf die Integration in den Ar-
beitsmarkt.

Vor diesem Hintergrund kommt der Initiative „Ju-
gend stärken“ eine besondere Bedeutung zu. Hier ist es
mit Erfolg gelungen, junge Menschen auf ihrem Weg zu
ihrem Schulabschluss und bei ihrem Übergang in den
Beruf zu unterstützen.

Verschiedene Sozial- und Jugendverbände haben vor
Kürzungen des Programms zu Recht gewarnt und darauf
hingewiesen, dass viele der dringend förderbedürftigen
jungen Menschen demnächst ohne Hilfe und Unterstüt-
zung bleiben und auch die in den letzten Jahren entstan-
den Netzwerkstrukturen für die Förderung junger Men-
schen in den Regionen geschwächt werden. Und um es
noch einmal zu betonen: Hier geht es gerade um die
Gruppe von Jugendlichen, für die Verlässlichkeit und
Kontinuität am Wichtigsten sind.

Die Bundesregierung schreibt sich im Koalitionsver-
trag auf die Fahnen, dass vor Ort Bildungsbündnisse al-
ler relevanten Akteure – Kinder- und Jugendhilfe, Eltern,
Schulen, Arbeitsförderung sowie Zivilgesellschaft – ge-
fördert werden sollen. Und mehr noch: Alle Jugend-
lichen sollen dabei unterstützt werden, einen Schulab-
schluss zu erreichen und eine Ausbildungsstätte zu
finden. Die Koalitionspartnerinnen, so heißt es, stünden
für eine eigenständige Jugendpolitik und eine starke Ju-
gendhilfe. Denn: Junge Menschen sollen teilhaben kön-
nen und ihre Potentiale müssen gefördert und ausgebaut
werden. Leider stehen diese Ankündigungen nur auf dem
Papier, das konkrete Handeln der Bundesregierung
weist eher in die andere Richtung. Natürlich muss ver-
stärkt und präventiv in die frühe Bildung und den Ele-
mentarbereich investiert werden, aber doch nicht zulas-
ten der jetzt unterstützungsbedürftigen Jugendlichen.

Vor dem Hintergrund der Europa-2020-Strategie ist
im Rahmen der Nationalen Qualifizierungsinitiative die
Verringerung der Zahl der Schulabbrecherinnen und
Schulabbrecher von 8 auf 4 Prozent bis 2012 das er-
klärte Ziel. Davon ist die Bundesrepublik mit einem Pro-
zentsatz von 7,5 Prozent zurzeit weit entfernt. Dieser
Missstand bei den Abbrecherquoten bewirkt, dass ein er-
heblicher Teil der Jugendlichen von der gesellschaft-
lichen Teilhabe ausgeschlossen ist. Auch wirtschaftlich
ist dieser Umstand angesichts des steigenden Bedarfs an
gut ausgebildeten Fachkräften schädlich.



gegebene Reden





Till Seiler


(A) (C)



(D)(B)

Es ist unverantwortlich, dass die Bundesregierung
nicht bereit ist, „Jugend stärken“ als wichtiges Unter-
stützungsangebot für junge Menschen in wenigstens
gleichbleibendem Umfang weiterzuführen und ausge-
rechnet in diesem Bereich kürzen will. Dies gilt insbe-
sondere, wenn zu gleicher Zeit über die Möglichkeit von
Steuersenkungen schwadroniert wird.

Wir können daher den Antrag der Linken unterstüt-
zen, wonach die Finanzierung der Initiative „Jugend
stärken“ in mindestens gleichbleibender Höhe gewähr-
leistet werden muss.

Wir fordern die Regierung auf, ihre Politik der Ein-
sparungen im Sozialbereich zu beenden und angemessen
auf sozialpolitische Herausforderungen zu reagieren.
Wir stehen auf der Seite der benachteiligten Jugendli-
chen und wehren uns entschieden gegen die Pläne der
Bundesregierung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712034500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6393 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Übereinkommens vom
11. Oktober 1985 zur Errichtung der Multila-
teralen Investitions-Garantie-Agentur

– Drucksache 17/5263 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (19. Ausschuss)


– Drucksache 17/6231 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Dr. Barbara Hendricks
Joachim Günther (Plauen)

Niema Movassat
Ute Koczy


Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1712034600

Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur,

MIGA, wurde als jüngste Tochter der Weltbankgruppe
durch das Übereinkommen vom 11. Oktober 1985 ge-
gründet. Ihre Aufgabe ist es, ausländische Direktinvesti-
tionen in Schwellen- und Entwicklungsländern gegen
politische Risiken wie Enteignung, Krieg, Devisentrans-
ferbeschränkungen sowie Vertragsbruch seitens der Re-
gierung des Investitionsstandortes abzusichern. Sie ist
damit ein sehr wichtiges Förderinstrument der wirt-
schaftlichen Zusammenarbeit.

Eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung be-
ginnt, wenn die Wirtschaft investiert, und wir haben ent-
wicklungspolitisch erfolgreich gearbeitet, wenn eine Re-
gion für Investoren interessant wird. Trotzdem bleiben
für Investoren abschreckende Risiken, die durch die
MIGA abgefedert werden sollen.

Es ist ein selbstverständlicher Vorgang, nach einer
gewissen Zeit die Wirksamkeit der geschaffenen Instru-
mente zu überprüfen und an veränderte Bedingungen
bzw. Bedürfnisse anzupassen. So muss auf praktische
Erfahrungen reagiert werden, wenn man erfolgreich
bleiben oder noch erfolgreicher werden will.

Im Übereinkommen von 1985, das Deutschland un-
terzeichnet hat, ist geregelt, mit welchem Verfahren das
Übereinkommen angepasst werden kann. Für die Ände-
rung des Austrittsrechts oder der Haftung eines Mit-
glieds müssen alle Gouverneure zustimmen, für alle an-
deren Änderungen sind drei Fünftel der Gouverneure
mit vier Fünftel der Gesamtstimmenzahl erforderlich.

Durch die Entschließung des Gouverneursrats der
Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur vom 30. Juli
2010 wird das MIGA-Übereinkommen erstmals substan-
ziell verändert. Die Entschließung ändert nicht das
Kernmandat und es ändert nicht die Haftung der Mit-
gliedstaaten. Ziel der Änderungen ist vielmehr die
Anpassung an aktuelle Marktentwicklungen und die
Möglichkeit, effizienter ihr Entwicklungsmandat zu ver-
folgen. Dies erlaubt auch eine effektive Unterstützung
von Anpassungsmaßnahmen, zum Beispiel beim Klima-
wandel in Entwicklungsländern. Das trägt zu einer
nachhaltigen Entwicklung bei.

Mit deutscher Zustimmung und der erforderlichen
Mehrheit wurde das Gründungsübereinkommen geän-
dert. Ermöglicht wurde nun die Abdeckung von alleinste-
henden Darlehen – stand alone debt –, die Ausdehnung
des Verfahrens zur Registrierung von Investoren – inves-
tor registration –, die Ausdehnung des Anwendungsbe-
reiches zur Risikoabdeckung von bestehenden Investitio-
nen – coverage for existing assets – und die Abschaffung
der gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gast-
land zur Autorisierung der Risikoabdeckung.

Bisher war es so, dass die Agentur nur Darlehen ab-
sichern konnte, wenn auch die Beteiligung eines Inves-
tors abgedeckt war. Nun sollen auch isolierte Bankdar-
lehen versichert werden können. Dies ist eine Anpassung
an die internationale Praxis. Damit werden Banken in
Zukunft schneller in der Lage sein, Darlehen für interes-
sante Vorhaben in Entwicklungs- und Schwellenländern
zu mobilisieren.

Mit der Anpassung des Verfahrens zur Registrierung
von Investoren wird eine weitere Erleichterung einge-
führt. Bislang war es so, dass Investitionen über die
MIGA nur versichert werden konnten, wenn ein Antrag
auf Absicherung von Leistungserbringung vorlag. Dies
ist ein komplexes und zeitaufwendiges Verfahren, weil
oftmals die Absicherung erst im Zusammenhang mit der
Finanzierung diskutiert wird. Die angestrebte Verände-
rung stellt eine große Vereinfachung dar und öffnet die
MIGA für neue Investoren, Banken und Unternehmen,
weil nun gewährleistet wird, dass Entscheidungen
schneller stattfinden werden.

Mit der Änderung des Übereinkommens können jetzt
unter gewissen Bedingungen bestehende Investitionen

Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)

einbezogen werden. Dies ist insbesondere dann sinnvoll,
wenn mit der Investition Modernisierungen oder Erwei-
terungen verbunden sind. Damit wird das Übereinkom-
men marktgerecht fortentwickelt. Derzeit liegt die
durchschnittliche Dauer eines Prüfverfahrens eines
durch MIGA geförderten Projektes bei etwa zwölf Mo-
naten. Die MIGA prüft in den Einzelfällen, welche Kon-
sequenzen die Übernahme der Deckung bei Bestands-
investitionen hat. Die Abschaffung der gemeinsamen
Antragstellung von Investor und Gastland zur Autorisie-
rung der Risikoabdeckung ist ausgesprochen sinnfällig.

MIGA möchte gerade auf dem afrikanischen Konti-
nent Investitionen fördern und ist deshalb eine einzigar-
tige Partnerschaft mit der African Development Corpo-
ration, ADC, eingegangen, um dabei behilflich zu sein,
dass Investitionen in die kleinen und mittleren Unter-
nehmen Afrikas weiter gestärkt werden.

Der Präsident der ADC, Dirk Harbecke, zeigt sich in
Bezug auf Afrika als Investitionsstandort optimistisch:
„Wir sehen Subsahara-Afrika als einen der größten
Wachstumsmärkte an. Es gibt einen schnell wachsenden
Mittelstand und eine erhöhte Nachfrage nach neuen
Produkten. Einige Technologien, wie zum Beispiel Mo-
biltelefonbanking, waren zuerst in Afrika verbreitet und
wurden dann in andere Regionen exportiert.“

ADC ist ein Geschäftsentwicklungsunternehmen, das
auf Private Equity für Investitionen in Subsahara-Afrika
mit einem Schwerpunkt auf Bankgeschäften, IT, Finan-
zen, Dienstleistungsbranchen und Immobilien baut. Das
Unternehmen wandte sich an MIGA, um die Unterstüt-
zung der Agentur in Bezug auf die Beschaffung von Mit-
teln für verschiedene geplante Investitionen in Anspruch
zu nehmen.

ADC und MIGA haben einen „Rahmenvertrag“ ge-
schlossen. Dieser Vertrag ermöglicht MIGA, politische
Risikodeckung für bis zu 20 der von ADC geplanten In-
vestitionen bereitzustellen – bis zu einer Gesamtsumme
von 150 Millionen US-Dollar. Die meisten der abge-
deckten Investitionen fallen voraussichtlich unter das
kleine Investitionsprogramm von MIGA – dies bedeutet,
dass die Deckung unter 10 Millionen US-Dollar pro
Projekt betragen wird. Die abgedeckten Risiken sind
Transferbeschränkungen, Enteignung, Krieg und Unru-
hen. Jedes Projekt, für das MIGA das Risiko übernom-
men hat, wird überprüft, um sicherzustellen, dass die Ri-
sikoübernahmestandards einschließlich ökologischer
und sozialer Aspekte eingehalten werden. Und sie wer-
den auf der MIGA-Webseite veröffentlicht.

„MIGA ist ein sehr wichtiger Partner für uns“, so
Dirk Harbecke. „Als Teil der Weltbankgruppe verfügt
MIGA über viel mehr Einflussmöglichkeiten und Kennt-
nisse über Afrika als andere private oder staatliche Ver-
sicherer. In der Regel ist es so, dass jedes Gastland von
uns über die Investitionen informiert wird und eine ent-
sprechende Befürwortung für die Deckungsübernahme
des Vorhabens abgeben muss.“

Die beschlossenen Änderungen des Übereinkommens
können also mit Fug und Recht als Fortentwicklung an-
gesehen werden. Sie werden bereits seit 2010 angewen-
Zu Protokoll
det, obwohl der Bundestag nach der geltenden Rechts-
lage noch seine Zustimmung geben muss.

Nach dem Vorschlag der Bundesregierung sollen
künftige Änderungen des MIGA-Übereinkommens nach
Art. 59 und Art. 60 per Rechtsverordnung durch den
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung in deutsches Recht umgesetzt werden kön-
nen. Dies halten die Koalitionsfraktionen für eine sinn-
volle Vereinfachung, insbesondere durch im Überein-
kommen vorgesehene Mehrheitsentscheidung und der
auf 90 Tage beschränkten Zeit bis zum Inkrafttreten.

Um keinen Zweifel an der erforderlichen und auch ge-
wünschten Parlamentsbeteiligung zu lassen, haben die
Koalitionsfraktionen in einem Änderungsantrag klarge-
stellt, dass nicht alle Änderungen des Übereinkommens
unter die Ermächtigung fallen sollen, per Rechtsverord-
nung in deutsches Recht umgesetzt zu werden. Das sind
die Veränderungen, bei denen die Zustimmung aller
Gouverneure bzw. die Zustimmung des deutschen Gou-
verneurs aufgrund der möglichen Auswirkungen für
Deutschland im Übereinkommen ohnehin vorgesehen ist.
Dazu zählen zum Beispiel die Haftungsveränderungen.

Mit dem Änderungsantrag wird sichergestellt, dass
die Bundesregierung das Parlament von geplanten Än-
derungen vorher informiert und eine Meinungsäußerung
der Parlamentarier einbezogen werden kann. Zusam-
men mit dem Änderungsantrag sollte eine Zustimmung
zum vorgeschlagenen Gesetz der Bundesregierung auch
für die Oppositionsfraktionen möglich sein.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1712034700

Die Bundesregierung hat drei Gesetzentwürfe vorge-

legt, aufgrund derer jeweils Änderungen von völker-
rechtlichen Verträgen gebilligt werden sollen und mit
denen außerdem der Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ermächtigt werden
soll, künftige Änderungen dieser völkerrechtlichen
Übereinkommen durch Rechtsverordnung in Kraft zu
setzen.

Die Gesetzentwürfe betreffen zum einen das Überein-
kommen zur Errichtung der Multilateralen Investitions-
Garantie-Agentur, MIGA, die Teil der Weltbankgruppe
ist und an der Deutschland mit einem Stimmrechtsanteil
von 4,47 Prozent beteiligt ist, zum anderen das Überein-
kommen zur Errichtung der Afrikanischen Entwick-
lungsbank sowie das Übereinkommen über die Errich-
tung des Afrikanischen Entwicklungsfonds.

Die SPD-Fraktion hat gegen alle drei Gesetzentwürfe
inhaltliche und verfassungsrechtliche Bedenken, die
auch nicht durch die von den Koalitionsfraktionen ein-
gebrachten Änderungsanträge ausgeräumt werden
konnten. Deshalb wird die SPD-Fraktion die Gesetzent-
würfe ablehnen. Lassen Sie mich das hinsichtlich des
nun zur Abstimmung stehenden MIGA-Abkommens be-
gründen.

Zunächst begrüßen wir außerordentlich, dass die
Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen auf
unsere Bedenken eingegangen sind und nach einer An-
hörung am 10. Mai die vorliegenden Änderungsanträge



gegebene Reden

Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

gestellt haben. Dies ist doch ein bemerkenswerter Vor-
gang; denn es passiert nicht alle Tage, dass ein Gesetz-
entwurf der Bundesregierung im Hinblick auf seine
Verfassungsgemäßheit von der eigenen Parlaments-
mehrheit geändert werden muss.

Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur,
MIGA, soll als Mitglied der Weltbankgruppe ausländi-
sche Direktinvestitionen in Entwicklungsländern för-
dern, indem sie Garantien gegen nichtkommerzielle Ri-
siken und Investitionsberatung für Entwicklungsländer
anbietet. Der Gouverneursrat der MIGA hat mit deut-
scher Zustimmung das Gründungsübereinkommen geän-
dert, unter anderem für die Abdeckung von alleinstehen-
den Darlehen, Stand Alone Debt, die Ausdehnung des
Verfahrens zur Registrierung von Investoren, Investor
Registration, die Ausdehnung des Anwendungsbereichs
zur Risikoabdeckung von bestehenden Investitionen,
Coverage for Existing Assets, und die Abschaffung der
gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gastland
zur Autorisierung der Risikoabdeckung.

Diese Änderungen stellen Vereinfachungen dar, die zu
einer Beschleunigung und Erweiterung der Antragsver-
fahren führen sollen. Ohne Zweifel ist das im Sinne der
Investoren und der Versicherungsagentur, die in einem
Umfeld zunehmender Investitionstätigkeit in Entwick-
lungs- und Schwellenländern durchaus ein Eigeninte-
resse an ihrer Marktfähigkeit hat.

Da bei ausländischen Direktinvestitionen über die
MIGA lediglich das politische Risiko versichert wird
und der Anlagestaat als eigentlicher Garant der politi-
schen Stabilität nun in bestimmten Fällen als Mitantrag-
steller wegfällt, wird damit allerdings gleichzeitig ein
„eingebauter Risikominimierer“ aufgegeben. Das woll-
ten auch die Experten nicht uneingeschränkt begrüßen.
Im Gesamtergebnis haben die Sachverständigen die
Auswirkungen dieser Vereinfachungen im Hinblick auf
die Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung in den
Gastländern jedoch positiv bewertet. Eine Projektprü-
fung hinsichtlich der Sustainability and Social Stan-
dards der International Finance Corporation, IFC, wird
vorgenommen.

Wir kritisieren aber, dass bessere und weitergehende
umwelt- und menschenrechtliche Standards bei der Pro-
jektprüfung nicht in ausreichendem Umfang herangezo-
gen werden. Auch die begleitende oder nachträgliche
Projektevaluation ist ein großer Schwachpunkt. Nicht
zuletzt durch die Tätigkeit der Extracting Industries
Transparency Initiative, EITI, wissen wir, dass die ent-
wicklungspolitische Dimension von Investitionen zum
Beispiel bei der Gewinnung von Rohstoffen nicht endet,
sondern deren weitere Wertschöpfungskette sowie die
Gewinnverteilung umfassen muss. Mit anderen Worten:
Wir haben Bedenken, dass über dem Bestreben nach
Vereinfachung und Beschleunigung der entwicklungs-
politische Auftrag in den Hintergrund tritt. Es kann
nicht sein, dass die entscheidende Schwachstelle bei
Weltbank und MIGA, nämlich die Projektevaluation,
noch weiter verschlechtert wird. Die Zivilgesellschaft
kann das nicht über nachträgliche Beschwerden beim
Zu Protokoll
Ombudsmann ausgleichen; denn dann ist das Kind oft
schon in den Brunnen gefallen.

Ich möchte mich aber nun im Folgenden auf unsere
verfassungsrechtlichen Bedenken konzentrieren. Nach
Art. 59 Abs. 2 GG bedürfen Verträge, welche die politi-
schen Beziehungen des Bundes mit dem Ausland regeln
oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung be-
ziehen, der Zustimmung der jeweils für die Bundesge-
setzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines
Bundesgesetzes.

Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung haben wir daher eine Anhörung für
den Gesetzentwurf zur Multilateralen Investitions-
Garantie-Agentur durchgeführt mit Fragestellungen zu
den inhaltlichen Änderungen und Kompetenzerweite-
rungen der MIGA und zur zukünftigen Inkraftsetzung
durch Rechtsverordnung. Die Anhörung haben wir be-
antragt, da die Gesetzentwürfe ohne Debatte im verein-
fachten Verfahren überwiesen und schon in der folgen-
den Sitzungswoche nach der Ausschussberatung in
zweiter/dritter Lesung ohne Debatte im vereinfachten
Verfahren verabschiedet werden sollten. Der Ausschuss
sollte das erste Mal vor dieser abschließenden Lesung
dreißig Minuten mit Debatte unterrichtet werden.

Wir haben ebenfalls den Wissenschaftlichen Dienst
um die Erstellung eines verfassungsrechtlichen Gutach-
tens zu folgender Fragestellung gebeten: „Ermächti-
gung der Exekutive zur Änderung völkerrechtlicher Ver-
träge mittels Rechtsverordnung – Möglichkeiten und
Grenzen nach Art. 59 Abs. 2 GG“. Der Wissenschaftli-
che Dienst stellt darin eindeutig fest: „Nach der Verord-
nungsermächtigung in Art. 2 des Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Übereinkommens vom 11. Oktober
1985 zur Errichtung der Multilateralen Investitions-Ga-
rantie-Agentur müssen Änderungen sich allein „im Rah-
men der Ziele des Übereinkommens halten“ und dürfen
„nicht Art. 47 des Übereinkommens betreffen“. Die Än-
derungsklausel des MIGA-Übereinkommens in Art. 59
des MIGA-Übereinkommens selbst ist inhaltlich unbe-
grenzt. Die Verordnungsermächtigung begründet da-
durch eine nahezu unbegrenzte dynamische Verweisung
auf die Änderungsbefugnis des Gouverneursrats in
Art. 59 und 60 des MIGA-Übereinkommens. Damit
dürfte die Verordnungsermächtigung nicht den verfas-
sungsrechtlichen Erfordernissen genügen, sind doch we-
der Inhalt noch Ausmaß der Verordnungsermächtigung
näher bestimmt. Allein die Zweckrichtung ist konturiert.
Dies genügt aber gerade vor dem Hintergrund der um-
fassenden Änderungsermächtigung des Gouverneurs-
rats wohl nicht den Bestimmtheitsanforderungen.

Zudem fehlt es an einem Ausschluss von Regelungs-
bereichen, die dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen
und einer Regelung per Rechtsverordnung nicht zugäng-
lich sind, beispielsweise im Falle von Haushaltsbelas-
tungen oder des Eingriffs in bestehende gesetzliche
Rechte und Pflichten Einzelner.

Im Ergebnis dürfte die Verordnungsermächtigung in
Art. 2 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Übereinkommens vom 11. Oktober 1985 zur Errichtung
der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur den



gegebene Reden

Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht
genügen.

Auch der zu unserer Anhörung am 10. Mai eingeladene
Verfassungsrechtler Professor Dr. Ulrich Fastenrath
kommt in seiner schriftlichen Stellungnahme zu einem
vergleichbaren Schluss. Ich möchte bei diesem doch
recht komplexen Thema nicht unscharf werden. Deshalb
erlaube ich mir an dieser Stelle, auch Herrn Professor
Fastenrath ausführlich zu zitieren: „Die in Art. 2 des
Entwurfs des Vertragsgesetzes enthaltene Verordnungs-
ermächtigung für künftige Änderungen des MIGA-Über-
einkommens begegnet verfassungsrechtlichen Beden-
ken. Sie ist positiv lediglich dadurch eingegrenzt, dass
sie nur für Änderungen des MIGA-Übereinkommens im
Rahmen der in dessen Art. 2 recht weit formulierten
Ziele gilt, und negativ dadurch, dass Änderungen des

(steuerliche Freistellung der MIGA und ihrer Geschäfte)

mächtigung ausgenommen sind. Damit ist lediglich der
Zweck der Verordnungsermächtigung hinreichend klar
bestimmt, nämlich das innerstaatliche Inkraftsetzen von
Vertragsänderungen zu erleichtern. Inhalt und Ausmaß
der Verordnungsermächtigung bleiben aber offen, da die
Änderungsklausel des MIGA-Übereinkommens inhalt-
lich unbegrenzt ist. Damit liegen schon nach Punkt 2.3
[der Richtlinien des BMJ für die Fassung von Vertrags-
texten und vertragsbezogenen Verordnungen] RiVeVo
die Voraussetzungen für eine Verordnungsermächtigung
nicht vor. Ausgeschlossen ist zudem nicht, dass künftige
Änderungen des MIGA-Übereinkommens zu überjähri-
gen oder über die Ansätze des laufenden Haushaltsjah-
res hinausgehenden Finanzierungs- und Garantiever-
pflichtungen führen, die nur auf formell-gesetzlicher
Grundlage eingegangen werden dürfen. Auch können
sonstige Gesetze von künftigen Änderungen des MIGA-
Übereinkommens betroffen sein, ohne dass die vom Bun-
desverfassungsgericht (E 8, 155, 171) gesetzten Grenzen
für gesetzesändernde Rechtsverordnungen vorliegen
[…]. Wenn die Verordnungsermächtigung beibehalten
werden soll, müsste sie weiter begrenzt werden etwa in
dem Sinne, dass sie Vertragsänderungen nicht erfasst,
durch die finanzielle Verpflichtungen Deutschlands er-
höht werden oder in bestehende gesetzliche Rechte und
Pflichten Einzelner eingegriffen wird.“

Diese Ergebnisse sind auch auf die beiden den Afri-
kanischen Entwicklungsfonds und die Afrikanische Ent-
wicklungsbank bezogenen Gesetzentwürfe übertragbar.

Sowohl die Anhörung als auch das inzwischen vorlie-
gende Gutachten haben somit unsere Bedenken nicht
ausräumen können. Die Mehrheitsfraktionen im Aus-
schuss haben aufgrund der in der Anhörung geäußerten
verfassungsrechtlichen Bedenken den Passus der
Rechtsverordnung geändert und einen neuen Artikel mit
der Verpflichtung, das Parlament rechtzeitig zu infor-
mieren, eingefügt. Doch reichen diese Ergänzungen aus
unserer Sicht nicht aus, um Einfluss auf die Änderung
internationaler Übereinkommen zu nehmen. Gerade die
im Ausschuss streitig debattierten inhaltlichen Änderun-
gen und Kompetenzerweiterungen, wie in den vorliegen-
den Fällen geschehen, werden durch die veränderte
Gesetzesfassung des MIGA-Übereinkommens nicht ge-
Zu Protokoll
deckt. Daher begrüßt die SPD-Fraktion zwar die einge-
brachten Ergänzungen zur Beteiligung des Parlaments.
Wir wenden aber ein, dass diese nicht ausreichen, da
hierin nur Art. 47 des Übereinkommens angesprochen
werde und nicht Art. 60, gemäß dem jedoch die inhaltli-
chen Änderungen im Übereinkommen vom Gouver-
neursrat beschlossen werden.

Uns ist bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht
in einem frühen Urteil vom 29. Juli 1952 ausgeführt hat,
dass die Zustimmung nach Art. 59 Abs. 2 GG nur durch
förmliches Gesetz vorgenommen werden kann. Dennoch
hatte es in den vergangenen Jahrzehnten Fälle gegeben,
bei denen die Zustimmung zu Änderungen von völker-
rechtlichen Verträgen per Rechtsverordnung vorgesehen
war.

Es geht uns darum, die Rechte des Parlamentes um-
fassend zu sichern. Die Wahrung der Rechte des Parla-
ments ist eine Aufgabe aller Abgeordneten. Das schließt
auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktio-
nen von CDU/CSU und FDP, mit ein.

Um unseren Standpunkt zu unterstreichen, haben wir
auch für die beiden weiteren erwähnten Gesetzentwürfe
die Mitberatung durch den Rechtsausschuss beantragt.
Die in der Begründung der Bundesregierung für die
Rechtsverordnung angegebene zeitliche Belastung des
Parlaments dürfte bei rechtzeitiger und guter inhaltli-
cher Informationspraxis nicht zutreffen; denn ein infor-
miertes Parlament kann schnelle Entscheidungen tref-
fen.

Hierzu möchte ich unkommentiert eine Aussage unse-
res Bundestagspräsidenten zitieren. Bereits im Novem-
ber sagte Herr Professor Lammert dem Spiegel: „Es
schadet dem Ansehen des Parlaments, wenn der Ein-
druck entsteht, als folgten wir vermeintlichen oder tat-
sächlichen Vorgaben, statt selbstständig zu urteilen und
zu entscheiden.“


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1712034800

Bei der Multilateralen Investitions-Garantie-Agentur,

MIGA, handelt es sich um das kleinste Tochterunterneh-
men der Weltbank. Die MIGA sichert privatwirtschaftli-
che Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellen-
ländern durch Garantien gegen nichtkommerzielle
Risiken ab, wie zum Beispiel Devisentransferbeschrän-
kungen, Vertragsbruch seitens der Regierung des Inves-
titionsstandortes, Krieg und zivile Unruhen oder Enteig-
nung. Sie bietet zudem Dienstleistungen im technischen
Bereich sowie Investitionsberatung an, um Aktivitäten
der Investitionsförderung zu unterstützen.

Deutschland ist Gründungsmitglied der MIGA, mit
rund 5 Prozent am gezeichneten Kapital beteiligt und
hat einen Stimmrechtsanteil von 4,19 Prozent. 2009 wur-
den Garantieverträge für 26 Vorhaben mit einem
Gesamtumfang von 1,4 Milliarden US-Dollar abge-
schlossen, die hauptsächlich auf Süd-Süd-Investitionen
basieren.

Seit Mitte der 80er-Jahre hat es keine Veränderung
im Aktionsradius der MIGA gegeben. Um flexibler und
marktgerecht agieren zu können, hat die MIGA ihr



gegebene Reden

Joachim Günther (Plauen)



(A) (C)



(D)(B)

Gründungsabkommen geändert und kann damit durch
Entbürokratisierung ihren entwicklungspolitischen Tä-
tigkeitsbereich ausweiten. Die Änderungen traten unter
Zustimmung des deutschen Gouverneurs Bundesminis-
ter Niebel am 28. Oktober 2010 in Kraft und sind damit
völkerrechtlich wirksam.

Die Entschließung des Gouverneursrats der MIGA
ändert nicht das Kernmandat der MIGA, ausländische
Direktinvestitionen in Schwellen- und Entwicklungslän-
dern zu fördern. Ziel ist vielmehr die Anpassung an
aktuelle Marktentwicklungen und eine effizientere Ver-
folgung des Entwicklungsmandates in Verbindung mit
Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel in den
Entwicklungsländern.

Die Änderungen des Gründungsabkommens beziehen
sich insbesondere auf die Abdeckung von alleinstehen-
den Darlehen, die Ausdehnung des Verfahrens zur Re-
gistrierung von Investoren, die Ausdehnung des Anwen-
dungsbereichs zur Risikoabdeckung von bestehenden
Investitionen und die Abschaffung der Voraussetzung ei-
ner gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gast-
land zur Autorisierung der Abdeckung von spezifischen,
nicht kommerziellen Risiken.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung hat in Deutschland das Ge-
setzgebungsverfahren eingeleitet, um die Änderungen in
deutsches Recht umzusetzen. Der Gesetzentwurf wurde
im Ressortkreis – Zustimmung von AA, BMI, BMJ, BMF
und BMWi – abgestimmt; die Zustimmung des Kabinetts
erfolgte im Januar 2011.

Im Rahmen der parlamentarischen Befassung hat die
Opposition eine öffentliche Anhörung zur Ausgestaltung
des Gesetzentwurfes im federführenden Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bean-
tragt. Begründet wurde dieser Schritt neben Fragen zur
entwicklungspolitischen Sinnhaftigkeit mit der Sorge,
dass der Gesetzentwurf die Beteiligungsrechte des Par-
laments gefährdet. Die entwicklungspolitischen Implika-
tionen des Gesetzentwurfes stießen bei den beteiligten
Experten auf vollständige Zustimmung.

Der Sachverständige Herr Wietstock von Pricewater-
houseCoopers begrüßte die geplante Absicherung von
alleinstehenden Darlehen zur Finanzierung spezieller
förderungswürdiger Vorhaben. Die MIGA passe sich
hier nur einer internationalen Praxis der Investitions-
versicherer an. Es seien ausschließlich positive Auswir-
kungen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer zu
erwarten. Von der Abschaffung der Voraussetzung einer
gemeinsamen Antragstellung von Investor und Gastland
zur Autorisierung der Absicherung nichtkommerzieller
Risiken verspreche er sich eine Vereinfachung des Ver-
fahrens. Auch der Sachverständige Herr Vitinius von der
Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft,
DEG, begrüßte die beschlossenen Änderungen uneinge-
schränkt, da in der Vergangenheit viele Investoren den
Weg zur MIGA wegen des langwierigen, bürokratischen
und zu teuren Verfahrens gescheut hätten. Auch die um-
strittene Nichtinvolvierung des Gastlandes in die An-
tragstellung beantwortete er positiv, da dies in der
Zu Protokoll
Vergangenheit zu massiven Verzögerungen bei der Inde-
ckungnahme geführt habe und damit letztlich zum Schei-
tern vieler Projekte. Da die MIGA im Unterschied zu
Hermes oder anderen Exportförderinstrumenten keine
kommerziellen Risiken versichere, sondern politische
Risiken prüfe, würden im Prüfungsverfahren nicht nur
Aspekte der wirtschaftlichen Plausibilität, sondern
schwerpunktmäßig auch Aspekte der entwicklungspoliti-
schen Sinnhaftigkeit berücksichtigt.

Allerdings äußerte der geladene Experte Professor
Dr. Fastenrath von der Technischen Universität Dresden
Bedenken gegenüber der verfassungsrechtlichen Ausge-
staltung des Gesetzentwurfes, da die im Entwurf inte-
grierte Verordnungsermächtigung zu weit gefasst sei
und einer Einschränkung bedürfe. Auf Grundlage dieser
Rechtsauffassung haben wir uns in den Koalitionsfrak-
tionen darauf verständigt, die infrage stehende Verord-
nungsermächtigung per Änderungsantrag geringfügig
anzupassen.

Ich möchte für die FDP-Bundestagsfraktion unter-
streichen, dass die in der Anhörung aufgekommenen Be-
denken, die Beteiligungsrechte des Parlamentes könnten
gefährdet sein, mit dem vorliegenden Änderungsvertrag
vollständig ausgeräumt werden. Das Bundesministe-
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung wird verpflichtet, über jede geplante Änderung des
Übereinkommens im Bundestag rechtzeitig zu unterrich-
ten. Das Parlament wird im rechtlich notwendigen Maße
beteiligt. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Ge-
setzentwurf zu.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712034900

Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur

MIGA sichert in Ergänzung bestehender Investitions-
schutzabkommen privatwirtschaftliche Direktinvestitio-
nen aus Industrieländern in Entwicklungsländern durch
Bürgschaften gegen nicht kommerzielle Risiken wie
etwa Vertragsbruch, Krieg oder Enteignung ab. 2009
wurden Garantieverträge für 26 Vorhaben mit einem
Gesamtumfang von 1,4 Milliarden US-Dollar abge-
schlossen. Die MIGA berät außerdem Regierungen im
Süden bei der Förderung ausländischer Investitionen.
Die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur als Teil
der Weltbank-Gruppe muss bei der Absicherung privat-
wirtschaftlicher Direktinvestitionen menschen- und ar-
beitsrechtliche, umwelt- und sozialpolitische Standards
berücksichtigen. Eigentlich sollten die abgesicherten
Projekte diese Bereiche sogar fördern. Jedoch wurde in
den letzten Jahren von Nichtregierungsorganisationen
häufig kritisiert, dass die von der Investitions-Garantie-
Agentur abgesicherten Projekte oftmals keine entwick-
lungsförderliche Wirkung entfaltet oder sogar Mensch-
rechts- und Umweltstandards missachtet hätten. Der be-
kannteste Fall ist in diesem Zusammenhang sicher der
einer Nickelmine in Indonesien, die von der französi-
schen Gesellschaft Eramet und dem japanischen Kon-
zern Mitsubishi betrieben wird. MIGA hat hier Garan-
tien in Höhe von 207 Millionen Dollar übernommen,
obwohl es zur Zerstörung tropischer Wälder und der
Vertreibungen indigener Gruppen gekommen ist.



gegebene Reden

Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland ist Gründungsmitglied der MIGA, hält
einen Kapitalanteil von 5 Prozent und einen Stimm-
rechtsanteil von 4,2 Prozent und ist damit durchaus in
der Lage, sich innerhalb der Agentur Gehör zu verschaf-
fen. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich
dafür einzusetzen, dass die Einhaltung von Menschen-
rechtsstandards durch die begünstigten Unternehmen
verbindlich und sanktionierbar wird. Konkreten Sank-
tionen gegen Unternehmen müssen möglich sein, wenn
sie Menschenrechte, Umwelt- oder Sozialstandards ver-
letzen.

Grundsätzlich tritt die Linke für eine andere Investi-
tionspolitik ein: dafür, dass die OECD-Leitlinien ver-
bindlichen Charakter bekommen, für ein alternatives
entwicklungsförderliches Investitionsrahmenabkommen
und für den Aufbau eines internationalen Investitions-
regimes für zukunftsfähige Entwicklung im Rahmen der
Vereinten Nationen.

Laut Gesetzentwurf sollen künftige Änderungen am
Übereinkommen zum Multilateralen Investitions-Ga-
rantie-Agentur-Übereinkommen per Rechtsverordnung
durch den Bundesminister für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung in deutsches Recht, also
ohne Bundestag und Bundesrat, umgesetzt werden.
Diese Einschränkung der parlamentarischen Mitwir-
kungsrechte zugunsten der Exekutive lehnt die Linke
ganz klar ab. Eine schlichte Unterrichtung des Bundes-
tags über künftige Änderungen per Rechtsverordnung
halten wir für zu wenig. Änderungen am Übereinkom-
men müssen auch künftig im Parlament ratifiziert wer-
den.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712035000

Als Teil der Weltbank versichert die Multilaterale In-

vestitions-Garantie-Agentur, MIGA, privatwirtschaftli-
che Direktinvestitionen in Schwellen- und Entwicklungs-
ländern gegen politische Risiken wie Enteignung, Krieg
oder Vertragsbruch seitens der Partnerregierung.

Die Agentur ist vor der Übernahme einer Investi-
tionsschutzgarantie verpflichtet zu prüfen, welchen Bei-
trag die Investition zur Entwicklung des Gastlandes leis-
tet und ob diese mit den Entwicklungszielen des Landes
vereinbar ist. Wem die Entwicklung des Landes durch
die Übernahme von Garantien dient, ist im Einzelfall zu
klären. So hat MIGA beispielsweise im Juli 2010 eine
Garantie über 207 Millionen US-Dollar für den franzö-
sisch-japanischen Konzern Strand Minerals für eine
Nickelmine in Weda Bay, Indonesien, übernommen.

Die indonesische Nichtregierungsorganisation
WALHI hat daraufhin Beschwerde beim Ombudsmann
von MIGA eingelegt, da Vertreibungen indigener Grup-
pen, Zerstörung des tropischen Regenwalds und Konta-
minierung des Wassers durch das Vorhaben drohten. Die
von MIGA im Vorfeld durchgeführte Umweltverträglich-
keitsprüfung hatte diese gewichtigen sozialen, ökologi-
schen und politischen Risiken aber gar nicht berücksich-
tigt.

Doch gelten auch für MIGA die IFC-Standards der
Weltbanktochter International Finance Corporation.
Zu Protokoll
Diese stehen jedoch in der Kritik, da sie unter anderem
menschenrechtliche Defizite aufweisen. Sie werden zur-
zeit überarbeitet, was sie eigentlich auch dringend nötig
haben.

Änderungen des MIGA-Übereinkommens sehen nun
eine Ausweitung der Schutzgarantien für Investoren vor.
Aus unserer Sicht muss ein besserer Schutz für Investo-
ren vor allem einhergehen mit dem besseren Schutz der
lokalen Bevölkerung vor möglichen negativen Auswir-
kungen, wie beispielsweise Landverlust oder Umwelt-
verschmutzung.

Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Im Gou-
verneursrat der Weltbank wurden Änderungen des
Gründungsübereinkommens von MIGA vorgenommen,
welche die Bundesregierung mitgetragen hat. Gegen die
inhaltlichen Statutenänderungen der Übereinkommen
bestehen aus unserer Sicht mehrere Einwände. Die Aus-
weitung der Garantiezusagen soll künftig auch rückwir-
kend möglich sein. Durch eine neue Klausel können
theoretisch auch Dinge nachträglich versichert werden,
die keine genuine Weltbankförderung bekommen hätten.

Die Evaluationsmaßnahmen von MIGA sind bislang
unzureichend, da nur circa 3 Prozent der Vorhaben
überhaupt überprüft werden. Dies lässt differenzierte
Erkenntnisse über die Arbeit von MIGA gar nicht zu. In
diesem Bereich muss es dringend Verbesserungen ge-
ben.

Aus unserer Sicht ist die Einbeziehung der betroffe-
nen Bevölkerungsgruppen und der Zivilgesellschaft
durch MIGA dringend geboten. Sozial- und Umweltstan-
dards und die Folgeabschätzung von Investitionen müs-
sen künftig eine gewichtigere Rolle spielen. Die Statu-
tenänderungen berücksichtigen dies jedoch leider nicht.

Darüber hinaus enthält der Gesetzentwurf im Art. 2
eine Verordnungsermächtigung, die vorsieht, dass künf-
tige Änderungen der Statuten im Alleingang durch das
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung vorgenommen werden können, ohne den
Bundestag zu beteiligen. Hiermit wird die parlamentari-
sche Kontrollfunktion ausgehebelt.

Die Richtlinien des Bundesjustizministeriums für die
Fassung von Vertragsgesetzen und vertragsbezogenen
Verordnungen sehen für eine Verordnungsermächtigung
vor, dass der Gegenstand der Änderungen oder Ergän-
zungen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß – Art. 80 Abs. 1
Satz 2 GG – hinreichend bestimmt ist. Es bestehen aus
unserer Sicht aber erhebliche Bedenken, ob die Verord-
nungsermächtigung in Art. 2 des Gesetzentwurfs hinrei-
chend bestimmt ist. Der Gesetzeswortlaut – Art. 2 – ent-
hält weder eine Begründung noch eine Eingrenzung, die
über die sehr allgemeine Formel, dass sich die Änderun-
gen „im Rahmen der Ziele des Übereinkommens halten“
müssen, hinausginge.

Der von der Koalition eingebrachte Änderungsan-
trag kann aus unserer Sicht die verfassungsrechtlichen
Bedenken hinsichtlich der fehlenden Bestimmtheit nicht
ausräumen.



gegebene Reden





Ute Koczy


(A) (C)



(D)(B)

Aus all diesen genannten Gründen lehnen wir den
Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den Statuten-
änderungen der Multilateralen Investitions-Garantie-
Agentur ab.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712035100

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/6231, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/5263 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis an-
genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Für eine Ausstellungszahlung an bildende
Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografin-
nen und Fotografen bei durch den Bund geför-
derten Ausstellungen

– Drucksache 17/6346 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Haushaltsausschuss


Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1712035200

Zum wiederholten Mal diskutieren wir heute das Für

und Wider einer Ausstellungsvergütung. Jetzt sind es die
Grünen, die sich einer Forderung des BBK anschließen.
Sie wollen eine „verpflichtende Ausstellungszahlung an
bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografin-
nen und Fotografen in die Förderkriterien für die aus
dem Einzelplan 04 (des BKM) finanzierten oder bezu-
schussten Institutionen oder Projektträger“. „Mit der
Aufnahme einer pauschalierten Ausstellungszahlung in
die Förderkriterien für die aus dem Etat des BKM finan-
zierten oder bezuschussten Institutionen und Projektträ-
ger, welche Ausstellungen ausrichten, kann der Bund
eine Zahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler
sowie Fotografinnen und Fotografen für die öffentliche
Ausstellung ihrer Werke ermöglichen, soweit sich die
Werke im Eigentum der Künstlerin oder des Künstlers
befinden“. Dies, so Ihr Antrag, sei ein „Signal gegen die
bestehende Gerechtigkeitslücke“.

Eine „Gerechtigkeitslücke“ kann ich nicht erkennen.
Wir alle wissen, dass es sehr erfolgreiche Maler und
Bildhauer gibt ebenso wie arme Poeten und nur wenig
wohlhabende Musiker. Richtig ist: Der bildende Künst-
ler lebt im Gegensatz zu anderen Künstlern vom Verkauf
seiner Werke, der Autor vom Vertrieb, der Musiker von
Aufführungen. Erfolgreich verkaufen kann ein Künstler
dann, wenn er zuvor bekannt gemacht wurde, zum Bei-
spiel durch Ausstellungen in Museen, Kunstvereinen,
Galerien etc. Das bringt dem Künstler eine große Öf-
fentlichkeit und bestenfalls Anerkennung eines Werkes.
Und während die einen bei Lesungen, die anderen bei
Konzerten eine direkte Vergütung erhalten, lebt der bil-
dende Künstler lediglich vom Verkauf seiner Werke bzw.
von der Nutzung der Abbildungen. Die nun erneut gefor-
derte Ausstellungsvergütung soll dazu dienen, bildenden
Künstlern auch aus der Ausstellung ihrer Werke einen
wirtschaftlichen Nutzen zukommen zu lassen – auf dass
sich ihre wirtschaftliche Lage verbessere.

Einmal abgesehen davon, dass auch eine Ausstel-
lungsvergütung die schwierige wirtschaftliche Situation
der Künstler nicht auffangen würde, wäre die Ausstel-
lungsvergütung so nur eine verkappte zusätzliche So-
zialleistung. Aber mit welcher Berechtigung eigentlich?
Wenn auch in verschiedenen Systemen, so arbeiten und
leben doch alle Künstler von demselben Prinzip: vom
Verkauf ihrer kreativen Arbeit – in dem sie sie aufführen

(Bühne, Musik) oder ihr Kunstwerk sein Publikum


(Kompositionen, Theaterstücke) oder neue Besitzer (bil-

dende Kunst) findet. Die soziale Absicherung aller (!)

Künstler in Deutschland unterstützen wir mit der Künst-
lersozialkasse, einer Anerkennung, die die Gesellschaft
den besonderen Erfordernissen diesem uns so wichtigen
Berufsstand zollt.

Sie blicken hoffnungsvoll auf das schwedische Mo-
dell, das 2009 in Kraft trat. Aber hat das schwedische
Modell die ökonomischen Verhältnisse der Künstler
oder deren Möglichkeit, ihre Werke auszustellen, drama-
tisch verändert? Nicht, dass wir wüssten. Zu bedenken
ist aber sehr wohl, welche dramatischen Konsequenzen
das für die Museen hätte: Forderungen nach einem Ver-
gütungsanspruch für die öffentliche Ausstellung bilden-
der Kunst gibt es schon lange; ebenso lange lehnen fast
alle im Kunstbetrieb Verantwortlichen diese Forderung
ab.

Die Museen haben ein großes Interesse an Ausstel-
lungen zeitgenössischer Kunst. Sie verleiht den Häusern
Lebendigkeit und Aktualität. Umgekehrt wissen natür-
lich auch die Künstler um die Vorteile einer Ausstellung
in diesen Institutionen. Gerade Ausstellungen ihrer
Werke in öffentlichen Museen sind für die Künstler wie
ein Ritterschlag, die Arbeiten erfahren eine enorme
Wertsteigerung.

Die Schattenseite: Durch Ausstellungsvergütungen
werden Ausstellungen für die Veranstalter erheblich teu-
rer, in der Folge planen die Museen weniger Ausstellun-
gen, oder man greift gleich auf die (freien) Werke zu-
rück, für die keine Gebühr bezahlt werden muss; und das
geht letztlich zulasten der Künstler, weil sie noch weni-
ger Präsentationmöglichkeiten bekommen. In fast allen
Fällen werden Ausstellungen nicht einmal kostende-
ckend durchgeführt. Künstler an Ausstellungseinnah-
men zu beteiligen, würde in vielen Fällen den finanziel-

Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

len Ruin der Veranstaltungen bedeuten, und das wäre
dann das endgültige Aus einer wirksamen Kunst- und
Künstlerförderung.

Die meisten Museen verfügen ohnehin kaum noch
über große Ausstellungsetats. Ihr Budget für Ausstellun-
gen müsste also entsprechend erhöht werden. Im Jahr
2009, in dem die Übereinkunft in Schweden in Kraft trat,
erhielten deshalb sowohl das Moderna Museet als auch
Riksutställningar einen Sonderzuschuss, um diese Ver-

(von rund 97 000 Euro)


Aus langjähriger persönlicher Erfahrung als Ausstel-
lungsmacherin kann ich Ihnen berichten, dass die Mehr-

(Kunstzeitgenössischer Künstler, sondern vielmehr an Werken der alten Kunst oder der klassischen Moderne interessiert ist, und diese fallen ohnehin nicht unter die Ausstellungsvergütung. Für Werke zeitgenössischer Künstler müssen wir das Publikum zunächst begeistern. Kuratierung der Ausstellung, Transport der Werke, Schreiner-, Malerund Reinigungsarbeiten, Restaurierung, Beschriftung, Beleuchtung, Bewachung, Heizung und Klimatisierung, Herstellung von Katalogen, Plakaten, Einladungskarten, deren Versand, Kosten für die Eröffnung etc. – alle diese Kosten übernehmen wir als Aussteller bereits. Und dann auch noch Vergütung zahlen? Natürlich könnte man die Künstler an dem Gewinn, der mit der Präsentation ihrer Kunstwerke erwirtschaftet wird, beteiligen, wenn es denn einen gäbe. Doch wer am Erlös beteiligt wird, müsste sich auch an den entstehenden Kosten beteiligen, und diese übertreffen bekanntlich in fast allen Fällen den Gewinn eines Ausstellungsprojektes. Hinzu kommt, dass der Kunstmarkt dieses Geschäft betreibt, in Galerien und auf Messen. Museen haben einen anderen Auftrag. Die Auswirkungen auf die private Kunstförderung und Ausstellungstätigkeit wären verheerend, da sich die Kosten nicht über die Eintrittsgelder auf die Besucher verlagern lassen. Die Enquete-Kommission hat dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung empfohlen, erneut zu prüfen, „mit welchen Regelungen und Maßnahmen im Urhebervertragsrecht eine angemessene, an die wirtschaftlichen Verhältnisse angepasste Vergütung für alle Urheber und ausübenden Künstler erreicht werden kann, da die bisherigen Regelungen im Urhebervertragsgesetz unzureichend sind“. Die bildende Kunst wird über den Verkauf verwertet. Glauben Sie wirklich, dass ein Künstler, dessen Werke nicht gekauft werden, gegen Vergütung ausgestellt würde? Käme demnach eine Ausstellungsvergütung nicht vor allem einem kleinen Kreis etablierter Künstler zugute? Österreich jedenfalls hat die Ausstellungsvergütung zurückgenommen (1996 eingeführt, 2000 wieder abgeschafft)

für urheberrechtlich geschützte Werke der bildenden
Kunst mehr. Die Ausstellungsvergütung bewirke näm-
lich prompt eine Benachteiligung lebender Künstler und
wirke sich am Ende sogar nachteilig für den ganzen
Kunststandort Österreich aus.
Zu Protokoll
Positiv an Ihrem Antrag ist, dass wir einmal mehr das
wichtige Thema „Soziale Lage der Künstler“ bespre-
chen. Es ist uns allen wichtig, dass unsere Künstler für
ihre Arbeit – gut – bezahlt werden. Aber eine pauscha-
lierte Ausstellungszahlung für Einrichtungen des BKM?
Für Institutionen, die überwiegend mit etablierten und
auf dem Kunstmarkt bereits eingeführten Künstlern ar-
beiten? Wäre das wirklich die geforderte Gerechtigkeit?

Unser Anliegen ist es vielmehr, besonders auch die
junge, zeitgenössische Kunst zu fördern. Von einer sol-
chen von Ihnen geforderten Ausstellungsvergütung wür-
den aber in erster Linie die etablierten Künstler, die auf
dem Kunstmarkt bereits eingeführt sind, profitieren.
Wichtiger ist es, die Chancen für Künstler, überhaupt
ausstellen zu können, zu verbessern, nicht, sie gesondert
zu vergüten. Es braucht mehr Ausstellungsmöglichkei-
ten für jüngere bildende Künstler, weitere Fördermög-
lichkeiten, Projektzuschüsse oder Arbeitsstipendien

(Stiftung Kunstfonds, Künstlerstipendien der Villa Massimo etc.)

vor allem die Länder und Kommunen gefragt.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1712035300

Die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern hat

in unserem Land grundsätzlich einen guten Ruf, zu
Recht; denn durch großzügige Finanzspritzen privater
Unterstützer und auch durch Förderprogramme des
Bundes und der einzelnen Bundesländer gelingt es, die
ökonomisch oft instabilen und stark erfolgsabhängigen
Lebensbedingungen der Künstler aufzufangen und abzu-
federn; denn wir alle wünschen uns, dass die Kunst-
schaffenden ihren Fokus in vollem Umfang auf ihre
kreativen Schöpfungen lenken und sich nicht mit Finan-
zierungsnöten beschäftigen müssen.

Vor diesem Hintergrund betrachte ich auch den vor-
liegenden Antrag der Kollegen von Bündnis 90/Die Grü-
nen: als gut gemeinte Wohltat. Aber wie so oft ist auch in
diesem Fall gut gemeint oft das Gegenteil von gut. Ich
wage folgende These: Eine verpflichtende Ausstellungs-
zahlung senkt die Zahl der Ausstellungen in der Bundes-
republik und schwächt damit die Künstlerinnen und
Künstler und die Kulturszene in unserem Land; denn,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Ihrem Antrag
folgen würden und die ausstellenden Institutionen zu ei-
ner Zahlung verpflichten würden, dann überlegen diese
sich zweierlei: Erstens. Entweder sie verzichten aus
Kostengründen gänzlich auf die Ausstellung. Dies darf
uns weder recht noch billig sein, da wir zu Recht stolz
auf eine sehr reiche und vielfältige Kunstszene in
Deutschland sind und diese auch als Parlamentarier
schützen und fördern müssen. Oder – zweitens – sie ent-
scheiden sich für eine Umlage der Kosten, die automa-
tisch zu einer Erhöhung der Eintrittspreise führt. Die
Folge dessen wird sein, dass immer weniger Bürgerin-
nen und Bürger in der Lage und willens sind, für einen
Ausstellungsbesuch Geld auszugeben, und daher ein-
fach wegbleiben.

Wenn ich in den Fraktionsbeschluss der grünen Bun-
destagsfraktion vom 15. März diesen Jahres schaue, lese
ich dort: Bibliotheken, Theater, Archive und Museen tra-



gegebene Reden

Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

gen Unverzichtbares zur sozialen Teilhabe bei. – Inhalt-
lich stimme ich Ihnen vollumfänglich zu!

Gleichzeitig frage ich mich aber: Warum dann dieser
Antrag? Ich habe Verständnis für die soziale Situation
der Künstler, und auch ich möchte, dass sie von ihrem
kreativen Schaffen ihren Lebensunterhalt bestreiten kön-
nen. Was ich aber nicht möchte, ist, dass das Erleben
von Kunst für einen Großteil unserer Gesellschaft nicht
mehr bezahlbar ist.

Sie verweigern aber mit dem vorliegenden Antrag
nicht wenigen in diesem Lande eine soziale Teilhabe.
Dies kann doch nicht in Ihrem Interesse sein. Ich bin der
Überzeugung, dass wir bei der Förderung von Künstlern
andere Akzente setzen sollten – vor allem solche, die ab-
seits starrer gesetzlicher Regelungen liegen. Mit einer
kleinen, aber wirksamen Katalogförderung ist vielen
deutlich mehr geholfen. Auch Projektzuschüsse oder Ar-
beitsstipendien, wie sie beispielsweise die Stiftung
Kunstfonds vergibt, sind wichtige Impulse der Bundes-
kulturförderung für die bildende Kunst in Deutschland.

Ein zu starker Eingriff seitens der Gesetzgebung ist
meiner Meinung nach jedoch nicht der richtige Weg, um
unsere Künstlerinnen und Künstler in ihrer wertvollen
und für unsere Gesellschaft stark prägenden Arbeit zu
unterstützen.


Siegmund Ehrmann (SPD):
Rede ID: ID1712035400

Seit mehr als 30 Jahren fordern maßgebliche Ver-

bände im Bereich der bildenden Kunst, ein Ausstellungs-
honorar bzw. eine Ausstellungsvergütung einzuführen.
Sie führen an, dass bildende Künstlerinnen und Künstler
ungleich behandelt werden gegenüber Künstlern ande-
rer Sparten wie Musik, Theater oder Literatur, bei denen
das Urheberrecht den Künstlerinnen und Künstlern eine
Vergütung für jede öffentliche Verwertung ihrer Werke
sichert. Im Unterschied zu diesen erhalten bildende
Künstlerinnen und Künstler in Deutschland, wenn ihre
Werke öffentlich ausgestellt werden, hierfür keine Vergü-
tung. Angesichts der schwierigen materiellen Situation
vieler bildender Künstlerinnen und Künstler ist diese Si-
tuation besonders unbefriedigt.

Wie berechtigt ist dieses Anliegen? Natürlich ist eine
Ausstellung im ureigenen Interesse der Künstler, weil sie
ihre Werke präsentieren und damit Interesse für ihre
Kunst wecken können. Es findet aber auch im recht-
lichen und wirtschaftlichen Sinne eine Nutzung ihres
Werkes statt. Sie ist vergleichbar mit den im Urheber-
recht geregelten Nutzungs- und Verwertungsrechten in
anderen Kunstsparten. Von daher müsste die Ausstel-
lung von Kunstwerken im Zusammenhang mit sonstigen
Nutzungen anderer Werke gesehen werden, etwa der
Aufführung von Musikstücken in Konzerthallen, in Hör-
funk- und Fernsehprogrammen, der Aufführung von
Theaterstücken, dem Vermieten von Videokassetten oder
CDs oder dem Verleihen von Büchern in öffentlichen Bi-
bliotheken, also mit Vorgängen, die als urheberrecht-
liche Nutzungen als vergütungspflichtig anerkannt sind.

Für eine Vergütung spricht außerdem, dass mit der
öffentlichen Präsentation eines Kunstwerkes für die
Zu Protokoll
Künstlerinnen und Künstlern auch Kosten verbunden
sind. Oft konzipieren sie nicht nur die Ausstellung, son-
dern übernehmen auch Transport und Aufbau etc. der
Kunstwerke.

Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen
Seite muss natürlich auch danach gefragt werden, ob
eine solche Ausstellungsvergütung den bildenden Künst-
lerinnen und Künstlern in der Praxis auch wirklich et-
was bringt. Vertreter der Kommunen und Länder, in
deren Verantwortung ja viele Museen und Ausstellungs-
räume liegen, führen immer auch wieder mögliche Zu-
satzkosten an, die dazu führen könnten, dass im Ergebnis
weniger Ausstellungen durchgeführt werden. Gerade
von kommunaler Seite, aber auch vom Deutschen Mu-
seumsbund und anderen wurde in der Vergangenheit im-
mer wieder darauf hingewiesen, dass eine Ausstellungs-
vergütung dazu führen könnte, dass am Ende nur die
bekannten und etablierten Künstler profitieren. Derar-
tige Erfahrungen in Österreich jedenfalls haben dazu
geführt, dass man sich dort mittlerweile von einer ent-
sprechenden Regelung wieder verabschiedet hat, die
aber – und das muss der Vollständigkeit halber hinzuge-
fügt werden – auch etwas anders strukturiert war als die
in Deutschland diskutierten Vorschläge.

Genau hier steckt der Teufel im Detail. Mit einem
Sondervotum hat sich die SPD in der Enquete-Kommis-
sion Kultur in Deutschland für eine Ausstellungsvergü-
tung ausgesprochen. Eine parlamentarische Initiative
aus den Reihen der SPD-Kulturpolitiker 2005 scheiterte
jedoch an den unterschiedlichen Vorstellungen, wie ge-
nau eine Ausstellungsvergütung rechtlich ausgestaltet
sein soll. Gerade die Verbände waren sich da nicht ei-
nig.

Dennoch: Das Anliegen ist berechtigt: Die SPD hat
sich in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2009
deutlich dafür ausgesprochen, dass Kultur- und Medien-
schaffende, Künstlerinnen und Künstler und Kreative
von ihrer Arbeit leben können müssen. Daran halten wir
fest. Das Urheberrecht und das Urhebervertragsrecht
bieten die Grundlagen dafür, ein angemessenes Einkom-
men aus der Verwertung geistigen Eigentums zu ermög-
lichen. Beide Bereiche wollen wir gezielt weiterent-
wickeln, um eine angemessene Vergütung für alle auch
tatsächlich zu erreichen. Künstlerinnen und Künstler
müssen deshalb von der Möglichkeit profitieren können,
ihre Werke in der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Um aber das zuvor beschriebene Dilemma und den
Anspruch, eine angemessene Vergütung zu realisieren,
auflösen zu können, muss man nach neuen Wegen su-
chen. Das haben wir getan. Die Friedrich-Ebert-Stif-
tung hat am 25. November 2010 ein Expertengespräch
zum schwedischen Modell der Künstlervergütung durch-
geführt. In Schweden hat man sich im Jahr 2009 für eine
untergesetzliche Regelung entschieden, die vorsieht,
dass Ausstellungshäuser, insbesondere die staatlichen
Museen, ein in einem Rahmenvertrag geregeltes Hono-
rar an die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler
zahlen. Das schwedische Modell ist interessant, jedoch
aus mehreren Gründen nicht direkt auf Deutschland
übertragbar. Gleichwohl waren die damalige Diskus-



gegebene Reden

Siegmund Ehrmann


(A) (C)



(D)(B)

sion und das schwedische Modell Anlass für die Künst-
lerverbände in Deutschland, auch hier die Debatte wie-
der anzuregen, was wir als SPD sehr unterstützen und
befördern. In Berlin beispielsweise wird die Einführung
eines Haushaltstitels für Ausstellungshonorare disku-
tiert.

An diesen Diskussionsprozess knüpft nun die Frak-
tion der Grünen an. Wir begrüßen die Initiative grund-
sätzlich, wobei ihr Antrag aus meiner Sicht einige wich-
tige Fragen unbeantwortet lässt. Warum beispielsweise
soll eine „verpflichtende Ausstellungszahlung“, wie es
im Antrag heißt, nur auf die vom Bund geförderten Ein-
richtungen und Projektträger beschränkt bleiben? Von
den über 6 000 Museen und Ausstellungshäusern in
Deutschland sind nach Angaben des Instituts für Mu-
seumsforschung nur 59 in der Trägerschaft des Bundes.
Der überwiegende Teil der Museen und Ausstellungs-
häuser ist in der Verantwortung von Ländern und Kom-
munen. Spannender wäre also die Frage, wie man es
schafft, zu einer umfassenderen Lösung zu kommen. Zu-
dem muss man sich der Frage stellen, welche Effekte
eine solche Ausstellungszahlung in der Realität hat. Ich
erinnere an die zuvor angesprochenen Argumente des
Museumsbundes und von Vertretern aus den Ländern
und Kommunen und die von ihnen geäußerte Befürch-
tung, dass am Ende nur die etablierten Künstlerinnen
und Künstler profitieren und weniger Ausstellungen ge-
macht werden. Dann würde man den Künstlern einen
Bärendienst erweisen. Das ist nicht der Anspruch der
SPD, weshalb wir diese Fragen vertiefter betrachten
werden. Denn letztlich muss es das Ziel sein, dass die
Künstler und Kreativen durch ihr Schaffen und ihr Werk
auch ein angemessenes Einkommen erzielen können.


Reiner Deutschmann (FDP):
Rede ID: ID1712035500

Wir debattieren heute einen Antrag von Bündnis 90/

Die Grünen, der sich im Grunde mit der sozialen Lage
von bildenden Künstlerinnen und Künstlern in unserem
Lande auseinandersetzt. Wie kann der Kreative von sei-
nem Werk leben? Diese Frage ist auch für uns Liberale
eine der wichtigsten Fragestellungen der Kulturpolitik.

Zum Erhalt einer lebendigen und schaffenskräftigen
Kulturszene existiert eine Vielzahl von Werkzeugen, mit
deren Hilfe wir die Förderung des Kreativen unterstüt-
zen. Bund, Länder und Kommunen geben über 8 Mil-
liarden Euro für die Förderung von Kunst und Kultur
aus, und zwar nicht nur für Einrichtungen und Projekte
der Hochkultur. Natürlich muss man in diesem Zusam-
menhang auch auf die einzigartige soziale Absicherung
hinweisen, die uns mit der Künstlersozialversicherung
zur Verfügung steht.

Bei aller Wertschätzung für meine Kollegin Agnes
Krumwiede, die den uns heute vorliegenden Antrag ini-
tiiert hat, berührt der Vorstoß von Bündnis 90/Die Grü-
nen aus Sicht der Liberalen keine Punkte, die einer Re-
gelung bedürfen. Künstler wissen sehr gut, auf welch
finanziell wackligen Brettern sie sich gerade zu Beginn
ihres Schaffens bewegen. Mit diesem Risiko und der
mangelnden Sicherheit muss jeder leben, der sich selbst-
ständig betätigen möchte. Hier unterscheiden sich Kunst
Zu Protokoll
und Kultur in der freien Szene nicht vom normalen
Marktgeschehen. Alles andere wäre auch lebensfremd.

Der erste Teil des Antrages beschäftigt sich mit der
prekären Lage vieler bildender Künstler und vieler Fo-
tografen. Sie schreiben in Ihrem Antrag – Zitat –: „Wenn
kein Werksauftrag vorliegt, gehen bildende Künstlerin-
nen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen
mit der Erstellung eines Werkes grundsätzlich eine krea-
tive und finanzielle Vorleistung ein“. Sie beschreiben die
finanziellen Risiken und die fehlende Sicherheit für
Künstlerinnen und Künstler im kommerziellen Raum,
stellen dann aber folgerichtig fest, dass man dort wohl
nichts machen kann. Die Einführung einer Ausstellungs-
abgabe im kommerziellen Raum wäre nämlich, so weit,
so richtig, kontraproduktiv für Nachwuchskünstler, die
damit kämpfen, überhaupt Raum für die Ausstellung ih-
rer Werke – oftmals in kleinsten privaten Galerien – zu
finden. Außerdem wäre es ein Eingriff in den Markt, bei-
spielsweise in die Verhandlungen zwischen Künstlern
und Galeristen.

Warum aber sollen nun die durch den BKM geförder-
ten Einrichtungen und Projekte eine solche Zahlung
leisten? Die vom BKM unterstützten Projekte zielen oft-
mals gerade auf die Förderung unbekannter Künstler
ab. Hier ist das Interesse des Künstlers doch vorrangig,
einen Bekanntheitsgrad aufzubauen. Es verhält sich also
nicht anders als im kommerziellen Raum. Der Ausstel-
lungsraum ist für den Jungkünstler zunächst wichtiger
als die Vergütung. Die dann für eine Ausstellung fällige
Zahlung an den Künstler reduzierte die für andere Aus-
stellungen benötigten Mittel der Einrichtung.

Ganz anders verhält es sich mit den großen Staatsga-
lerien und Ausstellungstempeln. Die hier ausgestellten
Werke befinden sich ganz überwiegend im Eigentum der
Museen, Kunsthallen und Galerien oder werden von den
Käufern bzw. Sammlern der Werke für eine Ausstellung
zur Verfügung gestellt. Der Bekanntheitsgrad eines
Künstlers, der im Martin-Gropius-Bau oder in der
Neuen Nationalgalerie ausstellt, ist in der Regel auch
schon so groß, dass er erstens gesammelt wird und damit
Werke erfolgreich verkauft, und zweitens durch eine
Ausstellung weitere Sammler zum Kauf seiner Werke
animiert. Selbst wenn der Künstler nicht weithin be-
kannt ist, so gewinnt er durch eine Ausstellung in einer
großen vom BKM geförderten Einrichtung doch eine
Aufmerksamkeit, die in Geld nicht ohne weiteres aufzu-
wiegen ist und die sich im Nachhinein auch positiv auf
die finanzielle Situation des Künstlers auswirken wird.
Im Übrigen dürfte der Großteil von relevanten Ausstel-
lungen in Einrichtungen der Länder und Kommunen
stattfinden, sodass der Bund hier qua fehlender Zustän-
digkeit nicht handlungsfähig wäre.

In jedem Fall vermisse ich in dem Antrag konkrete
Ausführungen, welche Einrichtungen zu welchen Bedin-
gungen betroffen wären. Auch vermisse ich belastbares
Material, das die Situation derjenigen Künstler be-
schreibt, die in BKM geförderten Einrichtungen ausstel-
len. Die globalen Ausführungen der erwähnten Studie
des Bundesverbandes der bildenden Künstler, zumal aus
dem Jahr 2008, sind hier nur wenig hilfreich, weil da-



gegebene Reden

Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)

raus keinerlei Rückschlüsse zu den vom BKM geförder-
ten Einrichtungen gezogen werden können.

Mehrere Gefahren birgt der Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen ganz konkret: Erstens. Eine Ausstellungs-
zahlung durch den BKM trifft womöglich ganz überwie-
gend diejenigen „großen“ Künstler, die aufgrund ihres
Erfolges gut auf das Geld verzichten könnten. Damit
würde gerade der Sinn und Zweck der Förderung von
Künstlerinnen und Künstlern, die unsere Unterstützung
nötig haben, verfehlt.

Zweitens. Es ist zu erwarten, dass sich die Ausstel-
lungsabgabe auf die Eintrittspreise und damit negativ
auf die Besucherzahlen auswirken wird. Das wäre eine
Erschwerung des Zugangs zu Kunst und Kultur. Schließ-
lich kann sich der BKM nicht aus der Haushaltskonsoli-
dierung verabschieden und seinen Etat beliebig aufsto-
cken. Die betroffenen Einrichtungen müssten also einen
eigenen finanziellen Beitrag zur Aufbringung der schon
häufig unter dem Begriff „Ausstellungsvergütung“ dis-
kutierten Abgabe leisten.

Drittens. Viele vom BKM geförderte Einrichtungen,
gerade im kommunalen Bereich, würden keine Ausstel-
lungen mehr durchführen, da sie damit finanziell über-
fordert wären oder den damit verbundenen Aufwand
scheuen.

Viertens. Die Festlegung einer solchen Ausstellungs-
abgabe dürfte sich schwierig gestalten, sowohl organi-
satorisch als auch der Höhe nach; denn jede geförderte
Einrichtung verfügt über andere räumliche und techni-
sche Voraussetzungen.

Der wirtschaftliche Erfolg von Künstlerinnen und
Künstlern liegt mir sehr am Herzen. Das Kernproblem
schein mir jedoch zu sein, diesen Künstlerinnen und
Künstlern genügend Ausstellungsraum und damit Öf-
fentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Vielleicht sollten
wir uns einmal Gedanken machen, wie wir diesem Um-
stand in Zukunft besser Rechnung tragen können.

Ich kann hier nur aus meinen eigenen Erfahrungen
berichten. Als Leiter eines kommunalen Kulturbetriebes
habe ich mindestens 15 Jahre Ausstellungen selbst ver-
antwortet, zum Beispiel in Kirchenräumen, in einem
Speicherbau und in einem Theaterfoyer. Es war mir im-
mer wichtig, einerseits Künstlern eine Plattform zu ge-
ben und andererseits den Besuchern die Schwellenangst
beim Galeriebesuch zu nehmen. Neben bekannten und
unbekannten regionalen Künstlern gab es auch Ausstel-
lungen mit Georg Baselitz, Benjamin Katz oder Neo
Rauch. Dabei war es immer möglich, eine individuelle
und stimmige Vereinbarung zwischen Kommune und
Künstler zu treffen, aus der beide Seiten ihren Nutzen
ziehen konnten.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712035600

Ist Gott für die Finanzen zuständig? Oder wer? In der

aktuellen Ausgabe von Politik und Kultur sagt die
Künstlerin Sarah Haffner über Malen und Geld: „Wenn
man Freiberufler ist, muss man an Gott glauben. Gott ist
für die Finanzen zuständig.“ Die Beschreibung ihres Le-
bens und Arbeitens zeigt deutlich, welchen Unsicherhei-
Zu Protokoll
ten bildende Künstlerinnen und Künstler ausgesetzt
sind, die für den freien Markt arbeiten. Der Verkauf von
Werken ist von vielen Faktoren, auch vielen Zufälligkei-
ten, abhängig, mal gelingt er, mal gelingt er nicht. Sie
malt großformatige Bilder, nicht sehr markttauglich.
Dennoch schaffte sie es, über die Runden zu kommen,
auch wenn sie sich einschränken musste. Heute, nach
30 Jahren Selbstständigkeit, erhält sie Rente aus der
Künstlersozialkasse. „Wenn ich davon leben müsste,
sähe es schlimm aus“, sagt sie.

Seit der letzten großen Untersuchung zur sozialen
und wirtschaftlichen Lage von Künstlerinnen und Künst-
lern aus dem Jahre 1972, deren Befunde maßgeblich mit
zur Gründung der Künstlersozialkasse im Jahre 1983
führten, hat sich die Einkommenssituation von freiberuf-
lich und selbstständig tätigen Künstlerinnen und Künst-
lern im Durchschnitt nicht verbessert – so lautete das
Fazit der Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-
land“ in ihrem Abschlussbericht, Drucksache 16/7000
Seite 297 ff. In vielen Fällen hat sie sich sogar ver-
schlechtert, ist von unsicheren und schwankenden, ins-
gesamt geringen Einkünften gekennzeichnet. Das betrifft
insbesondere bildende Künstlerinnen und Künstler. Die
Gruppe der bildenden Künstlerinnen und Künstler ver-
fügt mit 94 Prozent über den höchsten prozentualen An-
teil von Selbstständigen, ebenda Seite 240. Der derzei-
tige durchschnittliche Jahresverdienst von bildenden
Künstlerinnen und Künstlern, die in der Künstlersozial-
kasse versichert sind, beträgt insgesamt 13 185 Euro.
Frauen verdienen noch deutlich weniger: 11 103 Euro
im Jahr. Sie haben also mehrheitlich ein Einkommen,
von dem sie nicht leben können.

Einer der Gründe für die schwierige wirtschaftliche
Situation dieser Berufsgruppe ist, dass die bildenden
Künstlerinnen und Künstler im Unterschied zu den
Werkschaffenden aller anderen Sparten bislang keine
Vergütung erhalten, wenn ihre Werke öffentlich ausge-
stellt werden. Bildende Künstlerinnen und Künstler be-
ziehen ihre Einnahmen allein aus dem Verkauf der
Werke bzw. der Nutzung von Abbildungen dieser Werke.
Der Bundesverband bildender Künstler und andere
Künstlerverbände kämpfen gemeinsam mit der Gewerk-
schaft Verdi seit nunmehr über 30 Jahren darum, diese
Ungleichbehandlung zu beenden, bislang ohne Erfolg.
Eine Ausstellungsvergütung – so lautet die Forderung –
soll diese Lücke im Urheberrecht schließen. Wir als
Linke haben diese Forderung immer unterstützt, auch im
Rahmen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch-
land“, die sich in ihrem Schlussbericht leider gegen eine
Handlungsempfehlung zu diesem Thema entschied,
Drucksache 16/7000, Seite 263 ff. Wir haben dazu ein
Sondervotum eingebracht und die rechtliche Veranke-
rung einer Ausstellungsvergütung im Urheberrecht
empfohlen. Diese Forderung halten wir bis heute auf-
recht.

Bündnis 90/Die Grünen bringen nun einen Antrag für
eine Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen
und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei
durch den Bund geförderten Ausstellungen ein. Das ist
noch nicht die Umsetzung der Forderung nach einer ge-
setzlich festgelegten Ausstellungsvergütung, wäre aber



gegebene Reden

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)

aus unserer Sicht ein erster und wichtiger Schritt, um zu
einer solchen Regelung zu kommen. Vor allem wäre dies
ein wichtiger Beitrag des Bundes dazu, die wirtschaftli-
che Situation von bildenden Künstlerinnen und Künst-
lern zu verbessern. Der Bund könnte damit als Vorbild
für andere öffentliche Geldgeber in den Ländern und
Kommunen wirken und auch über den öffentlich geför-
derten Bereich hinaus dazu beitragen, die Wertschät-
zung für die kreative Leistung von bildenden Künstlerin-
nen und Künstlern zu erhöhen.

Wir unterstützen deshalb die im Antrag gestellten
Forderungen an die Bundesregierung. Im Rahmen der
Fördergrundsätze des Beauftragten der Bundesregie-
rung für Kultur und Medien, BKM, hätte hier der Bund
die Möglichkeit, ein Signal zu setzen. Mit der Aufnahme
einer pauschalierten Ausstellungszahlung in die Förder-
kriterien für die aus dem Etat des BKM finanzierten oder
geförderten Institutionen und Projekte, die Ausstellun-
gen ausrichten, kann der Bund eine Zahlung an bildende
Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und
Fotografen für die öffentliche Ausstellung ihrer Werke
ermöglichen, sofern diese Einrichtungen und Projekte
dafür auch hinreichend finanziell ausgestattet werden.
Das heißt aber, dass die Bundeszuschüsse diesem finan-
ziellen Mehrbedarf dann auch angepasst werden müs-
sen. Das Geld müsste ja sonst woanders weggenommen
werden, im schlechtesten Falle könnten Projekte nicht
realisiert werden. Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Insofern bitten wir, zu überlegen, ob das nicht auch als
Forderung in einen solchen Antrag gehört. Vielleicht
müsste dafür auch ein spezieller Titel im Etat des BKM
eingerichtet werden.

Wir halten es für richtig, dass Höhe und Kriterien ei-
ner Ausstellungszahlung in einem Gremium mit Vertrete-
rinnen und Vertretern der betroffenen Institutionen und
Projekte sowie von Verbänden festgelegt werden. Diese
haben auch die Kenntnisse und Erfahrungen, auf deren
Basis prognostiziert werden kann, welcher finanzielle
Mehrbedarf daraus für den Bund erwächst. Aus unserer
Sicht wäre das aber wahrlich gut angelegtes Geld. Wir
wollen die Finanzierung der Künstler nicht einfach dem
lieben Gott überlassen.

Ein Blick nach Schweden zeigt, dass auch kleine
Schritte in Richtung einer Ausstellungsvergütung einen
Prozess in Gang setzen können, der die Situation der
Künstler nachhaltig verbessern kann. Unter sozialdemo-
kratischer Regierung wurde in Schweden der Anstoß
dazu gegeben, für staatliche Institutionen klare und ver-
bindliche Regelungen aufzustellen, wie diese bildende
Künstler bezahlen müssen. Diese Regeln wurden zwi-
schen den Organisationen der Künstler und dem Kultur-
rat ausgehandelt und traten mit Beginn des Jahres 2009
in Kraft. In einer Art Tarifvertrag werden staatliche Mu-
seen verpflichtet, eine Ausstellungsvergütung für die
Ausstellung von Werken zu zahlen, die im Eigentum ei-
nes in Schweden lebenden Künstlers stehen. Optional ist
ferner die Zahlung einer Mitwirkungsvergütung für die
Beteiligung zum Beispiel am Aufbau einer Ausstellung.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem
Schluss, dass das schwedische Modell, an einigen Stel-
Zu Protokoll
len verbessert, eine gute Basis für Lösungsansätze in an-
deren Ländern sei.

Also: Lassen sie uns mit einer Ausstellungszahlung
an bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotogra-
finnen und Fotografen bei durch den Bund geförderten
Ausstellungen beginnen und dann sollten wir erneut
über eine rechtliche Verankerung einer Ausstellungsver-
gütung nachdenken. Wir unterstützen den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712035700

Werke berühmter Künstlerinnen und Künstler berei-

chern nicht nur unser visuelles Umfeld und unsere Fan-
tasie, sondern sind für viele Kunstsammler auch – je
nach Berühmtheit der Schöpferin oder des Schöpfers –
eine Kapitalanlage, die Option einer Wertsteigerung in-
begriffen. Im Jahr 2009 betrug der Umsatz des Kunst-
handels 1,8 Milliarden Euro, weltweit waren es
31,3 Milliarden Euro.

Meisterwerke kann man käuflich erwerben, Talent
nicht. Im krassen Gegensatz zu den meisten Käufern ih-
rer Werke befinden sich Künstlerinnen und Künstler die
meiste Zeit ihres Lebens in prekären Einkommensver-
hältnissen. Die von Carl Spitzweg illustrierte Metapher
auf die „brotlose Kunst“ trifft seit Generationen auf die
Biografien bildender Künstlerinnen und Künstler zu.

Einer der prominentesten unter ihnen ist Vincent van
Gogh. Zeit seines Lebens konnte er kaum eines seiner
Werke verkaufen, er war hoch verschuldet. Das Schick-
sal van Goghs ist auch heute exemplarisch für die Le-
bensumstände vieler bildender Künstlerinnen und
Künstler. Eine Studie des Bundesverbandes Bildender
Künstlerinnen und Künstler, BBK, zur „wirtschaftlichen
und sozialen Situation bildender Künstlerinnen und
Künstler“ belegt, dass über 50 Prozent der befragten
Künstlerinnen und Künstler im Laufe eines Jahres weni-
ger als 5 000 Euro durch den Verkauf ihrer Werke einge-
nommen haben. Nach Angaben der Künstlersozialkasse
liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen bildender
Künstlerinnen und Künstler aktuell bei knapp über
13 000 Euro.

Für die Mehrheit der Kunstschaffenden im Bereich
bildende Kunst und Fotografie sind die Ausstellungsbe-
dingungen in Deutschland finanziell unbefriedigend:
Während bildende Künstlerinnen und Künstler, Kunstfo-
tografinnen und -fotografen im kommerziellen Raum
– beispielsweise in Galerien – zumindest eine theoreti-
sche Chance auf den Verkauf ihrer Werke haben, profi-
tieren sie im nicht kommerziellen Raum – beispielsweise
in Museen – finanziell in den allermeisten Fällen nicht
von der Ausstellung ihrer Werke. Aber vom Ruhm allein
kann sich niemand seine Brötchen kaufen. Leihgebühren
für die Leihgabe von Kunstwerken zwischen Museen
sind schon längst üblich. Umso fragwürdiger erscheint
die Tatsache, dass das „Ausleihen“ von Kunstwerken
beim Künstler selbst kostenlos ist.

Seit mittlerweile 30 Jahren schwelt bei uns die De-
batte um die Einführung einer Ausstellungsvergütung,
bisher ohne nennenswerte Initiativen vonseiten der Bun-



gegebene Reden





Agnes Krumwiede


(A) (C)



(D)(B)

despolitik. Schweden ist diesbezüglich schon etwas wei-
ter: 2009 wurde dort das sogenannte schwedische Mo-
dell eingeführt, eine Übereinkunft zwischen schwe-
dischen Künstlerverbänden und staatlichen Ausstel-
lungshäusern zur Zahlung einer pauschalierten Ausstel-
lungsvergütung. Mit Blick nach Schweden ist eines der
Hauptargumente von Gegnern einer Ausstellungsvergü-
tung schnell widerlegt: Die Ausstellungsvergütung ist
keineswegs mit immensen Kosten verbunden, die Vergü-
tung der Künstlerinnen und Künstler macht gerade ein-
mal zwei bis drei Prozent eines Ausstellungsetats aus.

Die von uns geforderte Aufnahme einer pauschalier-
ten Ausstellungszahlung in die Fördergrundsätze des
Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Me-
dien, BKM, wäre ein wichtiges Signal der Wertschät-
zung und ein Schritt zur Verbesserung der Entlohnung
künstlerischer Leistungen in den Bereichen bildende
Kunst und Fotografie. Der Bund könnte dadurch eine
Vorbildfunktion für Länder, Kommunen und private Aus-
steller übernehmen.

Unser Antrag sieht vor, in die Förderkriterien für alle
durch den Etat des BKM finanzierten oder bezuschuss-
ten Institutionen und Projektträger, welche öffentliche
Ausstellungen ausrichten, eine verpflichtende Ausstel-
lungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler
sowie Fotografinnen und Fotografen aufzunehmen, un-
ter der Voraussetzung, dass sich die Werke im Eigentum
der Künstlerin bzw. des Künstlers befinden. Die Höhe
sowie die Kriterien einer Ausstellungszahlung sollten in
einem Gremium mit Vertreterinnen und Vertretern der
betroffenen Kulturinstitutionen und Projektträger, Ver-
treterinnen und Vertretern von Kunstverbänden und aus-
gewählten Künstlerinnen und Künstlern sowie Fotogra-
finnen und Fotografen festgelegt werden.

Die am teuersten verkauften Gemälde der Welt stam-
men überwiegend von Künstlern, die seit Jahrzehnten
verstorben sind. Unter den „Top 3“ befinden sich zwei
Werke von Pablo Picasso, jeweils im Wert von rund
100 Millionen Dollar. Ob Kunstwerke im Laufe der Zeit
eine Wertsteigerung erfahren und deren Schöpferin oder
Schöpfer in die Ahnengalerien berühmter Meister einge-
stuft wird, entscheiden oftmals erst die nachfolgenden
Generationen. Nicht zuletzt deshalb entspricht die Argu-
mentation, ein außergewöhnlich talentierter Künstler
– bzw. Künstlerin – könne automatisch auch zeitlebens
gut von der künstlerischen Arbeit leben, nicht der Reali-
tät. Ich erachte es als eine der zentralen Aufgaben der
Kulturpolitik, dafür zu sorgen, dass Künstlerinnen und
Künstler faire Rahmenbedingungen zur Ausübung und
Vermarktung ihrer Kunst haben. Die zahlreichen alar-
mierenden Statistiken zur sozialen Situation Kultur-
schaffender in Deutschland drängen uns dazu, politisch
endlich aktiv zu werden: Wir müssen Künstlerinnen und
Künstler in Deutschland finanziell und wirtschaftlich
besser unterstützen. Die von uns geforderte Ausstel-
lungszahlung ist auf diesem Weg ein Schritt in die rich-
tige Richtung. Die Einführung einer Ausstellungszah-
lung im Rahmen der Kompetenzen des Bundes wäre
auch eine Geste der Wertschätzung. Damit könnte der
Bund lebenden Künstlerinnen und Künstlern, die unsere
Museen und somit unsere inneren Erlebniswelten mit ih-
ren Werken bereichern, den notwendigen Respekt vor ih-
rer künstlerischen Leistung entgegenbringen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712035800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 18/6346 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz (Spandau), Aydan Özoğuz, Daniela Kolbe

(Leipzig), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der SPD

Einrichtung eines Zentrums für Alevitische
Studien fördern

– Drucksache 17/5517 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
JugendHaushaltsausschuss


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1712035900

Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD-

Fraktion behandelt übergeordnet gesehen einen Aspekt,
der uns allen in der Politik wichtig sein sollte: Reli-
gionsvielfalt und auch die grundgesetzlich verankerte
freie Ausübung der jeweiligen Religion.

Deutschland, geprägt durch seine christlich-jüdi-
schen Wurzeln, wird durch seine Mitbürgerinnen und
Mitbürger verschiedener Glaubensrichtungen seit Jahr-
zehnten bereichert. Das friedliche Nebeneinander ver-
schiedener Religionen in unserem Land ist ein Beispiel,
das Mut macht für andere Länder auf dieser Erde, in de-
nen Konflikte wegen verschiedener Religionszugehörig-
keiten leider auch noch an der Tagesordnung sind. Diese
Religionsfreiheit in Deutschland setzt Toleranz und ge-
genseitiges Verständnis auf der einen Seite, aber auch
den selbstreflektierenden-kritischen Umgang mit der ei-
genen Religion auf der anderen Seite voraus. Insbeson-
dere der jeweilige Religionsunterricht an staatlichen
Schulen trägt dazu bei, sich religiös zu bilden, den eige-
nen Glauben zu festigen und objektiv die eigene und
auch fremde Religionen zu verstehen.

Zum Islamunterricht an Schulen. Über den flächen-
deckenden Islamunterricht in Schulen wird bereits inten-
siv auf Länder- und auf Bundesebene diskutiert, viele
Bundesländer führen dazu bereits erfolgreich Modell-
versuche durch. Zukünftig werden wir für den islami-
schen Religionsunterricht staatlich ausgebildete Reli-
gionslehrer und Pädagogen benötigen. Genau deswegen
werden – mit Unterstützung der Bundesregierung – be-
reits islamische Zentren an staatlichen deutschen Hoch-
schulen gegründet und gefördert. Auch die fundierte
Ausbildung alevitischer Religionslehrerinnen und -leh-
rer ist notwendig. Es ist wichtig, diese große Glaubens-
gemeinschaft in Deutschland zu berücksichtigen. Mit
den Vertretern der alevitischen Gemeinde in Deutsch-

Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

land findet übrigens seitens der Bundesregierung durch
Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich bereits
ein intensiver Austausch statt, was zeigt, welchen Stel-
lenwert die Bundesregierung auch den Aleviten und ih-
ren Vertretern zumisst.

Zur Ablehnung eines alevitischen Zentrums. Eine ge-
sonderte Einrichtung eines Zentrums für alevitische Stu-
dien, wie in dem Antrag der SPD gefordert, betrachte
ich in der momentanen Situation skeptisch: Zum einen
müssen sich die alevitischen Gemeinden und Verbände
innerhalb ihrer Gemeinschaft darüber im Klaren wer-
den, wie sie sich genauer religiös positionieren. Unter
anderem in dem Buch „Aleviten in Deutschland. Identi-
tätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Dia-
spora“ von Martin Sökefeld aus dem Jahr 2008 wird
deutlich, dass unter den Aleviten selbst offenbar keine
Einigkeit bzw. eine gewisse Unsicherheit darüber
herrscht. Dieser Prozess sollte zunächst abgeschlossen
werden.

Zum anderen sollten wir auch die Ergebnisse der
Forschungsgruppe „Islamische Religionsbedienstete.
Forschungsprojekt zur Gewinnung vertiefender Infor-
mationen über Imame und Dedes in Deutschland“ ab-
warten und auswerten. Aus diesem Projekt werden mit
Sicherheit noch viele Aspekte zur zukünftigen Ausbil-
dung von islamischen Religionslehrern erwachsen.

Wie bereits Bundespräsident Christian Wulff in seiner
Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit im letzten
Jahr richtig anmerkte, gehört der Islam zu Deutschland.
Dem schließen wir uns an; denn Religionsfreiheit und
auch Religionsvielfalt in Deutschland sind uns als
Unionsparteien wichtig. Wir unterstützen den Dialog
der Bundesregierung mit der alevitischen Gemeinde in
Deutschland ausdrücklich. Es ist aber meiner Meinung
nach zu früh, um ein Zentrum für alevitische Studien ein-
zurichten.

Insoweit können wir uns dem Antrag in dieser Form
so nicht anschließen. Wir sollten im zuständigen Aus-
schuss weiterhin über das weitere Vorgehen diskutieren.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1712036000

Ich danke den Kolleginnen und Kollegen aus der

SPD-Fraktion, dass sie mit ihrem Antrag ein Thema auf
die Tagesordnung gebracht haben, das uns gemeinsam
am Herzen liegt: Die Ausbildung alevitischer Religions-
gelehrter und Pädagogen. Sie verweisen zu Recht
darauf, dass in unserem Land nach Schätzungen des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge circa
500 000 Menschen leben, die sich zum Alevitentum be-
kennen. Die alevitische Gemeinde Deutschlands weist
selbst noch höhere Zahlen aus und geht von bis zu
700 000 Aleviten in unserem Land aus. Selbstredend gilt
für sie – wie für alle Menschen, die einer Religion ange-
hören – Art. 4 unseres Grundgesetzes, nach dem sie ihre
Religion ungestört ausüben dürfen. Daraus folgt, dass
dazu auch die Strukturen notwendig sind, die ihre Reli-
gionsausübung gewährleisten. Dazu gehört nicht nur
– wenn auch zentral – der Bau von Gotteshäusern, son-
dern sicherlich auch die Möglichkeit der religiösen Bil-
dung. Aus diesem Grund sieht unsere Verfassung trotz
Zu Protokoll
der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche die
Kooperation im Bereich des Religionsunterrichtes vor:
Gerade auch für eine Religionsgemeinschaft wie die
Aleviten, denen die Bildung, speziell ihrer Kinder, ein
Herzensanliegen ist, sollten wir diese Möglichkeiten
nutzen und fördern.

Den Wunsch von Eltern, die sich religiöse Bildung für
ihre Kinder wünschen, beantworten wir positiv. Die
Union engagiert sich aus diesem Grund nicht nur für
den Erhalt des konfessionellen christlichen Religionsun-
terrichtes – anders übrigens, als die meisten Ihrer Berli-
ner Kolleginnen und Kollegen –, sondern wir fordern
seit langem den flächendeckenden bekenntnisorientier-
ten islamischen Religionsunterricht. Selbstverständlich
erheben wir diese Forderung auch für Religionsunter-
richt für Kinder der alevitischen Glaubensrichtung. Al-
lerdings gebe ich auch zu: Es braucht einen langen
Atem, bis die strukturellen Voraussetzungen gerade in
unserem guten föderalen System dafür geschaffen sind.
Religionsunterricht, der verfassungsgemäß – in Art. 7
Abs. 3 – ordentliches Lehrfach an staatlichen Schulen
ist, braucht qualifiziertes Personal. Er muss von Lehr-
kräften erteilt werden, die eine Ausbildung, ein Studium
mit hohen Qualitätsstandards erfahren haben und die
mit der deutschen Sprache souverän vertraut sind. Reli-
gionslehrerinnen und Religionslehrer – das gilt umso
mehr noch für Dedes bzw. Anas, die auf die Sorgen ihrer
Gemeindemitglieder seelsorgerisch reagieren können
müssen – müssen die Lebenswirklichkeiten und die Fra-
gen der Menschen, gerade der Jugendlichen, die hier le-
ben, kennen. Es ist daher unweigerlich richtig: Unsere
Universitäten sind der richtige Standort für die theologi-
sche Ausbildung. Theologie als Wissenschaft, mittels de-
rer Glaubensgrundsätze vermittelt, hermeneutisch-kri-
tisch durchdrungen und in den Kontext der jeweiligen
Zeit hineininterpretiert werden können, ist eine wichtige
akademische Disziplin. Unsere staatlichen Universitä-
ten, an denen dafür wissenschaftliche Qualitätsstan-
dards, Forschungsfreiheit bei gleichzeitiger Bewahrung
der Glaubensgrundsätze und die Möglichkeit der inter-
disziplinären Zusammenarbeit mit verwandten Fächern
gegeben sind, sind daher der richtige Ort für die theolo-
gische Wissenschaft. Hinzu kommt, dass die Theologie
in Deutschland zudem eine Tradition hat, auf die wir
stolz sein können.

Religion ist wichtig für unsere Kultur, sie ist wichtig
für die Identität des Einzelnen, also um der Angehörigen
der Religion selbst willen, und sie ist auch wichtig unter
dem Aspekt der Integration. Der Frieden und der re-
spektvolle Umgang unter den Angehörigen der verschie-
denen Religionen in unserem Land ist eine maßgebliche
Voraussetzung für den Zusammenhalt in unserer Gesell-
schaft. Gegenseitiges Verständnis als Grundlage von To-
leranz und des gedeihlichen Zusammenlebens erfordert,
dass wir die religiösen Traditionen, die Glaubensgrund-
lagen des jeweils anderen kennen.

Der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ist
der richtige Ort, um hierfür die Grundlagen zu legen:
Junge Menschen lernen im bekenntnisorientierten Reli-
gionsunterricht – egal, ob katholisch, evangelisch, ale-
vitisch-islamisch oder jüdisch etc. – am besten, sich mit



gegebene Reden

Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

religiösen und ethischen Inhalten auseinanderzusetzen.
Für den Dialog mit anderen Religionen ist es notwendig,
sich mit dem eigenen, auch gelebten, Glauben zu befas-
sen. Konfessioneller Religionsunterricht hilft jungen
Menschen, Orientierung zu finden und einen eigenen
Standpunkt auszubilden; gerade für junge Menschen,
die aufgrund ihrer Migrationserfahrung verstärkt auf
der Suche nach Heimat und Identität sein können, kann
der Religionsunterricht, wenn er mit geeignetem Perso-
nal durchgeführt wird, hierfür eine wichtige Stütze sein.
Theologisches Wissen erleichtert es, auch der eigenen
Religion gegenüber kritisch zu bleiben und fundamenta-
listischen Tendenzen zu widerstehen.

Wir wissen, dass wir für einen solchen Religionsun-
terricht, der diesen Anforderungen gerecht werden soll,
gut ausgebildete Religionslehrerinnen und -lehrer brau-
chen. Unsere Bundesregierung hat dies nicht nur wort-
reich bekundet, sondern hat dieser Erkenntnis längst Ta-
ten folgen lassen. So diskutieren wir beispielsweise im
Forum der Deutschen Islamkonferenz seit 2006 mit Ver-
tretern der muslimischen Verbände sowie muslimischen
Einzelpersönlichkeiten darüber, wie dies im Fall der is-
lamischen Theologie gelingen kann. Sie haben aus-
drücklich begrüßt, dass unsere Bundesregierung der
Empfehlung des Wissenschaftsrates vom Januar 2010
gefolgt ist und die Gründung islamischer Zentren an
staatlichen Universitäten auch vom Bund gefördert
wird. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so deutlich ma-
chen, dass Sie diesen Schritt begrüßen. Ich freue mich,
dass wir uns hier über die gesamtgesellschaftliche Be-
deutung dieser Aufgabe einig sind.

Islamischer Religionsunterricht ist darüber hinaus in
der zweiten Runde der Islamkonferenz seit 2009 ein aus-
drückliches Schwerpunktthema der Konferenz, die sich
in dieser Legislaturperiode noch stärker den Herausfor-
derungen der Praxis widmet. Ich freue mich, dass die
Alevitische Gemeinde Deutschlands die Einladung un-
seres Bundesinnenministers in dieses Forum angenom-
men hat und dass sie – selbstverständlich unter dem ent-
sprechenden Vorbehalt, den wir ernst nehmen – sich
auch bereit erklärt hat, in der Projektgruppe „Fortbil-
dung von religiösem Personal“ der Deutschen Islam-
Konferenz mitzuarbeiten, die bereits einen „Leitfaden
für die gesellschaftskundliche und sprachliche Fortbil-
dung von religiösem Personal und weiteren Multiplika-
toren islamischer Gemeinden auf kommunaler Ebene“
erarbeitet hat.

Unser Bundesinnenminister, Dr. Hans-Peter
Friedrich, hat sich auch persönlich unmittelbar nach
seinem Amtsantritt bei einem Besuch der Alevitischen
Gemeinde in Deutschland Ende März mit den Vorsitzen-
den des größten Dachverbandes der Aleviten zum Aus-
tausch getroffen. Ich bin daher sicher, dass auch auf
dieser Ebene die Frage, wie wir die qualifizierte Ausbil-
dung alevitischer Religionsgelehrter und Pädagogen
unterstützen können, konstruktiv weitergeführt wird. Als
Beauftragte meiner Fraktion für Kirchen und Religions-
gemeinschaften bekunde ich ganz offen meine Sympathie
für die Forderung der Alevitischen Gemeinde Deutsch-
land nach einem Lehrstuhl für alevitische Theologie. Ich
würde die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls – viel-
Zu Protokoll
leicht wäre ja eine Stiftungsprofessur denkbar? – aus-
drücklich begrüßen.

Aber ich möchte Sie doch um Zurückhaltung bitten,
was die – vielleicht vorschnelle – Forderung nach einem
alevitischen Zentrum betrifft. Ich möchte sie dazu auf
drei Anhaltspunkte verweisen, bevor ich zum Schluss
komme. So darf ich von der Homepage der Alevitischen
Gemeinde in Deutschland zitieren:

Für die Gewährleistung einer adäquaten Ausbil-
dung ist die Schaffung eines ordentlichen Lehr-
stuhls für die alevitische Theologie unumgängliche
Voraussetzung. Es gibt zur Zeit in Deutschland
keine universitäre Möglichkeit, Lehrerinnen und
Lehrer für den alevitischen Religionsunterricht aus-
zubilden. Die Ausbildung der alevitischen Lehrer
soll an einer Universität mit einem Erweiterungs-
fach erfolgen. Alevitische Studenten sollen die
Möglichkeit haben, das Zusatzfach Alevitische Reli-
gionslehre zu ihren zwei obligatorischen Studienfä-
chern zu belegen.

Von einem Zentrum ist hier nicht die Rede. Zudem
sollten wir abwarten, was das Forschungsprojekt: „Isla-
mische Religionsbedienstete – Forschungsprojekt zur
Gewinnung vertiefender Informationen über Imame und
Dedes“, das vom Bundesamt für Migration und Flücht-
linge gefördert wird, ergibt. Dieses Forschungsprojekt
soll unter anderem bessere Kenntnisse über die Bil-
dungsvoraussetzungen von Imamen und Dedes gewin-
nen, um den Bedarf der Aus- und Fortbildung zu eruie-
ren und Bildungsangebote zielgruppengerecht gestalten
zu können. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes
sollten wir doch berücksichtigen, bevor wir uns nun bei
der Ausbildung alevitischer Religionsgelehrter nur an
dem – durchaus wichtigen – Bedarf an Religionslehrern
orientieren würden.

Zum anderen möchte ich, wie im Antrag der SPD
gefordert, auf die Erkenntnisse des Deutschen Wissen-
schaftsrates verweisen. Er stellt in seinen „Empfehlun-
gen zur Weiterentwicklung von Theologien und religions-
bezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“
vom Januar 2010 für den Fall, dass Aleviten sich nicht
im Kontext des Islam verorten, ausdrücklich folgende
Überlegung an:

Sofern sich alevitische Gemeinden und Verbände
nicht im Kontext des Islam verorten, können sie
keine Akteure im Kontext der Islamischen Studien
werden. Dies schließt aber keineswegs aus, dass die
alevitische Glaubensrichtung in Lehre und For-
schung in anderen Fächern wie zum Beispiel in der
Religionswissenschaft oder in der Turkologie wis-
senschaftlich begleitet werden kann.

Auch hier ist also von einer Forderung nach einem
speziellen Zentrum keine Rede.

Ob es für die Förderung der Ausbildung alevitischer
Religionsgelehrter eines eigenen Zentrums bedarf, um
darüber zu entscheiden, ist es zum jetzigen Zeitpunkt zu
früh. Über die Form, wie wir seitens des Staates die
Rahmenbedingungen unterstützen können, unter denen
alevitische Religionsgelehrte am besten ausgebildet



gegebene Reden

Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)

werden können, müssen wir noch weiter gemeinsam
nachdenken. Ich bitte Sie dafür um Ihre Unterstützung.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1712036100

Nachdem der Wissenschaftsrat im Januar 2010 emp-

fohlen hat, islamische Studien an Hochschulen zu eta-
blieren, hat die Bundesregierung im Grundsatz richtig
reagiert: Es wurden Fördermittel zur Verfügung gestellt,
um die Bundesländer und Hochschulen bei der Einrich-
tung der neuen Zentren zu unterstützen. Inzwischen gibt
es vier Zentren, die von dieser Unterstützung profitieren.

Doch leider hat die Bundesregierung versäumt, auch
die Einrichtung eines Zentrums für alevitische Studien
zu fördern. Nach Schätzungen des Bundesamts für Mi-
gration und Flüchtlinge leben in Deutschland zwischen
480 000 und 552 000 Menschen mit alevitischer Glau-
bensrichtung. Die Alevitische Gemeinde ist eine aner-
kannte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Für sie
muss der Gleichbehandlungsgrundsatz auch in dieser
Frage gelten. Zumal die zentralen Argumente, die für
die Einrichtung islamischer Studien gelten, auch hier
Bedeutung haben.

Bereits 2002 ermöglichte Berlin als erstes Bundes-
land alevitischen Religionsunterricht an öffentlichen
Schulen. Inzwischen wird in sieben Bundesländern ale-
vitischer Religionsunterricht angeboten. In weiteren
Bundesländern laufen Vorbereitungen und Verhandlun-
gen. Diese Entwicklung macht deutlich, dass eine Eta-
blierung einer Ausbildung alevitischer Religionsgelehr-
ter und Pädagogen an Hochschulen in Deutschland
notwendig ist und unterstützt werden muss.

Darüber hinaus geht es grundsätzlich darum, wie bei
anderen Theologien eine wissenschaftliche Beschäfti-
gung in und mit dem Glauben zu organisieren. Das ist
Voraussetzung für einen vertieften Dialog über Grundla-
gen und Ausrichtung der Religionen und der Religions-
gemeinschaften in Deutschland. Dies ist ein Zukunfts-
thema.

Die Religionen sollen Teil einer lebendigen, demo-
kratischen und sozialen Gesellschaft sein – dafür liefert
die wissenschaftliche theologische Debatte unverzicht-
bare Grundlagen. Ohne gegenseitigen Respekt und Tole-
ranz, ohne Gleichbehandlung und Akzeptanz ist gutes
Zusammenleben nicht erreichbar. Und dazu gehört eben
auch der Umgang mit dem anderen Glauben.

Gerade bei der gesellschaftlichen Debatte ebenso wie
bei der Vermittlung von Glaubensfragen müssen wir
weltoffen, pluralistisch und integrativ handeln. Der ale-
vitische Glaube hat seine Rolle und Bedeutung. Das
muss durch die Einrichtung eines Zentrums für aleviti-
sche Studien an einer deutschen Universität verdeutlicht
und unterstützt werden. Wir fordern darum die Bundes-
regierung auf, einen Wettbewerb zur Einrichtung eines
solchen Zentrums auszuschreiben.


Aydan Özoğuz (SPD):
Rede ID: ID1712036200

Mit unserem Antrag möchten wir ein klares Signal

setzen, dass auch Alevitinnen und Aleviten in unserem
Land willkommen sind und dass wissenschaftliche For-
Zu Protokoll
schung und Lehre über die alevitische Glaubensrichtung
dringend notwendig ist.

Lange hat es gedauert, bis die ersten Zentren für Isla-
mische Studien an deutschen Hochschulen eingerichtet
wurden – das ist ein richtiger Schritt. Wir begrüßen es
außerordentlich, dass sich Ministerin Schavan zusam-
men mit den Ländern und den Universitäten auf vier
Standorte verständigt hat, an denen islamisch-theologi-
sche Nachwuchswissenschaftler, Religionslehrer und
Religionsgelehrte ausgebildet werden können. Die SPD
wollte solche Lehrstühle seit langem einrichten; schön,
dass es nunmehr geklappt hat.

Vor diesem Hintergrund fände ich es aber folgerich-
tig, auch ein Zentrum für Alevitische Studien an einer
deutschen Universität einzurichten. Laut Bundesbil-
dungsministerin Schavan sind die neuen Lehrstühle da-
für verantwortlich, die personellen Voraussetzungen für
einen bekenntnisgebundenen islamischen Religionsun-
terricht und für die Ausbildung von wissenschaftlichem
Nachwuchs zu schaffen. Schon heute gibt es genau die-
sen bekenntnisgebundenen alevitischen Religionsunter-
richt in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bay-
ern. Daher ist ein Zentrum für Alevitische Studien, an
dem wissenschaftliche Forschung, Lehre und Diskurs
über das Alevitentum stattfinden und die Lehrkräfte für
den alevitischen Religionsunterricht ausgebildet werden
könnten, durchaus erforderlich.

Dass die Bundesregierung keine Initiative für so ein
Zentrum zeigt, ist ein eklatanter Widerspruch zu den
selbst gesetzten Zielen. Diese Herausforderung war
schon lange absehbar, wenn wir uns noch einmal vor
Augen führen, dass die Alevitische Gemeinde seit 2005
eine anerkannte Religionsgemeinschaft nach Art. 7
Abs. 3 des Grundgesetzes ist.

Als Antwort auf Frage 17 in unserer Kleinen Anfrage
auf Drucksache 17/3387 fiel der Bundesregierung ledig-
lich ein, dass sie erwarte, dass das vielfältige Glaubens-
spektrum des Islam sich am besten dadurch abbilden
könne, dass die Bundesregierung keine Vorgaben dazu
macht, sondern den Ländern und Standorten die Mög-
lichkeit gebe, unterschiedliche Konzepte zu verfolgen,
was die Besetzung der Beiräte und die Ausrichtung des
Angebots betrifft. Dies wird zurzeit richtigerweise kon-
trovers diskutiert. Wir müssen uns dann aber auch
fragen, wie die Lehrkräfte für den alevitischen Religi-
onsunterricht ausgebildet werden sollen. Derzeitige Lö-
sungen wie in Nordrhein-Westfalen mit zertifizierten
Kursen, angeboten durch die Alevitische Gemeinde
Deutschland e. V. selbst, sind ein erster Schritt, aber
nicht ausreichend. Für den Kurs benötigen interessierte
Lehrkräfte – in der Regel alevitischen Glaubens – eine
offizielle Abordnung durch die zuständige Schulbehörde,
was in der Vergangenheit wiederholt daran scheiterte,
dass die Schulen die Abordnung ablehnten, weil die
Lehrkraft an der Schule dringend gebraucht wurde und
unentbehrlich war.

Solange es kein Zentrum für Alevitische Studien gibt,
wird sich auch kein wissenschaftlich fundierter Diskurs
entwickeln. Lehre und Forschung an einem Zentrum
– angeschlossen an eine deutsche Universität – könnten



gegebene Reden

Aydan Özoðuz


(A) (C)



(D)(B)


Aydan Özoğuz
auch das Verhältnis des Alevitentum zum sunnitisch und
schiitisch geprägten Islam in einem akademischen Dis-
kurs untersuchen und thematisieren.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, unserem An-
trag zu folgen und die Bundesregierung aufzufordern,
die Errichtung eines Zentrums für Alevitische Studien an
einer deutschen Universität auf den Weg zu bringen.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1712036300

Die FDP-Bundestagsfraktion hat die Initiative der

christlich-liberalen Bundesregierung von Anfang an ge-
stützt, den Aufbau von Zentren für islamische Studien zu
fördern. Entsprechend der Empfehlung eines hochran-
gig besetzten Gutachterausschusses des Wissenschafts-
rates wurden in zwei Auswahlrunden bereits insgesamt
vier Zentren für islamische Studien an deutschen Hoch-
schulen eingerichtet. Im Herbst 2010 sind Tübingen und
Münster/Osnabrück und im Februar 2011 die Universi-
täten Erlangen-Nürnberg und Frankfurt/Gießen ausge-
wählt worden und erhalten seitdem eine Förderung aus
Bundesmitteln. Der Bund fördert für die nächsten fünf
Jahre Forschungsprofessuren, Mitarbeiterstellen und
Nachwuchsgruppen. Das Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung, BMBF, stellt dafür pro Standort
bis zu 4 Millionen Euro zur Verfügung.

Man darf nicht vergessen, dass auf diesem Gebiet
jahrelanger Stillstand herrschte, sich kein Lüftchen
regte. Während elf Jahren sozialdemokratischen Tief-
schlafs regte sich bei diesem wichtigen Thema nichts.
Und nun – ganz plötzlich – wird versucht, per Antrag
„Einrichtung eines Zentrums für Alevitische Studien för-
dern“ ein wenig Stimmung zu machen. Da passt natür-
lich, dass der Antrag der SPD-Fraktion sich als Pot-
pourri unklarer und wenig durchdachter Forderungen
darstellt, alles nach dem Motto: in den Topf und kräftig
verrühren – wird schon eine rote Soße werden. – Etwas
Brauchbares kann dabei natürlich nicht herauskommen!

Zu den Inhalten: Man will zunächst einen „Wettbe-
werb“ anzetteln, um Bundesmittel für ein Zentrum an ei-
ner deutschen Universität loszueisen. Sehr kreativ! Das
Ganze wird damit begründet, dass die circa 500 000
Moslems alevitischer Prägung, die in Deutschland be-
heimatet sind, eine akademisch verwurzelte Anlaufstelle
benötigen. Das will ich gar nicht in Abrede stellen.

Leider wird das Vorhaben, auch auf Länderebene,
nicht so einfach umzusetzen sein, wie die SPD dies in ih-
rem Papier suggeriert. Man übersieht – ob wissentlich
oder nicht, soll hier einmal nicht interessieren, – dass
die alevitische Gemeinde nur in fünf Bundesländern als
„eine anerkannte Religionsgemeinschaft“ zählt. Dazu
gehören Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und
Nordrhein-Westfalen. In Bremen, Brandenburg oder
Rheinland-Pfalz, genau dort, wo die SPD seit Jahrzehn-
ten das Zepter in der Hand hält, wird dies den aleviti-
schen Gemeinschaften gerade nicht zuerkannt! Man
stelle sich unter diesen Umständen vor, wie ein Herr
Kurt Beck an der Johannes-Gutenberg-Universität in
Mainz ein solches alevitisches Zentrum eröffnet! Auch
sollte sich die SPD an die Nase fassen und nicht im
Glashaus mit Steinen spielen!
Zu Protokoll
Die Gründung und Betreibung von Zentren für Is-
lamstudien, wie sie erstmals von der christlich-liberalen
Bundesregierung vorangetrieben wird, ist Ausdruck ei-
ner offenen und toleranten Gesellschaft. Für uns Libe-
rale leisten diese Zentren einen wichtigen Beitrag zur
Akzeptanz des Islams in Deutschland. Gerade die theo-
logische Forschung und die Ausbildung von Religions-
lehrern und Imamen ist entscheidend für die Integration
von Muslimen in unserem Land. Der Islam kann in unse-
rem Land von der hiesigen Bevölkerung nur dann als
Bereicherung angesehen werden, wenn er verfassungs-
konform ausgestaltet ist und unsere Werteordnung aner-
kennt. Wir haben uns in diesem Zusammenhang auch die
Frage gestellt, inwiefern die wesentlichen Strömungen
innerhalb des Islams hier gebündelt eine Heimat finden
können oder ob eine weitere Differenzierung zwingend
notwendig ist. Letztlich muss dies jedoch seitens der zu-
ständigen Ebene entschieden werden.

Der Aufbau von Studiengängen liegt in der Zustän-
digkeit der Länder. Die Entscheidung über die Einrich-
tung von Zentren für islamische oder – wie von der SPD-
Fraktion gefordert – alevitische Studien an deutschen
Hochschulen liegt grundsätzlich bei den Ländern. Bei
den islamischen Studien konnten sich diese um eine För-
derung des BMBF bewerben, ohne dass das BMBF die
Inhalte der Studiengänge vorgegeben hatte. Für die Ale-
viten bestand und besteht die Möglichkeit, sich mit dem
Anliegen, die Etablierung der alevitischen Glaubens-
richtung in Lehre und Forschung an deutschen Univer-
sitäten und die Ausbildung von alevitischen Geistlichen
in Deutschland voranzutreiben, an die vonseiten des
BMBF zur Förderung ausgewählten Standorte zu wen-
den. Das BMBF ist nach unseren Informationen in ei-
nem ständigen Austausch mit der Gemeinde der Aleviten
in Deutschland; insofern bedarf es hierfür keines An-
trags aus den Reihen der Opposition.

Sollte unabhängig von der Etablierung der islami-
schen Studien in Deutschland ein landesseitig finanzier-
ter Lehrstuhl für alevitische Glaubenslehre eingerichtet
werden, kann man aus unserer Sicht immer noch über
eine flankierende Bundesförderung nachdenken. Eine
spezielle Förderung für die Ausbildung alevitischer
Geistlicher im Rahmen der Etablierung islamischer Stu-
dien lässt sich mit Blick auf die Empfehlungen des Wis-
senschaftsrats und auf die Besonderheit der alevitischen
Glaubensrichtung in Bezug zum Islam jedoch nicht ver-
wirklichen.

Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion kann eine in-
stitutionelle, solide und nachhaltige Finanzierung von
Hochschuleinrichtungen kaum „auf Basis eines Wettbe-
werbs“ sichergestellt werden. Wer eine dauerhafte Lö-
sung sucht, muss ein gemeinschaftliches Vorgehen von
Bund und Ländern anstreben. Der von der SPD-Frak-
tion vorgelegte Antrag gaukelt den Betroffenen etwas
vor und findet daher nicht unsere Unterstützung.


Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712036400

In Deutschland lebt mehr als eine halbe Million Men-

schen der alevitischen Glaubensrichtung. Im vorliegen-
den Antrag stellt die SPD richtig fest, dass die aleviti-



gegebene Reden

Raju Sharma


(A) (C)



(D)(B)

sche Gemeinde eine anerkannte Religionsgemeinschaft
ist. Die Fraktion Die Linke begrüßt daher den Antrag
der SPD nach der Einrichtung eines Zentrums für alevi-
tische Studien.

Das wäre allein schon deshalb eine sinnvolle Maß-
nahme, weil es die Religionsfreiheit verlangt, dass der
Staat alle Religionsgemeinschaften gleich behandelt.
Die von der Bundesregierung angeregten Zentren für
Islamstudien würden dem nicht gerecht werden. Zwar
war deren Einrichtung ein guter und wichtiger Schritt.
Religiöse Vielfalt als Bereicherung zu verstehen und da-
bei mit aller Konsequenz für die Gleichbehandlung der
Religionen einzutreten bis hin zur Verankerung an den
Universitäten, in Forschung und Lehre, ist der nächste
wichtige Schritt.

Der Islam ist vielfältig ausgeprägt. Das ist zu erken-
nen und anzuerkennen. Gerade die alevitische Gemeinde
ist der Beweis dafür, dass es nicht den einen Islam gibt:
Genau wie bei Christen oder Juden gibt es sowohl kon-
servative als auch liberale Erscheinungsformen ein und
derselben Religion. Die alevitische Gemeinde steht für
eine besonders liberale Ausprägung des Islam. Sie ist
damit ein lebendiges Gegenbeispiel für die stereotypen
Ressentiments, die immer wieder gegen die islamischen
Glaubensgemeinschaften – zum Beispiel aus den Reihen
der SPD durch Thilo Sarrazin – formuliert werden.

Alevitinnen und Aleviten bekennen sich zur unantast-
baren Würde des Menschen, zur Gleichberechtigung von
Mann und Frau, zur Gewährleistung von Glaubens- und
Religionsfreiheit. Warum sollen wir also jenen unsere
Anerkennung und im Vergleich zu anderen Religionsge-
meinschaften gleichberechtigte Unterstützung verwei-
gern?

An zahlreichen Schulen wird schon heute alevitischer
Religionsunterricht angeboten – der Antrag verweist auf
die Bundesländer Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen
und Bayern. Das ist gut, doch es mangelt gravierend an
speziell geschulten Lehrkräften. Die Nachfrage nach
alevitischem Religionsunterricht wird in den kommen-
den Jahren sogar weiter wachsen. Auch das spricht für
die Einrichtung alevitischer Zentren zur Ausbildung von
Lehrpersonal, zur Förderung von Wissenschaft und For-
schung.

Die Regierungskoalition sollte sich daher ihrer Ver-
antwortung stellen und der Einrichtung eines Zentrums
für alevitische Studien nicht verweigern.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712036500

Ich begrüße und unterstütze ausdrücklich die Initia-

tive der SPD-Kolleginnen und -Kollegen, ein Zentrum
für alevitische Studien zu fördern. In Deutschland leben
inzwischen rund eine halbe Million Aleviten. Sie sind
überwiegend türkischer Herkunft und als Arbeits-
migrantinnen und -migranten nach Deutschland gekom-
men oder sind deren Nachkommen. In der Türkei leben
zwischen 13 und 22 Millionen Aleviten. Bis heute werden
die Aleviten vom türkischen Staat nicht als religiöse
Minderheit anerkannt, sondern immer noch diskrimi-
niert und marginalisiert. Das hat zum Beispiel zur
Zu Protokoll
Folge, dass alevitische Kinder am sunnitisch geprägten
Religionsunterricht teilnehmen müssen. Im Gegensatz
zur sunnitischen Glaubensrichtung erhalten sie auch
keine staatliche Unterstützung für die Ausübung ihrer
Religion, und ihre Versammlungshäuser sind nicht ge-
schützt. Die Europäische Union hat die Diskriminierung
der Aleviten im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei mehrfach kritisiert.

Von orthodoxen sunnitischen Muslimen werden Alevi-
ten als Häretiker und Ungläubige bezeichnet. Böswillige
Vorurteile gegen Aleviten sind bei türkischen Sunniten
noch heute verbreitet. In osmanischer Zeit wurde das
Alevitentum verfolgt, und bis in die jüngste Zeit gab und
gibt es in der Türkei Übergriffe und Pogrome gegen Ale-
viten vonseiten türkischer Nationalisten und sunniti-
scher Fundamentalisten. 1993 zündete in Sivas ein auf-
gebrachter Mob ein Hotel an, in dem sich zahlreiche
alevitische Künstler und Intellektuelle aufhielten.
37 Menschen starben in den Flammen.

Deutschland und die EU sollten die Beendigung der
Diskriminierung des Alevitentums von der Türkei un-
missverständlich einfordern. Der deutsche Staat sollte
aber auch dazu beitragen, dass sich die Marginalisie-
rung der Aleviten nicht auch noch in Deutschland fort-
setzt. Deshalb ist es richtig, bei der Gestaltung des Reli-
gionsunterrichts und der Einrichtung von Zentren für
islamische Studien den alevitischen Glauben nicht ein-
fach unter einem sunnitisch verengten Islam zu subsu-
mieren, sondern seine Selbstbestimmung und Eigenstän-
digkeit zu betonen.

Die Alevitische Gemeinde in Deutschland fordert seit
langem die Möglichkeit für alevitischen Religionsunter-
richt in deutscher Sprache an deutschen Schulen. Einige
Städte haben bereits damit angefangen. Dies setzt aber
die Ausbildung von geeignetem Lehrpersonal an deut-
schen Universitäten voraus.

Einige Aleviten sehen sich als Muslime, andere nicht.
Welcher Glaube zur muslimischen Religion gehört und
welcher nicht, kann und darf nicht die Politik entschei-
den. Es muss den alevitischen Gemeinden und Verbän-
den überlassen bleiben, sich innerhalb des Kontexts des
Islam oder außerhalb zu verorten. Die Verortung können
die Gläubigen nur selbst vornehmen.

Diesem Spannungsverhältnis des Alevitentums im
Verhältnis zum Islam müssen auch die Institutionen
gerecht werden, die die Politik für die Herausbildung
theologischer Studien fördert. Deshalb ist es richtig, ei-
nerseits bei den Zentren für islamische Studien grund-
sätzlich keine Richtung islamischer Glaubenstradition
und Gelehrsamkeit auszuschließen, andererseits aber
auch parallel dazu ein Zentrum für alevitische Studien
einzurichten. Es geht dabei nicht nur um die Ausbildung
von Lehrpersonal für einen alevitischen Religionsunter-
richt. Das Alevitentum ist auch aus Forschungssicht ein
spannendes Feld mit seinen tiefen mystischen Wurzeln,
der herausragenden Bedeutung von Tänzen, Musik, Ge-
dichten und Liedern, den vielen integrierten Elementen
des Sufismus bis hin zu besonderen Ausprägungen wie
den Derwischbruderschaften der Bektaschi. Die Alevi-
ten in Deutschland haben aber auch aus politischer



gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)

Sicht Unterstützung nicht nur nötig, sondern auch ver-
dient. Es handelt sich um eine tolerante Religion, in der
der Mensch und sein individuelles Verhältnis zu Gott im
Mittelpunkt stehen. Dogmatische Regeln wie Ritualge-
bete, Bedeckung oder Verschleierung von Frauen und
andere als oberflächliche Äußerlichkeiten bewertete
Vorschriften haben im Alevitentum keinen Platz. Die
Scharia wird abgelehnt. Männer und Frauen sind
gleichgestellt. Das Alevitentum ist eine humanistische
und universelle Religion, die zu liberalen und modernen
Gesellschaftsvorstellungen passt. Kein Wunder, dass die
Aleviten in Deutschland in der Regel gut integriert sind
und viele die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen
haben. Ein Zentrum für alevitische Studien wäre für die
gesamte deutsche Gesellschaft und nicht nur für die Ale-
viten ein Gewinn und könnte den Dialog der Weltreli-
gionen um eine besondere Facette bereichern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712036600

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5517 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Ausgrenzung stoppen – Alle Kinder, Jugendli-
che und junge Erwachsene im Leistungsbezug
des Asylbewerberleistungsgesetzes in das Bil-
dungs- und Teilhabepaket einbeziehen

– Drucksache 17/6455 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1712036700

„Ausgrenzung stoppen“ ist die plakative Überschrift

des vorliegenden Antrages der SPD-Fraktion. Sie impli-
zieren, dass in unserem Land asylsuchende Kinder und
Jugendliche systematisch ausgegrenzt werden. Diesen
Vorwurf weise ich in aller Deutlichkeit zurück.

Bei der Lektüre Ihres Antrages ist aufgefallen, dass er
im Grunde deckungsgleich mit dem Bundesratsantrag
der Freien und Hansestadt Hamburg vom 14. Juni 2011
– Drucksache 364/11 – ist. Es freut mich, dass die SPD
in breiter Front antritt, aber führen Sie doch bitte keine
Scheingefechte.

Lassen Sie mich zur Thematik klar feststellen – und
Sie führen es in Ihrem Antrag auch an –: Die Kinder,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Leistungsbe-
zug nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes,
AsylbLG, haben einen Anspruch auf die Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepaketes, das die Bundesregie-
rung auf den Weg gebracht hat. Dies ist unstrittig. Sie
wissen auch, dass wir uns des Themas der jungen Men-
schen mit Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG bereits an-
genommen haben und der Sachverhalt geprüft wird. Da-
her kann ich die Notwendigkeit Ihres Antrages nicht
erkennen.

Sie verkennen komplett, dass die Problematik im
Fluss ist. Einerseits haben sich viele Kommunen der He-
rausforderung angenommen und gewähren den leis-
tungsberechtigten Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen nach § 3 AsylbLG die Leistungen des Bil-
dungs- und Teilhabepaketes im Rahmen ihrer Befugnisse
nach § 6 Abs. 1 AsylbLG. Andererseits beginnen die
Bundesländer, denen die Durchführung des Asylbewer-
berleistungsgesetzes obliegt, eigene Regelungen zu er-
lassen. Beispielsweise beschloss der Berliner Senat im
April 2011, dass die Leistungen des Bildungs- und Teil-
habepaketes allen Asylbewerberkindern gewährt wer-
den.

Auch wenn Sie die Deutungshoheit über die Sozial-
politik gerne für sich in Anspruch nehmen, so müssen
Sie doch eingestehen, dass wir uns des Themas ange-
nommen haben. Sie argumentieren in ihrem Antrag mit
der UN-Kinderrechtskonvention. Darf ich Sie daran er-
innern, dass es gerade die christlich-liberale Koalition
war, die die UN-Kinderrechtskonvention vorbehaltlos
anerkannt hat? Wenn Ihnen das Thema so wichtig wäre,
hätten Sie die Jahre Ihrer Regierungsverantwortung
nutzen können, um dies abzustellen.

Durch Ihre Formulierung „bislang nicht vorgese-
hen“ müssen Sie einerseits erkennen, dass eine einheit-
liche Regelung angedacht und in Vorbereitung ist. Die
Bundesregierung teilte in ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion Die Linke (Drucksache 17/5633)

mit: „Soweit es um Leistungsberechtigte nach § 3
AsylbLG geht, ist die Gewährung von Leistungen für
Bildung und Teilhabe Gegenstand der Prüfung der Be-
messung der Leistungssätze. Diese Prüfung ist noch
nicht abgeschlossen.“

Andererseits impliziert „nicht vorgesehen“, dass Ge-
währung von Leistungen für Bildung und Teilhabe
schlicht und ergreifend verboten sei. Auf die Gefahr hin,
dass ich mich wiederhole: Es ist schon jetzt möglich und
vielfach auch gelebte Praxis, dass Kindern, die nach § 3
AsylbLG leistungsberechtigt sind, die Leistungen für
Bildung und Teilhabe als sonstige Leistungen nach § 6
Abs. 1 dritte Alternative AsylbLG gewährt werden.

Wir haben uns des Themas angenommen, und Sie wis-
sen, dass wir und das BMAS den Sachverhalt zum Wohle
der Betroffenen prüfen. Ich möchte Sie daher auffor-
dern, dass Sie Ihren Antrag zurückziehen. Das Thema ist
bereits auf der Agenda und auch für mich ein wichtiges
Anliegen. Da die Prüfung läuft, ist Ihr Antrag entbehr-
lich und daher von uns abzulehnen.


Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1712036800

Wir behandeln den Antrag der SPD-Fraktion „Aus-

grenzung stoppen – Alle Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene im Leistungsbezug des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes (AsylbLG) in das Bildungs- und Teilhabe-
paket einbeziehen“.

Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)

Für mich als Christdemokratin ist es wieder sehr in-
teressant, zu beobachten, dass ein solcher Antrag von-
seiten der SPD gestellt wird. Dabei dürfte doch allen
Anwesenden bewusst sein, dass mit der Einführung des
Bildungs- und Teilhabepakets durch unsere Bundes-
regierung erst einmal das repariert werden musste, was
Rot-Grün seinerzeit bei der Einführung der ALG-II-
Sätze vergessen hatte, nämlich einen Rechtsanspruch für
Kinder auf Bildung und aufs Mitmachen.

Nach einer für alle Seiten nervenaufreibenden Bera-
tungs- und Umsetzungsphase, die vor allem seitens der
SPD immer wieder blockiert und unterbrochen wurde,
gab es für das Bildungspaket Ende März endlich den of-
fiziellen Startschuss.

Bevor ich das AsylbLG ins Spiel bringe, möchte ich
noch einmal an die Idee des Bildungspaketes erinnern:
Kinder einkommensschwacher Familien sollen die Mög-
lichkeit haben, Lern- und Freizeitangebote in Anspruch
zu nehmen. Anspruchsberechtigt sind Kinder und Ju-
gendliche, deren Eltern leistungsberechtigt nach dem
SGB II sind, also Kinder, deren Familien Arbeitslosen-
geld II, Sozialgeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag oder
Wohngeld beziehen.

Nun komme ich zum AsylbLG. Schon in der unglückli-
chen Titelwahl Ihres Antrags, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, der mit „Ausgrenzung stoppen“
beginnt, fragt man sich doch, ob der Leitgedanke des
Bildungs- und Teilhabepaketes richtig interpretiert
wurde. Kinder und Jugendliche, deren Familien recht-
lich unter das AsylbLG fallen, können ebenfalls vom Bil-
dungs- und Teilhabepaket profitieren.

Voraussetzung hierfür ist, dass ihre Eltern Leistungen
nach § 2 des AsylbLG beziehen. Ob dann aber ein
Anspruch auf die von der SPD infrage gestellten „sons-
tigen Leistungen“ vorliegt, ist eine Ermessensentschei-
dung. Dieses Ermessen obliegt – so sieht es der Gesetz-
geber bei allen Verwaltungsakten wie auch bei diesem
vor – der jeweiligen Behörde vor Ort, sprich den Län-
dern und ihren Kommunen. Insgesamt sind für das Bil-
dungspaket Summen von rund 1,6 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt worden. Diese kommen bundesweit
circa 2,5 Millionen Kindern zugute.

Sowohl bei der Umsetzung als auch bei den Ermes-
sensleistungen im Einzelfall sind die Entscheidungsträ-
ger vor Ort gefragt. Da kann der Bund nicht bestimmen,
welche individuellen Bedürfnisse ein einzelner ALG-II –
oder AsylbLG-Empfänger in der Region XY aufzuweisen
hat. Der Bund kann auch nicht vorhersagen, welche be-
sonderen Umstände in der Biografie oder der Region
des Leistungsempfängers dominieren und welche Hand-
lungsansätze dort am besten geeignet sind.

Wir setzen deshalb auf das Vertrauen der Ansprech-
partner vor Ort in den Ländern und Kommunen, die das
Bildungs- und Teilhabepaket an das Kind bringen. Denn
da sollen die Leistungen letztlich hin – zum Kind. Rot re-
gierte Länder wie Berlin oder Hamburg haben das Bil-
dungspaket bereits in den vergangenen Monaten auf Fa-
milien ausgeweitet, die einen Asylantrag gestellt haben.
Diese Entscheidung sollte man, wie diese Beispiele zei-
Zu Protokoll
gen, durchaus den einzelnen Ländern überlassen. Viel-
leicht wäre es ja ganz interessant, wenn die SPD-Frak-
tion in einer Art Evaluation von ihren Erfahrungen in
den Ländern berichten könnte.

Als Harzer Christdemokratin kann ich aus persönli-
cher Erfahrung in meinem Wahlkreis sagen, dass dort
ein großartiges soziales Engagement, beispielsweise
seitens der Kirchen, vorhanden ist. Das ist in vielen Be-
reichen des sozialen Miteinanders der Fall. Bestimmte
Träger von Kindertagesstätten geben allen Kindern
– egal ob Leistungsempfänger oder nicht – ein kostenlo-
ses warmes Mittagessen.

Das Bildungspaket, das heißt die warme Mittagsver-
sorgung, muss in diesen Fällen nicht beantragt werden.
Wir als Bund geben die Rahmenbedingungen, um die
freie Entfaltung der Persönlichkeit unserer Kinder vor
Ort zu gewährleisten, die dann von den Ländern und
Kommunen umgesetzt werden.

Der Bund kann nicht alles regeln. Länder und Kom-
munen vor Ort können und sollten im Interesse ihrer
Bürger in ihrem jeweiligen Bundesland Entscheidungen
und soziale Maßnahmen vor Ort regeln, und wir sollten
sie aus dieser sozialen Verantwortung nicht entlassen.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1712036900

Heute haben wir mit unserem Antrag eine große und

wichtige Baustelle auf die Tagesordnung des Bundestages
gehoben. Es geht um die Bildungs- und Teilhabechancen
der Kinder in unserem Land. Die SPD-Bundestagsfraktion
setzt sich gemeinsam mit den sozialdemokratischen
Landtagsfraktionen dafür ein, dass endlich alle Kinder,
Jugendliche und junge Erwachsene einen Rechts-
anspruch auf die Leistungen des Bildungs- und Teilha-
bepaketes bekommen. Dies ist bisher nicht der Fall.
Flüchtlingskinder, die weniger als vier Jahre in
Deutschland leben, haben keinen gesetzlichen An-
spruch. Sie sind auf das Ermessen der jeweilig zuständi-
gen Behörden angewiesen. Manche bewilligen, andere
nicht. Rund 40 000 Kinder sind betroffen, und es sind die
ärmsten der armen Kinder.

Kinder im Asylbewerberleistungsbezug müssen mit
bis zu 40 Prozent geringerer Regelleistung auskommen.
Sie sind deshalb in ganz besonderer Weise auf das Bil-
dungs- und Teilhabepaket angewiesen. Doch sie werden
zu Bittstellern degradiert und bei Nichtgewährung
schlichtweg ausgegrenzt.

Wenn wir uns die Folgen einmal praktisch vorstellen,
kann die derzeitige gesetzliche Regelung dazu führen,
dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen, die zusam-
men in dieselbe Kita oder Schule gehen, von gemeinsa-
mem Mittagessen, Ausflügen und Klassenfahrten ausge-
schlossen ist und am Nachmittag nicht zum Sportverein
gehen kann. Diese bestehende Diskriminierung ist auch
mit der UN-Kinderrechtskonvention unvereinbar. Ein
unhaltbarer Zustand. Diese soziale Ungerechtigkeit
müssen wir schnellstens beenden. Die schulischen Er-
folgschancen, insbesondere in höheren Klassen, werden
mangels Anspruch auf Lernförderung und Übernahme
der Schülerbeförderungskosten sowie den fehlenden



gegebene Reden

Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

100 Euro jährlich für Schulbedarf ebenfalls stark ver-
ringert.

Welches Kind erreicht unter den ohnehin schwierigen
Bedingungen einer Flucht aus dem Heimatland in einem
fremden Land mit unbekannter Sprache ohne Unterstüt-
zung einen Schul- oder Berufsabschluss? Diesen jungen
Menschen wird auch noch die Hilfestellung des Bil-
dungs- und Teilhabepaketes gerade in den wichtigen
ersten Jahren in Deutschland versagt, die wir anderen
Kindern aus sozial schwachen Familien zur Verbesse-
rung ihrer Bildungschancen ermöglichen. Alle anderen
Gruppen, die derzeit Anspruch auf Bildungs- und Teil-
habeleistungen besitzen, also Familien, die Grundsiche-
rung, Sozialhilfe, Wohngeld oder Kinderzuschlag bezie-
hen, haben – zumindest vergleichsweise – durchweg mit
weniger Schwierigkeiten zu kämpfen und größere finan-
zielle Möglichkeiten als diejenigen, die sich weniger als
vier Jahre im Leistungsbezug des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes befinden. Daher ist im Sinne der Gleich-
behandlung von Kindern und Jugendlichen eine Geset-
zesänderung unbedingt nötig.

Unsere sozialdemokratisch geführten Bundesländer
Berlin und Hamburg gewähren als Sofortmaßnahme
auch den aktuell ausgeschlossenen Kindern die Leistun-
gen für Bildung und Teilhabe aus Landesmitteln. Sie tun
das, weil sie diese soziale Ungerechtigkeit zulasten von
Kindern nicht hinnehmen wollen.

Und wie sieht es auf Bundesebene aus? Mit dem
Motto „Mitmachen – Möglich machen!“ bewirbt Bun-
desarbeitsministerin von der Leyen das Bildungs- und
Teilhabepaket. Die große Gesetzeslücke, dass etwa
40 000 arme Flüchtlingskinder gar keinen Anspruch
aufs „Mitmachen“ haben, verschweigt sie. Korrigieren
will sie den Fehler aber bislang auch nicht. Es muss in
ganz Deutschland endlich eine klare und einheitliche
Regelung geben, die den Betroffenen Rechtssicherheit
gibt. Dafür müssen wir uns einsetzen.

In unserem vorliegenden Antrag, den Hamburg in
ähnlicher Form in den Bundesrat eingebracht hat, for-
dern wir die Bundesregierung daher auf, auch Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Asylbewer-
bern, die weniger als vier Jahre in Deutschland leben,
einen Rechtsanspruch auf Leistungen des Bildungs- und
Teilhabepakets zu gewähren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
der Linken, Sie dürften keine Schwierigkeiten haben, un-
seren Anträgen im Bundestag und Bundesrat zuzustim-
men. Sie haben ja beispielsweise im schleswig-holsteini-
schen Landtag kürzlich zusammen mit der SPD dafür
gestimmt, dass die Landesregierung allen Kindern aus
Asylbewerberfamilien die Bildungs- und Teilhabeleis-
tungen gewähren soll. Leider ist dies an der schwarz-
gelben Regierungskoalition gescheitert. Ich bitte im In-
teresse der Flüchtlingskinder um Ihre Unterstützung.
Aber auch die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP lade ich ein, unseren Antrag zu unterstützen.
Meine Damen und Herren aus den Regierungsfraktio-
nen, geben Sie sich einen Ruck und setzen Sie das Motto
„Mitmachen!“ Ihrer Ministerin von der Leyen endlich
aktiv in die Tat um.
Zu Protokoll
Frau Ministerin von der Leyen, Sie stehen aber noch
viel stärker in der Bringschuld. Die Grundsicherungs-
sätze des Asylbewerberleistungsgesetzes sind immer
noch verfassungswidrig und müssen schnellstmöglich
angepasst werden. Das wissen wir spätestens seit dem
Urteil zu den Regelsätzen im Sozialgesetzbuch II und XII
– also zum Arbeitslosgengeld II und der Sozialhilfe – im
Februar 2010, das natürlich auch für das Asylbewerber-
leistungsgesetz gilt. Dies habe ich bereits in zwei Reden
zum Asylbewerberleistungsgesetz im Juni 2010 und im
Januar dieses Jahres deutlich gemacht und Sie aufgefor-
dert, endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die
derzeitige verfassungswidrige Leistungspraxis für Asyl-
bewerber beendet. Wir haben diese Forderung am
2. März 2010 in unserem Antrag zur Neufestsetzung der
Regelsätze formuliert und in unserem Antrag zur trans-
parenten Bemessung der Regelbedarfe vom 10. Novem-
ber 2010 erneuert. Geschehen ist seit bald eineinhalb
Jahren immer noch nichts. Frau von der Leyen, wann
handeln Sie endlich, um das Asylbewerberleistungsge-
setz grundgesetzkonform und menschenwürdig auszuge-
stalten?

Über 120 000 Menschen in Deutschland erhalten
Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Da sie
nicht arbeiten dürfen, sind sie zwangsläufig auf die
Grundsicherung angewiesen. Sie müssen aber mit deut-
lich weniger auskommen als Sozialhilfe- oder Arbeitslo-
sengeld-II-Bezieher, und das, obwohl sie zum großen
Teil bereits viele Jahre in Deutschland leben. Allerdings
müssen nicht nur die Regelsätze selbst neu berechnet
werden, auch deren fortlaufende Aktualisierung muss
endlich sichergestellt werden. Denn seit Einführung des
Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 gab es keinerlei
Erhöhung der Regelsätze. Der Kaufkraftverlust beträgt
seitdem etwa 25 Prozent.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom Februar 2010 ausdrücklich eine transparente, men-
schenwürdige Grundsicherung und auch deren Anpas-
sung an Preissteigerungen eingefordert. Dieses Urteil
unterscheidet nicht zwischen deutschen und ausländi-
schen Menschen, die bei uns leben und auf Sozialleistun-
gen angewiesen sind. Darüber hinaus sehen wir in wei-
teren Bereichen des Asylbewerberleistungsgesetzes
Handlungsbedarf und werden im Herbst einen dezidier-
ten Forderungskatalog vorlegen. Das betrifft haupt-
sächlich das diskriminierende Sachleistungsprinzip
einschließlich der Gemeinschaftsunterkünfte, die medi-
zinischen Leistungen, den Kreis der Leistungsberechtig-
ten und die Dauer des Leistungsbezuges. Denn weder
Essenspakete noch Gutscheine für Kleidung oder Le-
bensmittel sind ein würdiger Umgang mit den Hilfebe-
dürftigen, die zudem Mehrkosten durch den Verwal-
tungsaufwand verursachen.

Unmenschlich ist auch die teure Zwangsunterbrin-
gung in isoliert gelegenen Gemeinschaftsunterkünften.
Darüber hinaus muss der Kreis der Leistungsberechtig-
ten überprüft und wieder auf den ursprünglich Perso-
nenkreis, für den das Asylbewerberleistungsgesetz 1993
geschaffen wurde, nämlich Asylsuchende und Flücht-
linge, reduziert werden, die unser Land voraussichtlich
wieder verlassen werden. Auch die Dauer des Leistungs-



gegebene Reden

Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

bezuges muss reduziert werden. Denn bei den derzeiti-
gen vier Jahren kann nicht mehr von einem vorüberge-
henden Aufenthalt gesprochen werden.

Obgleich die sogenannte Residenzpflicht nicht im
Asylbewerberleistungsgesetz enthalten ist, sind Asylbe-
werberinnen und Asylbewerber von den damit verbun-
denen Mobilitätseinschränkungen betroffen. Deshalb
haben wir kürzlich einen Antrag zur Abschaffung der
Residenzpflicht und für mehr Bewegungsfreiheit für
Asylsuchende und Geduldete vorgelegt – Drucksache
17/5912. Auch hierfür werbe ich um Unterstützung.

Abschließend appelliere ich noch einmal an Sie: Der
Bildungs- und Teilhabeflickenteppich der deutschen
Kleinstaaterei beim Bildungspaket für Kinder von Asyl-
bewerberinnen und Asylbewerbern – wie es die „taz“ in
ihrer Ausgabe vom 8. Juni nannte – muss endlich ein
Ende haben. Handeln Sie im Sinne der 40 000 ausge-
grenzten Flüchtlingskinder, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen in Deutschland, unterstützen Sie unseren
Antrag im Bundestag und wirken Sie auf Ihre Landtags-
fraktionen ein, das Gleiche auf Landesebene zu tun. Nur
Bund und Länder gemeinsam können hier soziale Ge-
rechtigkeit bewirken.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1712037000

Mit der Leistungsreform des Sozialgesetzbuches II

haben wir am 25. Februar im Deutschen Bundestag
erstmalig einen Bildungs- und Teilhabeanspruch von
Kindern und Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosen-
geld II beziehen, geschaffen. Die bisherige Gesetzge-
bung und die bisherige Regelsatzverordnung sah keiner-
lei Anspruch auf diese Leistungen vor. Die christlich-
liberale Koalition war diejenige, die das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 ernst ge-
nommen und umgesetzt hat.

Wir haben uns dafür entschieden, im so wichtigen Be-
reich der Bildungsunterstützung von Kindern einen
Wechsel von Geldleistungen hin zu Sachleistungen zu
vollziehen. Wir wollen damit verhindern, dass Kindern
Chancen verwehrt bleiben, nur weil ihre Eltern aktuell
auf unsere Unterstützung und Solidarität angewiesen
sind.

Der Antrag der SPD verwundert mich aber doch ein
wenig. Zum einen haben wir die Leistungsreform des So-
zialgesetzbuches II zusammen im Vermittlungsausschuss
beraten und gemeinsam im Bundestag und Bundesrat
beschlossen. Dabei haben wir auch Einigkeit über das
Bildungs- und Teilhabepaket hergestellt. Was mich aber
noch mehr verwundert, ist der genaue Inhalt Ihres An-
trags. Sie haben in den Verhandlungen über einen Kom-
promiss bei der Leistungsreform des SGB II für eine
kommunale Lösung gestritten. Sie wollten, dass die
Kommunen die Verantwortung für die Erbringung des
Bildungs- und Teilhabepakets erhalten. Dadurch kann
jede Kommune unterschiedliche Wege beschreiten. Da-
her sollte es Sie nicht verwundern, dass wir nun kommu-
nal unterschiedliche Lösungen und Herangehensweisen
haben. Das war Ihr Wunsch.
Zu Protokoll
Der erste Vorschlag der Bundesregierung war, das
Ganze in der Hoheit der Bundesagentur für Arbeit zu
verorten. Daher sollten Sie jetzt auch nicht mit dem Fin-
ger auf die Bundesregierung zeigen. Sie wissen, das,
wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, die restli-
chen Finger auf einen selbst zeigen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Fe-
bruar hat sich mit den Kindern befasst, deren Eltern Ar-
beitslosengeld II, den Kinderzuschlag oder Wohngeld
beziehen. Aussagen zum Asylbewerberleistungsgesetz
hat es nicht getroffen. Daher haben wir diesen Bereich
auch nicht gesetzlich geregelt. Es müsste doch in Ihrem
Sinne sein, dass die Kommunen jetzt über die Erbrin-
gung der Leistungen selbst entscheiden können. In § 6
Abs. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes heißt es:
„Sonstige Leistungen können insbesondere gewährt
werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Le-
bensunterhalts oder der Gesundheit unerläßlich, zur
Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten
… sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen … zu ge-
währen.“ Wir haben hier also schon eine gesetzliche Re-
gelung. Zudem ist es schon heute so, dass der Großteil
der Kommunen die Leistungen auch für die Kinder aus
dem Rechtskreis des Asylbewerberleistungsgesetzes er-
bringt. Dabei werden es jede Woche mehr.

Ich möchte aber Ihren Antrag auch nutzen, um einen
anderen Aspekt in die Debatte einzuführen. Es steht für
die FDP-Bundestagsfraktion außer Frage, dass jeder,
der als Asylbewerber nach Deutschland kommt, das
Recht auf ein faires Verfahren und einen fairen Umgang
hat. Eines sollten wir aber nicht vergessen, dass es der
Wunsch fast aller Menschen ist, in ihrer Heimat glück-
lich, sorgenfrei und ohne Gefahr für Leib und Leben le-
ben zu können. Um dies zu gewährleisten, hat diese Bun-
desregierung unter Bundesminister Dirk Niebel die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit deutlich verbes-
sert. Unter dem Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe wollen
wir die Strukturen vor Ort so verbessern, dass die Le-
benssituation für die Menschen in ihren Heimatländern
nachhaltig verbessert wird. Wir wollen die Menschen
befähigen, in ihrer Heimat ihre Situation zu verbessern.
Unsere wertegebundene Außenpolitik setzt einen
Schwerpunkt auf den Menschenrechtsdialog. Auch dies
ist im Sinne der Menschen, die in ihrer Heimat von ab-
soluter Armut, Menschenrechtsverletzungen und Verfol-
gung bedroht sind.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712037100

Im Februar des vergangenen Jahres hat das Bundes-

verfassungsgericht in seinem Urteil zu den ALG-II-Re-
gelsätzen unterstrichen, dass das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-
mums universale Gültigkeit besitzt. Das Verfassungsge-
richt hat außerdem die Anforderung formuliert, dass
dieses Existenzminimum auf Grundlage realitätsnaher,
transparenter und nachvollziehbarer Kriterien berech-
net werden muss. Durch die Feststellung der universalen
Gültigkeit könnte man nun zu dem Schluss kommen, dass
die Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums auch
für Asylbewerberinnen und Asylbewerber bzw. Men-
schen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, die bis-



gegebene Reden

Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)

lang unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, gel-
ten würde. Anders gesagt: Hätte die Bundesregierung
das Urteil zum Anlass genommen, eine verfassungskon-
forme Grundsicherung zu schaffen, müssten die damit
verbundenen Leistungen auch diesen Menschen zur Ver-
fügung gestellt werden.

Die Realität aber sieht anders aus: Durch das Asylbe-
werberleistungsgesetz wird weder ein menschenwürdi-
ges Existenzminimum gewahrt, noch liegen den Leis-
tungssätzen nachvollziehbare Kriterien zugrunde. Die
Grundleistungen, die diesen Menschen zugebilligt wer-
den, liegen mittlerweile über 30 Prozent unter den
Hartz-IV-Sätzen.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in besagtem
Urteil einer Gruppe von Betroffenen ganz besonders ge-
widmet: den Kindern. Es hat entschieden, dass das Exis-
tenzminimum von Kindern deren tatsächlichen Bedürf-
nissen entsprechend gesichert werden muss. Mit der
Neugestaltung der Regelleistungen in der Grundsiche-
rung hat die Bundesregierung entschieden: Für Kinder
von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern oder aus
Familien mit ungesichertem Aufenthaltsstatus gilt dieses
Recht nicht. Dabei ist gerade ihre Situation alles andere
als ein Garant für eine bestmögliche Entwicklung. Auch
im Jahr 2011 ist ein Schulbesuch dieser Kinder er-
schwert, ist die Wohnsituation in maroden Sammelunter-
künften eine zusätzliche und andauernde Belastung und
alles andere als kindgerecht. Ihre Familien haben in der
Regel keine Ansprüche auf familienpolitische Leistun-
gen wie Kinder- oder Elterngeld und fallen nicht selten
auch nach längerem Aufenthalt in Deutschland aus dem
Bezug des Kinderzuschlages heraus, und dank der Bun-
desregierung besteht auch nach dem Bundesverfas-
sungsgerichtsurteil kein Anspruch auf die Leistungen
des Bildungs- und Teilhabepaketes. Angesichts dieser
Situation wird wohl nur ein Zyniker noch von Teilhabe
an Bildung, Kultur oder Sport sprechen. An dieser Stelle
wird gern die Länderkompetenz ins Spiel gebracht, die
in diesem Fall auch kompetenter gehandelt haben, zu-
mindest teilweise. Dieser Verweis aber ist falsch, denn
genau die Sicherung des Zugangs zu Bildung für alle
Kinder wurde vom Gericht eindeutig als Aufgabe des
Bundes definiert. Durch die Zuordnung im Asylbewer-
berleistungsgesetz schiebt die Bundesregierung genau
diese Verantwortung den Ländern zu. Ein unhaltbarer
Zustand.

Die Linke unterstützt die Forderung der SPD-Frak-
tion, auch Kindern und Jugendlichen, die Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, einen
Rechtsanspruch auf den Zugang zu den Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepaketes zu gewähren. Dies aber
kann nur ein erster Schritt sein. Die Linke fordert: Weil
das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen-
würdigen Existenzminimums universale Gültigkeit be-
sitzt, muss man es endlich auch den Menschen gewäh-
ren, die in der Bundesrepublik Zuflucht und Asyl suchen.
Für alle in unserem Land lebenden Kinder muss gelten:
Sie sind keine kleinen Erwerbslosen und keine kleinen
Asylbewerber. Sie sind Menschen mit eigenen Rechten
und Bedürfnissen. Das Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes muss umgesetzt werden. Dies ist bisher weder für
Zu Protokoll
Menschen mit deutschem Pass noch für Flüchtlinge und
Asylbewerberinnen und Asylbewerber geschehen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712037200

Bevor ich auf die berechtigte Forderung näher zu

sprechen komme, das Bildungs- und Teilhabepaket auch
den Kindern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu-
kommen zu lassen, möchte ich auf das Asylbewerberge-
setz sowie das Bildungs- und Teilhabepaket eingehen.

Das Asylbewerberleistungsgesetz, AsylbLG, gehört
abgeschafft. Dies fordern wir Grüne schon seit Jahren,
ist es doch nicht ersichtlich, warum die Sozialleistungen
für erwachsene Asylsuchende um rund 38 Prozent nied-
riger sind als die sogenannten Hartz-IV-Regelsätze. Seit
Einführung des Gesetzes 1993 wurden die Leistungen
nach dem AsylbLG zudem kein einziges Mal an die Preis-
entwicklung angepasst. In einer Anhörung des Bundes-
tagsausschusses für Arbeit und Soziales vom 7. Februar
2011 über unseren Gesetzentwurf für eine Aufhebung
des Asylbewerberleistungsgesetzes (Drucksache 17/1428)

sprach sich eine klare Mehrheit der Experten für unse-
ren Gesetzentwurf aus. Nachdem das Bundesverfas-
sungsgericht im Februar 2010 die Regelsätze des Ar-
beitslosengeldes II für verfassungswidrig erklärte, hat
dies nun unmittelbare Folgen für das AsylbLG.

Einzig eine Neuberechnung der Leistungen für Asyl-
bewerberinnen und -bewerber greift aber zu kurz. Aus
unserer Sicht gelten die Leitsätze des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht nur für Deutsche, sondern für alle
Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die
Bundesregierung verschleppt derweil die Neuberech-
nung und die Erhöhung der passiven Leistungen. Es ist
zu befürchten, dass sie wie schon bei den sogenannten
Hartz-IV-Regelsätzen auf ein Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts wartet, bevor die Bundesregierung
selbst aktiv wird und das verfassungswidrige Gesetz ab-
schafft.

Zum Bildungs- und Teilhabepaket. Der verfassungs-
rechtliche Zugang zu Bildung und Teilhabe hätte nach
dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts aus
dem Februar 2010 bequem im Kinderregelsatz oder in
Infrastrukturinvestitionen in Kitas und Schulen aufge-
hen können. Aufgrund der diskriminierenden Unterstel-
lung, alle Eltern im SGB-II-Bezug würden ihre Gelder
verprassen, anstatt für das Wohl ihrer Kinder zu verwen-
den, wurde von Schwarz-Gelb die Umsetzung als Sach-
bzw. Dienstleistung beschlossen. Für diese Unterstel-
lung gibt es im Übrigen keinerlei empirische Belege. Im
Gegenteil: Eine umfangreiche Studie aus diesem Jahr im
Auftrag des Diakonischen Werks Braunschweig und im
Auftrag der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
hat herausgefunden, dass Eltern mit geringem Einkom-
men zuallerletzt bei ihren Kindern sparen.

Im ursprünglichen Gesetzentwurf von Ministerin von
der Leyen sollten zudem nur Kinder aus Familien im
Hartz-IV-Bezug vom Bildungspaket profitieren. In den
zähen Verhandlungen zum Regelbedarfsermittlungsge-
setz haben wir erreicht, dass der Kreis auch andere be-
dürftige Kinder umfasst. Außerdem haben wir dafür ge-



gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

sorgt, dass die Kommunen und nicht die Jobcenter die
Umsetzung in die Hand nehmen können.

Ein wesentliches Problem bei der Umsetzung des Bil-
dungs- und Teilhabepakts stellt die extrem bürokratische
und vielschichtige Umsetzung dar. Zuständig für An-
tragstellung, Bewilligung und Abrechnung sind die Job-
center, die Kommunen können durchführen. Es ist nicht
zu vermitteln, wie viel Mittel und Personal allein für die
Verwaltung aufgewendet werden muss. Das ist an Büro-
kratie kaum zu überbieten.

Ein weiteres Problem bei der Umsetzung des Bil-
dungs- und Teilhabepakets stellt die Vielzahl an unbe-
stimmten Rechtsbegriffen dar. So sind die Begriffe
„wesentliche Lernziele“ (§ 28 Abs. 5 SGB II), „Mittags-

(§ 28 Abs. 6 SGB II)

ben in der Gemeinschaft“ in den Bereichen Sport, Spiel,
Kultur und Geselligkeit (§ 28 Abs. 7 SGB II) nicht ab-
schließend definiert. In der Praxis kommt es zur Rechts-
unsicherheit, die schließlich wieder die Sozialgerichte
beschäftigen wird.

Zwar setzt das Bildungs- und Teilhabepaket den An-
spruch auf Bildung und Teilhabe gesetzlich um, droht
aber aufgrund der genannten Probleme nicht hinläng-
lich in Anspruch genommen zu werden.

Anspruchsberechtigt auf Leistungen des Bildungs-
und Teilhabegesetzes sind neben dem schon genannten
Personenkreis Kinder nach dem Asylbewerberleistungs-
gesetz, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten
Leistungen nach § 3 erhalten haben und die die Dauer
des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beein-
flusst haben. Nicht anspruchsberechtigt sind nach bishe-
riger Gesetzeslage allerdings alle anderen Kinder nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz, obwohl diese natür-
lich auch zur Schule gehen und an kulturellen Aktivitä-
ten teilhaben möchten.

Ein solcher Ausschluss ist nach unserer Auffassung
weder verfassungsrechtlich zulässig noch mit dem Um-
stand vereinbar, dass die Bildungs- und Teilhabechan-
cen von Kindern, die in großer Zahl auch künftig in
Deutschland leben werden, verbaut werden. Die Anhö-
rung zum Asylbewerberleistungsgesetz im Arbeits- und
Sozialausschuss veranschaulichte diese Problematik. So
gab die Sachverständige Professor Dr. Frings etwa zu
bedenken, dass bei Kindern von Asylantragstellern und
Geduldeten, die in die normalen Strukturen, das heißt,
im Kindergarten oder in der Schule eingebunden sind,
„jede Sonderbehandlung gegenüber anderen Kinder zu
einer ausgesprochenen Stigmatisierung und Ausgren-
zung führt“. Es sei ein Wertungswiderspruch, wenn es
einerseits eine Schulpflicht für diese Kinder gäbe sowie
einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, an-
dererseits aber Leistungen aus dem Bildungs- und Teil-
habepaket vorenthalten werden. Eine solche Stigmatisie-
rung und Ausgrenzung sei zudem teuer, wenn man
bedenke, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder lang-
fristig in diesem Land blieben: „Wenn wir sie in dieser
Phase der ersten Jahre in dieser Weise ausgrenzen, dann
zerstören wir die Möglichkeit, dass sie zu unserem Hu-
mankapital beitragen und es ist auch volkswirtschaftlich
sehr bedauerlich, dass wir Hinderungsgründe setzen,
die erschweren, dass hier qualifizierte junge Menschen
heranwachsen können.“ Die Bundesregierung ist daher
aufgefordert, das Asylbewerberleistungsgesetz abzu-
schaffen. Mit der Abschaffung des Gesetzes hätten kon-
sequenterweise alle bedürftigen Kinder ausnahmslos
Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket. Geht sie
diesen Weg nicht, muss sie das Bildungs- und Teilhabe-
paket, trotz all seiner Tücken und Schwierigkeiten, auf
alle Kinder nach dem AsylbLG auszuweiten. Besser
wäre es dann aber auch, das Geld aus dem Paket in In-
frastruktur und in höhere Kinderregelsätze zu investie-
ren.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712037300

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6455 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Halina Wawzyniak, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die Chancen der Digitalisierung erschließen –
Urheberrecht umfassend modernisieren

– Drucksache 17/6341 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1712037400

Angeblich leben wir ja im Zeitalter der Remix-Kultur,

und auch die Linke hat mit diesem Antrag ein so genann-
tes Remix oder auch Mash-up vorgelegt. Sie haben ihre
Handlungsempfehlungen, die für die Projektgruppe
„Urheberrecht“ in der Enquete-Kommission „Internet
und digitale Gesellschaft“ erarbeitet und dort weitge-
hend abgelehnt worden sind, in eine neue Form ge-
bracht und als Antrag noch einmal hier im Plenum ein-
gebracht. Wenn aber das Original nicht gut ist, dann
kann das Mash-up oder der Remix auch nicht gut sein.

Und genau darum geht es beim Urheberrecht – um
eine qualitativ anspruchsvolle und vielfältige Kultur-
landschaft mit spannenden und immer wieder neuen
Ideen, die uns begeistern, unterhalten und inspirieren.
Dafür stellt das Urheberrecht den Urheber in den Mit-
telpunkt. Denn er ist es, der diese Ideen hat, umsetzt und
den Nutzern zur Verfügung stellt. Der Nutzer nutzt eben
dessen Kreativität, wenn er dessen Werk überarbeitet
und daraus ein Mash-up erstellt. Jedenfalls ist sein Kre-
ativbeitrag in der Regel deutlich geringer. Der Antrag
der Linken verkennt dies, wenn sie einen „solidarischen
Gesellschaftsvertrag für die digitale Welt“ fordert. Sie
gibt vor, die Urheber zu stärken, aber eigentlich will sie
den Urheber zugunsten des Nutzers entmündigen, ent-

Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

eignen und entrechten. Sie fordern die Einführung unab-
dingbarer und von Verbotsrechten unabhängiger gesetz-
licher Vergütungsansprüche. Damit bekämen die
Urheber grundsätzlich nicht mehr Rechte, sondern we-
niger. Denn über ihre jetzt bestehenden Rechte können
sie dann nicht mehr verfügen. Damit wird ihnen die
Möglichkeit genommen, ihre Werke zu monetarisieren
und ihre Investitionen zu amortisieren. Stattdessen wür-
den sie pauschal vergütet. Das ist nichts anderes als eine
Abschaffung der Vertragsfreiheit und die Einführung ge-
setzlicher Mindestlöhne. Zumindest wird damit schon in
Ihrer ersten Forderung das eigentliche Ziel Ihres An-
trags klar: die Wiedereinführung des real existierenden
Sozialismus für die Kulturwirtschaft durch die Hintertür.

Auch die weiteren Forderungen lesen sich wie ein
Plädoyer für eine Egalisierung jeglichen Kreativschaf-
fens. Die von Ihnen angesprochene Kulturflatrate führt
im Ergebnis dazu, dass der Markt ausgesetzt und die Ur-
heber dazu gezwungen werden, ihre Werke gegen eine
Pauschalvergütung zur Verfügung zu stellen. Das ist für
den Nutzer vielleicht recht und vor allem billig, aber für
den Urheber ist dies der falsche Anreiz. Er möchte doch
in der Regel selbst bestimmen, wie sein Werk veröffent-
licht wird, wer es nutzt und für welchen Betrag er bereit
ist, es zur Verfügung zu stellen. Sie treten hier nicht nur
die Eigentumsrechte, sondern vor allem das Persönlich-
keitsrecht aller Kulturschaffenden in Deutschland mit
Füßen.

Auch die gesetzliche Konkretisierung des bislang un-
bestimmten Rechtsbegriffs der angemessenen Vergütung
in § 32 UrhG ist eine Bevormundung des Urhebers. Es
kommt eben auf den Einzelfall an, was angemessen und
was unangemessen ist. Eine gesetzliche Regelung kann
niemals jeden Fall erfassen, bleibt ungenau und ist da-
her nichts anderes als eine staatliche Preisfestlegung –
eine Wettbewerbsverzerrung. Genau das scheint es aber
auch zu sein, was Sie eigentlich wollen. Sie wollen kei-
nen Wettbewerb und keinen freien Markt in der Kultur.
Sie wollen eine staatliche Kulturpolitik mit umfassender
Förderung. Dies birgt aber, wie wir aus 40 Jahren DDR
wissen, auch die Gefahr der staatlichen Einflussnahme
auf die Kultur. Dieser Ansatz hat sich nicht nur nicht be-
währt – er ist geradezu eine Bedrohung für die Freiheit
aller Kulturschaffenden.

Ich halte es für richtig, dass sich jeder Kulturschaf-
fende auch den Prinzipien des Marktes stellen muss. Es
ist nicht die Aufgabe des Staates, zu entscheiden, was
gute und was schlechte Kultur ist. Es soll die Gesell-
schaft als Ganzes entscheiden, was sie goutiert und was
nicht. Angebot und Nachfrage können dies sehr gut ab-
bilden. Und ich finde es durchaus legitim, dass gute
Ideen und Werke belohnt werden. Konsequenterweise
müssen wir aber auch akzeptieren, dass manches Werk
nicht gelesen, gehört oder im Internet gedownloadet
wird. Dies mag daran liegen, dass das Werk seiner Zeit
voraus ist – oder eben, dass es einfach nicht gut genug
ist. Jeder Künstler muss damit leben, dass er nicht rezi-
piert wird – und dass er, wenn er nicht nachgefragt wird,
eben auch kein Geld bekommt. Ein Künstler ist eben
kein Arbeitnehmer, zu dem ihn der Antrag der Linke ma-
chen will; er ist kreativer Unternehmen.
Zu Protokoll
Auch die Linke muss letztendlich damit leben, dass
ihr Mash-up, wenn es nicht gut genug ist, keine Zustim-
mung findet. Und nachdem das Original schon durchge-
fallen ist, wird die Kopie, auch wenn sie ein wenig abge-
ändert ist, trotzdem durchfallen.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1712037500

Wir debattieren heute über die Anforderungen der di-

gitalen Gesellschaft an eine Reform des Urheberrechts.

Ist das Urheberrecht wirklich „umfassend reformbe-
dürftig“, wie die Fraktion Die Linke in ihrem heute vor-
gelegten Antrag behauptet? Müssen wir das Urheber-
recht in seiner Substanz infrage stellen? Die Kolle-
ginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke haben uns
heute ihre in der Enquete-Kommission „Internet und di-
gitale Gesellschaft“ zur Abstimmung gestellten Hand-
lungsempfehlungen zur Reform des Urheberrechts zur
Beratung vorgelegt. Ziel der Reform müsse eine grund-
legende Neukonzeption des Urheberrechts sein.

Im Antrag findet sich eine Vielzahl von Vorschlägen,
die – so scheint es – auf den ersten Blick ganz auf die In-
teressen der Kreativen und Kulturschaffenden zuge-
schnitten sind. Einige davon sind diskussionswürdig, so
zum Beispiel die Forderungen nach zusätzlichen gesetz-
lichen Maßnahmen zur Stärkung des Anspruchs der Ur-
heberinnen und Urheber auf angemessene Vergütung.
Teilweise schießen die Forderungen jedoch deutlich
über das Ziel hinaus. Wenn von einer Verkürzung der ur-
heberrechtlichen Schutzfristen, einer Einschränkung
von Ausschließlichkeits- und Verbotsrechten und der
Einführung neuer Schrankenregelungen sowie der groß-
zügigen Ausdehnung bestehender Schrankenbestimmun-
gen die Rede ist, wird klar, wohin die Reise tatsächlich
gehen soll: Der Schutzzweck des Urheberrechts soll sich
vom Werkschöpfer lösen und die Interessen der Nutze-
rinnen und Nutzer in den Vordergrund rücken.

Das kann nicht Sinn und Zweck einer weiteren Urhe-
berrechtsnovelle sein. Der Urheber selbst muss Mittel-
punkt des Urheberrechts bleiben. Für eine Neuformulie-
rung des Schutzzwecks des Urheberrechts besteht kein
Anlass.

Unbestreitbar ist: Das Urheberrecht unterliegt ange-
sichts der rasanten technischen Entwicklung einem stän-
digen Anpassungsdruck. Die digitale Revolution hat die
Rahmenbedingungen für Werkschöpfer, Rechteinhaber
und Verwerter, aber auch für Nutzerinnen und Nutzer
grundlegend verändert. Das Internet erleichtert die Ver-
letzung von Urheberrechten, und gleichzeitig stößt die
Verfolgbarkeit von Urheberrechtsverstößen im Internet
an ihre Grenzen. Rechteinhaber und Verwerter beklagen
dies nicht zu Unrecht. Auf der anderen Seite sieht die so-
genannte Netzgemeinde das geltende Urheberrecht als
Hindernis für die Entfaltung des enormen kreativen Po-
tenzials im Netz. In diesem Spannungsfeld bewegt sich
die Diskussion um die Zukunftsfähigkeit des Urheber-
rechts. Unbestritten ist auch, dass sich die bestehenden,
zu einem großen Teil auf die analoge Welt zugeschnitte-
nen Regelungen des Urheberrechtsgesetzes nicht eins zu
eins auf die digitale Welt übertragen lassen. Daher



gegebene Reden

Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)

denke ich, wir sind uns einig, dass wir ein starkes Urhe-
berrecht brauchen, auch und gerade im Internetzeitalter.

Deshalb ist unerklärlich, warum die Bundesregierung
ihren Ankündigungen, das Urheberrecht zügig fortzuent-
wickeln, keine Taten folgen lässt. Seitdem Bundesjustiz-
ministerin Leutheusser-Schnarrenberger am 14. Juni
2010 in ihrer Berliner Rede die Vorstellungen der Bun-
desregierung für einen „Dritten Korb Urheberrecht“
vage skizziert hat und Kulturstaatsminister Neumann im
November 2010 mit einem Zwölfpunktepapier zum
Schutz des geistigen Eigentums im digitalen Zeitalter
nachgelegt hat, herrscht nahezu Stillstand. Ebenso un-
klar ist, welche konkreten Maßnahmen die Koalition im
Rahmen ihrer Reform vorlegen wird und in welchen Be-
reichen sie gänzlich von Veränderungen absehen wird.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, schnellst-
möglich einen Referentenentwurf für den „Dritten
Korb“ vorzulegen.

Aus SPD-Sicht müssen wir uns vor allem Gedanken
darüber machen, wie wir die Rechte der Kreativen, ins-
besondere den Anspruch auf „angemessene Vergütung“,
in der Praxis besser als bisher verwirklichen können.
Urheberinnen und Urheber müssen in ihrem Anspruch
auf angemessene Vergütung gestärkt werden. Gemein-
same Vergütungsregeln sind bisher in weit geringerem
Umfang zustande gekommen als vom Gesetzgeber er-
wartet. Woran liegt das? Welche Umstände erschweren
das Zustandekommen gemeinsamer Vergütungsregeln in
der Praxis? Muss das Schlichtungsverfahren verändert
werden? Oder müssen in Anlehnung an die ursprüngli-
che Fassung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und
ausübenden Künstlern Verfahren geschaffen werden,
wonach eine Vergütungsregel erzwungen werden kann?
Bisher hat sich die Bundesregierung diese Fragen noch
nicht einmal gestellt, geschweige denn Lösungsvor-
schläge entwickelt. Aus Sicht der SPD müssen die Re-
geln des Urhebervertragsrechts deshalb – wie bereits
von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
angeregt – evaluiert und dort nachgebessert werden, wo
die Mechanismen des Gesetzes nicht richtig greifen.

Unklar ist auch, mit welchen konkreten Maßnahmen
die Bundesregierung eine effektivere Rechtsverfolgung
gewährleisten will. Sicher ist nur eines: Die Provider
sollen mehr Verantwortung für den Schutz des Urheber-
rechts übernehmen und die Haftung für Hostprovider
gegebenenfalls erweitert werden. Dazu sagen wir: Eine
effektive Rechtsverfolgung darf nicht auf Kosten der In-
formationsfreiheit erfolgen. Es ist notwendig, nicht nur
von Internetsperren Abstand zu nehmen, sondern auch
vom sogenannten Warnhinweismodell, denn Warnhin-
weise sind ohne Datenerfassung und Inhaltskontrolle
technisch nicht denkbar. Auch von grundlegenden Ände-
rungen des TMG-Haftungsregimes für Provider halten
wir wenig. Klarstellungen in Bezug auf die Haftung für
Hostprovider sind diskussionswürdig, wenn das Ge-
schäftsmodell des Providers offensichtlich darauf aus-
gerichtet ist, von Urheberrechtsverletzungen anderer
wirtschaftlich zu profitieren. Änderungen müssen sich
unseres Erachtens aber an der geltenden Rechtspre-
chung zur Haftung von Hostprovidern orientieren, die zu
Zu Protokoll
Recht darauf hinweist, dass die auf dem sogenannten
Cloud Computing basierenden Dienste eine Vielzahl von
legalen Nutzungsmöglichkeiten bieten, an denen ein be-
trächtliches technisches und wirtschaftliches Interesse
besteht. Etwaige Prüfungspflichten müssen daher zu-
mutbar sein. Darüber hinaus halten wir schärfere Sank-
tionen nicht für sachgerecht.

Außerdem brauchen wir dringend eine rechtssichere
Grundlage für die Nutzung von verwaisten und vergrif-
fenen Werken, damit diese Werke im digitalen Zeitalter
nicht aus dem kulturellen Gedächtnis verschwinden und
für die Deutsche Digitale Bibliothek nutzbar gemacht
werden können. Wir haben dazu die Vorschläge von VG
Wort und VG Bildkunst aufgegriffen und einen Gesetz-
entwurf in den Bundestag eingebracht, den wir nach der
Sommerpause im Rechtsausschuss beraten werden.
Außerdem ist aus unserer Sicht die Einführung eines un-
abdingbaren Zweitverwertungsrechts für wissenschaftli-
che Urheberinnen und Urheber geboten. Auch dazu liegt
dem Bundestag ein Gesetzentwurf der SPD zur Beratung
vor. Urheberrechtliche Abmahnungen, gerade in Baga-
tellfällen, werden zunehmend von den Bürgerinnen und
Bürgern als missbräuchlich wahrgenommen. Abmah-
nungen sind grundsätzlich ein legitimes Instrument der
Rechtsverfolgung, sie dürfen aber nicht selbst zum „Ge-
schäftsmodell“ werden. Daher halten wir es für sachge-
recht, weitere Maßnahmen zur Eindämmung miss-
bräuchlicher Abmahnungen zu prüfen.

Die jüngsten Abstimmungen in der Enquete-Kommis-
sion „Internet und digitale Gesellschaft“ zu den Hand-
lungsempfehlungen der Projektgruppe Urheberrecht
zeigen deutlich, wie vielschichtig die Problemfelder
sind, die sich im Zusammenhang mit der Digitalisierung
im Urheberrecht stellen, aber auch, dass sich – mitunter
überraschende – Mehrheiten für Lösungsansätze finden
lassen. Deshalb hoffen wir, dass die Bundesregierung
ihre Vorstellungen zum „Dritten Korb“ alsbald konkre-
tisiert und wir möglichst nach der Sommerpause die
Diskussion auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs zum
Dritten Korb weiterführen können. Wir sind bereit, uns
an der Debatte intensiv zu beteiligen.


Jimmy Schulz (FDP):
Rede ID: ID1712037600

Wir brauchen ein Urheberrecht, das nicht versucht,

jahrhundertealte Strukturen zu konservieren. Wir brau-
chen ein Urheberrecht, das anpassungsfähig ist, sowohl
an die heutige Zeit wie auch an eine noch unbekannte
Zukunft. Wir sollten zurück zum Gedanken eines reinen,
gegenüber Geschäftsmodellen blinden Rechtsrahmens,
nicht aber zum Festschreiben und Bewahren von eta-
blierten Strukturen, die sich bald wieder überholt haben.
Das kann nicht unsere Aufgabe sein.

Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass die
Interessen und die Vergütung der Urheber wie auch die
Rechte der Konsumenten in Einklang gebracht werden.
Gerade in der Musikbranche wurde bewiesen, dass es
sehr wohl tragfähige Vertriebsmodelle für Musik geben
kann, ohne dass diese einen Kopierschutz aufweisen
muss. Wer sich durchsetzen kann, ist also eine Frage des
intelligenten, modernen und vor allem adaptiven Ge-



gegebene Reden

Jimmy Schulz


(A) (C)



(D)(B)

schäftsmodells, nicht aber des Gesetzgebers. Nicht zu-
letzt deswegen halte ich die Überlegungen für ein Leis-
tungsschutzrecht für Verleger auch für unglücklich. Es
wird uns bzw. den Verlegern nichts bringen, Alleingänge
zu unternehmen. Grundsätzlich stellt sich bei nationaler
Gesetzgebung rund um das Internet immer die Frage der
Tauglichkeit.

Wir müssen auf die Veränderungen, die die Digitali-
sierung gebracht hat, eingehen und uns erlauben, in-
frage zu stellen, ob vorhandenes Recht noch zeitgemäß
ist. Es muss ein Interessenausgleich gefunden und zwi-
schen den beteiligten Akteuren gesichert werden. Dieser
Ausgleich könnte durch eine Neuorientierung der Urhe-
berrechtsschranken ermöglicht werden. Diese reflektie-
ren heute exklusiv die Position des Urhebers, ohne dem
Nutzer eigene Interessen oder Motivationen zuzugeste-
hen. Der Nutzer wird so in die Rolle des Konsumenten
ohne Möglichkeit zur Interaktion mit dem Werk ge-
zwängt. Ich halte das für nicht mehr zeitgemäß. Die Ur-
heberrechtsschranken der Zukunft könnten sich weg von
grundsätzlichem Verbot der Verwertung mit wenigen
Ausnahmen hin zu einer Definition von Freiräumen ent-
wickeln, die den Nutzern einen verlässlichen Rechtsrah-
men für die öffentliche Rezeption und die Weiterentwick-
lung von Content stellt.

Vom digitalen Wandel sind alle Branchen betroffen,
deren Produkte sich einfach digitalisieren lassen. Raub-
kopien sind ja kein ganz neues Phänomen. Manchmal
hat die Bedrohung durch Piraterie aber sogar zu neuen
Ideen geführt. Public-Domain- oder Open-Source-Soft-
ware stellen für viele Unternehmen ein tragfähiges Ge-
schäftsmodell dar. Es wird nicht mehr das eigentliche
Geisteswerk auf einem Datenträger verkauft, sondern
oft eine Dienstleistung im Umfeld.

Es wird in Zukunft schlicht und einfach nur sehr ein-
geschränkt Bedarf für die Mittelmänner geben, die Con-
tent auf einen physikalischen Träger bannen und diesen
dann verkaufen. Die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei.
Dementsprechend muss das Urheberrecht auch refor-
miert werden.

Trotz allem Reformbedarf muss es aber auch im Inter-
net möglich sein, unter Einhaltung des Datenschutzes

(Urheberdurchzusetzen. Künstler, Musiker, Kreative müssen für ihre Leistung angemessen entlohnt werden, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Hierfür brauchen wir Lösungen. Insofern gibt es also für mich durchaus im vorliegenden Antrag auch Ansätze und Ideen, die diskussionswürdig sind. Trotzdem können wir ihm nicht zustimmen. Meine Damen und Herrn von der Linken, Sie vermischen in ihrem Antrag Netzsperren mit digitalem Rechtemanagement. Sie werfen in den Topf, was gerade zur Hand ist. So kann man kein modernes Urheberrecht aufziehen. Sie pauschalisieren und überzeichnen, wo Sie nur können: Natürlich fällt nicht „jede Meinungsäußerung im Netz“ unter das Urheberrecht. Dazu müsste Sie schon besonders originell sein, da der Urheberschutz durch kreativen Gehalt erlangt wird und nicht durch bloße Öffentlichkeit. Wenn die Dinge so wären, wie Sie behaupten, hätte sich kein einziges Onlineforum entwiZu Protokoll ckeln können. Sie beschreiben Notsituationen, die so nicht existieren, um ihren überzogenen Forderungen mehr Gewicht zu verleihen. Es ist keineswegs so, dass „breite Bevölkerungsschichten“ ihre „partizipatorische Kreativität“ nicht ausleben können, weil ihnen das Urheberrecht im Wege steht. Sie malen hier den Teufel an die Wand, und dabei sollten doch gerade Sie wissen, dass der gar nicht existiert. Verstehen Sie, warum eines der strengsten Urheber rechte der Welt in Deutschland dazu führt, dass Urheberinnen und Urheber hier im Durchschnitt noch schlechter verdienen als in Ländern mit weniger strengen Regeln? Können Sie mir darlegen, was Urheberinnen und Urheber davon haben, dass ihre Werke bis 70 Jahre nach ihrem Tod vor freier Nutzung geschützt sind? Ein Schutz übrigens, der für alle urheberrechtlich geschützten Werke vom großen Roman über kleinste Computerprogramme mit wenigen Zeilen Code bis hin zur Struktur von Datenbanken gilt. In der Regel profitieren noch nicht einmal die Urenkel der Urheberinnen und Urheber von diesem außergewöhnlichen Erbrecht. Die Rechte an den Werken haben nämlich meist Verlage und andere Verwerter den eigentlichen Urheberinnen und Urhebern abgekauft. Hier zeigt sich, dass das geltende Urheberrecht heute viel mehr ein Verwerterrecht ist. Es gibt den Urheberinnen und Urhebern kaum Instrumente an die Hand, über ihre Rechte souverän zu verfügen und von ihrer Arbeit zu leben. Deshalb fordern wir in unserem Antrag umfassende Änderungen im Urhebervertragsrecht. Urheberinnen und Urheber brauchen endlich wirksame Mittel, um für sich angemessene Vergütungen gegen die Medienindustrien durchzusetzen. Sie müssen auch wirksam davor geschützt werden, dass ihnen Rechte dauerhaft und unwiederbringlich abgeknöpft werden. Aber das geltende Urheberrecht krankt nicht nur daran, dass es Urheberinnen und Urhebern nicht bietet, was es verspricht. Es ist gleichzeitig auch noch altersschwach. Als im 19. Jahrhundert die Tradition unseres heutigen Urheberrechts begann, betraf es wissenschaftliche, künstlerische und journalistische Texte. Für diese Druckwerke wurden bestimmte Exklusivrechte gewährt, um sie besser vermarkten zu können. Heute umfasst das Urheberrecht darüber hinaus Aufnahmen und Aufführungen von Musik, unzählige Aspekte der Filmproduktion, Computerprogramme, Design und vieles mehr. Die Verbreitung der betroffenen Werke geschieht nicht mehr nur über Papier, sondern über Tonträger, Kinos, Radio, Fernsehen und eben schon seit längerer Zeit auch digital. So sehr dies im Einzelnen bei vergangenen Novellierungen bedacht wurde, eine umfassende Anpassung an die neue Zeit fand nicht statt. Vor allem aber dienten viele Anpassungen dazu, die Werknutzung im digitalen Zeitalter zu erschweren. Ein gekauftes Buch aus Papier darf ich problemlos weiterverkaufen. Ein E-Book, das ungefähr gleichviel kostet, kann ich bei bestimmten An gegebene Reden Dr. Petra Sitte bietern nach einer begrenzten Anzahl von Lesevorgängen noch nicht einmal selbst weiter verwenden. Eine CD für den privaten Gebrauch zu kopieren ist in Ordnung, aber eine Musikdatei auf der Festplatte oder gar im Internet zu kopieren, kann illegal sein. Das ist eine absurde Situation. Vergessen wir nicht, dass Werknutzung gerade in einer digitalen Umgebung oft auch bedeutet, dass vorgefundenes Material kreativ bearbeitet und weiterverbreitet wird: Nutzer werden selbst zu Urhebern. Doch schon das Einbetten eines Youtube-Videos im eigenen Blog kann Fans von Künstlerinnen und Künstlern in urheberrechtliche Probleme stürzen. Erst recht werden kreative Techniken wie das Zitieren, Remixen oder Samplen erschwert. Die Beschneidung solcher Nutzungsmöglichkeiten beschneidet also gleichzeitig das Produktionspotenzial der Urheberinnen und Urheber selbst. Auch dies sind nur Beispiele dafür, warum es dringend nötig ist, hier zeitgemäße Regelungen für die Nutzung urheberrechtlich relevanter Werke zu finden. Eine einfachere Verbreitung kreativer Werke führt übrigens nicht zwangsläufig zur Entwertung der dahinter steckenden Arbeit, wie gerade die Medienindustrie gerne behauptet. Doch während diese oder die großen Wissenschaftsverlage früher die Verbreitung von Kulturgütern erst ermöglichten, sind sie heute vielfach dabei, diese Verbreitung künstlich zu verknappen. Hier müssen wir dringend umsteuern. Das gesellschaftliche Interesse an möglichst freier und intensiver Auseinandersetzung mit Text, Bild und Ton jeglicher Art und die Bedürfnisse der Kreativen nach ideeller wie finanzieller Anerkennung ihrer Leistungen lassen sich nur zusammenbringen, wenn wir mutig und ergebnisoffen auch neue Vertriebsund Vergütungswege diskutieren und ausprobieren. Das Urheberrecht sollte diese neuen Wege unterstützen und nicht blockieren. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712037700




(A) (C)


(D)(B)


Wissen und Information, deren Verbreitung zu we-
sentlichen Teilen durch das Urheberrecht geregelt wird,
sind Hauptressourcen unserer Gesellschaft, manche
sprechen auch vom Öl des 21. Jahrhunderts. Digitalisie-
rung und Internet bieten eine großartige Chance zur
Verbreitung von Wissen und Kultur, eine Chance für
mehr Bildung und Prosperität, und doch werden Digita-
lisierung und Internet in manchen gesellschaftlichen
Kreisen auch als Gefahr wahrgenommen.

Um dieser vermeintlichen Gefahr vorzubeugen, wer-
den zurzeit unterschiedlichste Initiativen auf europäi-
scher, internationaler und nationaler Ebene auf den Weg
gebracht. Die EU arbeitet an gesetzgeberischen Initiati-
ven, die sich den Schutz geistigen Eigentums auf die
Fahnen geschrieben haben. International wird an multi-
lateralen Handelsabkommen zur Erweiterung der Ver-
folgungsbefugnisse gegenüber Urheberrechtsverletzun-
gen gearbeitet, und auch die deutsche Bundesregierung
versucht sich in Gedankenspielen um Warnhinweis- und
Zu Protokoll
Sperrmodelle zur Bekämpfung von Urheberrechtsverlet-
zungen.

Mit einer deutlich ausgewogeneren Herangehens-
weise hingegen hat sich die Enquete-Kommission „In-
ternet und digitale Gesellschaft“ in den zurückliegenden
zwölf Monaten intensiv und teilweise höchst kontrovers
mit dem Urheberrecht auseinandergesetzt. All das zeigt
immerhin: Das Urheberrecht ist im Fokus der politi-
schen Debatte.

Wir befinden uns bei gesetzgeberischen Fragen rund
um das Urheberrecht in einem Spannungsfeld zwischen
individuellen – überwiegend wirtschaftlich motivierten –
und kollektiven Interessen. Das ursprüngliche Ziel des
Urheberrechts, einen Ausgleich zwischen den Interessen
von Urheberinnen und Urhebern, Allgemeinwohl und
Verwertern herzustellen, ist ein Ehrenwertes: Die Kon-
struktion des Urheberrechts, ein oftmals systembedingt
vorauszusetzendes Vertragsungleichgewicht auszuglei-
chen, ist förderlich für Rechtsfrieden und Wohlstand.
Der Interessenausgleich wird dabei durch Schrankenre-
gelungen, Regelungen zur Privatkopie, zur angemesse-
nen Vergütung etc. erreicht, und dieses System stellte in
seiner deutschen Ausprägung lange ein Musterbeispiel
gelungener Interessenabwägung in Europa dar. Kein an-
deres Land hatte ein solch ausdifferenziertes und auf
Ausgleich bedachtes Schrankensystem wie Deutschland.

Ein Rückblick auf vergangene Urheberrechtsrefor-
men aber zeigt, dass mit jeder Novelle Verschärfungen
zulasten der Allgemeinheit, Einschränkungen der urhe-
berrechtlichen Ausnahmen und eine Stärkung wirt-
schaftlicher Interessen einhergingen. Auch und insbe-
sondere die Regelungen zur Privatkopie wurden immer
weiter eingeschränkt und dies, obwohl sich die Rege-
lung zur Privatkopie sowohl rechtlich als auch finanziell
für die Urheberinnen und Urheber und Nutzerinnen und
Nutzer bewährt hat. Auf der einen Seite fließen Gelder in
Milliardenhöhe über die Leergeräte- und Speicherme-
dienabgabe an die Urheberinnen und Urheber. Auf der
anderen Seite konnten Verbraucher davon ausgehen,
sich nicht strafrechtlich verantworten zu müssen, wenn
sie ihren Familienangehörigen die Kopie einer CD
schenkten.

Dessen ungeachtet lassen Diskussionen um die in
Kürze zu erwartende Urheberrechtsnovelle, den soge-
nannten Dritten Korb, vermuten, dass es zu weiteren
Verschärfungen des Urheberrechts zulasten der Allge-
meinheit kommen wird. Allein schon die Pläne der Ko-
alition zur Schaffung eines besonderen Leistungsschutz-
rechts für Presseverleger lassen für diese Legislatur-
periode wenig Hoffnung für eine am Gemeinwohl orien-
tierte Urheberrechtsreform. Während sich die Regie-
rung um die Bedienung ihrer Klientel sorgt, bleibt der
Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext solcher
Reformüberlegungen auf der Strecke. Wir Grüne sehen
uns verpflichtet, auch im Feld des Urheberrechts eine
den berechtigten Interessen aller Beteiligten Rechnung
tragende Lösung vorzulegen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich den Antrag der
Linken bewerten. Lassen Sie mich kurz auf einige Punkte
eingehen: Zutreffend an dem Antrag ist, dass es etwas



gegebene Reden

Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

mehr als vereinzelter Maßnahmen bedarf, um eine Ge-
samtstrategie für eine prosperierende Wissens- und In-
formationsgesellschaft zu entwickeln. In dieser Richtung
hat insbesondere die Projektgruppe „Urheberrecht“ be-
reits einzelne wichtige Anregungen und Vorschläge er-
arbeitet. Gerade vor diesem Hintergrund aber ist der
vorliegende Antrag oberflächlich und zu kurz gegriffen.
Es reicht nicht aus, vereinzelte Handlungsempfehlungen
aus der Enquete-Kommission abzuschreiben und uns
dann hier im Plenum als Antrag vorzulegen. Es ist ge-
rade im Zusammenhang mit urheberrechtlichen Frage-
stellungen erforderlich, den Gesamtkontext gesetzgebe-
rischer Aktivitäten in den Gestaltungswillen mit ein-
zubeziehen. Nehmen wir die Forderung nach einem un-
abdingbaren Zweitverwertungsrecht für wissenschaftli-
che Autorinnen und Autoren. Dadurch sollen die Auto-
rinnen und Autoren von sich aus ihre Werke unter Open-
Access-Bedingungen veröffentlichen können. Wir unter-
stützen eine solche Forderung zweifelsfrei. Ist es damit
aber allein schon getan, dass Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler diejenigen Rechte behalten können, die
sie nach jetziger Rechtslage – mit Ausnahme der Unab-
dingbarkeit – ohnehin bereits haben, damit aber die
Fortentwicklung von Open Access allein in die Hände
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst ge-
legt wird? Wir treten für eine umfassendere Förderung
von Open Access ein und erwarten neben der einzufüh-
renden Garantie eines unabdingbaren Zweitverwer-
tungsrechts für Autorinnen und Autoren von der Bundes-
regierung eine Gesamtstrategie zu Open Access, die alle
Beteiligten einbezieht und ein durchdachtes Konzept an-
bietet, das der Bedeutung dieses für unsere Wissensge-
sellschaft so zukunftsweisenden Themas angemessen
Rechnung trägt.

Die Linke gibt mit ihrem Antrag zu erkennen, dass ihr
die Fortentwicklung im Feld des Urheberrechts teil-
weise auch schwer fällt. Die zum Teil kaum durchdach-
ten Forderungen erinnern an ihr Bundestagswahlpro-
gramm von 2009, in dem sie nach einem Fair-Work-
Siegel auf Spiele, Programme und andere geistige Leis-
tungen rufen. Das ist eine nette, plakative Forderung.
Aber werden Urheberinnen und Urheber dadurch tat-
sächlich gestärkt, dass ihre Leistungen Gütesiegel er-
halten?

Diskussionswürdig und aus unserer Sicht auch und
vor allem noch weiterer Begründung bedürftig ist die
Dauer der urheberrechtlichen Schutzfristen. Der Antrag
enthält nur die unscharfe Bitte, die Schutzfristen nicht
weiter zu verlängern. Stets sind in den Reformbestrebun-
gen der Vergangenheit allerdings Verlängerungen
durchgeführt worden. Wir führen die Diskussion also auf
einem hohen, unseres Erachtens zu hohen Niveau der
Schutzfristen. Klar ist uns allen, dass Schutzfristen, die
weit über die Lebensdauer der Urheberinnen und Urhe-
ber hinausreichen, das gemeinwohlschädliche Verwai-
sen von Werken fördern können. Deshalb geht der An-
trag in die richtige Richtung. Die Bemessung der Fristen
muss aber im Hinblick insbesondere auf die Ungewiss-
heit der Verwertbarkeit abgewogen werden. Vor diesem
Hintergrund fordern wir eine klare Verkürzung der
Schutzfristen. Hier erscheint eine Orientierung an den
Zu Protokoll
Verwertungszyklen der Werke sinnvoll, denn längst nicht
jedes Werk lässt sich beliebig lange gewinnbringend am
Markt absetzen. Das würde bewirken, dass der Verkauf
von Werken solange urheberrechtlich geschützt ist, wie
dies für die Urheberinnen und Urheber umsatzfördernd
und refinanzierend wirkt. Der vorliegende Antrag be-
gnügt sich damit, weitere Verlängerungen der Schutz-
fristen zu verhindern. Eine über den Verwertungszeit-
raum hinausgehende Abschottung der Teilhabe durch
die Allgemeinheit ist aber unter Abwägung der verschie-
denen Interessen unter Einbeziehung des legitimen Inte-
resses an einer Verwertung der Werke und einer Amorti-
sation der Investitionen nicht gerechtfertigt.

Was in diesem Antrag ganz und gar fehlt, ist der Blick
über den Tellerrand in die Zukunft der Digitalisierung
und des Internets. Ein im Vergleich zu Tauschbörsen we-
sentlich aktuelleres Thema ist das des Filehostings oder
die Tatsache, dass die Inanspruchnahme von Daten-
clouds mit jeder neuen Gerätegeneration zunehmen
wird. Der Antrag der Linken enthält keinerlei Lösungs-
optionen angesichts dieses technologischen Fort-
schritts. Auf nationaler und internationaler Ebene wird
in diesem Zusammenhang heftig über technische Maß-
nahmen zur Kontrolle dieser internetbasierten Innova-
tionen und Geschäftsmodelle diskutiert. Digitalisierung
und Internet werden zum Anlass genommen, das Urhe-
berrecht weiter zu verschärfen und nach Maßnahmen zu
suchen, Urheberrechtsverletzungen zu bekämpfen. Hier
werden Vorschläge von Netzsperren über Vorratsdaten-
speicherung bis hin zu Warnhinweismodellen diskutiert,
die an Gefährlichkeit für die Grundrechte der Bürgerin-
nen und Bürger, aber auch an Naivität nicht zu überbie-
ten sind. Hacker aller Länder vereinigen sich längst und
oft mit Erfolg, wenn es darum geht, nationale bzw. staat-
liche Maßnahmen zur Überwachung der urheberrechts-
konformen Nutzung des Internets zu umgehen und den
nationalen Regierungen ihre Grenzen aufzuzeigen. Der
Gesetzgeber läuft dann Gefahr, sich mit im Ergebnis
wirkungslosen Vorstößen selbst zu diskreditieren. Ihm
verbleibt dann lediglich die Rolle als wenig geachteter
Symbolgesetzgeber.

Hintergrund der unterschiedlichsten und oft schon
verzweifelt anmutenden gesetzgeberischen Anstrengun-
gen ist, dass Digitalisierung und Internet den potenziel-
len Verbreitungsgrad von urheberrechtlich relevanten
Werken ins schier Unendliche erhöhen können. Klar ist,
dass die Verbreitung eines einmal im Netz befindlichen
Werkes kaum kontrollierbar ist. Daran besteht auch kein
Zweifel. Allerdings ist die von vielen gezogene Schluss-
folgerung falsch: Die Verbreitung neuer kreativer
Schöpfungen ist nicht per se urheberrechtsgefährdend.
Es ist vielmehr geradezu im Sinne – das wage ich pau-
schal zu behaupten – aller Urheberinnen und Urheber,
wenn sie ihre Werke über das Internet verbreiten und be-
kannt machen können. Die Verwertungsindustrien sind
dagegen oftmals diejenigen, die negative Effekte und
Untergangsszenarien für Kultur und Gesellschaft über-
zeichnen. Sie erliegen dem mit keinerlei Empirie unter-
mauerten Fehlschluss, der Verkauf etwa von Tonträgern
ginge allein dadurch in die Knie, dass die Werke auch
digital Verbreitung finden. Dieser Zusammenhang ent-



gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

behrt aber, wie einschlägige Studien aus der Musikwirt-
schaftsforschung belegen, schon deshalb jedweder Lo-
gik, weil erste Voraussetzung für den Umsatz von
Werken ist, dass dem Käufer die Existenz der Werke
überhaupt bekannt ist, diese also bereits vorgestellt und
verbreitet wurden.

Lassen Sie mich zu der Frage zurückkommen, wie die
Chancen von Digitalisierung und Internet im Sinne ei-
ner prosperierenden Gesellschaft auch urheberrechtlich
wahrgenommen werden können. Ich wage die Behaup-
tung aufzustellen, dass es keine andere adäquate gesetz-
geberische Reaktion auf das technische Know-how und
die technische Versiertheit von Internetnutzerinnen und
nutzern gibt, als sie bei ihrer grundlegenden Bereit-
schaft, für kulturelle Werke auch im Internet zu bezah-
len, ernst zu nehmen. Nutzerinnen und Nutzer sind nicht
nur bereit, für urheberrechtlich relevante Inhalte zu zah-
len, sie suchen geradezu nach Möglichkeiten, die es ih-
nen erlauben, mit urheberrechtlich geschützten Werken
zu arbeiten, diese zu verbreiten. Sie geben mehr Geld
denn je für Musik, Filme, Konzerte etc. aus. Warum
sollte der Gesetzgeber diese großartige Chance nicht
wahrnehmen? Die Einführung der Leergeräte- und
Speichermedienabgabe hat in den 60-er Jahren in einer
vergleichbaren Situation für Rechtsfrieden gesorgt. Die
pauschale Vergütung hat große Beträge in die Kassen
der Urheberinnen und Urheber gespült. Warum sollte
dieses System nicht auch im Internet funktionieren?

Digitalisierung und Internet fordern kreativen Tribut.
Wir müssen durchsetzbare Vergütungsmodelle erfinden.
Eine Alternative der Totalüberwachung ist weder kreativ
noch gewinnbringend für uns alle. Aus diesem Grund
wurde unsere Kulturflatrate in der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ ausgiebig disku-
tiert. Die Enquete-Kommission hat daraufhin letzten
Endes empfohlen, Urheberinnen und Urheber einen An-
spruch auf Vergütung gegen Provider einzuräumen, der
auf die Nutzerinnen und Nutzer umgelegt werden kann.
Hiermit haben wir ein Vergütungsmodell der Zukunft
aufgezeigt und sichergestellt, dass diese Vergütungsan-
sprüche auch durchgesetzt werden können, ohne das In-
ternet mit einer flächendeckenden Überwachungsinfra-
struktur zu überziehen.

Die Tatsache, dass der technologische Fortschritt
nicht aufzuhalten ist, sollte uns in der Entscheidung be-
stärken, jetzt das Richtige zu tun, um eine sinnvolle Re-
form des Urheberrechts voranzubringen, die den be-
rechtigten Interessen aller Beteiligten ausreichend
Rechnung trägt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712037800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6341 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung ge-
setzlich fixieren

– Drucksachen 17/4855, 17/5657 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gabriele Hiller-Ohm
Horst Meierhofer
Kornelia Möller
Markus Tressel


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1712037900

Im Tourismus haben wir in Deutschland schon heute

ein hohes Verbraucherschutzniveau erreicht. Das deut-
sche Recht gewährt Reisenden einen Schutz, der über
geltenden europäischen Standard hinausgeht. Wichtige
Grundlagen sind: das Pauschalreiserecht, die Fluggast-
rechte und die Verordnung zu den Passagierrechten im
Eisenbahnverkehr. Bald kommen die im Verfahren inzwi-
schen abgeschlossenen EU-Verordnungen über die Pas-
sagierrechte im See- und Binnenschifffahrtsverkehr so-
wie über die Passagierrechte im Busverkehr hinzu.

Wir setzen uns für einen möglichst umfassenden Ver-
braucherschutz ein. Der Verbraucher soll sich leicht in-
formieren können, er soll gut beraten und seine Interes-
sen sollen gut vertreten werden. Deshalb haben wir auch
im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Einrichtung ei-
ner unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle
für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff ge-
setzlich verankert wird. Am 1. Dezember 2009 hat die
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr

(söp) ihre Arbeit aufgenommen. Seither ist die söp-An-

laufstelle für all die Verbraucher, deren Beschwerden bei
einem Verkehrsunternehmen nicht erfolgreich waren
oder nicht ihren Erwartungen entsprochen haben. Wir
haben uns in mehreren Gesprächen mit Vertretern der
söp über die Arbeit dieser Schlichtungsstelle informiert
und sind zu dem Ergebnis gekommen: Ihre erfolgreiche
Tätigkeit stärkt den Verbraucherschutz im Tourismus.

Es gibt viele gute Argumente für eine außergerichtli-
che Streitbeilegung. Die söp weist zu Recht darauf hin,
dass „nicht immer der Weg zum Gericht die einzige
Möglichkeit ist, um verbriefte Rechte durchzusetzen“.

Der söp zufolge werden zwar bereits die meisten Be-
schwerden von den Verkehrsunternehmen selbst zur Zu-
friedenheit der Kunden geregelt. Der Bundesverband der
Deutschen Fluggesellschaften (BDF) gibt zum Beispiel
an, dass im Flugbereich 99 Prozent aller Kundenbe-
schwerden außergerichtlich durch Ausgleichsangebote
der Fluggesellschaften zufriedenstellend beigelegt wur-
den. Dennoch kennen wir sicher alle Einzelfälle, wo dies
nicht zutrifft. Die Mehrheit der bei der söp bisher einge-
gangenen Fälle betrifft Bahnreisen. Die söp wünscht
sich eine Beteiligung der deutschen Fluggesellschaften.
Diese lehnten jedoch bislang eine Mitgliedschaft ab. Ne-
ben anfänglichen grundsätzlichen Zweifeln werden nun
insbesondere Kostengründe genannt.

Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

Natürlich wollen auch wir eine breite Beteiligung al-
ler Verkehrsträger an Schlichtungsverfahren, um den
Verbraucherschutz im Tourismus weiter zu stärken und
Reisenden die Durchsetzung ihrer Rechte zu erleichtern.
Ich denke, darüber besteht große Einigkeit bei allen
Fraktionen. Dies muss aber nicht unbedingt heißen,
dass sich alle Verkehrsträger an einer einzigen übergrei-
fenden Schlichtungsstelle beteiligen.

Noch weniger zielführend erscheint uns die Forde-
rung im vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor-
legen soll, der die Teilnahme aller Verkehrsträger an
einer verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung unter
dem Dach der Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr erzwingt. Ein solcher Zwang zur Be-
teiligung widerspricht dem Gedanken einer freiwilligen
Schlichtung und lässt sich auch nicht aus dem Koali-
tionsvertrag ableiten.

Die Deutschen Fluggesellschaften sind nach langem
Zögern endlich zu einer Teilnahme an Schlichtungsver-
fahren bereit. Das begrüßen und unterstützen wir. Wie
sie wissen, streben die Fluggesellschaften allerdings die
Einrichtung einer separaten Schlichtungsstelle für den
Luftverkehr an. Dagegen haben wir keine grundsätzli-
chen Bedenken. Für die Kunden von Verkehrsunterneh-
men ist es letztlich unerheblich, welche Schlichtungs-
stelle sich um ihre Anliegen kümmert. Hinzu kommt: Für
die Verbraucher könnte trotzdem sogar ein einheitlicher
Zugang zu Schichtungsverfahren gewährleistet werden,
beispielsweise indem ein gemeinsamer Internetauftritt
der söp mit dieser Spezialschlichtungsstelle sowie einer
gemeinsamen telefonischen Anlaufstelle geschaffen
würde. Anschließend könnte eine Weiterleitung an die
einzelnen Stellen erfolgen.

Wir setzen auch in Zukunft auf eine freiwillige Mit-
wirkung der Luftverkehrsunternehmen an Schlichtungs-
verfahren. Die Streitbeilegung muss einvernehmlich
erfolgen. Bei einer gesetzlichen Verpflichtung zur Teil-
nahme an einer Schlichtung bestünde die Gefahr, dass
die Unternehmen Schlichtersprüche aus grundsätzli-
chen Erwägungen ablehnen. Damit wäre den Verbrau-
chern nicht geholfen. Sie stünden erneut vor der Ent-
scheidung, ob sie ihre Ansprüche vor Gericht geltend
machen sollen. Zudem können die Fluggesellschaften
auch nicht verpflichtet werden, einen Schlichterspruch
zu akzeptieren.

Seit mehreren Monaten gibt es intensive und inzwi-
schen weit fortgeschrittene Gespräche zwischen der
Bundesregierung und den Deutschen Fluggesellschaften
über die Einzelheiten der Ausgestaltung einer freiwilli-
gen Schlichtungsstelle für den Luftverkehr. Offensicht-
lich sind fast alle Punkte geklärt. Dem Ergebnis dieser
Gespräche sollten wir nicht vorgreifen. Wichtig für uns
ist, dass diese Einzelheiten so geregelt werden, dass sich
möglichst alle Fluggesellschaften – auch ausländische –
beteiligen, damit eine Wettbewerbsverzerrung zulasten
deutscher Unternehmen vermieden wird.

Allerdings wünschen wir uns von der Bundesregie-
rung, dass diese Gespräche nun zügig zum Abschluss
geführt werden, damit wir möglichst schnell einen noch
Zu Protokoll
besseren und umfassenderen Verbraucherschutz im Tou-
rismus erreichen.


Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1712038000

Im Grunde genommen ist es sehr zu begrüßen, wenn

auch der Opposition die Umsetzung unseres Koalitions-
vertrages am Herzen liegt. Das ist implizit eine schöne
Bestätigung unserer Ziele und zeigt, dass die Koalition
eine gute Politik für die Bürgerinnen und Bürger in un-
serem Land macht. Auch die ersten Erfahrungswerte,
die wir aus der Arbeit der Schlichtungsstelle gewonnen
haben, bestätigt dies ganz nachdrücklich. Wir haben da-
mit also ganz richtig in unserem Koalitionsvertrag die
Einrichtung einer „unabhängigen, übergreifenden
Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn,
Flug und Schiff“ festgeschrieben und dies zum 1. De-
zember 2009 auch schon umgesetzt.

Die konkreten Forderungen der Grünen gehen aber
nun deutlich an unseren Vorstellungen vorbei und schie-
ßen weit über das Ziel hinaus. Insbesondere zwei Forde-
rungen sind es, die den vorliegenden Antrag inakzepta-
bel machen.

Zum einen ist es die zwingende Beteiligung aller Ver-
kehrsträger, welche die Grünen mit ihrem Antrag ver-
langen, sicherzustellen. Besonderes Kennzeichen einer
Schlichtung ist aber gerade die Freiwilligkeit, mit der
die beiden Parteien eine gütliche Einigung im Streitfall
anstreben. Diese Freiwilligkeit ist jedoch nicht mehr er-
reichbar, wenn die eine Seite hierzu verpflichtet wird.
Einer beidseitigen Anerkennung der Schlichtersprüche
wäre damit nicht gedient. Eine Verpflichtung zur
Schlichtung konterkarierte damit gerade den besonde-
ren Vorzug der privaten, außergerichtlichen Streitbeile-
gung. Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus zu
erwarten, wenn die Flugunternehmen diese Schlich-
tungsergebnisse grundsätzlich nicht akzeptierten; denn
der Weg einer verpflichtenden Einigung steht schließlich
mit dem Klageweg immer offen.

Zum Zweiten ist es die verbindliche Vorgabe der
Schlichtungsstelle. Auch hier ist es einer gütlichen
Streitbeilegung nicht dienlich, wenn der Schlichter den
Parteien gesetzlich vorgeschrieben wird; denn auch an
dieser Stelle darf die Freiwilligkeit der Schlichtung nicht
eingeschränkt werden. Die Akzeptanz der Schlichtungs-
stelle ist hierfür aber eine maßgebliche Voraussetzung.

Die deutschen Fluggesellschaften haben bislang aus
unterschiedlichen Gründen insbesondere aufgrund der
Kosten eine Beteiligung an der Schlichtungsstelle für
den öffentlichen Personenverkehr, söp, abgelehnt.
Grundsätzlich zeigen sie aber schon die Bereitschaft,
sich an entsprechenden Schlichtungsverfahren zu betei-
ligen.

Hier haben in der vergangenen Zeit auch konstruk-
tive und zielführende Gespräche stattgefunden, und das
nicht zuletzt, da auch den Flugunternehmen ganz klar
ist, dass jede Schlichtung im Grunde genommen eine
Win-win-Situation bedeutet. Denn eine Schlichtung ist
eine schnelle und unbürokratische Hilfe. Sie ist kosten-
günstiger als ein Gerichtsverfahren und bringt für die



gegebene Reden

Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)

Unternehmen eine höhere Kundenzufriedenheit und ei-
nen deutlichen Imagegewinn. Daher, denke ich, kann die
Einrichtung einer eigenen Schlichtungsstelle für den
Luftverkehr eine klar zielführende Lösung sein. Auf die-
sem Weg wird die Akzeptanz und die Freiwilligkeit im
Schlichtungsverfahren gewahrt. Letztlich kann nur auf
diesem Weg eine regelmäßig gütliche Einigung und da-
mit eine erfolgreiche Verhinderung des Rechts- und Kla-
geweges erreicht werden.

Aber auch aus einem anderen Grund ist der sich ab-
zeichnenden Lösung einer eigenen Schlichtungsstelle
für den Flugverkehr der Vorzug zu geben. Grundsätzlich
sollte hier eine europaweit einheitliche Lösung ange-
strebt werden. Mit einer rein nationalen Verpflichtung
wäre diesem Ziel nicht ausreichend gedient; denn im
Unterschied zum monopolartig strukturierten Eisen-
bahnverkehr ist der Luftverkehr ein globaler Markt mit
nationalem wie auch internationalem Wettbewerb, und
dieser fordert auch wettbewerbsneutrale Regelungen.
Mit einer verbindlichen Verpflichtung zur Schlichtung
entstünde den Unternehmen wie dem Standort Deutsch-
land ein weiterer zu kalkulierender Kostenfaktor und da-
mit ein Wettbewerbsnachteil.

Dabei sind es aber gerade auch ausländische Flugge-
sellschaften, die immer wieder mit einem deutlich höhe-
ren Prozentsatz an Kundenbeschwerden konfrontiert
sind als die deutschen. Von daher werden wir gerade vor
dem Hintergrund eines stetig zunehmenden Flugreise-
verkehrs auf die Dauer eine EU-weite Regelung anstre-
ben. Nicht ohne Grund sind auch die Fluggastrechte im
europäischen Rahmen definiert, und auch in der
Schlichtungsfrage darf ein möglichst weitgreifender
Verbraucherschutz nicht an den nationalen Grenzen
haltmachen.

In den Beratungen ist gegen eine eigene Schlich-
tungsstelle für den Luftverkehr aber auch das Argument
vorgebracht worden, dass viele Reisende während ihrer
Reise den Verkehrsträger wechselten und demzufolge in
der Schlichtung unterschiedlichen Ansprechpartnern
gegenüberstünden. Das ist in sich aber nicht stichhaltig.
Erhebt der Reisende seine Beschwerden gegen unter-
schiedliche Verkehrsträger, so bedeutet das, dass er sich
ohnehin schon mit mehreren Ansprechpartnern ausein-
anderzusetzen hat. Erhebt er sie gegen einen Pauschal-
reiseanbieter, der für eine Reise unterschiedliche
Verkehrsträger verpflichtet hat, so ist gemäß des Pau-
schalreiserechts dann auch nur dieser der Ansprech-
partner. Und das liegt auch in der Natur der Sache:
Einen Regressanspruch kann ich nur einmal geltend ma-
chen – und demzufolge auch nur bei einem Ansprech-
partner.

Darüber hinaus ist auch aus der Dokumentation der
Arbeit der söp von 2009 bis 2010 ersichtlich, dass dies
nur in einem von den 3 311 von der Schlichtungsstelle
dokumentierten Beschwerden der Fall war.

An all dem wird deutlich, dass wir mit der von der
Koalition eingerichteten Schlichtungsstelle eine unbüro-
kratische und zielführende Einrichtung geschaffen
haben, um auf nationaler Ebene zu einer schnellen au-
ßergerichtlichen Streitbeilegung zu kommen. Davon
Zu Protokoll
profitieren die Reisenden. Davon profitiert aber auch
der Tourismusstandort Deutschland. Es ist aber auch
deutlich geworden, dass eine außergerichtliche Streit-
beilegung im Flugverkehr komplexer ist und damit einen
umfassenderen Ansatz benötigt, dem jedoch der vorlie-
gende Antrag der Grünen keine Rechnung trägt.


Heinz Paula (SPD):
Rede ID: ID1712038100

Zu Beginn meiner Ausführungen darf ich den Koali-

tionsvertrag zitieren:

Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifen-
den Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus,
Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.

Dies haben CDU/CSU und FDP Ende 2009 so festge-
legt. Dies schlägt auch der uns vorliegende Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen so vor. Es ist bekannt, dass dies
auch im Sinne der SPD-Bundestagsfraktion ist. Daher
erhält der Antrag unsere volle Unterstützung.

Es sieht nicht danach aus, als ob die Fluggesell-
schaften sich freiwillig an einer Möglichkeit der außer-
gerichtlichen Einigung beteiligen wollen. Vielmehr war
im „Handelsblatt“ vom 8. März dieses Jahres zu lesen,
dass unsere Bundesjustizministerin Leutheusser-
Schnarrenberger in Zusammenarbeit mit den Flugge-
sellschaften ein Eckpunktepapier verfasst hat. Inhalt:
Lufthansa und Air Berlin sowie das Bundesministerium
der Justiz wollen eine gesonderte Schlichtungsstelle
gründen. Der Clou: Die Beiträge werden nicht von den
Fluggesellschaften getragen, sondern von den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern. Sie sollen Eintrittsgebüh-
ren leisten.

Als Tourismus- und Verbraucherpolitiker, vor allem
aber als Sozialdemokrat kann und werde ich solche For-
derungen nicht akzeptieren. Vor allem aber frage ich
mich: Was ist mit der Aussage der Bundesregierung im
Koalitionsvertrag? Dort sprechen Sie von einer ver-
kehrsübergreifenden Schlichtungsstelle, nicht etwa von
einer separaten.

Die Bundesregierung wendet sich ein weiteres Mal
gegen die Wünsche und Bedürfnisse der Verbraucherin-
nen und Verbraucher. Ich möchte nur darin erinnern,
dass auch die Verbraucherschutzministerkonferenz der
Länder am 17. September 2010 einen eindringlichen Ap-
pell an die Fluggesellschaften gerichtet hat, sich an den
Schlichtungsverfahren der söp zu beteiligen. Die Minis-
ter für Verbraucherschutz der Länder haben die Bundes-
regierung aufgefordert, bei einer weiteren Weigerung
der Luftfahrtsunternehmen die Teilnahme an und die
Mitgliedschaft in der söp für alle in Deutschland tätigen
Reiseverkehrsunternehmen gesetzlich festzuschreiben.

Auch die Verbraucherzentralen auf Länder- und Bun-
desebene fordern eine gesetzliche Regelung für ein ver-
bindliches Schlichtungsverfahren.

In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom Fe-
bruar dieses Jahres führt die Bundesregierung aus – ich
darf zitieren –:

Mit Inkrafttreten eines Gesetzes, das eine Schlich-
tung von Verbraucheransprüchen im Luftverkehr



gegebene Reden

Heinz Paula


(A) (C)



(D)(B)

einführt, werden Ansprüche gegenüber Luftfahrtun-
ternehmen, die vor deutschen Unternehmen einge-
klagt werden könnten, dieser Schlichtung unterfal-
len. Nehmen Fluggesellschaften nicht freiwillig teil,
so ist beabsichtigt, sie zur Schlichtung zu verpflich-
ten.

Mit Blick auf die zeitliche Nähe zum Artikel im „Han-
delsblatt“ scheint es, als führe die Bundesregierung
zweigleisig: hier die gesonderten Verhandlungen für
eine gesonderte Schlichtungsstelle, dort die Zusage ei-
ner gesetzlichen Verpflichtung. Wieder ein Beispiel für
den Einfluss der Lobbyisten und ein klassischer Fall der
oft zitierten Klientelpolitik dieser Bundesregierung!

Die Fluggesellschaften weigern sich beharrlich, der
söp beizutreten. Ich selbst konnte mich in Gesprächen
mit Vertretern einiger Fluggesellschaften davon über-
zeugen, dass sie beabsichtigen, bei dieser Meinung zu
bleiben. Also muss eine andere Lösung her!

Wir Sozialdemokraten machen Politik für den Ver-
braucher. Dies ist unsere Klientel. Daher wollen wir
bessere Reiserechte, bessere Fahrgastrechte, bessere
Fluggastrechte – und eine bessere Durchsetzung dieser
Rechte. Für uns ist die außergerichtliche Streitschlich-
tung generell die beste Lösung.

Wir haben seit 2009 die Schlichtungsstelle öffentli-
cher Personenverkehr – kurz söp genannt. Unsere da-
malige Bundesjustizministerin, Brigitte Zypries, hat sie
auf den Weg gebracht. Sie ist als Schlichtungsstelle
weitgehend anerkannt. Im Jahr 2010 gab es mehr als
3 600 Anträge auf Durchführung eines Schlichtungsver-
fahrens. Diese Zahlen sprechen für sich. Eine Schlich-
tungsstelle ist notwendig. Die Schlichtungsquote im
Bahnverkehr betrug 2010 rund 90 Prozent. Auch diese
Zahl spricht für sich: Die Schlichtungsstelle ist erfolg-
reich.

Bahnfernverkehrs-, Bahnnahverkehrs- und Busunter-
nehmen sind bisher an der Schlichtungsstelle beteiligt.
Sie wird von den Verbraucherinnen und Verbrauchern
gut angenommen. Auch Flugreisende müssen eine An-
laufstelle zur Schlichtung ihrer „Streitfälle“ bekommen.

Eine Umfrage der Verbraucherzentrale Bundesver-
band von Herbst 2010 hat aufgezeigt, wie notwendig
eine Schlichtungsstelle für den Luftverkehr ist. Die Um-
frage legte offen, dass Reisende häufig nicht frühzeitig
über Flugstörungen informiert, nicht mit angemessenen
Betreuungsleistungen versorgt und rechtlich geschul-
dete Ausgleichszahlungen nicht geleistet werden. Die
von den Reisenden erhobenen Beschwerden wurden zö-
gerlich bearbeitet. 32 Prozent erhielten erst nach mehr
als einem Monat eine Antwort, 22 Prozent erhielten
keine. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die Rechts-
durchsetzung reibungslos. Bei solchen Umfrageergeb-
nissen muss ich mich fragen, wie viel Wert die Flugge-
sellschaften eigentlich auf Kundenzufriedenheit legen
und wie viel Wert die Bundesregierung darauf legt, diese
Missstände endlich im Sinne der Verbraucher zu been-
den.

Wir befürworten, ebenso wie unsere grünen Kollegen,
eine verkehrsübergreifende Schlichtung. Die Fluggesell-
Zu Protokoll
schaften müssen ohne Wenn und Aber eingebunden wer-
den. Viele Reisende wechseln die Verkehrsmittel wäh-
rend ihrer Reise. Ob Bus, Bahn, Schiff oder Flugzeug –
bei einer verkehrsübergreifenden Schlichtungsstelle ha-
ben sie alles unter einem Dach. Das ist verbraucher-
freundlich.

Wir halten es auch für erforderlich, dass ausländi-
sche Luftverkehrsunternehmen an der Schlichtungsstelle
beteiligt werden. Dies ist für die Verbraucher ebenso
wichtig wie für die Luftfahrtunternehmen. Sollte es wei-
terhin bei der beharrlichen Weigerung der Luftfahrtun-
ternehmen bleiben, sehen wir zu einer gesetzlichen Ver-
pflichtung keine Alternative.

Daher richte ich an dieser Stelle einen eindringlichen
Appell an die Regierungsparteien, diesem Antrag zuzu-
stimmen. Bei der Vielzahl der Argumente können Sie
sich der Einsicht über die Notwendigkeit einer verkehrs-
übergreifenden Schlichtungsstelle nicht entziehen.


Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1712038200

Wer kennt das nicht: Der lang ersehnte Urlaub steht

vor der Tür, die Vorfreude ist groß, und dann passiert
das, wovon man nicht zu träumen gewagt hätte. Man
steht am Flughafen, und der Flug in das Land der
Träume hat eine Verspätung von fünf Stunden. Und als
wäre das nicht schon genug: Wenig später wird der Flug
womöglich sogar annulliert, und erst am nächsten Mor-
gen, nach einer unbequemen Nacht auf einer Sitzbank in
der Flughafenhalle, kann der Urlaub endlich starten. Zu
allem Überfluss ist nach der Landung auch noch das
Gepäck beschädigt. Dies ist leider keine Seltenheit. Aber
was tun, wenn der Flug Verspätung hat, der Flug aus-
fällt oder der gebuchte Flug überbucht ist? Eigentlich
ist die Sachlage eindeutig: Nach der Fluggastrechtever-
ordnung EG Nr. 261/2004 haben die Fluggäste bei einer
Verspätung bzw. der Annullierung des Fluges einen Ent-
schädigungsanspruch. Der Entschädigungsanspruch
umfasst Ausgleichszahlungen in der Höhe von 250 bis
600 Euro sowie Unterstützungs- und Betreuungsleistun-
gen. Es besteht auch kein Unterschied zwischen Linien-
flug, Charterflug oder Billigflug, auch wenn das manche
Fluglinien ihren Passagieren weismachen wollen.

Unsere Erfahrung zeigt allerdings, dass sich die
meisten Fluggesellschaften bei der Entschädigung der
Passagiere in der Vielzahl der Fälle kulant zeigen und
sogar bereit sind, die Kunden über das rechtlich vorge-
sehene Maß hinaus zu entschädigen. Es gibt aber leider
auch schwarze Schafe unter ihnen. Insbesondere die Bil-
ligfluggesellschaften, die mit billigen Preisen den Wett-
bewerbsdruck erhöhen, versuchen bei Entschädigungs-
fällen möglichst wenig oder gar nichts zu zahlen, um
ihre Gewinnmargen nicht zu beschädigen. Hier guckt
der geschädigte Fluggast leider ganz schnell in die
Röhre. Diesen Fluggästen bleibt nur die Durchsetzung
ihrer Ansprüche auf dem Klageweg, der teilweise sehr
langwierig und vor allem kostspielig ist. Die Gerichts-
kosten sind im Verhältnis zu den Entschädigungskosten
so horrend hoch, dass manch ein Fluggast den Aufwand
und die Kosten lieber scheut und die Angelegenheit im



gegebene Reden

Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)

Sande verlaufen lässt – letztlich zum Wohle der Flugge-
sellschaft.

Um in solchen Fällen für eine bessere Rechtsdurch-
setzung zu sorgen, haben wir auch im Koalitionsvertrag
geregelt, „die Einrichtung einer unabhängigen, über-
greifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger
Bus, Bahn, Flug und Schiff“ gesetzlich zu verankern.
Dadurch wollen wir die Rechte der Fluggäste stärken
und teure und lange Verfahren in Zukunft vermeiden.
Dass die außergerichtliche Streitbeilegung wichtig und
zielführend ist, hat der Einsatz der söp, der Schlich-
tungsstelle für den öffentlichen Nahverkehr, bereits be-
wiesen. Im ersten Jahr sind bei der söp 3 311 Fälle zur
Schlichtung eingegangen. Davon konnten 90 Prozent
der Fälle mit einer erfolgreichen Schlichtung abge-
schlossen werden, alles zum Wohle der Verbraucher, der
beteiligten Unternehmen und auch der Gerichte, denen
dadurch eine Menge Arbeit erspart werden konnte. Au-
ßerdem konnte mit der außergerichtlichen Streitbeile-
gung nicht nur die Servicequalität der Nahverkehrsträ-
ger, sondern auch eine erhöhte Kundenzufriedenheit
erreicht werden.

Die Fluggesellschaften haben sich der söp leider
nicht angeschlossen. Eine Teilnahme aller Verkehrsträ-
ger an einer verkehrsübergreifenden Schlichtung unter
dem Dach der söp wird es daher auch nicht geben. Des-
halb hat die schwarz-gelbe Koalition bei den Flugge-
sellschaften dafür geworben, sich an einer eigenen
Schlichtungsstelle für den Flugverkehr zu beteiligen.
Nach zähen Gesprächen wird die Bundesregierung nun
eine entsprechende Initiative umsetzen und eine Schlich-
tungsstelle für den Flugverkehr ins Leben rufen, der sich
die Fluggesellschaften nun anschließen können. Aller-
dings sage ich auch ganz deutlich: Sollten sich manche
Fluggesellschaften weigern, werden wir diejenigen, die
sich der Schlichtungsstelle nicht freiwillig anschließen,
gesetzlich dazu verpflichten, so wie wir es im Koalitions-
vertrag auch verankert haben. Denn eine Schlichtungs-
stelle macht nur dann Sinn, wenn sich der Schlichtung
nicht nur die nationalen Fluggesellschaften unterwer-
fen, sondern alle Fluggesellschaften, die in Deutschland
starten und landen. Ich halte dies für einen großen Fort-
schritt.

Eine alle Verkehrsträger übergreifende Schlichtungs-
stelle, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern, ist aus meiner
Sicht nicht nötig. Auch Ihre Begründung, eine gemein-
same Schlichtungsstelle bedeute geringere Overhead-
Kosten, überzeugt mich nicht. Denn es ist ohne Weiteres
möglich, die Kosten gering zu halten, indem wir für alle
Fahrgäste zum Beispiel eine gemeinsame Internetplatt-
form schaffen, auf der der Kunde im Hauptportal entwe-
der die Schlichtungsstelle des öffentlichen Nahverkehrs
oder die Schlichtungsstelle für Fluggäste auswählt.
Diese gemeinsame Plattform ist eine übersichtliche und
kosteneffiziente Lösung für die Verbraucherinnen und
Verbraucher. Bei der Behandlung der Fälle halte ich
eine getrennte Struktur für sinnvoller. Denn dadurch
können sich die Mitarbeiter der jeweiligen Stelle viel
besser auf einen Verkehrsträger spezialisieren und auf
diese Weise die Fälle mit größerer Expertise bearbeiten.
Damit lässt sich aus meiner Sicht sogar der Bearbei-
Zu Protokoll
tungszeitraum der Schlichtungsfälle verkürzen. Deshalb
halte ich den von der schwarz-gelben Regierungskoali-
tion eingeschlagenen Weg für absolut zielführend und
eine große Verbesserung für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.


Kornelia Möller (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712038300

Es ist geradezu symptomatisch für die gegenwärtige

Politik der schwarz-gelben Bundesregierung und den
Zustand der Regierungskoalition, dass es die Opposition
ist, die immer wieder auf die Erfüllung von Versprechen,
aber auch konkreten Verpflichtungen hinweisen muss,
die aus dem Lager der Regierungsparteien selbst ge-
kommen sind. Das betrifft unter anderem auch das
Thema „Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung“.
Hatten Sie sich, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, nicht vorgenommen, eine unab-
hängige, übergreifende Schlichtungsstelle für die Ver-
kehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff gesetzlich zu
verankern? Ist Ihnen Ihre eigene Koalitionsvereinba-
rung gar nichts mehr wert?

Unsere Fraktion hatte Sie in einem Antrag bereits vor
einem Jahr aufgefordert, nationale Handlungsspiel-
räume zu nutzen und sich gegenüber der Europäischen
Union und im Rat der Europäischen Union dafür einzu-
setzen, vor allem den Fluggästen die Anrufung einer
wirksamen Schlichtungsstelle zu ermöglichen. Zu unse-
ren weiteren Forderungen gehörte damals, die Beteili-
gung von Fluggesellschaften an der Schlichtungsstelle
gesetzlich festzuschreiben und gleichzeitig die Unab-
hängigkeit der Schlichtungsstelle zu gewährleisten.

Im September vorigen Jahres stimmten die Verbrau-
cherschutzminister der Länder einstimmig für eine ver-
pflichtende Teilnahme der Fluggesellschaften an der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr
e. V., söp. Das hatten die Verbraucherschutzminister be-
reits im Jahr davor auf ihrer Konferenz angeregt. Die
Bundesregierung wurde gebeten, ich zitiere:

durch geeignete Maßnahmen dafür zu werben, dass
die deutschen Fluggesellschaften der Schlichtungs-
stelle Personenverkehr beitreten.

Die Bundesregierung hatte aber ihre Koalitionsver-
einbarung offenbar völlig aus dem Auge verloren. Dabei
gab es aus eigenen Ministeriumskreisen ernstzuneh-
mende Aufforderungen. Der Leiter des Referats Scha-
densersatzrecht des Justizministeriums, Hans-Georg
Bollweg, schrieb 2010 in einem Aufsatz:

Der Koalitionsvertrag hat der neuen Bundesregie-
rung … die gesetzliche Verankerung einer unab-
hängigen und übergreifenden Schlichtungsstelle für
die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff auf
die Tagesordnung gesetzt.

Ihre Fachjuristen wissen also sehr genau, was eigent-
lich auf der Tagesordnung stehen müsste, auch wenn Sie,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
sich hier im Parlament nach wie vor dagegen sperren
und eine Lösung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-
schieben wollen, und dies nicht aus juristischen Grün-
den oder anderen vorgeschobenen Ausflüchten, sondern



gegebene Reden

Kornelia Möller


(A) (C)



(D)(B)

aus politischem Kalkül: Auf dem Rücken der Fluggäste,
also der Verbraucherinnen und Verbraucher, wollen Sie
den deutschen Fluggesellschaften Wettbewerbsvorteile
einräumen. Anders kann man das Argument der FDP
aus der Debatte im Ausschuss gegen den heute zur Ab-
stimmung stehenden Antrag, es müssten sich aus Grün-
den der Wettbewerbsgleichheit auch die internationalen
Fluggesellschaften an dem Verfahren beteiligen, nicht
werten. Das ist im Übrigen die gleiche schäbige Politik,
die Sie seit Jahren auf lohn- und sozialpolitischem Ge-
biet im sogenannten Interesse des Standortes Deutsch-
land betreiben und für deren Resultate die Bundesrepu-
blik erst gerade wieder von der UNO scharf kritisiert
wird.

Dass wir als Linksfraktion dem heute zur Abstim-
mung stehenden Antrag von Bündnis 90/Den Grünen
unsere Zustimmung geben werden, hat mehrere Gründe.
Zu den bereits genannten möchte ich noch folgende hin-
zufügen:

Anfang 2009 hat die Schlichtungsstelle öffentlicher
Personenverkehr söp ihre Arbeit aufgenommen. Bis zum
31. März 2011 wurden insgesamt 4 513 Fälle bearbeitet,
davon betrafen 1 667 Fluggesellschaften, 91 Prozent
konnten erfolgreich abgeschlossen werden. Die Schlich-
tungsstelle ist anerkannt, hat bei den Verbraucherver-
bänden, den Fachjuristen und nicht zuletzt bei den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern einen guten Ruf und
ist in der Lage, Schlichtungen für alle Verbraucher und
Verkehrsträger in hoher Qualität und mit geringen Kos-
ten durchzuführen. Von den Fluggesellschaften wurde
argumentiert, die Mitgliedschaft bei der söp sei für sie
zu teuer. Dieses Argument ist zumindest fadenscheinig.
Nach mir vorliegenden Informationen hat die söp den
Fluggesellschaften ein so günstiges Angebot unterbrei-
tet, dass sie selbst eine eigene Schlichtungsstelle nicht
preiswerter installieren könnten.

Wenn eine übergreifende Schlichtung nicht zustande
kommt, hat dies also ausschließlich politische Gründe.
Dazu sollten Sie sich, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, dann aber auch öffentlich beken-
nen.

Wir Linke haben mit unserem Antrag auf Drucksache
17/2021 „Fluggastrechte stärken“ unseren Willen für
einen umfassenden Verbraucherschutz auf diesem Ge-
biet bekundet und halten daran fest.

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist sinnvoll
und richtig. Er liegt im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher. Sie von der Regierungskoalition soll-
ten ihm deshalb auch zustimmen und damit den Weg für
eine verkehrsübergreifende Schlichtungsstelle endlich
frei machen.


Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712038400

Es ist schon paradox: Wir haben hier einen Antrag

vorliegen, der eine Passage aus dem Koalitionsvertrag
aufgreift. Letztlich geht es um folgenden Satz, den ich Ih-
nen, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus
der Koalition, in Erinnerung rufen möchte:
Zu Protokoll
Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifen-
den Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus,
Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.

Es wäre gut, wenn auch Ihre Ministerinnen und
Minister das wollten, oder? Denn von der gesamten Op-
position findet das Zustimmung. Doch leider nicht mehr
von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Ko-
alition. Wer soll Ihnen eigentlich noch irgendetwas ab-
nehmen? Selbst Ihre Vertragsgrundlage wird nicht mehr
eingehalten. Ihnen ist der ordnungspolitische Kompass
anscheinend wirklich vollkommen abhanden gekommen.
Dass es Ihnen nicht um die Rechte von Verbraucherin-
nen und Verbrauchern geht, sondern um reine Lobby-
politik, haben wir nun unlängst feststellen können.

Aber gut: Ich möchte Ihnen noch einmal inhaltlich er-
klären, worum es hier geht. Denn das scheint wichtig.
Bislang haben das bei Ihnen offensichtlich nur Flugge-
sellschaften machen dürfen. Im Ausschuss war Ihnen
diese Debatte ja auch sichtlich unangenehm. Selten
habe ich Sie so wortkarg erlebt.

Einig sind wir uns alle, dass es sinnvoll erscheint,
eine außergerichtliche Streitbeilegung für Reisende an-
zubieten, um ihnen zu ihrem Recht bei Verspätungen,
Annullierungen, Nichtbeförderung oder Ähnlichem zu
verhelfen. Verbraucherschützer bemängeln, in keinem
Rechtsbereich sei die Diskrepanz zwischen Anspruch auf
Recht und Rechtsdurchsetzung so eklatant wie im Be-
reich der Fluggastrechte. Auch die Europäische Kom-
mission hat die Bundesregierung sechs Jahre nach
Inkrafttreten der Verordnung jüngst ganz schön durch-
geschüttelt. Aber das scheint an Ihnen abgeperlt zu sein
wie an einer Teflonpfanne. Verbraucherinnen und Ver-
braucher müssen ihre Rechte auch verkehrsträgerüber-
greifend durchsetzen können. Lieber Herr Döring, das
hatten Sie ja auch richtigerweise in der vorletzten Sit-
zungswoche, als es hier zwar um Verkehrsstatistiken und
nicht um Schlichtung ging, festgehalten. Dann zeigen
Sie mal, wie es geht, und bringen Sie Ihre Kolleginnen
und Kollegen auf Spur. Aber ich muss kein Prophet sein,
um zu wissen, dass Sie mit Ihrem Votum gleich zeigen,
wie schnell Sie Ihre Meinung wieder ändern können.

Neben gesetzlich definierten Fahr- und Fluggastrech-
ten und der Möglichkeit ihrer gerichtlichen Durchset-
zung ist die Schlichtung für Verkehrsteilnehmer eine
wichtige Ergänzung bei der niedrigschwelligen Klärung
von streitigen Sachverhalten im Personenverkehr.
Niedrigschwellig ist ein Schlüsselwort. Denn wer ist
denn schon bereit, diesen Spießrutenlauf bei Behörden
und Airlines einzugehen? Die Airlines wissen das ganz
genau, offenbar auch besser als Sie. Denn so haben sie
es geschafft, dass das Justizministerium zunächst bereit
war, eine Eingangsgebühr von 50 Euro zuzulassen. Nie-
mand wusste aber, ob und wann der Reisende diese
50 Euro jemals wieder sehen würde, beispielsweise
wenn die Airline den Schlichterspruch nicht annimmt.
Erst auf massiven Mediendruck zeigte sich Ministerin
Leutheusser-Schnarrenberger einsichtig. Ich hoffe in-
ständig, dass es dabei bleibt. Denn sowohl für Unter-
nehmen als auch für die Reisenden hat sich das Verfah-
ren der außergerichtlichen Streitbeilegung bewährt. Es



gegebene Reden





Markus Tressel


(A) (C)



(D)(B)

erhöht die Servicequalität der teilnehmenden Unterneh-
men und führt zu mehr Kundenzufriedenheit.

Nachdem die unter Verbraucherministerin Renate
Künast eingerichtete Schlichtungsstelle Mobilität nicht
mehr fortgeführt worden ist, gibt es dafür seit Dezember
2009 die Schlichtungsstelle für öffentlichen Personen-
verkehr e.V., söp. Die söp ist verkehrsträgerübergreifend
konzipiert und bemüht sich durch diverse Angebote an
die Verkehrsträger, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Während nahezu alle Bahnunternehmen und auch ver-
mehrt Nahverkehrsanbieter, wie zum Beispiel die BVG,
als Träger der söp die Vorteile dieses Verfahrens aner-
kennen, weigern sich die Flugunternehmen weiterhin.
Die Schlichtungsquote von über 90 Prozent und die un-
abhängige Arbeit spricht eigentlich schon für sich. Mit-
unter auch ein Grund dafür, dass die Verbraucher-
schutzminister der Länder auch aufgrund des besonders
hohen Beschwerdepotenzials bei Flugreisen bereits am
17. September 2010 – einstimmig, also auch Minister
und Ministerinnen von Union und FDP – für eine ver-
pflichtende Teilnahme der Fluggesellschaften bei der
söp votierten.

Aber was ist nun Stand der Dinge? Die Airlines woll-
ten nie eine Schlichtung, ihre Servicezentren seien gut
genug. Wussten Sie, dass Condor alle Beschwerde-
schreiben an eine Anwaltskanzlei übergibt und so den
sogennannten Customer Support abwickelt? Nachdem
der Druck durch die Medien – und teilweise auch durch
die Politik – auf die Airlines stark erhöht wurde, sehen
sie sich nun offenbar genötigt, eine eigene Schlichtungs-
stelle aufzubauen, eine Schlichtungsstelle ganz nach ih-
ren Vorstellungen, eine Schlichtungsstelle von den Air-
lines ausschließlich für unzufriedene Fluggäste, nicht
für andere Verkehrsträger. Diese spezielle Behandlung
einzelner Sektoren sei im Versicherungswesen auch der
Fall, meinten die Airlines. Das kostet nicht nur viel
Geld, sondern auch Zeit. Die Airlines wissen das. Sie
wissen auch ganz genau, was sie mit einer nach ihren
Vorstellungen ausgestalteten Schlichtungsstelle an Geld
sparen können, um die Verordnung weiterhin nur unzu-
reichend umzusetzen und Reisende bei Beschwerden oft-
mals gezielt zu verwirren.

Ganz im Ernst, jenseits des politischen Diskurses gibt
es außer Lobbyinteressen der Airlines eigentlich keine
Argumente für eine separate Schlichtungsstelle. Eine
unabhängige und verkehrsträgerübergreifende Streit-
beilegung in einer einzigen Schlichtungsstelle ist für ein
zeitnahes Ergebnis im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher wichtig. Für eine verkehrsträgerübergrei-
fende Lösung spricht neben intermodalen Angeboten
wie zum Beispiel Rail-and-Fly-Tickets vor allem die
Neutralität gegenüber den verschiedenen Verkehrsträ-
gern. Die Airlines sprachen immer davon, dass die söp
zu teuer sei. Ich würde zu gerne deren Kalkulationen se-
hen. Denn eine einzige Stelle bedeutet neben dem Ver-
meiden von Parallelstrukturen auch betriebswirtschaft-
liche Skaleneffekte, die die Kosten für eine Schlichtung
so niedrig wie möglich halten. So sind die sogenannten
Overheadkosten bei einer zentralen Stelle deutlich ge-
ringer, als wenn man verschiedene, sektorspezifische
Stellen einrichtet. Zugleich steigen aber Effizienz und
Effektivität von Werbemaßnahmen. Das wichtigste Ar-
gument sind dabei aber die Reisenden: Sie sollten sofort
wissen, an wen sie sich mit Verbraucherbeschwerden
richten können – ganz unabhängig davon, welchen Ver-
kehrsträger sie nutzen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712038500

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5657, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4855 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 42 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Liebich, Dr. Dietmar Bartsch, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein-
halten – Umgang mit Gefangenen in palästi-
nensischen Gefängnissen verändern

– Drucksache 17/6340 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1712038600

Heute müssen wir uns mit einem Antrag der Fraktion

Die Linke beschäftigen, der sich – ganz ungewohnt von
dieser Seite – gegen die Zustände in den Gefängnissen
der palästinensischen Autonomiebehörde richtet. Inhalt-
lich bietet uns der Antrag aber keine neuen Erkennt-
nisse, und es wird auch nichts von der Bundesregierung
gefordert, was sie nicht bereits umsetzt.

Genau dies ist auch der Grund, warum wir den An-
trag ablehnen, obwohl er in der Sache genau die Pro-
bleme benennt, die wir in der Koalition seit Langem und
immer wieder ansprechen. Schon mit dem Antrag „Men-
schenrechte weltweit schützen“, Drucksache 17/257 aus
dem Dezember 2009, hat die Koalition, zusammen mit
SPD und Grünen, die Bundesregierung aufgefordert,
sich weiterhin konsequent für die Menschenrechte in
allen Politikbereichen einzusetzen und in ihrem Regie-
rungshandeln auch zukünftig auf die weltweite Abschaf-
fung von Todesstrafe, Folter und unmenschlicher Be-
handlung hinzuwirken. „Die Todesstrafe weltweit
ächten und abschaffen“, Drucksache 17/2331, war der
nächste Antrag der Koalition im Juni 2010. Als letzten
Antrag mit zugegebenermaßen starker europäischer Aus-
richtung möchte ich noch auf die Drucksache 17/3423
verweisen, die im Oktober 2010 von der Koalition, zu-
sammen mit SPD und Grünen, aus Anlass der Feierlich-
keiten zum 60. Jahrestag der Menschenrechtskonvention
verabschiedet worden ist.

Dass die Bundesregierung auch ganz konkret die zum
Teil menschenrechtswidrige Lage der vielen Menschen

Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

in palästinensischen Gefängnissen, in der Westbank wie
in Gaza, stets im Blick hat und sich nachhaltig damit be-
schäftigt, ist gleich mehreren Dokumenten zu entneh-
men:

Zum einen heißt es im Menschenrechtsbericht der
Bundesregierung, dass immer wieder in den Gesprächen
mit den Behörden im Gazastreifen auf die Einhaltung
der Menschenrechte gedrängt und eine Abschaffung, zu-
mindest jedoch eine Aussetzung der Todesstrafe gefor-
dert wird.

Zum anderen hat die Bundesregierung in ihrer Ant-
wort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke
vom 1. März 2011, Drucksache 17/4993, zu diesem
Thema dargestellt, dass vor allem die Situation großer
Teile der palästinensischen Sicherheitskräfte im West-
jordanland defizitär sei. Die Tätigkeit der Sicherheits-
kräfte im Gazastreifen werde als Ganzes kritisch gese-
hen. Vor allem dort, aber auch im Westjordanland
komme es regelmäßig zu politisch motivierten Festnah-
men und Beeinträchtigungen der Medien- und Versamm-
lungsfreiheit.

Die Bundesregierung hat zugleich aber auch Verbes-
serungen in der Lage Gefangenen, vor allem im Westjor-
danland, erkannt und darauf hingewiesen, dass Men-
schenrechtsorganisationen in den letzten Monaten von
einem deutlichen Rückgang von Folter und herabwürdi-
genden Behandlungen berichten. Es würde diese positi-
ven Entwicklungen zweifellos eher gefährden als stüt-
zen, wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt durch Anträge wie
den Ihren den Druck auf die Palästinenser noch einmal
erhöhten.

Die Forderungen, die von der Fraktion Die Linke im
heutigen Antrag aufgestellt werden, sind somit weder
notwendig noch der guten Sache förderlich. Durch die
schlichte Wiederholung von Aufforderungen an die Bun-
desregierung, die von den anderen Parteien schon for-
muliert worden und die seit längerem dezidiert in die
Politik der Regierung eingegangen sind, soll lediglich
der – falsche – Eindruck erweckt werden, Regierung und
Regierungskoalition wären sich der bedrückenden Lage
der in den Palästinensergebieten inhaftierten Menschen
nicht bewusst oder würden sich nicht klar und oft genug
gegen die dort geschehenden Menschenrechtsverletzun-
gen und die Todesstrafe aussprechen. Dies sind Unter-
stellungen, die im Gewand der Sorge um eine gute Sache
daherkommen, die ich aber entschieden zurückweisen
muss.

Diesem Antrag liegt aber ein weiteres, noch weniger
edles Motiv zugrunde; und meines Erachtens ist dies
auch das eigentliche Motiv, das sich allerdings erst
durch einen Blick hinter die Parteikulissen erschließt:
Wir kennen alle die öffentlichen wie parteiinternen De-
batten über die antisemitischen und antizionistischen
Strömungen und Traditionen in der Partei Die Linke, die
den inneren Zusammenhalt der Partei gefährden und
ihre Umfragewerte sinken lassen. Diesen Antrag ver-
stehe ich deshalb wohl nicht zu Unrecht als den Versuch
einer in Panik geratenen Fraktion, sich mit einem Rund-
umschlag aus einer misslichen Lage zu befreien. Mit ih-
rer Kritik an der Lage der Gefangenen in den Palästi-
Zu Protokoll
nensergebieten, die sie nach meinem Gefühl etwas zu
plötzlich als kritikwürdig entdeckt haben, versucht die
Linke nun mit Macht, die in der Öffentlichkeit inzwi-
schen vorherrschende Wahrnehmung zu korrigieren,
dass Antizionismus und Antisemitismus in dieser Partei
immer noch ein gewisses Heimatrecht genießen, das zu
Besorgnis Anlass gibt. Kurz: Dieser Antrag dient auch
dazu, das durch diese Debatte nicht unerheblich ram-
ponierte Ansehen der Partei wiederherzustellen. Partei-
politisch ist dies zwar verständlich, politikethisch aber,
da es für diese Erneuerungskur ganz offensichtlich kon-
krete, bedrückende Menschenrechtsprobleme instru-
mentalisiert, höchst bedenklich. So sehr ich als Sprecher
meiner Fraktion in Menschenrechtsfragen und als Abge-
ordneter Nürnbergs, das sich als Stadt der Menschen-
rechte versteht, jedes Engagement für die weltweite
Durchsetzung der Menschenrechte von Herzen begrüße:
Einer solchen Instrumentalisierung kann ich, können
wir nicht folgen.

Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
in Menschenrechtsfragen überzeugt und konsequent hät-
ten handeln wollen, dann hätten Sie zum Beispiel, um re-
gional im Nahen Osten zu bleiben, in der Gilad-Schalit-
Debatte mit Union, FDP, SPD und Grünen dazu hinrei-
chend Gelegenheit gehabt. Dass Ihr durch Ideologien
belastetes Herz für Menschenrechtsfragen im Israel-Pa-
lästina-Konflikt aber recht einseitig und nachhaltig für
die Palästinenser schlägt, haben Sie damals in Ihrem ei-
genen Antrag durch den Satz, die Freilassung Schalits
würde ein „humanitäres Zeichen“ für die Entlassung
„palästinensischer politischer Gefangener“ sein, mehr
als eindringlich deutlich gemacht.

Für die Realpolitik der Linkspartei mag es ohne Be-
lang sein, ob sie im Bundestag mal Menschenrechte in
Palästina kritisiert oder mal eben die Färöer-Inseln aufs
Festland verlegen möchte. Nur würde sie sich mit der
zweiten Forderung lächerlich machen, während sie mit
der ersten ihren Anhängern Toleranz und der Öffentlich-
keit gelungene Entideologisierung vorgaukelt. Hier wer-
den wir nicht mitmachen. Eine Partei, die daheim nicht
einmal in der Lage ist, vernünftige innenpolitische Vor-
schläge zu machen, sondern sich einseitig auf Umvertei-
lung und Gleichmacherei versteift, sollte sich, wenn sie
ernsthaft an Menschenrechtsfragen im Nahostkonflikt
mitarbeiten will, erst einmal konsequent von ihren ideo-
logischen Spätlasten, erst recht aber von ihrer Neigung
zu parteipolitischen Kurzschlussaktionen lösen.

Sehr geehrte Damen und Herren der Linken: Wenn es
Ihnen allein um die gute Sache, die Menschenrechte, ge-
gangen wäre und nicht zugleich auch um das Kitten in-
terner Zersplitterungen und das Aufpolieren des eigenen
Images, dann hätten Sie schon damals den von mir ge-
nannten Anträgen der Koalition zustimmen können, ja
müssen.


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1712038700

In ihrem Antrag, der Gegenstand der heutigen De-

batte ist, thematisiert die Fraktion Die Linke die Situa-
tion von Häftlingen, die in palästinensischen Gefängnis-
sen einsitzen. Auch die CDU/CSU-Fraktion beklagt die



gegebene Reden

Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)

offensichtlichen Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und
Einhaltung der Menschenrechte in den unter der Ver-
waltung der Palästinensischen Autonomiebehörde, PA,
stehenden Gebieten.

Die Staatlichkeit in Gaza und im Westjordanland ist
stark eingeschränkt. Die jahrelangen Konfrontationen
zwischen den rivalisierenden Kräften der Hamas und
der Fatah haben die Staatlichkeit und die Stabilität in
der Region zusätzlich beschädigt. Nach wie vor werden
Menschen in den palästinensischen Gebieten zum Tode
verurteilt. Sicherheitskräfte der von der Fatah dominier-
ten Palästinensischen Autonomiebehörde nehmen im
Westjordanland Anhänger der Hamas fest. Die Hamas
handelt in gleicher Weise in Gaza mit Verhaftungen von
Personen, denen sie Verbindungen zur Fatah vorwirft.

In Gaza sind nach Angaben von Amnesty Internatio-
nal 2010 mindestens elf Todesurteile ausgesprochen
worden, fünf Menschen wurden bislang hingerichtet. In
keinem der Fälle haben die Gerichtsverfahren den in-
ternationalen Standards für faire Gerichtsverfahren
entsprochen. Sowohl im Westjordanland als auch in
Gaza haben die Sicherheitskräfte weitreichende Befug-
nisse. So können sie beispielsweise Personen auf den
bloßen Verdacht einer Zusammenarbeit mit Israel hin
inhaftieren. Die Unabhängige Kommission für Men-
schenrechte, ICHR, zählte mehr als 1 400 Beschwerden
wegen willkürlicher Festnahmen im Westjordanland
und über 300 Beschwerden im Gazastreifen. Die Ver-
antwortlichen für Folter und andere Misshandlungen
bleiben in den meisten Fällen straffrei.

Die Situation in den palästinensischen Gefängnissen
ist dramatisch. Diese Zustände sind nur Ausdruck der
eigentlichen und viel weiter reichenden Problematik. Es
geht hier primär um die bislang nicht gelungene Umset-
zung einer Zweistaatenlösung, also der Errichtung eines
eigenständigen, demokratischen und souveränen paläs-
tinensischen Staates und der Aussöhnung der Palästi-
nenser untereinander. Die deutsche Bundesregierung
spricht sich deutlich für diesen Schritt aus. Die Entwick-
lungen der vergangenen Monate geben Anlass zur Hoff-
nung: Am 4. Mai dieses Jahres unterzeichneten Vertreter
der verfeindeten Gruppierungen Hamas und Fatah ein
Versöhnungsabkommen. Dieses birgt die Chance, die
Spaltung der palästinensischen Gebiete zu beenden und
Wahlen durchzuführen. Das Abkommen sieht eine Über-
gangsregierung vor, die als Hauptaufgabe die Vorberei-
tung von Wahlen koordiniert. Zudem soll die Blockade
des Gazastreifens überwunden werden. Die Demokrati-
sierungsprozesse des „arabischen Frühlings“ könnten
diese Entwicklung zusätzlich positiv beeinflussen.

Die Bundesregierung hat bereits viel unternommen,
um die Verhandlungen um den Nahostkonflikt neu zu be-
leben und konstruktiv weiterzuführen. Sie unterstützt
auch den Aufruf von US-Präsident Barack Obama an Is-
rael und die Palästinenser, die Wiederaufnahme des
Friedensprozesses voranzutreiben. Das Versöhnungsab-
kommen zwischen Fatah und Hamas ist ein erster
Schritt in die richtige Richtung. Der nächste Schritt
muss sein, dass die Hamas vor den entscheidenden Ver-
handlungen der Gewalt gegen Israel abschwört.
Zu Protokoll
Vergangene Woche wurde im Plenum ein Antrag der
Linken debattiert, der eine einseitige Anerkennung des
palästinensischen Staates durch die Generalversamm-
lung der UN im September dieses Jahres fordert. Dieses
Vorgehen dient dem Anliegen, den Friedensprozess vo-
ranzutreiben, nicht. Der Friedensprozess kann nur fort-
geführt werden, wenn beide Konfliktparteien wieder in
direkte Verhandlungen miteinander treten. Einseitige
Schritte würden im Nahostfriedensprozess in eine Sack-
gasse führen und die Positionen gegebenenfalls zusätz-
lich verhärten.

Es ist für den weiteren Verlauf der Verhandlungen
wichtig, dass beide Seiten vor der UN-Versammlung im
September wieder in einen direkten Dialog treten. In
diesem Zusammenhang ist auch eine gemeinsame Posi-
tion der Länder der Europäischen Union unabdingbar.
Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Friedens-
verhandlungen muss sein, dass durch die Existenz eines
palästinensischen Staates die Sicherheit Israels nicht
beeinträchtigt wird. Hier trägt Deutschland eine beson-
dere historische Verantwortung, die Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel in ihrer Rede in der Knesset im März
2008 als „Teil der Staatsräson meines Landes“ bezeich-
net hat, die nicht verhandelbar sei.

Die Koalitionsfraktionen haben mit ihrem Antrag
„Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen“ deutlich
gemacht, dass die Todesstrafe eine inakzeptable Form
der Bestrafung ist. Sie ist eine besondere Form von Men-
schenrechtsverletzung und mit unseren Werten in keiner
Weise vereinbar. In ihrem Antrag „Menschenrechte
weltweit schützen“ fordern die Koalitionsfraktionen die
Ächtung der Todesstrafe in den betreffenden Ländern
und sprechen sich für ein absolutes Folterverbot aus.
Leider hat die Fraktion Die Linke keinen der beiden An-
träge unterstützt. Der vorliegende Antrag der Linken
muss daher im Kontext der vorangegangenen parlamen-
tarischen Debatten gesehen werden, weshalb wir ihm
nicht zustimmen werden.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1712038800

Bevor ich zum vorliegenden Antrag zur Situation von

Gefangenen in den palästinensischen Gefängnissen
komme, möchte ich zwei kurze Vorbemerkungen ma-
chen:

Erstens. Palästina ist in einer entscheidenden Phase
für seine Zukunft angekommen. Wie in vielen arabischen
Nachbarstaaten hat der Druck von der Straße die
Machthaber zu Zugeständnissen gezwungen. Dabei
spielten insbesondere junge Menschen eine Rolle. Im
Falle Palästinas forderten sie Fatah und Hamas auf,
eine einheitliche Regierung für Gaza und das Westjor-
danland zu schaffen, weil sie der Spaltung ihrer Regie-
rung und ihres Landes überdrüssig waren und ein Ent-
wicklungshemmnis für sich darin sahen.

Zweitens. Palästina ist völkerrechtlich noch immer
kein souveräner Staat. Diese Aussage soll nichts ent-
schuldigen, doch ist es ein Unterschied, ob man den Um-
gang eines souveränen und international anerkannten
Staates oder den Umgang einer Autonomiebehörde mit
ihren Inhaftierten kritisiert.



gegebene Reden

Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)

Wir sehen seitens der SPD-Bundestagsfraktion im
aktuellen Ringen der Palästinenser um ihre politische
Neuordnung und ihre Souveränität eine Chance, den
Nahost-Friedensverhandlungen neuen Schwung zu ver-
leihen, wie es in unserem in der letzten Woche debattier-
ten Antrag heißt. Ich hoffe darüber hinaus, dass sich mit
den aktuellen politischen Veränderungen auch Chancen
zur Verbesserung der Situation von Gefangenen in pa-
lästinensischen Gefängnissen ergeben. Und damit
komme ich zu Ihrem Antrag:

Grundsätzlich unterstützen wir seitens der SPD-Bun-
destagsfraktion die Forderungen des hier debattierten
Linken-Antrages. Auch für uns steht es außer Frage,
dass Menschen- und Bürgerrechte beachtet werden,
keine willkürlichen oder politisch motivierten Verhaf-
tungen erfolgen, keine Todesurteile mehr gefällt und
vollstreckt bzw. verhängte Todesurteile in Haftstrafen
umgewandelt werden, Gefangene gemäß internationaler
Rechtsnormen nicht misshandelt und gefoltert werden
und Sicherheitskräfte und Justizbehörden in die Lage
versetzt werden, die einschlägigen internationalen und
palästinensischen Rechtsstandards für ordentliche Ver-
fahrensabläufe und korrekte Behandlung von Betroffe-
nen einzuhalten. Da sind wir ganz nahe beieinander. Die
Anwendung der Todesstrafe verurteilen wir seitens der
SPD-Bundestagsfraktion auf das Schärfste, und nicht
nur gegenüber Palästinensern.

Ich weiß nicht, welchen Beitrag die Linksfraktion und
ihre Vorgänger in der Vergangenheit zum Aufbau von
rechtsstaatlichen Strukturen in den palästinensischen
Gebieten geleistet haben. Die SPD hat jedenfalls in ih-
rer Regierungsverantwortung in Bund und Ländern eine
ganze Reihe von Projekten zum Verwaltungsaufbau und
zur Förderung rechtsstaatlicher Strukturen im Westjor-
danland initiiert – und zwar unter den schwierigen Vo-
raussetzungen der Besatzung.

Doch wir dürfen wohl nicht davon ausgehen, dass
jegliche Gefangenschaft in den Palästinensergebieten
innerhalb der beginnenden und schwachen staatlichen
Strukturen organisiert wird. Und an dieser Stelle leidet
Ihr Antrag an einem analytischen Mangel. Er tut so, als
finde der Justizvollzug so wie bei uns in Deutschland im
Rahmen der Verwaltung der Autonomiebehörde statt.
Dies ist jedoch wahrscheinlich nur bei einem Teil der
Gefangenen der Fall. Niemand von uns weiß zum Bei-
spiel genau, wie viele Gefangene sich in Gewahrsam der
Hamas befinden und wie diese dort mit ihren Gefange-
nen umgeht. Ich ahne hier nichts Gutes. Mehr als Ah-
nungen hierzu sind auch in Ihrem Antrag nicht zu finden.

Und genau dies ist das Problem: Es gibt vor allem im
Gazastreifen leider kaum nachvollziehbare Verantwort-
lichkeiten im Justizvollzug. Dies müsste als Erstes geän-
dert werden. Insofern liegt im Aufbau eines rechtsstaat-
lichen Justizvollzugs für die Zukunft ein sehr wichtiges
Kooperationsfeld.

Zum Schluss noch einige Sätze zum Kontext ihres An-
trages: Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass die
Fraktion Die Linke im Oktober 2010 einen Antrag zur
Situation palästinensischer politischer Häftlinge in
israelischen Gefängnissen vorlegt und es ihr über ein
Zu Protokoll
halbes Jahr später auffällt, dass auch in Palästina selbst
– insbesondere im Gazastreifen – unhaltbare Verhält-
nisse herrschen. Kann es sein, dass diese plötzliche Ho-
rizonterweiterung mit der aktuellen innerparteilichen
Positionsfindung der Linkspartei zu Israel, den Vorwür-
fen des Antisemitismus gegen einzelne Mitglieder und
ihrer bisherigen Fixierung auf Palästinenser als Opfer
zusammenhängt?


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1712038900

Wir beschäftigen uns zum wiederholten Male mit der

Lage im Nahen Osten, und das ist auch richtig so. Die-
ser Konflikt enthält viele unterschiedliche Aspekte und
regionale Komponenten. Einen davon greifen die Kolle-
ginnen und Kollegen von der Linken auf. Lassen Sie
mich sagen, dass ich froh bin, dass Sie auch einmal auf
die andere, die palästinensische Seite schauen und For-
derungen an sie stellen. Wir alle kennen die Auseinan-
dersetzungen ihrer Fraktion über den Staat Israel. Es ist
sogar so weit, dass Gregor Gysi vorschlagen musste,
das Existenzrecht Israels im Parteiprogramm von der
Linken festzuschreiben.

Die Bundesregierung und auch das Parlament haben
bei verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen,
dass sie den Aufbau eines unabhängigen, demokrati-
schen und lebensfähigen Staates Palästina als ein zen-
trales Element bei der dauerhaften Lösung des Nahost-
konfliktes sehen. Deshalb ist die Bundesregierung
schließlich der größte bilaterale Geber für den palästi-
nensischen Staatsaufbau innerhalb der Europäischen
Union. Deshalb legt sie die Schwerpunkte des deutschen
Engagements auch auf gute Regierungsführung und das
Training und gerade die Unterstützung der palästinensi-
schen Polizei als bürgernahen Garanten von staatlicher
Ordnung.

Um die Palästinenser bei dem Aufbau ihres Staates zu
unterstützen, hat die Bundesregierung schon im letzten
Jahr den deutsch-palästinensischen Lenkungsausschuss
eingerichtet. Ein Ergebnis dieses Instruments sind die
Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung ganz kon-
kret bei dem Aufbau der Polizei in der West Bank mitar-
beitet. Die GIZ ist für den Bau von vier Polizeistationen
im Raum Jenin und einer „Modellwache“ in Jericho
verantwortlich. Es wurden Funkgeräte und Streifenwa-
gen besorgt sowie ein System zur automatischen Finger-
abdruckidentifizierung angeschafft. Bis Ende des Jahres
werden 15 Millionen Euro für den Polizeiaufbau abge-
flossen sein.

Das Auswärtige Amt hat das Programm „Zukunft für
Palästina“ eingerichtet. Als Teil dieses Programms neh-
men palästinensische Polizisten an Lehrgängen teil.
Diese Lehrgänge finden sowohl in den palästinensi-
schen Autonomiegebieten als auch in Deutschland statt.
Anfang dieses Jahres haben zum Beispiel palästinensi-
sche Polizisten den Umgang mit Fingerabdrücken in
Oranienburg gelernt. Die Bundesregierung legt großen
Wert darauf, dass die Vermittlung rechtsstaatlicher Stan-
dards Teil dieser Lehrgänge ist.

Das deutsche Engagement bei dem Aufbau der Poli-
zeiinfrastruktur in den palästinensischen Gebieten ist



gegebene Reden

Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

derart erfolgreich, dass es in den USA und den Nieder-
landen als Vorbild gilt.

Über den deutsch-palästinensischen Lenkungsaus-
schuss hinaus engagiert sich Deutschland als Mitglied
der Europäischen Union ebenfalls für die Errichtung ei-
nes unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen
Staates Palästina, der seinen Bürgerinnen und Bürgern
rechtstaatliche Grundsätze garantiert. Das EU-Pro-
gramm EUPOL COPPS bietet Training und Beratung
an, um den Palästinensern bei dem Aufbau tragfähiger
Polizeistrukturen zu helfen.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712039000

Der Nahostkonflikt beschäftigt uns hier immer wie-

der. Das ist auch gut, denn darin kommt die besondere
Verantwortung Deutschlands für eine sichere Heimstadt
der Jüdinnen und Juden in Israel zum Ausdruck. Wir
wissen um unsere Verantwortung, die aus der Vergan-
genheit unseres Landes resultiert. Zahlreiche Facetten
des Konfliktes standen und stehen im Fokus der Debat-
ten. Ein Thema scheint mir jedoch unterbelichtet, das ist
die innere Verfasstheit der palästinensischen Gesell-
schaft. Diese Frage ist jedoch für ein friedliches Mitei-
nander der Bürgerinnen und Bürger in dem im Werden
befindlichen Staat sehr wichtig. Und wenn es endlich
eine Friedensregelung in der Region geben sollte, dann
nur auf Basis einer Zweistaatenlösung, das heißt mit ei-
nem lebensfähigen Staat Palästina. Dieser Staat muss
seinen Bürgerinnen und Bürgern politische und soziale
Grundrechte ermöglichen. Und hier liegt einiges im Ar-
gen. Zur nachhaltigen äußeren Konfliktregelung gehö-
ren aber immer auch innerer Ausgleich, soziale und
wirtschaftliche Perspektiven für die Palästinenserinnen
und Palästinenser einerseits und Partizipation anderer-
seits; davon bin ich überzeugt. Und da wir nicht mit
zweierlei Maß messen, sprechen wir dies hier genauso
klar an wie in anderen Regionen der Erde.

Die Freiheit der Meinungen, der politischen Ent-
scheidungen, der Medien sind im Gazastreifen und der
Westbank unter dem Eindruck einer Bürgerkriegssitua-
tion – vorsichtig formuliert – eingeschränkt. Leidtra-
gende von Gewalt, der Klientelwirtschaft, Paternalis-
mus, der Nichtachtung der Würde des Menschen sind
Palästinenserinnen und Palästinenser. Ein trauriger
Tiefpunkt der Entwicklungen war der opferreiche Bru-
derkrieg zwischen Hamas und Fatah. Mit der jüngst ge-
fundenen Vereinbarung zwischen diesen Kontrahenten
ist es jedoch nicht getan. Der minimale Interessenaus-
gleich der beiden mächtigsten Fraktionen innerhalb der
palästinensischen Gesellschaft mag eine Machtteilung
sein, aber er führt nicht automatisch zu Versöhnung,
Transparenz oder gar Demokratie und Rechtsstaatlich-
keit. Hier bleibt noch viel zu tun. Dem soll unser Antrag
dienen.

Wir sprechen hier einen Aspekt an, der allen Abge-
ordneten des Bundestages am Herzen liegen dürfte: der
Umgang mit Gefangenen. Hier zeigt sich besonders, ob
die Verantwortlichen eines Staates in der Lage und ge-
willt sind, Grundrechte durchzusetzen. Und das gilt
auch für die palästinensischen Autoritäten.
Zu Protokoll
Das aktuelle Bild ist allerdings bedrückend. Vor al-
lem die palästinensisch-israelischen Auseinanderset-
zungen, aber auch der Kampf zwischen Fatah und
Hamas führten und führen dazu, dass Palästinenserin-
nen und Palästinenser wegen Verdachts der Kollabora-
tion verhaftet, länger als zu lässig inhaftiert, in Haft
misshandelt, ja sogar zum Tode verurteilt und auch hin-
gerichtet werden. Bestehende palästinensische Rechts-
grundlagen für Haftvoraussetzungen oder Normen, die
Misshandlung ausschließen sollen, werden nicht einge-
halten.

Ein Beispiel. Nach palästinensischem Recht ist eine
Unterschrift des Präsidenten der Autonomiebehörde er-
forderlich, um Todesurteilen – die wir ja generell ableh-
nen – Rechtskraft zu verleihen. Und obwohl es diese
nicht gab, sind mehrere Todesurteile im Gazastreifen
vollstreckt worden, gerade erst wieder vor einigen Wo-
chen.

Die Berichte von Amnesty International, aber auch
von palästinensischen Bürgerrechtsorganisationen
selbst zeigen viele weitere massive Menschenrechtsver-
letzungen auf. Adressaten hierfür sind sowohl die Auto-
ritäten im Gazastreifen, aber auch der Westbank.

Uns ist es wichtig, auf die Versäumnisse, Probleme
und Fehlentwicklungen hinzuweisen. Natürlich wissen
wir, dass die Besatzungs- und Bürgerkriegssituation ein
schwieriges Umfeld abgibt. Wir finden aber eben auch,
dass dies nicht zur Relativierung von Verletzungen der
Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser he-
rangezogen werden darf. Gerade auf dem Weg zu einem
eigenen Staat muss von Anfang an die politische Partizi-
pation gesichert sein und müssen die Menschen- und
Grundrechte eingehalten werden.

Deutschland hat im bilateralen Verhältnis, aber auch
über die Europäische Union Einflussmöglichkeiten, um
demokratische und rechtsstaatliche Entwicklungen zu
unterstützen und entsprechende Strukturen zu entwi-
ckeln. Ich bitte um wohlwollende Beratung unseres An-
trags in den zuständigen Ausschüssen und dann um ihre
Zustimmung.

Ich finde, wir sollten uns in grundlegenden Men-
schenrechtsfragen mit möglichst großer Mehrheit an in-
ternationale Partner wenden. Das verliehe unseren For-
derungen ein größeres Gewicht. Und das wäre in diesem
Fall, da bin ich mir sicher, ein Beitrag zu einem nach-
haltigen Frieden und einem guten Zusammenleben der
Menschen in Israel und seinen Nachbarstaaten der Re-
gion.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Ich bin sehr froh, dass der Antrag der Fraktion Die
Linke „Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einhal-
ten – Umgang mit Gefangenen in palästinensischen Ge-
fängnissen verändern“ ein Thema aufgreift, dem in der
Regel bei der Auseinandersetzung um den israelisch-pa-
lästinensischen Konflikt viel zu wenig Aufmerksamkeit
geschenkt wird. Die UNO, die Weltbank und der Interna-
tionale Währungsfonds haben der palästinensischen Au-



gegebene Reden





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

tonomiebehörde bescheinigt, sie erfülle die Vorausset-
zungen, um einen unabhängigen Staat regieren zu
können. Über die Absicht der Palästinenser, die Frage
der Anerkennung eines palästinensischen Staates vor
die UNO zu bringen, haben wir hier in der vergangenen
Woche debattiert. Das Thema der Behandlung palästi-
nensischer Gefangener in palästinensischen Gefängnis-
sen ist eindeutig ein Defizit beim bisherigen Staatsauf-
bau in den palästinensischen Gebieten. Nicht zuletzt ist
die besorgniserregende Situation in den Gefängnissen
auch ein Ausdruck der innerpalästinensischen Spaltung
zwischen Fatah und Hamas. Denn diese hat sich negativ
auf die Behandlung von Gefangenen in der Westbank
und im Gazastreifen ausgewirkt.

Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Al
Haq veröffentlichte im Juli 2008 einen Bericht mit dem
Titel „Torturing Each Other: The Widespread Practices
of Arbitrary Detention and Torture in the Palestinian
Territory“. Darin wird nach der Machtübernahme von
Hamas im Gazastreifen eine deutliche Zunahme der Fol-
ter von Gefangenen in Gefängnissen sowohl im Gaza-
streifen wie in der Westbank beschrieben, Folter wurde
zu einem Instrument der Rache an dem vermeintlich
politischen Gegner. Nach dem Amnesty-International-
Report 2010 halten schwere Menschenrechtsverletzun-
gen bis heute an.

Wer sich mit offiziellen israelischen und palästinensi-
schen Vertretern trifft und dabei das Thema Menschen-
rechtsverletzungen anspricht, wird immer wieder und
zum Teil fast wortgleich mit folgenden Argumenten kon-
frontiert: Sie müssen verstehen, dass wir uns im Nahen
Osten, in einer Krisenregion befinden und nicht in der
Schweiz oder in Norwegen. Von palästinensischer Seite
wird meist noch auf die andauernde israelische Besat-
zung verwiesen. Kann dies eine Rechtfertigung für den
Umgang mit Gefangenen sein, wenn rechtsstaatliche
und Menschenrechtsprinzipien eklatant verletzt wur-
den? Nein, selbstverständlich nicht! Eine Rechtfertigung
für Menschenrechtsverletzungen gibt es grundsätzlich
nicht. Denn Menschenrechte sind universell, Und sie
dürfen weder durch sogenannte kulturelle Eigenheiten
noch durch besondere Konfliktlagen relativiert werden.
Im Gegenteil: Die Einhaltung von Demokratie- und
Menschenrechtsstandards ist zwingende Voraussetzung
für einen erfolgreichen Staatsaufbau. Und dazu gehört
auch die Verbesserung der Lage der Gefangenen in pa-
lästinensischen Gefängnissen.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist der stockende
Prozess der Gesetzgebung. Denn seit dem Wahlsieg von
Hamas im Januar 2006 und der anschließenden Verhaf-
tung zahlreicher der Hamas angehörenden Parlamenta-
rier durch Israel ist das palästinensische Parlament in
seiner Arbeitsfähigkeit stark eingeschränkt. Es gibt fak-
tisch keinen Gesetzgebungsprozess mehr. Auf die damit
verbundenen Probleme hat schon vor zwei Jahren der
damalige Leiter der auch von Deutschland unterstützten
European Union Police Coordinating Office for Palesti-
nian Police Support, EUPOL COPPS, hingewiesen. Aus
diesem Grund wurde nach dem Amtsantritt des palästi-
nensischen Ministerpräsidenten Fayad das EUPOL-
COPPS-Mandat erweitert. Es wurden zahlreiche Juris-
ten aus verschiedenen EU-Staaten hinzugezogen, die
Vorschläge zu Gesetzesbestimmungen zur Frage der
Verteidigung von Angeklagten, den Rechten der Polizei,
polizeilichen Ermittlungen usw. erarbeitet haben, Die
Verabschiedung dieser Gesetze scheitert aber bislang
daran, dass es kein funktionsfähiges Parlament gibt.

Es ist zu begrüßen, dass Fatah und Hamas vor dem
Hintergrund des arabischen Frühlings im April eine
Versöhnungsvereinbarung getroffen haben und die Bil-
dung einer Übergangsregierung mit dem Ziel der Aus-
richtung von Wahlen beschlossen haben. Aber klar ist
auch: Beide Seiten und auch eine neue Einheitsregie-
rung müssen sich tatsächlich daran machen, Demokra-
tie und Rechtsstaat aufzubauen. Erst die Einhaltung von
Menschenrechten durch palästinensische Behörden ist
Voraussetzung für eine tatsächliche innerpalästinensi-
sche Versöhnung und eine nachhaltige Entwicklung des
Landes. Die Bundesregierung sollte die Palästinenser
hierbei unterstützen. Denn die Einhaltung dieser grund-
legenden Prinzipien sind letztlich auch Voraussetzung
für eine Friedenslösung zwischen Palästinensern und Is-
raelis im Sinne einer Zweitsaatenlösung auf der Basis
der Grenzen von 1967.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712039100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6340 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a bis c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Harald
Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zucht mit Schweinen mit Maligne-Hyperther-
mie-Syndrom (MHS) verhindern

– Drucksache 17/6344 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Dr. Harald Terpe, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Dokumentation der Antibiotika-Vergabe in
der Tierhaltung transparent gestalten – Son-
derregelungen für die Geflügelindustrie strei-
chen

– Drucksache 17/6443 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Friedrich





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Intensive Nutztierproduktion überprüfen

– Drucksachen 17/5047, 17/5574 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Hans-Michael Goldmann
Alexander Süßmair
Friedrich Ostendorff


Josef Rief (CDU):
Rede ID: ID1712039200

Wir beraten heute einmal mehr drei Anträge der Grü-

nen, die primär zum Ziel haben, die Mehrheit der deut-
schen Tierzüchter zu stigmatisieren. Um es Ihnen gleich
zu sagen: Wir lehnen Ihre Anträge ab!

Nutztierhaltung in Deutschland erfolgt heute fach-
lich, hygienisch und in Bezug auf Tierschutz auf sehr ho-
hem Niveau. Das gilt für jede Haltungsform und hat mit
der Anzahl der Tiere, die in einem Stall gehalten werden,
rein gar nichts zu tun. Ich will noch einmal für meine
Fraktion sagen: Wir überlassen es im Rahmen der Ge-
setze und Vorschriften der unternehmerischen Freiheit
der Landwirte, wie viele Tiere sie halten möchten, ob sie
dies konventionell oder als Biobetrieb, intensiv oder ex-
tensiv tun. Sicher ist aber, dass jeder Weg seine Bestäti-
gung am Markt und am Ende beim Verbraucher finden
muss. Die Politik muss die Rahmenbedingungen setzen
und die Einhaltung kontrollieren.

Von einer Intensivierung der Nutztierhaltung, wie die
Grünen sie beklagen, kann flächendeckend keine Rede
sein. So ist der Tierbesatz in Deutschland seit der Wie-
dervereinigung zurückgegangen. Dies betrifft vor allem
die neuen Bundesländer. Hier muss man von einer gerin-
geren Intensität der Nutztierhaltung sprechen. Wie wir
schon in den Ausschussberatungen angeführt haben,
wünschen wir uns eine Zunahme der Veredelung in die-
sen Regionen, um auch hier attraktive Arbeitsplätze im
Umfeld der Landwirtschaft zu erhalten und neu zu schaf-
fen und die meist geringe Wertschöpfung in diesen Räu-
men zu erhöhen.

Die Grünen fordern in ihrem Antrag eine bundesge-
setzliche Lösung, um Tierhaltungsbetriebe in den Kom-
munen zu verhindern. Ich frage mich, ob dies nur von
wenig kommunalpolitischer Erfahrung zeugt oder ein-
fach ein weiterer Punkt des Anprangerns der Tierhalter
ist. Die Kommunen, die Stadt-, Gemeinde- und Ort-
schafträte sind auch heute schon ausreichend in die
Lage versetzt, den Bau von Ställen maßgeblich zu steu-
ern. Wir brauchen hier keine weiteren Regelungen.

Es ist schon erstaunlich, dass dieselben Kollegen, die
Geruchs- und Lärmbelästigung durch Mastbetriebe be-
klagen, auch jedesmal das Bauen im Außenbereich in-
frage stellen. Es ist immer auch im Sinne der Landwirte,
dass eine gute Nachbarschaft und eine hohe Akzeptanz
vor Ort gegeben ist. Deshalb unternehmen die Bauern
und im Normalfall auch die Behörden viele Maßnah-
men, um mögliche Beeinträchtigungen zu minimieren.
Von den Gegnern wird dann wieder unterstellt, man
wolle im Verborgenen handeln. Dem ist nicht so! Unser
Baurecht umfasst maximale Transparenz. Wir brauchen
aber auch Rechtssicherheit.

Als praktizierender Landwirt, der über 30 Jahre einen
eigenen Betrieb führt, weiß ich, dass der Tierschutz in
unseren deutschen Ställen noch nie auf höherem Niveau
war. Trotzdem gibt es immer wieder neue Erkenntnisse
darüber, was tiergerecht ist und wo Verbesserungen nö-
tig oder möglich sind. Hier müssen wir auch weiter am
Ball bleiben. Daher begrüßen wir die Initiative unserer
Ministerin Ilse Aigner, die den Tierschutz weiter voran-
treiben will. Es ist aber für die Konkurrenzfähigkeit un-
serer Betriebe wichtig, immer die europäischen Stan-
dards im Blick zu haben und weiter zu entwickeln und
nicht nationale Alleingänge zu unternehmen. Ich erin-
nere nur an die Situation bei der Legehennenhaltung,
die uns einen Absturz beim Selbstversorgungsgrad bei
Hühnereiern auf 50 Prozent beschert hat, der noch vor
fünf Jahren bei über 70 Prozent lag. Das hat Existenzen,
Arbeitsplätze und Wertschöpfung gekostet und für den
Tierschutz nichts gebracht.

Ich bin sicher, dass die Bundesregierung in Brüssel
immer für europaweite Regelungen eintreten wird. Ich
bin auch davon überzeugt, dass die überwältigende An-
zahl der Tierhalter ihre Tiere mögen, ihnen mit Achtung
begegnen und sie schützen! Nur gut gehaltene Tiere
bringen die entsprechende Leistung.

Es nützt uns nichts, wenn Sie die Bevölkerung weiter
verunsichern! Auch in den Medien wird in diesem Be-
reich nicht immer objektiv berichtet. Öffnen dann aber
Schweinezüchter oder etwa, wie in der Fernsehsendung
„Panorama“ zu sehen, in dieser Woche Ferkelproduzen-
ten bereitwillig die Stalltüren, sind die Menschen über-
rascht, wie sauber, unaufgeregt und tiergerecht moderne
Schweinehaltung heutzutage ist. Wenn wir weiter an der
Fortentwicklung von Standards arbeiten und in der
Landwirtschaft das hohe Ausbildungsniveau beibehal-
ten, wird auch in Zukunft eine tiergerechte, konkurrenz-
fähige Nutztierhaltung möglich sein, die den Verbrau-
cher mit gesunden, schmackhaften Lebensmitteln zu
akzeptablen Preisen versorgt und mit Umwelt und Nach-
barschaft in Einklang ist. Das ist nicht nur eine Floskel!
Noch nie waren Landwirte an ein so umfangreiches Re-
gelwerk gebunden! Noch nie waren Standards so hoch
wie heute!

Meine Damen und Herren von den Grünen: Ihre An-
träge beruhen nicht etwa auf dem Streben nach Verbes-
serung. Sie wollen aus purer Ideologie den uralten
Kampf „Bio gegen konventionell“ und „romantische
Hobbybetriebe gegen die bösen Mastbetriebe, aus denen
sich oft kaum eine Familie ernähren kann“ weiter anfa-
chen. Wie erklärt sich sonst auch Ihr Antrag zum Malig-
nen-Hyperthermiesyndrom bei der Schweinerasse
Piétrain?

Jeder Fachmann kann bestätigen, dass diese Krank-
heit in der Praxis keine Rolle spielt. Jeder Landwirt
kann mit einem Blick wissen und entscheiden, ob der
eingesetzte Eber reinerbig stressunempfindlich, misch-

Josef Rief


(A) (C)



(D)(B)

erbig stressunempfindlich oder stressempfindlich ist.
Niemand hat ein Interesse, kranke Tiere weiter zu züch-
ten und wird schon zur Gesunderhaltung seines Tierbe-
standes darauf achten, dass dies nicht vorkommt. Sicher
gibt es Zuchtlinien, in denen die Krankheit vorkommen
kann. Eine Weiterzucht wird in der Praxis aber vermie-
den. Bei jeglicher Zucht geht es vorrangig um gesunde
Tiere. Alles andere wäre Unsinn. Die Zuchtergebnisse
müssen wirtschaftlich sein, und die Tiere müssen Stress
vertragen können. Wir sehen hier keinen Handlungsbe-
darf. Es ist schon im Interesse der Schweinezüchter, ihre
Linien gesund zu halten. Die Vergangenheit hat gezeigt,
dass hier große Erfolge erzielt wurden. Fleischfülle und
Stressunempfindlichkeit wurden erfolgreich vereint, was
sich züchterisch früher ausschloss.

Sicher ist Ihr Antrag Arbeitsbeschaffung vor der
Sommerpause. Gleiches sehe ich auch bei Ihrem Antrag
zur Dokumentation von Tierarzneimitteln. Hier wurden
die Dokumentationspflichten gerade verschärft, und die
Bundesregierung hat Ihnen bereits geantwortet, dass im
Rahmen der Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie
weitere Maßnahmen einen Überblick über dieses Thema
geben werden. Hier sehen wir ebenfalls keinen Hand-
lungsbedarf, und deshalb lehnen wir auch diesen Antrag
ab. Wir brauchen hier nicht noch mehr Bürokratie, die
niemandem – weder Tier noch Tiergesundheit, weder
Verbrauchern noch Bauern – nutzt! Weniger wäre hier
mehr!


Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1712039300

Die Verantwortlichen in der Schweinezucht haben be-

reits seit Jahrzehnten ein besonderes Augenmerk auf das
Maligne-Hyperthermiesyndrom gerichtet, und dies hat
mehrere Gründe: Zum einen steigt durch diesen Gende-
fekt die Mortalitätsrate bei reinrassigen Merkmalsträ-
gern erheblich an. Das bedeutet: Bis zu einem Zehntel
der reinrassigen Piétrain-Eber sterben frühzeitig, weil
ihnen in entsprechenden Stresssituationen der Stoff-
wechsel entgleitet. Sie verenden in einem Krampfzu-
stand, ohne dass es eine sinnvolle Therapiemöglichkeit
gibt. Zum anderen bleibt festzuhalten, dass dieser Gen-
defekt sich auch negativ auf die Fleischbeschaffenheit
auswirkt. Die Korrelation zwischen der mangelnden
Fleischqualität und der Fähigkeit, schnell Fleisch anzu-
setzen, ist bekannt.

Früher wurden die stressresistenten Tiere umständ-
lich mit dem Halothantest selektiert. Heute sind die Gen-
sequenzanalyseverfahren so ausgereift, dass wir genau
wissen, in welchen Populationen und Zuchtlinien sich
dieser Gendefekt häuft. Eine genaue Identifikation ist
wichtig. Denn nur so lässt sich das Ziel der weiteren
Zucht umsetzen: Weg mit dem Gendefekt!

Die Züchtervereinigungen und Zuchtunternehmen
müssen ihre Zuchtziele neu definieren, damit sie den
Gendefekt aus ihren Zuchtlinien und Populationen he-
rauszüchten. Aus meiner Sicht muss die Zucht derjeni-
gen Schweine grundsätzlich verboten werden, die stres-
sanfällig sind. Die gegenwärtige Zuchtausrichtung wirft
aber nicht nur beim Hausschwein Fragen auf. Wir müs-
sen auch andere, nicht wünschenswerte Entwicklungen
Zu Protokoll
in der Zucht unserer landwirtschaftlichen Nutztiere kri-
tisch hinterfragen. An dieser Stelle sind die Zucht auf
einen größtmöglichen Brustansatz bei Puten, die maxi-
male Legeleistung bei Hennen oder die höchste
Milchleistung unserer Kühe zu nennen.

Ich bin natürlich für eine leistungsorientierte Zucht,
aber der Leistungsbegriff kann sich nicht nur auf ein Im-
mer-mehr und Immer-größer beschränken.

Nach meiner Überzeugung muss sich die Zucht lang-
fristig an einem erweiterten Leistungsbegriff orientie-
ren. Wir müssen darauf achten, dass am Ende die Leis-
tungsfähigkeit unserer landwirtschaftlichen Nutztiere
nicht dauerhaft überschritten wird.

Wir müssen eine breite Debatte darüber führen, was
überhaupt noch erstrebenswert und ethisch vertretbar
ist. Es kann nicht sein, dass wir unsere landwirtschaftli-
chen Nutztiere während ihrer Lebenszeit überfordern
und ihre gesamte Konstitution auf die maximale Wirt-
schaftlichkeit trimmen. Das erfreut zwar den Tierarzt,
aber erhöht das Leiden der Tiere. Ein erweiterter Leis-
tungsbegriff muss beispielsweise das Ziel der Langle-
bigkeit bei Rindern stärker in den Fokus rücken. Die
Zuchtziele müssen neu definiert und dann im deutschen
Tierzuchtgesetz verankert werden. Gleichzeitig müssen
wir eine europaweite Initiative für dieses wichtige Anlie-
gen starten. Wir Sozialdemokraten werden dieses Thema
in Zukunft auch unter dem Aspekt des Tierschutzes auf-
greifen. Heute stimmen wir dem vorgelegten Antrag zu.


Heinz Paula (SPD):
Rede ID: ID1712039400

Die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beschrie-

bene Situation in einigen Regionen Deutschlands ist uns
bewusst. Die zunehmende Ansiedlung großer Tierhal-
tungsanlagen ist als äußerst problematisch zu bewerten,
und wir erkennen dringenden Handlungsbedarf.

„Intensive Nutztierproduktion“, wie Sie es nennen,
hat negative Auswirkungen auf viele Bereiche. Die Tiere
leiden aufgrund hoher Besatzdichte zum Teil unvorstell-
bare Qualen. Ihnen werden Schwänze und Schnäbel ge-
kürzt, damit sie sich nicht gegenseitig verletzen. Die
Umwelt wird mit Gülle und Mist überfrachtet. Die Men-
schen kritisieren die Verschandelung der Landschaft
und leiden an dem Ausstoß von Aerosolen.

Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass Tierschutz
Staatsziel und somit Staatsaufgabe ist. Im Tierschutzge-
setz ist festgehalten, dass niemand Tieren ohne vernünf-
tigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen
darf. Daran müssen wir uns halten.

Die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten art-
gerechte Haltungsformen. Im Jahr 2007 bezeichneten in
einer Emnid-Umfrage 93 Prozent der Befragten eine
tiergerechte Haltung als wichtigste Aufgabe in der
Landwirtschaft. Professor Dr. Spiller von der Universi-
tät Göttingen kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.

Unsere Verbraucherinnen und Verbraucher legen im-
mer mehr Wert auf hochwertige Lebensmittel, eine um-
weltverträgliche Landwirtschaft und eine artgerechte
Tierhaltung. Dies beweisen auch die zahlreichen Zu-



gegebene Reden

Heinz Paula


(A) (C)



(D)(B)

schriften, die mich tagtäglich erreichen. Bündnis 90/
Die Grünen fordern ebenso eine Koppelung der staatli-
chen Zahlungen an eine solche Landwirtschaftsform.
Daran sollten wir uns messen.

Daher ist die Bundesregierung aufgefordert, entspre-
chende Maßnahmen zu ergreifen. Tiergerechte Haltung,
mehr Handlungsspielräume für die Kommunen bei der
Ansiedlung großer Tierhaltungsanlagen, mehr Schutz
für unsere Böden und Gewässer – nur so können wir in
der Bevölkerung eine breite Akzeptanz für unsere Land-
wirtschaft erreichen.

Wir unterstützen Ihren Antrag daher in vielen Punk-
ten. Allerdings sind uns Ihre Forderungen nicht konkret
genug. Daher haben wir einen eigenen Antrag einge-
reicht. Er benennt ganz konkret die notwendigen Ände-
rungen im Tierschutz, im Bau- und Planungsrecht und
im Umweltrecht. Wir fordern mehr Tierschutz. Wir for-
dern damit die Stärkung der Verbraucherinteressen. Wir
unterstützen die Interessen der Landwirte und der Bür-
ger. Wir achten auf unsere Umwelt. Mit unserem Antrag
stellen wir vollkommen neue Weichen für landwirt-
schaftliche Tierhaltung.

Niedersachsen hat die Zeichen der Zeit bereits er-
kannt. Mit dem Tierschutzplan macht Landwirtschafts-
minister Lindemann einen großen Schritt in die richtige
Richtung. Er hat erkannt, dass man – ich zitiere – „die
Tiere nicht an die Bedingungen, sondern die Bedingun-
gen an die Tiere anpassen muss.“ Er hat unsere volle
Unterstützung.

Ich fordere Frau Aigner auf, dem Beispiel Nieder-
sachsens zu folgen. Im Agrarpolitischen Bericht dieses
Jahres bekennen Sie sich eindeutig zu verbesserten Hal-
tungsbedingungen. Und ich sage Ihnen: Handeln, nicht
reden!


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1712039500

Der Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung ist

seit zehn Jahren im Arzneimittelgesetz – 11. AMG-No-
velle – mit einer Beschränkung der Abgabe verankert.
Mit der Novelle wurde die Verabreichung von Antibiotika
an eine tierärztliche Untersuchung gebunden: 7-Tage-
Regelung, 30-Tage-Regelung. Damit sind wir schon mal
auf einem guten Weg.

In erster Linie gilt es einen verantwortungsvollen
Umgang mit Arzneimitteln zu garantieren und die pro-
phylaktische Anwendung ohne tierärztliche Untersu-
chung zu unterbinden. Dabei können wir stark auf die
Mithilfe der Tierärzte hoffen, die sich selbst die Antibio-
tikaleitlinien auferlegt haben. Hierbei geht es neben
ganz praktischen Fragen der Dosierung und der Aus-
wahl des Medikaments auch um die Frage des gewissen-
haften Einsatzes von Antibiotika. Auch im Ausschuss ha-
ben wir uns ausführlich darüber informiert und
festgestellt, dass die Bildung von Antibiotikaresistenzen
vor allem auch ein humanmedizinisches Problem ist.
Zur besseren Überprüfung und Rückverfolgbarkeit wur-
den Maßnahmen ergriffen im Rahmen der Deutschen
Antibiotikaresistenzstrategie, DART, und des Deutschen
Instituts für Medizinische Dokumentation und Informa-
Zu Protokoll
tion, DIMDI. An diesem Thema bleiben wir auch weiter-
hin dran.

Die Erfassung und das Monitoring über die Abgabe
von Antibiotika in der Nutztierhaltung dienen der Be-
kämpfung und Beobachtung von Antibiotikaresistenzen.
Dabei sind pharmazeutische Unternehmen und Groß-
händler aufgefordert, bis Jahresende die Abgabemengen
je Tierarzt in Kombination mit der Benennung der ersten
zwei Ziffern der Postleitzahl des Tierarztes abzugeben.
Die Tierarzneimittelsicherheit macht dabei entgegen Ih-
rer Aussage keine Ausnahme bei der Geflügelhaltung.

Dass im Geflügelbereich, statt der ersten beiden
Postleitzahlziffern, nur die Einsatzmenge an Antibiotika
genannt wird, erfolgt aus datenschutzrelevanten Grün-
den. In Deutschland sind nur wenige Veterinäre aus-
schließlich für die Behandlung von Geflügelbeständen
zugelassen. In schwach besiedelten Regionen könnten
Tierärzte bei der Zulassung von ausschließlich für Ge-
flügel zugelassenen Arzneimitteln bei Nennung der ers-
ten beiden Postleitzahlenziffern womöglich eindeutig
identifiziert werden. Das ist aber nicht Sinn und Zweck
des DIMDI. Vielmehr geht es uns ja darum, einmal eine
gründliche Übersicht zu erhalten, um die Gefahr der An-
tibiotikaresistenzen besser in den Griff zu bekommen,
und nicht einzelne Regionen oder Tierärzte an den Pran-
ger zu stellen. Zudem dürfen wir dabei nicht die Hand-
lungsfreiheit der Tierärzte gefährden.

Nicht gefährden sollten wir auch die Stimme der Ver-
nunft und Fachlichkeit, wenn es um den Tierschutz bei
unserer Landwirtschaft geht. Deshalb kann ich den An-
trägen der Grünen zur Nutztierhaltung in der derzeiti-
gen Situation, wo wir dabei sind, die Fachlichkeit zur
Grundlage unserer Entscheidung zu machen, nichts Gu-
tes abgewinnen. Die Überschrift des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen „Intensive Nutztierproduk-
tion überprüfen“ macht das deutlich. Wir wollen nicht
überprüfen, sondern wir wollen auf der Basis der
Facherkenntnis handeln. Es ist doch bekannt, dass FDP
und CDU/CSU in Zusammenarbeit mit dem Ministerium
Arbeitsaufträge erteilt haben, die Rahmenbedingungen
für intensive Nutztierproduktion den aktuellen Erkennt-
nissen aus der Forschung anzupassen und zu erarbeiten.

Im Antrag wird unter anderem gefordert, Mindestan-
forderungen an die Haltung von Mastkaninchen in die
Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufzunehmen,
während wir im Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz bereits mehrmals über
das Thema beraten haben. Es wurde auch deutlich ge-
macht, dass entsprechende Anforderungen entwickelt
werden, basierend auf Untersuchungsergebnissen und
Erfahrungen aus anderen Ländern. Mögliche Eckpunkte
der Regelung wurden schon erarbeitet und werden nun
mit Tierschutzorganisationen und Vertretern der Wirt-
schaft diskutiert.

Warum also wird etwas gefordert, woran schon inten-
siv und fachlich gearbeitet wird? Der Antrag ist nicht
nur politisch unklug, sondern zeugt auch von einer nur
wenig fachlichen und praxisbezogenen Einstellung des
Antragstellers. Wie kann man unverzügliche Lösungen
für den Umgang mit den nichtkurativen Eingriffen an



gegebene Reden

Hans-Michael Goldmann


(A) (C)



(D)(B)

Nutztieren fordern, wenn dies bereits im Tierschutzge-
setz geregelt ist und der Vollzug den zuständigen Län-
derbehörden obliegt? Amputationen sind in Deutsch-
land grundsätzlich verboten, die Durchführung ist nur
im Ausnahmefall zulässig.

Für meine Fraktion ist klar, dass wir keine Qualzucht
akzeptieren. Unsere Landwirte müssen die Haltungssys-
teme den Tieren anpassen. Die Grundlage unseres Han-
delns ist gute fachliche Praxis. Die Umsetzung dieses
praktischen Handelns liegt in der Hand fachlich hoch-
qualifizierter Bauern und Landwirte. Wir brauchen
mehr Vertrauen in vorhandene Fachlichkeit, wir brau-
chen keine unausgegorenen Gesetze. Wir brauchen si-
cher keine Gesetze, wenn wir die Untersuchungsergeb-
nisse unserer Fachaufträge für den besseren Tierschutz
noch nicht haben. Als Beispiel sei hier das Schnabelku-
pieren bei Geflügel oder das Kupieren der Schwänze in
der Schweinehaltung zu nennen. Wir wissen, dass bei
nicht kupierten Tieren zum Beispiel vermehrtes Feder-
picken und Kannibalismus auftreten können. Die For-
schungsergebnisse liegen noch nicht vor, wie wir das
Problem lösen können. Deshalb ist kluge Fachlichkeit
vor Aktionismus angesagt. Deshalb werden wir die
populistischen und unfachlichen Anträge der Grünen
ablehnen.

Die Liberalen werden sich weiterhin für praxisorien-
tierte Fortschritte im Tierschutz, besonders bei der
Nutztierhaltung, einsetzen.


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712039600

Der vorliegende Antrag „Intensive Nutztierproduk-

tion prüfen“ ist, wie der Name schon sagt, vor allem ein
Prüfauftrag an die Bundesregierung. Die Regierung soll
prüfen, inwiefern Intensivtierhaltung mit den Bedürfnis-
sen von Mensch und Tier in Einklang steht bzw. zu brin-
gen ist. Anders formuliert geht es darum, den tierschutz-
politischen Ankündigungen von Frau Aigner bezogen
auf die Nutztiere Taten folgen zu lassen. Daher riecht
dieser Antrag fast nach einem interfraktionellen Antrag.
Sind die Forderungen, die Prüfaufträge in dieser Vor-
lage nicht auch Anliegen Ihrer Agrarministerin, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP?

Der Antrag berücksichtigt in Punkt II Förderung des
ländlichen Raumes, Stärkung der Demokratie, Stärkung
der Kommunen, gesundheitspolitische Aspekte, umwelt-
politische Aspekte und vor allem Belange des Tierschut-
zes. Auch bezüglich des Antrags „Zucht mit Schweinen
mit Maligne-Hyperthermie-Syndrom verhindern“ könnte
man eigentlich mit einer übergroßen Mehrheit rechnen.
Heute müssen wir keine Halothan-Tests mehr machen,
MHS kann auf genanalytischem Weg festgestellt werden.
Und mit solchen Tieren dann zu züchten, ist faktisch ein
Verstoß gegen das Tierschutzgesetz.

Im dritten Antrag, den wir beraten, geht es um die
Dokumentation der Antibiotikavergabe in der Tierhal-
tung. Der mißbräuchliche Einsatz von Antibiotika wi-
derspricht den Grundsätzen des Tierschutzes und fördert
die Bildung von Resistenzen. Genau das wollen wir mit
der Nationalen Antibiotikaresistenzstrategie ja verhin-
Zu Protokoll
dern. Deshalb ist die Streichung der Ausnahmen bei der
Meldepflicht für den Antibiotikaeinsatz folgerichtig.

Kurzum: Die Zielrichtung dieser drei Anträge ist völ-
lig richtig. Wir werden ihnen deshalb zustimmen. Damit
wäre alles gesagt, ist es aber nicht. Denn ein Punkt fehlt
uns. Und für uns Linke ist das ein entscheidender Punkt.
Auch der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer muss berücksichtigt werden. Und natürlich muss es
einen Mindestlohn auch in der Agrarwirtschaft geben.

Die Linke lehnt Tierhaltungsformen ab, bei denen
ausschließlich ökonomische Interessen im Vordergrund
stehen. Bei der Tierhaltung muss es für uns eine gleich-
wertige Abwägung von sozialen, ökologischen – hier na-
türlich auch Tierschutz – und ökonomischen Aspekten
geben, dies auch aus Gründen internationaler Solidari-
tät und internationaler Ernährungssicherung. Dennoch
kaufen die Menschen gern im Supermarkt das billige
Fleisch. Aber warum ist das eigentlich so, möglichst na-
turnahe Landwirtschaft fordern und gleichzeitig das bil-
lige Fleisch kaufen wollen? Ich werde Ihnen sagen,
woran das liegt: Rot-Grün fing mit radikalem Lohndum-
ping und Hartz IV an, Schwarz-Gelb macht da weiter. Es
ist eben schwierig, sich von circa 350 Euro ökologisch
und nachhaltig zu ernähren. Die Leute haben nach
20 Jahren Lohndumping einfach kein Geld mehr. Die
Griechinnen und Griechen kriegen es gerade zu spüren:
Deutschland wird immer mehr Billiglohnland und ist da-
her Exportweltmeister. Und all dies hat auch mit heimi-
scher Tierhaltung und Fleischerzeugung zu tun. Dabei
zeigt sich wieder einmal deutlich: Die ökologische
Frage ist wichtig. Aber sie darf niemals und nimmer ab-
gekoppelt werden von der sozialen Frage.

Meine Damen und Herren von den Grünen, die so-
ziale Frage taucht in Ihrem Antrag zur Nutztierproduk-
tion nicht auf. Sie klingt allenfalls in Punkt 4 an. Das
überrascht nicht, denn die soziale Frage spielt bei Ihnen
ja keine große Rolle mehr. Die Linke denkt beim Thema
Nutztierhaltung nicht nur an die Tiere, wir denken auch
an die Menschen, an Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, an Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei allen
möglichen und tatsächlichen Differenzen untereinander
unterscheidet uns Oppositionsfraktionen eines aber
ganz deutlich von der Regierungskoalition: Wir sind
nicht die Lobby der Agrarkonzerne. Wir sind nicht die
Lobby der Lebensmittelindustrie.

Wir, die Linke, vertreten die Interessen der Menschen
im ländlichen Raum, der Bäuerinnen und Bauern, der
Familienbetriebe und der Mehrfamilienbetriebe. Wir ver-
teidigen das Staatsziel Tierschutz und die Interessen der
Menschen gegen die Angriffe des Kapitals. Wir stellen fest,
das sich binnen 20 Jahren der Bestand an Truthühnern
verdoppelt hat, von 5 Millionen Truthühnern 1990 auf
11 Millionen 2007. Auch beim Schweinefleisch kam es zu
einer erheblichen Steigerung von 3 602 000 Tonnen auf
4 985 000 Tonnen. Agrarkomplexe mit Größenordnun-
gen von rund 90 000 Schweinen, 800 000 Legehennen
und 500 0000 Masthähnchen befinden sich in Genehmi-
gungsverfahren oder bereits in Betrieb. Mithilfe der EU,
der Bundes- und Landesregierungen sowie von Verbän-
den der Agrar- und Ernährungsindustrie wachsen Tier-



gegebene Reden

Alexander Süßmair


(A) (C)



(D)(B)

haltungskonzerne heran, deren Kern außerlandwirt-
schaftliche Investoren bilden. Die EU importiert
Futtermittel, für deren Produktion etwa die Anbaufläche
Frankreichs, über 25 Millionen Hektar, benötigt wird.
Und wofür das alles? Für den Export! Schon längst fällt
der Fleischkonsum in Deutschland weit hinter die Er-
zeugung zurück. Dagegen gibt es Widerstand. Und wir
müssen uns nicht nur fragen, ob all dies tiergerecht ist.
Wir müssen uns vor allem fragen: Ist das menschenge-
recht? Nein. Wir wollen eine andere Tierhaltung, eine
menschen-, umwelt- und tiergerechte Lebensmittelpro-
duktion.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Februar dieses Jahres vermittelte uns Ministerin
Aigner einen Hauch von Hoffnung auf einen verbrau-
cher- und agrarpolitischen Frühling. Der Dioxinskan-
dal hatte gerade das agrarindustrielle System mit seinen
undurchschaubaren Lebens- und Futtermittelketten in-
frage gestellt. Das ließ auch Frau Aigner nicht unbeein-
druckt. In einer großen Medienoffensive kündigte sie
eine Tierschutzoffensive an. Es sollte Schluss sein mit
tierschutzwidrigen Haltungsbedingungen, Schluss mit
der Käfighaltung bei Hühnern, Schluss mit dem Ab-
schneiden von Schweineschwänzen, Schluss mit dem
Schenkelbrand bei Pferden.

Nun ist der Frühling längst vorbei, und es ist mal wie-
der bei den Ankündigungen geblieben. Die Regierung
macht bis zum heutigen Tag keinen einzigen Vorschlag,
wie sie einen Rahmen für eine artgerechte Nutztierhal-
tung schaffen will. Entsprechende Initiativen kommen
nur aus dem Bundesrat – von NRW oder wie zur bevorste-
henden Bundesratssitzung am 8. Juli von der rheinland-
pfälzischen Landesregierung, die die Bundesregierung an
die Umsetzung des vom Bundesrat beschlossenen Schen-
kelbrandverbots erinnert und eine Abschaffung der Kä-
fighaltung bei Legehennen als Konsequenz aus dem
Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Oktober 2010 for-
dert.

Auch bei der Einführung eines Tierschutzlabels ist es
nicht die Bundesregierung, die vorangeht. Statt dessen
setzt zum Beispiel der Deutsche Tierschutzbund in Koope-
ration mit der Wirtschaft – mit Vion, Netto und Coop – mit
dem „Tierwohllabel“ dankenswerterweise erste wichtige
Standards bei der Tierschutzkennzeichnung. Frau
Aigner, es sind eigentlich Sie, die von den Bürgerinnen
und Bürgern gewählt worden ist, um entsprechende Re-
gelungen zu schaffen. Wenn Sie das nicht tun, dann ste-
hen Sie aber dazu und verkünden der Öffentlichkeit: Wir
brauchen keinen Tierschutz. Es ist gut so, wie es ist.

Mit unserem Antrag zur Nutztierhaltung bauen wir
Ihnen doch eine Brücke. Wir fordern genau das ein, was
Sie in den letzten Monaten angekündigt haben, Frau
Aigner. Aus unserer Sicht sind das nur Mindestforderun-
gen. Eigentlich müssten wir noch viel weiter gehen. Die
grüne Bundestagsfraktion hat den Handlungsbedarf in
einem Positionspapier zur Nutztierhaltung einmal zu-
sammengefasst. Drei Punkte möchte ich hervorheben:
Zu Protokoll
Erstens. Die Haltungsbedingungen müssen endlich
tiergerecht gestaltet werden. Missstände bei Tiertrans-
porten und an Schlachthöfen müssen beseitigt werden.

Zweitens.Wir müssen wirksam gegen Qualzuchten
vorgehen. Es kann nicht sein, dass wir Tiere züchten, bei
denen Gesundheitsprobleme vorprogrammiert sind. Ei-
gentlich ist Qualzucht durch den § 11 b Tierschutzgesetz
untersagt. Die Praxis hat aber leider gezeigt, dass eine
Durchsetzung des § 11 b äußerst schwierig ist. Hier
müssen wir zu grundsätzlichen und praktikablen Ände-
rungen kommen. Aber es gibt auch Fälle, bei denen
bereits heute nach bestehender Rechtslage gehandelt
werden kann, wie bei der Schweinerasse Piétrain, die
hauptsächlich in Süddeutschland eingesetzt wird. Es ist
wissenschaftlich unbestritten, dass es sich beim Gen-
defekt MHS – dem Malignen Hyperthermie-Syndrom –,
das bei dieser ausschließlich auf Fleischmasse gezüch-
teten Rasse auftritt, um ein zuchtbedingtes Problem han-
delt. Alle Tatbestände des § 11 b sind erfüllt. Handeln
Sie endlich.

Drittens. Gerade in Zeiten von Lebensmittelkrisen
müssen wir dringend die Antibiotikavergabe in der Tier-
haltung in den Blick nehmen. Wir wissen, dass gerade in
der Intensivtierhaltung mit ihren engen Besatzdichten
präventiv und permanent Antibiotika eingesetzt werden.
Das kann wiederum zur Bildung von multiresistenten
Keimen wie dem MRSA-Bakterium führen. Zurzeit wer-
den die Übertragungswege dieser Keime von Tier zu
Mensch näher untersucht. Experten wie Professor
Kaufmann vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiolo-
gie weisen immer wieder darauf hin, dass sie in der in-
dustriellen Massentierhaltung ein erhebliches Potenzial
für die Ausbreitung und Übertragung von multiresisten-
ten Keimen sehen. Das zeigt uns doch, dass wir einen
genauen Überblick darüber brauchen, wo, wie viel und
wie oft Antibiotika in der Tierhaltung vergeben werden.
Wir begrüßen deshalb auch, dass nach jahrelangem Hin
und Her 2010 endlich die DIMDI-AMV auf den Weg ge-
bracht wurde, sodass ab März 2012 die Anwendung von
Tierarzneimitteln beim Deutschen Institut für Medizini-
sche Dokumentation und Information dokumentiert wer-
den muss. Völlig unverständlich ist aber, warum die Ver-
ordnung der Bundesregierung eine Sonderregelung für
die Geflügelindustrie vorsieht. Für alle Medikamente
muss die abgegebene Gesamtmenge unter Angabe der
ersten beiden Postleitzahlen des behandelnden Tierarz-
tes dokumentiert werden, nur nicht für Medikamente, die
ausschließlich für Geflügel zugelassen sind. Als Begrün-
dung macht die Regierung Datenschutzgründe geltend.
Das versteht kein Mensch, Frau Aigner. Das versteht
auch nicht der Datenschutzbeauftragte, der auf Anfrage
von „NDR-Info“ bestätigt hat, dass er keine Daten-
schutzrelevanz für die Sonderregelung erkennen kann.
Vielmehr gewichtet er die Transparenz für die Verbrau-
cher deutlich stärker. Wir Grünen teilen diese Sicht. Wir
fordern deshalb: Schluss mit dem Lobbyismus. Wir for-
dern eine restlose Streichung aller tierartenspezifischen
Sonderregelungen in der DIMDI-AMV. Im Gegensatz zu
Ihnen, Frau Aigner, sieht Ihr CDU-Kollege Lindemann
aus Niedersachsen das inzwischen genauso und unter-
stützt die Initiative von NRW im Bundesrat, um diese



gegebene Reden





Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)

fachlich und sachlich falsche Sonderregelung für die
Geflügelindustrie zu beenden.

Ich denke, es ist deutlich, dass wir im Bereich der
Nutztierhaltung einen gewaltigen Reformstau haben.
Frau Aigner spricht immer wieder einzelne Punkte an,
setzt sie aber nicht um. Ob sie nicht will oder nicht kann,
wissen wir nicht. Das ist auch letztlich nicht wichtig. Die
Bürgerinnen und Bürger erwarten von der Politik und
zumal von der Bundesregierung, dass sie sagt, was sie
tut, und dass sie tut, was sie sagt. Genau das leisten Sie
nicht, Frau Aigner.

Wir Grünen beziehen deutlich Position. Wir haben
klar dargelegt, welche Nutztierhaltung wir wollen.

Tiergerecht. Bäuerlich. Transparent. Das ist unser
Ansatz. Dieser Ansatz prägt auch unsere parlamentari-
schen Initiativen. Wir erwarten Ihre Unterstützung.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712039700

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/6344 und 17/6443 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-
nungspunkt 43 c. Der Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5574, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/5047 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Linken und der Grünen und Enthaltung
der SPD.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Caren Lay, Dr. Martina Bunge, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Nährwert-Ampel bundesweit einführen

– Drucksachen 17/2120, 17/2961 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Carola Stauche
Iris Gleicke
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Ulrike Höfken


Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1712039800

Die Linken fordern in ihrem Antrag eine sehr plaka-

tive Darstellung des Nährstoffgehalts in Lebensmitteln:
grün, gelb, rot. Gesund, neutral, ungesund? So einfach
ist gesunde Ernährung aber nicht, wie es eine Ampel
suggeriert! Nach diesem System würde gutes Olivenöl
zusammen mit anderen Fetten auf der roten Liste lan-
den. Dabei ist die gesundheitsfördernde Wirkung dieses
Pflanzenfettes – in Maßen genossen – unumstritten.

Stellen wir den Gehalt an Fetten, ungesättigten Fett-
säuren, Zucker und Salz in Farben dar, ist das für die
Verbraucher kaum hilfreich. Denn die Spannen im Am-
pelsystem für die Kennzeichnung mit den einzelnen Far-
ben sind sehr groß. Bei Fett wird die Farbe Gelb für ei-
nen Gehalt von 3 bis 20 Gramm Fett je 100 Gramm
Lebensmittel vergeben. Zwischen 3 Gramm Fett und
20 Gramm Fett pro 100 Gramm Nahrung liegen ernäh-
rungsphysiologisch Welten.

Um zu wissen, wie viel Gramm Fett, Zucker oder Salz
nun genau im Produkt sind, benötigt der interessierte
Verbraucher zusätzliche Informationen, Informationen,
wie sie das „1 plus 4“-Modell des Verbraucherschutz-
ministeriums und die gestern vom Europaparlament ver-
abschiedeten Kennzeichnungsvorschriften für Lebens-
mittel bereits vorsehen. Dieser gestrige Entschluss des
Europaparlaments macht unabhängig von der schlech-
ten Eignung der Ampel den Antrag der Linken überflüs-
sig.

Das Europaparlament macht mit der neuen Lebens-
mittelinformations-Verordnung verbindliche Vorgaben
für die 27 EU-Staaten. Damit ist dem Verbraucher viel
mehr gedient als mit einem nationalen Alleingang, was
die Kennzeichnung anbelangt. Ein nationaler Allein-
gang würde für die Unternehmen zusätzliche Kosten für
die Verpackung bedeuten und somit für die Verbraucher.
Zudem findet sich der Urlauber im europäischen Aus-
land schlicht besser zurecht, wenn die Kennzeichnung
die gleiche ist.

Erstmals wird die Angabe der Nährwerte in einem
Nährwertkästchen verpflichtend. Diese müssen bezogen
auf 100 Gramm oder 100 Milliliter angegeben werden.
Was dabei für die Verbraucher wichtig ist: Alle Informa-
tionen müssen gut lesbar sein. Dafür sorgen eine
verbindliche Mindestschriftgröße abhängig von der Pa-
ckungsgröße sowie weitere Kriterien wie etwa der Kon-
trast zwischen Schrift und Hintergrund.

Auch wird es die wachsende Zahl von Allergikern zu-
künftig leichter haben, geeignete Lebensmittel zu erken-
nen. Denn Allergene müssen im Zutatenverzeichnis fett
hervorgehoben werden, selbst bei nicht verpackten Le-
bensmitteln, sogenannter loser Ware.

Verbraucher können sich auch darüber freuen, dass
Imitate, Klebefleisch und irreführende Angaben strenger
gehandhabt werden. Die Verwendung von Pflanzenfett
in Analogkäse muss zum Beispiel in unmittelbarer Nähe
des Produktnamens angegeben werden, und zwar in ei-
ner Schriftgröße, die mindestens 75 Prozent derjenigen
des Markennamens ausmacht. Auch „Klebefleisch“
muss künftig mit dem Hinweis „aus Fleischstücken zu-
sammengefügt“ deutlich kenntlich gemacht werden.

Ein weiteres Ärgernis für Verbraucher wird es in Zu-
kunft nicht mehr geben: schöne, frische Früchte auf der
Verpackung, die dann nur Aromen und künstliche Farb-
stoffe enthält. Bekanntestes Beispiel: Erdbeerjoghurt,
auf dessen Verpackung tolle Erdbeeren prangen, der

Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

aber keine einzige davon enthält. Diese Irreführung wird
unterbunden.

Ein enormer Fortschritt ist es, dass der Herkunftsort
von frischem Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflügel-
fleisch nun deklariert wird, wie dies schon bereits seit
2000 bei Rindfleisch der Fall ist. Dies ist übrigens der
Verdienst von Ministerin Aigner, die mit vier weiteren
Kollegen dafür gekämpft hat. Ursprünglich wollten die
meisten EU-Verbraucherminister nur den Verpackungs-
ort von Fleisch aufführen. Ob eine Herkunftskennzeich-
nung für andere Produktkategorien, wie Milch und
Milchprodukte, Fleisch in verarbeiteten Erzeugnissen
und Lebensmitteln, die im Wesentlichen aus einer
Hauptzutat bestehen, sinnvoll durchzuführen ist, wird
die Kommission zunächst evaluieren. Es stellt sich die
Frage, ob es bei den heutigen Handelsströmen tatsäch-
lich machbar ist und welche Zusatzkosten daraus folgen.
Eine Molkerei müsste dann für die Milch aus jedem
Land einen eigenen Tank vorhalten.

Insgesamt ist die Lebensmittelinformations-Verord-
nung ein ausgewogener Kompromiss und ein bedeuten-
der Fortschritt für aufgeklärte Verbraucher. Diese kön-
nen viel differenzierter entscheiden, welches Produkt sie
kaufen und konsumieren wollen, als dies die Ampelkenn-
zeichnung leisten könnte.

Deshalb lehnen wir den Antrag der Linken ab.


Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1712039900

Alle Jahre wieder kommt nicht nur das Christuskind,

sondern ein Antrag zum Thema Nährwertampel. Den
von der Linksfraktion gestellten Antrag – es wird wenige
überraschen – lehnen wir auch dieses Mal ab.

Bereits ziemlich genau vor einem Jahr, am 17. Juni
2010, haben wir den Antrag der Linksfraktion gemein-
sam mit einem Antrag der Grünen behandelt, und schon
damals habe ich gesagt: Im Land des Autos sind wir uns
der Bedeutung von Ampeln durchaus bewusst, allerdings
gehören diese an Kreuzungen und nicht auf Lebensmit-
tel. Auf der Straße helfen sie, den Verkehr zu regeln, auf
Lebensmitteln führen sie dazu, den Verbraucher zu ver-
wirren. Dieser Ansicht bin ich auch noch heute.

Ich bin noch immer der Überzeugung, dass die Am-
pelkennzeichnung nichts anderes als Aktionismus und
Alibipolitik ist und nichts anderes tut, als die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher zu bevormunden. Das hat
nichts mit dem mündigen Verbraucher zu tun, den wir an
der Ladentheke stehen sehen wollen. Die Koalitions-
fraktionen sehen es immer noch als ihre Aufgabe an, zu
informieren und nicht zu verwirren. Wir trauen den Ver-
braucherinnen und Verbrauchern zu, dass sie sich selbst
über ihre Lebensmittel und deren Inhalt informieren.
Das kann zum einen beim Einkauf selbst geschehen,
aber auch das Internet bietet vielfältige Möglichkeiten,
sich zu informieren, und das nicht nur beim Anbieter von
Lebensmitteln. Das heißt, dass wir auch in diesem Jahr
der Meinung sind, dass die Verbraucherinnen und Ver-
braucher selbst darüber entscheiden sollen, was sie zu
sich nehmen und was nicht.
Zu Protokoll
Die Ampel kann unserer Meinung ernährungsphysio-
logische Fragen, etwa in welcher Menge und Zusam-
mensetzung Lebensmittel dem Organismus zuzuführen
sind, damit dieser Organismus je nach Alter, Geschlecht
und Lebensbedingungen einen optimale Ernährung er-
hält, nicht hinreichend gewährleistet werden. Die Am-
pelkennzeichnung differenziert zu wenig und ist irrefüh-
rend. Ich bringe das Beispiel des Cola-Getränks mit den
drei grünen und nur einem roten Punkt gerne immer
wieder vor. Aber all das haben wir im letzten Jahr schon
diskutiert.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion, wir verstehen die Notwendigkeit Ihrerseits, in
jedem möglichen und unmöglichen Antrag Kapitalis-
muskritik unterbringen zu müssen. Wir jedoch sehen
nicht hinter jedem Unternehmer ein böses Monster, das
für seine Kunden nur das Schlechteste möchte, sondern
verantwortungsvolle Marktteilnehmer, denen einiges
daran liegt, auch zu einem späteren Zeitpunkt ihre Pro-
dukte an möglichst viele Kundinnen und Kunden verkau-
fen zu dürfen. Deshalb haben wir die GDA-Kennzeich-
nung als Schritt in die richtige Richtung angesehen. Das
Europäische Parlament anscheinend auch, wenn man
sich die Entscheidung von gestern ansieht. Das EU-Par-
lament hat die geäußerten Bedenken hinsichtlich der un-
genauen Mengenangaben bei dieser Kennzeichnung
erkannt. Das wird daran deutlich, dass ab 2014 vorge-
schrieben ist, dass die Mengenangaben auf 100 Milli-
liter oder 100 Gramm zu erfolgen haben. Auch Angaben
in Portionsmengen sind möglich. Es ist also nicht so,
dass die Industrie auf dem komplett falschen Weg gewe-
sen ist, wie Sie uns das immer erklären wollten.

Wie auch im letzten Jahr lehnen die Koalitionsfrak-
tionen den Antrag auf Einführung einer Ampelkenn-
zeichnung für Nahrungsmittel ab.


Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1712040000

Die Geschichte der Nährwertampel ist ein Trauer-

spiel. Umfragen haben immer wieder sehr deutlich ge-
zeigt: Verbraucherinnen und Verbraucher wollen die
Ampel. Mit den Farben Rot, Gelb und Grün ist sie
schnell erfassbar, leicht verständlich und vergleichbar –
eine alltagstaugliche Entscheidungshilfe beim Einkauf.
Trotzdem hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung
– unter dem starken Einfluss der Lobby der Lebensmit-
telindustrie – ihre ablehnende Haltung gegenüber der
Ampel sogar schon in ihrem Koalitionsvertrag festge-
schrieben. Für eine Nährwertkennzeichnungspflicht
nach dem Ampelsystem gab es breite Unterstützung von
vielen Organisationen aus dem Verbraucherbereich und
dem Gesundheitsbereich. Die SPD tritt seit langem für
die Ampel ein. Um die 70 Milliarden Euro pro Jahr müs-
sen für ernährungsbedingte Krankheiten aufgewendet
werden. Hinter diesen Zahlen stehen erschütternde Ein-
zelschicksale von Betroffenen, und das sind immer
häufiger Kinder und Jugendliche. Der Kampf gegen er-
nährungsbedingte Krankheiten ist eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe, und jede Chance muss genutzt wer-
den. Die Ampelkennzeichnung hätte dabei eine wichtige
Hilfestellung sein können.



gegebene Reden

Elvira Drobinski-Weiß


(A) (C)



(D)(B)

Aber es kam anders: Die Industrie machte Druck auf
die EU-Abgeordneten und investierte laut einem Bericht
der Anti-Lobby-Organisation Corporate Europe Obser-
vatory über 1 Milliarde Euro, um die Nährwertampel zu
verhindern und das Gegenmodell GDA zu etablieren.
Wie groß muss die Angst dort gewesen sein, dass Ver-
braucher endlich in alltagstauglicher Form erfahren,
was sie essen, und womöglich bestimmte Produkte nicht
mehr kaufen?

Gestern nun hat das EU-Parlament nach jahrelangen
Diskussionen darüber, welche Informationen Verbrau-
cher in Zukunft im Supermarkt bekommen sollen, die
Lebensmittelinformationsverordnung verabschiedet.
Fazit: Die Ernährungsindustrie hat sich mit den meisten
Forderungen durchgesetzt. Keine Angaben zum Nähr-
wert auf der Vorderseite, keine realistischen und leicht
nachvollziehbaren Portionsgrößen als Berechnungs-
grundlage, keine Informationen über die Herkunft außer
bei Frischfleisch. Und die CDU/CSU feiert in ihrer
Presseerklärung die „endgültige Absage an eine Ampel-
kennzeichnung, die wir stets abgelehnt hatten“.

Die Geschichte der Nährwertampel ist eine Ge-
schichte des Scheiterns des Verbraucherschutzes und
des Einknickens von CDU/CSU und FDP von dem
Druck der Lobbyisten. Wir sind weiterhin von der Idee
der Nährwertkennzeichnung nach dem Ampelsystem
überzeugt, werden uns aber zum Antrag der Linken ent-
halten: Er hat sich leider erledigt, vorläufig. Es werden
auch wieder bessere Tage für die Verbraucherinnen und
Verbraucher kommen: wenn diese Bundesregierung ab-
getreten ist.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1712040100

Eine Ampelkennzeichnung auf Lebensmitteln wäre

nur dann akzeptabel, wenn ihre Empfehlungen für alle
Menschen gelten würden und wenn sie eindeutig wären.
Beides ist bei der Nährwertampel nicht der Fall, und
deswegen lehnt die FDP sie ab.

Mit der sogenannten Nährwertampel werden die Ver-
braucherinnen und Verbraucher nicht nur über den
Nährwertgehalt eines Lebensmittels informiert, sie er-
halten gleichzeitig mit den Farben der Verkehrsampel
eine Empfehlung. Die Bewertung des Nährwertgehalts
mit roten, gelben, grünen Punkten stellt die Empfehlung
dar, denn die Farben der Verkehrsampel geben einen
eindeutigen Verhaltenshinweis. Der Warnhinweis auf
der Zigarettenpackung gilt für alle Menschen. Rauchen
ist ungesund. Aber der rote Punkt bei der Kalorienan-
gabe eines Lebensmittels kann für einen übergewichti-
gen Menschen ein richtiger Hinweis sein, für einen ma-
gersüchtigen Jugendlichen ist dies jedoch genau der
falsche Verhaltenshinweis. Essstörungen wie Bulimie
und Magersucht sind gerade bei jungen Frauen, mittler-
weile aber auch bei jungen Männern weit verbreitet.
Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem
Jahr 2006 hat jedes dritte Mädchen von 11 bis 17 Jahren
Essstörungen und Krankheiten wie Magersucht, Ess-
Brech-Sucht oder Fettsucht. Bei Jungen im gleichen Al-
ter sind es immerhin noch 15,2 Prozent. Diese jungen
Menschen führt die Nährwertampel in die Irre. Keine
Zu Protokoll
Ernährungsempfehlung kann die individuelle Ernäh-
rungs- und Lebenssituation eines jeden Käufers berück-
sichtigen.

Die Nährwertampel ist außerdem nicht eindeutig.
Wenn die Ampel an der Kreuzung rot zeigt, sagt die Stra-
ßenverkehrsordnung, dass jeder stehen bleiben muss.
Was ist aber zum Beispiel mit dem Matjesfilet? Wegen
des hohen Fett- und Kaloriengehalts würde es zwei rote
Punkte tragen und wegen des hohen Gehalts an ungesät-
tigten Fettsäuren und des Fehlens von Zucker außerdem
zwei grüne Punkte. Empfehlenswert oder nicht empfeh-
lenswert? Das Beispiel zeigt: Die Ampelkennzeichnung
bei Lebensmitteln ist anders als die Ampel im Straßen-
verkehr nicht eindeutig. Rot, Gelb und Grün auf Lebens-
mitteln würden im Straßenverkehr gleichzeitiges
Bremsen und Gasgeben bedeuten. Das ist keine gute
Verhaltensempfehlung.

Viele Menschen in Deutschland haben Übergewicht.
Dieser Befund wird unter anderem als Argument für die
Nährwertampel genannt. Dies ist in der Tat ein Problem.
Aber die Nährwertampel bietet keine Lösung. Allein
schon durch die Diskussion über die Nährwertampel
wird den Menschen mit Übergewicht suggeriert, eine
Ampelkennzeichnung könnte ihr Gewichtsproblem lö-
sen. Das ist nicht der Fall. Die Diskussion über die
Nährwertkennzeichnung verdeckt, dass das beobachtete
Übergewicht nicht allein durch die Umstellung der Er-
nährung aufgefangen werden kann. Das Bewegungsver-
halten der Menschen hat sich in den letzten Jahren ver-
ändert. Kinder spielen weniger draußen, sitzen mehr am
Computer, und auch Erwachsene bewegen sich wesent-
lich weniger als früher. 15 Prozent der Kinder und Ju-
gendlichen sind übergewichtig. Der Vergleich des Ener-
gie- und Zuckerkonsums von sechs- bis elfjährigen
Jungen und Mädchen in den Jahren 1985 – Nationale
Verzehrstudie – und 2006 – Studie zur Gesundheit von
Kindern und Jugendlichen in Deutschland – zeigt je-
doch, dass sowohl die Aufnahme von Energie als auch
von Zucker in den letzten 20 Jahren in dieser Alters-
gruppe gesunken ist. Dies macht deutlich: Kinder essen
nicht mehr als früher, sondern sie bewegen sich weniger.
Bewegung, die Beherrschung des eigenen Körpers,
Sport in der Gemeinschaft machen Spaß, bringen Le-
bensfreude. Bewegungsmangel bedeutet somit nicht nur,
dass weniger Kalorien verbraucht werden, mit der
Folge von Übergewicht, sondern bedeutet auch einen
Verlust an Lebensfreude. Der damit verbundene Stress
macht krank.

Für die Ausbildung von Diabetes Typ II – und dieser
ist schon bei Kindern zu beobachten – ist nicht nur das
Übergewicht von Bedeutung, sondern auch der Bewe-
gungsmangel. Bewegung hat eine positive Auswirkung
auf den Zuckerhaushalt, weil durch die Muskeltätigkeit
die Zellen empfindlicher für Insulin werden. Der Ausbil-
dung einer Insulinresistenz und damit der Ausbildung
von Diabetes Typ II wird entgegengewirkt. Zu einer ge-
sunden Lebensführung gehört nicht nur eine gesunde
Ernährung, sondern auch eine ausreichende Bewegung.
Wer das verschweigt, führt die Menschen in die Irre.



gegebene Reden

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

Die Nährwertampel ist bereits vor über einem Jahr
im Europaparlament mehrheitlich abgelehnt worden,
und das zu Recht. Trotzdem setzt die Linke diesen über-
holten Antrag erneut auf die Tagesordnung. Sie betreibt
damit umfrageorientierte Politik – egal welches Thema,
wenn man sich populistisch einen Vorteil davon ver-
spricht, wird es immer und immer wieder hervorgeholt,
selbst wenn das Thema bereits längst abgeschlossen ist.

Um sich ausgewogen und gesund ernähren zu kön-
nen, brauchen die Verbraucherinnen und Verbraucher
genaue Informationen für eine bewusste Entscheidung.
Bereits jetzt tragen 80 Prozent der verpackten Lebens-
mittel eine Nährwertkennzeichnung. Dies ist eine gute
Entwicklung.

Nicht nur die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
hat sich gegen die Nährwertampel ausgesprochen, son-
dern auch die Lebensmittelwirtschaft. Dies wurde von
den Befürwortern der Nährwertampel als Lobbyismus
gebrandmarkt. Zwei plus zwei ist vier; jeder weiß das.
Ist diese wahre Aussage automatisch dann falsch, wenn
ein Lobbyist sie bestätigt? Mir haben die von mir per-
sönlich angeschriebenen Krankenkassen keine wissen-
schaftliche Studie nennen können, die belegt, dass die
Nährwertampel die Gesundheit fördert. Die Tatsache,
dass Verbraucherverbände sich für die Nährwertampel
ausgesprochen haben, ist kein wissenschaftlicher Beleg
dafür, dass sie die angesprochenen Probleme lösen hilft.

Die FDP tritt ein für eine sachliche Nährwertkenn-
zeichnung ohne farbliche Bewertung, wie sie inzwischen
auf sehr vielen Lebensmitteln zu finden ist. Für eine
wirksame Bekämpfung von Fehlernährung sind zudem
Ernährungswissen und Ernährungsbildung, eine ausge-
wogene Ernährung sowie ausreichende Bewegung und
Sport notwendig. Initiativen wie das Schulobstpro-
gramm, der „Ernährungsführerschein“ der Landfrauen
oder „peb“, die Plattform für Ernährung und Bewe-
gung, helfen dabei.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712040200

Gestern beschloss das Europäische Parlament die

Lebensmittelinformationsverordnung. Sie ist nicht mehr
als ein schlechter Kompromiss. Die Entscheidung der
EU kam unter massivem Störfeuer der Lebensmittel-
lobby zustande, unter dem auch die schwarz-gelbe Bun-
desregierung einknickte.

Zunächst die gute Botschaft aus Brüssel: Zucker und
Salz, Fett und gesättigte Fettsäuren müssen mit ihrem je-
weiligen Anteil in 100 Gramm des fertigen Produktes
angegeben werden. Das ist wichtig, denn die „dicken
Vier“ werden von der Lebensmittelindustrie immer häu-
figer im Übermaß als Geschmacksanreger eingesetzt.
Damit wurde und wird wohl auch weiterhin die Minder-
wertigkeit anderer oder das Fehlen wertvollerer Zutaten
übertüncht.

Das wars dann auch schon. Jetzt kommt der Kritik-
teil. Künftig werden trotz vieler Hinweise und anders-
lautender Forderungen von Experten, Verbänden und
Institutionen die Pflichtangaben für Zucker, Salz und
Fette kaum lesbar in 1,2 Millimeter kleiner Schrift auf
Zu Protokoll
der Rückseite der Verpackung angebracht sein. Auf der
Vorderseite hingegen prangen gut lesbar die sogenann-
ten Portionsangaben der Hersteller. Die Verbraucherin-
nen und Verbraucher werden damit vorsätzlich ge-
täuscht.

Mit diesen willkürlichen Portionsgrößen werden die
Dickmacher extra „schlankgerechnet“. Bei 14 Gramm
Salami, 30 Gramm Pizza oder 40 Gramm Müsli kann
niemand zunehmen. Fett-, Zucker- und Salzgehalt
schrumpfen wie durch Zauberhand. Diese vorsätzliche
Verbrauchertäuschung ist Gift für eine ausgewogene Er-
nährung, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
Die Linke fordert deshalb nach wie vor die Einführung
einer Nährwertampel, um eine gesunde und ausgewo-
gene Ernährung zu unterstützen.

Unabhängige Experten wie der Potsdamer Ernäh-
rungswissenschaftler Hans-Georg Joost, Direktor des
Deutschen Instituts für Ernährungsforschung, Dife,
Krankenkassen, Bundesärztekammer, Kinder- und Ju-
gendärzte und natürlich Verbraucherschützerund Ver-
braucherschützerinnen sprechen sich einhellig für die
Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln aus. Denn die
Gesundheit leidet, wenn Dickmacher und zu viel Salz im
Essen hinter Werbung versteckt werden.

Mit der Nährwertampel werden der Gehalt von Fett,
gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz auf der Vorder-
seite der Verpackung angegeben und farblich unterlegt:
Grün für „gering“, gelb für „mittel“ und rot für „hoch“.
Damit alle Produkte miteinander vergleichbar sind,
müssen sich die Angaben einheitlich auf 100 Gramm
oder 100 Milliliter beziehen. So können Verbraucherin-
nen und Verbraucher auf den ersten Blick erkennen, was
darin steckt und Schummelwerbung umgehen.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Essen und Ge-
sundheit gehören zusammen. Wir alle wissen, dass der
Biss in einen Apfel gesünder ist als die Currywurst von
der Imbissbude. Doch Essen ist auch Genuss. Und des-
halb muss man auch einmal Fünfe gerade sein lassen.
Mann/Frau muss nicht immer Kalorien zählen.

Wenn aber Übergewicht zum Problem wird oder man
sich bewusst und gesund ernähren möchte, ist es wich-
tig, über den Gehalt von Fett, Zucker und Salz im Essen
Bescheid zu wissen. Beim Blick ins Supermarktregal
verliert man aber schnell den Überblick. Die Lebensmit-
telindustrie tut alles, um Dickmacher und Geschmacks-
zusätze kleinzurechnen und hinter bunter Werbung zu
verstecken: ein „gesunder“ Kindermilchdrink, der mehr
Zucker enthält als die gleiche Menge Cola; „Vital“-
Müsli, das zur Hälfte aus Zucker und Fett besteht; Fer-
tigpizza „wie vom Italiener“ mit mehr Salz als täglich
empfohlen. Aber wenn es nach der Bundesregierung
geht, sind die Verbraucherinnen und Verbraucher selbst
schuld, wenn sie darauf hereinfallen.

Bereits mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Eu-
ropa gilt als übergewichtig oder fettleibig. Jedes fünfte
Schulkind ist zu dick. Diabetes und Herz-Kreislauf-Er-
krankungen können die Folge sein. Die Werbelügen der
Lebensmittelindustrie tragen ihren Teil dazu bei: Nach
Ansicht von Ärzten und Krankenkassen ist falsche Er-



gegebene Reden





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

nährung durch versteckte Dickmacher ein Hauptgrund
für viele unserer Zivilisationskrankheiten. Und: Bewe-
gungsmangel bei Kindern und Jugendlichen ist eine
Folge ernährungsbedingter Gewichtszunahme.

Damit muss Schluss sein. Ich lasse nicht locker und
fordere die Bundesregierung auf, sich aus der Umklam-
merung der Lebensmittelindustrie zu lösen. Die Nähr-
wertampel ist und bleibt das beste Modell zur verbrau-
cherfreundlichen Kennzeichnung von Lebensmitteln.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712040300

Übergewicht entwickelt sich mehr und mehr zur Epi-

demie. Seit 1985 gibt es einen dramatischen Anstieg von
Menschen mit Übergewicht und Adipositas. In Deutsch-
land sind knapp 40 Millionen Menschen zu dick und
damit schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken oder
Beeinträchtigungen ausgesetzt. Die im Januar 2008 ver-
öffentlichten Ergebnisse der Nationalen Verzehrsstudie II
bestätigen, dass 58 Prozent der Männer und immerhin
41 Prozent der Frauen übergewichtig sind. 12 bis
15 Prozent davon gelten sogar als adipös. Die Kinder-
gesundheitsstudie KIGGS geht von 1,9 Millionen über-
gewichtigen und 800 000 (6,3 Prozent) adipösen Kin-
dern und Jugendlichen aus. Über 20 Prozent unserer
Kinder sind also zu dick.

In einer aktuellen Studie der Deutschen Angestellten
Krankenkasse, DAK, erklären 95 Prozent der befragten
Kinderärzte, dass Übergewicht bei Kindern in den ver-
gangenen zehn Jahren zugenommen hat. Ungesunde Er-
nährung ist entgegen allen Behauptungen interessierter
Kreise die Hauptursache für Übergewicht. Verbraucher
haben bisher keine praktikable Möglichkeit, sich zuver-
lässig und verständlich über den Nährwertgehalt von
Lebensmitteln zu informieren. In vielen Fällen täuschen
die Hersteller durch die Aufmachung und Etikettierung
ihrer Produkte über deren tatsächlichen Inhalt hinweg.

Die Einführung der Nährwertampel würde es allen
Verbraucherinnen und Verbrauchern erleichtern, schnell
und unkompliziert zu erfassen, welche Lebensmittel zu-
cker- und fettreiche Dickmacher sind oder zu viel Salz
enthalten. Das ist der entscheidende Vorteil gegenüber
dem Modell der Lebensmittelindustrie, dem GDA-Mo-
dell. Die Fachhochschule Münster hatte im direkten Ver-
gleich zwischen Nährwertampel und der GDA-Kenn-
zeichnung der Industrie herausgefunden, dass mit der
Ampelkennzeichnung 95 Prozent der Befragten erkennen
konnten, welches von zwei vergleichbaren Lebensmitteln
weniger Zucker enthält. Mit der Industriekennzeichnung
schätzten weniger als die Hälfte der Testpersonen den
Zuckergehalt richtig ein. Diese Desinformation ist von
den Herstellern durchaus gewollt, verstellt sie doch die
kritische Sicht auf viele Nahrungsmittel, die als gesunde
Mahlzeiten beworben werden, in Wahrheit jedoch voller
Zucker und Fett stecken.

Während die meisten Verbraucher wissen, dass man
Schokolade oder Sahnetorte nur dosiert genießen sollte,
erkennt kaum jemand auf den ersten Blick, dass handels-
übliche Saftschorlen zu viel Zucker enthalten, um als al-
leiniger Durstlöscher zu dienen, oder dass ein Riegel mit
einer Füllung aus „Magermilchjogurt und Erdbeeren“
eine fettige Süßigkeit ist und mitnichten schlanker als
gewöhnliche Schokolade. Wer würde seinen Kindern
wohl noch Frühstücksflocken auf den Tisch stellen, die
in ihrer Nährwertstruktur am ehesten Keksen vergleich-
bar sind? Welcher Hersteller möchte schon, dass die
vollmundigen Werbebotschaften für „reichhaltige“ Zu-
taten und „leichte Zwischenmahlzeiten“ durch rote
Punkte bei Fett- und Zuckergehalt entlarvt sehen? Die
Nährwertampel erlaubt einen kritischen Blick auf die
Rezepturen von Lebensmitteln; deshalb wurde sie von
der Industrie bekämpft. In Großbritannien hat die Ein-
führung der Ampel zu Veränderungen bei den Rezeptu-
ren geführt, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher
gesündere Optionen nachfragen, wenn sie sie auf den
ersten Blick erkennen können.

Die fehlende Umsetzung der Nährwertampel bestärkt
die Verbraucherdesinformation; damit werden die na-
tionalen Programme zur Bekämpfung von Übergewicht
und Fehlernährung ad absurdum geführt – mit fatalen
Folgen auch für die Gesundheitssysteme, die heute
schon etwa ein Drittel ihrer Gesamtausgaben für die Be-
kämpfung ernährungsbedingter Folgeerkrankungen
aufwenden. Es ist unverantwortlich, dass die Europäi-
sche Kommission und die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung hier dem Lobbydruck gefolgt sind, statt auf den Rat
von Ernährungsexperten, Krankenkassen, Verbraucher-
verbänden und Kinderärzten zu hören.

Die meisten Menschen wollen sich und ihre Kinder
gesund ernähren, aber kaum jemand hat Zeit und Lust,
beim Einkauf komplizierte Rechenleistungen zu voll-
bringen. Deshalb brauchen wir ein einfaches, transpa-
rentes Instrument. Wir fordern die Bundesregierung auf,
endlich eine Ernährungs- und Verbraucherpolitik zu ma-
chen, die ihren Namen verdient. Entwickeln Sie eine
farbliche Kennzeichnung der Inhaltsstoffe, setzen Sie
sich für Werbebeschränkungen von Süßigkeiten im Um-
feld von Kindersendungen ein. Wälzen Sie den flächen-
deckenden Ausbau der Kindergarten- und Schulernäh-
rung nicht allein auf die Länder ab, sondern gehen Sie
über ein Bund-Länder-Aktionsprogramm mit in die Ver-
antwortung und Finanzierung.

Daher gilt: Wir brauchen dringend eine transparente
und leicht verständliche Information über den Nähr-
wertgehalt von Lebensmitteln. Unausgewogene Ernäh-
rung führt erwiesenermaßen zu großen gesundheitlichen
Problemen und hohen gesellschaftlichen Kosten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712040400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-

nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/2961, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/2120 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 45 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Armuts- und Reichtumsbericht zum Aus-
gangspunkt für Politikwechsel zur Herstellung
sozialer Gerechtigkeit machen

– Drucksache 17/6389 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1712040500

Der Armuts- und Reichtumsbericht dient dazu, Hin-

weise zu arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen von
Vertretern der Länder, Kommunen, Verbände, Institutio-
nen und Betroffenenorganisationen zu erhalten. Die
Linke aber betreibt mit ihrem Antrag unter dem Vorwand
einer Verbesserung der künftigen Armuts- und Reich-
tumsberichte sozialpolitischen Klamauk. Auf einige
Punkte möchte ich mit der gebotenen Kürze eingehen.

Die Linken beschwören mit ihrem Antrag eine bevor-
stehende sozialpolitische Apokalypse in unserem Land
herauf. Ich bin der Meinung, mit dem Modell der Sozia-
len Marktwirtschaft sind wir in der Bundesrepublik
Deutschland gut gefahren. Es schützt diejenigen davor,
durch das soziale Netz zu fallen, die unverschuldet in
eine soziale Notsituation geraten sind. Die Mechanis-
men unseres Sozialstaates kultivieren den gesellschaft-
lichen Zusammenhalt – sie sind deshalb richtig und
wichtig. Wir tragen als Politiker aber auch eine Verant-
wortung dafür, dass soziale Leistungen von Einzelnen
nicht ohne Gegenleistungen in Anspruch genommen
werden dürfen. Eine solche Gegenleistung manifestiert
sich beispielsweise darin, dass SGB-II-Empfänger aktiv
nach einer Beschäftigungsmöglichkeit suchen. Das
Prinzip des Förderns und Forderns ist prioritär. Die
Leistungen nach dem SGB II orientieren sich deshalb
eng an einem menschenwürdigen Leben. Hierfür haben
wir bei der Neubemessung nachvollziehbare Berechnun-
gen angestellt, um vor allem einem Ziel gerecht zu wer-
den: einer Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die
Forderung der Linken nach einer Anhebung der Regel-
sätze auf 500 Euro folgt keiner Arithmetik und ist völlig
losgelöst vom Ziel einer Integration der Erwerbslosen in
den Arbeitsmarkt. Sie ist daher abzulehnen.

Eine weitere altbekannte Forderung der Linken ist
die nach einem Mindestlohn. Sie findet auch in diesem
Antrag Niederschlag. Allerdings bleibt die Linke hier
eine Erklärung schuldig: Warum 10 Euro pro Stunde?
Warum nicht – wie sie es lange gefordert hat –
8,50 Euro? Oder, wie ich auch schon in Papieren der
Linken lesen konnte, 11 Euro und mehr? Man könnte
beinahe glauben, für jeden Antrag würde die Höhe des
Mindestlohnes neu gewürfelt. Erst gestern berichtete
mir der Kollege Mierscheid von seinen Erfahrungen bei
der Aufzucht geringelter Haubentauben. Die Expansion
der FE-Abteilung seines Taubenzuchtvereins in das
Mecklenburgische Stolpe sei durch einen von der Links-
partei gewürfelten Mindestlohn arg gefährdet. Nicht zu-
letzt wären dadurch auch seine geleisteten Forschungen
umsonst, aus der geringelten Haubentaube eine gekräu-
selte Schneppenhaubentaube herauszuzüchten.

Während die Linken am Mindestlohn würfeln, hat die
christlich-liberale Koalition zum 1. Mai 2011 die gesetz-
lichen Grundlagen für einen Mindestlohn in der Zeitar-
beitsbranche geschaffen. Dies ist ein Schritt, für den ich
und viele meiner Kollegen aus der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion schon lange gestritten haben. Persönlich
wünsche ich mir, dass in absehbarer Zeit auch nicht
mehr durch Ausnahmeregelungen vom Equal-Pay-
Grundsatz abgewichen werden darf. Grundsätzlich gibt
es bereits eine sogenannte Equal-Pay-Klausel in der
Zeitarbeit. Ich möchte an dieser Stelle keine parteipoli-
tischen Schlammschlachten beginnen; denn dafür ist das
Thema zu ernst. Aber es waren SPD und Grüne, welche
die Möglichkeit geschaffen haben, vom Prinzip des glei-
chen Lohns für gleiche Arbeit abzurücken.

Die CDU-Sozialausschüsse haben sich auf ihrer Bun-
destagung im Mai 2011 für einen allgemeinen gesetzli-
chen Mindestlohn in der Höhe des Mindestlohns in der
Leiharbeit ausgesprochen. Dabei soll nach wie vor der
Vorrang der Tarifautonomie gelten, genauso wie es die
Möglichkeit geben muss, tarifliche Mindestlöhne über
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen auf Unterneh-
men einer Branche auszudehnen, die nicht Mitglied im
Arbeitgeberverband sind. Ich sehe den Staat dort in der
Pflicht, wo Tarifverträge die Arbeitnehmer nicht schüt-
zen können. In diesen Fällen muss künftig ein Mindest-
lohn greifen. Der gesetzliche Mindestlohn soll dabei ein
nachgelagerter Mindestlohn sein, der vor allem die
Menschen in quasi gewerkschaftsfreien Branchen vor
unfairem Lohngebaren schützen muss. Ein solcher Min-
destlohn entspricht im Übrigen auch dem Gerechtig-
keitsempfinden der Bevölkerung und zerstört keine Ar-
beitsplätze. Wir wollen die Tarifpartner dabei nicht aus
ihrer Verantwortung entlassen, denn einseitig festge-
legte Löhne sind ungerechte Löhne. Die Tarifvertrags-
parteien müssen auch in Zukunft für die Lohnfindung zu-
ständig sein. An diesem Grundsatz wollen wir festhalten.

Zuletzt möchte ich noch kurz auf das obsessive Man-
tra der Linken eingehen, die Rente mit 67 rückgängig zu
machen. Auch dieses Ansinnen entbehrt jedweder Logik.
Die demografische Entwicklung lässt sich eben – trotz
künftiger Produktivitätssteigerungen und steigender
Löhne – nicht ausblenden. Sicherlich können höhere
Beitragszahlungen auch demografische Entwicklungen
bis zu einem bestimmten Grad abfedern. Das werden sie
auch müssen. Die steigende Lebenserwartung sorgt aber
dafür, dass die meisten Menschen erfreulicherweise län-
ger Rente beziehen können als je zuvor. 1960 betrug die
durchschnittliche Rentenbezugsdauer noch 9,9 Jahre.
Heute liegen wir bei mehr als 17 Jahren. Nach allen
Prognosen wird die Lebenserwartung und damit die
Rentenbezugsdauer weiter steigen. 2029 wird die Le-
benserwartung nochmals um drei Jahre länger sein als
heute. Die Erwerbsfähigen in Deutschland werden zu-
künftig deutlich weniger und erheblich älter sein. Bis
2030 wird die Zahl der 20- bis 64-Jährigen um über
6 Millionen sinken, während die Zahl der über 64-Jähri-
gen um mehr als 5 Millionen zunehmen wird. Das Ver-

Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

hältnis der über 64-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen
wird von derzeit eins zu drei auf eins zu zwei Personen
sinken. Dies ist ein ganz entscheidender Unterschied,
warum Produktivitäts- und Lohnsteigerungen allein die
demografische Entwicklung nicht so werden kompensie-
ren können, wie dies bisher der Fall war.

Die Rahmenbedingungen müssen daher so gestaltet
werden, dass trotz einer schrumpfenden und älteren Er-
werbsgesellschaft ein Höchstmaß an Produktivität und
Innovationsfähigkeit erreicht wird. Dazu müssen Be-
triebe, Sozialpartner und die Politik dafür sorgen, dass
die Arbeitsorganisation und die Arbeitsgestaltung auf
die spezifischen Fähigkeiten und Kompetenzen älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgerichtet wer-
den.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1712040600

Die in dem vorliegenden Antrag zitierten Daten, die

einen Anstieg der Einkommensarmut und ein steigendes
Armutsrisiko in Deutschland belegen sollen, erfassen
die negativen Wirkungen der internationalen Finanz-
und Wirtschaftskrise, aber nicht den positiven Trend des
derzeitigen Konjunkturaufschwungs. Im letzten Armuts-
und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der im
Sommer 2008 vorgestellt wurde, finden sich jedenfalls
keinerlei Daten, die auf eine Verschärfung des Armuts-
problems hierzulande hinweisen.

Armut entzieht sich einer eindeutigen Messung. Die
Orientierung des Armutsbegriffs am Durchschnittsein-
kommen beispielsweise wäre lebensfremd. Wenn das
Durchschnittseinkommen steigt, würde gleichzeitig die
statistische Zahl der Armen steigen. An deren Situation
hätte sich aber in Wahrheit nichts geändert. Die Armuts-
und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung
orientiert sich daher an einem umfassenden Analysean-
satz, der die Risiken für Armut und soziale Ausgrenzung
beschreibt. Im letzten Bericht wurde das Konzept der re-
lativen Einkommensarmut zugrunde gelegt, das heißt,
Armut gilt als eine auf den mittleren Lebensstandard be-
zogene Benachteiligung und spiegelt so den durch-
schnittlichen Wohlstand der Gesellschaft wider.

Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht wies gleich-
zeitig aber darauf hin, dass die größte Bedeutung zur
Armutsvermeidung wirtschaftliches Wachstum und da-
mit steigende Beschäftigung haben. Wir haben in den
vergangenen Jahren die Rahmenbedingungen für das
Wachstum der Wirtschaft durch strukturelle Reformen
verbessert und gemeinsam mit den Tarifpartnern, die
unsere Instrumente zur Krisenbewältigung genutzt ha-
ben, dafür gesorgt, dass Deutschland gestärkt aus der
Krise hervorgegangen ist. Die Unternehmen können
Innovationen vorantreiben, ihre Wettbewerbsfähigkeit
steigern und Beschäftigung schaffen. Die Krise ist über-
wunden.

Im Februar 2005 waren 5,29 Millionen Personen ar-
beitslos. Damit erreichte die Arbeitslosenquote mit
14,1 Prozent den höchsten Stand seit der Wiedervereini-
gung Deutschlands. Seit Mai dieses Jahres liegt die Ar-
beitslosigkeit unter der 3-Millionen-Marke, auf dem
niedrigsten Stand seit den 90er-Jahren. Im europäischen
Zu Protokoll
Vergleich liegt Deutschland mit einer Arbeitslosenquote
von 6,9 Prozent im besten Drittel. Dieser Beschäfti-
gungsaufschwung ist nachhaltig. Rund 700 000 Men-
schen haben innerhalb des vergangenen Jahres eine so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden,
davon deutlich mehr als die Hälfte, nämlich 440 000 in
Vollzeit. Die sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung lag im März 2011 bei 28,09 Millionen und ist
damit trotz Krise wieder höher als vor zehn Jahren, als
sie 27,71 Millionen betrug. Und dieser Beschäftigungs-
aufschwung kommt bei allen an. Allein 282 000 Men-
schen haben es im abgelaufenen Jahr aus Langzeitar-
beitslosigkeit und Hartz-IV-Bezug heraus geschafft.
Dies ist im Vergleich zu früheren Konjunkturzyklen eine
neue Entwicklung.

Kern sozial gerechter Politik, wie wir sie verstehen,
ist es, ökonomische und soziale Teilhabe- und Verwirkli-
chungschancen für alle Mitglieder in der Gesellschaft zu
gewährleisten. Politik, die dazu beitragen will, Armut
und soziale Ausgrenzung zu verhindern, kann sich daher
nicht in der Sicherung von Grundbedürfnissen erschöp-
fen, wie es der vorliegende Antrag vorsieht. Dauerhafte
Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge führt zur Verfes-
tigung von Armut und muss vermieden werden. Ent-
scheidend ist es, den Betroffenen Angebote zu eröffnen
und sie zu befähigen, mit einer angemessen entlohnten
Erwerbstätigkeit so weit wie möglich vom Bezug von
Transferleistungen unabhängig zu werden. Alle müssen
die Chance erhalten, ihre individuellen Möglichkeiten
auszuschöpfen, Grundbedingung dafür sind wirtschaft-
liches Wachstum und die damit einhergehenden Be-
schäftigungsmöglichkeiten.

Eine solch leistungsfähige und eine im globalen Wett-
bewerb erfolgreiche Wirtschaft, die dauerhaft Wohl-
stand für alle sichert, erwarten wir auch für die nähere
Zukunft. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognosti-
zieren eine wachsende Wirtschaft und eine weiter rück-
läufige Arbeitslosigkeit. Die Wachstumsprognosen für
2011 liegen derzeit zwischen 3,5 und 3,7 Prozent Wachs-
tum in diesem Jahr. Einen solchen Wert hat Deutschland
seit dem Ende der 1980er-Jahre – bedingt durch die
Lasten der Wiedervereinigung – nicht mehr erreichen
können.

Wir haben gute Voraussetzungen geschaffen, um Ar-
mutsrisiken weiter zu vermindern und Teilhabechancen
zu verbessern. Die Reform der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente wird den Aufschwung unterstützen. Auch
wenn Lohnsteigerungen, dem üblichen Konjunkturmus-
ter folgend, erst in der Spätphase des Aufschwungs re-
alisiert werden, sind wir zuversichtlich, dass wir weiter
hohe Tarifabschlüsse und eine gute Arbeitsmarktent-
wicklung haben werden.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1712040700

Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht aus dem

Jahr 2008 ist hier im Hause ebenso wie die beiden vo-
rangegangenen Berichte intensiv diskutiert worden. Alle
Fraktionen hatten die Gelegenheit, ihre Schlüsse daraus
zu ziehen. Das Gleiche gilt für das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales, das uns in Beantwortung einer



gegebene Reden

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Kleinen Anfrage im August letzten Jahres ausführlich
über den Stand der Vorbereitungen des vierten Berichtes
informiert hat.

Es hat seitdem wichtige Fortschritte gegeben: Ers-
tens hat eine kluge und kreative Wirtschaftspolitik die
Bundesrepublik Deutschland in eine weltweit aner-
kannte Wachstumsphase geführt. Damit haben sich die
Lebensbedingungen zahlreicher Familien weitaus stär-
ker verbessert, als es durch nachsorgende Sozialmaß-
nahmen jemals möglich wäre.

Zweitens hat die Bundesrepublik Deutschland inzwi-
schen zu ihrem Sozialsystem einen zusätzlichen Baustein
ergänzt, nämlich das Bildungs- und Teilhabepaket im
Zuge unserer Hartz-IV-Reform. Damit haben wir aus
der wichtigsten Schlussfolgerung, die der dritte Armuts-
und Reichtumsbericht uns nahelegte, konkrete gesetzge-
berische Schritte folgen lassen.

Die Chancengerechtigkeit in Deutschland wächst.
Und ich füge hinzu: Die bei der kommunalen Umsetzung
des Bildungs- und Teilhabepakets aufgetretenen Pro-
bleme sind nicht so überraschend und auch nicht so
schlimm, wie es interessierte Kritiker beschreiben, abge-
sehen vielleicht vom Land Berlin, wo die zuständige Se-
natsverwaltung bis heute nicht in der Lage ist, ihren Äm-
tern einheitliche Umsetzungsregelungen und Software
zur Verfügung zu stellen. Dafür sind aber weder die
Bundesregierung noch der Gesetzgeber verantwortlich
zu machen.

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke ist
weder sachgerecht noch angemessen. Er enthält Thesen
und baut auf Voraussetzungen auf, die für Sozialisten
oder Kommunisten akzeptabel sein mögen, aber nicht
als Entscheidungsgrundlage für das Parlament eines
freiheitlichen Staates. Schon der Verweis auf sogenannte
wissenschaftliche Erkenntnisse der zwei Epidemiologen
Pickett und Wilkinson kann doch nicht allen Ernstes zur
Beschlussgrundlage des Deutschen Bundestages ge-
macht werden. Dass ich als Liberaler deren These von
der Ungleichheit als Ursache gesellschaftlicher und
speziell gesundheitlicher Probleme für absurd halte,
wird niemanden wundern. Auch Abgeordnete weniger li-
beraler Fraktionen werden dem nicht folgen können. In
freien Ländern lebt es sich nachweislich gesünder als
etwa in Nordkorea. Und unter den Ungerechtigkeiten
und durchaus auch negativen gesundheitlichen Folgen
der DDR leiden viele Menschen bis heute.

Die breit ausgeführte Behauptung, erst habe Rot-
Grün, dann Rot-Schwarz, dann Schwarz-Gelb die so-
ziale Ausgrenzung vorangetrieben, ist unsinnig. Allein
schon der Versuch, sich derart plump von allen anderen
Fraktionen zu distanzieren, macht deutlich, dass dieser
Antrag überhaupt nicht auf Unterstützung angelegt ist.
Die Linke will isoliert bleiben. Das ist ihr Konzept. Dazu
dient auch die ständig wiederholte These von der be-
wusst herbeigeführten sozialen Spaltung.

Im Übrigen trägt der Antrag in weiten Teilen Eulen
nach Athen, wenn er Forderungen beinhaltet, die schon
in früheren Armuts- und Reichtumsberichten berück-
sichtigt wurden. Alle Forderungen, die nicht ideologisch
Zu Protokoll
gefärbt, sondern objektiv nachvollziehbar sind, wurden
in den früheren Berichten längst umgesetzt. Die spe-
zielle Situation von Kindern und Jugendlichen spielte
zum Beispiel schon in den früheren Berichten eine zen-
trale Rolle. Und auch die Laeken-Indikatoren, EU-SILC,
waren schon 2008 Grundlage. Die erwähne ich, weil der
Antrag der Linken suggeriert, das erfordere alles deren
Aufforderung.

Die Diskussion über Armut leidet unter den völlig un-
terschiedlichen Armutsbegriffen, die man ihr zugrunde
legen kann. Das soziokulturelle Existenzminimum ist et-
was anderes als der am Existenzminimum orientierte
Steuerfreibetrag. Das menschenwürdige Existenzmini-
mum unter Berücksichtigung der soziokulturellen Teil-
habe nach dem SGB II darf nicht mit der Armutsrisiko-
grenze verwechselt werden. Und diese ist in der
Vergangenheit so unterschiedlich berechnet worden,
dass sie nach dem zweiten Armutsbericht 11 256 Euro
betragen hätte und nach dem dritten Armutsbericht nur
noch 9 372 Euro.

Der übliche relative Armutsbegriff täuscht über die
faktische Verbesserung der Lebensverhältnisse aller
Menschen in Deutschland hinweg. Alle Haushalte mit
weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haus-
haltseinkommens für armutsnah zu erklären und solche
mit weniger als 50 Prozent pauschal für arm, ist ebenso
schlau wie eine Weltbank-Studie von 1980, in der festge-
stellt wurde, dass fast die Hälfte aller Amerikaner Hun-
ger leide, weil sie weniger als 50 Prozent der durch-
schnittlichen Kalorienzahl zu sich nahm.

Ich zitiere aus einer Broschüre „Statistische Pro-
bleme bei der Armutsmessung“ der Bundesregierung,
die dieses Thema bereits 1997 sehr gut aufbereitete.
Dort steht auf Seite 36: „Es gibt keine allseits aner-
kannte, weltweit akzeptierte Art der Armutsmessung.
Insbesondere ist die Unterstellung unzutreffend, das
Festmachen an der Hälfte des Durchschnitts wäre die
,von führenden Armutsforschern’ unisono anerkannte
Art der Armutsmessung; anders als die von DGB und
Wohlfahrtsverbänden alimentierten Armutsstudien im-
mer wieder unterstellen, wird diese Art der Armutsmes-
sung von den wirklich führenden Armutsforschern welt-
weit unisono als verfehlt verworfen. Indem wir Armut
als den Abstand von den anderen messen, machen wir
das Ausrotten dieser Armut fast definitionsgemäß un-
möglich.“

Der nächste Armuts- und Reichtumsbericht kann in-
sofern wiederum nur Fakten, Erfahrungen und Tenden-
zen zusammenstellen. Sein wissenschaftlicher Wert darf
nicht überschätzt werden. Ich bleibe auch bei meiner
Meinung, er sollte besser durch ein neutrales Institut
und nicht durch die Bundesregierung aufgestellt werden.

Bei der Zusammenstellung bedarf die Bundesregie-
rung jedenfalls keiner Aufforderung der Fraktion Die
Linke, um das Selbstverständliche zu tun. Bundesregie-
rung und Bundestag benötigen erst recht kein Wahlpro-
gramm der Linken, um ihre Politik daran zu orientieren.
Selbstverständlich werden wir auch den Versuch ableh-
nen, mit diesem Antrag durch die Hintertür flächende-



gegebene Reden

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

ckende gesetzliche Mindestlöhne oder verdoppelte
Hartz-IV-Sätze einzuführen.

Für mich bleibt unbegreiflich, dass tatsächlich je-
mand glaubt, dieser Staat könne gesetzliche Mindest-
löhne erzwingen, die Lebensarbeitszeit senken, die Ren-
ten erhöhen, Investitionsprogramme auflegen, Hartz-IV-
Sätze massiv anheben, Kindergeld und Kinderzuschläge
erhöhen, Wohngeld erhöhen, öffentlich geförderte Ar-
beitsplätze zuhauf anbieten und gebührenfreie Kinderta-
gesbetreuung einführen – alles Forderungen, die auf ei-
ner von drei Seiten des Antragstextes aufgelistet sind –
und das alles durch die sogenannte Reichensteuer finan-
zieren, die in Wirklichkeit Facharbeiter und große Grup-
pen der Angestellten und Beamten trifft.

Arbeitsplätze, die im Markt entstehen und keiner
staatlichen Subvention bedürfen, sind die beste Präven-
tion gegen Armut. Darauf konzentrieren wir unsere Poli-
tik. Und ergänzend sorgt die christlich-liberale Koali-
tion dafür, unser Sozialsystem so aufzustellen, dass es
auf lange Sicht stabil und bezahlbar bleibt.

Abschließend möchte ich betonen, dass noch wichti-
ger als die Befassung mit materieller Armut eine ernst-
hafte Auseinandersetzung mit der sozialen Armut ist, die
insbesondere Kinder und Jugendliche erleiden. Einsam-
keit, mutwillige Ausgrenzung und andere krankma-
chende Lebensumstände haben viel mehr mit Erzie-
hungs- und Bildungserfahrungen zu tun als mit
berechenbaren Geldbeträgen. Eine Politik, die mehr an
die Wahrnehmung persönlicher Verantwortung für sich
und andere appelliert und dafür Freiräume schafft, tut
mehr gegen Armut als noch so viel umverteiltes Steuer-
geld.

Ich zitiere die Einleitung des dritten Armuts- und
Reichtumsberichtes der Bundesregierung aus dem Jahr
2008: „Armut ist ein gesellschaftliches Phänomen mit
vielen Gesichtern. Es entzieht sich deshalb einer eindeu-
tigen Messung.“ Und ich ergänze mit Blick auf die an-
tragstellende Fraktion: Armutsbekämpfung entzieht sich
auch der einfachen Lösung durch politische Entschei-
dungen.

Schon bei der Vorstellung des dritten Berichtes habe
ich darauf hingewiesen, dass seine Politisierung nicht
sachdienlich ist. Auch deshalb lehnen wir den vorliegen-
den Antrag 17/6389 ab.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712040800

Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist ein

wichtiges Instrument zur Analyse der sozialen Wirklich-
keit in Deutschland. Sie zeigt uns insbesondere auf, wie
erschreckend viele Menschen, darunter besonders häu-
fig Kinder, in diesem reichen Land in Armut leben oder
von Armut bedroht sind. So zeigt das Statistische Bun-
desamt auf der Grundlage der EU-SILC-Daten einen
Anstieg der Einkommensarmut von 12,7 Prozent im Jahr
2005 auf 15,5 Prozent im Jahr 2008. Einen Anstieg der
Armut weist in längerer Perspektive auch das DIW auf
der Grundlage des sozio-oekonomischen Panels aus:
Danach lag das Risiko von Einkommensarmut Anfang
der 90er-Jahre bei rund 12 Prozent und stieg seitdem bis
Zu Protokoll
2008 auf 14 Prozent an. Dies entspricht etwa 11,5 Mil-
lionen betroffenen Personen.

Allein an diesen Zahlen lässt sich erkennen, wie wich-
tig es ist, diese Berichte fortzuführen. Aber sie müssen in
wesentlichen Bereichen dringend qualitativ verbessert
werden. Gleichzeitig lässt aber auch die Berichterstat-
tung über den Bestand und die Entwicklung des Reich-
tums erheblich zu wünschen übrig. Zukünftig müssen
wesentlich mehr Indikatoren und Befunde zu diesen The-
men präsentiert werden.

Ein Problem, welches sowohl in den Berichten als
auch in den politischen Debatten hingegen fast vollstän-
dig ausgeblendet wird, ist verdeckte Armut. Auch hierzu-
lande gibt es Menschen, denen keine oder nur ganz ge-
ringe Mittel zur Verfügung stehen und die insofern einen
Anspruch auf soziale Leistungen haben, diesen aber
nicht realisieren. Die notwendigen Analysen zum Aus-
maß und zu Ursachen verdeckter Armut in allen Grund-
sicherungssystemen und zur Nichtinanspruchnahme von
anderen Sozialleistungen, wie beispielsweise Kinderzu-
schlag oder Wohngeld, fehlen bislang in der Armuts-
und Reichtumsberichterstattung. Nach einer Untersu-
chung der Wissenschaftlerin Dr. Irene Becker, deren
Kompetenz die Bundesregierung auch bei der Erarbei-
tung des letzten Armuts- und Reichtumsberichts sehr zu
schätzen wusste, lebten im Jahr 2007 etwa 2,7 Millionen
Menschen in Deutschland in verdeckter Armut. Das
heißt, sie hätten zwar laut Gesetz Anspruch auf Grund-
sicherungsleistungen, stellen aber keinen Antrag. Da
stellt sich natürlich die Frage: Warum? Die Bundesre-
gierung ist der Meinung, sie verzichten freiwillig, weil
sie den Bezug von Sozialleistungen vermeiden wollen.
Die Forschungsergebnisse von Frau Becker zeigen al-
lerdings ein anderes Ergebnis: Die Menschen verzichten
nicht nur aus Bescheidenheit; die Gründe reichen viel-
mehr von Angst vor Stigmatisierung über schlechte Er-
fahrung mit Behörden bis hin zur Unkenntnis. So glau-
ben irrtümlicherweise 57 Prozent der verdeckt Armen,
man müsste Sozialhilfe dann zurückzahlen, wenn sich
die persönlichen Verhältnisse gebessert haben.

Ebenso fehlt bislang eine Analyse der sozialen Kosten
und Verwerfungen, die durch Armut und soziale Un-
gleichheit produziert werden. Hier rate ich, die wissen-
schaftlichen Ausführungen und Erkenntnisse von Kate
Pickett und Richard Wilkinson zu den sozialen Folgekos-
ten sozialer Ungleichheit, die sie beispielsweis in ihrem
Buch „Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesell-
schaften für alle besser sind“ dargelegt haben, zur
Kenntnis zu nehmen und im Rahmen der Armuts- und
Reichtumsberichterstattung auf die sozialen Verhält-
nisse in Deutschland zu beziehen.

Und leider wird die Armuts- und Reichtumsberichter-
stattung bis heute auch nicht genutzt, um konkrete poli-
tische Instrumente und Maßnahmen in Hinblick auf ih-
ren Beitrag zur Entwicklung von Armut und sozialer
Ausgrenzung zu untersuchen sowie endlich ein umfas-
sendes Programm zur Beseitigung von Armut und sozia-
ler Ausgrenzung auszuarbeiten und vorzulegen. Die
Durchführung des Europäischen Jahres gegen Armut
und soziale Ausgrenzung in 2010 oder das regierungs-



gegebene Reden

Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

amtliche Kleinrechnen des menschenwürdigen Existenz-
minimums zeigen aktuell die Ignoranz der amtierenden
Regierung gegenüber den Problemen von Armut und so-
zialer Exklusion. Die praktische Politik der Haushalts-
konsolidierung wirkt – ganz im Gegenteil zum eigentlich
Notwendigen – noch armutsfördernd und ausgrenzend.
Mit den Maßnahmen des sogenannten Haushaltsbegleit-
gesetzes wird massiv bei den Ärmsten – insbesondere bei
Hartz-IV-Leistungs-Beziehenden – eingespart, während
Vermögende, Banken und Unternehmen geschont wer-
den. Um den Sozialabbau zu verschleiern, werden für
Kinder und Jugendliche im Rahmen des angepriesenen
Bildungspakets ein paar Gutscheine verteilt. Die Bun-
desregierung spaltet durch solche Maßnahmen willent-
lich und wissentlich die Gesellschaft. Aktuell haben ja
auch gerade eben die UN Deutschland für ihre schweren
Versäumnisse in der Sozialpolitik – beispielsweise die
anhaltend hohe Kinderarmut, die Ausgrenzung von Mig-
rantinnen und Migranten sowie Asylberwerberinnen
und Asylberwerbern oder die unzureichende Existenzsi-
cherung durch Hartz IV – massiv kritisiert und endlich
wirksame Maßnahmen eingefordert.

Vor diesem Hintergrund strebt Die Linke eine Umver-
teilung der materiellen Ressourcen von oben nach unten
an und will soziale Sicherheit und Teilhabe am gesell-
schaftlich geschaffenen Reichtum sowie eine langfris-
tige Lebensperspektive für alle realisieren.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712040900

Es ist gut, dass sich nun auch die Linksfraktion dem

Thema „Armuts- und Reichtumsbericht“ widmet. Wie
schon in meiner Rede zum Antrag der SPD aus dem Fe-
bruar dieses Jahres betont, ist es wichtig, die Daten-
grundlage für den Bericht zu erweitern, die Daten des
sozio-oekonomischen Panels zu verwenden sowie die
Reichtumserfassung zu verbessern. Good Governance
ist erst auf der Grundlage einer ausgewogenen und voll-
ständigen Berichterstattung möglich. Zwar ist die un-
gleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen auf-
grund der Wirtschafts- und Finanzkrise in den letzten
Jahren etwas zurückgegangen. Mittlerweile wachsen die
Einkommen und Vermögen im obersten Bereich aller-
dings wieder überproportional. Die erwarteten wirt-
schafts- und haushaltsstrukturellen Veränderungen
werden vor dem Hintergrund der demografischen Ent-
wicklung aller Voraussicht nach einen weiteren Anstieg
der Einkommens- und Vermögensungleichheit nach sich
ziehen.

Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den Syste-
men sozialer Sicherung zu. Sie können bei entsprechen-
der Ausgestaltung einen wesentlichen Beitrag zur so-
zialen Gerechtigkeit leisten. Die bundesdeutschen
Sozialversicherungssysteme stehen ihrerseits jedoch vor
diversen Herausforderungen. Nicht nur die demografi-
schen Veränderungen setzen die Systeme unter Druck.
Immer wieder wird das angeblich zu hohe Leistungsni-
veau kritisiert. Dabei ist soziale Sicherung in Deutsch-
land heute viel mehr als die klassische Sozialversiche-
rung Bismarck’scher Prägung, die zuvörderst eine
Antwort auf die Bedürfnisse der sich entwickelnden In-
dustrie darstellte. Letztere war zunehmend auf verlässli-
Zu Protokoll
che Arbeitskräfte angewiesen, die ohne eine Absiche-
rung gegen das elementare Risiko „Erwerbsunfähigkeit
durch Krankheit oder Unfall“ nicht dauerhaft zu binden
waren. Nicht zufällig markieren die Kranken- und Un-
fallversicherung den Beginn des gegliederten Systems
der sozialen Sicherung in Deutschland.

Das heutige System der sozialen Sicherung be-
schränkt sich nicht mehr allein auf ein System von Lohn-
ersatzleistungen. Der moderne Wohlfahrtsstaat stellt mit
seinem breit gegliederten Sozialrechtssystem aus Ent-
schädigung, Vorsorge, Förderung und Hilfe längst eine
wesentliche Voraussetzung für soziale und wirtschaftli-
che Entwicklung dar. Leider ist diese Erkenntnis der
Produktivitäts- und Stabilisierungsfunktion sozialer
Sicherung in den letzten Jahren in den Hintergrund ge-
treten. Es ist seit geraumer Zeit von einer Krise des So-
zialstaats die Rede, die weniger die – in der Tat zu kriti-
sierende – Institutionenfokussierung in den Blick nimmt
als vielmehr die fiskalischen Auswirkungen eines angeb-
lich zu hohen Leistungsniveaus. Die Senkung der Sozial-
abgaben ist dabei zu einem neuen Mantra wirtschaftli-
chen Wachstums und der Arbeitsplatzschaffung
geworden. Außerdem wirkten sich, so die Gegner eines
angeblich überbordenden Sozialstaats, soziale Transfers
wettbewerbsverzerrend und letztlich hemmend auf Leis-
tungsanreize aus. Eine solch einseitige Diskussion über
die kurzfristigen Kosten reduziert die Sozialpolitik nicht
nur auf die Gewährung von Lohnersatzleistungen. Sie
zeigt dabei auch, dass Systeme sozialer Sicherung einem
enormen Rechtfertigungsdruck unterliegen, mit dem es
sich gilt, stets aufs Neue auseinanderzusetzen.

Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Sozial-
ausgaben die Risikobereitschaft und damit auch das
wirtschaftliche Wachstum positiv beeinflussen. Auch
jüngste Studien der Prognos AG aus dem Jahr 2009 zu
Kosten und Nutzen medizinischer Rehabilitation, eine
Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus
dem Jahr 2010 zur beruflichen Rehabilitation in den
deutschen Berufsbildungswerken, BBW, sowie eine Un-
tersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin, WZB, aus
diesem Jahr zu den Wohlfahrtsverlusten aufgrund man-
gelnder beruflicher Qualifikation von Jugendlichen be-
legen den volkswirtschaftlichen Investitionscharakter
von Sozialausgaben. Die wissenschaftliche Auseinan-
dersetzung sowie das Bewusstsein hierüber sind aller-
dings sehr überschaubar. Auch die vergleichende Wohl-
fahrtsforschung, bei der Wohlfahrtsstaaten oft nur von
ihrer Leistungsseite betrachtet werden, tut sich mit den
wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Sozial-
politik recht schwer. In der Folge ist und bleibt es
schwer, sich gegenüber solchen Kräften zu behaupten,
die soziale Leistungen vorrangig als Kostenfaktor
brandmarken.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, auf der Grund-
lage einer die Realität abbildende Armuts- und Reich-
tumsberichterstattung die sozialen Sicherungssysteme
im Sinne zu stärken und gegen Angriffe zu verteidigen.
Allerdings überfrachtet der Antrag der Fraktion Die
Linke die Armuts- und Reichtumsberichterstattung mit
ihren parteipolitischen Forderungen. Würde man die-
sem Vorschlag folgen, würde der Armuts- und Reich-



gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

tumsbericht eher geschwächt als gestärkt. Eine Bericht-
erstattung, die sich dem Verdacht aussetzt, tendenziös zu
sein, kann keine politische Durchschlagskraft entfalten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712041000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/6389 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 46 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Cornelia Möhring, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Arbeit familienfreundlich gestalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

„Kinder, Küche und Karriere“ – Vereinbar-
keit für Frauen und Männer besser möglich
machen

– Drucksachen 17/3189, 17/3203, 17/5088 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel)

Caren Marks
Miriam Gruß
Jörn Wunderlich
Katja Dörner

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eines der

wichtigsten Themen zurzeit und mit dem demografischen
Wandel und dem damit einhergehenden Fachkräfteman-
gel wird es in den kommenden Jahren noch ein viel be-
deutenderes Thema werden. Deshalb freut es mich sehr,
dass das Bewusstsein dafür in den Unternehmen merk-
lich gestiegen ist, und das nicht nur aus altruistischen
Gründen. Unsere Firmen kalkulieren hart und haben
verstanden: Familienfreundlichkeit zahlt sich aus – ge-
rade in Zeiten des Fachkräftemangels. So bestätigen
vier von fünf Unternehmen, dass Familienfreundlichkeit
konkrete betriebswirtschaftliche Vorteile bringt. Dazu
passen die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage
unter Arbeitnehmern, die besagt, dass vier von fünf sich
vorstellen können, für eine verbesserte Vereinbarkeit
von Familie und Beruf den Arbeitgeber zu wechseln.

Ob Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Telearbeit, Be-
triebskindergärten oder sei es nur der Bügelservice, der
die Hemden und Anzüge wieder herrichtet: Bundesweit
erleben wir, wie sich unsere Firmen auf familiäre Be-
dürfnisse einstellen, landauf und landab. Diese freiwil-
lige Selbsterkenntnis ist es, die wir meiner Meinung
nach nicht durch überzogene Gesetze erdrücken dürfen.
Ich sage das mit Blick auf die Vorschläge der Linken in
ihrem Antrag. Ein Kündigungsschutz bis zur Vollendung
des sechsten Lebensjahres eines Kindes ist schlichtweg
übertrieben. Wir sollten Politik immer an den realisti-
schen Bedingungen vor Ort und am Machbaren ausrich-
ten. Das hilft den Menschen, überzogene politische For-
derungen hingegen helfen niemandem.

In den vergangenen Jahren hat sich bei der Verein-
barkeit von Familie und Beruf einiges getan, zum Bei-
spiel bei der Gewährleistung einer möglichst guten Be-
treuungsinfrastruktur. Ich weiß sehr gut, wovon ich
spreche; denn das Thema ist bei mir im ländlichen Raum
besonders aktuell.

Die Bundesregierung hat viel Geld in die Hand ge-
nommen, um ein hohes Versprechen einlösen zu können:
den gesetzlich garantierten Anspruch auf einen Platz in
einer Kita ab dem Jahre 2013. Wir arbeiten mit Hoch-
druck daran, dieses Ziel zu erreichen. Und ja, es gibt
Unterschiede zwischen den Ländern beim Ausbau der
Betreuungsplätze. Aber es liegt nicht am Bund, dass ei-
nige Länder hinterherhinken. Werden die Mittel wie ge-
plant eingesetzt, dann sind auch Fortschritte zu sehen.
Auf Platz eins beim Ausbau liegt mein Heimatland, das
Saarland, trotz bekanntermaßen knapper Kassen. Es
geht also, wenn man will. Gemeinsam können wir das
Ziel 2013 erreichen.

Eine umfassende Betreuungsinfrastruktur alleine
reicht aber noch nicht aus. Merklich verbesserte Famili-
enfreundlichkeit, diese umfasst auch noch andere Maß-
nahmen. Der Ausgangspunkt muss dabei immer die indi-
viduelle Situation des Arbeitnehmers vor Ort sein.
Daraus leiten sich die nächsten Schritte ab: die gemein-
same Organisation von Babypausen, Fortbildungsange-
bote während der Elternzeit oder konkrete Unterstützung
beim Wiedereinstieg in den Beruf nach der Babypause.
Hinzu kommt immer mehr die Vereinbarkeit von Pflege
und Beruf. Die geplante Familienpflegezeit ist ein Vor-
zeigestück an Flexibilität und Praxisnähe, an dem deut-
lich wird, wie sich die anfangs genannten Zeitkonflikte
auflösen lassen, wenn alle Beteiligten zusammenarbei-
ten.

Auch um die flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten
werden wir nicht herumkommen. Bislang kennen wir vor
allem Vollzeit und Halbzeit. Junge Familien empfinden
hingegen eine Arbeitswoche von 30 bis 35 Stunden als
optimal. Weshalb sollte man das und andere innovative
Modelle nicht aufgreifen? Das Familienministerium tut
dies mit der Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“
gemeinsam mit der Wirtschaft – eine lohnenswerte Al-
ternative.

Die Wirtschaft ist – anders als in diesem Hause von-
seiten der Opposition oftmals dargestellt – ebenfalls an
Kooperationen interessiert. So bündeln Spitzenverbände
der deutschen Wirtschaft, Gewerkschaften und Stiftun-
gen ihre Erfahrungen im Unternehmensprogramm „Er-
folgsfaktor Familie“. Die erfolgreichen Unternehmen
werden dann mit dem Audit Beruf und Familie zertifi-
ziert und sind damit auch Vorbild für andere – eine

Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)

nachhaltige und gute Initiative, der sich hoffentlich noch
viele Unternehmen anschließen werden!

Gleichzeitig liegt es aber auch an jedem einzelnen
Arbeitnehmer, initiativ zu werden und sich für die Ver-
besserung seiner Situation einzusetzen. Für Frauen, die
nach einer längeren Erwerbspause wieder ins Berufsle-
ben eintreten wollen, hat das Familienministerium das
Aktionsprogramm „Perspektive Wiedereinstieg“ entwi-
ckelt und jüngst noch verbessert. Auf dem neuen Inter-
netportal können sich Frauen und Familien noch leich-
ter darüber informieren, wie ein Wiedereinstieg ins
Berufsleben am besten organisiert werden kann und in-
wieweit er sich für die Familie auszahlt. An dieser Stelle
wollen wir weiterarbeiten und den Wiedereinstieg ins
Berufsleben erleichtern.

Alle Regelungen und Verpflichtungen, alle Gesetze,
Vorschriften und Hilfestellungen werden die Familien
nicht dauerhaft glücklicher machen, solange sich nichts
an der Einstellung ändert: an der Einstellung der Mitar-
beiter, der Chefs und im Ganzen der Gesellschaft, was
den Stellenwert von Familienfreundlichkeit in unserer
Arbeitswelt angeht.

Meiner Meinung nach werden diese weichen Fakto-
ren besonders bei unserer Anwesenheitskultur deutlich.
Denn solange die junge Mutter oder der junge Vater be-
lächelt oder schief angeschaut wird, wenn sie oder er um
17 Uhr das Büro verlässt, um sich um die Kinder zu
kümmern, so lange werden sich junge berufstätige El-
tern nicht akzeptiert fühlen. Familienfreundlichkeit darf
nicht nur proklamiert werden, sie muss gelebt und vor-
gelebt werden.

Ich ende mit eine positiven Nachricht: Im Juni lief die
Meldung über die Ticker, dass immer mehr Väter Eltern-
zeit nehmen. Besonders in Sachsen und in Bayern ist die
Auszeit vom Beruf zur Unterstützung der Familie sehr
beliebt. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel dafür, dass
sich etwas tut in Sachen Familienfreundlichkeit. Und
vielleicht dringt diese Nachricht auch bis in die Reihen
der Opposition vor. Ich würde das jedenfalls sehr begrü-
ßen.


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1712041100

Wieder einmal diskutieren wir die Schwierigkeiten für

Frauen und Männer, Familie und Beruf besser vereinba-
ren zu können. Fakt ist: Nach wie vor sind wir in
Deutschland von einer guten Vereinbarkeit sowie einer
partnerschaftlichen Aufteilung von Erwerbs- und Fami-
lienarbeit weit entfernt. Aber genau diese brauchen wir.
Unser Ziel muss es daher sein, Frauen ökonomische
Unabhängigkeit und Chancengleichheit im Beruf zu er-
möglichen und Männern mehr Familienzeit zu geben.
Vereinbarkeit heißt eben nicht entweder Familie oder
Beruf, sondern beides.

Als Erstes ist dazu sicherlich ein Wandel der Arbeits-
kultur notwendig, hin zu mehr Familienfreundlichkeit
und einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und
Männern am Arbeitsmarkt. Die Gleichstellung von
Frauen im Erwerbsleben muss endlich vorangehen. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat hierzu bereits im Februar
Zu Protokoll
2010 einen Antrag vorgelegt, Drucksache 17/821. Die
freiwillige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung
und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft im
Jahr 2001 hat keinen gleichstellungspolitischen Fort-
schritt gebracht. Sie ist kläglich gescheitert. Damit ist
der letzte Beweis erbracht: Es bedarf klarer gesetzlicher
Regelungen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung bleibt
allerdings weiterhin untätig.

Betrachten wir nur einmal die Frauenerwerbsquote.
Sie ist inzwischen auf weit über 60 Prozent gestiegen.
Aber bei genauem Hinsehen bleibt festzustellen, dass
das Arbeitszeitvolumen – das heißt die geleisteten Ar-
beitsstunden – trotz erhöhter Erwerbsquote von Frauen
sogar gesunken ist. Denn immer mehr Frauen sind in
Teilzeit beschäftigt oder haben Minijobs – häufig unge-
wollt, wie Umfragen zeigen. Unzureichende soziale Si-
cherung ist die Folge. Und junge Frauen sind zuneh-
mend – zu fast einem Drittel – befristet beschäftigt. Dies
entspricht aber nicht den Vorstellungen und Wünschen
junger Menschen.

Ökonomische Unabhängigkeit von Frauen heißt
auch, dass Arbeit gerecht bezahlt werden muss. Die Ent-
geltungleichheit zwischen Frauen und Männern bei glei-
cher und gleichwertiger Arbeit ist nicht länger hinzu-
nehmen. Jedes Jahr, am Equal Pay Day, wird auch
anhand der zahlreichen Aktionen deutlich: Wir brau-
chen endlich konkrete Lösungen. Notwendig sind
verbindliche gesetzliche Regelungen. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion hat bereits Eckpunkte für ein Entgeltgleich-
heitsgesetz verabschiedet.

Ein Wandel der Arbeitskultur ist auch notwendig im
Hinblick auf das Thema „Frauen in Führungspositio-
nen“. Wenige der gut ausgebildeten Frauen schaffen ei-
nen Aufstieg bis in die Führungsetagen, gar in die Auf-
sichtsräte und Vorstände von Aktiengesellschaften. Dies
zu ändern, dafür brauchen wir eine gesetzliche Quote
von mindestens 40 Prozent. Die geplante Besetzung im
Vorstand der Telekom mit zwei Frauen, wie sie diese Wo-
che angekündigt wurde, ist zu begrüßen. Aber sie ist
eben nicht mehr als ein Signal bzw. ein Tropfen auf den
heißen Stein.

Für eine wirklich bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf brauchen wir auch flexible familienfreundli-
che Arbeitszeitmodelle. Mütter wollen mehr und Väter
oft weniger arbeiten. Lassen Sie uns also über moderne
und innovative Arbeitszeitmodelle reden. Arbeitszeitmo-
delle wie die sogenannte Große Teilzeit mit circa
30 Stunden Wochenarbeitszeit für Männer und Frauen.
Verschiedene Lebensphasen bestimmen die Wünsche zu
Arbeitszeit und -volumen. Männer wie Frauen brauchen
endlich mehr Optionen, ihre Arbeitszeit an ihren Le-
benslauf anpassen zu können, die Arbeit kurzfristig un-
terbrechen und ohne Probleme zurückkehren zu können.
Das Sachverständigengutachten zur Erstellung des
Gleichstellungsberichts gibt der Bundesregierung viele
gute Lösungsvorschläge an die Hand. Jetzt ist die Bun-
desregierung aufgefordert zu handeln.

Leider ist Stillstand das Motto der Bundesregierung,
vor allem bei der Familienministerin. Die angekündigte
Weiterentwicklung des Elterngeldes – ein sinnvolles In-



gegebene Reden

Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)

strument zur besseren Vereinbarkeit – ist auf Eis gelegt.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich in diesem Zusam-
menhang, dass wir endlich andere Rahmenbedingungen
im Steuerrecht brauchen. Bisher zementiert dieses alte
Rollenbilder und trägt somit nicht zu einer besseren Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf für Männer und
Frauen bei. Anstelle des Ehegattensplittings müssen
Ehepartner zukünftig individuell besteuert werden. Die
Steuerklassenkombination III/V gehört abgeschafft. Bei
der Individualbesteuerung wollen wir Unterhaltsver-
pflichtungen der Ehegatten und entsprechende Be-
standsschutzregelungen berücksichtigen.

In den beiden vorliegenden Anträgen der Grünen und
der Linken, die wir heute abschließend debattieren, ist
die beschriebene Problemanalyse überwiegend zutref-
fend. Der notwendige Dreiklang von Zeit, Geld und In-
frastruktur in der Familienpolitik muss gelingen und mit
Leben gefüllt werden. Nach wie vor gibt es große Pro-
bleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil
es zu wenige, zu unflexible und nicht ausreichend lange
Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt. Die viel beschwo-
rene Wahlfreiheit existiert in der Wirklichkeit nicht. Wir
brauchen mehr Kinderbetreuungsangebote, vor allem
fehlen Krippenplätze und Ganztagsangebote in Kitas
und Schulen. Es ist wichtig, dass für jedes Kind ein be-
darfsgerechter und qualitativ hochwertiger Betreuungs-
platz zur Verfügung steht. Vor allem in den ersten Le-
bensjahren ihrer Kinder entscheidet sich für Eltern die
Verteilung der Familien- und Erwerbsarbeit für einen
langen Zeitraum. Deswegen ist der Ausbau der Betreu-
ungsplätze für Kinder unter drei Jahren von besonderer
Bedeutung. Denn nach wie vor kehren Mütter nur zu
14 Prozent nach der Geburt des ersten Kindes wieder
zurück in eine Vollzeiterwerbstätigkeit, Väter hingegen
kehren in der Regel nach kurzer Elternzeit zurück in ihre
Vollzeiterwerbstätigkeit.

Auch die steigende Zahl der älteren Menschen mit
Betreuungs- und Pflegebedarf erfordert neue Rahmen-
bedingungen in der Arbeitswelt und eine bedarfs-
gerechte Pflegeinfrastruktur. Betonen möchte ich: Pfle-
gearbeit ist eine gesamtgesellschaftliche und keine
ausschließlich private Aufgabe. Wo Pflegearbeit aber
familiär übernommen wird, muss dies gelingen können,
aber nicht mit einseitig den Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern übertragenem Lohnverzicht, den sich über-
haupt nur wenige leisten könnten. Vielmehr brauchen
Beschäftigte flexible Regelungen zur Arbeitszeitgestal-
tung, Rückkehrrechte in Vollzeit nach Arbeitszeitredu-
zierung, mit einem bezahlten kurzfristigen Freistellungs-
anspruch von zehn Tagen.

Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Män-
ner und Frauen effektiv zu verbessern, bleibt noch viel
zu tun. Lassen sie es uns gemeinsam voranbringen.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1712041200

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie liegt auch

der christlich-liberalen Regierungskoalition sehr am
Herzen. Wie die Grünen in ihrem Antrag richtig festhal-
ten, fehlen bislang immer noch ausreichende Betreu-
ungsplätze und teilweise flexible Arbeitszeiten.
Zu Protokoll
Aber: Wir tun sehr viel dafür, dies zu ändern! Und die
Zahlen sprechen für uns: Der Ausbau der Kinderbetreu-
ung bis 2013 kommt gut voran. Mein Bundesland Bay-
ern hat bereits all seine Investitionsmittel abgerufen –
wir sind damit Vorreiter im Ausbau der Kinderbetreu-
ung. Die Betreuungsquote ist um 118 Prozent gestiegen!
Aber auch die anderen Länder ziehen nach. Ich bin hier
sehr zuversichtlich.

Allerdings fällt vieles, was Sie ansprechen, in den Zu-
ständigkeitsbereich der Länder und Kommunen – die
Sprachausbildung in den Kindergärten beispielsweise.
Trotzdem leistet der Bund mit der Sprachförderung in
den 4 000 Schwerpunktkitas wichtige Arbeit. Die „Of-
fensive Frühe Chancen“ genauso wie das „Aktionspro-
gramm Kindertagespflege“ wirken.

Der Bund beteiligt sich mit 4 Milliarden Euro am
Ausbau einer bedarfsgerechten, qualitätsorientierten
Kindertagesbetreuung. Sie können uns also einiges vor-
werfen – Untätigkeit jedoch nicht! Im Gegenteil: Wir
engagieren uns in einem Maße für die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie wie noch keine Regierung zuvor.

Ich kann die Zielsetzung der beiden Anträge gut
nachvollziehen; auch wenn sie sich teilweise erübrigen.
Was ich nicht verstehen kann, ist die Staatsgläubigkeit,
die aus ihnen deutlich wird. Zum Antrag der Grünen: Es
braucht nicht unbedingt einen Rechtsanspruch auf
Ganztagesbetreuung! Lassen Sie uns erst einmal den
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz erproben, Nicht al-
les muss auf diesem Wege gelöst werden! Sie fordern
mehr Teilzeitlösungen für junge Eltern. Flexible Arbeits-
zeiten sind in der Tat ein wichtiger Punkt. Die Ergeb-
nisse des Familienmonitor 2010 zeigen: 60 Prozent der
Väter wollen mehr Zeit für ihre Kinder. Und Bertels-
mann stellte vor kurzem fest: Für sechs von zehn Deut-
schen ist der männliche Alleinverdiener ein Auslaufmo-
dell.

Wir setzen Anreize, um Teilzeitarbeit für Mann und
Frau attraktiver zu gestalten. Manche Eltern wollen
vielleicht 20, andere 25 Stunden arbeiten. Sie werden in
Zukunft die Möglichkeit dazu haben.

Dass dies funktioniert, zeigt ein Beispiel aus meiner
Heimat: Unternehmen wie MTU bieten ihren Mitarbei-
tern mehr als 50 verschiedene Arbeitszeitmodelle an.
Das ist bedarfsgerecht und entspricht den tatsächlichen
Bedürfnissen von Eltern. Die Unternehmen haben selbst
ein großes Interesse an einem familienfreundlichen
Klima. Sie wollen und müssen gute Angestellte halten.
Mehr Zwang und Bürokratie sind da aber der falsche
Weg. Was die Linke fordert, entbehrt wieder einmal jeg-
licher Wirtschaftskenntnis: Sechs Jahre Kündigungs-
schutz oder das Recht darauf, seine Arbeitszeiten selbst
zu setzen, wird Eltern nicht nützen, sondern nur scha-
den. Die Unternehmer vor Ort wissen meist am besten,
was ihre Angestellten brauchen, und schaffen passende
Lösungen. Als Regierung unterstützen wir diesen Pro-
zess.

Allerdings sollte unser Schwerpunkt nicht auf Teil-
zeitmodellen liegen. Wie Sie in allen Studien zum Fach-
kräftemangel in Deutschland nachlesen können, hat



gegebene Reden

Miriam Gruß


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland die höchste Quote von Frauen in Teilzeit-
beschäftigung in Europa – und dazu noch mit der ge-
ringsten Wochenstundenzahl! Wir müssen es daher noch
mehr Frauen ermöglichen, ihr Potenzial voll auszu-
schöpfen, auch wenn sie junge Kinder haben. 2011 muss
unser Ziel doch lauten, möglichst viele Menschen in Ar-
beit zu bringen.

Das bringt mich gleich zu zwei weiteren Punkten: Sie
fordern den Mindestlohn. Man kann es nicht oft genug
betonen: Politisch festgelegte Mindestlöhne bedrohen
Arbeitsplätze. Uns geht es aber darum, Arbeitsplätze zu
schaffen und zu sichern. Und das zeichnet uns aus: Wir
haben gegenwärtig den niedrigsten Arbeitslosenstand
seit langem!

Beide Anträge fordern die Verbesserung der Wieder-
einstiegsmöglichkeiten nach der Familienphase. Diesen
Ansatz teilen wir als schwarz-gelbe Regierung. Deshalb
legen wir auch ein umfassendes Wiedereinstiegspro-
gramm vor. Ein „Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle“,
wie in den zwei Anträgen gefordert, halte ich aber für
kontraproduktiv. Es darf doch nicht zu einem Risiko für
die Unternehmen werden, junge Menschen einzustellen.
Nein, Zwang ist der falsche Weg!

Eltern müssen die Wahlfreiheit haben, Familie und
Job nach ihren Vorstellungen vereinbaren zu können.
Dafür setzen wir uns mit ganzer Kraft ein. Die „bundes-
gläubigen“ Lösungen, die in den beiden Anträgen vor-
geschlagen werden, lehnen wir deshalb ab.

Wir wollen eine wirkliche „Vereinbarkeit“ von Beruf
und Familie – kein Gegeneinander von Wirtschaft und
Familien, sondern ein Miteinander. Alles andere geht
auch an der Wirklichkeit der Arbeitnehmer draußen vor-
bei.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1712041300

Trotz des 7. Familienberichtes liegen im Bereich der

Zeitpolitik wenig zielführende Vorschläge für die politi-
sche Ausgestaltung einer modernen Familienpolitik vor.
Noch immer ist eine Entscheidung für ein Kind eine Ent-
scheidung über die Erwerbstätigkeit der Frau. Erstaun-
lich in diesem Zusammenhang ist, wie intensiv in letzter
Zeit über eine familienfreundliche Gestaltung der Ar-
beitswelt geredet wird. Es werden Allianzen für Fami-
lien ins Leben gerufen, es finden sich Impulsgruppen
von Wirtschaft, über Gewerkschaft bis hin zu wissen-
schaftlich begleiteten Initiativgruppen. Es werden Stu-
dien, Expertisen und Beraterverträge in Auftrag gege-
ben, siehe Drucksache 17/6032, Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Was aber ist konkret passiert bzw. was soll noch kon-
kret passieren? An dieser Stelle sei mir ein Rückblick ge-
stattet: Am 12. Dezember 2007 hat meine Fraktion den
Antrag „Arbeit familienfreundlich gestalten – Verein-
barkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter leb-
bar machen“ – Drucksache16/7482 – eingereicht. 2008
wurde er im Ausschuss bearbeitet, am 5. März 2009 im
Plenum diskutiert und abgestimmt. Sie alle haben er-
wartungsgemäß – in gewohnter Manier – den Antrag
Zu Protokoll
abgelehnt. Die Gründe für ihre Ablehnung lassen sich
wie folgt fassen: Die Forderung, die Arbeitswelt fami-
lienfreundlich zu gestalten, könne man noch unterstüt-
zen. So weit, so gut; aber den im Antrag geforderten
Maßnahmen zum Kündigungsschutz, zur Berufsrückkehr
und zur Arbeitszeitgestaltung könne man nicht folgen.

Am 6. Oktober 2010 hat meine Fraktion erneut einen
Antrag – Drucksache 17/3189: „Arbeit familienfreund-
lich gestalten“ – eingereicht. Im Ausschuss wurde er am
16. März 2011 von CDU/CSU und FDP abgelehnt. SPD
und Grüne haben sich diesmal der Stimme enthalten.
Das ist interessant. Auch ein entsprechender Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wurde von der Koali-
tion abgelehnt.

Die CDU/CSU kommt in der Begründung ihrer Ab-
lehnung unseres Antrages zu dem Schluss – ich zitiere
aus Drucksache 17/5088 –: „Der im Antrag zum Aus-
druck kommende Staatsdirigismus“ wird abgelehnt.
Weiter: „Es erscheint beispielsweise sehr fraglich, ob
man jungen Eltern mit einem Kündigungsschutz von
sechs Jahren tatsächlich nützt oder eher schadet.“ Die
FDP bemängelt dagegen in unserem Antrag eine imma-
nente Bundesgläubigkeit. Der Bund könne nun einmal
nicht alles regeln. Die Forderung nach Einführung eines
Mindestlohnes wird strikt abgelehnt.

Das Kuriose an der ganzen Sache erschließt sich mir
in der Antwort der Bundesregierung auf die schriftlich
eingereichte Frage meiner Fraktion – ich zitiere –:

Anknüpfend am hohen Bedarf berufstätiger Eltern
hat das BMFSFJ in Kooperation mit dem Deut-
schen Industrie- und Handelskammertag am
29. Oktober 2010 die Initiative „Familienbewusste
Arbeitszeiten“ gestartet. Damit werden Arbeitgeber
motiviert und dabei unterstützt, mehr flexible und
familienfreundliche Arbeitszeitmodelle anzubieten,
die Müttern mehr Karrierechancen und Vätern
mehr Familienzeit ermöglichen.

Dazu passt dann auch noch der O-Ton der Bundes-
ministerin Kristina Schröder – ich zitiere –: „Zeit ist die
Leitwährung moderner Familienpolitik“. Hört, hört!
Welche interessante Wende in der politischen Argumen-
tation.

Die in diesem Zusammenhang unterzeichnete Charta
für familienbewusste Arbeitszeiten zwischen der Bun-
desregierung, den Spitzenverbänden der Wirtschaft und
den Gewerkschaften soll im Frühjahr 2013 Bilanz zie-
hen. Was soll man davon halten, frage ich Sie?

Mein Fazit zu Ihren politischen Spitzfindigkeiten und
Taktiken – ich wiederhole mich ungern, aber an dieser
Stelle ist es angebracht –: Wenn wir, die Linke, mit Ge-
duld abwarten, dann finden sich unsere Forderungen in
Ihren Anträgen wieder. Genau dies habe ich Ihnen schon
einmal nachweisen können, und ich werde nicht müde
dabei, es weiter zu tun. Immerhin, so kommen die Forde-
rungen der Linken doch zum Zuge, wenn auch zeitver-
setzt. Wir sind halt der Zeit immer ein wenig voraus.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1712041400

„Wir wollen familien- und kinderfreundliche Rah-

menbedingungen durch eine familienfreundliche Kultur
und Infrastruktur sowie eine familiengerechte Arbeits-
welt schaffen.“ Das ist nicht etwa ein Zitat aus unserem
Antrag, sondern entstammt dem Koalitionsvertrag der

Erfahrungen mit freiwilligen Vereinbarungen ist auch
bei der im Februar 2011 unterzeichneten „Charta für fa-
milienbewusste Arbeitszeiten“ zu befürchten, dass es
sich dabei letztlich nur wieder um einen „zahnlosen Ti-
ger“ handelt. Eltern brauchen bezogen auf ihren Ar-
beitsplatz Planungssicherheit und Verlässlichkeit. Nach
Parteien, die unseren Antrag zur Förderung familien-
freundlicher Rahmenbedingungen und einer familienge-
rechten Arbeitswelt im Ausschuss abgelehnt haben.

Sicherlich können wir geteilter Auffassung sein, was
genau denn unter der Verbesserung von Rahmenbedin-
gungen für Kinder und Familien zu verstehen ist. Wir
Grünen gehen davon aus, dass die Durchsetzung des
Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz zentral ist, und wir
wollen, dass die Qualität dieser Kitaplätze verbessert
wird. Der Bericht der Bundesregierung zum Ausbau der
Kindertagesbetreuung belegt, dass der Personaleinsatz-
schlüssel vielerorts „unter fachlichen Gesichtspunkten
als bedenklich“ und als „verbesserungswürdig“ einzu-
stufen ist. Warum ihn dann nicht verbessern und damit
die Qualität der Kinderbetreuung steigern? An der man-
gelnden Erkenntnis liegt es offensichtlich nicht, viel eher
am politischen Willen.

Es ist absolut richtig: Für eine gute Vereinbarkeit von
Beruf und Familie braucht man Zeit, Infrastruktur und
Geld.

Zu familienfreundlichen Rahmenbedingungen gehört
dann auch die Weiterentwicklung des Teilelterngeldes.
Wenn heute beide frischgebackenen Elternteile nach der
Geburt eines Kindes in Teilzeit arbeiten, dann verlän-
gert sich der Bezugszeitraum des Elterngeldes eben ge-
rade nicht. Verglichen mit einem Paar, bei dem ein El-
ternteil zu Hause bleibt und der andere weiter Vollzeit
arbeitet, bekommen diese Eltern insgesamt also weniger
Elterngeld. Das ist ungerecht und meiner Meinung nach
auch unzeitgemäß. Viele Eltern wollen sich Erwerbsar-
beit und Familienarbeit fair und partnerschaftlich tei-
len. Deshalb brauchen wir endlich ein flexibles Teil-
elterngeld ohne doppelten Anspruchsverbrauch.

Diese richtige Idee hatte die Ministerin ja auch schon
einmal, aber wie fast alle anderen familienpolitischen
Maßnahmen, die groß im Koalitionsvertrag angekündigt
waren, ist auch das auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-
schoben worden. Damit die Ministerin mit „mehr Ver-
einbarkeit“ einmal ernst machen könnte, darf sie eben
keine Ankündigungsministerin bleiben.

Trotz eines zunehmenden Problembewusstseins – auch
in der Bundesregierung – gibt es noch immer zahlreiche
Hindernisse auf dem Weg zu einer besseren Vereinbar-
keit von Beruf und Familie. Eltern benötigen neben guter
Infrastruktur eine familienfreundliche Arbeitswelt.

Leider setzt die Familienministerin hier statt auf so-
lide Regelungen auf politische Appelle. Angesichts der
der Elternzeit in erzwungener Teilzeit und auf einer we-
nig qualifizierten Stelle stecken zu bleiben – das ist ein
realer Erfahrungswert vieler junger Eltern, insbeson-
dere von Müttern. Deshalb ist es absolut überfällig, das
Recht auf Teilzeit, das wir heute schon im Teilzeit- und
Befristungsgesetz verankert haben, um ein Rückkehr-
recht auf eine Vollzeittätigkeit zu ergänzen. Gleichzeitig
halte ich die Forderung, die sachgrundlose Befristung
und die Befristung auf Probe abzuschaffen – auch im
Zusammenhang mit unserer heutigen Debatte –, für aus-
gesprochen wichtig und vielversprechend.

Es ist bedauerlich, dass unsere Vorschläge von den
Regierungsfraktionen so einfach vom Tisch gewischt
werden; dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass
die Regierung jedes Engagement in der Frage vermissen
lässt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1712041500

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/5088. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/3189 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen ange-
nommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3203. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Wir haben es vor 23 Uhr geschafft.


(Beifall)


Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 8. Juli 2011, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.