Protokoll:
17114

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 114

  • date_rangeDatum: 9. Juni 2011

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:52 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/114 Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 16, 28, 34 o sowie 35 c und d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung des Außenministers der Republik Kosovo, Herrn Enver Hoxhaj, und des Bot- schafters der Republik Kosovo, Herrn Dr. Vilson Mirdita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: Der Weg zur Ener- gie der Zukunft b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- eines Gesetzes zur Neuregelung energie- wirtschaftsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/6072) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Be- schleunigung des Netzaubaus Elektrizitäts- netze (Drucksache 17/6073) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 12955 C 12957 D 12957 D 13089 C 12958 D 12958 D Deutscher B Stenografisc 114. Si Berlin, Donnerstag I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Ulla Jelpke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Till Seiler und Tobias Lindner . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Rainer Brüderle zum ordentlichen Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss und zum stellvertretenden Mit- glied im Vermittlungsausschuss . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Birgit Homburger als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsa- men Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Herrn Dr. Jörg Bentmann als stell- vertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- nung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12955 A 12955 B 12955 B 12955 B 12955 B wurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes (Drucksache 17/6070) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12958 C undestag her Bericht tzung , den 9. Juni 2011 l t : in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts- rahmens für die Förderung der Stromer- zeugung aus erneuerbaren Energien (Drucksache 17/6071) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs 12958 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Fraktionen d CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwur er fs II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden (Drucksache 17/6074) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ (EKFG- ÄndG) (Drucksache 17/6075) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der klimage- rechten Entwicklung in den Städten und Gemeinden (Drucksache 17/6076) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung schiff- fahrtsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/6077) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- setzes zur Änderung des Atomgesetzes (Beendigung der Nutzung von Atom- kraftwerken zur kommerziellen Ener- gieerzeugung in Deutschland) (Drucksache 17/5931) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling- Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Atomausstieg bis 2014 – Für eine erneuerbare und demo- kratische Energieversorgung (Drucksache 17/6092) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 12959 A 12959 A 12959 A 12959 B 12959 B 12959 C Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion SPD: Die Energiewende gelingt nur mit KWK (Drucksache 17/6084) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rückstellungen der Atomwirt- schaft in Ökowandel-Fonds überführen – Sicherheit, Transparenz und ökologischen Nutzen schaffen, statt an Wettbewerbsver- zerrung und Ausfallrisiko festzuhalten (Drucksache 17/6119) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Ingrid Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Versorgungssicherheit transpa- rent machen – Keine Experimente mit ato- marer „Kaltreserve“ (Drucksache 17/6109) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12959 C 12959 C 12959 D 12960 A 12964 B 12967 A 12969 A 12971 C 12973 C 12975 A 12976 D 12978 D 12978 D 12981 A 12981 D 12982 C 12983 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 III Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Dr. Carsten Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing- Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Finanztransaktionsteuer in Europa einführen – Gesetzesinitiative jetzt vorlegen (Drucksache 17/6086) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung aufenthaltsrechtli- cher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa- kodex (Drucksache 17/6053) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 und zur Anpassung 12984 D 12987 B 12988 A 12988 B 12988 B 12989 D 12991 B 12993 A 12993 A 12994 D 12996 A 12996 D 12997 D 12999 C 13000 A 13001 D 13003 A 13004 D 13005 D 13007 A 13009 B 13010 C 13012 B des Chemikaliengesetzes und anderer Gesetze im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon (Drucksache 17/6054) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien über den Sitz des IRENA-Innovations- und Technologiezentrums (Drucksache 17/6039) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung der Meeresstrategie- Rahmenrichtlinie und zur Änderung des Bundeswasserstraßengesetzes (Drucksache 17/6055) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung und der Steuerverkür- zung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 17/6056) . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 4. Juni 2010 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- gierung der Turks- und Caicosinseln über den steuerlichen Informationsaus- tausch (Drucksache 17/6057) . . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 21. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik San Ma- rino über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informa- tionsaustausch (Drucksache 17/6058) . . . . . . . . . . . . . . . h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- gierung der Britischen Jungferninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informations- austausch (Drucksache 17/6059) . . . . . . . . . . . . . . . i) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines 13012 B 13012 C 13012 C 13012 C 13012 D 13012 D 13012 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Februar 2011 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Republik Ungarn zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver- mögen (Drucksache 17/6060) . . . . . . . . . . . . . . . . j) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Vierten, Fünften und Sechsten Änderung des Europäischen Überein- kommens vom 1. Juli 1970 über die Ar- beit des im internationalen Straßenver- kehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR) (Drucksache 17/6061) . . . . . . . . . . . . . . . . k) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Über- einkommens vom 4. August 1963 zur Errichtung der Afrikanischen Entwick- lungsbank (Drucksache 17/6062) . . . . . . . . . . . . . . . . l) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Übereinkommens vom 29. November 1972 über die Er- richtung des Afrikanischen Entwick- lungsfonds (Drucksache 17/6063) . . . . . . . . . . . . . . . . m) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Essen spielt man nicht – Spekulation mit Agrarrohstoffen eindämmen (Drucksache 17/5934) . . . . . . . . . . . . . . . . n) Antrag der Abgeordneten Omid Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Aussagekräfti- gen Abschlussbericht zur beendeten Be- teiligung deutscher Streitkräfte an der Operation Enduring Freedom vorlegen (Drucksache 17/6123) . . . . . . . . . . . . . . . . p) Zwischenbericht der Enquete-Kommis- sion Ethik und Recht der modernen Medi- zin: Organlebendspende (Drucksache 15/5050) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese, Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Die Integration der Sinti und Roma in Europa verbessern (Drucksache 17/6090) . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 A 13013 A 13013 A 13013 B 13013 B 13013 C 13013 C 13013 C b) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klare Regelungen für Inten- sivtierhaltung (Drucksache 17/6089) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Auf die Einführung des Betreuungsgel- des verzichten (Drucksache 17/6088) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: DDR-Altübersiedler und -Flücht- linge vor Rentenminderungen schützen – Gesetzliche Regelung im SGB VI veran- kern (Drucksache 17/6108) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bericht zum Ri- sikomanagement bei Lebensmittelkri- sen vorlegen (Drucksache 17/6107) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzteordnung (Drucksachen 17/5804, 17/6106) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Torsten Staffeldt, Dr. Martin Lindner (Berlin), Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Die Zukunftsfähigkeit der ma- ritimen Wirtschaft als nationale Auf- gabe (Drucksachen 17/5770, 17/6028 Buch- stabe a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e)–m) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276 und 277 zu Petitionen (Drucksachen 17/5919, 17/5920, 17/5921, 17/5922, 17/5923, 17/5924, 17/5925, 17/5926, 17/5927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 D 13013 D 13014 A 13014 A 13013 B 13014 C 13014 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 V Zusatztagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Agnes Malczak, Sylvia Kotting- Uhl, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers Group verhindern – Keine weitere Erosion des nuklearen Nichtverbreitungsregimes (Drucksachen 17/5374, 17/6139) . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 14: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Ergebnisse der Maritimen Konfe- renz und die Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die Bundesregierung Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Heider (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011 (Drucksachen 17/5125, 17/5196, 17/6105, 17/6146) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/6121) . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 13015 D 13016 A 13017 A 13018 A 13019 C 13020 D 13022 A 13023 A 13024 A 13025 A 13025 D 13027 A 13028 D 13030 A 13031 B 13031 B 13031 C 13033 C 13036 A 13037 C 13039 A 13040 C Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Ägyp- ten endgültig stoppen (Drucksache 17/5935) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Libyen endgültig stoppen (Drucksache 17/5936) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Syrien endgültig stoppen (Drucksache 17/5937) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Tune- sien endgültig stoppen (Drucksache 17/5938) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Oman stoppen (Drucksache 17/5939) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Jemen stoppen (Drucksache 17/5940) . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in die Verei- nigten Arabischen Emirate stoppen (Drucksache 17/5941) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Saudi- Arabien stoppen (Drucksache 17/5942) . . . . . . . . . . . . . . . 13042 B 13042 B 13042 C 13042 C 13042 C 13042 D 13042 D 13043 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 i) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Israel stoppen (Drucksache 17/5943) . . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Ma- rokko stoppen (Drucksache 17/5944) . . . . . . . . . . . . . . . . k) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in den Liba- non stoppen (Drucksache 17/5945) . . . . . . . . . . . . . . . . l) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Kuwait stoppen (Drucksache 17/5946) . . . . . . . . . . . . . . . . m) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Jorda- nien stoppen (Drucksache 17/5947) . . . . . . . . . . . . . . . . n) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Bahrain stoppen (Drucksache 17/5948) . . . . . . . . . . . . . . . . o) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Katar stoppen (Drucksache 17/5949) . . . . . . . . . . . . . . . . p) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Alge- rien stoppen (Drucksache 17/5950) . . . . . . . . . . . . . . . . q) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag 13043 A 13043 A 13043 B 13043 B 13043 C 13043 C 13043 D 13043 D der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen – Militärische Zusammenarbeit beenden – Atomwaf- fenfreie Zone befördern (Drucksachen 17/2481, 17/4508) . . . . . . . r) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Mit Transparenz und parlamentari- scher Beteiligung gegen die Auswei- tung von Rüstungsexporten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässig- keit konsequent aussetzen (Drucksachen 17/5054, 17/5039, 17/5204, 17/5823) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Elisabeth Winkelmeier- Becker, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU, der Abgeordneten Marlene Rupprecht, Petra Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD, der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Christian Ahrendt, Stephan Thomae, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP sowie der Abgeordneten Katja 13043 D 13044 A 13044 B 13045 B 13046 A 13047 D 13049 A 13049 B 13050 A 13050 B 13050 C 13051 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 VII Dörner, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen (Drucksache 17/6143) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Heidrun Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unterstützung für Opfer der Heimerzie- hung – Angemessene Entschädigung für ehemalige Heimkinder umsetzen (Drucksache 17/6093) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Straf- rechtsänderungsgesetzes – Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten (Drucksache 17/5933) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der Ver- einten Nationen gegen Korruption (Drucksache 17/5932) . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13053 C 13053 D 13054 A 13055 A 13056 C 13058 B 13058 C 13059 C 13060 C 13061 D 13062 A 13062 A 13062 D 13063 C 13066 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Inte- rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom 11. August 2006 und folgender Re- solutionen, zuletzt 1937 (2010) vom 30. August 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Drucksachen 17/5864, 17/6133) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/6134) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Fraktion der SPD: Die UN- Leitlinien für menschenrechtlich ver- antwortliches unternehmerisches Han- deln aktiv unterstützen (Drucksache 17/6087) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechtsrates nutzen (Drucksachen 17/5482, 17/6078) . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 13066 C 13067 C 13069 B 13070 D 13071 B 13071 C 13072 C 13072 C 13072 D 13073 D 13075 A 13076 A 13076 D 13077 C 13078 D 13080 D 13078 D 13079 A 13079 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Verein- ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicher- heitspräsenz (KFOR) und den Regie- rungen der Bundesrepublik Jugosla- wien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Drucksachen 17/5706, 17/6135) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/6136) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller- Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben), Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Barrierefreier Touris- mus für alle (Drucksache 17/5913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infek- 13083 A 13084 C 13085 B 13086 B 13087 A 13088 B 13083 C 13083 D 13089 D 13091 A 13091 D 13092 D 13093 D 13095 A 13114 C 13095 B tionsschutzgesetzes und weiterer Ge- setze (Drucksachen 17/5178, 17/6141) . . . . – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze (Drucksachen 17/5708, 17/6141) . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Besserer Schutz vor Krankenhaus- infektionen durch mehr Fachperso- nal für Hygiene und Prävention – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kran- kenhausinfektionen vermeiden – Tödliche und gefährliche Keime be- kämpfen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Prävention gegen Kranken- hausinfektionen verbessern (Drucksachen 17/4452, 17/4489, 17/5203, 17/6141) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen (Drucksache 17/5917) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf (Drucksache 17/6000) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verein- barkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern – Pflegende Bezugspersonen wirksam entlasten und unterstützen (Drucksache 17/1434) . . . . . . . . . . . . . . . 13095 C 13095 C 13095 C 13096 B 13096 C 13096 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 IX c) Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger- Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bezahlte Pflegezeit einführen – Organisation der Pflege si- cherstellen (Drucksache 17/1754) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszu- gehörigkeit (ÄVFGG) (Drucksache 17/2211) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sexuelle Men- schenrechte für Transsexuelle, Trans- gender und Intersexuelle gewährleisten – Transsexuellengesetz aufheben (Drucksache 17/5916) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwick- lung des Emissionshandels (Drucksachen 17/5296, 17/5711, 17/6124) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/6125) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novellierung des Finanzanlagenvermitt- ler- und Vermögensanlagenrechts (Drucksache 17/6051) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13096 D 13097 A 13097 A 13097 C 13097 D 13098 A 13099 B 13100 D 13102 C 13104 B Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Lambrecht, Petra Crone, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Cornelia Möhring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Öffnung der Ehe (Drucksachen 17/2113, 17/2023, 17/4516) . . Tagesordnungspunkt 20: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Ein- richtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsa- men Sicherheits- und Verteidigungs- politik der Europäischen Union (Drucksachen 17/5903, 17/6140) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine wirkungsvolle interparlamentari- sche Begleitung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon – zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (Drucksachen 17/5389, 17/5771, 17/6137, 17/6138) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Lothar Binding (Heidelberg), Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion 13105 B 13105 C 13105 D X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte in- digener Völker stärken - ILO-Konven- tion 169 ratifizieren (Drucksache 17/5915) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Ver- bot von Koka-Blättern – Für die völker- rechtliche Anerkennung als schützens- werte Kultur der indigenen Völker im Anden-Raum (Drucksache 17/6120) . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP). . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 16: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Belarus nach den Wahlen – Repressionen beenden (Drucksache 17/6144) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Sevim Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für die Demo- kratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei (Drucksachen 17/1101, 17/2025) . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 13106 B 13106 C 13106 D 13108 C 13109 B 13111 A 13112 A 13113 A 13116 B 13116 D 13117 A 13117 C 13118 C 13119 B 13120 A 13121 A Durchsetzung und Evaluation des Reise- rechts verbessern (Drucksachen 17/4041, 17/5562) . . . . . . . . . . Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Alphabetisierung und Grund- bildung in Deutschland fördern (Drucksache 17/5914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Adulte Stammzellforschung ausweiten, Forschung in der regenerativen Medizin voranbringen und Deutschlands Spitzen- position ausbauen (Drucksachen 17/908, 17/3618) . . . . . . . . . . . Eberhard Gienger (CDU/CSU). . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: a) Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weiterer 13122 B 13122 C 13124 A 13125 B 13126 A 13126 C 13127 C 13127 D 13128 C 13129 C 13131 A 13132 A 13132 D 13133 D 13135 A 13135 B 13135 D 13137 C 13138 C 13139 C 13140 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 XI Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit bekämpfen (Drucksache 17/5759) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verbot der Ein- fuhr, des Handels und der Verwendung von Steinprodukten, die durch ausbeu- terische Kinderarbeit hergestellt wur- den (Drucksache 17/5803) . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Barrierefreier Tourismus für alle (Tagesordnungspunkt 12 ) Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Besserer Schutz vor Krankenhausinfektio- nen durch mehr Fachpersonal für Hygiene und Prävention 13141 D 13141 D 13142 A 13143 C 13144 B 13145 D 13147 A 13148 A 13149 A 13150 C 13151 A 13151 C 13152 D 13154 B 13155 C 13156 D 13157 D – Krankenhausinfektionen vermeiden – Töd- liche und gefährliche Keime bekämpfen – Prävention gegen Krankenhausinfektionen verbessern (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP). . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen (Tagesordnungs- punkt 14) Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – Antrag: Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern – Pflegende Bezugs- personen wirksam entlasten und unterstüt- zen – Antrag: Bezahlte Pflegezeit einführen – Organisation der Pflege sicherstellen (Tagesordnungspunkt 15 a bis c) Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13158 D 13160 B 13161 B 13162 D 13164 B 13164 C 13165 C 13166 D 13167 D 13168 D 13169 C 13170 C 13171 C 13172 C 13173 B 13174 B 13175 A 13175 D 13176 C 13177 A XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fortentwicklung des Emissionshandels (Tagesordnungspunkt 17) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . . – Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicher- heitspolitik der EU (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU . . . . . . . . .13178 A 13190 A Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Gleichstellung eingetragener Lebenspart- nerschaften – Öffnung der Ehe (Tagesordnungspunkt 19) Ute Granold (CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Einrichtung einer Interparlamen- tarischen Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge- meinsamen Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik der Europäischen Union – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Für eine wirkungsvolle interparlamen- tarische Begleitung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon 13179 B 13180 C 13182 B 13182 D 13183 D 13184 C 13186 C 13187 D 13188 B 13189 A Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit (ÄVFGG) – Antrag: Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle, Transgender und Inter- sexuelle gewährleisten – Transsexuellen- gesetz aufheben (Tagesordnungspunkt 23 a und b) Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Belarus nach den Wahlen – Re- pressionen beenden (Zusatztagesordnungs- punkt 16) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13191 B 13192 B 13194 B 13195 B 13196 C 13197 B 13199 A 13200 B 13201 A 13201 C 13202 B 13203 A 13203 D 13204 D 13205 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 12955 (A) (C) (D)(B) 114. Si Berlin, Donnerstag Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13151 (A) (C) (D)(B) Vielerorts ist die Zugänglichkeit von Freizeit- und Kultureinrichtungen deutlich verbessert worden. Auch Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Danckert, Peter SPD 09.06.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 09.06.2011 Gleicke, Iris SPD 09.06.2011 Goldmann, Hans- Michael FDP 09.06.2011 Gruß, Miriam FDP 09.06.2011 Gunkel, Wolfgang SPD 09.06.2011 Höger, Inge DIE LINKE 09.06.2011 Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.06.2011 Kopp, Gudrun FDP 09.06.2011 Kramme, Anette SPD 09.06.2011 Kressl, Nicolette SPD 09.06.2011 Dr. Lotter, Erwin FDP 09.06.2011 Möller, Kornelia DIE LINKE 09.06.2011 Nahles, Andrea SPD 09.06.2011 Nink, Manfred SPD 09.06.2011 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.06.2011 Özoğuz, Aydan SPD 09.06.2011 Reichenbach, Gerold SPD 09.06.2011 Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 09.06.2011 Schlecht, Michael DIE LINKE 09.06.2011 Thönnes, Franz SPD 09.06.2011 Widmann-Mauz, Annette CDU/CSU 09.06.2011 Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 09.06.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Barrierefreier Tou- rismus für alle (Tagesordnungspunkt 12) Marlene Mortler (CDU/CSU): Barrierefreiheit ist eine Grundvoraussetzung für die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinde- rungen am gesellschaftlichen Leben. Diesen Satz kön- nen wir bestimmt alle dick unterstreichen. Und trotz- dem: Barrierefreies Reisen für alle ist und bleibt unser großes, noch unerreichtes Ziel. Dazu gehört die Zugäng- lichkeit von Gebäuden, öffentlichen Einrichtungen und Verkehrsmitteln. Denn wir wollen, dass möglichst alle Menschen selbstständig reisen können. Wer verbirgt sich hinter „alle“? Wir meinen Gehbehinderte und Rollstuhl- fahrer, Gehörlose, Sehbehinderte, Blinde und Menschen mit anderen Sinneseinschränkungen oder mit Lern- oder geistiger Behinderung. Barrierefreie Angebote kommen nicht nur Menschen mit dauerhaften Behinderungen zugute, sondern ebenso Familien mit kleinen Kindern und Kinderwagen, Men- schen mit vorübergehend eingeschränkter Mobilität so- wie älteren Menschen. Angesichts des demografischen Wandels wird dieser Aspekt noch weiter an Bedeutung gewinnen. Denn der Anteil älterer Menschen in unserem Land wird zahlenmäßig stark wachsen. Viele Tourismusanbieter und Verkehrsunternehmen haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend auf mo- bilitätseingeschränkte Gäste eingestellt und beispielhafte Angebote geschaffen. Viele Tourismusverbände und die Deutsche Zentrale für Tourismus weisen auf solche An- gebote hin. Das heißt wir beginnen nicht bei „null“. Eine gute Arbeit leistet auch die Nationale Koordinie- rungsstelle Tourismus für alle, NatKo. Sie legt großen Wert auf eine durchgehend barrierefreie touristische Ser- vicekette: von der Information und Buchung über die Anreise, Unterkunft bis zu Freizeit- und Kulturangebo- ten am Zielort. Gerade für Menschen mit Behinderungen ist eine detaillierte Reiseplanung mit verlässlichen Infor- mationen unverzichtbar. Wir setzen uns dafür ein, dass die Bundesregierung Projekte der NatKo auch weiterhin fördert und die NatKo bei ihrer Arbeit intensiv unter- stützt und begleitet. Besonders hervorheben möchte ich auch die Arbeits- gemeinschaft Barrierefreie Reiseziele in Deutschland, ein Verbund von Städten und Tourismusregionen, die ihre Angebote gemeinsam vermarkten und sich mit ihren Er- fahrungen für die Weiterentwicklung des barrierefreien Tourismus in ganz Deutschland einsetzen. Auch meine Heimat, das Fränkische Seenland, ist eine dieser Regio- nen mit Vorbildcharakter, ja sie gehört sogar zu den sechs Gründungsmitgliedern der Arbeitsgemeinschaft. 13152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Nationalparks und Naturparke richten sich auf behinderte Gäste ein. Dennoch haben Menschen mit Behinderungen es nach wie vor nicht einfach, wenn sie ihre Reisen planen und durchführen. Trotz vielfältiger Investitionen und In- formationen gibt es immer noch Handlungsbedarf bei den einzelnen Verkehrsträgern, touristischen Leistungsanbie- tern, im Gastgewerbe, bei der Vernetzung, Koordinierung und Vermarktung bestehender Angebote und trotz geziel- ter Qualifizierung auch noch bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Bundesregierung hat sich in ihren Tourismuspoli- tischen Leitlinien im Dezember 2008 zum umfassenden Ausbau der Barrierefreiheit bekannt und in den letzten Jahren auch mehrere Untersuchungen in Auftrag gege- ben. Dabei wurden die große wirtschaftliche Bedeutung und die enormen Potenziale dieses Marktsegmentes deutlich. So werden jährlich circa 2,5 Milliarden Euro Umsatz durch Urlaube von behinderten Menschen er- wirtschaftet. Wir wollen, dass Barrierefreiheit zu einem Qualitäts- merkmal des Deutschlandtourismus wird. Hier gibt es bereits viele gute beispielhafte Ansätze in ganz Deutsch- land, die wir weiter ausbauen müssen. Die Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie bei den Leistungsanbietern ha- ben ihre Verantwortung erkannt und arbeiten an der Um- setzung der vielfältigen Verbesserungsmöglichkeiten. Wir erleben in jeder Sitzung des Tourismusausschusses, dass jeder Fraktion dieses Thema eine Herzensangelegenheit ist. Darüber freue ich mich sehr. Das sage ich auch aus ei- gener Erfahrung. Ich bin mit meinem Zwillingsbruder aufgewachsen, und wir beide waren schwer an Kinderlähmung erkrankt. Ich hatte Glück und die Erkrankung war eines Tages ein- fach wieder weg. Was geblieben ist, ist der Einblick in die Situation und die Sorge, wie ich helfen und unterstüt- zen kann. Geblieben ist auch das Bedürfnis, meinen Bei- trag für Verbesserungen zu leisten. Geprägt durch meine eigene Kindheit kann ich mich viel intensiver in die Lage von behinderten Menschen hineinversetzen. Der vorliegende Antrag der SPD spricht viele richtige Punkte an. Wir hätten uns aber auch eine stärkere Würdi- gung der umfangreichen Anstrengungen und Ergebnisse gewünscht, die wir doch alle täglich selbst im Alltag er- leben. Es zeigt sich wieder einmal, dass man es sich in der Opposition sehr leicht machen kann mit Forderun- gen, ohne sich gleichzeitig wirklich ernsthaft Gedanken um die Finanzierung zu machen. Beispielsweise ignoriert die Forderung nach einer um- fassenden Barrierefreiheit im Bahnverkehr, dass die Deutsche Bahn AG bereits seit längerem intensiv daran arbeitet: Von insgesamt 5 700 Bahnhöfen sind bisher 2 000 Bahnhöfe barrierefrei umgebaut, pro Jahr kommen weitere 100 Bahnhöfe dazu. Aus lokaler oder touristi- scher Sicht kann man sich sicherlich manchmal eine an- dere Priorität der Maßnahmen im Einzelfall vorstellen. Auch ich wünschte mir, dass es viel schneller ginge. Aber man muss auch die finanziellen Grenzen realistisch se- hen. Ich habe mich selbst immer wieder für den zügigen Umbau der Bahnhöfe in meinem Wahlkreis eingesetzt. Am Ende zählen aber nur das Ganze und die Realität. Dies gilt auch für die Forderung, dass in allen Zügen eine fahrzeuggebundene Ein- und Ausstiegstechnik vor- handen sein soll. Das teile ich. Eine Umrüstung aller jet- zigen Züge ist aber finanziell nicht zu stemmen. Bei den nächsten Zuggenerationen, die voraussichtlich in weni- gen Jahren zum Einsatz kommen werden, sind solche Ein- stiegshilfen dann ganz selbstverständlich. Das ist doch auch eine gute Botschaft. Seit dem März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskon- vention auch für Deutschland verbindlich. Diese Konven- tion und der zur Umsetzung von der Bundesregierung entwickelte nationale Aktionsplan sollte auch in Land- kreisen und Kommunen beachtet und ernst genommen werden. Fragen Sie doch einmal vor Ort nach, was in Ih- ren Kommunen zur Umsetzung getan wird. In meinem Landkreis ist das vorbildlich. Alle Akteure ziehen an ei- nem Strang. Hier ist das Bewusstsein unten angekom- men. Dabei geht es nicht immer nur um neue Gesetze, Ver- ordnungen, Regulierungen und teure Investitionen. Häu- fig ist schon sehr viel mit einer klaren und gut lesbaren Kennzeichnung und einer deutlich sichtbaren Ausschil- derung der vorhandenen Möglichkeiten geholfen. Immer wieder zeigt sich, dass erst eine Einbindung von behin- derten Menschen und ihrer Interessenverbände Schwach- stellen vor Ort auch in kleinen, aber entscheidenden De- tails aufdeckt, die man nur aus eigener Erfahrung erkennen kann. Deshalb ist die Funktion der Behinderten- beauftragten zum Beispiel in meinem Landkreis ein gro- ßer Gewinn für alle, im Sinne eines barrierefreien Touris- mus für alle. Wir werden uns in den Ausschussberatungen intensi- ver mit dem Antrag und den einzelnen Forderungen be- schäftigen. Ich bin mir sicher, dass wir in vielen Punkten und Zielen eine große Übereinstimmung haben. Ich glaube auch, dass wir dabei zum Ergebnis kommen wer- den, dass oftmals die Weichen bereits richtig gestellt sind. Lassen Sie uns diese Fragen realistisch angehen, vorhandene Initiativen weiter unterstützen und stärken und gemeinsam für mehr Barrierfreiheit für alle kämp- fen. Christian Hirte (CDU/CSU): Als Mitglied im Um- weltausschuss muss ich gestehen: Nach all den hekti- schen und aufgeregten Debatten dieser Tage freue ich mich, dass wir jetzt über ein Thema reden, bei dem es im Grunde etwas ruhiger zugeht und bei dem wir über alle Parteigrenzen hinweg immer sehr sachorientiert und oft gemeinsam Ziele verfolgen. Bei vielleicht keinem ande- ren Thema tun wir das so intensiv wie bei der Frage des barrierefreien Tourismus. Ich bin seit jetzt ziemlich ge- nau drei Jahren im Bundestag und auch Mitglied im Tou- rismusausschuss, und ich kann mich eigentlich an keine touristische Initiative erinnern, bei der wir nicht ganz be- sonders auch darauf hingewiesen hätten, dass Barriere- freiheit bei den Angeboten zu berücksichtigen sei. Ich denke da nur an den Antrag aus dem letzten Jahr, den Kulturtourismus zu fördern, oder auch an unsere Initiati- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13153 (A) (C) (D)(B) ven im Rahmen der Lutherdekade. Oder denken Sie an die Expertenanhörungen in unserem Ausschuss: Immer wieder adressieren Abgeordnete aller Fraktionen an die Vertreter, bei Barrierefreiheit weiter voranzugehen. Das zeigt doch, dass bei uns allen das Thema angekommen ist. Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es ge- winnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erle- ben wir alle miteinander täglich. Barrierfreiheit geht uns alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem Kinderwagen. Als Vater zweier kleiner Kinder kann ich davon ein Lied singen. Wir werden alle aber auch ir- gendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hö- ren schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf. Die demografische Entwicklung kommt hinzu und macht uns deutlich, dass das Thema immer mehr an Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird. Deshalb finde ich es im Grunde auch begrüßenswert, wenn wir nun einen konkreten Antrag diskutieren, der sich mit dem Thema auseinandersetzt. Denn uns allen ist klar, dass es immer noch viel zu tun gibt, nicht zuletzt deshalb – ich habe es erwähnt –, weil die Zahl der Be- troffenen größer wird. Ich muss allerdings auch sagen: Mein erster Eindruck beim Lesen Ihres Antrages, liebe Kollegen von der SPD, war: Das ist ein Steinbruch von allem, was man sich so wünscht und wie man sich die Welt gern zurechtzim- mern möchte. Vor ungefähr einem Jahr gab es aus der Fraktion der SPD eine Kleine Anfrage zum Thema „Her- stellung umfassender Barrierefreiheit“. Dort haben Sie einen Schwerpunkt bei Fragen zum Bauen und Wohnen gelegt. Deshalb kommen diese Aspekte wahrscheinlich auch nicht ganz zufällig jetzt hier recht prominent vor. Ich will aber gleich an dieser Stelle sagen: Ich halte es für etwas überambitioniert, was Sie alles gern durchge- setzt hätten. Wir werden dann im Ausschuss genügend Zeit haben, im Einzelnen Ihre Punkte zu beleuchten. Deshalb will ich es auf wenige Bemerkungen begrenzen. Sie haben einige Forderungen bezüglich des barriere- freien Reisens aufgestellt. Die Bahn solle etwa die An- gebote beim Einsteige-, Umsteige- und Ausstiegsservice ausbauen. Ich muss Ihnen sagen, meine Privatempirie ist eine andere. Wir beurteilen ja immer Politik und Bedarf nach dem, was an uns herangetragen wird und was wir so im Alltag erleben. Daher will ich Ihnen gern von einer Zusammenkunft in meinem Wahlkreis in der letzten Wo- che berichten. Es ging um einen barrierefreien Weg zu einem Bahnhof in meiner Heimatstadt Bad Salzungen. Seit vielen Jahren wird dort auf eine Lösung gedrängt; die Bahn wird jetzt bis 2013 einen Aufzug bauen. Das würde ich mir auch gern schneller denken, aber immer- hin, nun geht es endlich los. Unter anderem wurde auch gefordert, die Bahn solle mit mehr Personal beim Um- steigen helfen. Viele Politiker haben diskutiert und la- mentiert, und am Ende stand die Behindertenbeauftragte des Landkreises auf und sagte: „Seien wir doch froh, dass es nun endlich losgeht. Im Übrigen hat die Bahn bisher immer für jeden ein Hilfsangebot bieten können, wenn man sich vorher angemeldet hat.“ Ich will damit nicht sagen, dass alles super und per- fekt läuft, aber mitunter legen wir vielleicht auch einen Aktionismus an den Tag, der gar nicht angebracht ist, weil alle Beteiligten sich in der Praxis und im Alltag längst auch praktikable Lösungen ausgedacht haben. Wir wollen immer Bürokratieabbau, aber gleichzeitig fallen uns immer wieder tausend Dinge ein, bei denen der Staat handeln soll, bei denen neue Gesetze hermüssen, die dann natürlich auch wieder kontrolliert werden müssen. Manchmal ist es aber vielleicht tatsächlich ausreichend, auf die Kreativität und die Intelligenz der Menschen in der Praxis zu vertrauen. Dann fordern Sie zum Beispiel, die Regierung solle sich gegenüber den Ländern einsetzen, dass Kommunen Wege zu Haltestellen und Taxiständen barrierefrei hal- ten. Ich bin sehr für barrierefreie Wege überall. Aber das ist am Ende nicht mein Verständnis von Politik. Der Bund soll an die Länder herantreten, die an ihre Kom- munen, und dann soll was passieren? Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung sehen für mich anders aus. Im Übrigen gibt es doch vor Ort in den Kommunen zum Beispiel Behindertenbeauftragte, die genau diese Dinge im Blick haben, viel besser, als wir das hier vom grünen Tisch aus je haben können. Mir ist kein Bauprojekt be- kannt, bei dem man in den letzten Jahren bei Um- oder Neubau nicht genau auf diese Barrierefreiheiten geachtet hat. Dann fordern Sie zum Beispiel die Abstimmung „zwischen allen Akteuren aus Betroffenengruppen, Poli- tik, Tourismuswirtschaft und Verkehrsunternehmen“ – im Idealfall durch Runde Tische. Da muss ich doch sa- gen: Einbindung ist ja richtig und wichtig. Dafür haben wir Anhörungen, Stellungnahmen usw. Aber wir sollten auch die Kirche im Dorf lassen und Runde Tische nicht zur neuen Allzweckwaffe erklären. Was ist denn dann am Ende eigentlich noch die Aufgabe eines Parlaments? Die Regierung moderiert Runde Tische, und das Parla- ment steht noch bei der Einladung auf dem Briefbogen? Das ist einer der Punkte, bei denen Sie doch übers Ziel hinausschießen in Ihrem Antrag. Aber zurück zur Barrierefreiheit. Denken Sie doch gerade im Bereich des Bahnverkehrs an die Sonderpro- gramme im Rahmen des Konjunkturpaketes. Sie müssen nur einmal hier in Berlin schauen, an wie vielen Stellen gerade S- und U-Bahnhöfe mit Aufzügen versehen wer- den. Zeit wird es ja auch, aber in diesem Umfang mög- lich wurde es erst dank des Anstoßes der Bundesregie- rung und des Bundestags. Gerade für diese Beispiele möchte ich auch gern einmal Danke sagen an dieser Stelle, dass das auf den Weg gebracht werden konnte. Jeder von uns hat sicher weitere Beispiele aus dem ei- genen Wahlkreis, bei dem Bahnhöfe im Rahmen des Konjunkturpaketes ein Stück barrierefreier gemacht wurden. Wie gesagt, nichts, was nicht auch noch besser werden könnte. Aber alles auf einmal, alles möglichst ganz schnell geht eben leider auch nicht. Denn wir haben auch noch ein paar andere Aufgaben, vor denen wir ste- hen, in die wir investieren müssen. Den Haushalt wollen wir auch noch konsolidieren. Deshalb muss alles eben auch mit dem nötigen Augenmaß geschehen. 13154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Barrierefreiheit ist aber mehr als nur ebenerdiger Zu- gang und breite Wege für Rollstühle. Wir dürfen dann auch nicht andere Einschränkungen vergessen: Sehbe- hinderungen oder Hörgeschädigte. Ich will ganz offen sagen, dass ich mir insgesamt mehr Vorbildprojekte wünschen würde für wirklich umfassende Barrierefrei- heit. Im Tourismus würde das auch heißen, wir müssen die gesamte Leistungskette in den Blick nehmen, so wie es die Bundesregierung in ihren „Tourismuspolitischen Leitlinien“ 2009 benannt hat. Sie haben die Leistungs- kette in Ihrem Antrag auch erwähnt. Wir müssten also anfangen bei den Internetseiten, die barrierefrei sein müssten, über Ankunftsorte wie Bahnhöfe, Hotels, Mu- seen, Beschilderungen, Gehwege, Ausstellungsräume und und und. Sie sehen, das ist eine wirkliche Mammut- aufgabe. Deshalb gilt hier noch mehr: Nicht alles geht, nicht alles kann sofort passieren. Gerade der Tourismus lebt von Erfahrungen toller Best-Practice-Beispiele. Vielleicht schaffen wir es ja, in diesem Bereich eines wirklich umfassenden barriere- freien Tourismus einige Best-Practice-Beispiele auf den Weg zu bringen: Vorbilder schaffen, Modelle entwi- ckeln, die mit ihrem Erfolg dann andere anstecken kön- nen. „Wegweisende Modellprojekte fördern“ schreiben Sie am Ende Ihres Antrages. Das fände ich zum Beispiel spannend. Ich war am Montag gerade auf der Wartburg; dort wurde verkündet, dass 2017 im Jubiläumsjahr der Refor- mation eine nationale Ausstellung auf der Wartburg stattfinden wird. Auch in Berlin und Wittenberg wird es Ausstellungen geben. Auch Torgau zum Beispiel wird eine wichtige Rolle spielen, und viele andere Orte auch. Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir im Rahmen der vielen Projekte in der Lutherdekade – hier gibt der Bund auch jährlich 5 Millionen Euro – genau solche Projekte herausstellen: Ausstellungen, die zum Beispiel auch für Seh- und Hörgeschädigte barrierefrei sind, Wege von den Bahnhöfen in die Museen und Ausstellungsorte, die von allen Barrieren frei sind? So ein großes und langfris- tiges Ereignis wie die Lutherdekade wäre vielleicht ein tolles Vorzeigeprojekt wie vielleicht auch die vielen Kul- tureinrichtungen, die unter anderem vom Bund gefördert werden. Vielleicht kann es gelingen, dort einmal exem- plarisch an ein, zwei Beispielen solche vollumfassende Barrierefreiheit zu entwickeln. Der Antrag enthält einige Punkte, die ich wirklich spannend finde, bei denen eine Diskussion lohnt. Ich glaube aber, dass Sie an vielen Stellen zu viel zu schnell einfordern und auch manches unausgegoren ist. Beim Ziel Barrierefreiheit sind wir uns sicher völlig einig. Lassen Sie uns die Diskussion im Ausschuss nutzen, die Punkte einzeln durchzusprechen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Es ist sehr bedauerlich, dass wir unsere Reden zu diesem wichtigen Tagesord- nungspunkt heute wegen der fortgeschrittenen Zeit zu Protokoll geben müssen. Barrierefreiheit muss uns alle interessieren; denn jeder und jede von uns kann von ei- ner zur nächsten Minute hierauf angewiesen sein. Die SPD-Fraktion hat ein umfassendes Positions- papier mit Menschen mit Behinderungen und ihren Ver- einen und Verbänden erarbeitet, um Barrieren im tägli- chen Leben und in den Köpfen einzureißen. Heute debattieren wir über barrierefreien Tourismus. Wie kann Deutschland zum Reiseland für alle werden? Wie erreichen wir es, dass alle Menschen, ob alt oder jung, körperlich oder geistig eingeschränkt oder nicht, Urlaub in Deutschland machen können? Auf diese Fra- gen müssen wir Antworten geben. Die Herausforderun- gen sind gewaltig. Wir packen sie an und zeigen mit un- serer parlamentarischen Initiative Lösungswege auf. Urlaub in Deutschland wird immer beliebter, und der Tourismus bleibt Wirtschaftsmotor. Die aktuellen Zahlen des ersten Quartals 2011 machen das deutlich: 5,5 Pro- zent mehr Gästeankünfte und über 3 Prozent Zuwachs an Übernachtungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Aber viele Menschen, die gerne Urlaub machen würden, können es nicht, weil ihnen Wege oder Gebäude ver- sperrt sind, sie nicht in die Bahn kommen oder sich auf Plätzen und Bahnhöfen nicht orientieren können. Ich spreche von den rund 8 Millionen Menschen mit Behin- derungen in Deutschland – aber auch aus dem Ausland – und von Senioren und Kindern, die vor den unterschied- lichsten Barrieren stehen. Wir haben die Aufgabe, allen Menschen zu ermögli- chen, in unserem Land Urlaub zu machen. Das gibt auch die seit 2009 für Deutschland geltende UN-Behinderten- rechtskonvention vor. Sie ist ein Meilenstein auf dem Weg, Menschen mit Behinderungen gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die UN-Konvention zeigt gewaltigen Handlungsbedarf für den Tourismus auf. Um die Art. 9 und 30 der Konven- tion zu erfüllen und allen Menschen barrierefreien Zu- gang und die Teilhabe an Kultur, Erholung und Freizeit zu gewähren, müssen wir mehr als bisher leisten. Die vielen positiven Beispiele, die es schon gibt, ge- ben die Richtung vor. Vor einem Monat wurde der barrie- refreie Naturerlebnisraum des Nationalparks Eifel eröff- net. Unter Mithilfe der Nationalen Koordinationsstelle Tourismus für Alle, NatKo, wurde ein 4 Kilometer langer barrierefreier Rundwanderweg geschaffen: mit geringen Steigungen, die für Rollstuhlfahrer geeignet sind, Leit- streifen für blinde Menschen und Schulungen für Wald- führer. Auch Vorabinformationen sind für die Betroffe- nen wichtig. In meinem Wahlkreis Lübeck gibt es dazu seit letzter Woche einen Behindertenwegweiser, der online Piktogramme und weitere Informationen über Barrierefreiheit zu allen öffentlichen Einrichtungen be- reithält. Davon profitieren Ortsansässige und Touristen gleichermaßen. Solche Anstrengungen brauchen wir flä- chendeckend in der gesamten touristischen Servicekette. Dafür müssen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam mit der Tourismuswirtschaft und den Verkehrsunterneh- men sorgen. Das Potenzial eines barrierefreien Deutschlandtouris- mus ist längst bekannt. Die 2003 unter Rot-Grün vorge- stellte Leitstudie zeigt, dass mit dem Abbau von Barrie- ren im Deutschlandtourismus fast 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz möglich sind. Rund 90 000 Voll- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13155 (A) (C) (D)(B) zeitarbeitsplätze könnten damit geschaffen werden. Das Potenzial wird infolge des demografischen Wandels noch deutlich wachsen. Denn ältere Menschen mit Mo- bilitäts-, Seh- oder Hörproblemen profitieren ebenfalls von gut erreichbaren Hotels und Gaststätten, Museen und barrierefreien Verkehrsmitteln. Leider hinkt die Bundesregierung – wie in so vielen wichtigen politischen Fragen – hinterher. Der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts- konvention ist bis heute nicht verabschiedet, obwohl er bereits im März dieses Jahres vorliegen sollte. Der Ent- wurf des Aktionsplans lässt nicht viel Gutes hoffen für die Betroffenen, schon gar nicht im Bereich Tourismus. Dazu verliert der Entwurf gerade einmal neun magere Sätze. Die Bundesregierung verweist auf die Arbeit der Na- tionalen Koordinationsstelle Tourismus für alle. Gleich- zeitig lässt sie diese wichtige Institution für barriere- freien Tourismus offenbar am langen Arm verhungern. So wurden Projektanträge, auf die die NatKo angewie- sen ist, seit Herbst letzten Jahres weder bewilligt noch abgelehnt. Die SPD-Fraktion hat schon im Mai dieses Jahres ihr umfassendes Positionspapier vorgelegt, das im Gegen- satz zum Aktionsplan der Bundesregierung konkrete Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte von Men- schen mit Behinderungen vorsieht. Wir machen Nägel mit Köpfen und legen heute mit unserem Antrag einen Maßnahmenkatalog vor, um touristische Angebote für alle Menschen nutzbar zu machen. Wir brauchen einen vom Bund koordinierten Master- plan für barrierefreien Tourismus in Zusammenarbeit mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden. Dabei ist die Einbindung der Betroffenen bzw. ihrer Ver- bände unerlässlich. Die NatKo wollen wir zu einer ent- sprechenden Kompetenzstelle ausbauen. Wir wollen zu- dem mehr Verbindlichkeit, um barrierefreies Bauen zu gewährleisten. So sollte auch bei der Inneneinrichtung Barrierefreiheit berücksichtigt werden. Generell muss die Einhaltung durch unabhängige Stellen kontrolliert werden; denn Planungen werden oft verändert. Um schon von vornherein dafür zu sensibilisieren, sollte Barrierefreiheit Grundlage der Ausbildung von Architekten, Ingenieuren und Handwerkern werden. Bei Großveranstaltungen wie Messen und Kongressen kommt es darauf an, nicht nur den eigentlichen bauli- chen und den Servicebereich barrierefrei zu gestalten, sondern auch das Umfeld von der An- und Abreise bis zur Unterkunft. Wir müssen die Länder ins Boot holen, um zu erreichen, dass auch bestehende Gaststätten barri- erefrei werden. Um Gastwirte, Hotelbetriebe und andere touristische Anbieter beim barrierefreien Umbau zu un- terstützen, fordern wir ein entsprechendes Programm der KfW. Um die Anreize für die Wirtschaft zu erhöhen, muss Barrierefreiheit zu einem Vergabekriterium für Förder- mittel des Bundes bestimmt werden. Zudem sind mehr Anstrengungen und Verbindlichkeit für Barrierefreiheit im Schienenfernverkehr und ÖPNV notwendig. Die DB AG muss ihre Bahnhöfe generell barrierefrei umbauen. In allen Zügen muss fahrzeuggebundene Ein- und Aus- stiegstechnik vorhanden sein. Auch Dienstleistungen wie Fahrkartenkauf oder Reisebuchungen müssen barri- erefrei angeboten werden. Die Anbieter von barriere- freiem Tourismus benötigen ein effektives Marketing. Menschen mit Behinderungen müssen gute Informatio- nen finden, wo sie ihren Bedürfnissen entsprechend am besten Urlaub machen können. Deshalb setzen wir uns für ein bundesweit qualitätsgeprüftes Gütesiegel „Barri- erefreier Tourismus für alle“ ein und fordern eine stär- kere Vermarktung durch die Deutsche Zentrale für Tou- rismus. Der Einsatz für einen barrierefreien Tourismus in un- serem Land lohnt sich. Denn Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komforta- bel. Diese Erkenntnis muss zum Maßstab der Förderung von barrierefreiem Tourismus werden. Jens Ackermann (FDP): In Deutschland leben 8,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Diese Menschen gehören in die Mitte unserer Gesellschaft, und ihre aktive Teilhabe am Leben in unserem Land hat für uns oberste Priorität. Es ist für uns eine absolute Selbstverständlichkeit. Daher freue ich mich, heute zum Thema barrierefreier Tourismus sprechen zu dürfen. Schon im Koalitionsver- trag haben wir klargestellt: „Wir treten für eine tatsächli- che Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben ein. Unser Ziel ist, die Rah- menbedingungen für Menschen mit und ohne Behinde- rungen positiv zu gestalten. Voraussetzung hierfür ist un- ter anderem die Barrierefreiheit in allen Bereichen.“ Aber nicht nur daran kann man erkennen, wie wichtig dieses Thema schon früh für uns war und auch weiterhin ist. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass wir die Be- rücksichtigung der Barrierefreiheit bei allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Arbeitsprogramm des Beauf- tragten der Bundesregierung für den Tourismus, dem Kollegen und Parlamentarischen Staatssekretär Ernst Burgbacher, verankert haben. Das Signal ist klar: Der Bundesregierung ist dieses Thema ernst und wichtig. Sie hat zudem in zwei Studien aus den vergangenen Jahren die ökonomische Bedeutung des barrierefreien Touris- mus für alle in Deutschland untersucht und Erfolgsfakto- ren und Maßnahmen zu dessen Qualitätsverbesserung herausgearbeitet. Zu erwähnen ist aber auch die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“. Sie hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und engagiert sich für die Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den Regionen. Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Ver- marktung barrierefreier Tourismusangebote und Dienst- leistungen durch geeignete Projekte fördern. Dabei geht es unter anderem um Fragen der Kennzeichnung, der 13156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Entwicklung von Qualitätskriterien, der Schulung von Mitarbeitern entlang der gesamten touristischen Service- kette und der geeigneten Vermarktung. Es ist bereits deutlich geworden, aber ich will es nochmals betonen: Das Thema liegt uns am Herzen, es ist wichtig. Gerade deshalb ist es bedauerlich, dass der hier vorliegende Antrag der SPD nicht nur positiv zu be- trachten ist. So möchte die SPD – wie so oft – mit staat- lichen Sanktionen und Zwang ihre Ziele erreichen. Das kann und darf nicht unser Anspruch sein. Wir als Libe- rale setzen auf die Eigenverantwortung der Menschen – auch der Tourismuswirtschaft. Jedem kleinen Gastwirt ist doch klar, dass er keinen Nachteil davon hat, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älte- ren und Behinderten eingeht. Dennoch ist es unbestritten, dass öffentliche Bereiche zukünftig mindestens barrierearm sein müssen. So for- dern wir auch, bei den Bundesländern dafür zu werben, dass die Zielsetzung Barrierearmut bei Bestandsbauten und Barrierefreiheit bei Neubauten verwirklicht wird. Denn der öffentliche Bereich kann und muss Beispiel für den privaten wirtschaftlichen Sektor sein. Daher sind wir im privaten Bereich auch für weichere Kriterien und Richtlinien. Besser fänden wir es, Anreize zu schaffen. Wichtig dabei ist aber auch der konsequente Wechsel vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht auf um- fassende gesellschaftliche Teilhabe. Denn wirkliche Be- dürfnisse können nicht über den Kopf der Menschen mit Behinderungen konkretisiert werden. So spielen bei der Umsetzung von Barrierefreiheit die im Bundesgleichstellungsgesetz verankerten Zielverein- barungen eine große Rolle. Behindertenverbände kön- nen mit Verbänden und Unternehmen der Wirtschaft da- rin die Ziele zur Herstellung von Barrierefreiheit vereinbaren. Schon im Jahr 2005 hat der DEHOGA mit den Behindertenverbänden eine entsprechende Zielver- einbarung zur Erfassung, Bewertung und Darstellung barrierefreier Angebote im Gastgewerbe unterzeichnet. Barrierefreiheit wird auch bei der Hotelklassifizie- rung thematisiert. Bereits 1999 wurde die Nationale Ko- ordinationsstelle Tourismus für Alle e. V. – die soge- nannte NatKo – gegründet. Im Rahmen einer Projektförderung durch das Bundesministerium für Ge- sundheit und zum Teil auch durch das Bundesministe- rium für Wirtschaft und Technologie steht sie Reisever- anstaltern, Verkehrsunternehmen, Tourismusregionen, Hoteliers und weiteren Anbietern als Ansprechpartner und Berater zur Verfügung, um die Gestaltung barriere- freier Angebote zu unterstützen. Beide Angebote bieten so eine gute Grundlage, Wünsche und Bedürfnisse zu er- fassen und deren Umsetzung gemeinsam voranzubrin- gen. Problematisch sehe ich aber im Antrag auch die For- derung nach Initiativen, die in die Kompetenz der Län- der fallen. Die konkrete Planung, Ausgestaltung, Ent- wicklung und unmittelbare Förderung des Tourismus liegen nämlich generell in der Verantwortung der Bun- desländer auf der Basis der allgemein bekannten Subsi- diarität. Der Bund übernimmt nur die Aufgabe, gemein- sam mit den Ländern für geeignete Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Tourismuswirtschaft zu sorgen. Die Bundesregierung kann vielfach nur Anstöße geben, umsetzen müssen die Maßnahmen dann aber die Akteure in den Ländern, Städten, Regionen und Gemeinden. Gemeinsam mit den Ländern wurde auch schon viel erreicht. Dennoch stehen wir zum Beispiel der konkreten Forderung kritisch gegenüber, wonach die Aufnahme von Barrierefreiheitskriterien in die Denkmalschutzge- setze der Länder von der Bundesregierung geprüft wer- den sollte. Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, dass dies einen Eingriff in die Zuständigkeit der Länder bedeuten würde, was sowohl verfassungsrechtliche als auch ange- sichts der Zielsetzungen der Behindertenpolitik beunru- higende Probleme nach sich ziehen kann. Zu all diesen Punkten weise ich auf den Nationalen Aktionsplan als Leitlinie hin. Dieser wird eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention darstellen. Wir er- warten ihn schon im Sommer dieses Jahres, und er wird die Grundlage weiterer Handlungsschritte auch und ge- rade im touristischen Bereich sein. Ich denke, wir alle in diesem hohen Hause sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzei- chen des Tourismus in Deutschland werden sollte und vor allem werden kann. Dieses Ziel können wir aber nur gemeinsam erreichen. In diesem Sinne empfehle ich den Antragstellern, anstatt für übereilte Normierungsbedarfe sich lieber für Anwendung der schon bereits vorhande- nen Regelung sowie für die Weiterführung der gesell- schaftlichen Diskussion stark zu machen. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Das Thema Barriere- freiheit könnte – nein: sollte! – eines der Leitthemen je- der Regierungspolitik für die nächsten Jahre sein. Es be- trifft alle Lebensbereiche, also auch jedes einzelne Ministerium. Barrierefreiheit im touristischen Bereich – also in der gesamten touristischen Kette – ist ein wich- tiger Teilbereich einer solchen auf Langfristigkeit ange- legten Politik. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtete die Politik ja eigentlich sogar dazu. Leider nimmt die Bundesregierung diese Menschenrechtskon- vention nicht ernst. Insofern könnte der vorliegende SPD-Antrag hilfreich sein, ein Stückchen voranzukom- men. Immerhin gibt es ja Tourismuspolitische Leitlinien der Bundesregierung. Sie wurden in der vergangenen Wahlperiode erarbeitet und verabschiedet. Aber auch ihre eigenen Dokumente nimmt die Regierung nicht ernst. So muss mit Bedauern konstatiert werden, dass auch diese Leitlinien, in denen Barrierefreiheit als tou- ristisches Markenzeichen verstanden wird, das große Po- tenzen – und einen Nutzen-für-alle-Effekt – in sich birgt, bis heute nicht viel mehr als Augenauswischerei waren. Immerhin hatte die Linke bereits am 24. September 2008 einen Antrag „Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland“, Drucksache 16/10317, in den Bundestag eingebracht. Um dem etwas entgegenzusetzen, schob die damalige Koalition aus CDU/CSU und SPD, am 4. März 2009 ihren Antrag „Barrierefreien Tourismus weiter för- dern“, Drucksache 16/12101, hinterher. Inhaltlich unter- schieden sich die beiden Anträge kaum. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13157 (A) (C) (D)(B) Was passierte dann damit? Der Antrag der Linken wurde mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP abgelehnt. Auf meinen Vorschlag, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten, antwortete die SPD: „Ein gemein- samer Antrag mit der Fraktion Die Linke werde aus praktischen Gründen nicht für zielführend gehalten.“ – nachzulesen in der Beschlussempfehlung vom 14. Mai 2009, Drucksache 16/13046. Wir stimmten dem Koali- tionsantrag trotzdem zu, während die FDP sich der Stimme enthielt, unter anderem mit der Begründung: „Die NatKo (Nationale Koordinierungsstelle für Barrie- refreien Tourismus) sei mit ihrem Etat beim Gesund- heitsministerium angesiedelt. Die Fraktion der FDP ver- trete seit langem die Auffassung, dass Haushaltstitel, die den Tourismus beträfen, mit in den Haushalt des Wirt- schaftsministeriums aufgenommen werden müssten.“ – siehe oben genannte Beschlussempfehlung. Nun also ein Antrag der SPD. Vergleicht man diesen mit den beiden Anträgen aus der vorherigen Wahlperiode, stellt man – obwohl es keine Quellenhinweise gibt – große, teil- weise wörtliche Übereinstimmungen fest. Das finde ich einerseits – inhaltlich – gut, andererseits wird damit auch das Problem deutlich: Es wird mehr geredet als getan. Die Bundesregierung nimmt weder den Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2009 noch ihre eigenen Tou- rismuspolitischen Leitlinien noch ihre in der Koalitions- vereinbarung erklärten Ziele hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Förderung des barrierefreien Tourismus ernst. Dazu hier nur zwei aktuelle Beispiele: Erstens. Die NatKo ist immer noch im Bundeshaus- halt des Gesundheitsministeriums angesiedelt, obwohl dieses und das Wirtschaftsministerium von FDP-Minis- tern geführt werden. Auch bekommt die NatKo von Jahr zu Jahr weniger Geld, obwohl angesichts der von ihr er- warteten Arbeit deutlich mehr gebraucht würde. Zweitens. In der vor wenigen Tagen veröffentlichten Verordnung der Bundesregierung über das neue Berufs- bild der Tourismuskauffrau/des Tourismuskaufmannes steht wieder nichts zum Thema barrierefreier Tourismus als Ausbildungsinhalt. Als besonders beratungsresistent gebärden sich seit jeher die Bundesbau- und Verkehrs- minister. Schon die vielen SPD-Minister von 1998 bis 2009 haben sich hinsichtlich ihres Engagements für die Schaffung von Barrierefreiheit nicht mit Ruhm bekle- ckert. Bundesminister Ramsauer von der CSU will nun anscheinend all seine Vorgänger noch übertreffen: Barrie- refreiheit ist bei ihm weder bei Fernbuslinien ein Thema noch stört ihn die Tatsache, dass es in Deutschland fast keine barrierefreien Taxen gibt. Aber genau an diesen Stellen – und auch in Bezug auf Reisebusse – wären im Personenbeförderungsgesetz entsprechende, verbindli- che Regelungen vonnöten. Aber dieser Bauminister hat auch keine Übersicht über bestehende Barrieren in sei- nem Verantwortungsbereich oder von ihm geförderte UNESCO-Welterbestätten. Veränderungen im Bundes- baugesetz, in Förderrichtlinien oder bei KfW-Förderpro- grammen? Fehlanzeige! Hier, liebe Kollegin Marlene Mortler und lieber Kollege Ernst Hinsken, empfehle ich Ihnen, ihrem Parteifreund Nachhilfeunterricht zu geben. Vielleicht hülfe es ja? Den Antrag der SPD unterstützt die Linke grundsätzlich. Wir sollten aber bei der Bera- tung in den Ausschüssen schauen, wie wir ihn an der ei- nen oder anderen Stelle noch verbessern können. So feh- len zum Beispiel bei Ihnen ebenfalls die Fernlinien- und Reisebusse sowie die Taxen und Schiffe. Wenn wir über den Schienenpersonenverkehr sprechen, müssen wir be- achten, dass nicht mehr alle Bahnhöfe und Züge der Deutschen Bahn AG unterstehen. Für die Linke hat bar- rierefreier Tourismus neben der wirtschaftspolitischen Dimension vor allem eine menschenrechtliche und soziale Dimension. Wir wollen, auch mit Blick auf die UN- Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1948, die UN- Behindertenrechtskonvention – insbesondere Art. 30 – und den Ehrenkodex der Welttourismusorganisation, „Tourismus für alle“ in die alltägliche Praxis überführen. Das nützt Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in ihren Kommunen, beim öffentlichen Personenverkehr, beim Einkaufen, bei Theater-, Sport- oder anderen Frei- zeitveranstaltungen, schaffte neue, moderne Arbeits- plätze – auch für Menschen mit Behinderungen – und ist nachhaltig innovativ. Wir müssen mehr zur Förderung des sozialen Tourismus tun, in Deutschland und auch in- ternational. Auch dies ist ein guter Grund für eine Mit- gliedschaft unseres Landes in der Internationalen Orga- nisation für Sozialen Tourismus, OITS, wie es die Linke mit ihrem Antrag zu Beginn dieses Jahres vorgeschlagen hat. Die Diskussion des vorliegenden SPD-Antrags sollte uns – allen im Tourismus Engagierten – Anlass für eine wirkliche Überführung der vielen bekannten Vor- schläge ins Alltagsleben sein. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der wesentlichste Aspekt des Reisens ist die Mobilität. Für viele von uns ist das eine Selbstverständlichkeit. Die An- und Abreise mit der Bahn, die Fahrt mit dem Auto oder der Flug gehören zu fast jedem Urlaub dazu. Eine Reise ohne einen Ortswechsel ist schlicht und ergreifend nicht möglich. Für circa 20 Millionen Menschen mit einge- schränkter Mobilität in Deutschland ist genau dies aber nach wie vor mit enormen Hindernissen verbunden. Ich spreche hier nicht nur über die körperliche Bewegungs- einschränkung; auch Einschränkungen beim Hören und Sehen, Allergien und viele weitere Beeinträchtigungen können die Mobilität erschweren. Dabei spielen nicht nur die eigenen körperlichen Voraussetzungen eine Rolle, sondern auch die Frage, wie viel Mobilität uns un- sere Umwelt überhaupt ermöglicht. Die Antwort fällt ernüchternd aus: Der touristische Alltag in Deutschland zeigt, dass fast 50 Prozent aller Menschen mit eingeschränkter Mobilität die Wahl ihres Reiseziels nicht nur von eigenen Wünschen und Vorstel- lungen abhängig machen können, sondern die Wahl auf- grund unzureichender Angebote eingeschränkt wird. Da- mit wird all diesen Menschen die freie Entscheidung, wohin die Reise denn gehen soll, deutlich erschwert. Dieser Zustand ist nicht in unserem Sinne. Hier gilt es, schnell zu handeln und Rahmenbedingungen zu schaf- fen, die allen Menschen eine Reiseentscheidung unab- hängig von Einschränkungen in ihrer Mobilität ermög- licht. Deshalb stellen wir uns hinter den Antrag der SPD- Fraktion. 13158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Der Antrag ist äußerst umfassend. Er greift viele Punkte auf und zeigt damit, wie umfassend das Thema behandelt werden muss. Genau hier hat der Antrag aber auch einige kleine Schwächen. Ein Zuschussprogramm der KfW ist nie sektorspezifisch, sprich: es kann sich nicht explizit und exklusiv an touristische Betriebe wen- den. Bei jeder finanziellen Forderung sollte man auch sagen, wie sie sich gegenfinanzieren lässt oder wo dafür gespart werden sollte. Gerade wenn es sich an die Län- der richtet, also keine Bundeskompetenzen betrifft, sto- ßen wir da auf Probleme. Es gibt noch einen ganz anderen Aspekt, der neben der sozialen Gerechtigkeit für den Abbau von Barrieren im Tourismus spricht. Auch aus wirtschaftlicher Sicht ist ein Ausbau des barrierefreien Tourismus unumgänglich. Der Tourismus steht in den nächsten Jahrzehnten vor gro- ßen Herausforderungen; so viel ist sicher. Neben Klima- änderungen wird dem demografischen Wandel der be- deutendste Einfluss auf den Tourismus von morgen attestiert. Der Durchschnitt der Touristen wird immer äl- ter, dabei sinkt gleichzeitig die Mobilität. Im Jahr 2020 wird die Zahl der Urlaubsreisenden in Deutschland zwi- schen 65 und 75 auf über 40 Prozent steigen. Es wird deutlich, dass in Zukunft viele Reisende besondere Be- dingungen im Hinblick auf Barrierefreiheit an die Desti- nation ihrer Wahl stellen werden. Die Weichenstellung, wie das Reiseland Deutschland mit diesen Veränderun- gen auf der Nachfrageseite umgeht, muss jedoch schon heute erfolgen. Wie kann sich unsere Tourismuswirtschaft auf diesen Anstieg der Zahl älterer Reisender mit ganz anderen Be- dürfnissen als heute vorbereiten? Neben einer zielgrup- pengerechten Ansprache und auf Senioren abgestimmten Angeboten wird auch hier die Barrierefreiheit eine be- deutende Rolle spielen, um den Senioren von morgen Deutschland als attraktives Reiseziel zu präsentieren. Diese Senioren werden reiseerfahren und deshalb an- spruchsvoll bei der Ausstattung ihrer Wunschdestination sein. Der uneingeschränkte Zugang zu touristischer In- frastruktur darf deshalb in Zukunft nicht die Ausnahme sein, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden. Fernreisen und Anfahrten mit dem eigenen Pkw wer- den mit zunehmendem Alter immer beschwerlicher, wes- halb die Erreichbarkeit von Destinationen mit dem öf- fentlichen Nahverkehr sichergestellt werden muss. Im barrierefreien Tourismus geht es aber nicht nur um die Mobilität. Das komplette touristische Produkt muss nach- haltig und barrierefrei gestaltet werden. Dies schließt alle Teilbereiche der Reisevorbereitung und Reisedurchfüh- rung mit ein. Dazu gehören unter anderem lesbare Reise- informationen, Möglichkeiten des Gepäcktransports, eine adäquate Gesundheitsversorgung vor Ort und vieles mehr. Wenn hier vorausschauend gehandelt wird, kann ein großer Wachstumsmarkt erschlossen werden, der im Moment noch zu einem erheblichen Teil brachliegt. Schätzungen gehen von einem Potenzial, von einer tou- ristischen Wertschöpfung in Höhe von 5 Milliarden Euro und rund 90 000 Stellen aus, die geschaffen werden kön- nen. Auch im internationalen Vergleich ist es für Deutsch- land wichtig, sich als barrierefreie Tourismusdestination zu positionieren. Der demografische Wandel findet nicht nur in Deutschland statt. Mit einem Ausbau des barriere- freien Tourismus können wir für Deutschland im euro- päischen Vergleich ein bedeutendes Alleinstellungs- merkmal schaffen und damit auch internationale, mobilitätseingeschränkte Gäste ansprechen. Gleichzeitig kann ein barrierefreier Deutschlandtourismus als Indika- tor für Innovationsbereitschaft und soziale Nachhaltig- keit stehen und ebenso als Vorbild für den Tourismus des 21. Jahrhunderts dienen. Ich fasse zusammen: Der Ausbau eines nachhaltigen, barrierefreien Tourismus ist heute schon das Recht jedes Betroffenen sowie gleichzeitig eine Notwendigkeit und enorme ökonomische Chance für die Tourismusindustrie in Deutschland. Die Erleichterungen kommen dabei im Endeffekt allen zugute. Die Nationale Koordinations- stelle Tourismus für Alle, NatKo, bringt den gesell- schaftlichen Gewinn mit dem Satz „Für 10 Prozent zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich, für 100 Prozent komfortabel“ auf den Punkt. Hierbei han- delt es sich nur um die aktuellen Zahlen; die Tendenz ist sogar, wie gezeigt, steigend. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Tourismus- industrie diesen notwendigen Umbau möglichst schnell zu ermöglichen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Ge- setze – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Besserer Schutz vor Krankenhausinfekti- onen durch mehr Fachpersonal für Hy- giene und Prävention – Krankenhausinfektionen vermeiden – Tödliche und gefährliche Keime bekämp- fen – Prävention gegen Krankenhausinfektio- nen verbessern (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Die Ehec-Ausbrü- che führen derzeit zu einer erheblichen Belastungsprobe unseres Gesundheitssystems. Aber entgegen mancher Unkenrufe und Besserwisserei zeigt sich: Wir haben ein sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem. Eine Vielzahl von Instituten, Forschungseinrichtungen und Wissen- schaftlern arbeitet mit den Gesundheitsbehörden von Bund und Ländern zusammen, um Infektionswege of- fenzulegen und die Quelle zu lokalisieren. Und ange- sichts der Vielfalt der Produkte und Produzenten, von of- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13159 (A) (C) (D)(B) fenen Grenzen und freiem Warenverkehr kann das schon zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen werden. Gleichzeitig leisten Ärzte und Pflegekräfte gerade in Krankenhäusern Großartiges, um den Erkrankten zu hel- fen. Ihnen zollen wir Dank und Anerkennung für ihren Einsatz für die Patientinnen und Patienten! Unsäglich hingegen ist es, wenn durch die unproduk- tive Besserwisserei unser Gesundheitssystem grundsätz- lich infrage gestellt oder gar das Leid von Menschen vor den eigenen politischen Karren gespannt wird. Das ist in der Sache kontraproduktiv und politisch schäbig. Das ändert nichts an der Dramatik der Ereignisse. Menschen sind gestorben. Infektionskrankheiten, auch mit tödlichen Folgen, wird es immer geben. Auch das ist – im wahrsten Sinne des Wortes – menschlich. Aber wir müssen alles tun, um unser gutes Gesundheitssystem noch besser zu machen. Und das machen wir in der christlich-liberalen Koalition an vielen Stellen. Die Än- derungen im Infektionsschutzgesetz sind dafür ein gutes Beispiel. Pläne für einen verbesserten Umgang mit der Gefahr von Infektionskrankheiten gibt es schon lange, schon vor den jüngsten Ehec-Fällen. Insbesondere die multiresis- tenten Erreger sind eine eher stille, aber dafür besonders verheerende Bedrohung. Vor allem im medizinischen Bereich selbst – von Ambulanzen über Krankenhäuser bis hin zu Pflegeheimen – ist die Ansteckungsgefahr be- sonders groß, da sich hier jeden Tag Kranke und Ge- sunde, frisch Operierte und Besucher von draußen be- gegnen. Etwa 400 000 bis 600 000 Patientinnen und Patienten – exakte Zahlen zu nennen, ist gar nicht mög- lich – erkranken in Deutschland jährlich an sogenannten Krankenhausinfektionen. Und etwa 7 500 bis 15 000 sterben daran. Nicht alle Infektionen und Todesfälle können auch mit dem besten Willen, den besten Geset- zen und dem besten Einsatz von Ärzten und Pflegekräf- ten verhindert werden. Aber dem Teil, der vermeidbar ist, muss unsere ganze Aufmerksamkeit gelten. Der Beschluss, den der Deutsche Bundestag heute mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer Regelungen fassen wird, zeigt, dass es so ist: Das hoch renommierte Robert-Koch-Institut wird weiter gestärkt. Zur bewährten Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, KRINKO, die sich ja um be- trieblich-organisatorische und baulich-funktionelle Fra- gen in Krankenhäusern und anderen medizinischen Ein- richtungen kümmert, erhält das RKI ein weiteres Standbein. Eine Kommission „Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“, ART, wird allgemeine Grundsätze im Bereich der Diagnostik und Therapie, insbesondere bei Infektionen mit resistenten Krankheitserregern erstel- len. Das ist ein wichtiger und logischer Schritt, denn Ärztinnen und Ärzte benötigen für ihr Engagement auch klare und wissenschaftlich abgesicherte Leitlinien. Die Sitzungen erfolgen im Beisein des RKI selbst, aber auch im Beisein von Vertretern des Bundesministeriums für Gesundheit, der obersten Landesgesundheitsbehörden und des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizin- produkte. Das gewährleistet eine noch bessere Abstim- mung. Die rechtliche Bedeutung der Empfehlungen, die so- wohl von der KRINKO- als auch der ART-Kommission erstellt werden, sind für die Leiterinnen und Leiter von Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtun- gen, aber auch in ambulanten Praxen unmittelbar gel- tend. Der verbesserte Infektionsschutz erstreckt sich da- mit deutlich über den stationären Bereich hinaus. Im Gegenzug wird bei der vertragsärztlichen Versor- gung eine Vergütungsregelung für die Sanierung von MRSA-besiedelten Patienten und für die diagnostische Untersuchung von Risikopatienten geschaffen. Das ist gerechtfertigt, weil MRSA besonders häufig vorkommt und bereits bei Hautkontakt übertragen werden kann. Mittelfristig ist so auch eine Reduzierung der MRSA-Be- siedlung in Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen zu erwarten. Aber auch Krankenhäuser werden entlastet, denn die meisten Krankenhausaufenthalte sind ja keine Notaufnahmen, sondern geplante Eingriffe nach einer Überweisung. Die Länder wiederum werden verpflichtet, Hygieneverordnungen zu erlassen. Entsprechende Rege- lungen gibt es derzeit leider nur bei weniger als der Hälfte der Länder. Diese Verordnungen richten sich wie- derum an eine Bandbreite medizinischer Einrichtungen, und zwar mit inhaltlichen Kriterien von der Bauart und Ausstattung über Personalfragen bis hin zu Strukturen und Methoden der Infektionserkennung und -dokumenta- tion. Und schließlich halte ich auch die Beteiligung des Gemeinsamen Bundesausschusses als Selbstverwal- tungsgremium für einen entscheidenden Schritt. Der GBA wird insbesondere verpflichtet, in seinen Richtli- nien zur Sicherung der Hygienequalität geeignete Indi- katoren zur Vergleichbarkeit der Einrichtungen zu be- stimmen. So ist gewährleistet, dass sich im Vergleich auch regionale Besonderheiten widerspiegeln – etwa eine besonders hohe Fluktuation in der Einrichtung oder eine Bevölkerungsstruktur, bei der ein statistisch signifi- kantes Auftreten von Risikogruppen festzustellen ist. Denn erst diese Vergleichbarkeit sorgt für die notwen- dige Transparenz und Aussagekraft bei der Bewertung einer Einrichtung. Auch der Gesetzgebungsprozess hat zu einem weite- ren Feinschliff und zu weiteren Verbesserungen der Ge- setzesvorlage geführt. Auf einige Punkte will ich beson- ders eingehen: erstens auf die Frist, die den Ländern zur Verfügung steht, um eine Hygieneverordnung zu erlas- sen. Ursprünglich war eine solche Frist nicht vorgese- hen. Zwar wird es sich kein Land leisten können, untätig zu sein. Aber so wird nochmals der Handlungsbedarf un- terstrichen, und die Länder haben mit dem Stichtag 31. März 2012 auch hinreichend Zeit. Zweitens. Dass das Aufstellen von Hygieneplänen auch für Arztpraxen, Zahnarztpraxen und Praxen sonsti- ger humanmedizinischer Heilberufe gilt, ist ebenfalls ein gutes Ergebnis des Gesetzgebungsprozesses. Drittens – das ist für die medizinischen Einrichtungen besonders wichtig –: Eine weitere Übergangsfrist bis Ende 2016 sorgt dafür, dass medizinische Einrichtungen genügend Zeit bekommen, das notwendige Hygiene- fachpersonal auch wirklich aufbauen zu können. Denn 13160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) insbesondere Fachärzte im Bereich Hygiene, Infektions- epidemiologie und Umweltmedizin, aber auch Mikro- biologen oder Virologen werden noch nicht so bald in ausreichender Zahl auf dem Arbeitsmarkt sein. Wir spre- chen immer vom Fachkräftemangel, oft aufgrund der de- mografischen Entwicklung. Hier haben wir einen echten Vorgeschmack, und dem werden wir begegnen – alleine schon deswegen, weil Hygienefachkräfte durch das Ge- setz eine neue, größere Bedeutung gewinnen. Weitere Verbesserungen des Gesetzgebungsprozesses betreffen die stetige Weiterentwicklung der RKI-Veröffentlichun- gen sowie die Evaluation der heute zu verabschiedenden Maßnahmen bis Ende 2014 in einer förmlichen Unter- richtung durch die Bundesregierung. Mit dem uns nun vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungsanträgen sorgen wir für bessere Hygienestan- dards – sowohl im engeren Sinn in den Gesundheitsein- richtungen als auch im weiteren Sinn bei der Resistenz- prävention. Unsere Debatten im Bundestag sind in der Regel ja geprägt vom Bemühen, der Kostenentwicklung Herr zu werden und einen gerechten Ausgleich zwischen Leistungsempfängern und Hauptfinanzierern, zwischen Gesunden und Kranken, aber auch zwischen Arm und Reich herzustellen. Mit dem heutigen Beschluss lösen wir zwar die Kostenfrage nicht, verschaffen aber etwas Luft. Denn die beste Kostendämpfung ist immer noch die Infektionsvermeidung. Aber lassen Sie mich darum abschließend noch eine Anmerkung machen – zum Alltag in Kliniken und Arzt- praxen, aber auch mit Blick auf die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten: Auch das beste Gesetz kann die zahlreichen Desinfektionsmaßnahmen bis hin zum einfachen Händewaschen nicht ersetzen. Und kein Gesetz der Welt kann den verantwortungsbewussten und auch disziplinierten Umgang der Patienten etwa bei der Einnahme von Antibiotika erzwingen. Das geht nur, wenn auch das entsprechende Bewusstsein – nicht zu- letzt das Verantwortungsbewusstsein – vorhanden ist. Aber mit dem vorliegenden Gesetz haben wir die Struk- turen und die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheits- systems so verbessert, dass die Grundlage für dieses Be- wusstsein bei den Verantwortungsträgern entscheidend gestärkt wird. Das zeigt: Die Gesundheitspolitik ist bei uns in guten Händen. Stephan Stracke (CDU/CSU): Ganz Deutschland redet momentan über Ehec. Die Quelle des Erregers konnte trotz intensiver Bemühungen bisher nicht gefun- den werden. Dies zeigt: Keime und Bakterien sind tü- ckisch, denn wir können sie nicht sehen. Sie sind der un- sichtbare Feind, dem wir uns entschlossen stellen müssen. Dies gilt ganz besonders auch für Krankenhaus- infektionen. Denn jede Infektion bedeutet persönliches Leid für die Patienten und ihre Angehörigen. Daher sind der christlich-liberalen Koalition der Erhalt und die stete Verbesserung der Hygienesituation an unseren Kranken- häusern ein so wichtiges Anliegen. Dabei ist es nicht so, dass Deutschland bisher nichts getan hätte. Im Gegenteil: Das Infektionsschutzgesetz des Bundes enthält bereits heute sachgerechte Verfahren zur Infektionsbehandlung. Auch die Länder haben in Krankenhausgesetzen und teilweise in Krankenhaushy- gieneverordnungen spezifische Regelungen getroffen. Daneben hat die Bundesregierung weitere Maßnahmen getroffen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern zu verbessern. Dazu gehören zum Beispiel die „AKTION Saubere Hände“, die Deutsche Antibiotika-Resistenz- strategie und das Krankenhaus-Infektions-Surveillance- System (KISS). All dies sind notwendige und sinnvolle Maßnahmen, die schon heute für eine bessere Kranken- haushygiene sorgen. Trotzdem haben wir in Deutschland immer noch eine viel zu hohe Infektionsrate. Folgende Zahlen verdeutli- chen das eindrücklich: Nach Schätzungen infizieren sich jährlich zwischen 400 000 und 600 000 Patientinnen und Patienten in deutschen Krankenhäusern, bis zu 40 000 sterben daran. Im Vergleich dazu lag die Zahl der Ver- kehrstoten in Deutschland im Jahr 2010 bei 3 657. Das Risiko, an einer Krankenhausinfektion zu sterben, ist also rund zehnmal höher als das Risiko, im Straßenver- kehr tödlich zu verunglücken. Dabei liegt das Grundproblem der hohen Infektions- raten in Deutschland nicht an einem Mangel an geeigne- ten Vorschriften und Empfehlungen. Es mangelt auch nicht an entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnis- sen. Nein, es ist vor allem ein Problem der unzureichen- den Umsetzung. Bei Einhaltung der bekannten Hygiene- regeln ließen sich viele Infektionen vermeiden. Entscheidend sind dabei die ganz alltäglichen Dinge wie regelmäßiges Waschen und Desinfizieren der Hände. Wir müssen eine Hygienekultur etablieren, die dem me- dizinischen Personal in Fleisch und Blut übergeht. Denn für die Patienten gilt: Bessere Krankenhaushygiene ist unter Umständen lebensrettend. Aber die Patienten kön- nen sich nicht selber schützen. Sie sind auf die berufli- che Routine, Sorgfalt und Verantwortung der im Kran- kenhaus Tätigen angewiesen. Dies müssen wir noch mehr ins Bewusstsein der Menschen rufen. Deshalb werden wir mit dem vorliegenden Gesetz da- für sorgen, dass die bestehenden Empfehlungen und Vor- schriften zur Hygiene besser beachtet und umgesetzt werden. Wir werden auch dafür sorgen, dass der ratio- nale Einsatz von Antibiotika gefördert wird. Ich freue mich, dass diese Lösung grundsätzlich von allen Fraktio- nen in diesem Haus mitgetragen wird. Nun fordert die Opposition weitere bundeseinheitli- che Vorgaben. Dies halte ich für nicht gerechtfertigt. Denn eines ist klar: Die Verantwortung für die Kranken- häuser liegt bei den Bundesländern, und dort sollte sie auch grundsätzlich verbleiben. Wir wahren mit unserem Gesetz die Balance zwischen dem, was bundeseinheit- lich notwendig ist, und dem, was sinnvollerweise von den Ländern in eigener Verantwortung ausgefüllt werden muss. Wir geben den Rahmen vor. Dieser ist sachgerecht und ausreichend. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält als sogenann- tes Omnibusgesetz noch weitere Regelungen. Eine da- von betrifft im Bereich der Pflege die Anpassung der Transparenzvereinbarungen nach § 115 SGB XI. Dies ist inhaltlich zunächst die Aufgabe der Selbstverwaltung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13161 (A) (C) (D)(B) Allerdings hat sich gezeigt, dass die bisherigen gesetzli- chen Rahmenbedingungen einen Schwachpunkt aufwei- sen: Durch die für Änderungen geforderte Einstimmig- keit konnten zwei kleine Vereinbarungspartner bis zum Schluss eine Einigung blockieren. Mit der Möglichkeit, die Schiedsstelle anzurufen, schaffen wir nun einen dau- erhaften Konfliktlösungsmechanismus zur Klärung von Streitpunkten, die von den Vereinbarungspartnern auf dem Verhandlungswege nicht zu lösen sind. Dies ist aber unter Umständen nur ein erster Schritt. Denn ich sage es hier ganz deutlich: Wir haben die klare Erwartungshaltung, dass die Vereinbarungspartner bei der Weiterentwicklung der Transparenzvereinbarungen jetzt möglichst schnell zu tragfähigen Lösungen kom- men. Insbesondere bei der Frage der Stichprobenaus- wahl und der Bewertungssystematik gibt es dringenden Änderungsbedarf. Ich fordere daher, dass diese Punkte jetzt zügig angegangen und gelöst werden. Denn es geht hier um die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Diese haben das Recht und das Bedürfnis, sich über die Qualität der Pflegeeinrichtungen zu informieren. Sinn- voll ist das aber nur, wenn die veröffentlichten Ergeb- nisse auch aussagekräftig sind. Darum geht es. Jetzt ist die Selbstverwaltung gefordert, zu zeigen, dass sie fähig ist, gute Lösungen für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen zu finden. Ihre eigenen Interessen haben zwingend dahinter zurückzustehen. Die Politik wird die Entwicklung genau beobachten. Sollte es zu keiner ver- nünftigen Lösung kommen, werde ich mich für klare ge- setzliche Vorgaben einsetzen. Das vorliegende Gesetz zur Änderung des Infektions- schutzgesetzes macht klar: Wir, die christlich-liberale Koalition, stellen den Menschen in den Mittelpunkt un- seres politischen Handelns. Das zeigt sich auch bei unse- ren weiteren Vorhaben: Erstens haben wir ein Versorgungsgesetz auf den Weg gebracht, das auch in Zukunft die ärztliche Versorgung gerade im ländlichen Raum gewährleistet und die Be- dürfnisse und Interessen vom Patienten her definiert. Zweitens werden wir ein Patientenrechtegesetz erar- beiten, das Transparenz über die bereits heute bestehen- den, umfangreichen Rechte der Patientinnen und Patien- ten herstellt und die tatsächliche Durchsetzung dieser Rechte erleichtert. Drittens werden wir eine Reform der Pflegeversiche- rung angehen, die die Demenz und die pflegenden Ange- hörigen in das Zentrum stellt und eine generationenge- rechte Finanzierung auf den Weg bringt. Das ist unser Ansatz und unser Verständnis von richti- ger Gesundheitspolitik. Ich lade alle dazu ein, uns hier- bei zu begleiten und zu unterstützen. Bärbel Bas (SPD): Bevor ich mich dem Gesetzent- wurf und den Anträgen widme, möchte ich mich bei zwei alten Damen bedanken, zwei alten Damen aus mei- ner Heimatstadt Duisburg, die ich für ihre Energie und ihren Einsatz bewundere. Die beiden Damen sind Wit- wen. Sie haben ihre Männer durch eine Infektion im Krankenhaus, ausgelöst durch den MRSA-Keim, verlo- ren. Sie haben getrauert, und sie haben eine Selbsthilfe- gruppe für MRSA-Opfer und Angehörige gegründet. Diese Selbsthilfegruppe hat enormen Zuspruch, und ihre Veranstaltungen erhalten großen öffentlichen Zulauf. Die beiden Duisburger Damen haben mich – lange bevor ich in den Bundestag gewählt wurde – in ihre Selbsthil- fegruppe eingeladen. Die Tragik, das Leid und die Hilf- losigkeit der Betroffenen, aber auch die Energie der Überlebenden, MRSA und den ihn unterstützenden Um- ständen in unserem Gesundheitssystem den Kampf an- zusagen, haben mich sehr beeindruckt. Diesen Mut und diesen Einsatz habe ich mir immer wieder in Erinnerung gerufen, wenn wir die Verbesserung der Krankenhaus- hygiene oder wie es nun heißt, die Änderung des Infek- tionsschutzgesetzes beraten haben. Ausdrücklich danke ich allen Kolleginnen und Kolle- gen im Ausschuss für Gesundheit, dass wir uns zu die- sem Thema mit der nötigen Sorgfalt und der notwendi- gen Sachlichkeit intensiv auseinandergesetzt haben. Geholfen hat dabei, dass wir uns grundsätzlich darin ei- nig waren, welches Ziel wir erreichen wollten. Dass es dorthin unterschiedliche Wege gibt, die mit unterschied- licher Geschwindigkeit begangen werden können, da- rauf komme ich gleich zurück. Es hat auch geholfen, dass sich alle Fraktionen und die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesländer im Bundesrat mit zahlreichen fachlichen Beiträgen kon- struktiv an der Beratung beteiligt haben. Ich danke auch den Expertinnen und Experten, die sich an den Beratungen und insbesondere an der Anhö- rung beteiligt haben. Ich bin noch nicht allzu lange da- bei, aber diese war fachlich und inhaltlich eine der bes- ten und interessantesten, an denen ich bisher teilnehmen durfte. Im Herbst des vergangenen Jahres hat die SPD-Bun- destagsfraktion der Koalition und der Bundesregierung hier an dieser Stelle angeboten, gemeinsam die Kranken- haushygiene in Deutschland zu verbessern. Wir haben kurz darauf einen Vorschlag unterbreitet, der im Aus- schuss von allen Fraktionen begrüßt wurde: einheitliche Hygieneverordnungen für alle Bundesländer und ausrei- chend Hygienefachpersonal in Krankenhäusern. Im End- ergebnis – und das sage ich heute mit großem Bedauern – ist es der Bundesregierung nicht gelungen, diese Steilvor- lage an inhaltlicher Einigkeit und politischem Willen in ein Gesetz umzusetzen, das auch die Zustimmung aller findet. Nicht mehr und nicht weniger hätten die Betroffe- nen verdient. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, den in der Folge die Koalitionsfraktionen übernommen haben, erfüllt gerade einmal die Mindestanforderungen an eine wirkliche Verbesserung des Infektionsschutzes. Er bleibt in vielen Punkten hinter dem kleinsten gemein- samen Nenner zurück. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Bundes- regierung immer zwei Schritte vorangeht und dann ängstlich anderthalb Schritte zurückzuckt. Sie wollen den Bundesländern Krankenhaushygieneverordnungen vorschreiben. Sie sagen aber nicht deutlich, welche kon- kreten qualitativen und quantitativen Mindeststandards diese enthalten sollen. Sie scheuen auch davor zurück, 13162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) bundeseinheitliche Vorgaben zu machen. Sie erklären ei- nerseits die Empfehlungen der KRINKO für verbindlich und trauen sich andererseits nicht, bei Hygienemängeln wirkungsvolle finanzielle Sanktionen zuzulassen. Wir wissen alle, dass längst nicht alle Empfehlungen der KRINKO den aktuellen Forschungsstand widerspie- geln. Ihre Überarbeitung braucht Zeit und Engagement von guten Hygienikern und Mikrobiologen. Wir hätten uns daher gewünscht, dass in Ihrem Gesetzentwurf auch etwas dazu stehen würde, wie man diese zur Mitarbeit in der KRINKO und nun auch der ART-Kommission ge- winnen kann. Sie schaffen eine Abrechnungsziffer für eine fragwür- dige ambulante MRE-Sanierung vor einer Krankenhaus- einweisung, lassen es aber an klaren Vorschriften für die ambulante Nachbehandlung von MRE-Patienten man- geln. In der Anhörung wurde es uns deutlich gesagt: Wenn eine im Krankenhaus begonnene MRE-Sanierung nach der Entlassung vom Hausarzt oder von einem Arzt im Pflegeheim nicht weitergeführt wird, weil dieser sie nicht abrechnen kann, dann hätte man sich auch den Aufwand im Krankenhaus sparen können. Eine solche Verschwendung von knappen Mitteln können wir uns nicht leisten. Überhaupt machen Sie einen großen Bogen um das Thema die Hygiene in der ambulanten und stationären Pflege. Sie fordern den Gemeinsamen Bundesausschuss auf, Indikatoren zur Qualitätssicherung zu entwerfen, scheuen aber davor zurück, die Ergebnisse dieser Indika- toren in den jeweiligen Einrichtungen für die Patientin- nen und Patienten aktuell, nachvollziehbar und transpa- rent zugänglich zu machen. Naheliegend wäre es auch gewesen, wenn Sie diese Indikatoren zum Gegenstand der Vergütungsverhandlungen zwischen Krankenhäu- sern und Krankenkassen machen würden. Erfüllt ein Krankenhaus die Anforderungen gut oder hat sogar be- sondere Erfolge vorzuweisen, dann könnte es dafür auch besser bezahlt werden. Das wiederum würde Anreize schaffen, neue Wege zu gehen und die Abläufe zu ver- bessern. Aber es findet sich kein Wort über qualitätsori- entierte Vergütung in ihrem Entwurf. Ein Thema ist mir persönlich besonders wichtig: Die Eingangsscreenings. Sie sind international das erfolg- reichste Instrument zur Bekämpfung der MRE-Epide- mie. Sie sind das Mittel der Wahl für jede ernst zu neh- mende Anti-MRE-Strategie. Dort, wo in Deutschland bereits Patienten bei der Aufnahme auf MRE gescreent werden, sinken die Infektionszahlen und sparen die Kli- niken Geld. In der Anhörung schwärmte uns der Vertre- ter vom MRSA-net Münster geradezu vor, wie erfolg- reich unsere niederländischen Nachbarn mit ihrer rigorosen Umsetzung von Screenings sind. Und Ihr Ge- setzentwurf? Mit keinem Wort erwähnen Sie dort Ein- gangsscreenings. Auch um eine weitere Kernfrage drückt sich der Ent- wurf der Bundesregierung herum: Wie viele Hygiene- fachkräfte brauchen wir, um eine wirksame MRE-Strate- gie zu entwickeln und umzusetzen? Wo und wie sollen diese ausgebildet werden, und wie werden sie bezahlt? Hier belassen Sie es bei schwammigen Übergangsrege- lungen, aus denen man höchstens mit viel gutem Willen ableiten kann, dass irgendwoher neues Fachpersonal kommen soll. Herr Minister, die Maßnahmen Ihres Gesetzentwurfes haben aus unserer Sicht zu wenig Substanz, um einen deutlichen Schritt nach vorne für bessere Hygienebedin- gungen in unserem Land zu schaffen. Etwas mehr Mut ihrerseits, und wir könnten ihrem Gesetz zustimmen. So werden wir uns enthalten, um in der Krankenhaushygi- ene wenigstens einen kleinen Schritt voranzukommen. Denn immerhin enthält Ihr Gesetzentwurf eine Evalua- tionsklausel – den besten Artikel des ganzen Gesetzes. So ist sichergestellt, dass wir uns schon bald wieder mit dem Thema beschäftigen können. Dann hoffentlich mit einer Bundesregierung, die eine solche Einigkeit in der Sache auch in einen wahren Fortschritt umzusetzen weiß. Ich nenne Ihnen heute schon die Maßnahmen, die wir dann zu entscheiden haben: mehr Fachpersonal, verbind- liche Eingangsscreenings und Nachbehandlung, restrik- tiver Antibiotikaeinsatz in der Human- und der Veteri- närmedizin, qualitätsorientierte Vergütung und vor allem noch mehr Transparenz. Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzent- wurf auch deshalb nicht zustimmen können, weil die Bundesregierung der Versuchung nicht widerstehen konnte, diesen Entwurf zu einem Omnibus zu machen. Die Verbesserung des Infektionsschutzes muss somit da- für herhalten, Nachbesserungen aufzunehmen, die die Bundesregierung versäumt hat, schon vorher zu regeln. Wir glauben nicht, dass Sie mit Ihren Vorschlägen zur Schiedsstelle bei den Pflegetransparenzvereinbarungen und dem eigenständigen Prüfrecht der PKV in der Pflege das gewünschte Ziel erreichen werden. Ihre Kopfpau- schale samt sogenanntem Sozialausgleich wird auch nicht dadurch besser, dass Sie jetzt bei erstbester Gele- genheit schon wieder nachjustieren müssen. Hätten Sie beim Infektionsschutz so viel Einsatz gezeigt, wie Sie es bei den Versuchen, die U1/U2-Umlage umzugestalten, an den Tag legen, wäre mein Fazit heute vielleicht etwas besser ausgefallen. So bleibt mir nur übrig, der vertanen Chance nachzutrauern. Wir hätten viel mehr erreichen können, hätten Sie den Mut dazu gehabt. Wir hätten gerne jeder noch so kleinen Verbesserung zugestimmt, aber in der Summe haben Sie es uns unmöglich gemacht. Unser Angebot, an der Sache orientiert die Kranken- haushygiene in Deutschland voranzubringen, steht wei- terhin. Das bin ich nicht nur den beiden alten Damen aus Duisburg schuldig, sondern allen, die immer noch unnö- tig leiden. Jens Ackermann (FDP): Heute ist ein guter Tag für die Patienten in Deutschland, es ist ein wichtiger Tag für die Angehörigen, die Arbeitgeber und die Solidar- gemeinschaft. Denn wir werden heute endlich konkret damit beginnen, die Hygiene in Krankenhäusern und an- deren medizinischen Einrichtungen zu verbessern. Wer ins Krankenhaus geht oder wer eine andere medi- zinische Einrichtung aufsucht, möchte Hilfe. Es geht dann in erster Linie darum, aufgrund von Krankheiten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13163 (A) (C) (D)(B) fachlich gut versorgt zu werden, Leiden zu verringern oder ganz zu beheben. Aber eines möchten diese Men- schen nicht: Kränker das Krankenhaus verlassen, als sie hineingegangen sind. Natürlich sind die deutschen Kran- kenhäuser gut – keine Frage. Die Leistungen sind um- fangreich und professionell. Doch bei allen positiven Nachrichten im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung in Deutschland gibt es eben einen Bereich, der den Menschen und uns Politikern immer wieder Sor- gen bereitet hat: Die Infektion mit multiresistenten Kei- men. Denn bislang mangelt es an der Umsetzung von notwendigen Hygienestandards für Krankenhäuser und Pflegeheime. Studien zu Infektionen mit MRE gibt es viele. Eine lässt vermuten, dass in Deutschland fast zehnmal so viele Menschen durch mangelnde Krankenhaushygiene sterben, als im Straßenverkehr. Die Rede ist von 40 000 Toten, Fälle, die womöglich vermeidbar wären. Doch an dieser Stelle muss gesagt werden, dass es keine abschlie- ßend genauen Zahlen gibt, dass wir hier im Nebel sto- chern. Doch dieser Missstand soll künftig behoben wer- den: Durch eine Meldepflicht wollen wir endlich Klarheit über das Auftreten nosokomialer Infektionen schaffen. Dass eine Verbesserung der mangelhaften Situation möglich ist, zeigen die Niederlande: Während in Deutschland die gefährliche Keim-Mutante MRSA über 20 Prozent aller isolierten Keime dieser Art ausmacht, ist der Anteil in unserem Nachbarland unter 1 Prozent. Dieser Vergleich macht deutlich, dass wir Nachholbedarf haben, dass wir handeln müssen. Es macht deutlich, dass wir deshalb richtig daran tun, die Hygiene in Deutsch- land zu verbessern. Wir brauchen die Änderung des In- fektionenschutzgesetzes. Ich glaube, dass wir in diesem Punkt unbestreitbar alle einer Meinung sind – und dies ist ja gerade in Sa- chen Gesundheitspolitik nicht immer der Fall. Alleine dieser Umstand zeigt uns aber auch: Die Koalitionsfrak- tionen greifen die Sorgen und Nöte der Menschen auf. Wir wissen, wo jahrelang wichtige Impulse ausgeblieben sind und geben endlich Antworten auf die dringende Frage, wie wir die Hygiene im Land verbessern können. Die Infektionen mit gefährlichen Keimen führen zu unerträglichem Leid für die Betroffenen und verur- sachen erhebliche ökonomische Belastungen für die So- lidargemeinschaft der Versicherten und den deutschen Arbeitsmarkt. Das muss aber nicht so sein, das ist ver- meidbar. Mit dem Gesetz wollen wir nun konkret dieses Leid vermindern, Infektionen mit solchen multiresisten- ten Keimen reduzieren und Tod vermeiden. Damit uns dies gelingen kann, müssen wir den Anfängen wehren. Denn besonders tragisch bei Infektionen mit multiresis- tenten Keimen ist die Tatsache, dass diese nahezu unbe- handelbar sind. Wer infiziert ist, leidet – und das oft über Jahre – oder stirbt. Viele Menschen haben die Keime auf der Haut, doch zur Gefahr werden sie erst bei den Kranken und Schwa- chen. Ein weiteres Problem ist eine Zunahme antimikro- bieller Resistenzen bei bestimmten, insbesondere „be- handlungsassoziierten“ Krankheitserregern. Besonders schlimm ist, dass wir hier mit stillem Leid konfrontiert sind. Denn die betroffenen Patienten haben nicht die Lobby, die sie bräuchten – bislang. Deshalb ist es gut, dass die Initiative zur Verbesserung der Hygiene in me- dizinischen Einrichtungen auch direkt von den Abgeord- neten selbst ausgegangen ist. Mit den folgenden Maßnahmen wollen wir Hygiene verbessern und Leid verringern: Zum einen wollen wir die Zahl der nosokomialen In- fektionen, insbesondere jene mit resistenten Erregern, durch eine bessere Einhaltung von Hygieneregeln, eine sachgerechte Verordnung von Antibiotika sowie durch die Berücksichtigung von sektorenübergreifenden Prä- ventionsansätzen senken. Das heißt, dass wir letztlich Qualität und Transparenz der Hygiene in medizinischen Einrichtungen stärken möchten. Deshalb fordern wir letztlich auch und gerade klare, verbindliche Zuständigkeiten. Da die Behandlung von Infektionen mit MRE also na- hezu unmöglich, langwierig ist und generell mit erheb- lichen Problemen einhergeht, sind Prävention und Hy- giene so wichtig. Unsere Lösungsansätze im Kampf gegen multiresis- tente Erreger sehen dabei zunächst eine Verpflichtung der Länder zum Erlass von Rechtsverordnungen vor. Diese sollen beispielsweise Regelungen umfassen zur personellen Ausstattung der Krankenhäuser mit Hy- gienefachkräften, aber auch Schulungen des Personals oder hygienische Mindestanforderungen an Bau, Aus- stattung und Betrieb der Einrichtungen sind hier zu nen- nen. Uns war im Übrigen wichtig, dass den Ländern eine Frist gesetzt wird, denn wir wollen schnell und zügig, dass gewisse Hygienestandards bundesweit erreicht wer- den, denn eine MRE-Infektion ist in München genauso gefährlich wie in Berlin oder Hamburg. Künftig wird die sogenannte „Kommission für Kran- kenhaushygiene und Infektionsprävention“ – kurz KRINKO – beim Robert-Koch-Institut Empfehlungen und Richtlinien zur Infektionshygiene erarbeiten. Dabei war es uns vonseiten der FDP ein klares Anliegen, dass diese Empfehlungen kontinuierlich weiterentwickelt wer- den und dass diese Empfehlungen auch veröffentlicht werden müssen. Denn eines ist klar: Wir wollen im Kampf gegen die Keime auf dem aktuellsten Stand sein, wir wollen nicht veraltete Empfehlungen, sondern mit neuesten Erkenntnissen den Menschen helfen. Zwischen der Multiresistenz und der Verschreibung von Antibiotika besteht ein signifikanter Zusammen- hang. Wir wollen diese unglückselige Spirale durchbre- chen. Deshalb wird beim RKI die „Kommission Anti- infektiva, Resistenz und Therapie“ – kurz ART – eingerichtet. Ihre Aufgabe: Die Erstellung von Empfeh- lungen mit allgemeinen Grundsätzen für Diagnostik und antimikrobielle Therapie. 13164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Und wir brauchen Daten über das bundesweite Auf- treten von MRE, ein Lagebild, um eben konkret Zunah- men von MRE-Fällen in einzelnen Regionen frühzeitig zu erkennen, um entsprechend zu handeln zu können. An all diesen unterschiedlichen Punkten wird eines deutlich: Mit dem von uns angestoßenen Gesetz haben wir die Gefahren erkannt und für unterschiedliche He- rausforderungen entsprechende Antworten gefunden, um die Hygiene in Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen zu verbessern. Wir sind sicher, dass wir mit den von uns angestoßenen Maßnahmen gewiss Er- folg haben werden. Doch wir wollen auch hier sicher- gehen. Deshalb werden die von uns eingeleiteten Maß- nahmen rückwirkend vom RKI und unabhängigen Sachverständigen evaluiert. Abschließend bleibt festzu- halten, dass uns im Gesundheitswesen oft sogenannte Scheininnovationen begegnen. Ich bin sicher, dass die Regierungsfraktionen hier In- novatives für Deutschland vorgelegt haben, um künftig MRE zu verringern und den Menschen tausendfach Leid zu ersparen. Die vorangegangenen Diskussionen haben gezeigt, dass es immer noch an einzelnen Stellschrauben zwischen den Fraktionen unterschiedliche Bewertungen gibt, doch es ist zudem deutlich geworden, dass es keine offene Ablehnung gibt. Dies zeigt, dass dieses Thema generell unverzichtbar ist, dass es die Menschen über Parteigrenzen hinweg berührt und – das hoffe ich nun natürlich – dass es auch erfolgreich sein wird. Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Gut, dass das Ge- setz zur Krankenhaushygiene endlich kommt. Ich kann es Ihnen aus den anderen Fraktionen aber auch heute nicht ersparen: Dieser Gesetzentwurf kommt mindestens zwei Jahre zu spät oder – um es drastisch zu sagen –: bis zu 80 000 Tote zu spät. Alles, was wir heute wissen, war spätestens im Januar 2009 nach der Anhörung zu unserem Antrag in der letz- ten Legislaturperiode bekannt. Alles, was nun in dem Gesetzentwurf und in den Anträgen der Fraktionen steht, hätte ebenso vor zwei Jahren eingebracht werden kön- nen. Die Linke hatte wie ein Rufer in der Wüste als ein- zige Fraktion einen Antrag vorgelegt. Es war verantwor- tungslos von allen anderen Fraktionen, unseren Antrag vom Tisch zu wischen und nichts Eigenes vorzulegen. Ich weiß, dass Sie keine Lust haben, das zu hören. Aber ich bringe das hier noch einmal ein, weil ich in- ständig hoffe, dass Sie künftig Themen oder Anträge nicht schon deshalb für Blödsinn und nebensächlich er- klären, weil sie von der Linken kommen. Das kann näm- lich Menschen das Leben kosten. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung geht in die richtige Richtung. Es wäre aber mehr zum Schutz vor Krankenhauskeimen nötig und möglich ge- wesen. So fordert die Linke, die Antibiotikaverwendung in der landwirtschaftlichen Tierhaltung auf das wirklich medizinisch erforderliche Maß zu beschränken. Gerade jetzt bei Ehec sehen wir erneut, wie wichtig das ist. An- sonsten nimmt die Zahl resistenter Keime und der Muta- tionen weiter unnötig zu. Aber Sie ignorieren solche Er- kenntnisse. Wir fordern auch, den wahnsinnigen Personalabbau in den Kliniken zu stoppen und umzukeh- ren. Jedem Bürger ist klar, dass die permanente Kürzung von Personal in den Krankenhäusern die hygienischen Bedingungen verschlechtert hat. Ohne genügend und gut qualifiziertes Personal gibt es keine gute Gesundheits- versorgung. Das sollte auch in der Regierung ankom- men. Ich hoffe auch, dass diese und künftige Regierungen begriffen haben, dass dieses Thema nicht mit einem Ge- setz geregelt sein wird. Wir müssen zeitnah neue Er- kenntnisse zur Krankenhaushygiene einbinden, wie zum Beispiel aus dem Greifswalder Projekt, das sektoren- übergreifend eine ganze Region betrachtet. Sie nutzen dieses Gesetz als trojanisches Pferd für sachfremde Gesetzesänderungen. Verwerflich ist, dass Sie ermöglichen, dass sensibelste persönliche Daten weiter an private Abrechungsstellen gehen. Sie setzen sich damit über ein Urteil des Bundessozialgerichts hin- weg. Das ist schlicht ein datenschutzrechtlicher Skandal, den Sie so nebenbei verabschieden wollen. Wegen benannter Versäumnisse und falscher Rege- lungen können wir Ihrem Gesetz nicht zustimmen und werden uns enthalten. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sollen heute einen Gesetzentwurf der Bundesregie- rung beschließen, der das weitverbreitete Problem der multiresistenten Erreger und gefährlichen Krankenhaus- infektionen endlich angehen will. Nachdem es im ver- gangenen Sommer an einem Mainzer Klinikum Todes- fälle von Säuglingen gegeben hatte, bei denen der Verdacht der Nichtbeachtung von Hygienevorschriften im Raume stand, forderten die Kollegin Flach und der Kollege Spahn flugs wirksame bundeseinheitliche Rege- lungen zur Hygiene in stationären Einrichtungen. Gemessen daran ist der Gesetzentwurf, der heute be- schlossen werden soll, nur ein Placebo. Denn bei genauer Betrachtung entpuppen sich die Vorschläge der Koalition als allenfalls halbherzig. Ich kann mir beispielsweise nicht erklären, warum darauf verzichtet wird, das zu re- geln, was der Bund ohne Weiteres regeln könnte. Statt- dessen belässt man es bei ein paar unkonkreten Vorgaben, der Gründung einer neuen Kommission und allgemeinen Aufforderungen an die Länder und verzichtet darauf, sich wirkungsvoll um das Problem der zu häufigen Antibioti- kaverschreibungen zu kümmern. Der Gesetzentwurf ist dadurch gekennzeichnet, dass er in den entschiedenen Fragen die Verantwortung wieder auf die Länder ab- schiebt. Die Länder werden verpflichtet, Krankenhaushy- gieneverordnungen zu erlassen. Was aber in diesen Ver- ordnungen drinstehen soll, bleibt wieder deren Ermessen überlassen. Das Gesetz, das Sie uns heute als umfassende bundes- weite Lösung verkaufen, ist bei genauerem Hinsehen doch wieder nur der gute alte Flickenteppich. Sie halten es noch nicht einmal für nötig, die Länder an einen Tisch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13165 (A) (C) (D)(B) zu holen und ein gemeinsames Vorgehen in dieser Frage zu verabreden. Noch besser wäre es, wenn Sie die Ge- setzgebungskompetenz des Bundes im Bereich des In- fektionsschutzes wirklich ausgenutzt hätten, anstatt sich hinter den Ländern zu verstecken. Warum schreiben Sie nicht selbst konkrete Maßnahmen im Gesetz fest? Wa- rum verpflichten Sie nicht einfach – wie wir Grünen das in unserem Antrag fordern – stationäre Einrichtungen per Gesetz, Risikopatienten vor der Aufnahme auf resis- tente Erreger zu testen? Der Nutzen solcher Maßnahmen ist vielfach belegt; die Niederlande machen es uns vor. Selbst die Expertenkommission des Robert-Koch-Insti- tuts fordert ein solches Screening. Und trotzdem sucht man diese Maßnahmen in Ihrem Gesetzesvorschlag ver- gebens. Auf der anderen Seite führen Sie eine Abrechnungs- möglichkeit für niedergelassene Ärzte ein, die der gesetz- lichen Krankenversicherung zusätzliche Kosten beschert – ohne zu wissen, ob die abgerechneten Maßnahmen das Problem wirksam lösen können. Ich weiß nicht, was der Grund dafür ist, dass Sie an dieser Stelle plötzlich eine solche Entschlusskraft an den Tage legen, während Sie bei anderen Maßnahmen im Vagen bleiben. An der Wirk- samkeit dieser neuen Abrechnungsmöglichkeit kann es nicht liegen, denn die ist, um es vorsichtig auszudrücken, umstritten. Absolut mager sind auch Ihre Vorschläge zum Um- gang mit Antibiotika. Die Einrichtung einer neuen Kom- mission beim Robert-Koch-Institut, die Empfehlungen für die Praxis ausarbeitet, kann sinnvoll sein. Aber doch nur als ein Baustein unter vielen. Wir sehen bei der Kom- mission für Krankenhaushygiene seit Jahren, wie wenig selbst sinnvolle Empfehlungen in der Praxis beachtet werden. Was macht Sie so sicher, dass das in Sachen An- tibiotika anders sein wird? Auch Ihr Vorschlag, ein Mo- nitoring für den Antibiotikaverbrauch einzuführen, bleibt nichts weiter als ein halbherziger Versuch. Es erfasst nämlich nur die Verordnungszahlen in stationären Ein- richtungen – dabei erfolgen die meisten unnötigen Anti- biotikaverschreibungen im ambulanten Bereich. Uns reichen Ihre Vorschläge bei weitem nicht aus. Das Problem der falschen Antibiotikavergabe muss auf allen Ebenen angegangen werden. Übrigens auch in der Tiermast. Dort haben wir ebenfalls mit multiresistenten Erregern zu kämpfen, die dann von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Das Problem wird bei Ihnen überhaupt nicht erwähnt – geschweige denn, dass Sie hierzu irgendwelche Maßnahmen ergreifen. Natürlich macht man sich mit einer restriktiveren An- tibiotikapolitik bei der pharmazeutischen Industrie und in der industriellen Tiermast nicht gerade beliebt. Aber gerade aus den Niederlanden wissen wir, dass dies der Schlüssel zu geringen Infektions- und Resistenzraten ist. Im europäischen Vergleich sind die Länder, in denen An- tibiotika frei verkäuflich sind, auch diejenigen, die mit hohen Resistenzraten zu kämpfen haben. Einen etwas breiteren Ansatz hätten wir uns von der Bundesregierung daher schon gewünscht – zumal auch die Deutsche Anti- biotika-Resistenzstrategie bislang noch keine wirkliche Wirkung entfaltet hat. All die hier genannten Kritikpunkte haben wir Grü- nen in unserem Antrag aufgezeigt. Sie haben keinen da- von angenommen. Ich bezweifle, dass Ihr Gesetz in der Praxis wirklich zu nachhaltigen Veränderungen führen wird. Es bekämpft weder die zentralen Ursachen des Problems noch wird es dazu führen, dass die Länder das Problem einheitlich angehen. Sie gaukeln der Öffentlich- keit vor, dass Sie mit diesem Gesetz wirksame Maßnah- men gegen Krankenhausinfektionen und multiresistente Erreger ergreifen. Doch das tun Sie nicht wirklich. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Wirksamen Ver- braucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen (Tagesordnungspunkt 14) Mechthild Heil (CDU/CSU): Nanotechnologien sind die Zukunftstechnologie! Die vielfältigen Bereiche, in denen Nanostoffe eingesetzt werden können, verspre- chen Lösungen für viele Herausforderungen unserer Zeit. Nanostoffe können uns helfen, Ressourcenknapp- heit, Umweltverschmutzung und Krankheiten besser in den Griff zu bekommen. Die Partikel, die im Verhältnis zu einem Fußball so winzig sind wie der Fußball im Ver- hältnis zur Erdkugel, versprechen Großes. Medizinische Instrumente können durch die Mini- partikel besser keimfrei gehalten werde, ebenso wie die Kleidung von medizinischem Personal oder von Land- wirten, die mit Pestiziden arbeiten. Wandfarbe, die mit Nanopartikeln angereichert ist, verhindert Schimmelbil- dung im Innenraum und Algenwachstum an Fassaden. Im Kosmetikbereich werden die Partikel in Sonnencre- mes gemischt, weil sie die Haut besser vor UV-Licht schützen als herkömmliche Sonnenschutzmittel. Auch in der Zahnpasta schaffen sie einen Mehrwert. Sie können angegriffenen Zahnschmelz wieder aufbauen, weil sie vom chemischen Aufbau her identisch sind. Sehr viel- versprechend ist auch die Forschung zur Effizienzver- besserung im Energiebereich. Solarzellen auf Basis or- ganischer Halbleiter könnten sehr viel leistungsfähiger werden, sodass sie Wirkungsgrade wie andere erneuer- bare Energieformen erreichen. Mir ist bewusst, dass wir noch nicht alles über Nano- stoffe wissen. Forscher müssen noch herausfinden, wie sich Nanostoffe im Detail verhalten: Wie verhalten sich diese winzigen Partikel, wenn sie physikalischen, chemi- schen oder biologischen Prozessen in der Umwelt ausge- setzt sind? Dies zu wissen, ist umso wichtiger, je näher Nanoprodukte an den Körper des Menschen herankom- men: von Oberflächenbeschichtungen über Textilien und Kosmetika bis hin zu Lebensmitteln. Auch die Auswir- kungen auf das Ökosystem müssen weiter untersucht werden. Aber wir sollten uns hier nicht von Angst leiten las- sen. Angst ist ein schlechter Ratgeber, da sie die Sicht auf die Chancen dieser segensreichen Technologie ver- stellt. Nur weil unser Wissen über die Wirkungsweise 13166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) von Nanostoffen noch nicht umfassend ist, ist es zu früh, ihren Einsatz umfassend infrage zu stellen und wegzure- glementieren. Wieder einmal ist für die Linke die einzige Antwort, das einzige Allheilmittel: mehr Staat. Ich plä- diere hier dafür, im Rahmen der bereits bestehenden ge- setzlichen Strukturen zu handeln, diese zu nutzen und gegebenenfalls auszubauen. Bisher regeln die gesetzlichen Vorschriften sinnvoller- weise die einzelnen Produktgruppen. So müssten zum Beispiel Lebensmittel, die nanotechnisch hergestellt wur- den, den allgemeinen lebensmittelrechtlichen Vorschrif- ten entsprechen. Sie dürfen die Gesundheit von Verbrau- cherinnen und Verbrauchern nicht gefährden. Nach meinem derzeitigen Wissensstand werden Lebensmittel in Deutschland bisher nicht nanotechnisch hergestellt. Ent- sprechende Regelungen gibt es für Lebensmittelzusatz- stoffe, Lebensmittelkontaktmaterialien, Kosmetik und technische Arbeitsmittel sowie Verbraucherprodukte. Ich bin auch der Meinung, dass wir weiter forschen müssen, um besser zu verstehen, wie der Mensch auf Nanomaterialien reagiert. In diesem Zusammenhang will ich auf die Risikobewertung des Bundesamtes für Risikobewertung und des Umweltbundesamtes kurz eingehen: Beide Institute sprechen nicht von „ernst zu nehmenden Befunden hinsichtlich krebserregender Wirkungen“, wie es die Linke darstellt, sondern von möglicherweise krebsauslösenden Wirkungen einiger Nanomaterialien. Wahr ist eben: Die derzeit vorlie- genden Daten reichen nicht aus, um diese Materialien als „potenziell krebserzeugend für den Menschen“ ein- zustufen. Erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang auch: Wissenschaftler hegen große Hoffnungen, mit Nanoteil- chen in Zukunft Krebszellen zu besiegen. Recht weit ist man bereits jetzt im Einsatz von winzigen Eisenoxidteil- chen, die als Kontrastmittel bei der Kernspintomografie benutzt werden. Leberschäden, aber auch Herz- oder Lymphfunktionen können auf diese Weise hochsensibel untersucht werden. Wir von der Union lassen deshalb die Ideologie außen vor und setzen lieber auf Wissenschaft und Forschung. Für 2011 stellen das Bundesforschungsministerium und andere Ressorts auf Bundesebene circa 230 Millionen Euro für die Forschung und Risikoanalyse sowie weitere circa 170 Millionen Euro für die Grundlagen- und Be- gleitforschung zur Verfügung. Auch die chemische In- dustrie erforscht mögliche Risiken von Nanoprodukten intensiv, denn sie verspricht sich enormes Wachstums- potenzial von dieser Technologie. Der Vorwurf der Lin- ken, die Förderungen der Produzenten von Nanoproduk- ten seien hauptsächlich kostensenkend und würden kaum der Erforschung der Risiken für Mensch, Umwelt und Klima dienen, geht damit ins Leere. Ein Großteil der Forderungen, die die Linken in ihrem Antrag vom 25. Mai stellen, läuft ins Leere, da die Bun- desregierung diese bereits in ihrem Aktionsplan Nano- technologie 2015, der schon am 12. Januar 2011 vom Kabinett verabschiedet wurde, festgeschrieben hat. Der Aktionsplan treibt die Erforschung einer nachhaltigen und sicheren Nutzung der Nanotechnologie weiter vo- ran. Die Risiken für Mensch und Umwelt werden weiter erforscht, und die intensive Kommunikation und der Dialog mit der Öffentlichkeit werden weiter ausgebaut. Darüber hinaus will die Bundesregierung insbeson- dere die Rahmenbedingungen für die Nanotechnologie verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh- men in Deutschland sichern. Deutschland hat in diesem Bereich weltweit eine Spitzenposition und wird diese durch internationale Kooperationen weiter ausbauen. 63 000 Mitarbeiter arbeiten hier, und der Umsatz der deutschen Unternehmen betrug 2007 bereits circa 33 Milliarden Euro. Und er wächst weiter. Für Nanopro- dukte wird im Jahr 2015 insgesamt ein Weltmarktvolu- men von 1,5 bis 3 Billionen Euro prognostiziert. Was die Einführung eines branchenübergreifenden Nanoproduktregisters anbelangt: Dieses befindet sich sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene schon seit längerem im Gespräch. Es erscheint mir der- zeit allerdings sinnvoller, weiterhin jeweils sektor- bzw. produktbezogen zusätzliche Meldepflichten zu prüfen, anstatt einen übergreifenden Ansatz in Form eines um- fassenden Nanomelderegisters voranzutreiben. Wir werden als Gesetzgeber darauf achten, dass Risi- ken und Chancen dieser Technologie ausgewogen disku- tiert und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Potenziale, die die Nanotechnik birgt, gilt es zu entwi- ckeln, zum Vorteil von uns Menschen. Carola Stauche (CDU/CSU): Wir beraten heute ei- nen Antrag, der sich der Überschrift nach mit dem Thema Verbraucherschutz beschäftigt. Das ist modern, das kommt gut an. Wenn sich ein solcher Antrag dann auch noch inhaltlich komplett mit der Überschrift deckte, wäre das wünschenswert, ist aber, wie wir am Beispiel des vorliegenden Antrags sehen, nicht unbe- dingt notwendig. Gespickt mit der üblichen Kapitalis- muskritik, Unterstellungen und Halbwahrheiten scheint der Antrag vor allem eines im Sinn zu haben – den Ver- braucherinnen und Verbrauchern Angst zu machen. Der Antrag geht zwar kurz auf die Chancen ein, die durch die Nanotechnologien entstehen, aber in der Hauptsache werden mögliche Risiken aufgezählt, die es durch die Bundesregierung zu regulieren gilt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Weder die CDU/CSU- und die FDP- Bundestagsfraktionen noch die Bundesregierung möch- ten Verbraucherinnen und Verbraucher in Gefahr brin- gen. Bereits der ressortübergreifende „Aktionsplan Na- notechnologie 2015“ zeigt, dass die Gefahren, aber vor allem die Potenziale, die in den Nanotechnologien ste- cken, von uns erkannt werden. Ich möchte einige Schwerpunkte des „Aktionsplans 2015“ noch einmal kurz vorstellen. In Anbetracht des hier diskutierten Antrags sind diese von Interesse, zeigen sie uns doch, dass wir uns der Erwartungen, die Verbrau- cherinnen und Verbraucher an uns stellen, durchaus be- wusst sind. Der Aktionsplan möchte die Forschung fördern und den Technologietransfer intensivieren; weiterhin soll die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13167 (A) (C) (D)(B) Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland gesi- chert werden. Einen Schwerpunkt bildet die Erforschung der Risiken, welche durch Nanotechnologien entstehen können; das soll einen sicheren und verantwortlichen Umgang mit diesen Zukunftstechnologien gewährleis- ten. Jedoch wird hier nicht – wie in Ihrem Antrag – auf die vollständige staatliche Kontrolle gesetzt. Vielmehr sind wir der Auffassung, dass auch die Unternehmen ein Interesse daran haben, möglichst früh eine Nutzen- und Risikoabschätzung neuer technologischer Anwendungen vorzunehmen. Nicht ein Unternehmen möchte nur an- satzweise in den Verdacht geraten, ein Produkt zu ver- treiben, welches eine Gefahr für Leib und Leben dar- stellt. So setzt der „Aktionsplan 2015“ hinsichtlich der Risikoforschung auf gemeinsame Forschungs-pro- gramme mit der Industrie, etwa das Programm Nano Care. Hier werden die Auswirkungen bei der Herstel- lung, Verarbeitung und Anwendung von synthetischen Nanomaterialien untersucht. NanoNature untersucht den Eintrag, die Verteilung, den Verbleib und die Wirkung von synthetischen Nanopartikeln und Nanomaterialien in der Umwelt und entwickelt dazu angepasste Messme- thoden. Natürlich beschäftigt sich der „Aktionsplan 2015“ auch mit Produkten, welche Nanomaterialien enthalten, mit denen Verbraucher und Berufstätige im täglichen Le- ben Kontakt haben. Diese Produkte werden durch ein be- sonderes Forschungsprogramm begleitet. Früher durch- geführte Begleitforschungsprojekte haben gezeigt, dass die Konzentration auf die Nanoskaligkeit von Partikeln allein keine Rückschlüsse auf mögliche Risiken zulässt. Fragen hinsichtlich des Arbeits-, Umwelt- und des Ver- braucherschutzes richten sich daher zukünftig verstärkt auf Langzeitstudien und Einzelfallanalysen, die durch die Ressortforschungseinrichtungen des BMELV-Geschäfts- bereichs wie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, das Umweltbundesamt und das Bundes- institut für Risikobewertung, die Bundesanstalt für Mate- rialforschung und die Physikalisch-Technische Bundes- anstalt durchgeführt und koordiniert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt wird durch den „Ak- tionsplan 2015“ aufgenommen, der sich von den Vorstel- lungen der Antragsteller weit unterscheidet. Das hat aber mehr mit Politikverständnis zu tun. Wir sind der Mei- nung, Verbraucherinnen und Verbraucher müssen nicht bevormundet werden, wie die Linke das tut. Wir sind der Meinung, dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf- geklärt werden müssen und dann selbst entscheiden sol- len, was gut oder eben schlecht für sie ist. Dadurch grei- fen sie aktiv in das Marktgeschehen ein und entwickeln mit ihrer Nachfrage das Angebot. Das im Aktionsplan gesetzte Ziel ist es, die Ergebnisse von Grundlagenfor- schung, Informationen zum Technologietransfer und das Fazit begleitender Studien durch Dialogmaßnahmen ei- nem möglichst umfassenden Interessentenkreis transpa- rent zu vermitteln und sich darüber auszutauschen. Es gibt verschiedene Angebote, die den Bürgerdialog zum Thema Nanotechnologien fördern sollen. So etwa im be- reits erwähnten Programm NanoCare, durch mobile Wissenschaftsausstellungen wie den NanoTruck und be- darfsgruppengerechte Informationsangebote in den neuen und traditionellen Medien. All diese Angebote sollen helfen, die komplexen wissenschaftlichen Inhalte für die interessierte Öffentlichkeit zu übermitteln. Die Bundesregierung arbeitet bereits auf europäischer Ebene daran, Regulierungsmöglichkeiten zu definieren, welche den Bedürfnissen der Verbraucher entgegenkom- men und gleichzeitig den Innovationsprozess nicht be- hindern. Eine Aufforderung durch die Linke ist dafür nicht notwendig. Bereits vorhandene und somit umge- hend zur Verfügung stehende Regulierungselemente werden bereits verantwortungsbewusst weiterentwickelt. So werden etwa das europäische Chemikalienregister REACH, die allgemeinen lebensmittelrechtlichen Vor- schriften und die ab 2013 geltende umfassende Kenn- zeichnungspflicht für Kosmetika, Zulassungsrichtlinien für Futtermittel, Pflanzenschutzmittel und Arzneimittel und Medizinprodukte bearbeitet. Diese Verteilung er- möglicht eine der Breite der Technologie angemessene, individuelle und tiefgreifende Berücksichtigung aller Bereiche nanotechnologischer Materialien. Die Strategie der Bundesregierung beinhaltet auch, die führende Rolle Deutschlands als Innovationsstandort durch den Ausbau internationaler Kooperationen und die Steigerung der Attraktivität zu sichern. So beteiligt sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene an der Mit- gestaltung der Förderprogramme des 8. Forschungsrah- menprogramms und an der Diskussion über Regulie- rungsprozesse und innovationsfreundliche Rahmenbe- dingungen der Nanotechnologien. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass durch die Bundesregierung 230 Millionen Euro für die Forschungsförderung und Risikoanalyse ausgegeben werden und 170 Millionen Euro für die Grundlagen- und Begleitforschung an den außeruniversitären Forschungs- instituten bereitgestellt werden. Die nationale Wissen- schaftsförderung im Bereich Nanotechnologie orientiert sich projektbezogen an den von der Bundesregierung de- finierten Bedarfsfeldern. Die begleitenden Risikovor- sorge- und Risikomanagementmaßnahmen befassen sich mit den Fragen des Umwelt-, Arbeits- und Verbraucher- schutzes. Genauso wenig wie die Verbraucherinnen und Verbraucher benötigt die Regierungskoalition die Bevor- mundung durch die Linke. Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Immer noch ge- ben Nanoteilchen viele Rätsel auf. Immer noch sind Un- tersuchungsmethoden und Regulierung zu wenig weiter- entwickelt. Immer noch sind Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt nicht hinreichend abgeklärt. Die vielen Rätsel und Unklarheiten führen dazu, dass die Verbraucherin und der Verbraucher in zunehmendem Maße verwirrt und ratlos bleiben und die vielen neuen Produkte, die mit den Vorteilen von Nanotechnologie werben, nicht einschätzen können. Für den Verbraucher ist es immer noch kaum ersichtlich, ob ein Produkt mit- tels Nanotechnologie hergestellt wurde oder Nanomate- rialien enthält. Den vermeintlichen Vorteil sowie die eventuellen Risiken kann er nicht einschätzen. 13168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Verbraucherschutz und Verbraucheraufklärung bei verbrauchernahen Nanoprodukten müssen ernst genom- men werden. Dazu brauchen wir schnellstmöglich ein staatliches öffentliches Produkteregister. Bisher verweist das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf die Datenbank „A Nanotech- nology Consumer Products Inventory“, die ein Projekt des Woodrow Wilson International Center for Scholars ist. Diese sehr umfassende Datenbank ist nur in engli- scher Sprache vorhanden und nicht für jeden Verbrau- cher zur Information geeignet. Auch der Bund für Um- welt und Naturschutz sammelt auf seiner Website Produkte mit Nanoteilchen, kann aber nur Produkte in die Datenbank aufnehmen, bei denen der Hersteller auf die Verwendung von Nanomaterialien hinweist und kennzeichnet. Diese informative Sammlung kann aber nicht ein staatliches Register ersetzen. Das Produkteregister, welches unter Beteiligung der Verbraucherverbände errichtet werden soll, muss Infor- mationen über den Hersteller oder Importeur, die Identi- tät des Produktes sowie weitere Informationen über die im Produkt enthaltenen Nanomaterialen sammeln. Alle Produkte, die auf dem Markt sind oder auf den Markt kommen wollen, müssen an eine öffentliche Stelle ge- meldet und dort registriert werden. Damit der Verbrau- cher sich wirklich informieren kann, müssen alle Infor- mationen in allgemein verständlicher Form aufbereitet werden. Schon 2006 forderten die Teilnehmer der Verbraucher- konferenz Nanotechnologie des Bundesinstituts für Risi- kobewertung: eine verständliche Kennzeichnung, klare Definitionen, Begrifflichkeiten und Standards sowie mehr Forschung zu potenziellen Risiken. Fünf Jahre spä- ter sind wir nicht viel weiter gekommen. Es gibt bisher keine Kennzeichnung von Nanobestandteilen. Die erste verpflichtende Kennzeichnung innerhalb der Europäi- schen Union kommt 2013 für Kosmetika. Die EU-Parla- mentarier beraten derzeit in zweiter Lesung eine EU-Ver- ordnung, nach der technisch hergestellte Nanomaterialien in Lebensmitteln gekennzeichnet werden sollen. Dem- nach sollen Lebensmittelproduzenten, die Partikel in na- noskaligen Abmessungen zusetzen, verpflichtet werden, in der Liste der Inhaltsstoffe den Zusatz „(nano)“ hinzu- zufügen. Wir fordern eine generelle und sichtbare Kennzeich- nung von Nanostoffen in sämtlichen verbrauchernahen Produkten. Das bedeutet, dass auch bei Lebensmittelver- packungen, Wasch- und Haushaltmitteln, Medizinpro- dukten, Arzneimitteln, Kleidung usw. ein Hinweis auf Nanopartikel vorgeschrieben werden muss. Die Verbrau- cherin/der Verbraucher braucht diese Kennzeichnung, um ihre/seine Kaufentscheidung in Abwägung der Vor- und Nachteile treffen zu können. Neben der Kennzeichnung, dass Nanostoffe enthalten sind, brauchen sie mindestens zwei weitere Informatio- nen um eine bewusste Konsumentscheidung treffen zu können, erstens die Information, welchen Mehrwert die- ses Produkt verspricht. Verbraucher erkennen oft wenig Vorteile und haben den Verdacht, dass bei vielerlei An- wendungen speziell bei Lebensmitteln und -verpackun- gen der Nutzen von Nanoteilchen vorrangig aufseiten der Hersteller zu finden ist. Eine proaktive Kommunika- tion der Chancen und unmittelbaren Vorteile ist daher notwendig. Verbraucher wollen drei Kernfragen beant- wortet wissen: Warum Nanotechnologie? Wer wird da- von profitieren? Was habe ich davon, bei welchem Ri- siko? – Zweitens brauchen die Verbraucher verlässliche Informationen darüber, ob gesundheitliche Schäden dro- hen, wenn das Produkt mit Nanopartikelen verwendet wird. Nanomaterialien sind in Bezug auf ihre gesund- heitlichen Wirkungen umstritten. Die Warnung des Bun- desinstituts für Risikobewertung, BfR, auf die Verwen- dung von nanoskaligem Silber oder nanoskaligen Silberverbindungen in Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs zu verzichten, bis die Datenlage eine abschließende gesundheitliche Risikobewertung zulässt und die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Produk- ten sichergestellt werden kann, ist ernst zu nehmen. Transparenz bei der Risikoregulierung ist aus Verbrau- chersicht zwingend notwendig, um Vertrauen in Nanoin- novationen zu erringen. Akzeptanzunterstützend ist die Beteiligung von Ver- brauchern mit Verbraucherkonferenzen oder über ein Citizen Forum, Bürgerforum. In England hat die Food Standards Agency ein Bürgerforum zu „Nanotechnology and Food“ durchführen lassen. Ziel war es, die Einstel- lungen der Verbraucherinnen und Verbraucher zum Ein- satz von Nanotechnologie bei Lebensmitteln nachvoll- ziehen zu können, um Informationen zu verbessern. Im Ergebnis zu dem Bürgerforum wurde festgestellt, dass die Verbraucher eine große Skepsis empfinden bezüglich der Frage, wem Nanotechnologie bei Lebensmitteln wirklich nützt. Die Beteiligten vermuteten, dass mehr Vorteile für die Hersteller vorhanden sind und der Ver- braucher eher die Nachteile zu tragen hat, sei es durch erhöhte Lebensmittelpreise, niedrigere Qualität oder er- höhte Gesundheitsrisiken. Die dauerhafte Akzeptanz von Nanoprodukten bei den Verbrauchern wird stark da- von abhängen, inwieweit vermutete Potenziale für Mensch und Umwelt und mögliche Risiken bestätigt bzw. widerlegt werden können. Auf Antrag der Oppositionsfraktionen wird der Aus- schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- schutz im Oktober dieses Jahres eine öffentliche Anhö- rung zum Thema Nanotechnologien durchführen. Mit der Unterstützung der Experten erwarten wir einen wei- teren Erkenntnisgewinn, der dann auch die Bundesregie- rung zum Handeln führen wird. René Röspel (SPD): Im aktuellen Science-Maga- zine findet sich ein Artikel mit dem Titel „DNA Nano- technology Grows Up“. Frei übersetzen könnte man dies auch mit: Die DNA-Nanotechnologie wird erwachsen. In der DNA-Nanotechnologie, einer Untergruppe der Nanotechnologien, ordnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler DNA-Moleküle neu und entwerfen so Strukturen. Bekannt sind zum Beispiel die nanometer- kleinen Smileys. Dies amüsiert die Betrachter, eine An- wendung für diese Technik fehlte aber lange Zeit. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13169 (A) (C) (D)(B) In dem zitierten Artikel wird nun beschrieben, wie in- nerhalb der letzten zwanzig Jahre aus dieser zu Beginn nicht ernstgenommenen Technologie langsam reale Pro- dukte entstehen. So werden damit heute Strukturen von Proteinen abgebildet und das Innenleben von Zellen nachvollzogen. Für die nahe Zukunft erwartet man au- ßerdem weitere Anwendungen im Medizinbereich. An diesem Teilbereich zeigt sich exemplarisch, wie aus der Nanotechnologie-Grundlagenforschung mittler- weile Anwendungen und Produkte entstehen. Als For- schungspolitiker werde ich mich in meiner Rede aber auf den Forschungsteil des hier vorliegenden Linken-An- trags konzentrieren. Die Chancen der Nanotechnologie sind in Deutsch- land früh erkannt worden. Bereits mit Beginn der 90er- Jahre förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Nanotechnologie. Heute steht Deutsch- land mit circa 400 Millionen Euro im Jahr bei den öf- fentlichen Forschungsförderungen weltweit auf Platz vier, hinter den USA, China und Russland. Uns war aber von vornherein klar, dass diese neue Technologie nur Akzeptanz erfahren kann, wenn transpa- rent und nachvollziehbar Chancen und Risiken untersucht und thematisiert werden. Unter sozialdemokratischer Re- gierungsbeteiligung haben wir 2009 beschlossen, dass bis 2012 10 Prozent der Bundesförderung für Nanotechnolo- gien in die Sicherheitsforschung fließen sollen. Mit einem aktuellen Anteil von über 6 Prozent ist diese Forderung noch nicht erreicht. Wir liegen im internationalen Ver- gleich aber selbst mit dem aktuellen Prozentsatz klar an der Spitze. Richtig ist, worauf auch die Linken in ihrem Antrag verweisen, dass wir im Bereich der Nanowissen- schaften immer noch über große Wissensdefizite verfü- gen. Insbesondere die Sicherheitsforschung muss deshalb kontinuierlich gefördert bzw. ausgebaut werden. Notwendig ist auch, endlich eine Einigung auf eine gemeinsame Definition für Nanomaterialien zu errei- chen. Insbesondere zur Etablierung einheitlicher Stan- dards und Messmethoden sowie zur Umsetzung von Richtlinien ist dies unabdingbar. Wenn man sich die be- reits existierenden Definitionen der ISO, der OECD oder der EU-Kosmetikverordnung anschaut, fällt auf, dass dort fast immer von einer Partikelgröße zwischen 1 bis 100 Nanometern gesprochen wird. Die im Antrag der Linken geforderten 0,5 bis 300 Nanometer erscheinen mir zur Etablierung einer einheitlichen Definition des- halb wenig hilfreich. Hier ist aber die Bundesregierung in der Bringschuld, einen Bundestagsbeschluss umzusetzen. Die Forderung, eine einheitliche Definition voranzubrin- gen, haben wir bereits in unserem Antrag 16/12695 ge- stellt. Die Forderung der Linken nach einer stärkeren Priori- sierung der Forschungsförderung auf die Themen Klima, Energie und Gesundheit mag erst einmal einleuchten. Wir halten die Einteilung aber für nicht praktikabel. Nicht eindeutig abgrenzbare Bereiche wie „Klima“ oder „Gesundheit“ mit fließenden Übergängen in andere The- men mit einer starren Mindestquote zu versehen macht keinen Sinn. Außerdem fällt bei der starren Einteilung der Linken auf jeweils 25 Prozent der Mittel die so wich- tige Grundlagenforschung vollkommen unter den Tisch, die sich eben nicht per se einem Thema zuordnen lässt. Auf dem letzten Leibniz-Abend berichtete ein Wissen- schaftler zum Beispiel über die Entwicklung einer neuen Klebetechnik. Obwohl die Forschung auf ganz andere Bereiche abzielte, wird diese Erkenntnis heute im Ge- sundheitsbereich eingesetzt. Liebe Kolleginnen und Kol- legen der Linken, diese Entwicklung wäre nach Ihren Überlegungen vielleicht nie entstanden. Anwendungsbe- zug in der Forschung ist wichtig. Dies erzielen wir aber nur, wenn wir den Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlern in der Grundlagenforschung die nötigen Frei- heiten und Mittel zukommen lassen. Die starke Regle- mentierung im Antrag der Linken halte ich deshalb für eher kontraproduktiv. Eine Reihe von Forderungen aus dem Linken-Antrag wie zum Beispiel ein öffentliches Register für Nanopro- dukte oder -materialien ist nachvollziehbar und unter- stützenswert, aber eben auch nicht neu. Um sichere Pro- dukte zu erhalten, müssen wir weiter kontinuierlich in die Forschung investieren. Insbesondere für die Grund- lagenforschung ist die staatliche Unterstützung unab- dingbar. Wir als Sozialdemokraten werden dies auch weiterhin fördern und einfordern. Dr. Erik Schweickert (FDP): Der deutsche Physiker Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gesagt: Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wich- tig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht. Dabei konnte auch er nicht ahnen, wie klein die Dinge werden, die die Menschen heute für wichtig halten. Und wir halten die Nanotechnologie für eminent wichtig. Bis heute gibt es keine Anhaltspunkte, dass die Nano- technologie gesundheitsschädlich ist. Und wenn Sie da- von sprechen, die Erforschung und Bewertung technisch bewusst erzeugter Nanostoffe sei bisher stark vernach- lässigt worden, so ist das schlichtweg falsch. Es gibt zahlreiche Studien die belegen, dass die Forschung ge- rade nicht vernachlässigt worden ist. Sie beziehen sich doch sogar selbst auf eine Studie des Bundesamtes für Risikobewertung. Eine weitere Studie der Universität Manchester, auf die sich im Übrigen auch das Umwelt- bundesamt beruft, betont bezüglich einer konkreten Ge- fährdung von Produkten mit Nanostoffen, dass die Mor- phologie und nicht die Größe eine entscheidende Rolle spiele. Trotzdem fordern Sie umfassende Regulierungs- maßnahmen und Auflagen bezüglich der Verwendung von Nanomaterialien: Ein Register zur Erfassung und Regulierung von Nanostoffen sowie die Kenntlichma- chung von Produkten, die Nanopartikel enthalten. Zu Ihrem ersten Punkt: Ihre geforderte Erfassung von Nanostoffen in einer Art Register ist in meinen Augen übertriebener Bürokra- tismus. Bei Ihrer Überlegung, ein eigenständiges Regis- ter für Nanostoffe zu schaffen, ist wohl in Vergessenheit geraten, dass wir bereits eine europäische Chemikalien- richtline REACH haben, die auch die Nanopartikel er- fasst. Nach dieser Verordnung muss bereits jetzt schon jeder Stoff bei der Europäischen Chemikalienagentur 13170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) – ECHA – registriert werden. Und in Art. 1 – Ziel und Geltungsbereich – der Verordnung wird auch ausgeführt, dass den Bestimmungen der REACH-VO das Vorsorge- prinzip zugrunde liegt. Mit einer weiteren Erfassung von Daten kämen wir zu einer Doppelung zahlreicher, bereits bestehender stoff- und produktrechtlicher Regelungen. Darüber gelten bereits schon jetzt die allgemeinen und spezifischen Anforderungen des Lebensmittel- und Fut- termittelgesetzbuches auch im Hinblick auf die poten- zielle Anwendung nanoskaliger Materialien und Verfah- ren unter Einsatz der Nanotechnologie sowie andere Regelungen im sektoralen Produktrecht der EU, wie zum Beispiel die EU-Kosmetikverordnung. Zu Ihrem zweiten Punkt: Meinen Sie denn allen Ernstes, dass man die Unsi- cherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher mittels einer Kennzeichnungspflicht von Nanoprodukten aus der Welt schaffen kann? Eine Kennzeichnungspflicht kann auch irreführend sein. Ich sehe in einer solchen Pflicht sogar das Potenzial einer aktiven Verunsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher; ein Schüren von Ängsten, es handle sich um ein Produkt, welches Gefahrenpotenzial berge, vor dem man durch spezifische Kennzeichnung warnen müsse. Ich kann Ihre Vorsicht zwar teilweise nachvollziehen, Ihre Argumente sind aber pure Zukunftsangst. Die Nano- technologie bietet für Wissenschaft und Wirtschaft zahl- reiche Einsatzmöglichkeiten und nimmt somit einen ho- hen Stellenwert ein. Denn wir genießen bereits heute einen Zusatznutzen durch Nanomaterialien: zum Bei- spiel UV-Schutz in Sonnencreme und Kosmetika, wir haben einen Zusatznutzen durch schmutzresistente Tex- tilien, leistungsfähigere Computer, kratzfeste Brillenglä- ser, effizientere Wärmedämmung und einen Zusatznut- zen in der Medizin, zum Beispiel bei zahnärztlichen Füllungsmaterialien. Mithilfe der Nanotechnologie sind uns bereits heute große Fortschritte – sei es in der Medi- zin oder im Bereich der modernen Lack- oder Kunst- stoffe – gelungen und wir tanzen daher nicht mehr auf der Stelle. Und da muss ich Sie schon fragen: Erklären Sie mir doch einmal, wie Sie zu der Vermutung kom- men, Nanostoffe hätten eine „entzündliche, krebserre- gende und fortpflanzungsgefährdende Wirkung“. Ich gebe Ihnen die Antwort: Genau das Gegenteil ist der Fall. Mithilfe der Nanotechnologie können für die Hei- lung von Krebs schon große Fortschritte erreicht wer- den. Auch Ihre Behauptung, die Bürger seien nicht aus- reichend informiert, ist schlichtweg falsch. Eine Studie der Verbraucherzentrale Bundesverband, vzbv, hat ge- zeigt, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sehr gut informiert sind. Hier heißt es wörtlich: Die Ergebnisse waren für das Forschungsteam überraschend, denn sie zeigen einen unerwartet ho- hen Wissensstand. Wir als FDP sind eine Fortschrittspartei. Wir dürfen uns daher nicht in der Gegenwart, im erreichten Wohl- stand gemütlich einrichten und Fortschritt ablehnen. Wir brauchen die Bereitschaft für Fortschritt und neue Tech- nologien. Das Streben nach Fortschritt und Innovation macht auch den Standort Deutschland aus, macht ihn at- traktiv und schafft Arbeitsplätze. Wenn man aber jeder vielversprechenden, neuartigen Technologie Steine in den Weg gelegt und ihr den Saft abgedreht hätte, so wie Sie es heute versuchen, dann würden wir heute noch in Höhlen leben und nicht die Vorzüge unseres modernen Lebens genießen. Ein Produktregister ist schon deshalb obsolet, da es für gefährliche Produkte schon Register wie zum Bei- spiel RAPEX gibt. Und dabei ist es dann unerheblich, ob ein Produkt Nanomaterialien beinhaltet oder nicht. Karin Binder (DIE LINKE): Verbraucherschutz kommt bei der Nanotechnologie derzeit nicht vor. Das ist die Erkenntnis aus der Antwort der Bundesregierung vom 5. Mai 2011 auf unsere Kleine Anfrage zu diesem Thema. Es ist die fatale Folge einer einseitigen und fehlgeleiteten Förderpolitik der Bundesregierung. Zunächst standen die Verbraucherinnen und Verbraucher der Technologie auf- geschlossen gegenüber. Aber die Skepsis nimmt zu – und das aus gutem Grund: Informationsmangel und fehlende Hinweise für Verbraucherinnen und Verbraucher machen zu Recht misstrauisch. Die Hersteller reagieren auf ihre Weise: Sie verschleiern Nanobestandteile in Lebensmit- teln und Bedarfsgegenständen. Um es deutlich zu sagen: Verbraucherinnen und Ver- braucher erwarten zu Recht, dass Behörden und Indus- trie die Fragen nach den Risiken der Nanotechnologie beantworten können. Der Gesetzgeber muss eine Kennt- lichmachung aller nanobehafteten Produkte sicherstel- len. Der Zusatznutzen und die Unbedenklichkeit müssen belegt werden und in verständlicher Weise erläutert sein. Dabei reicht ein kleiner Hinweis auf der Verpackungs- rückseite nicht aus. Derzeit findet eine gesetzliche Regulierung der Nano- technologie nur auf EU-Ebene statt. Die Bundesregierung ist weitgehend untätig. Hinzu kommt: Die in Brüssel auf- gegriffenen Teilbereiche erfassen die gesundheitlichen und umweltbezogenen Risiken nur unzureichend. Die Bundesregierung muss deshalb auch auf nationaler Ebene eine generelle Regelung und Kontrolle der Nanotechnolo- gie auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips umsetzen. Nur so kann den offenkundigen Risiken gegenüber Mensch und Umwelt angemessen begegnet und nur so können un- berechtigte Ängste abgebaut werden. Klare gesetzliche Vorgaben würden auch betriebswirtschaftliche Risiken der Unternehmen mindern, die sich mit Nanotechnologien befassen. Voraussetzung wäre, die Förderstruktur zuguns- ten von Vorsorge und Verbraucherschutz neu zu struktu- rieren. Die Durchsetzung von Verbraucherschutz bei Nano- stoffen ist dennoch schwierig, schon allein deshalb, weil es bisher keine anerkannte Definition des Begriffs Nano- technologie gibt. Sowohl über die Größe als auch über die Nanoeffekte besteht keine Einigkeit. Die Folge: Dem Gesetzgeber wird die Festlegung eines Regulierungsrah- mens erschwert. Auch führt die bisherige sehr einge- grenzte und willkürliche Definition bei Unternehmen zur Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13171 (A) (C) (D)(B) „Regulierungsflucht“ auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich frage: Wie soll ein Nanoprodukt si- cher sein, wenn man nicht einmal sicher ist, was „Nano“ eigentlich ist? Die Linke sagt: Die Bestimmung eines Materials als Nanostoff darf nicht allein über die Größe erfolgen. Ent- scheidend ist vielmehr, unter welchen Bedingungen ein nanotechnischer Effekt erzielt wird. Neben einem Grö- ßenraster von etwa 0,5 bis 300 Nanometern müssen nanotypische Wirkungsweisen in die Betrachtung einbe- zogen werden. Das sind gegenüber der natürlichen Stoff- form vor allem stark veränderte physikalische, chemi- sche und biologische Eigenschaften sowie elektrische, optische und katalytische Effekte. Weist ein Stoff mindestens eine dieser nanospezifi- schen Eigenschaften auf, muss er behördlich erfasst und eingeordnet werden. Jedes Material im nanoskaligen Be- reich, das bewusst künstlich, technisch erzeugt wird, muss eine unabhängige gesundheits- und umweltbezo- gene Risikobewertung durchlaufen, bevor es als Roh- stoff oder Produkt auf den Markt gelangen darf. Die In- formationen zu erfassten und bewerteten Stoffen müssen öffentlich zugänglich sein. Ohne Frage: Die Nanotechnologie bietet in manchen Bereichen gute wirtschaftliche Chancen für Unterneh- men in Deutschland. Sie kann industrielle Prozesse er- leichtern und Verfahren verbessern. Produkte können weiterentwickelt und mit neuen Eigenschaften versehen werden. Ein wichtiger Nutzen ergibt sich in der Medizin, wo die Diagnose und Therapie sowie das hygienische Umfeld verbessert werden können. Für Verbraucherin- nen und Verbraucher hingegen ist der Mehrwert bisher begrenzt. Ob ein nanospezifischer Zusatznutzen bei Le- bensmitteln und Bedarfsgegenständen in einem vernünf- tigen Verhältnis zu möglichen Risiken und Mehrkosten stehen wird, ist derzeit völlig offen. Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den Versprechungen vorbei. Vorrangig werden die Förder- mittel von der Industrie bei der Verbesserung vorhande- ner Verfahren, Prozesse und Produkte eingesetzt. Haupt- interesse der Unternehmen an der Nanoförderung ist meist die Kostensenkung in der Produktion. Wichtige gesellschaftliche Fragestellungen wie Energie- und Kli- maschutz sowie Ressourcen- und Umweltschonung tre- ten in den Hintergrund und haben einen verschwindend geringen Anteil an der Förderung. Die Erforschung und Bewertung von gesundheitli- chen und umweltbezogenen Risiken, die von Nanostof- fen ausgehen können, sind bisher sträflich vernachlässigt worden. Der Gesetzgeber ist derzeit gar nicht in der Lage, wirksame Maßnahmen zur Gesundheits- und Um- weltvorsorge zu treffen, da es keine ausreichende Daten- basis gibt. Viele Ergebnisse von Untersuchungen zu Ri- siken, die mit Fördergeldern der Nanoinitiative des Bundes finanziert wurden, sind nicht relevant, da sie durch die Unternehmen vorrangig zur Abschätzung be- triebswirtschaftlicher Risiken vorgenommen wurden. Zu welchen ungewollten Effekten Nanostoffe durch ihre geringe Größe und die hohe Reaktionsfähigkeit bei- tragen, wenn sie mit dem menschlichen Körper in Be- rührung kommen oder in die Umwelt gelangen, ist der- zeit nicht absehbar. Zur Verbreitung, Giftigkeit und Umweltwirkung der unterschiedlichen Nanostoffe liegen kaum Erkenntnisse vor. Derzeit gibt es erstzunehmende Befunde zu entzündlichen, krebserregenden und fort- pflanzungsgefährdenden Wirkungen beim Menschen. Im Ökosystem sind Störungen bei Kleinstlebewesen und im Pflanzenwachstum nachgewiesen. Manche Nanostoffe sind daher für die breite Verwendung bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen ungeeignet. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass die Industrie mögliche Ri- siken in der öffentlichen Kommunikation herunterspielt. Das kann nicht das Ziel der Nanostrategie sein. Wenn der Bund Steuermittel in Milliardenhöhe zur Förderung der Nanotechnologie ausschüttet, müssen mögliche Folgen der Technologie ernsthaft in die Be- trachtungen einbezogen werden. Das hat die Bundesre- gierung bisher weitestgehend vernachlässigt. Mit unse- rem Antrag wollen wir die Nanoinitiative des Bundes im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher befördern. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Nanotechnologie ist eine komplexe und in ihrem An- wendungsbereich vielfältigst einsetzbare Technologie. Die Erwartungen und bisherigen Einsatzgebiete vor al- lem in der Medizin lassen nach dem bisherigen Kennt- nisstand auf eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten schließen. Nanotechnologie wird aber auch in einer Viel- zahl von verbrauchernahen Produkten eingesetzt, ohne dass die Konsumentinnen und Konsumenten dies immer wahrnehmen. Bisher sind Verbraucherinnen und Verbraucher aufge- schlossen gegenüber dieser neuen Technologie. Doch es mehren sich kritische Stimmen von Fachleuten, unter anderem auch der NanoKommission des Bundestages. Denn wir wissen bis heute noch zu wenig über Risiken und Folgen für Mensch und Natur. Das Prinzip des vor- sorgenden Umwelt- und Gesundheitsschutzes wird beim Umgang mit nanoskaligen Stoffen sträflich vernachläs- sigt, obwohl es eindeutige Hinweise auf Gesundheitsge- fahren und Umweltschäden gibt. Eine aktuelle Studie der Universität Koblenz zeigt, dass Nanopartikel im Wasser, eingebracht durch Son- nenmilch, Wasserflöhe töten können. Studien des BfR haben ebenfalls deutliche Hinweise erbracht, dass Nano- silber zu krankhaften Veränderungen in Leber und Lunge führen kann. Hier besteht weiterhin die Gefahr, dass die großflächige Verbreitung von Nanosilber resis- tente Keime entstehen lässt und damit Silber als wirk- same Waffe gegen antibiotikaresistente Keime für die Medizin verloren geht. Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher schützen. Daher benötigen wir eine ausführliche Risiko- bewertung zu den Folgen und Risiken des Einsatzes von Nanotechnologie in allen Bereichen – Produkt für Pro- dukt und Material für Material. Wo Gesundheitsgefahren drohen, wie beim genannten Nanosilber, plädieren wir für ein Verbot in verbrauchernahen Produkten, bis Klar- 13172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) heit über die Unbedenklichkeit besteht. Hierzu gehört ebenfalls eine umfassende verbraucherfreundliche Kennzeichnungspflicht aller nanohaltigen Produkte, welche wir bis heute nicht haben. Dies nimmt den Ver- brauchern und Verbraucherinnen die Wahlmöglichkeit, auf Produkte mit Nanoteilchen zu verzichten. Wir schließen uns der Forderung der NanoKommis- sion und der Linken an, den Dialog über Nano, seine Anwendungsbereiche, Potenziale, aber auch Risiken mit der Gesellschaft stärker zu fördern. Die Verbraucherin- nen und Verbraucher wünschen sich Aufklärung und Entscheidungsmöglichkeiten, welche sie bisher nur un- ter größtem Aufwand wahrnehmen können. Deshalb brauchen wir ein europaweites, öffentlich einsehbares Produktregister, in dem alle Produkte und Studien hierzu umfassend dargestellt sind. Hierzu gehört, wie auch von der Linken vorgeschlagen, eine Definition zu Nanoteil- chen. Bis heute gibt es hierzu nur Vorschläge oder von Unternehmen willkürlich festgelegte Definitionen. Die bisherige Förderpraxis der Bundesregierung im Be- reich Nanotechnologie vernachlässigt den Bereich Risiko- und Begleitforschung. Dies hat auch der Vorsitzende der NanoKommission Catenhusen scharf kritisiert. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Umwelt- und Verbraucher- schutz und die Risikoforschung zu einem Schwerpunkt ih- rer Forschungsförderung im Bereich Nanotechnologie zu machen. Der im Antrag eingebrachte Vorschlag, mindestens 25 Prozent der jährlichen Fördermittel für Nanotechno- logie aus dem Bundeshaushalt in die Bereiche Energie und Klimaschutz sowie Ressourcen- und Umweltscho- nung fließen zu lassen, ist ein richtiger Ansatz, die gro- ßen Potenziale der Hightechtechnologie zu nutzen. Gleichzeitig gehört hierzu eine begleitende Risikofor- schung, die ebenfalls einen wesentlich größeren Anteil in der Förderpraxis der Bundesregierung als bisher er- halten muss. Die Einsatzgebiete der Nanotechnologie werden in den unterschiedlichsten rechtlichen Bereichen geregelt. Dementsprechend unübersichtlich ist, ob und – wenn ja – in welcher Form bestehende Regelungen Nanomate- rialien bereits umfassen oder nicht. Hier muss Klarheit für alle, Produzenten und Verbraucher, geschaffen wer- den. Wir plädieren für eine gemeinsame Regelung auf europäischer Ebene. Der von der EU-Kommission vorgeschlagene „inte- grierte, sichere und verantwortungsvolle Ansatz“ zur Nanotechnologie, bisher nur auf dem Papier, und der Ansatz eines freiwilligen „Verhaltenskodex“ sind defini- tiv nicht ausreichend für einen umfassenden Umwelt- und Verbraucherschutz. Hier muss sich die Bundesregie- rung in Brüssel für verbindliche rechtliche Regelungen einsetzen, die die Konsumentinnen und Konsumenten schützen und der Industrie klare Vorgaben geben. Der Antrag der Linken fordert eine nationale Regelung der Nanotechnologie. Sinnvoller ist eine Regelung auf euro- päischer Ebene, zum Beispiel durch eine Erweiterung der Chemikalienrichtlinie REACH. Die Bundesregie- rung ist hier gefordert, sich für eine Erweiterung von REACH auf europäischer Ebene einzusetzen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – Antrag: Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf verbessern – Pflegende Bezugs- personen wirksam entlasten und unterstüt- zen – Antrag: Bezahlte Pflegezeit einführen – Or- ganisation der Pflege sicherstellen (Tagesordnungspunkt 15 a bis c) Paul Lehrieder (CDU/CSU): Pflegebedürftigkeit ist ein Thema, das im Alltag gern verdrängt wird. Zwar ist sich jeder bewusst, dass die Eltern wohl irgendwann ein- mal auf Hilfe angewiesen sein werden, aber meist setzt man sich erst dann ernsthaft mit dem Thema Pflege aus- einander, wenn der Ernstfall eintritt und ein Angehöriger plötzlich zum Pflegefall wird: Ein Unfall, ein Schlagan- fall, eine schwere Krankheit oder eben das Alter können der Grund dafür sein, dass Menschen pflegebedürftig werden. Meist liegt der Wunsch nahe, die Pflege seines Angehörigen selbst leisten zu können, ohne finanzielle und berufliche Nachteile fürchten zu müssen. Zudem entspricht es auch fast immer dem dringenden Wunsch der Pflegebedürftigen, in vertrauter Umgebung gepflegt zu werden. Mit dem heute in erster Lesung beratenen Modell der Familienpflegezeit kommen wir dem im Koalitionsver- trag verankerten Ziel der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nach. Pflegende Angehörige haben zukünftig die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit über einen Zeitraum von maximal zwei Jahren auf bis zu 50 Prozent zu reduzie- ren, ihr Gehalt wird in dieser Zeit auf 75 Prozent des letzten Bruttoeinkommens gekürzt. Nach der zweijährigen Familienpflegezeit werden die Beschäftigten dann wieder voll arbeiten, beziehen in die- sem Fall aber weiterhin 75 Prozent des Gehalts – so lange, bis das persönliche Zeitkonto im Unternehmen wieder ausgeglichen ist. Während dieser Jahre zahlt der Arbeitgeber die Beiträge zur Rentenversicherung auf der Basis des abgesenkten Arbeitsentgeltes. Für die ge- leistete Pflege überweist die Pflegeversicherung der Rentenversicherung zusätzlich eine Pflegezeitvergütung. Beitragszahlungen in der Familienpflegezeit und die Leistungen der Pflegeversicherung zur gesetzlichen Rente bewirken somit zusammen den ungeschmälerten Erhalt der Rentenansprüche. Diese Ansprüche steigen mit der Höhe der Pflegestufe des Angehörigen. Damit erhalten pflegende Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer trotz Ausübung der Pflege die Rentenansprüche etwa auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Perso- nen mit geringem Einkommen werden sogar besser ge- stellt. So trägt das Modell der Familienpflegezeit zur Ver- ringerung der Altersarmut bei, die oftmals gerade bei Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13173 (A) (C) (D)(B) Frauen Folge einer Pflegeauszeit ist. Berufstätigen wird somit ermöglicht, Arbeit und Pflege besser in Einklang zu bringen, ohne dass ihnen daraus später Nachteile er- wachsen. Dass im Bereich der Pflege ein solches Modell ge- braucht wird, verdeutlichen die folgenden Zahlen: Rund 2,3 Millionen Menschen sind in Deutschland auf Pflege angewiesen. Etwa 1,5 Millionen werden zu Hause ver- sorgt, gut eine Million allein durch Angehörige, der Rest durch ambulante Dienste. In den nächsten Jahrzehnten wird die Zahl der Pflegebedürftigen merklich steigen. Die Notwendigkeit für die Familienpflegezeit ist gerade angesichts der demografischen Entwicklung in unserem Land groß, und dies ist auch der Bevölkerung bewusst: Die Bereitschaft und das Interesse sind vorhanden. Denn die überwiegende Mehrheit der Berufstätigen möchte ihre Angehörigen so weit wie möglich selbst betreuen – was auch von den Pflegebedürftigen so gewünscht wird –, stößt aber häufig auf große Schwierigkeiten. Schon heute gibt es die Möglichkeit einer halbjährigen Freistel- lung. Aber diese Freistellung ist unbezahlt; viele fürchteten daher die finanziellen und beruflichen Folgen. Die vom Kabinett im März beschlossene Familien- pflegezeit gibt den Menschen Zeit für die Übernahme von Verantwortung im Pflegefall, ohne dass sie ihre Er- werbstätigkeit aufgeben müssen. Damit ist es uns gelun- gen, ein modernes Modell zu entwickeln, von dem alle profitieren: die pflegebedürftigen Angehörigen, die im vertrauten Umfeld verbleiben können, die pflegenden Beschäftigten, die finanziell abgesichert sind und auch während der Pflegezeit den Kontakt zum Unternehmen wahren können, und eben auch die Unternehmen – schließlich gelingt der Erhalt qualifizierter Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter. Sie haben Planungssicherheit und keinen finanziellen Mehraufwand. Wir sind überzeugt, dass das von uns vorgestellte Mo- dell der Familienpflegezeit – ähnlich wie die Altersteil- zeit – ein Erfolgsmodell wird; denn die Familienpflege- zeit ist nach einem ähnlichen Muster organisiert. Hier hat es geklappt, weil die Betriebe und die Beschäftigten ein Interesse daran hatten. Dieses Interesse und der Bedarf sind auch bei der der Pflege vorhanden: Die meisten Menschen wollen die Be- treuung ihrer betagten Eltern oder krebskranker An- gehöriger nicht vollständig anderen überlassen. Tatsache ist jedoch, dass es für Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer, die einen Angehörigen pflegen, nicht leicht ist, Beruf und Pflege zu vereinbaren. Mit der Familienpfle- gezeit haben wir im „Jahr der Pflege“ diesem Problem Rechnung getragen. Die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden Ihnen für Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf danken. Caren Marks (SPD): Eine bessere Unterstützung von Menschen mit Betreuungs- und Pflegebedarf sowie eine stärkere Entlastung von pflegenden Angehörigen sind wichtige Zukunftsthemen. Angesichts der steigen- den Zahlen von Menschen mit Betreuungs- und Pflege- bedarf werden sie immer drängender. Bis zum Jahr 2030 ist mit einem Anstieg von heute 2,37 Millionen Men- schen auf 3,27 Millionen Menschen zu rechnen. Auch die Zahl der demenziell erkrankten Menschen steigt. Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzent- wurf aus dem Hause Schröder, der viel verspricht, aber nichts hält. Warum ist das so? Die Bundesfamilienministerin hat bereits im vergan- genen Jahr groß angekündigt, pflegende Angehörige besser zu unterstützen und zu entlasten. Doch nun legt sie im „Jahr der Pflege“ einen mehr als dürftigen Gesetzentwurf vor. Eine Entlastung für pfle- gende und betreuende Angehörige wird damit in der Pra- xis nicht erreicht. Im Gegenteil: Die schwarz-gelbe Bun- desregierung verlagert die Verantwortung für Pflege in den privaten Bereich. Ein schwerer „Konstruktionsfehler“ ist der fehlende Rechtsanspruch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer. Die Ministerin schlägt ein Arbeitszeitmodell vor, bei dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber freiwillig eine zweijährige Freistellungs- phase vereinbaren können. Hat Bundesministerin Schröder noch Ende vergangenen Jahres vollmundig einen Rechtsanspruch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer auf Familienpflegezeit angekündigt, findet sich ein solcher Anspruch in dem nun vorliegenden Gesetzent- wurf nicht mehr. Sie ist eingeknickt vor der FDP und der Wirtschaft. Deshalb ist das Gesetz nur eine reine Mogel- packung. Das haben bereits zahlreiche Sozialverbände scharf kritisiert. Sehr problematisch ist zudem die von Bundesministe- rin Schröder geplante Versicherungspflicht für pflegende Angehörige, die das geplante Familienpflegezeitmodell in Anspruch nehmen wollen. Ich sage klar: Das ist ein weiterer Schritt in Richtung Individualisierung und Pri- vatisierung des Pflegerisikos. In der Regel wird der Ar- beitnehmer oder die Arbeitnehmerin die Versicherung auf eigene Kosten abschließen müssen. Weitere Punkte sind problematisch: Reduzieren die Pflegenden nach diesem Modell die Arbeitsstunden, müssen sie alleine die finanziellen Lasten schultern. Überwiegend sind es Frauen, die Pflege im häuslichen Bereich leisten. Nehmen sie dieses Modell in Anspruch, dann verschlechtert sich ihre finanzielle Situation noch mehr. Denn Frauen sind wesentlich häufiger als Männer in Teilzeit oder im Niedriglohnsektor beschäftigt und verdienen im Durchschnitt ein Viertel weniger als Män- ner. Welche Verkäuferin im Einzelhandel oder welche Er- zieherin kann sich einen Verzicht auf das ohnehin be- scheidene Einkommen leisten? Dieses Gesetz geht an der Lebenswirklichkeit der meisten Frauen vorbei, Frau Ministerin. Auch verfestigt dieser Gesetzentwurf das konserva- tive Leitbild einer Pflege, in der Frauen weiter die Hauptlast tragen sollen. Die Pflegearbeit muss dringend besser zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Wer die bisherige Arbeit der Ministerin Schröder kennt, wun- dert sich nicht, dass sie bei der Lösung dieser Frage kei- nerlei Ambitionen hat. 13174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Die SPD will älteren Menschen ein menschenwürdi- ges Altern ermöglichen und dafür sorgen, dass Angehö- rige nicht aufgrund von Pflegearbeit aus dem Beruf aus- steigen. Wir brauchen deshalb vor allem eine Stärkung der pflegerischen Infrastruktur und der professionellen Pflege. Angehörige brauchen zudem flexible Zeitmo- delle, um pflegebedürftigen Menschen Zuwendung zu schenken und Pflege zu organisieren. Die SPD hat bereits in der letzten Legislaturperiode deutliche Verbesserungen für betroffene Familienange- hörige durch eine umfassende Pflegereform und das neu eingeführte Pflegezeitgesetz erreicht. Dieses Gesetz ent- hält klare und verbindliche Regelungen, auf die sich die Menschen verlassen können. Dafür hat sich insbe- sondere die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt eingesetzt. Das Pflegezeitgesetz würde pflegende Angehörige noch besser unterstützen, wenn der darin vereinbarte 10-tägige Freistellungsanspruch auch wie das Kinder- krankengeld bezahlt würde. Aber ein solcher Anspruch auf bezahlte Freistellung von der Arbeit im akuten Pfle- gefall ist in der Großen Koalition am Widerstand der CDU/CSU gescheitert. Die SPD wird diese Forderung in Regierungsverantwortung umsetzen, denn die meisten Menschen können sich eine 10-tägige unbezahlte Pflege- zeit nicht leisten. Für die Entlastung und Unterstützung von pflegebe- dürftigen Menschen und ihren Angehörigen ist eine ent- sprechende Pflegeinfrastruktur außerordentlich wichtig. Hier hat die Pflegereform 2008 große Fortschritte ge- bracht. Dabei nenne ich nur die Verbesserung der Ange- bote für Menschen mit Demenz, den Aufbau von Pflege- stützpunkten und die Einführung des Rechtsanspruchs auf Pflegeberatung. Doch die schwarz-gelbe Bundesregierung unter- nimmt nichts, um diese Strukturen nachhaltig zu stärken. Von einem FDP-geführten Bundesgesundheitsministe- rium, das muss ich an dieser Stelle sagen, erwarte ich auch nichts. Die SPD hingegen will weitere Verbesserungen für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige: Wir for- dern ein Rückkehrrecht von Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmern auf einen Vollzeitarbeitsplatz bei Arbeits- zeitreduzierung wegen der Übernahme von familiärer Verantwortung. Menschen mit Pflegebedarf und pflegende Angehö- rige brauchen Zeit, Geld und Infrastruktur. Sie brauchen keine schwarz-gelbe Bundesregierung, die wirkungs- lose Gesetze vorlegt. Von den vollmundigen Ankündi- gungen letzten Herbst ist nichts übrig geblieben. Petra Crone (SPD): 2 Millionen Menschen sind der- zeit in Deutschland pflegebedürftig. 70 Prozent von ih- nen werden zu Hause gepflegt. 75 Prozent der Pflegen- den sind weiblich und zwei Drittel stehen mitten im Berufsleben. Und noch eine Zahl: Im Jahr 2020 wird es 3 Millionen Pflegebedürftige geben. Diese Zahlen haben es in sich. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Die bishe- rigen Regelungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Be- ruf reichen nicht aus. Ulla Schmidt hat ganz richtig das Pflegezeitgesetz mit dem gesetzlichen Anspruch auf zehn Tage bezahlte Pflegezeit bei Eintreten eines akuten Pflegefalles und sechs Monate unbezahlte Pflegezeit auf den Weg gebracht. Doch jetzt brauchen wir mit Blick in die Zukunft deutlich mehr Maßnahmen. Die Betroffenen brauchen flexible Lösungen für ihre individuellen pfle- gerischen und beruflichen Herausforderungen. Auch die Kolleginnen und Kollegen, die heute in der Regierungsverantwortung stehen, nehmen sich des The- mas an – das ist ein guter Schritt in die richtige Richtung und als Überschrift geeignet, Beifall zu bekommen. Aber was bleibt von den vollmundigen Versprechungen der Ministerin? Ein fehlender Rechtsanspruch und jede Menge Kleingedrucktes. Ein groß angekündigtes Projekt soll in nur 30 Minuten debattiert werden und geht – da spät angesetzt – letztendlich zu Protokoll. Das hat etwas von Wegducken und wird dem Thema ganz und gar nicht gerecht. Etwas mehr Ernsthaftigkeit und Leiden- schaft wären wünschenswert gewesen. Wir Sozialdemokraten wollen soziale Gerechtigkeit unter realistischen Bedingungen – das unterscheidet uns von den anderen Parteien. Wir nehmen deshalb nicht hin, dass Arbeitnehmer einseitig belastet werden. Wir wollen nicht, dass sie das Risiko ihrer ohnehin schon schweren Aufgaben unter finanziellen Einbußen alleine tragen. Die Versicherungsbranche lacht sich ins Fäust- chen und die Arbeitgeber lehnen sich entspannt zurück. Zudem ist die starre Zeitregelung im Vorschlag der Bun- desregierung eher hinderlich und kommt, wenn über- haupt, nur für sehr wenige Arbeitnehmer infrage. Ich rate der Regierungskoalition, mit den großen Wohl- fahrtsverbänden, mit Kirchen und mit den Betroffenen zu sprechen. Unisono wird das Gesetz als zu kurzsichtig abgelehnt, denn es fördert keine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, nein, ohne Rechtsanspruch liegt vor uns bestenfalls ein Papiertiger. Wichtig und richtig ist der Vorschlag der Grünen. Sie wollen den Kreis der Berechtigten auch auf Nichtver- wandte ausweiten. Denn das entspricht unserer heutigen Realität. Wie oft wohnen die Kinder einfach nicht in der Nähe? Wie oft sind Pflegebedürftige alleinstehend? Ge- nauso könnten dann der Nachbar oder Freunde diese Menschen versorgen. Außerdem darf die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht mehr ein reines Frauenpro- blem sein, nicht das Problem von Töchtern und Schwie- gertöchtern. Kaum haben sie die Hürden der Vereinbar- keit von Beruf und Familie gemeistert, werden sie – häufig im nahtlosen Übergang – mit der nächsten Hürde, der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, konfrontiert. Auch unterstütze ich die Forderung der Grünen, eine unabhängige und individuelle Beratung für Pflegebe- dürftige und Pflegende sicherzustellen. Denn oft liegt die Überforderung von Pflegenden auch daran, dass sie keine Informationen über ihnen zustehende Leistungen haben. Pflegestützpunkte benötigen wir flächendeckend als zentral gelegene und allseits bekannte Anlaufstellen. Die Linke hat ebenfalls einen interessanten Vorschlag vorgelegt, der zwar in die richtige Richtung zeigt, mir aber aufgrund der Beschränkung auf einen einzelnen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13175 (A) (C) (D)(B) Punkt zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht um- fassend genug erscheint. Ich fordere alle Kollegen und Kolleginnen auf, statt dieses vorgelegte Gesetz zu beschließen, Möglichkeiten für Arbeitnehmer zu schaffen, kurzfristig und ohne große finanzielle Verluste Pflege zu organisieren, die sie dann womöglich selbst oder teilweise übernehmen können. Lassen Sie uns ebenso die Voraussetzung für eine an- gemessene Sterbebegleitung schaffen. Und vor allem lassen Sie uns den Pflegebedürftigen – sofern es ihren Wünschen entspricht – so lange wie möglich zu einem Aufenthalt in ihren eigenen Wohnun- gen verhelfen. Dafür braucht es Investitionen vor allem in barrierefreien Wohnraum, gute Beratung und eine aus- reichende Infrastruktur von Hilfsangeboten vor Ort. Da- mit schaffen wir eine echte Wahlmöglichkeit für meh- rere Generationen und halten am Prinzip ambulant vor stationär fest. Nicole Bracht-Bendt (FDP): Nur 5 Prozent der Deutschen wollen ins Pflegeheim. Gut jeder zweite 18- bis 70-Jährige möchte zu Hause gepflegt werden, sollte er im Alter auf Unterstützung angewiesen sein. Laut ei- ner Forsa-Studie möchte jeder Dritte dann durch Ange- hörige betreut werden. 18 Prozent durch eine Pflege- kraft. Gleichzeitig ist die Bereitschaft, eine nahestehende Person im Ernstfall zu Hause zu pflegen, laut Umfrage relativ hoch. 44 Prozent der Befragten würden sich in je- dem Fall um einen Pflegebedürftigen kümmern. Viele fürchten aber, dass dies aus Zeitmangel und beruflichen Gründen nicht möglich wäre. Das Ergebnis dieser Um- frage zeigt, dass die Koalition mit dem Gesetz zur besse- ren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege genau das ver- folgt, was die Menschen wollen. Wer einmal einen Angehörigen daheim gepflegt hat, weiß, wie schwierig der Spagat zwischen Beruf und Pflege ist. Bislang ist das oft gar nicht machbar. In vielen Fällen müssen die pfle- genden Angehörigen kündigen. Die Rückkehr in den Be- ruf später ist häufig schwierig. Das neue Gesetz ist ein wichtiger Schritt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wenn Beschäftigte ihre Arbeitszeit auf bis zu 50 Prozent reduzieren können – und das bei einem Ge- halt von 75 Prozent des Bruttoeinkommens – ist das in- novativ und zeitgemäß. Arbeitgeber, die ihren Beschäf- tigten während der Familienpflegezeit das Arbeitsentgelt aufstocken, erhalten diese Vorschussleistung durch ein zinsloses Bundesdarlehen des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben refinanziert. Das ist eine unbürokratische Lösung. Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt dieses Ge- setz. In einer Zeit des demografischen Wandels ist es un- verzichtbar, neue Wege zu beschreiten. Die Politik ist in der Pflicht, gerade den Männern und Frauen den Rücken zu stärken, die aufopferungsvoll Familienangehörige pflegen. Wir wollen eine Politik, die dem pflegebedürfti- gen Menschen den Wunsch erfüllt, zu Hause in den eige- nen vier Wänden zu bleiben anstatt in einem Pflegeheim. Dennoch können und wollen wir keinen Arbeitgeber dazu verpflichten, dieses neue Arbeitszeitmodell auch anzubieten. Das muss jeder Betrieb selber entscheiden. Dies war für uns Liberale in der Debatte um dieses neue Gesetz entscheidend. Ein Rechtsanspruch wäre mit der FDP nicht zu machen gewesen. Es gibt jetzt schon gute flexible und freiwillige Ver- einbarungen, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus- reichend und bedarfsgerecht sind. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen sind hier häufig sehr of- fen und flexibel, wenn bei Mitarbeitern plötzlich ein Pflegefall auftritt. Ein Rechtsanspruch könnte auch ge- rade Frauen bei der Jobsuche benachteiligen, weil Ar- beitgeber von vornherein Ausfallzeiten einprogrammie- ren würden. Denn Pflege von Angehörigen wird immer noch – und ich sage hier: bedauerlicherweise – vor allem von Frauen übernommen. Die FDP-Fraktion ist deshalb zufrieden mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf, weil er auf freiwillige Vereinbarungen in den Betrieben setzt. Ich bin sicher, dass die Wirtschaft von der neuen Pfle- gezeitregelung Gebrauch macht. Die Wirtschaft weiß ganz genau, dass familienfreundliche Angebote bei den Mitarbeitern ganz oben auf dem Wunschzettel stehen. Im Wettbewerb um Fachkräfte wird dies künftig sicher- lich eine wichtige Rolle spielen. Familienfreundlich heißt nicht nur flexible Arbeitszeiten für junge Eltern, sondern auch Spielraum und Flexibilität für pflegende Beschäftigte. Das Familienpflegezeitgesetz ist außerdem ein wich- tiger Schritt bei der Neuausrichtung der Pflege. In Deutschland beziehen heute 2,25 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Mehr als 1,5 Millionen Menschen werden zu Hause versorgt. Ein Großteil der anfallenden Pflege- und Betreuungsaufga- ben wird heute in den Familien geleistet. Von den 25- bis 49-jährigen Berufstätigen haben 22 Prozent einen oder mehrere Pflegebedürftige zu versorgen. Und weitere 30 Prozent der Beschäftigten gehen davon aus, dass die- ser Fall innerhalb der nächsten zehn Jahre eintreffen wird. Das ergab eine Umfrage des Instituts für Demo- skopie Allensbach. Dieselbe Umfrage ergab allerdings auch: Für 79 Prozent lassen sich Beruf und Pflege nicht gut vereinbaren. Genau hier setzt das Modell der Fami- lienpflegezeit an. Mit dem Gesetz kommen wir unserem Ziel der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein großes Stück näher. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Da rufen die wechselnden Gesundheitsminister der FDP 2011 vollmundig zum Jahr der Pflege auf, um dann still und leise zu erklären: ist nicht, geht nicht, schaffen wir nicht. Die Begründung lautet: Der Ausstieg aus der Atomener- gie bindet alle Kräfte. Doch die Bürgerinnen und Bürger wissen: Pflegereformen werden nicht im Umweltminis- terium beschlossen. Der Grund liegt woanders. Sie strei- ten wie die Kesselflicker über Eckpunkte und Details. Währenddessen geht der Pflegenotstand munter weiter. Auch bei der Familienpflegezeit braucht das Gesund- heitsministerium Amtshilfe aus dem Ministerium für Fa- milien, Senioren, Frauen und Jugend. Der Berg kreißte 13176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) und gebar eine Maus. Der Gesetzentwurf zeigt deutlich: Ihnen geht es nicht um die Verbesserung der Situation der Pflegebedürftigen oder ihrer Angehörigen, Ihnen geht es einzig und allein um ihr Klientel. Das Gesetz för- dert die Arbeitgeber, nicht die pflegenden Angehörige – das sind meist Frauen. Und eine schöne private Fami- lienpflegezeitversicherung haben Sie auch noch im An- gebot für die angeschlagene Assekuranz. Das Gesetz löst weder das Problem der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf noch das der sozialen Ungleichheit von Versorgungschancen. Nach wie vor wünschen sich viele Menschen, bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit in ihrer vertrauen Umgebung bleiben zu können. Das be- deutet aber nicht, unbedingt von ihren Angehörigen ge- pflegt zu werden. Der Gesetzentwurf setzt allein auf die Bereitschaft der Angehörigen. Die soziale Pflegeversi- cherung wird außen vor gelassen, statt sie zukunftsfest zu machen. Die Schwachpunkte: Sie bieten pflegenden Angehörigen keinen Rechtsanspruch auf bezahlte Pfle- gezeit. Angestellte müssen mit ihrem Arbeitgeber über eine freiwillige und individuelle Vereinbarung verhan- deln. Ja wo leben Sie denn? Wie soll das in kleinen und mittleren Unternehmen funktionieren? Ein weiterer Schwachpunkt: Zu Beginn der Familien- pflegezeit wird festgelegt, wie lange diese dauern soll. Auch das ist weltfremd, denn Pflege ist nicht planbar. Was ist, wenn die Pflege länger als 24 Monate dauert? Frau Schröder setzt auf den „fliegenden Wechsel“. Da muss dann eben das nächste Familienmitglied Familien- pflegezeit beantragen. Ob das realistisch ist, bezweifeln wir entschieden. Wir wissen seit der Affäre Guttenberg, dass Schwarz- Gelb es mit der wissenschaftlichen Redlichkeit nicht allzu genau nimmt. Frau Schröder bezieht sich auf Un- tersuchungen, nach denen die Lebenserwartung der Pfle- gebedürftigen unter 24 Monaten liegt. Wie sollen wir das verstehen? Setzen Sie auf „biologische Lösungen“? Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass Pflege viel länger dauert. In diesen Fällen lassen Sie die pflegenden Angehörigen im Regen stehen. Sie sind noch dazu ver- antwortlich ihrem Arbeitgeber gegenüber und haften für das erhaltende Gehalt. Familienpflege nach Ihrer Fasson geht zulasten der Frauen. Menschen, die schon in Teil- zeit arbeiten – das sind meist Frauen – können ihre Ar- beitszeit aus finanziellen Gründen nicht noch weiter re- duzieren. Apropos Frauen: Der Gesetzentwurf lässt ein vorsintflutliches Frauen- und Menschenbild erkennen. Sie arbeiten mit dem schlechten Gewissen nahestehen- der Menschen nach dem Motto: Wer einen Angehörigen in ein Heim „abschiebt“ ist eine Rabentochter. Sie wollen den Vorrang der häuslichen Pflege stärken, damit dauerhafte Einsparungen in der sozialen Pflege- versicherung erzielt werden. Das sagen sie klipp und klar. Die Frauen bleiben auf der Strecke, sie sollen neben Job und Familie mal eben noch ehrenamtlich pflegen. Damit verlagern Sie die Pflege in das private Lebensum- feld. Wir sehen das anders: Pflege und die Betreuung al- ter oder kranker Menschen, die ohne Hilfe die Anforde- rungen des Alltags nicht mehr bewältigen können, sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir fordern: Die von Anfang an unterfinanzierte soziale Pflegeversiche- rung ist auszubauen, und die Verteilung der Pflege- und Assistenzaufgaben zwischen Staat und Familie zuguns- ten einer stärkeren öffentlichen Verantwortung zu ver- schieben. Das Gesetz bringt keine wirkliche Verbesserung, son- dern weicht bestehende Regelungen auf. Bereits heute können Beschäftigte nach dem Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeiten Arbeitszeitkonten für Pflege in Anspruch nehmen. Die Linke setzt auf professionelle Pflege und begleitende Angebote zur Unterstützung Angehöriger. Damit wird die pflegerische Versorgung von Angehöri- gen gewährleistet. Wir fordern eine sechswöchige be- zahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, die der Organisation der Pflege und der ersten pflegerischen Versorgung dient. Darüber hinaus sind die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung anzuheben. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mehr Schein als Sein. Unter diesem Motto kommt nicht nur das von der Bundesregierung so voll- mundig angekündigte „Jahr der Pflege 2011“ daher. Auch der uns vorliegende Gesetzentwurf zur Familien- pflegezeit steht ganz in diesem Zeichen. Einen Rechts- anspruch auf diese Familienpflegezeit wird es nicht geben. Stattdessen mutiert der ohnehin stark verbesse- rungswürdige Versuch zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu einem zahnlosen Tiger. Wenn der Arbeitgeber die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht als oberstes Ziel seiner Firmenphilosophie sieht, dann muss er nicht handeln. Es bleibt jedem freiwillig überlassen. Unver- bindlicher geht’s nimmer. Den Pflegenden in diesem Lande nutzt dieses Gesetz damit überhaupt nichts, wenn der Arbeitgeber nicht mitspielt. Wie naiv aber ist es, an- zunehmen, dass die Mehrheit der Arbeitgeber nun frei- willig die Familienpflegezeit anbieten? Da nutzen auch die im Gesetz vorgesehenen KfW-Darlehen als Anreiz nichts. Es ist schon ein starkes Stück, wenn sich der Par- lamentarische Staatssekretär, Herr Kues, in der Frage- stunde am 6. April erdreistet zu sagen, dass doch eine Art von Rechtsanspruch bestehe – allein wenn Arbeitge- ber und Beschäftigte eine Vereinbarung über eine Fa- milienpflegezeit treffen. Wortwörtlich Herr Kues – ich zitiere –: „Das ist eine bestimmte Art von Rechtsan- spruch.“ Solche Vereinbarungen oder Aushandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren bereits vor dem Amtsantritt von Schwarz-Gelb und vor diesem Gesetz möglich. Diesen Spielraum haben einzelne Un- ternehmen auch vorher schon genutzt. Dafür brauchen wir kein Gesetz. Wir brauchen auch keine vollmundigen Ankündigungen in den Medien zur Entlastung pflegen- der Angehöriger, wenn diese dann doch die Hauptlast tragen müssen. Frau Ministerin Schröder, Sie sind nicht die Ministe- rin für Unternehmensberatung. Sie sind auch nicht Ministerin für wohlklingende, aber nichtsnutzige Appelle. Sondern Sie haben als Ministerin die Aufgabe, für die Bürgerinnen und Bürger, die die verantwortungs- volle Pflege eines Angehörigen übernehmen, konkrete Unterstützung und Entlastung zu erwirken. Auf die kön- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13177 (A) (C) (D)(B) nen sie allerdings lange warten: Denn wer, bitte schön, kann schon auf 25 Prozent seines Gehaltes verzichten? Und das auch noch bis zu vier Jahre lang: maximal zwei Jahre für die Pflegezeit und dann weitere zwei Jahre, in denen die Beschäftigten gleichsam den KfW-Kredit zu- rückzahlen müssen. Der Arbeitnehmer, und zwar nur der Arbeitnehmer, trägt das volle Risiko: Er muss sich in dieser ganzen Zeit gegen den Ausfall einer möglichen Rückzahlung pflichtversichern. Freuen wird sich dage- gen die Versicherungswirtschaft. Für die tut sich ein völ- lig neues Geschäftsfeld auf. Wir sind schon sehr ge- spannt, welche Policen und Beiträge hier angeboten werden. Denn der Gesetzentwurf lässt völlig offen, wie viel eine solche Prämie kosten soll, und setzt damit den Versicherungsunternehmen kaum Grenzen. Aber Ver- braucherschutz ist ja ohnehin nicht die Stärke dieser Re- gierung. Dieses Gesetz ist ein einziger familienpoliti- scher Fehlschlag. Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Erstens. Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine Antwort auf die Bedürfnisse vieler Menschen in Deutschland: Wir wissen, dass kranke und ältere Menschen so lange wie möglich zuhause bei der Familie bleiben wollen. Wir wis- sen, dass viele Menschen ihre betagten Angehörigen gerne zuhause pflegen möchten. Wir wissen, dass diese Menschen dabei große Opfer bringen. Wir wissen, dass die meisten dieser Menschen berufstätig sind, dass sie ihr Einkommen brauchen und dass es mit Mitte, Ende 50 der sichere Weg in die Arbeitslosigkeit wäre, länger oder ganz aus dem Beruf auszusteigen. Weil wir all das wissen, wollen Union und FDP Men- schen mit der Doppelbelastung Pflege und Beruf nicht allein lassen. Menschen, die ein Leben lang viel geleistet haben, verdienen einen würdigen Lebensabend. Men- schen, die ihren Angehörigen einen würdigen Lebens- abend schenken, verdienen unsere Unterstützung. Des- halb brauchen wir die Familienpflegezeit. Zweitens. Rund 90 Prozent der Bevölkerung halten es für „sehr wichtig“ oder „wichtig“, dass es Berufstätigen erleichtert wird, Angehörige zu pflegen. Genau hier setzt unser Gesetzentwurf an. Die Familienpflegezeit schafft die Voraussetzungen dafür, dass Menschen endlich die Chance bekommen, Beruf und die Pflege eines Angehö- rigen zu vereinbaren. Ich skizziere kurz die wichtigsten Eckpunkte des Gesetzentwurfs: Arbeitgeber und Arbeitnehmer können eine Reduzie- rung der wöchentlichen Arbeitszeit für die Dauer von höchstens zwei Jahren zur häuslichen Pflege eines Ange- hörigen vereinbaren. Pflegende Angehörige können ihre Arbeitszeit in der Pflegephase zwei Jahre lang auf bei- spielsweise 50 Prozent reduzieren, erhalten aber den- noch 75 Prozent ihres Gehalts. Anschließend arbeiten die Beschäftigten in der sogenannten Nachpflegephase wieder so viel wie vor der Pflegephase, erhalten aber zwei Jahre nur 75 Prozent ihres Gehalts, bis die Zeitdif- ferenz nachgearbeitet ist. Die Entgeltaufstockung erfolgt zulasten eines Wertguthabens, das die Beschäftigten nach Beendigung der Familienpflegezeit in der Nach- pflegephase wieder auffüllen. Das Ausfallrisiko deckt eine Familienpflegezeitversicherung ab, die mit der Ver- einbarung einer Familienpflegezeit abgeschlossen wer- den muss. Diese Regelungen werden vielen Menschen in Deutschland – pflegebedürftigen genauso wie pflegen- den – das Leben erleichtern. Schon heute werden ja mehr als zwei Drittel der Pflegebedürftigen – gut 1,6 Millionen Menschen – zu Hause versorgt. Drittens. Neben der Entlastung der pflegenden Be- schäftigten hat unser Vorschlag weitere wichtige Vor- teile: Zum einen: Das Modell ist auch für die Wirtschaft hoch attraktiv. Wir greifen damit die Interessen der Un- ternehmen auf, Beschäftigte in Zeiten des Fachkräfte- mangels in den Betrieben zu halten. Bereits jetzt haben demografische Entwicklungen zur Folge, dass jedes dritte Unternehmen Rekrutierungsprobleme hat. Mitar- beiterinnen und Mitarbeitern Zeit für Verantwortung zu ermöglichen, zahlt sich im Wettbewerb um die besten Köpfe und die qualifiziertesten Kräfte aus. Zum anderen: Die Familienpflegezeit ist ein wichti- ges Instrument beim Kampf gegen die Altersarmut. Die Pflegenden können Verantwortung für ihre Angehörigen übernehmen, ohne ihre Arbeitsstelle und Rentenansprü- che zu verlieren. Das hilft gerade Beziehern geringer Einkommen. Denn während der Familienpflegezeit be- kommen Arbeitnehmer Rentenpunkte für ihren Arbeits- lohn und für die mit der Familienpflegezeit erweiterte Lohnzahlung. Zusätzlich bekommen sie noch Renten- punkte durch die Leistungen der Pflegeversicherung zur Rente der pflegenden Angehörigen. Im Ergebnis ist das gerade bei Arbeitnehmern in den unteren Einkommens- gruppen mehr, als sie in dieser Zeit im Angestelltenver- hältnis bekämen. Mit der Familienpflegezeit verhindern wir also, dass die pflegenden Angehörigen von heute die Sozialfälle von morgen werden, deren Rente dann wiederum auf Kosten der Steuerzahler aufgestockt werden muss. Einen weiteren Vorteil möchte ich noch erwähnen: Die Familienpflegezeit ist besonders für diejenigen ein attraktives Angebot, die einen Vollzeitjob mit der Pflege eines Angehörigen vereinbaren müssen. Das sind vor al- lem Männer, weil Frauen in der relevanten Altersgruppe viel häufiger Teilzeit arbeiten. Insofern trägt die Fami- lienpflegezeit dazu bei, dass die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht länger nur als Aufgabe von Frauen wahrgenommen wird. Viertens. Mit der Familienpflegezeit schaffen wir also ein innovatives Modell, das die Bedürfnisse der Men- schen trifft und das die Bürgerinnen und Bürger entlas- tet, ohne die Sozialsysteme zusätzlich zu belasten. Ich bin überzeugt: Die Familienpflegezeit wird eine Erfolgsgeschichte – so wie die Altersteilzeit. Auch da- rauf gab es keinen Rechtsanspruch. Trotzdem wurde sie dankbar in Anspruch genommen. Nach wenigen Jahren waren es über 100 000 Fälle. Wir brauchen machbare und vor allem konkrete Lö- sungen für die vielen pflegenden und pflegebedürftigen 13178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Menschen in Deutschland. Heute sind es etwa 2,38 Mil- lionen Menschen, die als Pflegebedürftige Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen. Nach derzeitigen Hochrechnungen werden es in 20 Jahren mehr als 3,2 Millionen, bis zum Jahr 2050 sogar über 4,3 Mil- lionen sein. Wenn Sie wie ich der Meinung sind, dass wir die Fol- gen dieser Entwicklung nicht allein den Sozialkassen aufbürden können, und wenn Sie wie ich der Meinung sind, dass es richtig ist, Menschen zu unterstützen, die sich Zeit für Verantwortung nehmen wollen, dann stim- men Sie für unseren Gesetzentwurf. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die Fort- entwicklung des Emissionshandels (Tagesord- nungspunkt 17) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): Die Novelle zum Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz, TEHG, ist ein großer Fortschritt in unseren Bemühungen beim Kli- maschutz. Wir schaffen damit die Grundlagen für die eu- ropaweite Weiterentwicklung des Emissionshandels. Neu ist, dass wir zukünftig nicht mehr 27 verschie- dene Allokationspläne haben werden. Die einzelnen na- tionalen Regelungen werden dahin gehend harmonisiert, dass die Emissionsberichterstattung, die Versteigerung und insbesondere die Regelungen für die Zuteilung der Emissionszertifikate europaweit einheitlich erfolgen. Damit erreichen wir ein noch stärker einheitliches Vor- gehen beim Klimaschutz und gleiche Wettbewerbsbe- dingungen in der Europäischen Union. Neu ist auch, dass ab dem kommenden Jahr der Luftverkehr und ab 2013 weitere emissionsintensive Industriebranchen und Treibhausgase in den Emissionshandel einbezogen wer- den. Damit werden ab 2013 in Deutschland 2 000 Anla- gen und 200 Fluggesellschaften am Emissionshandel teilnehmen. Worüber ich mich besonders freue, ist, dass die Versteigerungserlöse in den Energie- und Klima- fonds einfließen und damit die Umsetzung des Energie- konzeptes sowie unsere Bemühungen beim Klimaschutz unterstützen helfen. Die TEHG-Novelle ist ein Bekennt- nis zu einem engagierten Klimaschutz und zum Indus- triestandort gleichermaßen. Der Beitrag zum Klima- schutz wird neben der 100-prozentigen Versteigerung durch die Absenkung der Gesamtmenge an Berechtigun- gen deutlich. Das Bekenntnis zum Industriestandort kommt dadurch zum Ausdruck, dass Industriebranchen, die in einem intensiven internationalen Wettbewerb ste- hen, von der Versteigerung ausgenommen sind. Außer- dem haben wir Entlastungen für kleine und mittlere Un- ternehmen vorgesehen. Deren Anlagen stoßen im Vergleich zur Gesamtmenge geringe Mengen an CO2 aus; dennoch werden sie durch die Kosten des Emissi- onshandels im Verhältnis zu ihrer Emissionsmenge über- proportional belastet. Das haben wir in entsprechenden Regelungen berücksichtigt. Als Ergebnis der parlamen- tarischen Beratungen haben wir uns auf einige Änderun- gen des Gesetzentwurfes geeinigt: Die Erweiterung der Ausnahmeregelung für Müllver- brennungsanlagen – § 2 „Anwendungsbereich“ – sieht einen Verzicht auf das Heizwertkriterium zur Abgren- zung von Siedlungsabfällen vor. Die Änderung von Abs. 5 Nr. 3 setzt die Bereichsausnahme für Anlagen zur Verbrennung von gefährlichen Abfällen oder Siedlungs- abfällen aus der Emissionshandelsrichtlinie unmittelbar in deutsches Recht um. Nach der Änderung obliegt es nunmehr im Zweifel den für die Erteilung der Emissi- onsgenehmigung zuständigen Landesbehörden, aus dem Kreis der Abfallverbrennungsanlagen diejenigen Anla- gen festzulegen, deren Hauptzweck auf die Verbrennung von gefährlichen Abfällen oder Siedlungsabfällen ge- richtet ist. Mit der Einführung einer Härtefallregelung bei der kostenlosen Zuteilung – § 9 „Zuteilung von kos- tenlosen Berechtigungen an Anlagenbetreiber“ – knüp- fen wir an die bestehende Härtefallregelung im ZuG 2012 an. In der dritten Handelsperiode werden die Zuteilungs- regeln durch den Beschluss 2011/278/EU der Kommis- sion vom 27. April 2011 zur Festlegung EU-weiter Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kosten- losen Zuteilung von Emissionszertifikaten gemäß Art. 10 a der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 130 vom 17. Mai 2011, Seite 1, europarechtlich determiniert. Dabei ist nicht auszuschließen, dass ein Anlagenbetreiber in ei- nem atypischen Sonderfall nach den nationalen Zutei- lungsregeln zur Umsetzung dieses Beschlusses eine Zu- teilung erhalten würde, die so gering ist, dass dadurch auch unter Berücksichtigung der Zeitdauer seit Einfüh- rung des EU-Emissionshandels eine verfassungsrecht- lich unverhältnismäßige Härte entstünde. Nach den eu- ropäischen Grundrechten und dem europäischen Grund- satz der Verhältnismäßigkeit hätte der Anlagenbetreiber unter diesen Voraussetzungen einen Anspruch auf eine Aufstockung der Zuteilung auf ein Niveau, durch das eine unverhältnismäßige Härte vermieden wird. Die Rechtsverordnung – § 10 Rechtsverordnung über Zuteilungsregeln – bedarf jetzt der Zustimmung des Bundestages und entspricht damit der Regelung in § 65 Abs. 5 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in der Fas- sung des Europarechtsanpassungsgesetzes Erneuerbare Energien. Für die Benutzung elektronischer Formatvorlagen – § 23 „Elektronische Kommunikation“ – ist zukünftig die Übermittlung zusätzlicher Dokumente als Ergänzung der Formatvorlagen unter Beachtung von Formvorschrif- ten möglich. Die Ergänzung trägt dem Umstand Rech- nung, dass es in Einzelfällen erforderlich sein kann, nicht von einem Formular erfasste Angaben zu übermitteln oder klarstellend das Anliegen zu erläutern. Mit der vor- geschlagenen Öffnung wird die Möglichkeit für die Be- treiber zwar an die Nutzung der elektronischen Format- vorlagen gekoppelt, aber als deren Ergänzung erlaubt. Mit der Einbeziehung von Weiterverarbeitungsanla- gen der Stahlindustrie – § 24 „Einheitliche Anlage“ – in die einheitliche Anlage wird die Rechtslage aus der Han- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13179 (A) (C) (D)(B) delsperiode 2008 bis 2012 mit dem erweiterten Anwen- dungsbereich in der Handelsperiode 2013 bis 2020 fort- geführt. Umfangreiche Änderungen haben wir auch bei den Kleinemittenten vorgenommen – § 27 „Befreiung für Kleinemittenten“. Durch die Erweiterung der Kleinanla- genregelung werden jetzt alle Effizienzverbesserungen der Kleinanlagen anteilig auf den zu zahlenden Aus- gleichsbetrag angerechnet. Die geänderte Fassung von § 27 Abs. 3 stellt sicher, dass bei der Selbstverpflichtung zur Minderung des anlagenspezifischen Emissionswer- tes die tatsächlich erbrachten Minderungsleistungen an- teilig auf den Ausgleichsbetrag angerechnet werden. Die Änderung trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die administrativen Kosten des Emissionshandels auch für Kleinanlagen mit einer Befreiung nach § 27 im Verhält- nis zur produzierten Emissionsmenge überproportional hoch sind. Um den Anwendungsbereich der Erleichterungen für Kleinanlagen auf dem Gebiet der Berichterstattung zu erweitern, wird die Höchstschwelle aus § 27 Abs. 5 Satz 1 von 15 000 auf 20 000 heraufgesetzt. Diese Kleinanla- gen decken weiterhin nur einen sehr geringen Anteil der Treibhausgasemissionen in Deutschland ab. Gerade die Kosten für die Emissionsberichterstattung stehen bei diesen Anlagen in einem ungünstigeren Verhältnis zu den erzielten Emissionsminderungen als bei größeren Anlagen. Die Anforderungen an die Emissionsberichter- stattung werden deshalb vereinfacht. Auf diese Weise werden sie vom bürokratischen Aufwand, den das Emis- sionshandelssystem mit sich bringt, entlastet. Außerdem haben wir klargestellt, dass ein Anlagenbetreiber, der nach Überschreiten der Emissionsschwelle für Kleinan- lagen wieder der Pflicht zur Abgabe von Emissionsbe- rechtigungen unterliegt, eine Zuteilung kostenloser Be- rechtigungen nach § 9 erhält. Eine Änderung haben wir auch bei den „Bußgeldvor- schriften – § 32 „Bußgeldvorschriften“ – vorgenommen. Hier ist jetzt geregelt, dass ordnungswidrig handelt, wer eine in Abs. 1 bezeichnete Handlung fahrlässig begeht. Für fahrlässig begangene Handlungen ist im angepassten Abs. 3 eine wesentlich geringere Geldbuße vorgesehen als bei vorsätzlicher Begehungsweise. Ich teile die Einschätzung von Bundesumweltminister Dr. Röttgen, der den Emissionshandel als das zentrale Instrument zur Reduzierung von Treibhausgasen be- zeichnet hat. Nicht nur, dass wir Treibhausgasemissio- nen reduzieren; durch die Vereinheitlichung erreichen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa, und un- sere Unternehmen werden zur Entwicklung neuer und besserer Technologien angehalten – das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass andere Länder genau verfol- gen, wie wir in Europa den Emissionshandel regeln und wie unsere Unternehmen mit den veränderten Rahmen- bedingungen umgehen. Das europäische Emissionshan- delssystem hat Vorbildcharakter. Josef Göppel (CDU/CSU): Wir sind Zeugen eines sich wandelnden Weltklimas. Mit dem Klima ändern sich die Lebensbedingungen auch in Deutschland. Wenn es nicht gelingt, den globalen Klimawandel in Grenzen zu halten, wird das weitreichende Folgen für die Natur als unsere Lebensgrundlage und damit für unsere Gesell- schaft und unser Wirtschaften haben. Eine erfolgverspre- chende Klimapolitik braucht deshalb zwei Säulen: Ers- tens die Vermeidung von Treibhausgasen und zweitens die Anpassung an die Folgen des Klimawandels, die schon heute nicht mehr vermeidbar sind. Der Emissions- handel ist dabei ein zentrales Instrument zur Reduzie- rung von Treibhausgasen, die den Motor für den Klima- wandel darstellen. Die Bundesregierung hat am 16. Februar 2011 auf der Grundlage der reformierten europäischen Richtlinie zum Emissionshandel die Novelle des Treibhausgas-Emis- sionshandelsgesetzes beschlossen. Diese Entscheidung dient der Weiterentwicklung des Emissionshandels für die bevorstehende Handelsperiode 2013 bis 2020 und setzt zugleich die europäische Richtlinie in nationales Recht um. Die Novelle stellt einen wesentlichen Fortschritt für den Klimaschutz dar: Ab dem Jahr 2013 gibt es damit ein einheitliches EU-Emissionshandelssystem und nicht wie bisher 27 Einzelsysteme. Erstmals wird eine gesamt- europäische Obergrenze für die Emissionsmenge festge- legt. Die Harmonisierung des Emissionshandelssystems trägt ganz wesentlich dazu bei, dass Wettbewerbsverzer- rungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten beseitigt werden können. Ab 2013 werden in Deutschland 2 000 Anlagen am Emissionshandel teilnehmen. Bisher waren es in Deutschland nur 1 665 Anlagen. Ich sehe es als Erfolg der Politik, dass ab 2012 auch der Luftverkehr und ab 2013 weitere emissionsintensive Industriebranchen in den Emissionshandel einbezogen werden. In keinem anderen Sektor steigen die Emissionen so schnell an wie im Luftverkehr. Die Treibhausgasemissio- nen aus dem Flugverkehr haben sich seit 1990 in Europa fast verdoppelt. Ab 2012 fallen alle Flüge, die von euro- päischen Flughäfen abgewickelt werden, unter das Emis- sionshandelsrecht der Europäischen Union. Hier ist es nach meiner Auffassung richtig, am Verursacherprinzip festzuhalten: Europa sollte sich nicht durch die Drohun- gen Chinas, bei Einführung des Emissionshandels im Flugverkehr Zwangsabgaben für europäische Fluggesell- schaften einzuführen, vom richtigen Weg abbringen las- sen. Hier kann und muss Europa als Vorbild vorangehen. Ich teile die Auffassung von Klimaschutzkommissarin Hedegaard, dass es bei der beschlossenen europäischen Gesetzgebung zum Flugverkehr keinen Rückzieher ge- ben darf. Neben dem Flugverkehr gibt es aber auch andere Wirtschaftsbereiche, die eventuell in den Emissionshan- del einzubeziehen sind. Hier sind die Landwirtschaft und der Straßen- und Schiffsverkehr zu nennen. Die Regierung in Neuseeland will zum Beispiel die Landwirtschaft ab 2015 in den Emissionshandel einbe- ziehen. Viele Landwirte erhoffen sich daraus sogar Ein- nahmen. 13180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Die internationale Seeschifffahrt ist genauso wie der Flugverkehr ein stark wachsender Sektor. Eine aktuelle Studie des Öko-Instituts hat gezeigt, dass die Einbin- dung des Seeverkehrs in das europäische Emissionshan- delssystem problemlos vollzogen werden könnte. Da- rüber hinaus bin ich der festen Überzeugung, dass mehr Klimaschutz im Straßenverkehr notwendig und möglich ist. Der Emissionshandel kann die effizienteste Form sein, die verschiedenen Emissionen des Verkehrs- und Transportsektors einheitlich zu behandeln. Der zukünftige Erfolg des europäischen Emissions- handelssystems steht und fällt mit dem Wert der Zertifi- kate. Ich habe große Sorge, dass es mit der Beibehaltung des 20-Prozent-Minderungszieles zu einem Preisverfall bei den Zertifikaten kommt. Mit dem Erreichen des 20-Prozent-Zieles verlieren die Zertifikate an Wert. Der Bundesrat hat sich mit der Novelle des Treib- hausgas-Emissionshandelsgesetzes ebenfalls befasst. Die Änderungsanträge der Regierungsfraktionen zum Entwurf vom Februar 2011 tragen den Wünschen des Bundesrates in weiten Teilen Rechnung. Das betrifft ins- besondere die Entlastung für kleinere und mittlere Un- ternehmen; denn gerade kleine Anlagen mit geringen Emissionen würden von den Verwaltungskosten des Emissionshandels im Verhältnis zu ihren Emissionsmen- gen überdurchschnittlich belastet. Mit der Kleinanlagen- regelung werden zukünftig alle Effizienzverbesserun- gen anteilig auf den zu zahlenden Ausgleichsbetrag angerechnet. Zudem wird es eine Härtefallregelung bei der kostenlosen Zuteilung für Zertifikate geben. Mit einer erweiterten Ausnahmeregelung für Müll- verbrennungsanlagen – konkret dem Verzicht von Heiz- wertkriterien zur Abgrenzung von Siedlungsabfällen – kommen die Änderungsanträge der Regierungsfraktio- nen ebenfalls den Bundesländern entgegen. Es könnte allerdings sein, dass die Kommission die Ausnahmen nicht als ausreichende Umsetzung der euro- päischen ETS-Richtlinie akzeptiert. Beim Vollzug des Emissionshandels in Deutschland wird die Aufgabenver- teilung zwischen Bund und Ländern eindeutig geregelt. Die Landesbehörden werden für die Emissionsgenehmi- gungen zuständig sein. Den gesamten Bereich der Emis- sionsüberwachung übernimmt zukünftig das Umwelt- bundesamt. Der Forderung des Bundesrates nach einer Beteili- gung der Länder an den Versteigerungserlösen können wir nicht nachkommen. Die Weiterentwicklung des europäischen Emissions- handels stellt einen wesentlichen Fortschritt dar und schafft ein vorbildliches System zur Treibhausgasredu- zierung. Zugleich werden Wettbewerbsverzerrungen zwi- schen den Mitgliedstaaten, die durch unterschiedliche Zuteilungsregelungen entstehen konnten, beseitigt. Mit den Erlösen aus dem Emissionshandel werden weitere Klimaschutzmaßnahmen finanziert. Frank Schwabe (SPD): Thema der heutigen Diskus- sion ist die Weiterentwicklung des Emissionshandels. Die Emissionshandelsrichtlinie der EU wurde geändert und muss nun in nationales Recht umgesetzt werden. Der Emissionshandel wird ab 2013 europaweit stärker har- monisiert. Das betrifft vor allem die Regeln für die kos- tenlose Zuteilung der Emissionszertifikate und für die Versteigerung. Bisher konnten die 27 Mitgliedstaaten je- weils eigene Regeln für die kostenlose Zuteilung festle- gen. Für die Zeit ab 2013 werden für alle Mitgliedstaaten einheitliche EU-Zuteilungsregeln Grundlage für die Zu- teilung sein. Für die Produktion von Strom wird es ab 2013 keine kostenlosen Emissionszertifikate mehr ge- ben. Kraftwerksbetreiber müssen also die benötigten Emissionszertifikate ersteigern. Eine Begründung für Anhebungen der Strompreise ist dies jedoch nicht, da die Kraftwerksbetreiber bereits seit 2005 die Preise der Emissionszertifikate an die Stromkunden weitergeben, auch wenn sie diese Zertifikate kostenlos erhalten haben. Dennoch ist absehbar, dass ab 2013 die Stromversorger die Preise erhöhen und den Emissionshandel als Grund angeben werden. Höhere Strompreise dürfen nicht dafür sorgen, dass energieintensive Unternehmen aus Deutsch- land abwandern und in Weltregionen ziehen, in denen es keine oder sehr wenig Klimaschutzpolitik gibt, und dort die gleichen Produkte herstellen, wahrscheinlich mit ei- nem höheren CO2-Ausstoß als hierzulande. Damit ist we- der dem Klimaschutz noch den Arbeitsplätzen gedient. Wie dringend entschlossenes Handeln im Klima- schutz ist, zeigen die neuesten Zahlen der Internationa- len Energieagentur. Laut Internationaler Energieagentur sind die Kohlendioxidemissionen im Jahr 2010 auf ein Rekordhoch gestiegen und lagen sogar um 5 Prozent hö- her als im bisherigen Rekordjahr 2008. Weltweit wurden im vergangenen Jahr 30,6 Gigatonnen Kohlendioxid ausgestoßen. Diese Entwicklung ist alarmierend. Viele Experten haben nun große Sorge, dass das Ziel der Erd- erwärmung um weniger als 2 Grad gegenüber dem Wert des Jahres 1990 nicht erreicht werden kann, wenn die Emissionen in Zukunft genauso rasant steigen werden. Um das 2-Grad-Ziel noch zu erreichen, dürfen im Jahr 2020 nicht mehr als 32 Gigatonnen CO2 ausgestoßen werden. Das bedeutet, dass die Emissionen in den kom- menden 10 Jahren langsamer steigen müssten als zwi- schen 2009 und 2010. Klimapolitik ist wichtiger denn je. Alle Techniken für den Klimaschutz sind vorhanden, wirtschaftlich ist Klimaschutz ein Erfolgsmodell. Wir müssen nur handeln, und zwar schnell! Doch das scheinen nicht alle hier im Bundestag so zu sehen. Thomas Bareiß, der Koordinator für Energiepoli- tik der CDU/CSU-Fraktion, erklärte diesen Montag, dass die Klimaschutzziele, die sich Deutschland gesetzt hat, infrage zu stellen seien. Diese Aussage zeigt die Konfu- sion, die in der CDU herrscht. Nach der dramatischen Niederlage der gesamten Fachpolitiker der Union in der Atomfrage kommt jetzt der dreiste Angriff auf die Kli- mapolitik. Richtig ist das genaue Gegenteil. Der Aus- stieg aus der Atomtechnologie gekoppelt mit den richti- gen Anreizen für den Ausbau der erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz macht gerade ein Mehr an Klimaschutz möglich. Deshalb macht das nationale 40-Pro- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13181 (A) (C) (D)(B) zent-CO2-Minderungsziel weiterhin großen Sinn. Da- rüber hinaus muss das 30-Prozent-Ziel in der EU endlich durchgesetzt werden. Umweltminister Röttgen hat sich dazu mehrfach positioniert. Die CDU muss ihre Position auch hier klären. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch die gemein- same Sitzung des Umweltausschusses mit dem Umwelt- ausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel er- wähnen. Schwerpunkt war die europäische Klimapolitik. Diese gemeinsame Sitzung war sehr wichtig, und ich denke, dass wir als Umweltausschuss ein wichtiges Si- gnal für das 30-Prozent-Ziel setzen konnten. Es ist gut, dass der ENVI, der Umweltausschuss der Europäischen Parlaments, sich einen Tag später für das 30-Prozent- Ziel ausgesprochen hat; ein Votum, dem sich das Plenum des Europäischen Parlaments hoffentlich anschließen wird. Jedoch legt die Novelle des TEHG, über die wir heute reden, zurzeit nur die Grundlagen für einen Emissions- handel für das 20-Prozent-Ziel der EU. Das TEHG regelt die Grundlagen der Zuteilung. Weitere Details werden in der Zuteilungsverordnung geregelt, die das BMU gerade erarbeitet. Das TEHG setzt die geänderte Emissionshan- delsrichtlinie um. Insoweit hatte die Bundesregierung geringen Gestaltungsspielraum, da die Richtlinie die Än- derungen des Emissionshandels sehr detailreich geregelt hat. Nicht allen Regelungen, mit denen die Bundesregie- rung die Richtlinie umgesetzt hat, können wir zustim- men. Die Koalition hat Änderungsanträge zum TEHG vorgelegt. In diesen Änderungen werden Punkte er- wähnt, denen wir zustimmen können, jedoch auch fal- sche Regelungen angeführt. Aus diesen Gründen können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, sondern wer- den uns enthalten. Von großer Wichtigkeit ist die Verwendung der Erlöse des Emissionshandels. Im TEHG wird geregelt, dass die Einnahmen aus dem Emissionshandel dem Bund zuste- hen. Weitergehende Vorgaben macht das TEHG nicht. Es gelten jedoch die Bestimmungen der EU-Emissionshan- delsrichtlinie, dass „diese Einkünfte verwendet werden sollten, um den Klimawandel in der EU und in Drittlän- dern zu bekämpfen.“ Aus den Einnahmen des Emissions- handels sollen nach aktuellen Vorstellungen sowohl aus der Koalition als auch der SPD neben nationalen und in- ternationalen Klimaschutzprojekten unter anderem auch Projekte der Gebäudesanierung, des Marktanreizpro- gramms, der Elektromobilität und der Kompensation möglicher Strompreiserhöhungen für die energieinten- sive Industrie finanziert werden. Ab 2012 wird auch der Luftverkehr in den Emissionshandel einbezogen und soll einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Wenn der Luft- verkehr in dieser Weise verpflichtet wird, so sollten auch Lösungen für mehr Klimaschutz im Luftverkehr unter- stützt werden. Mit den Erlösen sollen auch mögliche Strompreiser- höhungen ausgeglichen werden, die die Wettbewerbsfä- higkeit der energieintensiven Industrie bedrohen könn- ten. Nach Art. 10 a Abs. 6 der ETS-Richtlinie können die Mitgliedstaaten finanzielle Ausgleichsmaßnahmen für von Carbon Leakage, also vom nachweislich durch den Emissionshandel verursachten Strompreisanstieg, betroffene Industriebranchen einführen. Diese Kompen- sation sollte gemäß der ETS-Richtlinie nur dann gewährt werden, wenn sie erforderlich und verhältnismäßig ist. In dem Beschluss „Neue Energie“ von SPD-Vorstand und Parteirat wurde beschlossen, dass wir für energiein- tensive Unternehmen, die vor allem Strom benötigen, ei- nen Ausgleich unter eng gefassten Voraussetzungen aus den Einnahmen des Emissionshandels ab 2013 prüfen werden. Um Beihilfen dieser Art zu ermöglichen, muss auf EU-Ebene zuerst der Rahmen für Umweltschutzbei- hilfen geändert werden. Die EU-Kommission wertet zur- zeit die Eingaben des Konsultationsprozesses für staatli- che Beihilfen im Emissionshandel aus. Bis Ende des Jahres möchte die EU-Kommission eine Regelung tref- fen, wie diese Beihilfen ausgestaltet werden können. Wichtig wird dabei, dass denen geholfen wird, die an- sonsten den Wirtschaftsstandort Deutschland verlassen würden. Es kann jedoch nicht sein, dass Emissionshan- delsgelder für alle mit der Gießkanne ausgeschüttet werden. Für einen eng gefassten Kreis an betroffenen Unternehmen sollte die Differenz zwischen dem Durch- schnittspreis der Emissionsberechtigungen der jetzigen Zuteilungsperiode und dem durchschnittlichen Preis der Zertifikate in der nächsten Handelsperiode erstattet wer- den. Weitere wichtige Themen im TEHG sind der Umgang mit Abfallverbrennungsanlagen, die Diskussion, ob Raum für eine Härtefallregelung besteht, wie mit Zünd- und Stützfeuerung umzugehen ist und wie die Regelung für Kleinemittenten verbessert werden kann. Die Koalition hat in ihrem Änderungsantrag beschlossen, das Kriterium des durchschnittlichen Heizwertes der eingesetzten Ab- fälle abzuschaffen. Damit werden auch Ersatzbrennstoff- kraftwerke aus dem Emissionshandel ausgenommen. Nun kann man trefflich darüber diskutieren, ob 13 000 Kilo- joule pro Kilogramm Abfall der einzig richtige Grenzwert ist. Es kann jedoch nicht sein, dass jeglicher Einsatz von Ersatzbrennstoffen in den entsprechenden Anlagen ausge- nommen wird, da es auch hier Mitnahme- und Vertei- lungseffekte gibt. Ersatzbrennstoffe sind kommerzielle Brennstoffe. Sie sind auf dem Markt käuflich zu erwerben und haben einen gewissen Heizwert und werden zum Bei- spiel in Zementwerken eingesetzt, wo sie andere Brenn- stoffe ersetzen. Sie werden auch in spezifischen Anlagen eingesetzt, in denen sie andere Brennstoffe ersetzen. Von daher sollten Ersatzbrennstoffanlagen anders behandelt werden als Abfallverbrennungsanlagen. Auch die Regelung für Kleinanlagen ist der Koalition nicht gelungen. Zwar wird die Berechnungsformel für den Ausgleichsbetrag anders gestaltet. Dies führt jedoch nicht dazu, dass nun eine brauchbare Kleinanlagenrege- lung vorliegen würde. Im Übrigen war es der Sachver- ständige, den die FDP für die Anhörung zum TEHG ge- laden hatte, der meinte, dass die Kleinanlagenregelung zu streichen sei. Sie würde den Anlagenbetreibern kei- nen wirklichen Vorteil bringen, schaffe aber zusätzliche Bürokratie und schwäche das generelle System, so die- ser Sachverständige in der Anhörung. Die eigentliche Hoffnung, die einige Industrievertreter hatten, war, dass sich kleine Emittenten ganz und gar ohne kostenträch- 13182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) tige Ersatzmaßnahmen vom Treibhausgas-Emissions- handels-Gesetz befreien lassen können. Das war von vornherein eine Illusion. Solch eine Regelung hätte die EU-Kommission niemals akzeptiert. Die Kommission hat immer wieder deutlich gemacht, dass sie gegebenen- falls die Gleichwertigkeit streng und eher restriktiv prü- fen würde. Die von der Bundesregierung hierzu recht kreativ entwickelten gleichwertigen Maßnahmen führen dennoch nicht zu einer sinnvollen Regelung. Im Gegensatz dazu unterstützen wir, dass nun die Zünd- und Stützfeuerung erwähnt ist. Auch begrüßen wir, dass in der elektronischen Kommunikation nun die Übermittlung zusätzlicher Dokumente als Ergänzung der Formatvorla- gen erlaubt ist. Ansonsten kann man an jeder Änderungen der Bundesregierung erkennen, welcher Lobbyist sie ein- gebracht hat. Die Bundesregierung hat nun in § 9 eine Här- tefallregelung eingefügt. Zwar kann man argumentieren, dass Konstellationen denkbar sind, in denen eine beson- dere Härte auftreten kann. Auch aus dem Verfassungs- grundsatz der Verhältnismäßigkeit könnte man eine Härte- fallregelung herleiten. Ich bin jedoch sehr skeptisch, ob die Kommission das genauso sieht. Die Kommission hat sich eher dahin gehend geäußert, dass die Decision abschlie- ßend ist und kein Raum für eine Härtefallregelung besteht. Interessant sind die Änderungen, die Sie einführen muss- ten, weil Sie Ihren eigenen Zeitplan nicht einhalten konn- ten. Wegen der missratenen Kleinanlagenregelung hat das BMWi das TEHG monatelang aufgehalten, sodass es erst dieses Frühjahr ins Kabinett kam. Nun werden die beiden Fristen nicht eingehalten, die in der Richtlinie festgelegt worden sind. Das hätte nicht passieren dürfen. Es darf nicht sein, dass die Folgen der schwarz-gelben Streitereien auf dem Rücken der deutschen Wirtschaft ausgetragen wer- den. Die Wirtschaft muss nun in kürzester Zeit ziemlich komplexe Zuteilungsanträge stellen, die für die nächsten sieben Jahre regeln, wer wie viele Zertifikate erhält. Dies ist ein unzumutbarer Zustand. Wer sich einmal mit den Guidances und den Zuteilungsregeln beschäftigt hat, weiß, wie kompliziert diese sind und wovon ich spreche. Zusammenfassend kommen wir zu dem Schluss, dass wir dem Änderungsantrag der Koalition nicht zustim- men können. Bei der eigentlichen Gesetzesnovelle wer- den wir uns enthalten. Michael Kauch (FDP): Das heute abschließend zu beratende Gesetz dient der Fortentwicklung des Emis- sionshandels für künftige Handelsperioden in der EU. Mit der Vorlage setzen wir die Emissionshandelsrichtli- nie eins zu eins in deutsches Recht um. Es hat sich viel bewegt auf der europäischen Ebene in den vergangenen drei Jahren seit der letzten Fassung des TEHG: Ab dem kommenden Jahr bezieht die Richtlinie den Luftverkehr und ab 2013 weitere emissionsintensive Industriebran- chen in den Emissionshandel ein. 200 Fluggesellschaften werden künftig am Emissionshandel teilnehmen. Dies ist für uns ein Schritt hin zu einem sektorübergreifenden Kohlenstoffmarkt. Ein solch umfassender CO2-Markt wäre aus klimapolitischer und aus wirtschaftspolitischer Sicht sinnvoll; denn die Klimaziele werden wirksam und zu geringstmöglichen Kosten erreicht. Außerdem bekom- men wir ab 2013 ein einheitliches EU-Emissionshandels- system und nicht 27 Einzelsysteme wie bisher. Umso wichtiger war es uns, der FDP in dieser Bundesregierung, auch bei diesem Gesetz sorgfältig darauf zu achten, dass einheitliche Spielregeln für den Emissionshandel nicht zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten führen. Dies haben wir genauso erreicht, wie wir bei den Beratungen über die hier vorliegenden Änderungsanträge des Regierungsentwurfs dafür gesorgt haben, dass Ar- beitsplätze im industriellen Mittelstand entlastet werden. Bei den Regeln für den Emissionshandel ab 2013 haben wir die Bürokratie für mittelständische Unternehmen deutlich abgebaut. Die vereinfachte Kleinanlagenrege- lung wurde ausgeweitet und eine Härtefallregelung bei wirtschaftlicher Überforderung eingeführt. Weiterhin können integrierte Unternehmen, zum Beispiel in der Stahlindustrie, mehrere Anlagen zu einer zusammenfas- sen, was den Verwaltungsaufwand verringert. Die For- mularvorgaben für die Unternehmen sind flexibler gere- gelt worden. Um die umfangreichen Lobbyversuche abzuwehren, bis zu welchem Heizwert die Mitverbrennung von Abfall emissionshandelsfrei ist, haben wir uns entschlossen, das Heizwertkriterium ganz zu streichen. Die Abgrenzung im Gesetz zwischen emissionshandelspflichtigen und emissionshandelsfreien Anlagen folgt jetzt exakt der EU-Richtlinie. Die Verbrennung von Siedlungsabfällen und giftigen Abfällen unterliegt dem Emissionshandel nicht. Für die Verbrennung von Gewerbeabfall sind da- gegen Emissionsrechte erforderlich. Insgesamt haben wir erhebliche Entlastungen vor allem für kleine und mittlere Unternehmen erwirkt. Denn gerade solche An- lagen mit geringen Emissionen werden von den adminis- trativen Kosten des Emissionshandels im Verhältnis zu ihrer Emissionsmenge überproportional belastet. Wir sind zuversichtlich, dass das Gesetz auch auf der Länderebene positiv aufgenommen wird. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wie sie wis- sen, ist über die eigentlichen Kernpunkte dessen, was wir heute beraten, bereits 2008 auf europäischer Ebene ent- schieden worden. Die positive Nachricht war seinerzeit die Versteigerung der Emisisonsrechte an die Stromwirt- schaft ab 2013. Damit wird endlich die Praxis beendet werden, die wertvollen Zertifikate an die Energiekon- zerne zu verschenken. Das bringt denen schließlich jedes Jahr Milliarden an Extraprofiten ein. Die schlechte Nachricht bestand 2008 darin, dass es im Industriesektor bei der weitgehend kostenlosen Zutei- lung bleiben soll, auch wenn diese jetzt wenigstens euro- paweit harmonisiert stattfindet. Über die Produkt- Benchmarks werden viel zu viele Branchen mit kosten- losen Zertifikaten beschenkt, also nicht nur die, die im internationalen Wettbewerb mit energieintensiv herge- stellten Produkten stehen, sondern auch viele, die eine solche Unterstützung eigentlich gar nicht brauchen. Die Koalition hat jetzt noch eine Härtefallregelung ins Gesetz geschrieben. Ich frage mich, wofür? Die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13183 (A) (C) (D)(B) Benchmarks federn doch schon jetzt fast jegliche um- weltpolitische Lenkungswirkung ab. Zusätzlich wollen Union und FDP für die Industrie noch indirekte Effekte des Emissionshandels kompen- sieren. Es geht um Milliarden an Ausgleichzahlungen für emissionshandelsbedingte Strompreiserhöhungen für die Unternehmen. Da sind wir der Meinung, dass diese nur einem sehr engen Kreis zugutekommen sollen, wirk- lichen Härtefällen. Das Gros der Gelder sollte lieber dazu verwandt werden, die Energiewende bei ärmeren Haushalten abzufedern. Zudem sollten die Mittel für die energetische Gebäudesanierung weiter aufgestockt wer- den. Denn diese wird ansonsten für Mieterinnen und Mieter unbezahlbar. In der TEHG-Novelle sollen in Deutschland Kleinan- lagen unter 25 000 Tonnen CO2-Emissionen im Jahr vom Emissionshandel befreit werden, wenn sie entweder eine Kompensationssumme zahlen oder wenn ihre An- lage eine spezifische CO2-Minderung von mindestens 1,74 Prozent im Jahr erbringt. Spezifisch heißt aber, dass sie bei Produktionsausdehnung absolut mehr ausstoßen können – trotz Einsparung je Produkt. Wir meinen, da- mit wird das Prinzip der festen Obergrenze für Emissio- nen, des berühmten „Deckels“ beim Emissionshandel, durchbrochen. Das lehnen wir ab. Der BDE und andere setzten sich bei der Anhörung mit Stellungnahmen dafür ein, Ersatzbrennstoff-Kraft- werke, EBS-Kraftwerke, weiterhin als Abfallanlagen zu behandeln, also weiterhin vom Emissionshandel zu be- freien. Auch der Bundesrat plädierte dafür. Wir denken jedoch, dies wäre eine Besserstellung gegenüber den emissionshandelspflichtigen Anlagen der Stromerzeu- gung. Schließlich ist der Hauptzweck von Ersatzbrenn- stoff-Kraftwerken offensichtlich die Produktion von Strom und Wärme und eben nicht die Abfallentsorgung. Der Name Ersatzbrennstoff-Kraftwerk deutet schon da- rauf hin. Die Einbeziehung der Abfallentsorgung in den Emissionshandel ist also richtig. Ab nächstes Jahr wird der Flugverkehr in den Emis- sionshandel einbezogen. Auch hier gilt: Die Messen wurden bereits auf EU-Ebene gesungen. Allerdings ist es wenig ermutigend: Die zugeteilte Gesamtmenge wird im Jahr 2020 nur 95 Prozent des Durchschnitts der Jahre 2004 bis 2006 betragen. Ambitionierter Klimaschutz sieht anders aus. Zudem sollen gerade einmal 15 Prozent der Rechte versteigert werden. Ferner ignoriert das System die indi- rekten Effekte des Flugverkehrs, wie NOx und Wasser- dampf, die die Treibhauswirkung je Tonne ausgestoße- nen CO2 um den Faktor 2 bis 4 erhöhen. Gerade wurde ja eine Studie veröffentlicht, die eine Klimawirksamkeit von mindestens Faktor 2 in Bezug auf die in der Höhe ausgestoßene CO2-Menge nahelegt. Auch die Verzahnung des Flugverkehrs mit dem EU- Emissionshandel sowie mit CDM und JI wird dazu füh- ren, dass der Flugverkehr fast ungezügelt weiter wach- sen kann. Auch darum lehnt die Linke dieses Gesetz ab. Noch ein Wort zu den steuerlichen Auswirkungen der künftigen Versteigerung. Dies war ja auch ein Thema der Stellungnahme des Bundesrates. Die kommunalen Spitzenverbände sehen, dass mit der geplanten Versteigerung von CO2-Zertifikaten dem Bund Mehreinnahmen in Milliardenhöhe zufließen werden. Da diese Mehreinnahmen des Bundes bei den Unternehmen spiegelbildlich als Betriebsausgaben zu Buche schlügen, würden im Gegenzug die steuerlichen Bemessungs- grundlagen der Ertragsteuern in entsprechender Größen- relation sinken, so die Verbände. Die Kommunen seien über die Gewerbesteuer in besonders dramatischer Weise von den daraus unmittelbar resultierenden Steuerausfäl- len betroffen. Nun hat die Bundesregierung einer ähnlichen Argu- mentation des Bundesrates in ihrer Gegenäußerung be- gründet, aber eher knapp und ohne Zahlenmaterial, widersprochen. So seien die Mehreinnahmen für zusätz- liche gesamtstaatliche Klimaschutzausgaben vorgese- hen. Vor allem aber müssten die steuerlichen Gesamtef- fekte des Emissionshandels seit seiner Einführung 2005 gesehen werden. Tatsächlich werden mit der Versteige- rung nur jene leistungslos erzielten Extraprofite be- schnitten, die die Energieversorger durch die bislang kostenlose Vergabe der Emissionsrechte erzielt haben. Die Kommunen haben an diesen Gewinnen mit zusätzli- chen Steuereinahmen partizipiert. Jetzt wird eigentlich nur der „Normalzustand“ wieder hergestellt. Für uns ist aber noch nicht ganz klar, wie die Netto- wirkungen tatsächlich aussehen. Darum fordern wir die Bundesregierung auf, hier einmal eine Bilanz mit kon- kreten Zahlen vorzulegen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir diskutierten heute über die Weiterentwicklung eines zen- tralen Instruments des Klimaschutzes. Es geht um das europäische System zur Begrenzung von Treibhausgas- emissionen und zum Handel mit Emissionszertifikaten. Gerade vor dem Hintergrund der Energiewende, die wir in Deutschland wollen, mit dem beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft und dem Umstieg auf erneuerbare Energien kommt dem Emissionshandel eine bedeutende Rolle zu. Denn er verhindert, dass Atomausstieg und Klimaschutz gegeneinander ausgespielt und dass alte ge- fährliche Atomkraftwerke einfach durch neue klima- schädliche Kohlekraftwerke ersetzt werden. Deshalb sollte unser gemeinsames Ziel sein, den Emissionshan- del weiter zu stärken und bestehende Schlupflöcher zu schließen. Die vorliegende Novelle des Treibhausgas-Emis- sionshandelsgesetzes ist auf diesem Weg ein wichtiger Schritt nach vorn. Sie setzt europäische Richtlinien in deutsches Recht um und bringt dabei vor allem drei Ver- besserungen: Erstens wird das bisherige Nebeneinander von 30 na- tionalen Emissionshandelssystemen mit eigenen Regeln und Emissionsobergrenzen in ein gemeinsames europäi- sches System überführt. Damit entstehen gleiche und 13184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) faire Bedingungen. Und damit entfällt für die Mitglied- staaten die Versuchung, der eigenen Wirtschaft bei der Festlegung der nationalen Regeln Standortvorteile zulas- ten des Klimaschutzes zu verschaffen. Zweitens werden die Emissionszertifikate für die Ener- giewirtschaft ab 2013 zu 100 Prozent versteigert und nicht mehr kostenlos zugeteilt. Das ist ein großer Fort- schritt. Denn dadurch werden die Kosten klimaschäd- licher Kraftwerke für Betreiber und Investoren deutlich spürbarer. Und es ist endlich Schluss mit einer beispiel- losen Abzocke, die den Stromkonzernen in den letzten Jahren Milliarden auf Kosten der Verbraucher einge- bracht hat. Für die Zertifikate, die sie kostenlos beka- men, haben die Stromversorger ihren Kunden nämlich den vollen Börsenpreis berechnet. Das war ein Skandal. Das haben wir immer kritisiert. Und 2013 ist endlich Schluss damit. Drittens wird ab 2012 der Flugverkehr neu in den Emissionshandel einbezogen. Damit gibt es zum ersten Mal echte Klimaschutzvorgaben für diese wichtige und schnell wachsende Emissionsquelle. Das sind wesentliche Verbesserungen, die aus den Änderungen der europäischen Emissionshandelsricht- linie folgen und die wir Grüne voll unterstützen. Dane- ben gibt es in der vorliegenden Gesetzesnovelle aber auch Regelungen, die wir ablehnen. Dazu gehört die von CDU/CSU und FDP vorgeschlagene Vorschrift zur Mit- verbrennung von Abfällen, die missbrauchsanfällig ist und zu einer Ausweitung der fragwürdigen Praxis der Mitverbrennung von Abfällen in fossilen Kraftwerken führen kann. Dazu zählt die sogenannte Härtefallrege- lung, die klare, objektive Kriterien vermissen lässt und im Ergebnis lobbystarke Unternehmen gegenüber ihren Mitbewerbern bevorzugt. Und dazu gehört die in ihrem Anwendungsbereich erweiterte Kleinanlagenregelung, die wenig für den Bürokratieabbau leistet, aber das Emis- sionshandelssystem insgesamt schwächt. Durch diese Regelungen werden neue Ausnahmetatbestände und Schlupflöcher geschaffen. Deshalb können wir Grüne dem Gesetzentwurf als Ganzem nicht zustimmen. Lassen sie mich zum Schluss noch einen Blick nach vorn werfen. Trotz der Verbesserungen, die ich eingangs erwähnt habe, ist der europäische Emissionshandel alles andere als perfekt. Wir müssen deshalb auf europäischer Ebene zu weiteren Verbesserungen kommen. Das gilt zum Beispiel für die Reform der Anrechnung von Kli- maschutzprojekten außerhalb Europas, die einge- schränkt und an höhere ökologische Standards geknüpft werden muss. Das gilt für die weitgehend kostenlose Zu- teilung von Emissionszertifikaten an Industrie und Flug- gesellschaften, an deren Stelle mehr Versteigerung treten muss. Und es gilt für die dringend notwendige Absen- kung der Emissionsobergrenze für 2020, die unverzicht- bar ist, um die europäischen und deutschen Klima- schutzziele zu erreichen. Wir brauchen ein ehrgeizigeres Klimaschutzziel in der EU: 30 Prozent Emissionsminde- rung bis 2020. Und dieses Ziel muss sich in einer deut- lich niedrigeren Emissionsobergrenze des Emissions- handelssystems niederschlagen. Lassen sie uns dafür gemeinsam als Deutscher Bundestag eintreten! Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Gleichstellung eingetragener Lebenspart- nerschaften – Öffnung der Ehe (Tagesordnungspunkt 19) Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute ab- schließend über zwei Anträge zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Der Antrag der SPD zielt darauf ab, ein- getragene Partnerschaften in rechtlicher Hinsicht voll- ständig mit der Ehe gleichzustellen. Das betrifft insbe- sondere das Steuer- und Adoptionsrecht. Die Fraktion Die Linke geht sogar noch einen Schritt weiter und will das Institut der Ehe, das der Verbindung von Mann und Frau vorbehalten ist, auch für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Ich habe bereits in der ersten Lesung dieser Anträge vor ziemlich genau einem Jahr angeregt, dass auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ein- mal innehalten und positiv zur Kenntnis nehmen, was in diesem Bereich in den vergangenen zehn Jahren für eine einzelne, relativ kleine Bevölkerungsgruppe erreicht wurde: die Schaffung eines zivilrechtlichen Instituts, das diese Form des Zusammenlebens rechtlich absichert, und die inzwischen fast vollständige rechtliche Gleich- stellung mit der Ehe. Jetzt hat die christlich-liberale Koalition, wie im Ko- alitionsvertrag auch vereinbart, die vollständige Gleich- stellung im öffentlichen Dienstrecht auf den Weg ge- bracht. Auch hier wird es also bald keine Unterschiede mehr geben. Diese entsprechende Forderung im SPD- Antrag hat sich somit erübrigt. Es verbleiben im Wesent- lichen nur noch zwei Bereiche, bei denen es Differenzie- rungen zwischen der Ehe und einer eingetragenen Part- nerschaft gibt: in Teilen des Steuerrechts und bei der gemeinsamen Fremdkindadoption, die weiterhin Ehe- paaren vorbehalten ist. Erlauben Sie mir zunächst einige kurze Anmerkungen zum Steuerrecht: Im Bereich der Erbschaft-, Schenkung- und Grunderwerbsteuer haben wir bereits eine Gleich- stellung vollzogen. Unterschiede gibt es somit nur noch beim Einkommensteuerrecht und hier speziell beim Ehe- gattensplitting. Nach dem Willen der SPD sollen künftig auch eingetragene Lebenspartnerschaften die Möglich- keit des Splittings erhalten. Diese Forderung lehnen wir jedoch entschieden ab. Bereits in der ersten Beratung vor einem Jahr hatte ich meine Verwunderung darüber zum Ausdruck ge- bracht, dass ausgerechnet jene die Ausweitung des Ehe- gattensplittings auf eingetragene Lebenspartnerschaften fordern, die in dieser Regelung seit eh und je einen ana- chronistischen Fehlanreiz sehen, der Frauen von der Er- werbstätigkeit abhalte, sie auf die Rolle der Hausfrau re- duziere und daher abgeschafft gehöre. Man kann es nur Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13185 (A) (C) (D)(B) als paradox bezeichnen, wenn jetzt entgegen langjähri- gen Forderungen nicht die Abschaffung, sondern viel- mehr die Ausweitung dieser Reglung gefordert wird. Leider ist es den Antragstellern auch in den Ausschuss- beratungen nicht gelungen, diesen Widerspruch aufzu- klären. Unabhängig davon muss aber auch von Ihnen, sehr ge- ehrten Kolleginnen und Kollegen der Opposition, zur Kenntnis genommen werden, dass die deutsche Rechts- ordnung den verschiedenen Formen des familiären Zusammenlebens eben gerade nicht wertneutral gegen- übersteht. Der Verfassungsgeber hat vielmehr eine Grundentscheidung zugunsten der Ehe als Leitbild des familiären Zusammenlebens getroffen, indem er über Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz diese unter den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz gestellt hat. Ob wir wollen oder nicht, als Gesetzgeber haben wir die damit verbun- denen Grenzen unseres Gestaltungsspielraums zu respek- tieren. Das Ehegattensplitting als steuerliches Privileg ist Ausdruck der gezielten staatlichen Förderung ebendieser speziellen Form des Zusammenlebens, das als solches auch weiterhin verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Unabhängig davon plädiere ich dafür, das geltende System im Steuerrecht, das als Ausdruck der steuerlichen Leistungsgleichheit bestimmte zivilrechtliche Einstands- pflichten steuerlich freistellt, systematisch zu überprüfen und gegebenenfalls neu auszutarieren. Meines Erachtens darf sich die Überprüfung jedoch nicht auf das Verhältnis von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft be- schränken, sondern sollte vielmehr alle Unterhaltspflich- ten, die aus einer familiären Beziehung resultieren, be- inhalten. In diesem Sinne plädiert die CDU in ihrem Grundsatzprogramm dafür, zu prüfen, ob und, wenn ja, wie das Ehegattensplitting zu einem Familiensplitting weiterentwickelt werden kann. Hier sind wir also schon einen entscheidenden Schritt weiter als die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen bzw. Parteien. Kurzfristige und so weitreichende Änderungen zuguns- ten lediglich einer einzelnen Gruppe innerhalb des gelten- den Einkommensteuersystems, wie dies vorliegend mit der Forderung nach einer Ausweitung des Ehegattensplit- tings auf eingetragene Lebenspartnerschaften geschehen soll, lehnen wir hingegen ab. Gleiches gilt für den Bereich des Adoptionsrechts. Die Forderung der SPD, die Möglichkeit, gemeinsam ein fremdes Kind zu adoptieren, auch eingetragenen Le- benspartnerschaften zu ermöglichen, lehnen wir aus Gründen des Kindeswohls ab. Es trifft sich in diesem Zusammenhang gut, dass wir gerade in dieser Woche im Rechtsausschuss zur Frage des Adoptionsrechts eine, wie ich denke, sehr interes- sante und aufschlussreiche Anhörung durchgeführt ha- ben, die uns wertvolle Erkenntnisse geliefert hat. Der vorliegende Antrag geht bekanntlich davon aus, eine ge- meinsame Fremdkindadoption laufe den Interessen der betroffenen Kinder nicht zuwider und sei zudem sogar verfassungsrechtlich geboten. Diese Behauptung wurde jedoch von den Experten aus verschiedenen wissen- schaftlichen Disziplinen klar und überzeugend wider- legt. Den Befürwortern einer Gesetzesänderung geht es – so auch die Aussage der Experten – gerade nicht um das Kindeswohl, das im Adoptionsrecht der zentrale und alleinige Maßstab ist, sondern einzig um die Interessen der Erwachsenen. Das halte ich für im höchsten Maße problematisch. Eine Politik, die darauf abzielt, beste- hende Diskriminierungen abzubauen, darf niemals auf dem Rücken von Kindern ausgetragen werden. Ich hoffe, dass wir in Zukunft zumindest in diesem Punkt Einigkeit erzielen können. Nun wird teilweise unter Verweis auf Entwicklungen in der Rechtsprechung argumentiert, eine Angleichung auch im Bereich des Adoptionsrechts sei nicht nur zuläs- sig, sondern sogar verfassungsrechtlich geboten. Dan- kenswerterweise konnten die Experten auch diesbezüg- lich für Klarheit sorgen und einige Missverständnisse, die dieser Argumentation ganz offensichtlich zugrunde liegen, beseitigen: Das Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den be- sonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die Rechtsord- nung hat daher eine Unterscheidung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft zu machen, wenn es um die Elternschaft für Kinder geht. Eine Differenzierung ist – so auch die in Bezug genommenen gerichtlichen Ent- scheidungen – immer dann zulässig, wenn es sachliche Gründe gibt, die eine Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft rechtfertigen. Und eben einen solchen sachlichen Grund stellt das Kindes- wohl dar. Anders gesagt: Die Interessen der von einer Adoption betroffenen Kinder rechtfertigen es, dass nur Ehepartner die Möglichkeit haben, ein fremdes Kind ge- meinsam zu adoptieren. Anders als bei Gleichstellungen in jenen Bereichen, die ausschließlich die Rechtsbeziehungen zwischen den erwachsenen Partnern selbst betreffen, also zum Beispiel das öffentliche Dienstrecht, sind im Adoptionsrecht die Rechte Dritter, nämlich der Kinder, tangiert. Dies wird in der Diskussion leider allzu oft vergessen. Es muss daher an dieser Stelle nochmals an den Sinn und Zweck von Fremdkindadoptionen erinnert werden: Die Adoption ist eine mögliche Hilfe für bereits geborene Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen Eltern und Familie verloren haben und für die deshalb eine neue Familie gesucht werden muss. Hingegen ist Adoption keine Maßnahme zur Heilung der Kinderlosigkeit von kinderlosen Paaren. Genauso wenig begründet das Adoptionsrecht einen Rechtsanspruch auf Elternschaft. In der Anhörung haben die Experten aus der Adop- tionspraxis und der Kinderpsychologie, die auch Mitglie- der des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesjustizmi- nisteriums bei der Untersuchung der Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wa- ren, zu Recht darauf hingewiesen, dass die betroffenen Kinder, über die wir heute reden, bereits mit der – aus kin- despsychologischer Sicht – schwierigen Situation leben müssen, ihre leiblichen Eltern in Gänze verloren zu ha- ben. Deshalb benötigen diese Kinder ein Umfeld, das nicht noch in seiner Besonderheit eine zweite, zusätzliche Herausforderung oder Belastung für sie darstellt. Gerade das wäre aber die unvermeidbare Folge einer gemeinsa- men Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare, weil 13186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Kinder aus diesen Familien häufiger Stigmatisierungen erfahren und Opfer von Mobbing werden. Diesen Ein- wand halte ich für zentral. Der Staat hat gegenüber den betroffenen Kindern eine Schutzpflicht. Sofern wir als Gesetzgeber nicht mit Si- cherheit ausschließen können, dass eine Fremdkind- adoption dem Wohl der betroffenen Kinder zuwiderliefe, müssen wir im Zweifel von Gesetzesänderungen abse- hen, die den rechtlichen Status der Kinder ändern und in- sofern einen Eingriff in deren Freiheitsrechte darstellen würden. Auch darauf haben die Experten zu Recht hin- gewiesen. Eine Gesetzesänderung darf es – wenn über- haupt – nur auf Grundlage wirklich belastbarer Erkennt- nisse über die familiäre und soziale Lebenssituation der betroffenen Kinder geben. Diesem Anspruch werden je- doch weder die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Studie noch etwaige Untersuchungen aus dem Ausland gerecht. Auch das wurde in der Anhörung deut- lich. Die Union lehnt vor diesem Hintergrund jede weiter gehende Gleichstellung im Bereich des Adoptionsrechts ab. Wie ich bereits in der ersten Beratung ausgeführt habe, halten wir die Forderung der Fraktion Die Linke, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen, alleine schon aus verfassungsrechtlichen Gründen für völlig abwegig. Offensichtlich gibt es hier bei den Oppositionsparteien ei- nen regelrechten Profilierungswettbewerb. Eine einfache Lektüre der Gesetze und einschlägigen gerichtlichen Ent- scheidungen würde aber helfen. So hat das Bundesverfas- sungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2002 ganz eindeutig und missverständlich festgestellt, – ich zi- tiere: Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des ge- sellschaftlichen Wandels und der damit einherge- henden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung ei- nes Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer ange- legten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates … in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partner- schaft zueinander stehen … und über die Ausgestal- tung ihres Zusammenlebens frei entscheiden kön- nen. Mit anderen Worten: Die Ehe ist von Verfassung we- gen der Beziehung von Frau und Mann vorbehalten. Und da sich auch diesbezüglich in den Ausschussberatungen das eine oder andere Missverständnis offenbart hat, er- laube ich mir abschließend eine kurze Anmerkung zur sogenannten Transsexuellenentscheidung des Bundes- verfassungsgerichts, die in diesem Zusammenhang von einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochen wurde. Das Gericht hat in besagter Entscheidung lediglich die geltende Fassung des Transsexuellengesetzes insofern für verfassungswidrig erklärt, als ein Transsexueller, der die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Geschlechter- wechsel erfüllt, zur rechtlichen Absicherung seiner gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nur dann eine ein- getragene Lebenspartnerschaft begründen kann, wenn er sich zuvor im Wege der sogenannten großen Lösung einer medizinischen Geschlechtsumwandlung unterzogen und infolgedessen auch personenstandsrechtlich das Ge- schlecht gewechselt hat. Explizit nicht beanstandet hat das Gericht hingegen, dass die Ehe grundsätzlich ver- schiedengeschlechtlichen Paaren und die eingetragene Lebenspartnerschaft gleichgeschlechtlichen Paaren vor- behalten ist, wobei wiederum alleine auf die personen- standsrechtliche Geschlechtszugehörigkeit abgestellt wird. Insofern bleibt es also dabei: Eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Beziehungen wäre evident verfas- sungswidrig. Ich denke, dass damit alles gesagt ist. Aus vorgenannten Gründen lehnen wir die beiden heute zur Abstimmung stehenden Anträge ab. Johannes Kahrs (SPD): Wir debattieren hier über die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner- schaften mit der Ehe. Das Institut selbst haben wir in der letzten rot-grünen Koalition beschlossen. Damals schei- terte eine vollkommene Gleichstellung am Widerstand der schwarz-gelben Länder im Bundesrat. In der Großen Koalition konnten wir Sozialdemokraten der CDU/CSU unter anderem das Antidiskriminierungsgesetz abringen. Wir als SPD sagen: Unser Ziel ist die völlige Gleichstel- lung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe, da gleiche Pflichten auch gleiche Rechte bedeuten. Mein eigener Landesverband in Hamburg hat überdies beschlossen, die Öffnung der Ehe anzustreben, womit mit einem Schlag sämtliche Ungleichbehandlungen und Ungerech- tigkeiten beseitigt wären. Die Gleichstellung ist in vielen Bereichen noch nicht vollendet. Das liegt in erster Linie am Widerstand der CDU/CSU. Da die Union so gerne ihre Familienfreund- lichkeit herausstreicht, möchte ich besonders einen As- pekt des Themas behandeln, nämlich die ausstehende Gleichstellung der Lebenspartnerschaften im Adoptions- recht. Bereits heute leben in jeder achten eingetragenen Le- benspartnerschaft Kinder. Neben den leiblichen Kindern eines der Partner aus einer früheren Beziehung, für die es die Möglichkeit der Stiefkindadoption gibt, handelt es sich dabei auch oft um Adoptiv- oder Pflegekinder eines der beiden Partner. Den Kindern der letztgenannten Gruppe verwehren CDU und CSU wesentliche Rechte. Sie sollen weder Unterhaltsansprüche gegenüber beiden Elternteilen haben noch von beiden Eltern erben dürfen. Hunderte Kinder sollen nach dem Willen von CDU/ CSU schlechter behandelt werden als andere, weil ihre Eltern nicht ins Schema althergebrachter Konventionen passen. Um ihren Eltern klarzumachen, dass sie Bürger zweiter Klasse sind, enthält die Union Kindern wesentli- che Rechte vor. Die Schutzbedürftigsten der Gesell- schaft müssen für konservative Symbolpolitik auf recht- liche Absicherung verzichten. Dies geht jedenfalls aus den Argumenten der Kollegen von CDU/CSU in den Be- ratungen des Rechtsausschusses zum vorliegenden An- trag der SPD-Bundestagsfraktion hervor. Dort heißt es, „namentlich eine Volladoption durch Lebenspartner komme nicht in Betracht“. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13187 (A) (C) (D)(B) Die rechtliche Schlechterstellung von Kindern wird mit atemberaubender Dreistigkeit mit dem Kindeswohl begründet. Vor einem Jahr wurde hier ebenfalls ein An- trag über die Gleichstellung eingetragener Lebenspart- nerschaften beraten. Damals agitierte die Kollegin Granold von der CDU vehement gegen jede Anglei- chung im Adoptionsrecht. Ich zitiere: „Vieles spricht da- für, dass Kinder von gleichgeschlechtlichen Ehen“ – ja, Frau Granold verwendete tatsächlich das Wort Ehe – „häufiger Stigmatisierungen erfahren als andere.“ Es mag sein, dass dem so ist. Nur: Woran liegt es denn, wenn diese Kinder stigmatisiert werden? An den Vorurteilen in Teilen der Bevölkerung. Und wer schürt diese Vorurteile? Nicht zuletzt die CDU und die CSU. Diese Partei hat es immer abgelehnt, Schwulen und Les- ben die gleichen Rechte zuzugestehen wie anderen Bür- gern dieses Landes. Wenn es in den letzten Jahren homo- phobe Äußerungen von Politikern gab, dann konnte man sicher sein, dass diejenigen der Union angehörten. Mit jeder dieser Äußerungen trugen und tragen Sie, liebe Kollegen von CDU und CSU, dazu bei, dass sich Vorur- teile bilden und verfestigen. Am Ende stellen sie sich dann hin und nehmen Kindern, die aufgrund Ihres Ver- haltens erst stigmatisiert werden, auch noch die Hälfte ihrer rechtlichen Absicherung weg. Das noch mit dem Kindeswohl zu begründen, ist nicht mehr bloß dreist, es ist zynisch. Eine Adoption wird nur Paaren gestattet, die vorher intensiv behördlich überprüft wurden. Es gibt aus Sicht der Wissenschaft keinen Anhaltspunkt dafür, dass zwei Frauen oder zwei Männer schlechtere Eltern sind als ein heterosexuelles Paar. Auch weiß man aus zahlreichen Studien, dass Kindern mit gleichgeschlechtlichen Eltern aus dieser Tatsache keine psychischen und sozialen Schäden entstehen. Sehr wohl weiß man, dass adoptierte Kinder überdurchschnittlich häufig in wohlhabenderen Haushalten aufwachsen. Vor allem sind adoptierte Kin- der stets Wunschkinder. Stigmatisierungen und Hänse- leien durch vorurteilsbelastete Mitmenschen können al- lein kein Grund sein, eine Adoption zu verweigern; denn dann müsste man konsequent jeden Lebensumstand der Adoptiveltern auf ein „Stigmatisierungspotenzial“ hin untersuchen. Kinder könnten beispielsweise auch für die Herkunft ihrer Eltern gehänselt werden. Dennoch würde es doch niemandem einfallen, den Rassismus der einen zum Adoptionshindernis für die anderen zu machen. Sie, liebe Kollegen von der Union, machen aber genau das. Weil es Homophobie gibt – nicht zuletzt dank Ihnen – müssen deren Opfer auf Rechte verzichten. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zulasten von Kindern ginge. Abgesehen vom Adoptionsrecht steht die Gleichstel- lung von Ehe und Lebenspartnerschaften weiterhin in vielen anderen Rechtsbereichen aus. Steuer-, Soldaten- und Beamtenrecht sind hier zu nennen. Auch hier versu- chen Sie, auf dem Rücken einer Minderheit das, was von Ihrem konservativen Markenkern noch übrig ist, zu ret- ten. Die Unionskollegen im Rechtsausschuss haben in ih- rer Stellungnahme die vielen Verbesserungen, die es im Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung der eingetra- genen Lebenspartnerschaften in den letzten Jahren gege- ben hat und die aufgrund des schwarz-gelben Koalitions- vertrages noch geplant seien, aufgezählt. So weit, so gut, liebe Kollegen von der Union. Nur: Musste all dies denn nicht gegen Ihren erbitterten Widerstand erkämpft wer- den? Waren es nicht im Wesentlichen der Europäische Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht, die Sie zu etwas zwingen mussten, was sämtliche anderen Frak- tionen im Bundestag schon lange gefordert hatten? Sie befinden sich auf dem Gebiet der Gleichstellung schon seit Jahren in einem Rückzugsgefecht. Die Zeit arbeitet gegen Sie. Begreifen Sie endlich, dass diese Schlacht verloren ist. Sie können Ihre Position nicht halten. Zu den Kollegen der FDP kann man nur sagen: Wir wissen ja, dass Sie in der Sache voll und ganz auf unse- rer Seite stehen. Dementsprechend hätten Sie sich ruhig einmal einen Ruck geben und dem Koalitionspartner, der sowohl hier im Parlament als auch in der Gesellschaft in der Minderheit ist, Paroli bieten können. Leider sind Sie dann doch eingeknickt. Ihr Einwand, eine Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft sei nur durch eine Ver- fassungsänderung machbar, ist Augenwischerei. Eine Änderung von Art. 6 des Grundgesetzes ist durch eine einfache Mehrheit machbar, die Sie hier im Bundestag sofort fänden. In dieser Sache hätte ich nicht das ge- ringste Problem damit, mit der FDP zusammenzuarbei- ten. Aber leider geht es Ihnen hier wie aktuell in allen anderen Politikfeldern: Sie geben jede Ihrer Positionen preis, solange Sie sich damit an der Macht halten kön- nen. Ich habe bereits in meiner letzten Rede zu diesem Thema meine Zuversicht ausgedrückt, dass man in zehn Jahren über die heutige Haltung der Union nur noch milde lächeln wird. Ich bin weiterhin zuversichtlich. Die Gleichstellung wird kommen. CDU und CSU können diesen Kampf nicht gewinnen. Glückauf! Stephan Thomae (FDP): Die Liberalen setzen sich seit jeher dafür ein, dass alle Menschen ihre Lebensent- würfe frei verwirklichen können. Dazu gehört auch die sexuelle Orientierung. Niemandem darf aufgrund seiner sexuellen Orientierung ein Nachteil entstehen. Für uns gilt ein klarer Grundsatz: Wer gleiche Pflich- ten hat, verdient auch gleiche Rechte. Lebenspartner- schaften müssen mit der Ehe gleichgestellt werden. Die- ses Ziel haben wir fest im Auge, und wir nähern uns ihm kontinuierlich an. Dabei verstellen wir uns nicht politi- schen Realitäten, sondern setzen das um, was politisch machbar ist. Mit dem am 14. Dezember 2010 in Kraft getretenen Jahressteuergesetz 2010 haben wir die eingetragenen Le- benspartner mit Ehegatten bei Grunderwerbsteuer und Erbschaftsteuer gleichgestellt. In Kürze werden wir auch das Gesetzgebungsverfahren zur Gleichstellung im Be- amten-, Soldaten- und Richterrecht umsetzen. Aus Sicht der FDP muss dann die Gleichstellung bei der Einkom- mensteuer folgen. Wir setzen uns zudem für die gesellschaftliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen ein. Sabine 13188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Leutheusser-Schnarrenberger setzt das langjährige Pro- jekt der FDP um: die Magnus-Hirschfeld-Stiftung des Bundes. Im Bundeshaushalt 2011 sind bis zu 15 Milli- onen Euro für die Errichtung der Stiftung vorgesehen. Diese soll durch Bildung und Forschung die Diskrimi- nierung von Homosexuellen bekämpfen. Die Magnus- Hirschfeld-Stiftung ist ein Projekt, das seit dem Jahr 2000 vom Bundestag versprochen wurde, aber von den rot-grünen und schwarz-roten Vorgängerregierungen nicht umgesetzt wurde. Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass der An- trag der SPD einige sehr gute Ansätze enthält. So fordert auch die FDP für eingetragene Lebenspart- nerschaften ein volles Adoptionsrecht – wie bei Ehegat- ten. Die Anhörung im Rechtsausschuss vom 6. Juni 2011 zu diesem Thema hat uns in unserer Auffassung bestä- tigt, dass kein sachlich gerechtfertigter Grund für eine Differenzierung zwischen Eheleuten und eingetragenen Lebenspartnerschaften besteht. Allerdings muss man an dieser Stelle auch nicht weiter drum herumreden, dass die Union einen anderen Standpunkt vertritt und deshalb eine entsprechende Regelung mit der Union derzeit nicht realisierbar ist. Hier wäre es aber ein sinnvoller Schritt, zumindest das revidierte Europäische Abkommen über die Adoption von Kindern vom 27. November 2008 zu zeichnen. Dafür wird sich die FDP einsetzen. Die SPD muss sich bei allen guten Ansätzen aber fra- gen lassen, warum sie ihre jetzt vorgebrachten Ideen nicht schon im Lebenspartnerschaftsergänzungsgesetz von 2005 umgesetzt hat. Damals war die SPD selbst in Regierungsverantwortung und hat sich nur zur Stief- kindadoption durchringen können. Maximalforderun- gen wie die der Linken nach einer Öffnung der Ehe für alle Lebensformen wären wohl nur über eine Verfas- sungsänderung umsetzbar. Das ist unrealistisch. In Deutschland haben wir uns für einen anderen Weg entschieden. Mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft haben wir ein eigenes Rechtsinstitut geschaffen. Dies wurde und wird von der Mehrheit der Fraktionen im Deutschen Bundestag unterstützt und vom Verfassungs- gericht abgesichert. Wir wollen nun unseren eingeschla- genen Weg fortsetzen und die rechtliche Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der Ehe Schritt für Schritt auf einfachgesetzlicher Ebene errei- chen. Die Öffnung der Ehe kann am Ende dieses Prozes- ses stehen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Im August dieses Jahres können wir auf zehn Jahre Lebenspartnerschaft- gesetz zurückblicken. Seitdem ist die Akzeptanz der sexuellen Vielfalt in der Gesellschaft gestiegen. Damals wollte der Gesetzgeber mit dem formulierten Ziel der „Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtli- cher Gemeinschaften“ ein eigenständiges Rechtsinstitut für Lesben und Schwule schaffen. Dieses Ziel ist leider nicht erreicht worden. Die Verpartnerung ist weiter eine Ehe zweiter Klasse. Im Beamtenrecht, im Steuerrecht und im Adoptionsrecht sind verpartnerte lesbische oder schwule Paare immer noch nicht gleichgestellt. Das gemeinsame Adoptions- recht bleibt ihnen versagt, obwohl dies eklatant dem Kindeswohl widerspricht, wie die Sachverständigen am 6. Juni 2011 mehrheitlich in der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss bestätigten. In den Bundesländern gibt es unterschiedliche Rechtslagen bezüglich der Verpartnerung. So müssen zum Beispiel in Thüringen und Sachsen Verpartnerte hö- here Gebühren für den Bund fürs Leben entrichten. Auch im Beamtenrecht und in den Versorgungswerken werden sie unterschiedlich behandelt. Einzig der rot-rote Senat von Berlin hat bislang die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft soweit möglich vollständig und rückwirkend vollzogen. Dennoch, das Manko bleibt. Es bleibt ein Flickentep- pich rechtlicher Regelungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Die Linke will diesen Flickenteppich nicht weiter ausbessern. Was gleich ist, muss gleich behandelt wer- den. Deshalb fordert die Fraktion Die Linke, konsequent heterosexuelle und schwule sowie lesbische Paare, die ihre Beziehung durch den Bund fürs Leben auf eine rechtliche Grundlage stellen wollen, gleichzustellen. Deshalb fordern wir die Öffnung der Ehe. Dies ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Bundesverfassungsge- richt stellte im Jahre 2009 klar, dass der besondere Schutz des Grundgesetzes dem Zusammenleben mit Kindern gilt, unabhängig von der Familienform. Eine Privilegierung der Ehe, weil aus ihr Kinder hervorgehen können, ist verfassungsrechtlich in erster Linie Gegen- stand des Grundrechtsschutzes der Familie und nicht auf verheiratete Eltern beschränkt. Damit hat das höchste deutsche Gericht der gesellschaftlichen Realität sehr deutlich Rechnung getragen. Wir sollten dies nun auch als Gesetzgeber tun. In Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Belgien, den Niederlanden und Island haben wir in Europa bereits die Ehe für Lesben und Schwule. Meine Damen und Herren von der SPD, die SPD-ge- führten Bundesländer Brandenburg und Berlin haben eine Bundesratsinitiative zur Öffnung der Ehe vorgelegt. Die Lesben und Schwulen in der SPD, die Schwusos, fordern die Öffnung der Ehe. Schließen Sie sich als Fraktion dieser Forderung an. Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü- nen, Sie scheinen noch uneins zu sein. Wollten Sie in der letzten Legislaturperiode noch die Öffnung der Ehe, so machte einer Ihrer Abgeordneten im Rechtsausschuss deutlich, dass er dies nicht für geboten hält. Das ist eine inkonsequente Haltung. Es gibt auch in unserem Land noch Homophobie. Doch so wie die Einführung des Rechtsinstituts der Le- benspartnerschaft vor zehn Jahren die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der sexuellen Vielfalt wesentlich erhöht hat, wird die Öffnung der Ehe ein weiterer wichti- ger Meilenstein sein, um die Würde aller Menschen un- abhängig von ihrer sexuellen Identität und Orientierung zu wahren. Seien Sie mutig! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13189 (A) (C) (D)(B) Die Bevölkerung ist weiter als Sie denken. Nach einer Emnid-Studie befürworten 66 Prozent der Befragten eine rechtliche Gleichstellung homosexueller Partner- schaften mit der Ehe. Lassen Sie uns diese vollziehen, indem wir die Ehe für alle Menschen öffnen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute liegen zwei Anträge vor, die die rechtliche Si- tuation von homosexuellen Paaren mit der von hetero- sexuellen Eheleuten gleichstellen wollen. Dieses Ziel verfolgt meine Fraktion seit 1990 – wir werden des- wegen beiden Anträgen zustimmen. Ich freue mich ins- besondere, dass die SPD-Fraktion in ihrem Antrag ein klares Bekenntnis für die vollständige Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe ablegt. Aus unserer gemeinsamen Regierungszeit habe ich in dieser Frage noch schwierige Diskussionen mit SPD- Spitzenpolitikern in Erinnerung. Daher begrüße ich die Klarstellung, die dieser Antrag für die zukünftige Zu- sammenarbeit mit sich bringt. Die Gleichstellung ist politisch, aber auch verfas- sungsrechtlich geboten. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Grundsatzentscheidungen deutlich gemacht, dass eine Ungleichbehandlung und Diskriminierung nicht zu rechtfertigen ist. Die schwarz-gelbe Koalition ignoriert die Entscheidungen jedoch und verweigert die Umsetzung. Erst in der gestrigen Sitzung des Innenaus- schusses wurde beispielsweise die von meiner Fraktion beantragte Gleichstellung im Beamtenrecht erneut von der Koalitionsmehrheit vertagt. Anderthalb Jahre nach dem Gerichtsentscheid schaffen Sie von der Koalition es nicht, wenigstens diesen relativ kleinen Schritt zu gehen. Die dramatischen Ungerechtigkeiten bei der Einkom- mensteuer und beim Adoptionsrecht vertagen Sie. Aber für beide Themen gibt es aktuell Vorlagen beim Bundes- verfassungsgericht. Meine Prophezeiung: Noch vor Ende dieser Legislaturperiode werden Sie erneut zwei kräftige Ohrfeigen aus Karlsruhe erhalten. Frau Justiz- ministerin, ist es Ihnen nicht peinlich, sehenden Auges und trotz besseren Wissens an verfassungswidrigen Re- gelungen festzuhalten? Meine Damen und Herren von der FDP, wo ist Ihr Engagement für Bürgerrechte? Ent- scheidungen des Verfassungsgerichtes nachzuvollziehen ist keine Politik – das ist ihre und unsere gemeinsame Pflicht! Wir werden Sie deswegen weiterhin mit Anträ- gen und Gesetzentwürfen konfrontieren, in denen wir Schritt für Schritt die Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe ermöglichen. Herr Rösler hat auf dem FDP-Parteitag vollmundig verspro- chen, die FDP werde jetzt liefern. Lesben und Schwule warten darauf: beim Adoptionsrecht, Beamten- und Steuerrecht. Oder wollte die FDP umsatteln und einen Pizzalieferservice eröffnen? Das politische Ziel von Bündnis 90/Die Grünen bleibt die Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare, wie wir dies bereits in der letzten Legislaturperiode be- antragt haben. Die Öffnung der Ehe bleibt unser Ziel, selbst wenn wir eines – hoffentlich nahen – Tages die vollständige Gleichstellung der eingetragenen Lebens- partnerschaft erreicht haben. Denn natürlich besteht eine fortgesetzte Diskriminierung, wenn das Institut der Ehe nicht allen Paaren offensteht. Das Eingehen einer einge- tragenen Lebenspartnerschaft bedeutet immer auch ein Outing gegenüber Behörden und zum Beispiel Arbeitge- bern. Solange die gesellschaftliche – aber im Hinblick etwa auf kirchliche Arbeitgeber, auch rechtliche – Dis- kriminierung nicht beseitigt ist, wird es deswegen auch Menschen geben, die aus Angst vor Benachteiligung darauf verzichten, eine rechtliche Absicherung ihrer Partnerschaft vorzunehmen. Dies stellt aus meiner Sicht einen unzumutbaren Eingriff in die persönliche Lebens- gestaltung und damit in den Schutzbereich des Art. 2 un- seres Grundgesetzes dar. Gerade die SPD-Fraktion argumentiert mit verfas- sungsrechtlichen Bedenken bei der Forderung nach der Öffnung der Ehe für lesbische und schwule Paare. Sie verkennt dabei, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1993, als es sich zuletzt mit dieser Frage beschäftigt hat, vor allem darauf verwiesen hat, dass die Beschwer- deführer nicht substanziiert vorgetragen hätten, dass sich der Ehebegriff gewandelt habe. Heute – 17 Jahre später – ist dieser Wandel evident. Laut einer repräsentativen Studie des Meinungsforschungsinstituts Infratest für die Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem April dieses Jahres fin- den 60,3 Prozent der Deutschen es richtig, Ehen zwi- schen zwei Frauen oder zwei Männern zuzulassen. Fragt man die Menschen, so wissen sie häufig gar nicht, dass das Institut der Ehe nicht für lesbische und schwule Paare offensteht. Der Volksmund spricht ohnehin seit der Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft von der „Homoehe“. Zudem gibt es bereits mindestens eine Ehe mit gleich- geschlechtlichen Partnern – vom Deutschen Bundestag selbst genehmigt. Aufgrund der Änderung des Trans- sexuellengesetzes vom 19. Juni 2009 gibt es jetzt in Deutschland Ehen, in denen zwei Frauen bzw. zwei Männer miteinander verheiratet sind. Das Bundesverfas- sungsgericht hatte diese Variante im Vorfeld explizit als mögliche Lösung genannt. Nicht zuletzt zeigt auch die internationale Rechtsent- wicklung, dass die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben in den demokratischen Staaten eher die Regel denn die Ausnahme ist. Die Niederlande, Belgien, Schweden, Norwegen – aber auch Südafrika, Mexiko- Stadt oder Argentinien – sie alle haben die Ehe für lesbi- sche und schwule Paare geöffnet. Selbst die katholischen Staaten Portugal und Spanien stehen hier vornan. Dabei gibt es auch juristische Beispiele in den nordischen Staa- ten, in denen die Rechtsentwicklung ähnlich wie in Deutschland verlief: zunächst eine eingetragene Lebens- partnerschaft mit geringeren Rechten und Pflichten, dann die schrittweise Gleichstellung und schließlich trotz der erfolgten Gleichstellung die Öffnung der Ehe. Die gesellschaftliche Akzeptanz ist vorhanden, recht- liche Bedenken können ausgeräumt werden. Es ist an der Zeit, ein gemeinsames Rechtsinstitut für alle Paare zu schaffen und die Öffnung der Ehe für Schwule und Les- ben zu beschließen. 13190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Einrichtung einer Interparlamenta- rischen Konferenz zur Gemeinsamen Au- ßen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsa- men Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Für eine wirkungsvolle interparlamen- tarische Begleitung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon – Kriterien und Anforderungen für eine parlamentarische Beteiligung an der Ge- meinsamen Außen- und Sicherheitspoli- tik der EU (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Seit dem Ver- trag von Maastricht ist in Sachen der Gemeinsamen Au- ßen- und Sicherheitspolitik, GASP, viel passiert. Als Meilensteine auf dem Weg zu einer kollektiven europäi- schen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gel- ten – um nur einige herauszugreifen – die Gründung der ESVP 1999, der Stabilitätspakt für Südosteuropa 1999, die vollzogenen Erweiterungsrunden und die Definition strategischer Leitlinien durch die Europäische Sicher- heitsstrategie 2003. Die jüngsten Vorgänge um den Libyen-Einsatz zeigen jedoch, wie weit Europa noch von einem konsolidierten und abgestimmten Vorgehen entfernt ist. Die gemein- same europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik ist ein zartes Pflänzchen, das wir mit den heute hier zu diskutierenden Anträgen wieder aufgreifen und stärken wollen. Im Mai dieses Jahres hat die WEU ihre Tätigkeit be- endet. Das bedeutet auch das Ende der Parlamentarier- versammlung der WEU. Wir von der Union halten eine parlamentarische Kontrolle der GASP und der GSVP durch ein europäisches Gremium aus Vertretern nationa- ler Parlamente und des Europäischen Parlaments jedoch auch nach dem Ende der WEU für zwingend notwendig. Die langfristige Übergabe von Souveränitätsrechten macht die parlamentarische Begleitung dieses Prozesses umso wichtiger. Der von uns eingebrachte Antrag spricht sich deshalb für die Einrichtung einer Interparlamentarischen Konfe- renz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union aus, welche die Vernetzung der wichtigsten Akteure der Außen- und Sicherheitspolitik der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlamentes sicherstellt. Die parlamentarische Kontrolle dieser Politikbereiche muss dabei federführend durch die nationalen Parla- mente erfolgen. Denn auch wenn die Rechte des Euro- päischen Parlaments durch den Vertrag von Lissabon weiter gestärkt wurden, gehören GASP und GSVP wei- terhin zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten. Anders als die SPD, die eine nah an den „Strukturen und Arbeitsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments an- gegliederte interparlamentarischen Struktur“ möchte, se- hen wir das Europäische Parlament – noch – nicht in der Lage, die parlamentarische Kontrolle hier federführend auszuüben. Im Sinne einer starken Stellung des Europäischen Parlaments fordern die Grünen, dass die Gesamtzahl der Delegationsmitglieder des EP nicht weniger als ein Drit- tel der Gesamtzahl der Mitglieder der Konferenz be- trage. Auch dies lehnen wir ab. Stattdessen schlagen wir vor, die Mitgliedszahl proportional an den Schlüssel der Parlamentarischen Versammlung des Europarats anzu- lehnen. Die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments sollte die Anzahl der Vertreter des größten Mitgliedslandes nicht übersteigen, um auch hier die Fe- derführung der nationalen Parlamente weiter deutlich zu machen. Ich begrüße ausdrücklich, dass unser Antrag Brüssel als Tagungsort vorsieht. Allerdings sollten die Tagungen nicht im Europaparlament stattfinden. Denn nur so do- kumentieren wir die Unabhängigkeit des Gremiums und den intergouvernementalen Charakter von GASP und ESVP. Das Gremium sollte – wie im Antrag steht – jährlich zweimal tagen, wobei anzudenken wäre, auch die Mög- lichkeit von „Ad-hoc-Treffen“ nach Bedarf einzurichten. So könnte weiter sichergestellt werden, dass das Gre- mium kein zahnloser Tiger bleibt, sondern die unabhän- gige parlamentarische Begleitung von GASP und GSVP gewährleistet. Anlass der hier diskutierten Anträge ist unter anderem die Auflösung der WEU. Lassen Sie mich deshalb die Gelegenheit nutzen, einige grundlegende Anmerkungen zur Zukunft der GSVP zu machen. Was wir auf europäischer Ebene in den nächsten Jah- ren brauchen, sind mutige Schritte gestalterischer Poli- tik – als Antwort auf neuartige Bedrohungen und als Konsequenz der Finanz- und Wirtschaftskrise, die uns immer noch in Atem hält. Im Koalitionsvertrag von 2009 wird als langfristiges Ziel der Aufbau einer europäischen Armee unter voller parlamentarischer Kontrolle genannt. Dies wäre nicht nur ein sichtbares Zeichen der Stärkung der GSVP, son- dern ist angesichts schrumpfender europäischer Verteidi- gungsbudgets der nächste logische Schritt. Denn unter dem Druck der Wirtschafts- und Finanzkrise sind in al- len Staaten der EU die Anteile für Verteidigungsausga- ben zurückgegangen. Eine Umkehr dieses Trends ist in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Demgegenüber finden sich stetig steigende Anforde- rungen an den Verteidigungsbereich. Wir können sagen, die Zeit voll ausgerüsteter Armeen in Europa gehört der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13191 (A) (C) (D)(B) Vergangenheit an. Wollen wir, dass die EU handlungsfä- hig und wirksam ihre eigene Sicherheit und ihre Interes- sen stärken kann, braucht es europäische Streitkräfte. Es geht uns darum, dass wir alles daran setzen, nationale Fä- higkeiten besser zu bündeln und eine zweckmäßige Auf- gabenteilung unter den Partnern zu erreichen – die GENT-Initiative zielt hier in die richtige Richtung. Es gilt also, bisher Erreichtes in der wechselseitigen Zusammen- arbeit zu vertiefen. Mir kommt es zudem darauf an, die Rollenspezialisierung, das heißt Zuordnung bestimmter Fähigkeiten zu einzelnen Ländern, intensiv voranzutrei- ben. Die von unseren Partnern Frankreich und Großbri- tannien unlängst im November 2010 vereinbarte Vertie- fung weiterer sicherheitspolitischer Zusammenarbeit in konkreten Rüstungsprojekten ist ein berechtigter Warnruf an alle EU-Mitgliedstaaten für mehr Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU. Es muss gerade im Interesse Deutschlands liegen, dass wir keine EU der 2, sondern auch in der Außen- und Sicherheits- politik eine EU möglichst der 27 haben. Dabei geht es um Werte und Interessen, um Glaubwürdigkeit und erst in zweiter Linie um die notwendige Kosteneffizienz. Eine europäische Armee ist kein Selbstzweck, sie dient der gemeinsamen europäischen Sicherheitsvor- sorge. Dazu muss sie auf einer Risikoanalyse fußen und klare Aussagen zur transatlantischen Partnerschaft ein- schließlich der Zusammenarbeit mit der NATO treffen. Das Ziel einer europäischen Armee ist notwendig und hilfreich: Notwendig, um Europas strategische Bedeu- tung als Wohlfahrts-, Kultur- und Wissenschaftsregion, aber auch als Vorkämpfer für Menschenrechte weltweit zu erhalten. Hilfreich, weil dieses Ziel einer gemeinsa- men besonders ideellen Anstrengung Europas nach Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion dienen kann. Europa braucht Visionen, die sich in Ziele umset- zen lassen und die Jugend begeistern. Die europäische Armee ist heute noch Vision, aber ein erreichbares und erstrebenswertes Ziel. Zugleich besteht die Chance, die zivilen, krisenprä- ventiven Fähigkeiten der EU noch besser mit ihren mili- tärischen Fähigkeiten im Sinne einer umfassenden Si- cherheitsvorsorge zu verknüpfen. Gemeinsame Werte brauchen mehr als nur eine gemeinsame militärische Verteidigungsidentität. Aber ohne eine europäische Ar- mee, schlagkräftig, einsatzbereit, innovativ und vom europäischen „Staatsbürger“ in Uniform geprägt, wäre die Europäische Union weniger glaubwürdig. Es geht um den Beweis, diese Werte zu erhalten, und um die Be- reitschaft, sie glaubhaft zu verteidigen. Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Deutschland und die Europäische Union sind wichtige Akteure in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Verteidigungs- politik. Verantwortungsvolles Handeln in Europa, aber auch in allen anderen Regionen dieser Welt bedarf einer gemeinsamen, strategisch fundierten und abgestimmten Vorgehensweise mit seinen Partnern und Verbündeten. Dies ist erforderlich für ein gedeihliches Zusammenleben in Sicherheit und Frieden. Diese Erkenntnis haben wir je- doch nicht erst seit den Ereignissen der vergangenen Mo- nate in der arabischen Welt, insbesondere in Libyen. Die Europäische Union hat mit der Integration der „Westeuropäischen Union“, WEU, 1998 den Grundstein für ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungs- politik gelegt. Die WEU selbst verlor jedoch damit ein- hergehend schon an Bedeutung. Mit dem im Jahr 2009 geschlossenen Vertrag von Lissabon wurde schließlich das endgültige Ende der WEU zum Ende Juni dieses Jahres beschlossen. Die Parlamentarische Versammlung der WEU, deren Aufgabe darin bestehen sollte, als inter- parlamentarisches Gremium die Gemeinsame Sicher- heits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union zu kontrollieren, wird damit ebenso beendet. Der Vertrag von Lissabon eröffnet wiederum neue Möglichkeiten für eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- tik der Europäischen Union – GASP. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind zwar fest im Bereich der Kernkompetenzen der EU-Mitgliedstaaten verankert. Auch die parlamentarische Kontrolle über diese Politikbereiche wird von den nationalen Parlamen- ten ausgeübt. Das Europäische Parlament wird dabei le- diglich im Rahmen von Informations- und Anhörungs- rechten beteiligt. Der intergouvernementale Charakter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt insofern erhalten. Die Koalitionsfraktionen sind sich einig, dass eine politische Begleitung und Kontrolle der GASP und GSVP auf der Ebene der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments in einem gemeinsamen Gre- mium erforderlich ist. Übrigens herrscht in diesem Punkt auch Übereinstimmung mit den Oppositionsfraktionen von SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, die ebenfalls eigene Anträge eingebracht haben, genauso wie die CDU/CSU-Fraktion zusammen mit der FDP. Eine solche Aufgabe sollte eine Interparlamentarische Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge- meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union übernehmen. Diese würde gewähr- leisten, dass alle wichtigen Informationen und Institutio- nen dieser Politikfelder zusammengeführt und eine koor- dinierte Politik betrieben werden könnten. Der ebenfalls durch den Lissabonner Vertrag neu geschaffene Europäi- sche Auswärtige Dienst, EAD, soll dabei im Wege von Anhörungen ebenso mit einbezogen werden wie die Eu- ropäische Kommission, der Rat und das Politische und Sicherheitspolitische Komitee, PSK. Wie wir im EU-Ausschuss festgestellt haben, liegen die Vorstellungen der einzelnen Fraktionen im Hinblick auf dieses Ziel recht nahe beieinander. Auch was die Un- abhängigkeit dieser Einrichtung, ihren Tagungsort Brüs- sel und ihre fachliche Kompetenz betrifft, herrscht vom Grundsatz her eine große interfraktionelle Übereinstim- mung. Lediglich in den Fragen der personellen Zusam- mensetzung und des Vorsitzes gehen die einzelnen Mei- nungen noch auseinander. Ich bin aber zuversichtlich, dass Sie für unsere Positionen auch zugänglich sind. 13192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) So sehen auch wir als CDU/CSU durchaus die Not- wendigkeit, die hier in Rede stehende Politik auch auf europäischer Ebene zu etablieren und gerade im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine europäi- sche Handlungsfähigkeit mehr und mehr herzustellen. Allerdings wollen wir auch nicht die Befugnisse, die der Vertrag von Lissabon im Bereich der Gemeinsamen Au- ßen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik den Mitgliedstaaten ein- räumt, unterlaufen. Eine „gleiche Augenhöhe“ bei der Delegationsstärke von Europäischem Parlament und Mitgliedstaaten, die sich in „einem angemessenen Ver- hältnis“ zueinander verhalten sollen, widerspricht ein- deutig dem Sinn und Zweck der Lissabonner Regelun- gen. Ebenso steht die Forderung nach einer mindestens zu einem Drittel von Vertretern des Europäischen Parla- ments besetzten Gremiums dem vertraglich festgelegten Kompetenzgefüge auf diesem Gebiet entgegen. Aus die- sem Grund halten wir eine Entsendung von Vertretern des Europäischen Parlaments in einer Stärke entspre- chend der Anzahl der Vertreter des größten Mitgliedstaa- tes für richtig. Die nationalen Delegationen sollten sich am Schlüssel der Parlamentarischen Versammlung des Europarats orientieren. In diesem Punkt besteht ja be- reits breiter Konsens. Damit würde die deutsche Delega- tion 18 Mitglieder umfassen. Bei der Frage, wie der Vorsitz einer solchen Interpar- lamentarischen Konferenz ausgestaltet sein sollte, finden wir hingegen denselben Widerspruch wie bei den Vor- stellungen zur Delegationsstärke des Europäischen Par- laments. Eine bipartite Besetzung des Vorsitzes mit Ver- tretern aus dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten verkennt erneut die Zuteilung von Kompetenzen. So fordern wir an dieser Stelle kon- sequenterweise eine Besetzung durch Vertreter derjeni- gen nationalen Parlamente, die jeweils zu den Troika- Ländern innerhalb der EU-Ratspräsidentschaften gehö- ren. Die nun endlich angestoßene Debatte zur Gemeinsa- men Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union ist der erste Grundstein auf dem Weg zur Einrich- tung einer Interparlamentarischen Konferenz. Lassen Sie uns eine gemeinsame Lösung für dieses wichtige Thema finden. Ich hoffe, dass ich Sie bereits mit unseren guten Argumenten überzeugen konnte. Dietmar Nietan (SPD): „Völker, die nicht die Gabe der Voraussicht haben, sind dem Untergang geweiht.“ Dieses Zitat stammt von Jean Monnet, einem der wichti- gen Gründerväter der Europäischen Union, und es ist heute so richtig wie vor 40 Jahren. Das Themenfeld der Außen- und Sicherheitspolitik liegt nach wie vor in der hauptsächlichen Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten, ihrer Regierungen und Parla- mente. Daran hat auch der Vertrag von Lissabon nichts geändert, auch wenn er mit Art. 18 endlich einen Hohen Vertreter bzw. eine Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik vorsieht. Seit dem 1. Dezember 2009 ist dies die Britin Catherine Ashton. Zu meinem tiefen Bedauern darf sie sich offiziell nicht als „Außenministe- rin der EU“ bezeichnen, was ausgerechnet von unseren Freunden des Vereinigten Königreiches verhindert wurde. Aber der Titel ist vielleicht mehr eine Formalität, denn als Hohe Vertreterin ist sie zugleich Vizepräsiden- tin der Europäischen Kommission, Vorsitzende des Ra- tes für Auswärtige Angelegenheiten und Außenbeauf- tragte des Europäischen Rates und konzentriert somit durchaus wesentlich mehr Kompetenzen unter einem Dach, als dies vorher der Fall war. Seit dem 1. Januar 2011 steht Catherine Ashton nun auch dem neugeschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst, EAD, als Quasi-EU-Außenministerium zur Seite. Auch dies ist eine fundamentale und positive Neuerung, die mittel- und langfristig dazu beitragen wird, das Stim- mengewicht der EU in der Welt zu verstärken. Vorausset- zung dafür ist aber, dass auch die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten sich dem Ziel eines einheitlichen, ko- härenten und wirksamen außen- und sicherheitspoliti- schen Handelns der EU verschreiben. Denn formal be- trachtet ist der EAD und mit ihm die Position der Hohen Vertreterin natürlich „nur“ eine neue Institution im Orga- nisationsaufbau der EU. Wenn es jedoch in den kommen- den Jahren gelänge, ihn als Dienst im Dienste aller EU-Institutionen aufzubauen, könnte er auch als neues, identifikationsstiftendes Element einer Europäischen Union betrachtet werden, die endlich im 21. Jahrhundert angekommen ist: als echtes Gemeinschaftsprodukt der Europäischen Kommission, des Rates der EU und auch des Europäischen Parlamentes. Ausschlaggebend hierfür ist maßgeblich der aufrichtige politische Wille der Mit- gliedstaaten. Damit auch wir als Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Parlamente entsprechend unserer landesge- mäßen Kompetenzen im geltenden Verfassungsrahmen adäquat beteiligt werden, schlägt Ihnen die SPD-Bun- destagsfraktion mit dem vorliegenden Antrag „Für eine wirkungsvolle interparlamentarische Begleitung der Eu- ropäischen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertrages von Lissabon“ eine neue Struktur zur parla- mentarischen Kontrolle der GASP/GSVP vor, die darauf abzielt die alte parlamentarische Versammlung der WEU zu ersetzen. Übergeordnetes Ziel der SPD ist und bleibt es, eine Stärkung der parlamentarischen Beteiligungs- rechte der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu bewirken. Wichtig ist mir in diesem Kontext eine Feststellung, mit der ich auf das eingangs erwähnte Zitat von Jean Monnet zurückkomme: Wenn wir uns dem Thema Euro- päische Außenpolitik mit Voraussicht und Verstand zu- wenden und wir der EU aufrichtig mehr Gewicht in der Welt verleihen wollen, müssen wir in der Außenpolitik aufhören, zuerst in nationalen Kategorien zu denken, be- vor wir uns mit den Interessen von und Auswirkungen auf Europa befassen. Wir brauchen eine „Europäisierung der Außen- und Sicherheitspolitik“, nicht im verfas- sungsrechtlichen Sinne, sondern im Sinne eines Paradig- menwechsel im Denken. Deutschlands Außenpolitik wird auch weiterhin von nationalen Interessen bestimmt werden, aber unser internationales Handeln lässt sich schon lange nicht mehr von Europa lösen. Außenpoliti- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13193 (A) (C) (D)(B) sche Entscheidungen, wie jüngst die deutsche Enthal- tung im UN-Sicherheitsrat bei der Libyen-Resolution 1973, haben dies wohl allen deutlich vor Augen geführt. Als überzeugter Transatlantiker sind für mich die Aus- wirkungen auf das deutsch-amerikanische Verhältnis schon an sich verheerend genug gewesen, die gleichzei- tige Abwendung von unseren europäischen Partnern Frankreich, Großbritannien und Portugal macht diese Entscheidung für mich weiterhin zu einem der größten strategischen Fehler, die eine Bundesregierung in der deutschen Außenpolitik seit 1949 jemals begangen hat. Diese in meinen Augen notwendige und unausweich- liche fortschreitende Europäisierung der Außen- und Sicherheitspolitik muss sich daher auch in den zu eta- blierenden parlamentarischen Kontrollstrukturen wie- derfinden, die sich für uns an zwei entscheidenden Punk- ten manifestieren: Erstens. Die neue interparlamentarische Struktur muss auf die formellen und informellen Kontroll- und Einfluss- möglichkeiten des Europäischen Parlamentes gegenüber der EU-Kommission, der Hohen Vertreterin und dem EAD zurückgreifen können, um wirklich europäisch, das heißt kooperativ gegenüber den Institutionen der EU und den Mitgliedstaaten agieren zu können. Zweitens. Deshalb muss die zu erarbeitende neue in- terparlamentarische Struktur sicherstellen, dass sich die Abgeordneten des EP und der nationalen Parlamente auf gleicher Augenhöhe begegnen. Eine neue interparlamentarische Kontrollstruktur muss den oben genannten Kriterien einer „Europäisierung“ ge- recht werden. Ziel muss es sein, die Parlamentarier, die auf der nationalen Ebene in die Entscheidungsfindung in den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs- politik eingebunden sind, mit denen für diese Bereiche zuständigen Abgeordneten des Europäischen Parlamen- tes zusammenzubringen. Ziel ist eine neue Allianz der EU-Parlamentarier und der Abgeordneten der Parlamente der Mitgliedstaaten. Ein solches Bündnis ermöglicht auch uns als Abgeord- neten des Bundestages die Nutzbarmachung der Mög- lichkeiten des europäischen Parlamentes. Denn täuschen Sie sich bitte nicht, nicht alle nationa- len Abgeordneten haben in den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik vergleichbare Kontroll- und Ein- flussmöglichkeiten wie wir deutschen Bundestagsabge- ordneten. Deshalb sollten wir als Parlamentarier jetzt die Chance nutzen, gemeinsam für eine neue Allianz aus na- tionalen und europäischen Abgeordneten einzutreten. Dies eröffnet uns doch die einmalige Chance, die Rolle der Parlamente im Prozess der Europäisierung der Au- ßen- und Sicherheitspolitik langfristig zu stärken. Schließlich hat gerade der Verfassungskonvent in der Zeit vor Lissabon sehr deutlich gezeigt, dass eine Stär- kung der parlamentarischen Ebene innerhalb der EU-Po- litiken viel effizienter und zielgerichteter die Europäi- sche Integration voranbringen kann als die Regierungen der Mitgliedstaaten alleine. Unser Vorschlag zur Schaffung einer neuen interpar- lamentarischen Konferenz bedeutet jedoch nicht, dass wir eine weitere Entscheidungsebene oder gar eine neue, eigenständige Institution schaffen wollen. Wir wollen auch keine Kompetenzen des Deutschen Bundestages in der Außen- und Sicherheitspolitik „durch die Hintertür“ nach Brüssel transferieren. Aber wir sind fest davon überzeugt, dass eine nah an den Strukturen und Arbeits- möglichkeiten des EP angegliederte interparlamentari- sche Struktur sowohl zu effektiveren „Kontrollmöglich- keiten“ der GASP/GSVP durch die Parlamente in den Mitgliedstaaten führt als auch am besten dazu geeignet ist, im Geiste des Vertrages von Lissabon zu einer Euro- päisierung der Außen- und Sicherheitspolitik beizutra- gen. Unsere Vorschläge lassen sich konkret in folgende Punkte aufteilen: Erstens. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten. Die von EP und nationalen Parlamenten gemeinsam wahrzu- nehmende parlamentarische Kontrolle der GASP/GSVP muss sich – bis auf die Ausnahme der Entsendung, Fi- nanzierung und Mandatierung bzw. Strukturierung mili- tärischer Operationen – auf alle Bereiche der EU-Außen- und Sicherheitspolitik beziehen. Der Parlamentsvorbe- halt bei Einsätzen der Bundeswehr darf durch die GASP/ GSVP jedoch nicht ausgehöhlt werden! Zweitens. Die Zusammensetzung. Wir schlagen eine Interparlamentarische GASP/GSVP-Konferenz vor, die sich aus den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschuss (AFET), seines Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung (SEDE) und des Menschenrechtsausschuss (DROI) des EP auf der einen und Delegierten der natio- nalen Parlamenten auf der anderen Seite zusammensetzt. Parlamente der Staaten, die durch die Erweiterungs- oder Nachbarschaftspolitik mit der EU in einer besonde- ren Beziehung stehen, können Beobachter zur Interpar- lamentarischen GASP/GSVP-Konferenz entsenden. Die Zahl der Delegierten aus den nationalen Parla- menten sollte sich an der Größe anderer, bereits vorhan- dender interparlamentarischer Versammlungen – wie zum Beispiel der zum Europarat – orientieren und sollte in einem angemessener Verhältnis zur Anzahl der Mit- glieder aus dem EP stehen. Die Delegierten aus den na- tionalen Parlamenten sollten sich aus den Mitgliedern folgender Parlamentsausschüsse zusammensetzen: Aus- wärtiger Ausschuss, Verteidigungsausschuss, Menschen- rechtsausschuss, Ausschuss für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung sowie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union beziehungs- weise deren Äquivalenten. Drittens: Die Arbeitsweise. Die Interparlamentarische GASP/GSVP-Konferenz sollte halbjährlich tagen. Der ständige Tagungsort soll das EP in Brüssel sein. Bei ent- sprechenden dringlichen Anlässen kann die Interparla- mentarische GASP/GSVP-Konferenz auch ad-hoc einbe- rufen werden. Die Federführung sollte beim AFET des EP und beim Auswärtigen Ausschuss des nationalen Par- laments der aktuellen Ratspräsidentschaft liegen. Ange- gliedert an den AFET soll ein eigenständiges, ständiges Sekretariat der Interparlamentarischen GASP/GSVP- 13194 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Konferenz in Brüssel eingerichtet werden. Auf der Ar- beitsebene soll es einen ständigen Austausch mit den Sekretariaten der Auswärtigen Ausschüsse der Mitglied- staaten geben, die als federführendes Sekretariat die Kommunikation mit den Sekretariaten der anderen einbe- zogenen Fachausschüsse der nationalen Parlamente sicherstellen. Die Interparlamentarische GASP/GSVP- Konferenz soll das Recht erhalten, von der Hohen Vertre- terin jederzeit Berichte zur GASP/GSVP einfordern zu können. Die Kooperation des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente ist in unseren Augen schon jetzt unerlässlich. Die bisherigen Verhandlungen über die Einrichtung einer solchen Konferenz haben deutlich gemacht, dass sich in einigen Mitgliedstaaten Parla- mentsfraktionen bereits jetzt in einer Art „prophylakti- schen Containments“ gegen eine stärkere Einbeziehung des EP bei der parlamentarischen Kontrolle der GASP/ GSVP aussprechen. Deshalb muss sich der Deutsche Bundestag zügig und deutlich gegen solche Formen der parlamentarischen Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik positionieren! In Art. 9 und 10 des Protokolls zum Lissabon-Vertrag über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU heißt es ausdrücklich: Das EP und die nationalen Parlamente legen gemeinsam fest, wie eine effiziente und regelmä- ßige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten inner- halb der Union gestaltet und gefördert werden kann. (Art. 9) … Sie – die Konferenz der Europa-Ausschüsse – kann auch interparlamentarische Konferenzen zu Ein- zelthemen organisieren, insbesondere zur Erörterung von Fragen der GASP einschließlich der GSVP. Die Bei- träge der Konferenz binden nicht die nationalen Parla- mente und greifen ihrem Standpunkt nicht vor. (Art. 10) Ganz im Geiste dieser Artikel des Protokolls zum Ver- trag von Lissabon über die Rolle der nationalen Parla- mente in der EU setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion für eine enge Abstimmung des Deutschen Bundestages und seiner Gremien mit dem EP ein, um so möglichst zu einer gemeinsamen Position in allen Fragen der Einrich- tung einer Interparlamentarischen GASP/GSVP-Konfe- renz zu gelangen. Es liegt an uns Bundestagsabgeordneten, Deutschland zu einem Vorreiter, nicht zu einem Hemmschuh auf dem Weg zu einer zukunftsweisenden, gemeinsamen europäi- schen Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Lassen Sie uns gemeinsam den Weg der Europäisierung der par- lamentarischen Kontrolle der GASP beschreiten. So wa- gen wir ein großes Stück Voraussicht. Jean Monnet wäre stolz auf uns! Joachim Spatz (FDP): Die Europäische Union ist im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auf viel- fältige Art und Weise aktiv. Einer breiten Öffentlichkeit ist dieses Engagement spätestens seit dem Beginn der Antipirateriemission ATALANTA am Horn von Afrika im Dezember 2008 bekannt. Allerdings stellen die mili- tärischen EU-Missionen nur einen kleinen Ausschnitt der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Der Aufbau ziviler und militärischer Kapazitäten auf EU-Ebene hat maßgeblich dazu beigetragen, die Euro- päische Union im Bereich der internationalen Konflikt- verhütung und Krisenbewältigung als maßgeblichen Ak- teur zu etablieren. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon haben sich große Fortschritte in den Politikbereichen GASP und GSVP ergeben. Neben der Schaffung des Amtes der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik und dem Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes hat vor allem die Etablierung der wechselseitigen Beistands- klausel im EU-Vertragswerk einen großen Schritt in Richtung Integration im Bereich der Außen-, Sicher- heits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union bewirkt. Wir begrüßen diese Entwicklung ausdrücklich. Sie ist Grundlage dafür, dass das außen- und sicherheitspoliti- sche Engagement der EU auch in Zukunft weiter wach- sen kann. Die Rolle der EU als internationaler Akteur wird sowohl aus qualitativer als auch quantitativer Sicht weiter steigen. Um den Integrationsprozess in dem hoch- sensiblen Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik schrittweise gestalten zu können, ist es angebracht, sich rechtzeitig darüber Gedanken zu machen, wie die Ent- wicklungen mit den Bürgern rückgekoppelt werden kön- nen, geht es letztlich doch um die Perzeption elementa- rer Sicherheitsbedürfnisse. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen noch – teilweise we- sentliche – Unterschiede bei der Definition dessen, was in Europa als Sicherheitsinteresse zu gelten hat und wel- che Mittel zur Deckung dieser Interessen vonnöten sind. Daher muss parallel zu den sich vollziehenden Schritten der Integration ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden, der am Ende ein gesamteuropäisches Sicher- heitsbewusstsein schafft. Dabei muss die Bevölkerung mitgenommen werden. Erst wenn es uns gelingt, ge- meinsame sicherheitspolitische Interessen politisch zu definieren, und diese auch von der Bevölkerung wahrge- nommen und akzeptiert werden, kann Europa sein Po- tenzial in der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik komplett entfalten. So wünschenswert die fortschreitende Integration im Bereich der GASP ist, stellt sich für uns als FDP gleich- wohl die Frage, wie die Beteiligung der nationalen Par- lamente an diesem bedeutenden Prozess gewährleistet werden kann. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheits- politik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik der Europäischen Union gehören auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten. Wenn sich die nationalen Regierungen in Brüssel im Sinne der fort- schreitenden Integration im Bereich der GASP – sinn- vollerweise – auf weitergehende Maßnahmen verständi- gen, die mindestens indirekt Auswirkungen auf die nationale Außen- und Sicherheitspolitik haben, ist aus unserer Sicht eine intensive parlamentarische Begleitung durch die nationalen Parlamente dringend erforderlich. Die im vorliegenden Antrag von CDU/CSU und FDP skizzierte Interparlamentarische Konferenz ist ein erster wichtiger Schritt hierfür. Die parlamentarische Beglei- tung der GASP und GSVP ist nach den neuen Vertrags- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13195 (A) (C) (D)(B) bestimmungen nicht auf das Europäische Parlament übergegangen. Vielmehr wurde eine bewusste Entschei- dung dahingehend getroffen, dass beide Materien als zwischenstaatliche Aufgabe wahrzunehmen sind und in maßgeblicher Verantwortung der Mitgliedstaaten ver- bleiben. Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo bei- spielsweise für Auslandseinsätze der Bundeswehr auch weiterhin die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages erforderlich bleibt. Der Schlüssel liegt mei- ner Ansicht nach in der ebenenübergreifenden Vernet- zung der parlamentarischen Akteure im Bereich der Au- ßen- und Sicherheitspolitik. Wir benötigen diese parla- mentarische Dimension im Bereich der GASP und GSVP. Sie ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass eine tiefgreifende Integration des bislang nicht verge- meinschafteten Politikfeldes gelingen kann. Diese wird umso effizienter, je stärker nationale Parlamente und das Europäische Parlament miteinander verknüpft werden. Unser Ziel ist es daher, die wichtigsten parlamentari- schen Akteure der nationalen Parlamente mit den Kolle- gen aus dem Europäischen Parlament in einer Interparla- mentarischen Konferenz zu vernetzen. Wir sind der Überzeugung, dass das Gremium in seiner Zusammen- setzung die Vielfalt der nationalen Parlamente wider- spiegeln sollte, und schlagen vor, dass die Mitglieder- zahl sich proportional am Schlüssel der Parlamen- tarischen Versammlung des Europarates orientiert. Die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments sollte dabei der Anzahl der Mitglieder des größten Mit- gliedslandes entsprechen. Bei der Besetzung der Delega- tionen sollten die beteiligten Parlamente unserer Ansicht nach frei sein, um zu gewährleisten, dass den Themen entsprechend wechselnde Mitgliedschaften möglich sind. So schaffen wir ein hinreichendes Maß an Flexibi- lität, das dazu geeignet ist, die thematische Bandbreite der GASP und GSVP zu reflektieren. Nachdem die Parlamentspräsidenten im Frühjahr un- ter belgischem Vorsitz das Thema erstmals diskutiert ha- ben, wird es im nächsten Jahr nun Aufgabe des polni- schen Parlamentspräsidenten sein, eine Einigung über Ausgestaltung und Etablierung der Interparlamentari- schen Konferenz zu erzielen. Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dem vorliegenden Antrag eine sehr gelun- gene Grundlage für die weiteren Verhandlungen vorge- legt haben; wir werden aktiv bei unseren europäischen Nachbarn für unseren Vorschlag und die damit verbun- denen Vorstellungen werben. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): In Bezug auf die eu- ropäische Außenpolitik gilt den deutschen Regierungen die Geheimhaltung als ein Vorzeichen des Erfolges, die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit dagegen als ein Vorzeichen des Verderbens. So schmücken sich die politischen Eliten in Europa gerne mit dem „Volkswil- len“, wenn es ihren Interessen entspricht, und empfinden bürgerliches Engagement als unverträglich mit der De- mokratie, wo sie als herrschende politische Klasse in- frage gestellt werden. Es überrascht mich nicht, wie in diesem Haus die eta- blierten Parteien von CDU/CSU und FDP über die SPD bis hin zu Bündnis 90/Die Grünen mit dem Kernthema der Europäischen Union, der europäischen Gemeinsa- men Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, und der Ge- meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, umgehen. Woher kommt Ihre Angst vor den kritischen Blicken der Öffentlichkeit und einer Kontrolle der bisherigen Ar- kanpolitik in außenpolitischen Fragen? Meine Kollegin- nen und Kollegen von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen, ich frage Sie: Worauf gründet die von Ihnen ge- teilte Notwendigkeit, mit demokratischen Nebelbomben und inhaltsleeren Worthülsen die Struktur- und Demo- kratiedefizite des Lissabonner Vertrages im Bereich der GASP gemeinsam mit der Regierungskoalition beibehal- ten zu wollen? Die Erklärung ist einfach: Die europäi- sche Sicherheitspolitik nahm seit ihren modernen Anfän- gen eine bis heute nachwirkende Sonderentwicklung als rein intergouvernementale Zusammenarbeit der Mit- gliedstaaten ein. Sie steht als Eindämmung konkurrie- render und als gefährlich empfundener alternativer Ge- sellschaftsvorstellungen für die Restauration im Innern Europas. Nach außen begründet sie dagegen die militäri- sche Komponente zur Durchsetzung ihrer wirtschafts- politischen Interessen. An diesem Zustand wollen Sie nichts ändern, was auch die Anträge der SPD und der Grünen nicht anders als die der CDU/CSU- und FDP- Fraktionen beweisen. Die derzeitige rechtliche Form der GASP und GSVP ist geschaffen worden, um die politische Verantwortung zu verschleiern und dabei ohne die Notwendigkeit einer innerstaatlichen Umsetzung im Einklang mit nationalem Recht die Mitgliedstaaten dennoch zu binden. Im Unter- schied zum Gemeinschaftsrecht besteht auch keine ge- richtliche Überprüfungsinstanz, da sich die Zuständig- keit des EuGH nicht auf Fragen der GASP und GSVP erstreckt. Die Mitgliedstaaten haben auch keine Zustän- digkeit des IGH hierfür anerkannt. Diese Immunität ist kein Zufall, sondern Leitmotiv, um eine weitestgehende Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten, die Vertragsbe- stimmungen nach Gusto interpretieren zu können, ohne dabei ein Verfahren befürchten zu müssen. Der von der Linksfraktion als erster in den Deutschen Bundestag Anfang April eingebrachte Antrag zur wirk- samen Kontrolle der GASP und GSVP hat die Heilige Allianz des Stillschweigens über die GASP aufge- scheucht und sichtbar ins Unbehagen gestürzt. Wider- sprüche zwischen basisdemokratischen Lippenbekennt- nissen und dem Unwillen, eine effektive Kontrolle der Auslandseinsätze, der Kriegstreiberei und der Militari- sierung der EU zu gewährleisten, traten unmissverständ- lich an die Oberfläche. Es ist kein Zufall, dass die SPD in ihrem Antrag explizit „die Entsendung, Finanzierung und Mandatierung bzw. Strukturierung militärischer Operationen“ von der parlamentarischen Kontrolle aus- nehmen will. Was bleibt denn dann noch übrig, was kon- trolliert werden könnte? Nicht anders die Grünen: Alles soll beim alten bleiben; es soll lediglich ein zusätzlicher Escort-Service zur Konferenz der Europa-Ausschüsse, COSAC, eingerichtet werden. Meine Kolleginnen und Kollegen in der Grünen-Fraktion wissen natürlich, dass diese gemäß ihrer Geschäftsordnung lediglich zum Zwe- cke regelmäßigen Meinungsaustausches eingerichtet 13196 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) wurden und nicht einer effektiven Kontrolle dienen sol- len. Es ist irritierend. Während Sie in Ihren Anträgen zur GASP das Hohelied auf den Parlamentarismus in der EU anstimmen, haben Sie – aus Sicht der Linksfraktion in skandalöser Weise – alles unternommen, um eine Be- schäftigung mit der parlamentarischen Kontrolle von GASP und GSVP von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Statt eine möglichst breite Debatte über die zukünftige Ausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik im Bundestag zu erreichten, überwiesen die Grünen und die SPD ihre sehr wichtigen Vorschläge zur Einrichtung ei- ner „parlamentarischen Begleitung der GASP“ im ver- einfachten Verfahren, also ohne Debatte, an die Aus- schüsse, damit diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen können. Heute haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP sowie SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dem Vorgang noch eins draufgesetzt, insofern sie der GASP so großes Gewicht beimessen, dass Sie zu- nächst eine Debatte nach Mitternacht anberaumten, ver- mutlich um eine möglichst breite Öffentlichkeit herzu- stellen, und sich schließlich einigten, das Thema als Protokollnotiz in den Drucksachenarchiven zu begraben. Eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, meine Da- men und Herren von der SPD und den Grünen: Ihnen fällt von sich aus zum Thema Kontrolle der GASP nicht viel ein, wohl deshalb haben Sie stichpunktartig von un- serem Antrag abzuschreiben versucht, jedoch vergessen, dass unsere Forderung zur Einrichtung einer Interparla- mentarischen Versammlung nicht im luftleeren Raum steht, sondern erst dann eine effektive Kontrollinstanz wird, wenn sie mit konkreten Befugnissen ausgestattet wird. Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, Sie wissen ganz genau, dass die bestehen- den EU-Verträge keine Kontrollrechte für das Europäi- sche Parlament in Bezug auf die GASP vorsehen. In die- sem Bereich können die einzelstaatlichen Parlamente auch nicht mitreden. Wohl in Kenntnis dieser Tatsache fordert die SPD in ihrem Antrag die „Nutzbarmachung der Möglichkeiten des Europäischen Parlaments für die nationalen Parlamentarier“. Nur welche? Sie wissen bes- ser als ich, dass sich der Einfluss des Europäischen Par- laments auf die GASP in der Zustimmung zur Ernen- nung des Hohen Vertreters und einer einmal im Jahr gegebenenfalls stattfindenden Aussprache über Anfra- gen und Empfehlungen an den Rat erschöpfen. Was die vorliegenden Anträge angeht, setzten die Ko- alitionsfraktionen wie auch Grüne und SPD leider ihren europapolitischen Grundfehler, die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon, fort. Während sich ja im ökono- mischen Bereich mittlerweile die Erkenntnis durchsetzt – EZB-Präsident Trichet ist da nur das jüngste Beispiel –, dass der Vertrag von Lissabon einfach nur großer Mist ist, sind Sie im Bereich der GASP und GSVP leider noch nicht so weit. Obwohl ich sagen muss, alleine Ihre An- träge weisen ja daraufhin, dass auch nach Ihrer Auffas- sung mit dem Vertrag von Lissabon in diesen Bereichen große Demokratiedefizite bestehen bleiben, wollen sie dennoch eine Lösung des Problems nicht ernsthaft ange- hen. Deshalb werden wir auch ihre Anträge alle ableh- nen. Denn um eine wirksame parlamentarische Kon- trolle zu gewährleisten, brauchen wir schlicht und ergreifend eine Komplettrevision der europäischen Ver- träge. Und ich hoffe, dass Sie dies baldmöglichst erken- nen und sich nicht auf ewig diesen notwendigen Ver- tragsänderungen verschließen werden. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der Deutsche Bundestag verpasst heute seine Chance, zu einem für Europa durchaus wichtigen Thema, der Außen und Sicherheitspolitik, der möglichen Einrichtung einer Interparlamentarischen Konferenz, mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. So gut wie alle unsere europäischen Nachbarn sind uns hier meilenweit voraus, weil sie fristgerecht national abgestimmte Vor- schläge eingereicht haben. Bei uns erfolgt die Positions- bestimmung über das Niederstimmen der Oppositions- anträge und Durchsetzen der Koalitionsmeinung. Eine national abgestimmte Position sieht anders aus. Dabei haben wir mit unserem starken Parlamentsvorbehalt in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik das größte In- teresse daran, die Art und Weise der Zusammenarbeit der Parlamente mitzugestalten. Aber durch die bornierte und provinzielle Haltung einiger Kollegeninnen und Kollegen der Koalition, die sich leider gegen die Ver- nünftigen durchgesetzt haben, wurde eine gemeinsame deutsche Position verhindert. Bundestagspräsident Lammert musste ohne eine gesamtdeutsche Position zur Konferenz der Parlamentspräsidenten fahren. Warum ha- ben Sie von der Koalition denn die Mediationsbemühun- gen Ihres eigenen Kollegen Polenz torpediert? Wir hat- ten doch fast eine Einigung – bis auf zwei kleinere Punkte, und da ging es um Posten und Bürokratie. Mit dem viel zu späten Reagieren auf eine auf euro- päischer Ebene längst stattfindende Debatte, gefolgt von einem hektischen Rumgemurkse seitens der Koalition, die unabgestimmt ihre Meinung zur einzig gültigen ma- chen wollte, hat sich der Bundestag ein schlechtes Zeug- nis für seine Europafähigkeit ausgestellt. Unsere Brüsse- ler Kolleginnen und Kollegen, aber auch die anderen nationalen Parlamente, werden daraus ihre eigenen Schlüsse ziehen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, waren nicht imstande, über ihren eigenen Schatten zu springen und sich ernsthaft um einen inter- fraktionellen Antrag zu einer Interparlamentarischen Konferenz zu bemühen. Zu sicher waren Sie sich wohl, dass wir Ihren antieuropäischen Kurs nicht mittragen wür- den. Ihr Antrag ist eine Rolle rückwärts in der so dringend erforderlichen Europäisierung der Außen- und Sicher- heitspolitik und wird der Aufforderung des Lissabonner Vertrages nicht gerecht. Dabei braucht die Außen-, Si- cherheits- und Verteidigungspolitik der EU mehr Gemein- samkeiten. Wir setzen bei der möglichen Einsetzung einer inter- parlamentarischen Konferenz auf eine praktikable und kosteneffiziente Lösung in Zusammenarbeit mit dem Eu- ropaparlament, vor dem wir – anders als Sie – keine Angst haben. Unser Reformvorschlag setzt auf ein Mehr an eu- ropäischer Integration und eine Beteiligung des EU-Parla- ments als gleichwertiger Partner. Wir wollen ein kleines Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13197 (A) (C) (D)(B) und effizientes Gremium, bei dem die Fragen der Propor- tionalität in Anlehnung an den Europaratsschlüssel ge- wahrt werden, aber gleichzeitig bessere und zügigere Ent- scheidungen getroffen werden können. Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass unser Vorschlag mit den Brüsseler Kolleginnen und Kollegen der grünen EP- Fraktion abgestimmt ist. Er stößt auch auf große Sympa- thie bei wichtigen Kolleginnen und Kollegen der CDU- Fraktion im Europaparlament, wie zum Beispiel Elmar Brok. Und er lehnt sich im Wesentlichen an den belgi- schen Entwurf an, bis auf den Entsendeschlüssel natür- lich. Dieser ist ja auch im Ergebnis bei der Konferenz der Präsidenten weiter als Verhandlungsgrundlage herausge- kommen. Sie wollen zur Organisation einer solchen Interparla- mentarischen Konferenz das WEU-Sekretariat erhalten. Aber die WEU hat sich nicht umsonst überlebt. Die von Ihnen vorgeschlagene Einrichtung eines separaten, ei- genständigen Sekretariats ist nichts weiter als die Fort- führung der alten Bürokratie, die im Juni dieses Jahres nicht ohne Grund aufgelöst werden soll. Die FDP ist doch angeblich für Entbürokratisierung? Alles nur Ge- rede, wenn’s konkret wird. Sie wollen hier einen Schein- toten wiederbeleben. Da liegt es nahe, anzunehmen, dass es Ihnen im Kern eigentlich nur darum geht, Pfründe und Posten zu sichern. Uns geht es um die Stärkung und Nut- zung der bestehenden parlamentarischen Rechte. Europa hat bereits eine Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir wollen uns als Parlament da- ran beteiligen. Das geht nur, wenn wir Mittel und Wege finden, die diesen Prozess fruchtbar und gewinnbringend für alle zu gestalten. Wäre das große deutsche Parlament mit einer derarti- gen Position zur Konferenz der Präsidenten im April ge- fahren, wäre das sicherlich ein Signal an die anderen ge- wesen. Diese Chance wurde verpasst. Aber auch die heutige Debatte und die vorliegenden Anträge zeigen, dass wir noch sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Nutzen und von den Synergieeffekten mit Europa haben. Wir hätten das letzte Jahr für eine Debatte darüber nut- zen sollen, statt in Klüngelrunden Europa gestalten zu wollen. So kommen wir in Europa bestimmt nicht voran. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Ge- schlechtszugehörigkeit (ÄVFGG) – Antrag: Sexuelle Menschenrechte für Trans- sexuelle, Transgender und Intersexuelle ge- währleisten – Transsexuellengesetz aufheben (Tagesordnungspunkt 23 a und b) Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes über die Än- derung der Vornamen und die Feststellung der Ge- schlechtszugehörigkeit“ sowie den Antrag der Fraktion Die Linke „Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle gewährleisten – Transse- xuellengesetz aufheben“. Das geltende Transsexuellengesetz, TSG, ist inzwi- schen mehr als dreißig Jahre alt. Es entspricht nicht mehr in jeder Hinsicht aktuellen medizinisch-wissenschaftli- chen Erkenntnissen. Außerdem hat das Bundesverfas- sungsgericht in mehreren Entscheidungen, zuletzt in sei- nem Beschluss vom 11. Januar dieses Jahres, die Unver- einbarkeit einiger Vorschriften des Transsexuellengeset- zes mit dem in Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz verankerten Grundsatz des Rechts auf freie Selbstbestimmung in Verbindung mit der allgemeinen Menschenwürde erklärt. Eine erste Än- derung haben wir bereits im Jahre 2009 vorgenommen, als wir auf das in § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG enthaltenen Er- fordernis der Ehelosigkeit verzichtet haben. Außerdem hat das Bundesinnenministerium 2009 einen Entwurf zur Reform des Transsexuellenrechts vorgelegt, der jedoch aufgrund der sich zum Ende neigenden Legislaturpe- riode nicht mehr in das Gesetzgebungsverfahren einge- bracht werden konnte. Zusammen mit der Bundesregierung beabsichtigen wir, das Transsexuellengesetz in der laufenden Wahlpe- riode gemäß den im Koalitionsvertrag enthaltenen Fest- legungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts sowie die neueren medizinischen Erkennt- nisse und gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Die erforderlichen Änderungen des Transsexuellenge- setzes, die auch den Beschluss des Bundesverfassungs- gerichts vom 11. Januar 2011 berücksichtigen, sollen durch ein Reformgesetz, TSRRG, umgesetzt werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf befindet sich derzeit in der Vorbereitung. Insgesamt bedarf das Vorhaben auf- grund der familienrechtlichen Auswirkungen einer be- sonderen Abstimmung und sorgfältigen Prüfung. Hier darf sprichwörtlich nichts übers Knie gebrochen werden. Im Interesse einer verfassungsrechtlichen Grundsät- zen dauerhaft entsprechenden Lösung wäre es nicht för- derlich, das Transsexuellengesetz durch den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetz- entwurf abzulösen oder die im Antrag der Fraktion Die Linke vorgesehenen Eckpunkte in vollem Umfang in das Transsexuellengesetz zu übernehmen. Im Einzelnen sprechen folgende Punkte gegen eine Zustimmung zu dem Gesetzentwurf beziehungsweise dem Antrag: Entwurf eines ÄVFGG der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Erstens. Die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Ver- lagerung der Zuständigkeit für die Entscheidung über die Vornamensänderung und die Geschlechtsänderung von den Amtsgerichten auf die Standesämter (§§ 1 und 3 des Entwurfs) hat offensichtlich den Zweck, die Wahl der Vornamen und der Geschlechtszugehörigkeit lediglich von der Abgabe einer familienrechtlichen Erklärung ab- hängig zu machen. Bei einer Vornamensänderung nach dem Transsexuellengesetz handelt es sich bisher – und nach meiner Auffassung auch zu Recht – um eine der öf- fentlich-rechtlichen Namensänderung vergleichbaren 13198 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Entscheidung, für die in den Ländern die Ordnungsämter der Gemeinden oder Landkreise zuständig sind. Soweit Transsexuellen eine Vornamensänderung quasi durch Abgabe einer Erklärung gegenüber dem Standesamt ein- geräumt würde, wären nichttranssexuelle Personen be- nachteiligt, weil diese ihre Namensänderung nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens durchsetzen können. Diese Un- gleichbehandlung verstieße gegen Art. 3 Grundgesetz. Zweitens. Die Entscheidung über die Geschlechtszu- gehörigkeit sollte wegen der damit verbundenen Auswir- kungen auf die Rechtsposition des Betroffenen und sei- ner Angehörigen weiterhin in einem gerichtlichen Verfahren erfolgen. Dies dient letztlich dem Schutz des Betroffenen selbst und seiner Angehörigen. Drittens. Der Gesetzentwurf räumt dem Standesamt keinerlei Ermessen ein und ordnet nach Antragszugang die Registeränderung als gebundene Entscheidung ohne weitere Sachverhaltsaufklärung oder behördliche Prü- fung an. Das Standesamt soll offensichtlich weder die Vorlage weiterer Unterlagen verlangen noch eine Ableh- nung des Antrags vornehmen können. Diese Verfahrens- vorgaben würden im standesamtlichen Verfahren zu er- heblichen Verwerfungen führen, weil bei anderen Personenstandsfällen zu Recht eine Sachverhaltsaufklä- rung stattfindet und die Beurkundung nur nach Vorlage entsprechender Urkunden und Nachweise durch den An- tragsteller erfolgt. Als Grundlage für eine Beurkundung im Personenstandsregister ist dieses Verfahren meines Erachtens nach nicht erstrebenswert. Auch hier wird die Schutzfunktion einer Antragsprüfung zugunsten der An- tragsteller verkannt. Viertens. Nach dem Gesetzentwurf reicht das indivi- duelle Empfinden des Betroffenen, dass die bisherigen Vornamen oder der bisherige Geschlechtseintrag nicht seinem Geschlechtsempfinden entspricht, für die ent- sprechende Registeränderung aus. Ein Nachweis über das Bestehen oder die Unumkehrbarkeit des transsexuel- len Empfindens – zum Beispiel psychotherapeutisches oder fachärztliches Zeugnis, Bescheinigungen, Bera- tungsschein etc. – wird nicht verlangt. Dies erscheint im Hinblick auf die gravierenden Auswirkungen eines Per- sonenstandswechsels nicht sachgerecht. Auch hier fehlt es an der notwendigen Schutzfunktion zugunsten des Antragstellers. Fünftens. Der Gesetzentwurf sieht keine Beschrän- kung hinsichtlich eines erneuten Vornamens- oder Ge- schlechtswechsels vor. Der demgemäß mehrfach mögli- che Wechsel der Vornamen und der Geschlechts- zugehörigkeit führt zu einem erheblichen Verwaltungs- aufwand und einer Besserstellung gegenüber nichttrans- sexuellen Personen, die an ihre familienrechtlichen Er- klärungen in der Regel gebunden sind. Eine solche Beliebigkeit ist nicht hinnehmbar. Sechstens. Der Gesetzentwurf sieht die Möglichkeit des gleitenden Übergangs von der Ehe in die Lebens- partnerschaft und umgekehrt auf Antrag vor, ohne die versorgungsrechtlichen Auswirkungen eines solchen Wechsels zu regeln. Eine solche Regelung verstößt in eklatanter Weise gegen Art. 6 Grundgesetz. Antrag der Fraktion Die Linke: Erstens. Eine Einbeziehung von Transgendern und In- tersexuellen in einen Gesetzentwurf erscheint mir pro- blematisch, da es sich um verschiedene Gruppen von Betroffenen handelt. Während Transsexuelle sich dem anderen als ihrem biologischen Geschlecht angehörend fühlen, umfasst der Begriff „Intersexualität“ eine Viel- zahl biologisch-somatisch gegebener Uneindeutigkeiten oder Mehrdeutigkeiten der Geschlechtszugehörigkeit. Die ohnehin schwierige persönliche Lage der Trans- sexuellen und ihre Probleme mit dem rechtlichen Ver- fahrensablauf für einen Vornamens- oder Geschlechts- wechsel sollten – auch nach Ansicht vieler Betroffener und auf diesem Gebiet tätiger Sachverständiger – nicht mit der ganz anders gearteten Situation Intersexueller vermischt werden. Dies würde auch den Interessen und Zielvorstellungen beider Betroffenengruppen zuwider- laufen. Zweitens. Die Eintragung der Geschlechtszugehörig- keiten „intersexuell“ und „transgender“ ist sowohl aus verfassungsrechtlichen als auch aus gesellschaftspoliti- schen Gründen problematisch. Das Grundgesetz und die übrige Rechtsordnung gehen nur von zwei Geschlech- tern aus. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Men- schen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal ei- genverantwortlich gestalten kann. Nach BVerfGE 49, 286, 298 gebieten Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung daher, den Personen- stand des Menschen dem Geschlecht zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört. Dabei gehen unsere Rechtsordnung und unser soziales Leben im Grundsatz von dem Prinzip aus, dass jeder Mensch entweder männlichen oder weiblichen Ge- schlechts ist. Eine Notwendigkeit der Schaffung eines quasi dritten Geschlechtes sehe ich nicht und halte dies auch nicht für wünschenswert. Drittens. Speziell im Hinblick auf eine gesetzliche Verfahrensregelung für intersexuelle Kinder ist zu be- merken, dass nach der deutschen Rechtsordnung jeder Mensch dem männlichen oder dem weiblichen Ge- schlecht zugeordnet werden kann. Die Frage, ob es dane- ben noch eine dritte Form gibt, die gesellschaftliche An- erkennung und in unserer Rechtsordnung Berück- sichtigung finden sollte, kann nur aus gesellschafts- und gesundheitspolitischer Sicht beurteilt werden. An dieser Stelle sei auf das Diskursverfahren Intersexualität des Deutschen Ethikrates verwiesen. Im Auftrag der Bun- desregierung erarbeitet der Deutsche Ethikrat derzeit eine Stellungnahme zur Situation von Menschen mit In- tersexualität. Erst gestern hat hier eine öffentliche Anhö- rung stattgefunden. Die Ergebnisse dieses Diskursver- fahrens müssen abgewartet werden. Erst dann können Überlegungen auf gesicherter Grundlage zu einer gesetz- lichen Regelung führen. Viertens. In dem Antrag werden als „Transgender“ Personen bezeichnet, die sich nicht in den Kategorien männlich oder weiblich wiederfinden. Der Begriff Transgender wird aber seit den 1980er-Jahren fast aus- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13199 (A) (C) (D)(B) schließlich als genderpolitischer Oberbegriff gebraucht, der insbesondere Transsexuelle umfasst. In dieser Hin- sicht ist bereits der betroffene Personenkreis durch den Antrag nicht eindeutig bezeichnet und in dieser Form keiner gesetzlichen Verfahrensregelung zugänglich. Meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grü- nen und von der Linken, lassen Sie mich eines noch ab- schließend sagen: Uns allen ist klar, dass das Transsexu- ellengesetz in seiner jetzigen Form die Betroffenen benachteiligt und ihnen nicht gerecht wird. Nicht um- sonst hat das Bundesverfassungsgericht in seinem letz- ten Beschluss die Anwendung von § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG bis auf weiteres ausgesetzt. Die Bundesregierung wird deshalb noch in dieser Legislaturperiode einen Ent- wurf für ein Reformgesetz des Transsexuellengesetzes vorlegen, der den Vorgaben des Bundesverfassungsge- richts entsprechen wird. Bis dahin sollten Sie Ihre An- träge beziehungsweise Gesetzesvorlagen ruhen lassen. Gabriele Fograscher (SPD): Wir beraten heute, 2011, in erster Lesung einen Gesetzentwurf über die Än- derung der Vornamen und die Feststellung der Ge- schlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen. Hinter dem Titel verbirgt sich die Novellierung des Transsexuellen- gesetzes. Leider sind wir seit 2009 nicht zu einer längst überfälligen Lösung gekommen. Das Transexuellengesetz ist gut 30 Jahre alt und ent- spricht weder der Lebenswirklichkeit von Transsexuel- len noch dem Stand der Wissenschaft. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht in inzwischen sechs Entschei- dungen einzelne Vorschriften des Transsexuellengeset- zes für verfassungswidrig erklärt. Weil hier enorme Rechtsunsicherheit besteht, ist es dringend geboten, dass dieses Gesetz überarbeitet wird, besser noch durch ein ganz neues Gesetz ersetzt wird. Unser Ziel ist es, das Leben und den Alltag der Betroffe- nen zu erleichtern. Bereits in der vergangenen Wahlperiode haben wir in- tensive Gespräche mit dem damaligen Koalitionspartner geführt. Doch leider kam es dabei zu keiner Einigung, und außer einer dürren Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage von mir, liegt uns bislang nichts aus den Koalitionsfraktionen vor. Ich selbst habe, auch in dieser Wahlperiode, Gesprä- che mit Betroffenen geführt. Sie haben ihr Unverständ- nis über dieses veraltete, teils verfassungswidrige Gesetz zum Ausdruck gebracht, ebenso wie ihre Verzweiflung, dass die Bundesregierung auf diesem Gebiet, trotz der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, völlig untätig ist. Transsexuelle Menschen haben das Gefühl, im fal- schen Körper zu leben. Transsexualität ist aber keine Krankheit. Die Ursachen sind unklar, und den typischen Transsexuellen gibt es nicht. Auch ist die Bezeichnung Transsexualität falsch; denn diese Menschen haben kein Problem mit ihrer Sexualität, sie haben ein Problem mit ihrer Identität. Deshalb schlage ich vor, dass wir die Bezeichnung des Gesetzes ändern. Bei einer Novellierung sollten wir den Titel von „Gesetz zur Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in beson- deren Fällen“ in „Transidentitätsgesetz“ ändern. Die Betroffenen leiden unter gesellschaftlicher Aus- grenzung, fühlen sich anders, sind psychischen Belas- tungen ausgesetzt. Das ist schon schlimm genug. Des- halb sollten wir als Gesetzgeber die rechtlichen Hürden, damit ein Transsexueller oder eine Transsexuelle in dem von ihm bzw. ihr empfundenen Geschlecht leben kann, nicht höher hängen, als unbedingt nötig. Wir sollten das Verfahren zur Vornamensänderung straffen. Derzeit muss ein Antragsteller mindestens seit drei Jahren in dem anderen Geschlecht, dem er sich zu- gehörig fühlt, leben, und es muss mit hoher Wahrschein- lichkeit angenommen werden, dass sich das Zugehörig- keitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändert. Es sind zwei medizinische Gutachten erforder- lich; ich meine, ein Gutachten des behandelnden Arztes reicht aus. Auch kann im Verfahren auf den Vertreter des öffentlichen Interesses durchaus verzichtet werden. Diese hohen Hürden sind eine große psychische Belas- tung für die Antragsteller und führen dazu, dass sich die Verfahren bis zu zwei Jahre hinziehen können. Bisher heißt es in § 1 Abs. 1 TSG, dass die innere Überzeugung eines Transsexuellen oder einer Transse- xuellen fortdauernd und unumkehrbar sein muss, um den Vornamen ändern zu können. Im neuen Gesetz sollte „fortdauernd“ bestehen bleiben, aber „unumkehrbar“? Das kann weder der oder die Betroffene noch ein ärztli- ches Gutachten feststellen. Wir sollten das unnötig komplizierte Verfahren für die Vornamensänderung vereinfachen und auf Doppel- oder Mehrfachbegutachtungen verzichten. Vorstellbar ist für uns, die Vornamensänderung durch die nach Landesrecht für das Personenstandswesen zu- ständigen Behörden vornehmen zu lassen, also dem Standesamt. Voraussetzung für eine Personenstandsänderung, also der Wechsel von männlich zu weiblich oder von weib- lich zu männlich, ist derzeit die Durchführung einer ge- schlechtsangleichenden Operation. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Die Autoren des Transsexuellengesetzes gingen da- mals davon aus, dass die Vornamensänderung, also die sogenannte kleine Lösung, nur ein Durchgangsstadium sei und es Ziel aller Transsexuellen sei, die „große Lö- sung“, also die Personenstandsänderung und die ge- schlechtsangleichende Operation, zu erreichen. Diese Annahme ist falsch, denn, so eine fachwissen- schaftliche Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, etwa 20 bis 30 Prozent der Trans- sexuellen wollen keine geschlechtsangleichende Opera- tion. Diese Regelung in § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 TSG hat das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig einge- stuft. 13200 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Dazu heißt es in der Pressemitteilung des Bundesver- fassungsgerichts zum Beschluss vom 11. Januar 2011: „Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit dieser Vorausset- zung das berechtigte Anliegen, auszuschließen, dass rechtlich dem männlichen Geschlecht zugehörige Perso- nen Kinder gebären oder rechtlich dem weiblichen Ge- schlecht zugehörige Personen Kinder zeugen, weil dies dem Geschlechtsverständnis widerspräche und weitrei- chende Folgen für die Rechtsordnung hätte. Diese Gründe vermögen aber im Rahmen der gebotenen Ab- wägung die erhebliche Grundrechtsbeeinträchtigung der Betroffenen nicht zu rechtfertigen, weil dem Recht der Transsexuellen auf sexuelle Selbstbestimmung unter Wahrung ihrer körperlichen Unversehrtheit größeres Ge- wicht beizumessen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Fälle des Auseinanderfallens von rechtlicher Ge- schlechtszuordnung und Erzeuger- beziehungsweise Ge- bärendenrolle angesichts der kleinen Gruppe transsexu- eller Menschen nur selten vorkommen werden.“ Auf diese Regelung können und müssen wir bei einer Novel- lierung verzichten. Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Gesetzent- wurf, dass sowohl die Vornamensänderung als auch die Personenstandsänderung bei den Standesämtern angesie- delt werden soll. Ich halte diese Regelung für die Perso- nenstandsänderung nicht für sinnvoll, und das sehen auch viele Betroffene selbst so. Eine Personenstandsänderung bringt viele weitere Verwaltungsakte und Rechtsfolgen mit sich, wie das Umschreiben von Zeugnissen und Urkunden. Deshalb halten wir es für angemessen, dass diese Än- derungen weiterhin vom zuständigen Gericht vorgenom- men werden. Dies würde die Ernsthaftigkeit des Anliegens unter- streichen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion und ich als Berichterstatterin sind bereit, auf Grundlage des vorge- legten Gesetzentwurfes der Grünen zu prüfen, ob wir nicht zu einer gemeinsamen Neugestaltung eines Trans- identitätsgesetzes kommen können. Noch ein paar Worte zum Antrag der Linksfraktion. Die Vorschläge gehen weit über die vom Bundesver- fassungsgericht als erforderlich angesehenen Neurege- lungen hinaus. Zum Beispiel würde die Einstufung in drei Merkmale, nämlich männlich, weiblich und interse- xuell große Widerstände hervorrufen. Der Vorschlag ist nicht mehrheitsfähig. Im Interesse der Betroffenen, die zwar nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung sind, aber einen großen Lei- densdruck haben, und aufgrund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, sollten wir uns ernsthaft be- mühen, zu Lösungen zu kommen. Manuel Höferlin (FDP): Mit großem Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass nach den Grünen nun auch die Linke sich mit der Thematik der Änderung der Vornamen und der Feststellung der Geschlechtszugehö- rigkeit in besonderen Fällen befasst. Was Sie da aller- dings fabrizieren, liebe Kollegen von der Linken, halte ich für wenig hilfreich. Ihr Antrag geht glatt am Ziel vor- bei. Sie beschäftigen sich vorrangig mit der Frage, wie intersexuelle Menschen und Transgender in Deutschland behandelt werden sollten. Das ist eine wichtige Frage, und ich würde mich sehr freuen, wenn wir auch an dieser Stelle Fortschritte erzielen können. Aber Ihre Vorschläge für das Personenstandsrecht halte ich an dieser Stelle für absolut unbrauchbar, ja geradezu unsinnig. So fordern Sie die Eintragungsmöglichkeit „Trans- gender“ für Personenstandsregister. Soll das bedeuten, dass in ein Geburtenregister für einen Säugling die Ein- tragung „Transgender“ gewählt werden kann? Wieso möchten Sie, dass die sozial gelebte Geschlechtsidentität im Personenstandsregister erfasst werden soll? Wieso halten Sie es überhaupt für erforderlich, das soziale Ge- schlecht einer Person zu erfassen? Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre Regelungswut stößt mir als Liberalem immer wieder sauer auf. Aber das geht nun wirklich zu weit. Mit solchen Regelungen beflügeln Sie nur die Diskriminierung von Menschen, indem Sie ihr Sozialverhalten aktenkundig machen. Das Sozialverhal- ten von Menschen – dazu gehört auch deren sozial ge- lebtes Geschlecht – geht den Staat zunächst einmal über- haupt nichts an. An der Stelle mischen Sie sich in die Privatsphäre anderer Menschen ein. Das finde ich uner- hört! Auch der Gesetzentwurf der Grünen ist mehr gut ge- meint als gut gemacht. So fordern Sie, dass die §§ 1591 und 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuches geändert wer- den. Aus Vätern und Müttern werden dann Elternteile. Das BGB macht die Unterscheidung von Vater und Mut- ter nicht grundlos. Art. 6 Abs. 4 des Grundgesetzes lau- tet: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Liebe Grüne, das Grundge- setz ist eindeutig. Hier steht Mutter und nicht Elternteil! Wie möchten Sie, liebe Kollegen der Grünen, den Müt- tern in diesem Land erklären, dass sie keines besonderen Schutzes mehr bedürfen, weil sie mittlerweile nurmehr Elternteile sind? Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem Ver- trag das Ziel gesetzt, das Transsexuellengesetz auf eine moderne, zeitgemäße Grundlage zu stellen, und dieses Ziel werden wir auch erreichen. Wir wollen, dass trans- idente Menschen ihre Geschlechtszugehörigkeit oder ih- ren Vornamen möglichst unbürokratisch ändern können. Sie sollen ein freies und selbstbestimmtes Leben führen dürfen und sollten dabei nicht mit unnötigen bürokrati- schen Hürden konfrontiert werden. Ihre Privatsphäre muss ebenso geschützt werden wie ihre Lebensum- stände. Hier sollte man beim Transsexuellengesetz die Hebel ansetzen, anstatt sich in sinnlosen Spielereien an Personenstandsregistern zu ergehen. Wenn ich mir ihre Anträge anschaue, habe ich den Eindruck, dass die lie- ben Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei und den Grünen transidente Menschen in ihren Werbeblock für ein anderes Weltbild eingebaut haben, weil es sich so leichter verkaufen lässt. Mit der FDP-Bundestagsfrak- tion werden Sie das nicht machen können. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in die Debatte um ein modernes Transsexuellengesetz einbringen. Wir Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13201 (A) (C) (D)(B) möchten, dass die Sorgen und Probleme dieser Men- schen ernst genommen werden. Wir möchten, dass sie sich nicht Gedanken über den Fortbestand ihrer Lebens- partnerschaft oder Ehe machen müssen. Wir möchten, dass sie sich nicht operativen Maßnahmen unterwerfen müssen, um in dem für sie richtigen Geschlecht zu leben. Das sind die zentralen Punkte für ein modernes und zeit- gemäßes Transsexuellengesetz. Die Anträge, die wir hier heute beraten, verfehlen diese Ziele ganz klar. Daher würde ich es sehr begrüßen, wenn die Antragsteller sie zurückziehen würden. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): „Man setzte den Transsexuellengutachter Herrn Dr. A. vom medizini- schen Dienst der Krankenkasse auf mich an. Nachdem der vorherige medizinische Gutachter meiner Kranken- kasse sich wohl mit der Sachlage überfordert fühlte, war nun Herr Dr. A. für mich zuständig. Er rief mich unver- mittelt eines Nachmittags an und begann, mir Fragen zu stellen: Wie lange ich mich schon als Frau fühlen würde, ob ich belegen könne, wie mein Alltag aussehe. Zu- nächst antwortete ich ganz freundlich, ich war ja froh, wenn nun Bewegung in die Sache kam. Aber nach und nach wurde mir klar, dass da offenbar wieder jemand keine Zeile von dem gelesen oder verstanden hatte be- ziehungsweise nicht verstehen wollte, was in meinen Unterlagen stand.“ So berichtete die Intersexuelle Christiane Völling in ihrem erschreckenden Erfahrungsbericht über ihren Ver- such, ihr Geschlecht anerkennen zu lassen. Thomas Völling stellte im Alter von 49 Jahren fest, dass er ei- gentlich früher weibliche Geschlechtsmerkmale besaß, ihm diese jedoch ohne sein Wissen entfernt wurden. Bei dem Versuch, diese Geschlechtsmerkmale wiederher- stellen zu lassen und nun ihr Geschlecht auch als weibli- ches anerkennen zu lassen, musste sie das Verfahren des Transsexuellengesetzes durchlaufen, um als weiblich an- erkannt und den Vornamen Thomas in Christiane verän- dern zu dürfen. So wie Christiane Völling erging und ergeht es noch vielen Intersexuellen. Ihnen ist schreckliches Leid wie- derfahren. Bei ihrem Versuch, sich rechtlich anerkennen zu lassen, scheitern sie häufig am Recht und an den Ver- fahrensvorschriften. Das Recht kennt keine Intersexuel- len. Aber auch Transsexuelle verzweifeln oftmals an dem für sie geschaffenen Transsexuellengesetz. Medizi- nische Gutachter verschleppen die Begutachtung, Ge- richte ziehen Verfahren in die Länge, Krankenkassen be- willigen die notwendigen operativen Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung nicht. Das Transsexuellenge- setz ist drei Jahrzehnte alt. Es wurde mehrfach vom Bun- desverfassungsgericht für nicht verfassungskonform er- klärt. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Das geltende Trans- sexuellengesetz ist in seinen wesentlichen Grundzügen inzwischen fast dreißig Jahre alt. Es entspricht nicht mehr in jeder Hinsicht aktuellen medizinisch-wissen- schaftlichen Erkenntnissen. Wir werden das Transsexu- ellengesetz deshalb unter Berücksichtigung der Recht- sprechung des Bundesverfassungsgerichts auf eine neue zeitgemäße Grundlage stellen, um den betroffenen Men- schen ein freies und selbstbestimmtes Leben zu ermögli- chen.“ Die Betroffenen warten bislang vergebens. Die Linke begrüßt den Gesetzentwurf der Grünen. Aller- dings geht unser Antrag, der Ihnen hier vorliegt, weiter. Wir wollen das Transsexuellengesetz aufheben. Wir wollen das Personenstands- und Vornamensrecht und die dementsprechenden Verwaltungsvorschriften dahin ge- hend reformieren, dass Transsexuelle, Intersexuelle und Transgender im Recht berücksichtigt sind. Ihre sexuellen Menschenrechte sind im Recht nicht berücksichtigt. Wir fordern keine Operation an Intersexuellen vor der Ein- willigungsfähigkeit. Wir fordern umfangreiche Unter- stützung für Transsexuelle, Transgender und Intersexu- elle. Wir fordern die Erweiterung der Möglichkeiten des Geschlechtseintrags, damit Transsexuelle, Intersexuelle und Transgender berücksichtigt werden. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Kolleg_innen, es gibt mehr Geschlechter, als unsere Schulweisheit sich träumt. Wir wissen heute, dass es Menschen gibt, die sich im falschen Körper ge- boren fühlen, die dem anderen biologischen Geschlecht angehören wollen. Es gibt aber auch Menschen, die sich gar nicht in die Schubladen von Mann und Frau einsor- tieren können und wollen. Es gibt eine Vielfalt von Ge- schlechtern, Lebensformen und Identitäten in unserem Land – aber das Gesetz kennt nur zwei zulässige. Das bestehende Transsexuellenrecht beruht auf der Angst vor Uneindeutigkeit. „Was bist du eigentlich“ – ist eine Frage, die Transsexuelle oder Transgender oft hö- ren. Für viele Menschen ist es offenbar unerträglich, wenn offizielles Geschlecht und das Aussehen oder der Körper eines Menschen vermeintlich nicht zueinander passen. Zu viele Geschlechterklischees und -vorurteile hängen an dieser Einschätzung. Viele Menschen reagie- ren unbeholfen, weil sie ihr eigenes Verhalten davon ab- hängig machen, welches Geschlecht das Gegenüber hat. Uneindeutigkeit nimmt ihnen das Gefühl von Sicherheit, welches im geübten Umgang mit Klischees begründet ist. Das bestehende Transsexuellenrecht versucht, diese Geschlechterordnung zu zementieren. Der Gesetzgeber anerkennt zwar, dass Menschen ihr Geschlecht ändern können, aber nur, wenn hochdotierte Gutachter bestäti- gen, dass der Leidensdruck der Betroffenen hoch genug ist, und, nach dem Wortlaut des gültigen Gesetztes, nur, wenn die Geschlechtsumwandlung vollständig vollzo- gen wird – inklusive umfangreicher geschlechtsanglei- chender Operationen und Hormonbehandlungen. So soll sichergestellt werden, dass am Grundsatz der zwei Ge- schlechter festgehalten werden kann. Damit ignoriert das Gesetz die gesellschaftliche Wirklichkeit – das kann auf Dauer nicht gelingen. Und es widerspricht der Bezie- hung von Bürger und Staat in einer freiheitlichen Gesell- schaft. Der Bürger oder die Bürgerin müssen es sich nicht gefallen lassen, dass der Staat in ihre Freiheits- rechte eingreift, ohne dass dies der Schutz wichtiger Rechtsgüter anderer erfordert. 13202 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Unser Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, be- endet diese Praxis. Denn die Aufgabe des Gesetzgebers kann es nicht sein, die Rechte von Minderheiten zu be- schneiden, um der Mehrheit irritierende Fragen oder Momente zu ersparen. Nach Art. 2 des Grundgesetzes sind alle Menschen frei darin, ihre Persönlichkeit zu ent- falten. Art. 1 unseres Grundgesetzes schützt die Würde des Menschen in seiner Individualität, wie er sich selbst begreift. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Ent- scheidung im Januar dieses Jahres zum wiederholten Male deutlich gemacht, dass auch die Geschlechtszuge- hörigkeit inbegriffen ist. Das Gericht hat in diesem Ur- teil zudem entschieden, dass der Passus des Gesetzes, der die zwangsweise operative Geschlechtsänderung vorschreibt, nicht notwendig ist, um vor dem Gesetz als dem anderen Geschlecht zugehörig zu gelten. Diese Entscheidung des Verfassungsgerichts haben wir in unserem Gesetzentwurf bereits vorweggenommen und berücksichtigt. Wir wollen die Änderung des Vorna- mens und der Geschlechtszugehörigkeit nur vom erklär- ten Willen der Betroffenen abhängig machen. Eine medi- zinische Überprüfung entfällt. Wir gestehen den Menschen mit diesem Entwurf die Selbstbestimmung über sich und ihr Leben zu. „In dubio pro libertate“ – im Zweifel für die Freiheit. Wir wollen damit erreichen, dass sich der Staat aus der Privatsphäre des Menschen, aus seiner geschlechtlichen Selbstbestimmung, zurückzieht und geben das Primat dem wahren Geschlechtsempfin- den, über das nur das Individuum Auskunft geben kann. Die Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, eigene Vorschläge für die Reform des Transsexuellenrechts zu machen. Zur Halbzeit ihrer Re- gierungszeit liegt kein Entwurf vor. Wir wollen mit un- serem Gesetzentwurf die notwendige Debatte in Gang bringen. Die Fraktion der Linken hat diese Einladung bereits angenommen und heute einen Antrag vorgelegt, der in vielen Punkten in dieselbe Richtung tendiert. Ich hoffe auf eine konstruktive Debatte in den zuständigen Ausschüssen – im Interesse der betroffenen Menschen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Belarus nach den Wahlen – Repressionen beenden (Zusatztages- ordnungspunkt 16) Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU): Wir sind einig in der Verurteilung der Vorgänge im Zusammenhang mit der Wahl im Dezember 2010. Zu den Wahlen selbst hat die OSZE das Erforderliche gesagt. Das brutale Vorge- hen der Polizei am Wahlabend gegen Demonstranten ist ebenso unangemessen wie abstoßend. Das gilt erst recht für die Verurteilung oppositioneller Politiker zu hohen Zuchthausstrafen. Dieses Vorgehen der belarussischen Regierung hat etwas der europäischen Moderne Ins-Ge- sicht-Schlagendes. Wir interpretieren dieses nicht als Zeichen der Stärke. Die belarussische Opposition war weder stark noch besonders gut organisiert. Wer es nötig hat, derart auf eine Opposition einzuschlagen, lässt Schwäche erkennen. Was die belarussische Gesellschaft braucht, ist Ver- söhnung, Versöhnung mit sich selbst und mit den Anfor- derungen der modernen Welt. Die gegenwärtigen Zu- stände sind nicht kompatibel mit diesen Anforderungen. Die Vorwürfe einer Verschwörung von außen sind ab- surd. Niemand innerhalb der Europäischen Union ver- schwört sich gegen Belarus und niemand hat Interesse an chaotischen Zuständen. Vielmehr sind wir interessiert an einem geordneten Übergang in die europäische Moderne und die europäische Normalität. Wir wissen, dass die Bundeskanzlerin kürzlich in Deauville mit dem russischen Ministerpräsidenten Medwedjew auch über Belarus gesprochen hat. Dem Vernehmen nach hat es keine Differenzen gegeben. Russland ist an der guten Beziehung zu Deutschland und zur Europäischen Union interessiert. Dieses Interesse ist sowohl politisch als auch ökonomisch motiviert. Für uns ist das Verhalten Moskaus ein Indikator, wie ernst die europäischen Werte von Russland genommen werden. Belarus ist in einer schweren strukturellen Krise. Diese Krise ist nicht mit einzelnen Krediten zu lösen. Wir haben schon in der Vergangenheit gesehen, dass Kredite nur zeitweise helfen. In kurzer Zeit ist das Land wieder am selben schwierigen Punkt angelangt, hat aber jetzt noch mehr Schulden und muss noch mehr Zinsen bezahlen. Das Land bedarf struktureller Reformen im wirtschaftlichen und politischen Bereich. Die belarussi- sche Gesellschaft bringt alle Voraussetzungen hierfür mit, nämlich gut ausgebildete, motivierte und diszipli- nierte Bürger und eine gut vorgebildete junge Genera- tion. Die Nachbarn von Belarus haben vorgemacht, wie es geht. Insbesondere Polen ist ein ausgezeichnetes Bei- spiel der Transformation eines Landes von einem stali- nistischen System hin zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie. Die baltischen Staaten sind auf dem glei- chen Weg und die Ukraine ist im Begriff, sich auf diesen Weg zu machen. Wir wünschen uns, dass wir auch Bela- rus unterstützen können, diesen Weg zu gehen. Die Si- tuation im Lande verschärft sich rapide und zeigt sich in einer galoppierenden Geldentwertung und ersten Anzei- chen einer Versorgungsknappheit. Wir wollen Belarus helfen, aus dieser Abwärtsspirale herauszukommen. Dazu müssen wir das Gespräch su- chen. Wenn es hilft, auch auf diskreten Wegen. Es ist al- lerdings nicht vorstellbar, dass substanzielle Gespräche und Verhandlungen geführt werden, solange die Straf- urteile gegen die Oppositionellen vollzogen werden. Es ist also an der belarussischen Regierung, die Vorausset- zungen für eine Normalisierung zu schaffen. Im Herbst vergangenen Jahres waren wir schon viel weiter. Die Eu- ropäische Union hatte Belarus einen konkreten Fahrplan vorgelegt. Die Außenminister Polens und Deutschlands hatten im November in Minsk konkrete Vorschläge für eine Unterstützung des Landes vorgelegt. Sofern Belarus die Voraussetzungen hierfür schafft, sind wir und die Eu- ropäische Union bereit, diesen Weg wieder einzuschla- gen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13203 (A) (C) (D)(B) Uta Zapf (SPD): Es ist erfreulich, dass es uns gelun- gen ist, einen überfraktionellen Antrag zwischen CDU/ CSU, FDP und SPD, Bündnis 90/Die Grünen einzubrin- gen. Es ist ja noch nicht lange her, da ist es nicht gelun- gen, fast wortgleiche Anträge unter einen Hut zu brin- gen. Warum nach so kurzer Zeit eine neue Resolution? Zwei Gründe: Auf der bevorstehenden Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE wird es eine Belarus-Debatte geben. Zu dieser Debatte ruft die deutsche Delegation mit einer Resolution auf, die von der Delegation verfasst wurde. Ein Beschluss des Bun- destages stärkt der deutschen Delegation den Rücken und verleiht unserem Anliegen Gewicht. Das Europäi- sche Parlament und die Parlamentarische Versammlung des Europarates haben sich auch mehrfach zu Wort ge- meldet. Dies zeigt, wie sehr die europäischen Staaten an Belarus und einer demokratischen Entwicklung dieses Landes interessiert sind. Jetzt zu diesem Zeitpunkt stehen die Menschenrechte im Vordergrund. Wir verfolgen jeden Tag mit Entsetzen neue Nachrichten von Schandurteilen, Repression, Ver- folgung und Foltervorwürfen. Die so wichtige Mission der OSZE ist rausgeworfen worden aus Belarus, das Büro ist geschlossen. Täglich wird die Repression auf Menschenrechtsgruppen und freie Presse erhöht. Angst und Schrecken sollen um sich greifen. Viele der Angeklagten nach den niedergeknüppelten Demonstrationen vom 19. Dezember 2010 sind zu hohen Haftstrafen verurteilt worden, die Präsidentschaftskandi- daten Sannikow und Statkevich zum Beispiel zu fünf und sechs Jahren schwerer Haft, ihre Unterstützer im Wahlkampf ebenso. Was haben sie getan? Sie haben ih- ren Unmut über gefälschte Wahlen in einer spontanen friedlichen Demonstration Ausdruck verliehen. In den Augen des autoritären Regimes ist dies „Aufruf zum Aufruhr, zum Umsturz des Regimes“. Die angeblichen Angriffe auf das Parlamentsgebäude waren vermutlich Provokationen, wie man auch auf Vi- deoaufnahmen feststellen konnte. Eine neutrale Untersu- chung lässt Präsident Lukaschenko nicht zu. Er verhöhnt die OSZE, deren Grundsätze er beim Gipfel in Astana Anfang Dezember 2010 feierlich bekräftigt und unter- schrieben hat. Er erklärt ihre Arbeit für erfolgreich been- det; dies nach gefälschten Wahlen, während fast die komplette Opposition im Gefängnis sitzt, während Men- schenrechtsgruppen mit Razzien und Verhaftungen über- zogen werden und die freie Presse zunehmend unter Druck gesetzt wird. Rechtsstaatlichkeit ist Fehlanzeige. Hatte Lukaschenko früher zynisch darauf hingewiesen, die Justiz hielte sich ja an – völlig inakzeptable – Gesetze, hält heute kein Ge- richt, keine Polizei die vorgeschriebenen Verfahren ein. Willkürherrschaft breitet sich aus. Es gibt zunehmend Berichte von Folterpraktiken in den Gefängnissen. Wir werden nicht aufhören, die Freilassung der politischen Gefangenen zu fordern. Die politische Situation ist am Boden. Aber auch die ökonomische Lage ist im Sink- flug. Hatte Präsident Lukaschenko noch vor den Wahlen die Löhne erhöht, so musste jetzt die Währung abgewer- tet werden. Die Verschlechterung des Lebensstandards nimmt dramatische Formen an. Die Preise steigen, die Lebensmittel werden knapp. Die Inflation wird auf 33 bis 39 Prozent für 2011 geschätzt. Es gibt Kleindemon- strationen vor Tankstellen und Autokorsos gegen stei- gende Benzinpreise, Salz und Zucker sind Mangelware, in den Supermärkten gähnen leere Regale. Und wie reagiert der Despot? Er droht dem Premier- minister und dem Notenbankchef mit Entlassung, wenn die Preise weiter steigen. Er verfolgt Medien, die über die wirtschaftliche Situation berichten, weil sie Panik- käufe provozierten. Er fordert mehr Disziplin von Arbei- tern und Angestellten, sie sollen arbeiten und nicht wäh- rend der Arbeitszeit Hamsterkäufe machen. Beamten droht er Prügel an. Dies klingt nach Kabarett, ist aber bitterer Ernst. Belarus braucht dringend neue Kredite, die die Eurasian Economic Community geben will – ge- gen Verkauf des Tafelsilbers Staatsbesitz. Auch der IWF soll Kredite geben. Die Situation in Belarus erscheint ausweglos. Sowohl die politische wie die wirtschaftliche Lage bröckeln. Ein Grund dafür ist die Abwendung von Europa, die Lukaschenko mit seinen Repressionen zementiert und mit denen er sich in eine Sackgasse manövriert hat. Ich bin der Ansicht, dass das demokratische Europa der rich- tige Rahmen für Belarus ist. Dafür wäre aber eine nach- haltige Wende in der Politik des Landes notwendig. Bis- her hat Lukaschenko jeden Dialog nach den Wahlen zurückgewiesen und verhindert. Um der Menschen wil- len sind wir zum Dialog bereit. Wir fordern daher die so- fortige Freilassung aller politischen Gefangenen. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Ich freue mich, dass wir hier einen interfraktionellen Antrag einbringen, um die unhaltbaren politischen Zustände in Belarus zu themati- sieren; er zeigt unsere Geschlossenheit gegenüber Alexander Lukaschenko; er sendet ein deutliches Signal der Entschlossenheit an die Adresse Minsk. Wir erinnern uns: Vor knapp einem halben Jahr – am 19. Dezember 2010 – war die Präsidentschaftswahl in Belarus. Statt einer fairen und freien Wahl gab es eine durch Manipulation entschiedene Wahl und einen von Gewalt begleiteten Wahlnachgang. Die Protestdemon- strationen führten zu Hunderten von Festnahmen; in von Willkür statt Gerechtigkeit geprägten, geradezu grotes- ken Schauprozessen wurden und werden nach wie vor zum Teil jahrelange Haftstrafen verhängt. Durch Gespräche mit Menschen aus Belarus in Berlin konnte ich mir in den vergangenen Wochen und Mona- ten ein Bild von der Situation aus der Sicht der Betroffe- nen machen. Die Beschreibungen der gewaltsamen Übergriffe vonseiten der Sicherheitskräfte und der bruta- len Methoden des KGB, der in Belarus bezeichnender- weise übrigens immer noch so heißt, in den Gefängnis- sen wurden unter anderem von Alexander Milinkiewicz bestätigt. 13204 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) Das Regime macht auch nicht davor halt, aufgrund absurder Anschuldigungen brutal gegen prominente Dis- sidenten vorzugehen. Dies betrifft auch einige der Präsi- dentschaftskandidaten der Opposition. Besonderes scho- ckierend ist der Fall von Andrej Sannikow, dem populärsten Präsidentschaftsbewerber der Opposition. Er wurde noch am Abend der Demonstration gegen die Wahlfälschung krankenhausreif geschlagen und festge- nommen. Ihm wie auch vielen anderen wurde angemes- sene ärztliche Versorgung verweigert. Das erinnert an stalinistische Methoden. Inzwischen wurde Sannikow zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach Redaktions- schluss unseres Antrags sind übrigens schon wieder zwei Journalisten verhaftet worden, und es ist derzeit kein Ende der Repression absehbar. Wir verurteilen entschieden das absolut unverhältnis- mäßige Vorgehen der Regierung gegen die Demonstran- ten. Am Werk war und ist eine klassische Unterdrü- ckungsmaschinerie aus längst vergangener Zeit. Während sich in Nordafrika eine Bewegung hin zur De- mokratie und politischen Teilhabe der Bevölkerung Bahn bricht, haben wir hier in Europa noch einen ana- chronistisch agierenden Despoten, der es immer wieder versteht, mit zum Teil ungeheuerlich brutalen Methoden seinen Machterhalt zu sichern. Es gibt zwei wichtige Verträge, die Belarus unter- schrieben hat, in denen es sich zur Einhaltung der grund- legenden Bürger- und Menschenrechte verpflichtet hat: Zum einen ist Belarus Mitglied in der OSZE. Zum ande- ren hat Minsk den UN-Zivilpakt unterschrieben. Aber Lukaschenko hat diese Verträge trotzdem x-fach gebro- chen. In Belarus gibt es keine Wahrung der Menschen- rechte und keine Einhaltung der Presse-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Kritiker werden eingeschüchtert, Verhaftungen ohne vorherige Anklageerhebung sind an der Tagesordnung. Für uns stellt sich die Frage: Welche Hebel können wir jetzt ansetzen, um der Forderung nach wirklich nachprüfbaren Verbesserungen hinsichtlich der Men- schenrechte in Belarus Nachdruck zu verleihen? Das geht nur, wie so oft, übers Geld. Lukaschenko hat sich im Zuge der Wahl die Loyalität von Sicherheitskräften und Beamten durch großzügige Gehaltserhöhungen er- kauft. Diese finanziellen Wohltaten sind ein wesentlicher Grund für die Inflation in Belarus. Neben einer unzu- mutbaren Menschenrechtssituation herrscht in Belarus auch eine desolate Wirtschaftslage mit steigenden Ener- giepreisen und ebenso steigenden Staatsschulden. Die Währung wurde kürzlich massiv abgewertet: Der weiß- russische Rubel verlor im Vergleich zum amerikanischen Dollar mehr als ein Drittel seines Werts. Lukaschenko geht also das Geld aus, und er braucht dringend Geld und Kredite. Endlich hat die internationale Staatenge- meinschaft einen Hebel. Erst wenn Minsk den Forderun- gen nach spürbaren Reformen eindeutig nachgekommen ist, darf der Geldhahn aufgedreht werden. Es stellt sich für den Präsidenten nun die Frage, wel- chen Preis er in Form von Zugeständnissen für die Kre- dite zu zahlen bereit ist. Russland hat am Wochenende ein Kreditangebot von über 3,15 Milliarden Dollar ge- macht, allerdings unter der Bedingung privater Investi- tionen in Belarus. Das heißt, Lukaschenko müsste sein Einverständnis geben, dass die letzten Filetstücke der belarussischen Wirtschaft – wie beispielsweise Trakto- renfabriken und Ölpipelines – von russischen Investoren gekauft werden könnten. Dies ist auch nicht im Interesse Lukaschenkos. Denn auch wenn Lukaschenko dem Zer- fall der UdSSR nachtrauert und insgeheim von einem Staatenbund von Belarus und Russland unter seiner Re- gentschaft träumt, ist ihm mittlerweile klargeworden, dass der Kreml seine eigenen Ziele verfolgt. Daher will sich Minsk nicht von Moskau vereinnahmen lassen. Bleibt also die Alternative des Geldes aus dem Wes- ten. Belarus hat einen Kreditantrag an den Internationa- len Währungsfonds in Höhe von über 8 Milliarden Euro gestellt. Dies ist nun der Moment, in dem Alexander Lukaschenko Zugeständnisse machen muss, wenn er sich nicht Russland ausliefern will. Daher muss Deutschland jetzt gemeinsam mit seinen Partnern beim IWF darauf hinwirken, dass dem Regime in Minsk kein frisches Geld zur Verfügung gestellt wird ohne knallharte Auflagen. Ich betone also noch einmal: keine neuen IWF-Kredite, solange Lukaschenko keine eindeutig nachprüfbaren Reformen hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte zulässt. Er hat die Wahl: Will er das Geld des Westens, muss er die Zügel locker lassen; nimmt er den Kredit von Russland, wird er die „Kronjuwelen“ der belarussischen Wirtschaft verkaufen müssen. Leider hat sich Lukaschenko in den vergangenen Jah- ren stets als Meister des Taktierens und des politischen Pokerns entpuppt. Lange ist es ihm gelungen, durch wechselseitige Annäherungsavancen eine Art Schaukel- stuhlpolitik zwischen der EU und Moskau zu verfolgen, nur um im letzten Moment eine erneute Kehrtwende zu vollziehen. Diesmal steht das Regime jedoch wirtschaftlich derart mit dem Rücken zur Wand, dass er zu ernsthaften Ent- scheidungen gezwungen scheint. Der Moment der Wahr- heit scheint gekommen. Solange nicht klar ist, für wel- chen Kurs der Machthaber in Minsk sich entscheidet, müssen Deutschland und die EU ihre Haltung weiterhin deutlich machen. Der Antrag, den wir heute debattieren, ist dazu ein ge- eignetes Mittel der politischen Kommunikation. Er sen- det ein deutliches Signal der Geschlossenheit der deut- schen Politik an Lukaschenko. Es bleibt zu hoffen, dass er die Zeichen der Zeit endlich versteht und sich im Inte- resse der belarussischen Bürger für die längst überfälli- gen politischen Reformen entscheidet. Stefan Liebich (DIE LINKE): Seit unserer letzten Debatte über die Situation in Belarus nach den Wahlen vom Dezember 2010 haben sich in den entscheidenden Kritikpunkten gegenüber der belarussischen Politik keine nennenswert positiven Entwicklungen ergeben. Dass die Anklagepunkte gegenüber den aus unserer Sicht politisch motiviert verurteilten demokratischen Kräften teilweise herabgestuft wurden oder dass die Be- hörden in Visafragen teilweise mit der OSZE kooperier- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 13205 (A) (C) (D)(B) ten, kann die nach wie vor kritikwürdige Gesamtsitua- tion nicht relativieren. Im Kern bleibt es dabei, dass friedlich demonstrie- rende demokratische Kräfte politisch motivierter Straf- verfolgung ausgesetzt sind, dass ehemalige Präsident- schaftskandidaten zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, dass Angst vor dem Verlust des Arbeits- oder Studienplatzes bei Anhängern oppositioneller Kräfte be- steht. Die Linke fordert die Freilassung der nach den De- zemberwahlen politisch motiviert Verhafteten und Ver- urteilten. Ich bedaure, dass sich auch in einigen weiteren Fra- gen keine konstruktive Lösung ergeben hat. Das OSZE- Büro in Minsk hätte, wie die Entwicklungen der letzten Monate und die noch relevanten Fragen seines Arbeits- gegenstandes zeigen, durchaus weiter sinnvolle Arbeit im Interesse des Landes und im Interesse guter interna- tionaler Zusammenarbeit leisten können. Dass die wei- tere Arbeit durch die belarussische Seite nicht ermög- licht wurde, ist bedauerlich und wirft ein fragwürdiges Licht auf die dahinter stehenden Intentionen. Einige schwierige Punkte im Dialog sind noch hinzu- gekommen. Die Vorwürfe über Folter und erniedrigende Behandlung in KGB-Gefängnissen müssen untersucht werden. Und eine ungehinderte Arbeit des nach dem Moskauer Mechanismus ausgewählten OSZE-Experten ist unbedingt erforderlich. Ich betone noch einmal, dass Deutschland aus unserer Sicht ein Interesse an guter Kooperation mit Belarus hat. Dieses große Land gehört zu Europa, ist Nachbar der Europäischen Union, Wirtschaftspartner und könnte eine Brücke hin zu Russland bilden. Die Menschen in Bela- rus haben ein Recht auf ihre eigenen Entscheidungen über die Entwicklungen in ihrem Land. Die müssen sie aber auch frei treffen können. In diesem Zusammenhang ist leider klar, dass Belarus derzeit die Standards der OSZE, die es wiederholt anerkannt hat, selbst im Lande nicht verwirklicht. Nach etwas hoffnungsvollen Ent- wicklungen im Vorfeld der Wahlen sind hier leider pro- blematische Rückschritte zu verzeichnen. Die Linksfrak- tion ist solidarisch mit jenen, die sich gegen Repression richten, die um politische Freiheiten ringen und sich da- bei auf anerkannte internationale Standards berufen kön- nen. Zu Ihrem Antrag: Er ist stark in der Kritik und formu- liert ein wenig Interesse am Dialog. Letzteres ist uns aber auch sehr wichtig. Durch eine zugeschlagene Tür verhandelt es sich schlecht. Ein kleines Problem besteht in der Formulierung am Ende des Feststellungsteils des vorliegenden Antrages, in dem auch auf die EU verwie- sen wird. Wir sollten uns doch darüber einig sein, dass wir von anderen Staaten zwar viel erwarten können, aber nur das konsequent einfordern sollten, was sie auch rechtlich anerkannt haben. Und das betrifft eben die OSZE-Standards und nicht die der EU. Schließlich bleiben wir bei unserer skeptischen Hal- tung zu Sanktionen, die im letzten Bundestagsbeschluss als Option enthalten waren. Wir sehen darin keinen sinn- vollen Beitrag, gleichermaßen Einfluss auf die belarussi- sche Regierung zu nehmen und zugleich die Bevölke- rung von Schaden freizuhalten. Lassen Sie mich zum Schluss eine generell kritische Bemerkung machen. Ich kann Ihnen die Verfahrenskritik nicht ersparen. Seit Monaten besteht hier im Hause große Einigkeit in der Kritik am Agieren der Lukaschenko-Administration, in der Unterstützung der politisch Verfolgten und in dem Einfordern rechtsstaatli- cher und Menschenrechtsstandards. Es bleibt absurd, die Linksfraktion dennoch aus gemeinsamen Anträgen he- rauszuhalten. Das ist kein Vorbild für demokratisches parlamentarisches Agieren, das ist kein Dienst an den Betroffenen, das ist kein Beitrag für ein angemessenes Auftreten des Deutschen Bundestages in internationalen Fragen. Die Ausgrenzung der Linken bleibt kleinkarier- tes und peinliches Agieren der Konservativen und ein Duckmäusertum bei Sozialdemokraten und Grünen, die dieses unwürdige Spiel wieder und wieder mitmachen. Dessen ungeachtet geht es uns um die Sache, um die Freiheit von Demokratinnen und Demokraten in Bela- rus. Deshalb stimmen wir dem vorliegenden Antrag zu. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Situation in Belarus ist weiterhin un- fassbar dramatisch, und deswegen ist es wichtig, dass wir uns im Deutschen Bundestag erneut mit dem Thema befassen. Am vergangenen Freitag traf ich Dr. Irina Bogdanowa, für deren Bruder Andrej Sannikow ich die Patenschaft übernommen habe. Frau Bogdanowa hatte sich bis zum 19. Dezember 2010 aus der Politik heraus- gehalten. Sie war auch von ihrem Bruder Andrej zu ih- rem eigenen Schutz herausgehalten worden. Durch die Ereignisse des 19. Dezember wurde sie jedoch plötzlich hineinkatapultiert in die Solidaritätsarbeit. Seitdem en- gagiert sie sich intensiv für die zahlreichen politischen Häftlinge, unter denen sich auch ihr Bruder befindet. Sie beklagt sich, dass bei zivilgesellschaftlichen Grup- pen die versprochen EU-Finanzhilfen nicht greifen. Das gilt insbesondere auch für die Gruppen, die nicht in Bela- rus, sondern im Ausland politische Arbeit machen. Hier müssen wir und hier muss die EU das Angebot an Hilfs- geldern deutlich verbessern. Eine schnellere, unbürokra- tische und effektivere Vergabe von Mitteln scheint drin- gend notwendig. Die Schicksale der einzelnen Gefangenen, die sie mir geschildert hat, sind kaum zu fassen. Zum Teil sitzen blutjunge Menschen in Tbc- und HIV-verseuchten Zuchthäusern und Lagern des Lukaschenko-Regimes ein. Dort werden sie erniedrigt und gequält. Einer von ihnen ist der erst 21 Jahre alte Mikita Lichawid. Er wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, nur weil er sein Recht auf gewaltlose Demonstration wahrgenom- men hat. Gelandet ist er im Lager in Novopolotsk. Die Stadt ist Standort einer Erdölraffinerie und die Gefäng- nisinsassen leiden – wie die Bewohner – unter den gifti- gen Dämpfen der Fabrik. Der junge Nikita Lichawid weigert sich bis heute, sich schuldig im Sinne der An- klage zu bekennen. Mutig beharrt er darauf, nur von sei- 13206 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 114. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 (A) (C) (D)(B) nen Grundrechten Demonstrations- und Versammlungs- freiheit Gebrauch gemacht zu haben. Wegen dieser Haltung wird er von der Anstaltsleitung und den Wärtern schikaniert. Er landete bereits zweimal in Einzelhaft, einmal für zehn, einmal für fünfzehn Tage. Auch seinen 21. Geburtstag musste er in einer Einzelzelle verbringen. Seine Mutter durfte ihn in den vergangenen drei Mona- ten ein einziges Mal besuchen und war erschüttert über seinen schlechten körperlichen Zustand. Leider ist Nikita Lichawid kein Einzelfall. Wir wissen von Andrej Sannikow, Ales Michalewitsch und anderen Häftlingen, die misshandelt und gefoltert wurden. Dmitry Bandarenka, einem engen Mitarbeiter von Andrej Sannikow, wird trotz mehrfacher Bandscheiben- vorfälle die medizinische Versorgung verweigert. Ihm droht, für immer gelähmt zu sein. Es ist zu befürchten, dass diese Schicksale nur die Spitze des Eisbergs zeigen, immerhin schmoren seit dem 19. Dezember immer noch mehr als 30 Oppositionelle in Haft, unter ihnen fünf Prä- sidentschaftskandidaten, die zu Haftstrafen zwischen zwei und sechs Jahren verurteilt wurden. Deswegen muss weiterhin gelten: Die Freilassung der politischen Häftlinge muss die Vorbedingung für jegli- Es könne keine Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und Weißrussland geben, so- lange Oppositionelle im Gefängnis säßen oder unter Hausarrest gestellt würden und solange in Belarus eklatante Menschenrechtsverletzungen an der Ta- gesordnung seien. Dies muss die Prämisse unserer Politik sein, und wir dürfen hier keinen Millimeter nachgeben. Das sind wir den politischen Gefangenen und ihren Angehörigen schuldig. Ich möchte an dieser Stelle nicht die aktuell immer dramatischer werdende wirtschaftliche Lage Weißruss- lands außer Acht lassen. Die brenzlige finanzielle Ent- wicklung, die rasende Inflation und der drohende Staats- bankrott bringen nun Alexander Lukaschenko dazu, den IWF um Kredite zu bitten. Auch wenn der IWF nicht ex- plizit politisch, sondern ökonomisch ausgerichtet ist, ist es kaum vorstellbar, dass wir einen Diktator, der bru- talste Menschenrechtsverletzungen begeht, mit Steuer- geldern stützen. Aber auch unter ökonomischen Gesichtspunkten erscheint eine Mittelvergabe an Lukaschenko vollkommen absurd. Schließlich hatte die- che Überlegung zur Wiederaufnahme eines Dialogs mit dem autoritären Regime in Minsk sein. Der Westen muss hier standhaft bleiben. Das fordern auch die Inhaftierten selbst; denn sie wollen nicht von Lukaschenko als Gei- seln beziehungsweise als Verhandlungsmasse miss- braucht werden. Ich hätte mir gewünscht, dass wir diese Forderung in unserem gemeinsamen Antrag auch in dieser Klarheit formuliert hätten. Schließlich entspricht diese Haltung auch der der Bundesregierung. So forderte Regierungs- sprecher Steffen Seibert am 14. Mai 2011 im Namen der Bundesregierung die sofortige Freilassung aller Gefan- genen und stellte anschließend klar – ich zitiere –: Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö ser im Vorfeld der Wahlen die Mindestlöhne um 50 Pro- zent heraufgesetzt und die Gehälter der Staatsdiener drastisch erhöht. Das bedeutet nicht nur, dass jegliches Geld, das Lukaschenko in die Hand gegeben wird, allein der Stabilisierung seines diktatorischen Regimes dient, sondern auch, dass ein derartiges Verteilen von Wahlge- schenken das genaue Gegenteil einer soliden Haushalts- politik darstellt, die ein wichtiges Kriterium für die Mittelvergabe des IWF bildet. Deutschland sollte sich innerhalb des IWF einer Vergabe von Mitteln so lang entgegenstellen, bis neben der Erfüllung der ökonomi- schen Erfordernisse politische Freiheiten wieder einge- führt werden und die Häftlinge freigekommen sind. kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 114. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 9. Juni 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711400000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Ganz besonders herzlich begrüße ich die Kollegin
Ulla Jelpke, die heute ihren 60. Geburtstag feiert und
der ich dazu im Namen des ganzen Hauses gratulieren
möchte.


(Beifall)


Ich möchte Ihnen mitteilen, dass der Kollege
Winfried Hermann am 6. Juni 2011 auf seine Mitglied-
schaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Für ihn
ist der Kollege Till Seiler nachgerückt. Für die gestern
ausgeschiedene Kollegin Ulrike Höfken hat der Kollege
Tobias Lindner die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag erworben. Im Namen des Hauses begrüße ich die
beiden neuen Kollegen herzlich.


(Beifall)


Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit.

Die Fraktion der FDP schlägt vor, den Kollegen
Rainer Brüderle anstelle der Kollegin Birgit

Rede
Homburger zum ordentlichen Mitglied im Gemeinsa-
men Ausschuss und zum stellvertretenden Mitglied im
Vermittlungsausschuss zu wählen. Die Kollegin
Homburger soll wiederum den Kollegen Joachim Spatz
als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Aus-
schuss ablösen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einver-
standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die
beiden Kollegen hiermit gewählt.

Eine weitere Wahl betrifft den Stiftungsrat der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Beauf-
tragte für Kultur und Medien hat mitgeteilt, dass das
vom Bundesministerium des Innern benannte stellvertre-
tende Mitglied Stéphane Beemelmans ausgeschieden ist
und Herr Dr. Jörg Bentmann als dessen
vorgeschlagen wird. In § 19 des entspreche
zes ist vorgesehen, dass auch die von and
vorgeschlagenen Mitglieder des Stiftung
Deutschen Bundestag bestätigt werden. Ich möchte Sie
tzung

, den 9. Juni 2011

.00 Uhr

deswegen fragen, ob Sie mit diesem Vorschlag einver-
standen sind. – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist
Herr Dr. Bentmann als stellvertretendes Mitglied in das
Gremium gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Haftung der Kreditanstalt für Wiederaufbau
und der Bundesrepublik Deutschland für Feh-
ler beim Börsengang der Deutschen Telekom

(Entscheidung des BGH vom 31. Mai 2011)


(siehe 113. Sitzung)


ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
die Förderung der Stromerzeugung aus erneu-
erbaren Energien

– Drucksache 17/6071 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)


text
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neuregelung energiewirtschafts-
rechtlicher Vorschriften

ksache 17/6072 –
isungsvorschlag:
ss für Wirtschaft und Technologie (f)

sschuss
Nachfolger
nden Geset-
eren Stellen
srates vom

– Druc
Überwe
Ausschu
Innenau

Finanzausschuss





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über Maßnahmen zur Beschleunigung
des Netzausbaus Elektrizitätsnetze

– Drucksache 17/6073 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur steuerlichen Förderung von energe-
tischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge-
bäuden

– Drucksache 17/6074 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Errich-
tung eines Sondervermögens „Energie- und
Klimafonds“ (EKFG-ÄndG)


– Drucksache 17/6075 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Stärkung der klimagerechten Ent-
wicklung in den Städten und Gemeinden

– Drucksache 17/6076 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ers-
ten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtli-
cher Vorschriften

– Drucksache 17/6077 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil

(Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der SPD

Die Energiewende gelingt nur mit KWK
– Drucksache 17/6084 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Rückstellungen der Atomwirtschaft in Öko-
wandel-Fonds überführen – Sicherheit, Trans-
parenz und ökologischen Nutzen schaffen,
statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfall-
risiko festzuhalten
– Drucksache 17/6119 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Versorgungssicherheit transparent machen –
Keine Experimente mit atomarer „Kaltre-
serve“

– Drucksache 17/6109 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 12 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 34

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese,
Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Die Integration der Sinti und Roma in Europa
verbessern

– Drucksache 17/6090 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Klare Regelungen für Intensivtierhaltung

– Drucksache 17/6089 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten
– Drucksache 17/6088 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang
Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen – Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern
– Drucksache 17/6108 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bericht zum Risikomanagement bei Lebens-
mittelkrisen vorlegen
– Drucksache 17/6107 –

ZP 13 Weitere Abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 35

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers
Group verhindern – Keine weitere Erosion des
nuklearen Nichtverbreitungsregimes

– Drucksachen 17/5374, 17/6139 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Uta Zapf
Dr. Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)


ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die
Aufkündigung des Maritimen Bündnisses
durch die Bundesregierung

ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unterstützung für Opfer der Heimerziehung –
Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen

– Drucksache 17/6093 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 16 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Belarus nach den Wahlen – Repressionen be-
enden

– Drucksache 17/6174 –

ZP 17 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen

Stabilität der Euro-Zone

ZP 18 Wahl eines Mitglieds des Vertrauensgremiums
gemäß § 10 a Absatz 2 der Bundeshaushalts-
ordnung

– Drucksache 17/6132 –

ZP 19 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Kritik am Krisenmanagement des Bundesge-
sundheitsministers und der Bundesministerin
für Verbraucherschutz beim Umgang mit dem
Ehec-Erreger

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Die Tagesordnungspunkte 16, 28, 34 o sowie 35 c
und d werden abgesetzt. Darüber hinaus gibt es zwei Än-
derungen im Ablauf: Der Tagesordnungspunkt 23 wird
bereits nach Tagesordnungspunkt 15 aufgerufen und der
Tagesordnungspunkt 27 nach Tagesordnungspunkt 22.

Schließlich mache ich noch auf eine Reihe von nach-
träglichen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zu-
satzpunktliste aufmerksam:





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Der am 16. Dezember 2010 überwiesene nachfolgende

(5. Ausschuss)


Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer,
Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung sichern

– Drucksache 17/4030 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende An-
trag soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss)

zur Mitberatung überwiesen werden:

Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Neue Netzstruktur für Wasserstraßen präzi-
sieren und die Wasser- und Schifffahrtsver-
waltung reformieren

– Drucksache 17/5056 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Der am 12. Mai 2011 überwiesene nachfolgende An-
trag soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss)

zur Mitberatung überwiesen werden:

Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Eva
Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Kein Personalabbau bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung – Aufgaben an ökolo-
gischer Flusspolitik ausrichten

– Drucksache 17/5548 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und b, Zu-
satzpunkte 2 bis 8, Tagesordnungspunkte 3 c und d so-
wie die Zusatzpunkte 9 bis 11 auf:
3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

Der Weg zur Energie der Zukunft

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes

– Drucksache 17/6070 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Rechtsrahmens für
die Förderung der Stromerzeugung aus erneu-
erbaren Energien

– Drucksache 17/6071 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Neuregelung energiewirtschafts-
rechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/6072 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über Maßnahmen zur Beschleunigung
des Netzausbaus Elektrizitätsnetze

– Drucksache 17/6073 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur steuerlichen Förderung von energe-
tischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge-
bäuden
– Drucksache 17/6074 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung des Gesetzes zur Errich-
tung eines Sondervermögens „Energie- und
Klimafonds“ (EKFG-ÄndG)

– Drucksache 17/6075 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Stärkung der klimagerechten Ent-
wicklung in den Städten und Gemeinden
– Drucksache 17/6076 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ers-
ten Gesetzes zur Änderung schifffahrtsrechtli-
cher Vorschriften
– Drucksache 17/6077 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

3 c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Atomge-

(Beendigung der Nutzung von Atomkraftwerken zur kommerziellen Energieerzeugung in Deutschland)

– Drucksache 17/5931 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Menzner, Dr. Barbara Höll, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Atomausstieg bis 2014 – Für eine erneuerbare
und demokratische Energieversorgung

– Drucksache 17/6092 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Rolf Hempelmann, Hubertus Heil

(Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der SPD

Die Energiewende gelingt nur mit KWK

– Drucksache 17/6084 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rückstellungen der Atomwirtschaft in Öko-
wandel-Fonds überführen – Sicherheit, Trans-
parenz und ökologischen Nutzen schaffen,
statt an Wettbewerbsverzerrung und Ausfall-
risiko festzuhalten

– Drucksache 17/6119 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Oliver Krischer, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Versorgungssicherheit transparent machen –
Keine Experimente mit atomarer „Kaltre-
serve“

– Drucksache 17/6109 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann können wir so verfahren.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Frau Bundeskanzlerin, bevor ich Ihnen das Wort er-
teile, möchte ich Ihnen persönlich, aber auch im Namen
des ganzen Hauses herzlich zur Verleihung der Freiheits-
medaille durch den amerikanischen Präsidenten gratulie-
ren.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir freuen uns über die hohe Wertschätzung, die mit
dieser Auszeichnung für die Person, für Ihr Amt, aber si-
cher auch für unser Land zum Ausdruck kommt.

Sie haben das Wort. Bitte schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1711400100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor 90 Tagen
wurde der Nordosten Japans vom schwersten Erdbeben
in der Geschichte des Landes heimgesucht. Anschlie-
ßend traf eine bis zu 10 Meter hohe Flutwelle seine Ost-
küste. Danach fiel in einem Reaktor des Kernkraftwer-
kes Fukushima I die Kühlung aus. Die japanische
Regierung rief den atomaren Notstand aus.

Heute, 90 Tage nach jenem furchtbaren 11. März,
wissen wir: In drei Reaktorblöcken des Kernkraftwerkes
sind die Kerne geschmolzen. Noch immer steigt radioak-
tiver Dampf in die Atmosphäre. Die weiträumige Evaku-
ierungszone wird noch lange bestehen bleiben, und an
ein Ende der Schreckensmeldungen ist noch nicht zu
denken. Erst letzte Woche herrschte in Block 1 die
bisher höchste Strahlenbelastung. Die Internationale
Atomenergie-Organisation bewertet die Situation in
Fukushima als weiterhin sehr ernst.

Meine Damen und Herren, wir werden heute weitrei-
chende Vorhaben für eine neue Architektur der Energie-
versorgung in Deutschland beraten. Aber bevor wir das
tun, wünsche ich mir, dass wir zuerst an die Menschen in
Japan denken. Wir trauern um die Opfer, wir fühlen mit
denen, die ihre Lieben, ihr Hab und Gut, ihr Zuhause un-
wiederbringlich verloren haben. Ich habe beim G-8-Gip-
fel vor wenigen Tagen in Deauville meinem japanischen
Amtskollegen gesagt: Deutschland steht weiter an der
Seite Japans.


(Beifall im ganzen Hause)


Ohne Zweifel, die dramatischen Ereignisse in Japan
sind ein Einschnitt für die Welt. Sie waren ein Einschnitt
auch für mich ganz persönlich. Wer auch nur einmal die
Schilderungen an sich heran lässt, wie in Fukushima ver-
zweifelt versucht wurde, mit Meerwasser die Reaktoren
zu kühlen, um inmitten des Schreckens noch Schreckli-
cheres zu verhindern, der erkennt: In Fukushima haben
wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem
Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kern-
energie nicht sicher beherrscht werden können.

Wer das erkennt, muss die notwendigen Konsequen-
zen ziehen. Wer das erkennt, muss eine neue Bewertung
vornehmen. Deshalb sage ich für mich: Ich habe eine
neue Bewertung vorgenommen; denn das Restrisiko der
Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist,
dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt.
Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in
räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verhee-
rend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller an-
deren Energieträger bei weitem übertreffen. Das Rest-
risiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert,
weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnolo-
gieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschli-
chem Ermessen nicht eintritt. Jetzt ist es eingetreten.

Genau darum geht es also – nicht darum, ob es in
Deutschland jemals ein genauso verheerendes Erdbeben,
einen solch katastrophalen Tsunami wie in Japan geben
wird. Jeder weiß, dass das genau so nicht passieren wird.
Nein, nach Fukushima geht es um etwas anderes. Es geht
um die Verlässlichkeit von Risikoannahmen und um die
Verlässlichkeit von Wahrscheinlichkeitsanalysen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Das war auch vorher schon bekannt!)


Denn diese Analysen bilden die Grundlage, auf der die
Politik Entscheidungen treffen muss, Entscheidungen für
eine zuverlässige, bezahlbare, umweltverträgliche, also
sichere Energieversorgung in Deutschland. Deshalb füge
ich heute ausdrücklich hinzu: Sosehr ich mich im Herbst
letzten Jahres im Rahmen unseres umfassenden Energie-
konzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der
deutschen Kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmiss-
verständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fu-
kushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.

Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die
Reaktor-Sicherheitskommission beauftragt, in den ver-
gangenen drei Monaten alle deutschen Kernkraftwerke
einer umfassenden Sicherheitsprüfung zu unterziehen.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung eine Ethik-
Kommission zur sicheren Energieversorgung ins Leben
gerufen. Beide Kommissionen haben inzwischen die Er-
gebnisse ihrer Arbeit vorgelegt, und beiden Kommissio-
nen gilt für ihre Arbeit mein ausdrücklicher Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auf der Grundlage dieser Arbeiten hat die Bundesregie-
rung am Montag acht Gesetzentwürfe und Verordnungen
beschlossen. Sie hat damit die notwendigen Entschei-
dungen für den Betrieb der Kernkraftwerke in Deutsch-
land und die zukünftige Architektur unserer Energiever-
sorgung auf den Weg gebracht.

Erstens. Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird
bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in Deutschland
beendet.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschal-
teten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das
seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden
nicht wieder ans Netz gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Für die Stilllegung der weiteren Kernkraftwerke ha-
ben wir einen Stufenplan beschlossen. Danach wird
2015, 2017 und 2019 jeweils ein Kraftwerk vom Netz
gehen. Dann folgen bis 2021 drei weitere Kraftwerke.
Die drei neuesten Anlagen können noch ein Jahr länger
laufen: bis Ende 2022.

Reststrommengen bleiben innerhalb der festgelegten
Zeiträume auf andere Kernkraftwerke übertragbar. Dies
gilt auch für die Strommengen von Krümmel, Mülheim-
Kärlich und die der sieben ältesten Kernkraftwerke.

Zweitens. Bis Ende dieses Jahres werden wir einen
gesetzlichen Vorschlag für die Regelung der Endlage-
rung vorlegen. Das schließt die ergebnisoffene Weiter-
erkundung Gorlebens ebenso ein wie ein Verfahren zur
Ermittlung allgemeiner geologischer Eignungskriterien
und möglicher alternativer Entsorgungsoptionen.

Drittens. Damit die Versorgungssicherheit, insbeson-
dere die Stabilität der Stromnetze, in der jetzt anstehen-
den Zeit unmittelbar nach der Stilllegung von acht Kern-
kraftwerken zu jeder Minute und zu jeder Sekunde
gewährleistet ist, müssen wir ausreichend fossile Reser-
vekapazitäten unseres Kraftwerkparks vorhalten.

Zusätzlich schaffen wir die Möglichkeit, dass die
Bundesnetzagentur, falls sie es für notwendig erachtet,
eines der stillgelegten Kernkraftwerke in den beiden
Winterhalbjahren bis zum Frühjahr 2013 als Reserve be-
stimmen kann. Auch hier, meine Damen und Herren,
ziehen wir eine Lehre aus Wahrscheinlichkeitsanalysen
nach Fukushima, und zwar ein für alle Mal. Wir werden
uns – und ich auch ganz persönlich – nicht dafür herge-
ben, dass wir uns auf etwas stützen, das das Restrisiko
beinhaltet, dass es einen sogenannten Blackout in
Deutschland geben kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch wenn das nach menschlichem Ermessen äußerst
unwahrscheinlich ist, dürfen wir dies nicht zulassen,
weil wir gerade im Zusammenhang mit Fukushima
erlebt haben, dass auch äußerst unwahrscheinliche
Ereignisse eintreten können. Deshalb müssen wir hier
Vorsorge treffen, wenn die Bundesnetzagentur das für
geboten hält. Es ist nach derzeitiger Einschätzung der
Bundesnetzagentur notwendig, eine Reserve bis zum
Frühjahr 2013 vorzuhalten.

Viertens. Zentrale Säule der zukünftigen Energiever-
sorgung sollen die erneuerbaren Energien werden. Wir
wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien errei-
chen. Mit dem Energiekonzept vom Herbst 2010 hat die
Bundesregierung dazu die Richtung festgelegt


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


und ehrgeizige Ziele formuliert. Der Anteil der erneuer-
baren Energien am Energieverbrauch soll bis 2050 auf
60 Prozent, ihr Anteil am Stromverbrauch auf 80 Pro-
zent anwachsen. 2020 sollen mindestens 35 Prozent un-
seres Stroms aus Wind, Sonne, Wasser und anderen re-
generativen Energiequellen erzeugt werden.
Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 40 Pro-
zent und bis 2050 um mindestens 80 Prozent gegenüber
1990 reduziert werden. Bis 2050 soll unser Primärener-
gieverbrauch um 50 Prozent gegenüber 2008 sinken.
Das heißt, wir müssen ihn halbieren. Die energetische
Gebäudesanierung soll im Vergleich zur bisherigen Rate
verdoppelt, der Stromverbrauch bis 2020 um 10 Prozent
gesenkt werden.

Das sind genau die Ziele unseres Energiekonzepts,
das wir im Herbst 2010 beschlossen haben. Dieses Kon-
zept bleibt gültig, genauso wie die Umsetzung dieses
Konzepts. Aber erreichen können wir diese Ziele nur
durch einen tiefgreifenden Umbau unserer Energiever-
sorgung, durch neue Strukturen und den Einsatz mo-
dernster Technologie; denn die Leistungsfähigkeit unse-
rer Industrie in Deutschland ist ein hohes Gut. Sie muss
bewahrt, sie muss ausgebaut werden; denn ihr verdanken
wir unseren Wohlstand.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb steigen wir nicht einfach aus der Kernkraft aus,
sondern wir schaffen die Voraussetzungen für die Ener-
gieversorgung von morgen. Genau das hat es bislang so
in Deutschland nicht gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Weil wir wissen: „Wer A sagt, muss auch B sagen“,
wissen wir auch, dass das eine, nämlich der Ausstieg,
ohne das andere, nämlich den Umstieg, nicht zu haben
ist. Das ist es, worum es geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Oh! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das wissen wir! Ganz neue Erkenntnis!)


Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Stromnetze in
ganz Deutschland zu modernisieren und auszubauen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten wir schon in den letzten Jahren machen können!)


Der erforderliche Leitungsausbau bei den Stromübertra-
gungsnetzen in Deutschland liegt bei weit mehr als
800 Kilometern. Fertiggestellt sind bislang aber nur we-
niger als 100 Kilometer, weil geplante Stromleitungen
noch immer auf Widerstände vor Ort stoßen. Planungs-
verfahren dauern – das ist eigentlich die Regel – häufig
länger als zehn Jahre. Das ist nicht akzeptabel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier müssen wir eine erhebliche Beschleunigung und
gleichzeitig mehr Akzeptanz erreichen. Es kann nicht
angehen, auf der einen Seite den Ausstieg aus der Kern-
energie gar nicht schnell genug bekommen zu wollen,
auf der anderen Seite aber eine Protestaktion nach der
anderen gegen den Netzausbau zu starten,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer diese CDU-Bürgermeister!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

ohne den der Umstieg in die erneuerbaren Energien aber
schlichtweg nicht funktionieren wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Genau dieser Kreislauf – hier dagegen und dort dagegen –
muss durchbrochen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu hat die Bundesregierung den Entwurf eines Netz-
ausbaubeschleunigungsgesetzes beschlossen, das unter
anderem eine bundeseinheitliche Planung für Höchst-
spannungsleitungen von überregionaler und europäi-
scher Bedeutung vorsieht. Darüber hinaus enthält das
NABEG auch Regelungen zur Sammelanbindung von
Offshorewindparks sowie zur Erstellung eines Offshore-
netzplans. Dabei wollen wir auch weiterhin eine mög-
lichst frühzeitige und umfassende Bürgerbeteiligung si-
cherstellen.

Auch die von uns beschlossene umfassende Novelle
des Energiewirtschaftsgesetzes enthält Regelungen zum
beschleunigten Netzausbau. Weiterhin wird im novel-
lierten Energiewirtschaftsgesetz der Einbau von intelli-
genten Zählern als Ausgangspunkt kommender intelli-
genter Netze geregelt. Hinzu kommen zahlreiche
Maßnahmen zur Intensivierung des Wettbewerbs auf den
Energiemärkten sowie die Förderung von Speichern. Im
Rahmen des neuen Energieforschungsprogramms wer-
den wir die Entwicklung und Anwendung neuer Spei-
chertechnologien unterstützen, die wir brauchen, um die
fluktuierende Energieversorgung aus erneuerbaren Ener-
gien zu verstetigen.

Ich sagte es: Wer A sagt, muss auch B sagen. Das eine
ist ohne das andere nicht zu haben. Das gilt für den Aus-
bau der Netze, und das gilt gleichermaßen für die erfor-
derlichen neuen Stromerzeugungskapazitäten, insbeson-
dere bei Wind, Sonne und Biomasse. Leitlinie dabei sind
Kosteneffizienz und zunehmende Marktorientierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diesem Ziel dient die Novelle des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes. Die Grundpfeiler der bisher so erfolgrei-
chen Förderung der erneuerbaren Energien bleiben be-
stehen. Die gesetzliche Vergütung, der Einspeisevorrang
und die Verpflichtung zum Netzanschluss haben unver-
ändert Bestand.


(Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Damit sichern wir die notwendigen Investitionen für den
weiteren Ausbau.

Schwerpunkt des zukünftigen Ausbaus soll die Wind-
energie an Land und auf See sein. So werden die Finan-
zierungsbedingungen für Offshoreanlagen verbessert,
und mit der Novellierung des Bauplanungsrechts, etwa
mit der erleichterten Flächenausweisung für erneuerbare
Energien, leisten wir einen Beitrag zum Ausbau und zu
einer schnelleren Modernisierung von Windkraftanlagen
an Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber – das ist neu –: Wenn die erneuerbaren Energien
zukünftig noch schneller einen Großteil der Energiever-
sorgung übernehmen sollen – 35 Prozent sind immerhin
mehr als ein Drittel des zukünftigen Stromverbrauchs –,
dann müssen wir konsequent auf Kosteneffizienz und
Marktintegration achten. Ein Schritt auf diesem Weg ist
die Einführung der sogenannten optionalen Marktprä-
mie, die die erneuerbaren Energien an das Marktgesche-
hen heranführt. Das ist ein qualitativ neuer Zugang, den
wir aber brauchen, wenn erneuerbare Energien einen
größeren Anteil an der Stromversorgung übernehmen
sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Bereich der Photovoltaik und der Biomasse wol-
len wir bestehende Potenziale für Kostensenkungen aus-
schöpfen. Darüber hinaus ist die Vereinfachung der Re-
gelungen ein Leitgedanke des Erneuerbare-Energien-
Gesetzes. Wo immer möglich, sind Sonderregelungen
oder spezielle Boni abgeschafft oder vereinfacht worden.
Damit wird die Förderpraxis vereinfacht und mehr
Transparenz geschaffen.

Meine Damen und Herren, unsere Wirtschaft und vor
allem die energieintensive Industrie sind in besonderer
Weise darauf angewiesen, Strom zuverlässig und zu
wettbewerbsfähigen Preisen beziehen zu können.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die rund 1 Million Beschäftigten in der energieintensi-
ven Industrie leisten einen zentralen Beitrag für die
Wertschöpfung in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unsere Devise heißt: Die Unternehmen genauso wie
die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland müssen
auch in Zukunft mit bezahlbarem Strom versorgt wer-
den. Deshalb wollen wir die erneuerbaren Energien
schneller zur Marktreife führen und effizienter gestalten.
Die EEG-Umlage soll nicht über ihre heutige Größen-
ordnung hinaus steigen; heute liegt sie bei etwa 3,5 Cent
pro Kilowattstunde.


(Beifall des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU])


Langfristig wollen wir die Kosten für die Vergütung des
Stroms aus erneuerbaren Energien deutlich senken.

Mit Blick auf die stromintensiven Unternehmen wol-
len wir Zuschüsse zum Ausgleich für emissionshandels-
bedingte Strompreiserhöhungen vorsehen. Die Bundes-
regierung wird sich – das sage ich hier zu – mit aller
Kraft in Brüssel dafür einsetzen, dass unsere Unterneh-
men faire Wettbewerbsbedingungen in Europa erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Darüber hinaus wird ab 2012 die Härtefallregelung des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes ausgeweitet.

Meine Damen und Herren, wenn wir schneller aus der
Kernenergie aussteigen und in die erneuerbaren Ener-
gien einsteigen, dann brauchen wir für die Zeit des Über-
gangs fossile Kraftwerke. Auch daran führt kein Weg
vorbei. Dazu werden wir den Rahmen für hocheffiziente





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Kohle- und Gaskraftwerke fortentwickeln. Mit dem Ent-
wurf einer Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungs-Geset-
zes leisten wir einen Beitrag zur Versorgungssicherheit
und Effizienz der Stromerzeugung. In einem ersten
Schritt wollen wir die Frist für förderberechtigte KWK-
Anlagen bis ins Jahr 2020 verlängern und die Vorausset-
zungen für die Förderung flexibler gestalten. Noch im
Laufe dieses Jahres werden wir über weitergehende
Schritte entscheiden.

Die schnelle Fertigstellung der in Bau befindlichen
fossilen Kraftwerke mit einer Leistung von rund
10 Gigawatt bis 2013 ist aus Gründen der Versorgungs-
sicherheit und der Netzstabilität unabdingbar. Mindes-
tens 10, eher 20 weitere Gigawatt müssen in den nächs-
ten zehn Jahren hinzugebaut werden. Durch ein
Planungsbeschleunigungsgesetz wollen wir zudem den
weiteren zügigen Ausbau von Kraftwerkskapazitäten si-
cherstellen. Insbesondere mit Blick auf kleine und mit-
telständische Energieversorger werden wir zudem ein
neues Kraftwerksförderprogramm auflegen. Auch dies
ist ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit.

Aber machen wir uns nichts vor: Alle noch so ehrgei-
zigen Maßnahmen für den Ausbau der erneuerbaren
Energien und der dafür erforderlichen Netze werden
nicht ausreichen, wenn es nicht gelingt, die Energieeffi-
zienz in unserem Land zu steigern. Im Zentrum steht da-
bei der Gebäudebereich. Auf ihn allein entfallen rund
40 Prozent des deutschen Energieverbrauchs, etwa ein
Drittel aller CO2-Emissionen. Genau hier müssen wir
ansetzen. Ziel bleibt es – so haben wir es schon im
Herbst beschlossen –, bis 2050 einen nahezu klimaneu-
tralen Gebäudebestand zu erreichen. Auch im Bereich
der energieeffizienten Geräte und Prozesse wollen wir
mehr tun, um den Stromverbrauch schon bis 2020 um
10 Prozent zu senken.

Wir werden deshalb die Mittel für das KfW-CO2-Ge-
bäudesanierungsprogramm auf 1,5 Milliarden Euro jähr-
lich aufstocken. Hinzu kommen neue steuerliche An-
reize für die Gebäudesanierung, die auf weitere rund
1,5 Milliarden Euro an gezielter Förderung anwachsen
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In einer Novelle der Energieeinsparverordnung wol-
len wir festlegen, dass Gebäude nach 2020 und öffentli-
che Gebäude schon nach 2018 nur noch als Niedrigst-
energiehäuser errichtet werden sollen.

Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wird die Ener-
gieeffizienz als wichtigstes Kriterium rechtlich veran-
kert. Hierzu haben wir die Vergabeverordnung entspre-
chend geändert. Zudem wollen wir einen Fahrplan für
die energetische Sanierung von öffentlichen Gebäuden
des Bundes erarbeiten mit dem Ziel, den Wärmebedarf
der Bundesgebäude bis 2020 um 20 Prozent gegenüber
2010 zu senken.

Auf europäischer Ebene werden wir uns für an-
spruchsvolle Produktstandards im Rahmen eines soge-
nannten Top-Runner-Ansatzes einsetzen. Energieeffi-
zienz soll nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Europa ein neues Markenzeichen werden.
Die Finanzierung der Maßnahmen des Energiekon-
zepts beruht dabei auf einem soliden Fundament. Ab
2012 sollen die Erlöse aus der Versteigerung der Emis-
sionszertifikate unmittelbar in den von uns im vergange-
nen Herbst eingerichteten Energie- und Klimafonds flie-
ßen. Schon ab 2012 werden die Mittel des Fonds
verstärkt.

Meine Damen und Herren, diese vier Punkte – erstens
die Novelle des Atomgesetzes, zweitens die Arbeit für
ein Entsorgungskonzept, drittens die Versorgungssicher-
heit bis 2013, viertens das Energiekonzept der Zukunft –
zeigen schon die Größe der Aufgabe, die vor uns steht.
Ich sage ganz deutlich: Es handelt sich um eine Herkules-
aufgabe – ohne Wenn und Aber. Alle, die zweifeln, wie
wir als großes Industrieland in zehn Jahren ohne Kern-
energie auskommen wollen, ohne gleichzeitig die Kli-
maschutzziele zu riskieren, ohne Arbeitsplätze in der
energieintensiven Industrie zu gefährden, ohne das Stei-
gen der Strompreise in das sozial nicht mehr Erträgliche
in Kauf zu nehmen, ohne gefährliche Stromausfälle zu
provozieren, ohne dass andere Länder um uns herum
denselben Weg einschlagen, alle, die solche Fragen stel-
len, sind keine Ideologen, keine Ewiggestrigen, keine
Spinner, denn sie stellen wichtige Fragen.


(Zuruf von der SPD: Ach ja?)


Sie sind anzuhören, sie sind ernst zu nehmen, und wir
haben Antworten darauf zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist ja wahr: Es scheint einer Quadratur des Kreises
nahezukommen, all das schaffen zu wollen, was wir uns
vorgenommen haben. Deshalb ist ein fünfter Punkt
zwingend und unerlässlich: die Einrichtung eines lü-
ckenlosen Monitoringprozesses. Nur so können wir prü-
fen, ob wir unsere Ziele auf dem Weg zur Energie der
Zukunft tatsächlich erreichen oder was wir zusätzlich
tun müssen, wenn wir sie zu verfehlen drohen. Dabei
geht es nicht um den schnelleren Ausstieg aus der Kern-
energie – der steht fest –; nein, es geht um die regelmä-
ßige Überprüfung der Umsetzung des Maßnahmenpro-
gramms, auf die ein Land wie Deutschland in seinem
eigenen Interesse nicht verzichten darf. Dieses Monito-
ring muss im Sinne eines richtigen Projektmanagements
durchgeführt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb wird die Bundesregierung diese Überprüfung
jährlich vornehmen und dem Deutschen Bundestag das
Ergebnis zur Debatte vorlegen. Sie wird auf der Grund-
lage von Berichten von Institutionen wie dem Statisti-
schen Bundesamt, der Bundesnetzagentur oder des Um-
weltbundesamtes erfolgen. Über die Ergebnisse wird die
Bundesregierung den Deutschen Bundestag unterrich-
ten, und gegebenenfalls wird sie Empfehlungen zum
weiteren Vorgehen aussprechen.

Meine Damen und Herren, wenn wir den Weg zur
Energie der Zukunft so einschlagen, dann werden die
Chancen viel größer sein als die Risiken. Welches Land,
wenn nicht unser Land, sollte dazu die Kraft haben?
Deutschland hat schon so manches Mal gezeigt, was es





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

kann, was in ihm steckt, und hat schon ganz andere He-
rausforderungen bewältigt: die Einführung der sozialen
Marktwirtschaft, weltweit in dieser Form einmalig; die
Vollendung der deutschen Einheit, historisch ohne Vor-
bild; aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise
stärker herausgekommen, als wir in sie hineingegangen
sind, und – ja, auch das – besser als die meisten anderen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb sind wir überzeugt: Deutschland hat das Po-
tenzial und die Kraft für eine neue Architektur unserer
Energieversorgung. Die Energie der Zukunft soll siche-
rer sein und zugleich verlässlich, wirtschaftlich und be-
zahlbar. Wir können als erstes Industrieland der Welt die
Wende zum Zukunftsstrom schaffen. Wir sind das Land,
das für neue Technik, Pioniergeist und höchste Inge-
nieurkunst steht. Wir sind das Land der Ideen, das
Zukunftsvisionen mit Ernsthaftigkeit, Genauigkeit und
Verantwortung für zukünftige Generationen Wirklichkeit
werden lässt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir alle, Regierung und Opposition, Bund, Länder
und Kommunen, die Gesellschaft als Ganzes, jeder Ein-
zelne, wir alle gemeinsam können, wenn wir es richtig
anpacken, bei diesem Zukunftsprojekt ethische Verant-
wortung mit wirtschaftlichem Erfolg verbinden.


(Zurufe von der SPD)


Dies ist unsere gemeinsame Verantwortung. Für dieses
gemeinsame Projekt werbe ich mit aller Kraft und mit al-
ler Überzeugung.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Dass der Herr Fuchs einmal dem Atomausstieg zuklatscht! Wenn er tot wäre, würde er sich im Grabe umdrehen! Begeisterte Atomaussteiger! Mir kommen die Tränen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711400200

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol-

lege Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1711400300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Frau Bundeskanzlerin, ich würde niemandem, den die
Realität zu neuen Einsichten zwingt, einen Vorwurf ma-
chen. Was ich Ihnen vorwerfe, ist das falsche Pathos,
auch die Unaufrichtigkeit, mit der Sie hier auftreten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet Sie sich hier
als die Erfinderin der Energiewende in Deutschland hin-
stellen. Das zieht einem doch die Schuhe aus.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben Ihre Schuhe doch noch an!)


Nur damit es hier in diesem Hohen Hause noch ein-
mal gesagt ist: Der Atomausstieg stand im Gesetz. Die
Energiewende war eingeleitet, gegen Ihren Widerstand.
Und sie fand statt: täglich, seit zehn Jahren. Meine Da-
men und Herren, so war das.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Warum schreien Sie so?)


Ich erinnere mich noch genau an die Debatte, die wir
in ähnlicher Aufregung in diesem Haus vor einem hal-
ben Jahr, im September und Oktober vergangenen Jah-
res, geführt haben. Auch damals – das ist ja noch gar
nicht lange her – war Ihnen kein Wort zu groß. Auch
damals wurde nicht mit Pathos gespart. Sie, Frau
Merkel – ich darf das einmal zitieren –, haben von einer
„Revolution im Bereich der Energieversorgung“ gespro-
chen, die bis zum Jahr 2050 trägt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Stimmt doch!)


Herr Röttgen hat das Ganze als „weltweit unübertroffen“
bezeichnet.


(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Westerwelle hat diesem Beschluss „epochale Be-
deutung“ für den Klimaschutz beigemessen.


(Zurufe von der SPD)


Meine Damen und Herren, so schnell können Epochen
vorbeigehen. Aber das spürt Schwarz-Gelb ja nicht nur
in der Energiepolitik.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Und Sie haben Ihre Schuhe immer noch an!)


Frau Bundeskanzlerin, ganz ehrlich: Bei Ihrem Auf-
tritt hier heute Morgen hätte ich mir von Ihnen ein Wort
des Bedauerns gewünscht,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha! Ha! Ha!)


statt Wortgirlanden über die Lehren aus Fukushima, die
eben zu spät gezogen worden sind. Plötzlich ist alles an-
ders bei Ihnen; wir wundern uns. Jetzt wird das Konrad-
Adenauer-Haus außen und innen grün angestrichen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Horst Seehofer macht auf Baldur Springmann der Grü-
nen. Er zahlt die Mitgliedsbeiträge für die letzten Jahr-
zehnte und tut so, als sei er Gründungsmitglied gewesen.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Buh!)


Bei alldem hoffen Sie tatsächlich darauf, dass Sie in der
Zukunft in Bezug auf die Sicherheitspolitik ernst genom-
men werden.

Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass auch Sie jetzt für
den Atomausstieg sind, und noch weniger, dass Sie nach
zwei Kehrtwenden um 180 Grad und nach den Pirouet-
ten in der letzten Woche nun genau dort angekommen
sind, wo Rot-Grün die Dinge schon gestaltet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Eben nicht! Das ist eine Frage der Qualität! – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Das werde ich Ihnen nicht vorwerfen. Aber vor allen
Dingen werde ich eines nicht vergessen – das sage ich
mit großem Ernst –: mit welchen Hetzreden Sie uns vor
zehn Jahren durch die Landschaft getrieben haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Landauf, landab konnten Sie sich vor zehn Jahren gar
nicht einkriegen vor Spott, Häme und angeblicher Em-
pörung über die Politik, die wir damals eingeleitet ha-
ben. „Totengräber der Wirtschaft“ haben Sie uns überall
im Land nachgerufen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wart ihr ja auch!)


Und jetzt klatscht sogar Herr Fuchs bei der Regierungs-
erklärung von Frau Merkel, auch wenn es ihm schwer-
fällt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]: Ich klatsche bei der Kanzlerin doch immer! – Ulrich Kelber [SPD]: Der ist vor nichts fies!)


Die Atomkatastrophe in Tschernobyl – auch daran
darf ich erinnern – wurde damals nicht etwa als gefähr-
licher Reaktorunfall angesehen, der uns zum Umdenken
zwingt, sondern als Betriebsunfall eines verlotterten
Sowjetkommunismus. Ihre Haltung damals war: Wir
machen einfach weiter, als wäre nichts geschehen, an al-
len Mehrheiten und Sicherheitsbedenken vorbei. Das
war ein Jahrzehnt lang die Hybris Ihrer Energiepolitik.
Sie waren schlicht und einfach auf dem falschen Damp-
fer. Dicker und länger konnte der Holzweg gar nicht
sein, den Sie sich da selbst zurechtgezimmert haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt müssen Sie herunter von diesem Holzweg. Jetzt
müssen Sie alles korrigieren. Das ist gut so. Aber hören
Sie doch bitte auf, uns das Ausräumen Ihrer Positionen
aus der Vergangenheit als nationale Gestaltungsaufgabe
zu erklären! Die Gesellschaft war immer schon weiter
als Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was Sie dem Bundestag vorlegen, ist eben nicht ein Ge-
setz zur Energiewende, sondern es ist Ihr Irrtumsbereini-
gungsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg bringen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was das letzte halbe Jahr und die doppelte Kehrt-
wende in der Energiepolitik hinterlassen, ist noch nicht
abzusehen. Ich rede nicht nur von den Irritationen in der
Wirtschaft, ausgelöst durch Ihr „Rein in die Kartoffeln“
mit der Verlängerung der Laufzeiten und „Raus aus den
Kartoffeln“ mit der Rückkehr zu den Beschlüssen von
Rot-Grün. Was das an Verunsicherung hinterlässt, kann
im Moment noch niemand ermessen. Ich sage nur: So
viel Unsicherheit gab es noch nie.

Aber vielleicht einmal ein anderer Gedanke: Was be-
deutet es eigentlich für die politische Kultur in diesem
Lande, wenn Sie heute mit derselben Euphorie und
Überzeugungskraft genau das Gegenteil von dem vertre-
ten, was Sie vor einem halben Jahr gesagt haben? Das
muss doch den einen oder anderen nachdenklich ma-
chen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun wäre angesichts dessen für die Opposition nichts
einfacher, als die vorliegenden Gesetzentwürfe abzuleh-
nen. Nichts wäre leichter für eine Opposition, als zuzu-
schauen, wie Sie, Frau Merkel, Irritation in den eigenen
Reihen säen und den Koalitionspartner ein ums andere
Mal düpieren. Ob man sich das alles gefallen lassen
muss, Herr Rösler, ist eine andere Frage; das müssen Sie
entscheiden.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ginge es um Unterstützung dieser Regierung, dann
würde ich in jedem Fall zu jedem einzelnen Gesetz Nein
sagen.

Aber es geht eben nicht um diese Regierung, es geht
um mehr. Es geht um die Wiederherstellung von Ver-
trauen – auch in der Energiepolitik. Es geht um die Wie-
derherstellung eines energiepolitischen Grundkonsenses,
den diese Regierung in der Vergangenheit ohne jede Not
zerstört hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie jetzt nach Ihrer energiepolitischen Irrfahrt
an den Ausgangspunkt zurückkehren, muss etwas zu-
stande kommen, was länger hält als nur sechs Monate.
Wir können in diesem Land, in der größten Volkswirt-
schaft Europas, nicht eine Energiepolitik aufsetzen, die
wir alle sechs Monate oder alle zwei Jahre oder nach je-





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

der Bundestagswahl korrigieren. Das geht nicht, das
kann sich keine Regierung erlauben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und weil das so ist, sage ich: Erstens. Wenn Sie
glaubwürdig, rechtlich und tatsächlich unumkehrbar auf
den Atomausstieg zugehen, wenn Sie diesen phasen-
weise gestalten, so wie wir das in unserem Modell auch
vorgesehen hatten, dann werde ich jedenfalls nicht aus
taktischen Gründen krampfhaft nach Gründen suchen,
um meiner Partei die Ablehnung des Atomausstieges zu
empfehlen. Das kann ich Ihnen sagen.

Zweitens. Das Gesetzespaket besteht nicht nur aus
dem Atomgesetz. Wir werden uns die 700 Seiten, die Sie
uns übermittelt haben, natürlich sehr genau angucken.
Ich kann auch verstehen, dass Sie die Unterstützung
durch die Breite des Hohen Hauses suchen. Aber nach
einem Blick in Ihr Gesetzespaket kann ich Ihnen jetzt
schon sagen: Wenn Sie durch die Gestaltung des Geset-
zes die wirklichen Potenziale der erneuerbaren Energien,
des Repowering, der Onshoreanlagen, nicht schöpfen
und nicht schöpfen wollen, können wir doch nicht zu-
stimmen! Das ist die falsche Richtung!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Mit anderen Worten: Da müssen Sie sich in den nächsten
Tagen entscheidend bewegen. Die Beratungen in den
Ausschüssen stehen dafür zur Verfügung.

Das Dritte ist: Glaubwürdig werden Sie – jenseits von
Abstimmungen hier im Deutschen Bundestag – am Ende
doch nur dann sein, wenn Sie bei einer entscheidenden
Frage bezüglich der Zukunft der Kernenergie in diesem
Land ebenfalls glaubwürdig sind. Es geht nicht nur um
einen phasenweisen Atomausstieg, nicht nur um eine Fi-
xierung des Enddatums – Sie müssen sich auch endlich
entschließen, in der Endlagerfrage Ihre Position zu
wechseln. Wir brauchen eine ergebnisoffene Endlager-
suche.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben überhaupt nichts gemacht! – Gegenruf des Abg. Sigmar Gabriel [SPD])


Mit einem haben Sie recht: Der Umbau der Energie-
landschaft, der uns da bevorsteht, ist gewaltig. Und in
den nächsten Jahren wird es nicht nur einen Umbau der
Energielandschaft, sondern einen Umbau der gesamten
Wirtschaft geben.

Ich habe gestern beim ZVEI geredet. Die Elektroin-
dustrie ist natürlich begeistert darüber, was in den nächs-
ten Jahren stattfindet. Darin stecken viele Potenziale.
Hier bieten sich Chancen. Ich schaue auch auf die ener-
gieintensiven Betriebe. Ich schaue auf die Werthaltigkeit
der deutschen Volkswirtschaft. Die Werthaltigkeit der
deutschen Volkswirtschaft ergibt sich aus der ununter-
brochenen Innovationskette, beginnend bei den Grund-
stoffindustrien, die in der Regel energieintensiv sind, bis
hin zu der kleinen Hightechschmiede. Wenn wir jetzt ei-
nen solch gewaltigen Umbau auf den Weg bringen, dür-
fen wir die ersten Kettenglieder nicht vergessen oder gar
aus dem Lande treiben. Das ist auch für diejenigen wich-
tig, die einen Umbau der Energielandschaft wollen.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb darf es nicht nur ein Monitoring des Umbau-
prozesses geben, sondern es muss auch ein Monitoring
innerhalb der Wirtschaftsprozesse geben, wie der Um-
bau der Energielandschaft auf diesen Teil der Wirtschaft
wirkt, der besonders wertvoll und im Hinblick auf den
internationalen Wettbewerb besonders gefährdet ist. Es
gibt da Vorschläge, Frau Merkel. Da reicht es nicht aus,
bestehende Regelungen wie etwa die Ausnahmen bei der
Ökosteuer zu festigen und dass Sie sich in Brüssel dafür
einsetzen wollen, dass die Sonderbedingungen beim eu-
ropäischen Emissionshandel weiter gelten. Vielmehr
müssen Sie da ein bisschen kreativer werden. Es gibt
dazu Vorschläge, und wir werden die hier im Deutschen
Bundestag auch einbringen.

Meine Damen und Herren, Frau Merkel hat zum Ab-
schluss ihrer Rede gesagt, dass es sich beim Ausstieg
und Umstieg „um eine Herkulesaufgabe“ handele. Wem
sagen Sie das! Wir haben uns dieser Herkulesaufgabe
beginnend vor zehn Jahren mit einer Aufrichtigkeit und
Offenheit gewidmet,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP: Oh!)


indem wir nicht geleugnet haben, was auf die Wirtschaft
und die Menschen zukommt, sondern vor zehn Jahren
gesagt haben: „Der Umbau der Energielandschaft wird
stattfinden; die Zukunft wird ohne Atom sein; der Um-
bauprozess wird mehr als 20 Jahre dauern.“ Sie haben
sich nicht entschließen können, diese Ehrlichkeit gegen-
über den Bürgern zu wahren. Das ist der Unterschied.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich schließe mit einem Zitat aus einer Rede, die hier
im Hohen Hause gehalten wurde:

Es ist … ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik,
insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bun-
desrepublik … von Grund auf neu zu überdenken.

… Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke
ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantwor-
ten.

Das ist ein Zitat aus der Rede von Hans-Jochen Vogel
vom 14. Mai 1986, drei Wochen nach der Katastrophe
von Tschernobyl. Meine Damen und Herren, es hat
25 Jahre, genau ein Vierteljahrhundert, gedauert, bis die
heutige Regierung und die Regierungsparteien an die-
sem Punkt angekommen sind. Das ist eine bemerkens-
werte Lernkurve, Frau Merkel. Dazu gratuliere ich.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711400400

Das Wort hat nun der Bundeswirtschaftsminister

Dr. Philipp Rösler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Zu einer guten Ener-
giepolitik gehören immer drei Dinge: Umweltverträg-
lichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der
Energie. Insofern stelle ich hier fest: Das vorliegende
Energiekonzept findet hinsichtlich dieser drei wesentli-
chen Säulen genau die richtige Balance;


(Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


es ist ein gutes, vernünftiges Energiekonzept für Deutsch-
land.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie war das vor einem halben Jahr?)


Die Frage der Umweltverträglichkeit war in der Tat
die Begründung für die nun anstehenden wesentlichen
Entscheidungen. Denn anders als die bisherigen Kata-
strophen – Sie haben Tschernobyl angesprochen – war
die Katastrophe von Fukushima die erste, die nicht auf
menschliches Versagen, sondern auf technisches Versa-
gen zurückzuführen ist.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut ja weh!)


Es wäre verantwortungslos gewesen, wenn eine Regie-
rung darauf nicht reagiert hätte. Insofern ist es richtig,
gemeinsam in einem gesellschaftlichen Konsens, mit der
Ethik-Kommission und allen beteiligten gesellschaftli-
chen Gruppen, den Beschluss zu fassen, nach 2022 auf
die Kernenergie zu verzichten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn aber hier im Hause jemand unaufrichtig ist,
dann sind es doch die Kollegen von Rot und Grün.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn Sie haben bei Ihrem Ausstiegsbeschluss einfach
nur Ihre Ideologie befriedigt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ist das lächerlich! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja kabarettreif!)

Sie sind den Menschen die Antwort auf die Frage schul-
dig geblieben, wie die Energieversorgung in Deutsch-
land nach dem beschlossenen Ausstieg tatsächlich gesi-
chert werden soll.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen hat Ihre Partei ja auch gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz gestimmt!)


Deswegen ist es richtig, dass diese Regierungskoali-
tion auf das wichtige Thema Versorgungssicherheit setzt.
In der Tat: Wir steigen deutlich schneller aus, als Sie es
jemals geplant haben. Sieben Kraftwerke sind vom Netz
gegangen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Wie machen Sie denn das? – Burkhard Lischka [SPD]: Das ist noch schlimmer als Guido!)


Aber man darf die Versorgungssicherheit im Sinne von
Netzstabilität niemals außer Acht lassen. Deswegen ist
es natürlich klug, insbesondere bei Berücksichtigung
schwieriger Witterungsbedingungen, ein Reservekraft-
werk vorzuhalten.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn eines können wir uns in Deutschland nicht leisten:
einen Blackout. Das wäre volkswirtschaftlich aus unse-
rer Sicht nicht zu verantworten. Sie wären leichtfertig
bereit, dieses Risiko einzugehen. Mit uns ist so etwas
nicht zu machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit dem Blackout der FDP? – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist ein politischer Blackout!)


– Zu Ihnen komme ich noch, Herr Trittin.

Zum Thema Versorgungssicherheit gehört auch die
Beantwortung der Frage, wie wir möglichst schnell zu
neuen Kraftwerken kommen. Deswegen brauchen wir


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger Bürgerbeteiligung!)


andere Gesetze, um die Planung und den Bau von Kraft-
werken und Netzen insgesamt zu beschleunigen;


(Johannes Kahrs [SPD]: Da war ja selbst Westerwelle besser! – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn das einzig Limitierende beim Ausbau des Bereichs
der erneuerbaren Energien ist der Ausbau unserer Netze.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen ist es klug, ein Gesetz auf den Weg zu brin-
gen, mit dem erstmals die Planung von den Ländern auf
den Bund übertragen wird. So machen wir Schluss mit
dem Flickenteppich und kommen dazu, unsere Netze





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)

bundeseinheitlich neu zu planen, ähnlich wie das beim
Bundesverkehrswegeplan der Fall ist.

Wir haben das ehrgeizige Ziel, die Planung und den
Bau von Netzen deutlich zu beschleunigen. Bisher haben
wir dafür teilweise über zehn Jahre gebraucht; das wol-
len wir auf vier Jahre reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges,
aber richtiges Ziel, wenn es darum geht, die erneuerba-
ren Energien besser nutzen zu können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es geht auch um den Neubau von Kraftwerken. Ich
sage das ganz bewusst: Es geht auch um den Neubau
von konventionellen Kraftwerken. Auch hier müssen wir
schneller werden. Ich finde es geradezu absurd, dass es
beispielsweise nicht möglich ist, an derselben Stelle, an
der in Stade ein Kernkraftwerk vorhanden war, das nun
zurückgebaut wurde, ein konventionelles Kraftwerk zu
bauen. Wir müssen gerade solche Standorte nutzen, weil
dort die Infrastruktur vorhanden ist. Deswegen brauchen
wir zusätzlich zum Netzausbau auch ein Planungsbe-
schleunigungsgesetz in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir gehen fest davon aus, dass die Grünen künftig bei
jeder Demonstration an unserer Seite stehen werden und
jedem Gegner von neuen Kraftwerken und neuen Tras-
sen zurufen werden: Wer Nein sagt zur Kernenergie,
muss Ja sagen zum Netzausbau und zum Kraftwerksneu-
bau. Ich bin sehr gespannt, ob Sie am Ende den Mut
dazu aufbringen werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch die Frage der Bezahlbarkeit ist wichtig. Es ist
richtig, dass wir in das Erneuerbare-Energien-Gesetz
erstmalig Marktmechanismen einbringen;


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Drohung ist groß!)


denn wir wollen, dass die bisherige EEG-Umlage bei
3,5 Cent pro Kilowattstunde stabil bleibt und durch die
Marktprämie vielleicht erstmalig die Chance gegeben
wird, Spielräume für Senkungen zu schaffen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Alle sagen, dass es teurer wird! Sie müssen einmal die Gutachten Ihres eigenen Ministeriums lesen, Herr Dr. Rösler!)


– Herr Kelber, es kann nicht sein, dass wir eine Ener-
giewende haben, aber Sie sich nicht trauen, den Men-
schen zu sagen: Jawohl, wer eine solche Energiewende
will, der muss auch bereit sein, mit moderaten Kosten-
steigerungen umzugehen. Diese Ehrlichkeit haben wir.
Sie scheinen sie nicht zu haben.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorsicht mit Ehrlichkeit!)


Es ist richtig, dass wir alles versuchen, um die Belas-
tungen für die Menschen und gleichzeitig für die Wirt-
schaft und gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen in unserem Land moderat zu halten. Des-
wegen ist es gut, dass wir erstmalig die Fördermöglich-
keiten bzw. die Entlastungen umstellen. Künftig können
auch kleinere Unternehmen von der EEG-Umlagebefrei-
ung profitieren und nicht mehr nur die großen. Das för-
dert Handwerk, Mittelstand und Gewerbe. Es ist klug,
dabei auf bürokratische Verfahren wie verpflichtend vor-
geschriebene Energiemanagementsysteme, zu verzich-
ten. Wir wollen einen automatischen Ausgleich zur Stär-
kung der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen ist es richtig, energieintensive Unterneh-
men durch Strompreissenkungen zu entlasten, um die in-
ternationale Wettbewerbsfähigkeit sicherstellen zu kön-
nen. Darum setzen wir uns gemeinsam auf europäischer
Ebene für diese Unternehmen ein.

Wir dürfen – das ist entscheidend – nicht glauben,
dass sich aus der Umstellung der Energiepolitik allein
durch Strompreissenkungen neue Chancen ergeben. Es
eröffnen sich vielmehr auch völlig neue Chancen bei
dem wichtigen Thema Effizienz und bei der Herstellung
neuer Produkte. Deutschland wird künftig federführend
sein und voranschreiten, wenn es darum geht, energie-
effiziente Produkte auf den Markt zu bringen.

Ich sage Ihnen voraus: Eines Tages werden auch an-
dere Staaten – in Europa und weltweit – auf die Idee kom-
men, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Kern-
energie auszusteigen. Diese Staaten werden nach wie vor
Produkte, Instrumente und Ideen für die Nutzung erneu-
erbarer Energien benötigen. Genau an dieser Stelle wird
Deutschland dann federführend sein. Das bedeutet für
unsere deutsche Wirtschaft kein Risiko, sondern eine
Chance.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op-
position, Sie haben damit die Chance, den Fehler, den
Sie Anfang 2000 gemacht haben, endlich zu korrigieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Wer hat denn hier einen Fehler gemacht? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Lächerlich!)


Sie können endlich dafür sorgen, zu zeigen, dass Sie
nicht nur aussteigen wollen, sondern auch die Frage be-
antworten können, wie Sie in die erneuerbaren Energien
einsteigen wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist frech! Weitere Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt insbesondere für die Grünen. Ich habe mich
gewundert, Herr Steinmeier, dass Sie so betont haben,
Sie hätten eine Antwort auf die Frage der Endlagerung
gefunden. Da bin ich jetzt wirklich überrascht. Das ein-
zige, was Sie in Ihrer Zeit gemacht haben, war doch, ein
Moratorium festzulegen. Sie haben sich gerade nicht um





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)

die Endlagerung gekümmert. Das war zum Schaden der
nachfolgenden Generationen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die vorliegenden Gesetze bieten auch Ihnen eine
Chance, Ihre Fehler zu korrigieren. Sie können gerne da-
bei mitmachen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Frechheit! – Zurufe von der SPD)


Oder haben Sie etwa Angst, weil vielleicht wieder ein
bisschen die kleine, traurige Dagegen-Partei durch-
schimmert? Wir jedenfalls reichen Ihnen auch zu dieser
Energiepolitik die Hand.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711400500

Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711400600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-

dauere sehr, Herr Präsident, dass Sie nicht das Recht ha-
ben, den Bundestag zu fragen, wer eigentlich die 700 Sei-
ten, die uns Anfang der Woche erreicht haben, schon
gelesen hat, und eine ehrliche Antwort darauf zu verlan-
gen. Ich sage Ihnen: Diese Art von Tempo zerstört die
parlamentarische Demokratie.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Keiner glaubt, dass die Abgeordneten diese 700 Seiten
vor der Debatte gelesen haben.

Herr Rösler, ich habe Ihrer Rede zugehört. Manchmal
imponiert mir Dreistigkeit. Ich finde aber, Sie haben die
Grenze überschritten.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute geht es darum, dass Sie und nicht andere Ihre Feh-
ler korrigieren. Das hätten Sie wenigstens einmal deut-
lich sagen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Immerhin scheinen wir heute fast ein Wunder zu erle-
ben. Binnen eines halben Jahres wurden aus den Atom-
parteien Union und FDP Atomausstiegsparteien, zumin-
dest halbe. Die Reaktion auf die Atomkatastrophe in
Fukushima ist eindeutig: Atomtechnologie und deren Ri-
siken sind letztlich nicht beherrschbar; also müssen wir
aussteigen, und zwar so schnell wie möglich.


(Beifall bei der LINKEN)

Warum – das ist doch eine spannende Frage – gelingt
das zuerst in Deutschland und nicht in Frankreich oder
Polen? Ich kann Ihnen sagen, warum: Weil es in Deutsch-
land eine ungeheuer starke Antiatombewegung gibt, die
jetzt einen Erfolg feiert, für den sie jahrzehntelang ge-
kämpft hat.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das muss einmal klar gesagt werden.

Ich sagte es schon: Die Bundesregierung will die
Energiewende, aber halbherzig. Zunächst geht es doch
um nichts anderes als um die Rücknahme der im Dezem-
ber letzten Jahres beschlossenen Verlängerung. Das
heißt, Sie korrigieren sich. Im Kern gehen Sie auf das
zurück, was SPD und Grüne mit der Atomlobby schon
ausgehandelt und wir schon immer als halbherzig be-
zeichnet hatten. Das heißt, das, was Sie jetzt vorlegen, ist
eine Korrektur der von Ihnen beschlossenen falschen
Gesetze. Das könnten Sie doch einfach einmal klar sa-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich verstehe es nicht: Warum wollen Sie den Atom-
ausstieg erst Ende 2022? Das sind elf weitere Jahre Fu-
kushima-Risiko; das können wir uns überhaupt nicht
leisten. Die Bundesregierung behauptet, ein früherer
Atomausstieg sei nicht möglich. Frau Bundeskanzlerin,
die Fachleute sagen etwas anderes: Der BUND sagt
2013. Professor Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachver-
ständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung,
sagt 2014. Greenpeace sagt 2015. Das Öko-Institut Frei-
burg sagt 2015. Selbst das Umweltbundesamt, eine Be-
hörde des Bundesumweltministeriums, spricht von 2017.
Der Branchenverband der Energiewirtschaft sagt 2020.
Sie kommen auf 2022. Ich sage Ihnen: Dahinter steckt
nichts anderes als der Wunsch, den vier Konzernen Eon,
EnBW, RWE und Vattenfall noch elf Jahre lang hohe
Profite mit dem Atomstrom zu ermöglichen. Nichts an-
deres steckt dahinter!


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben uns mit den Fachleuten beraten und sind auf
das Jahr 2014 gekommen. Bei einem Atomausstieg im
Jahr 2014 müsste kein einziger Haushalt, kein einziges
Unternehmen ohne Licht leben. Das ist realisierbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun signalisiert die SPD der Bundesregierung Zu-
stimmung zu den Gesetzentwürfen; das hat auch Herr
Steinmeier gesagt. Die Spitze der Grünen liebäugelt mit
der Zustimmung. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Wenn
es wahr ist, dass die jetzige Regierungskoalition – zu-
mindest im Kern – zu dem zurückkehrt, was Sie im Jahre
2000 verabschiedet haben, und Sie dem jetzt zustimmen
wollen, dann sagen Sie damit, dass sich an Ihrem Kom-
promiss aus dem Jahre 2000 nach Fukushima nichts
hätte ändern müssen. Das geht nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch Sie müssen Konsequenzen aus Fukushima ziehen.
Deshalb brauchen wir zweifellos weiter gehende Rege-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

lungen. Die Antiatombewegung sieht das übrigens ganz
genauso. Die vielen Fotos von Herrn Gabriel und von
Herrn Trittin bei den Demos der Antiatombewegung tra-
gen angesichts ihrer Haltung jetzt nicht zu ihrer Glaub-
würdigkeit bei.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht wieder einmal um das Verhältnis zur Atom-
lobby, um eine Machtfrage. Das ist der zweite Punkt;
dieser ist spannend. Sie alle sagen jetzt: Wir wollen den
Ausstieg aus der Atomenergie unumkehrbar und für im-
mer. Frau Bundeskanzlerin, wenn wir das wirklich wol-
len – dass Sie mir zustimmen, nehme ich dankend zur
Kenntnis –, dann habe ich eine Frage: Warum verankern
wir – dies haben wir im April 2011 beantragt – das Ver-
bot der Nutzung der Atomenergie und das Verbot von
Atomwaffen nicht im Grundgesetz?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind doch hier eine klare Mehrheit. Alle Fraktionen
wollen das. Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, Sie wol-
len, dass die Unumkehrbarkeit im Gesetz steht. Ich muss
Ihnen sagen: Das ist wirklich albern; denn ein Gesetz
kann durch jede Mehrheit im Bundestag aufgehoben
werden und damit auch dessen Unumkehrbarkeit.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wenn Sie das sagen, mache ich mir keine Sorgen!)


Herr Steinmeier, das ist so, als ob Sie ins Gesetz schrei-
ben: Dieses Gesetz gilt. Das stimmt, aber das brauchen
Sie nicht ins Gesetz zu schreiben. Unumkehrbar wird es
nur durch eine Verankerung im Grundgesetz; denn dann
müsste es, um zur Atomenergie zurückzukehren, eine
Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat ge-
ben. Diese wird sich niemals finden. Deshalb wäre es
dann unumkehrbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun hat Bundesumweltminister Röttgen gesagt
– Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es lohnt sich, da-
rüber nachzudenken –, dass er die Aufnahme in das
Grundgesetz nicht möchte, und zwar deshalb nicht, weil
künftige Mehrheiten dann gebunden wären. Ja, ich
möchte künftige Mehrheiten gerne binden. Wir müssen
der Bevölkerung sagen, dass das Gesetz nicht mehr
leicht zu ändern ist, sondern dass dies höchst kompliziert
wäre und dass es dafür keine Mehrheiten mehr geben
wird. Das scheint mir das Entscheidende zu sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie dazu Nein sagen, dann heißt das: Die Regie-
rungskoalition will einen Atomausstieg mit Rückfahr-
karte. Das ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir zum dritten Punkt. Der Atomausstieg
muss untrennbar mit einer Energiewende verbunden
werden. Dies hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die
Frage der erneuerbaren Energien. In Ihren Gesetzent-
würfen, liebe Regierungskoalition, steht zu den erneuer-
baren Energien nichts Neues. Es gibt nicht eine einzige
zusätzliche Fördermaßnahme. Das ist falsch; denn wir
müssen die Erzeugung erneuerbarer Energien viel stär-
ker fördern, um aus der Atomenergie so schnell wie
möglich aussteigen zu können.

Die andere Seite ist die Macht der vier Konzerne. Die
vier Konzerne, die ich genannt habe, haben in den letz-
ten Jahren einen Profit von 100 Milliarden Euro ge-
macht. Die werden überhaupt nicht zur Kasse gebeten.
Im Gegenteil: Sie sorgen dafür, dass es dabei bleibt.
Wieso haben diese Konzerne einen solchen Profit ge-
macht? Weil sie die Bürgerinnen und Bürger und auch
die Unternehmen abgezockt haben, ohne dass Sie irgend-
etwas dagegen unternommen haben. Ich sage: Es ist eine
Kernfrage, dass die Politik wieder für Wasser, für Bil-
dung, für Gesundheit und auch für Energie zuständig
wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen: Das
Parlament, das sie wählen, wird darüber entscheiden.
Die Vorstände der vier Konzerne dürfen sie nämlich
nicht wählen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das deutlich
macht, was für ein Unsinn dabei herauskommt. Ein Al-
leinstehender, der in einer kleinen Mietwohnung lebt
und wenig Strom verbraucht, zahlt pro Kilowattstunde
mehr als jemand, der in einer Villa mit Swimmingpool
wohnt. Diese Person verbraucht nämlich mehr. Wer
mehr verbraucht, bekommt billigeren Strom. Das ist so
was von antiökologisch und dämlich! Wenn die Politik
zuständig wäre, gäbe es solche Schwachsinnsregelungen
nicht, und wenn doch, würden sie nicht halten. Das ist
das Entscheidende.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Zuständigkeit der Politik ist also eine Frage der De-
mokratie und der Demokratisierung. Die Stromnetze ge-
hören in die öffentliche Hand; denn sie sind ein Machtin-
strument.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jawohl! Volkseigener Betrieb Gysi!)


Zum Vierten. Die Energiewende soll sozial gestaltet
werden. Was heißt das? Darauf gibt es von der Regie-
rung nicht eine einzige Antwort. Wer soll eigentlich die
Kosten der Energiewende tragen? Kostet erneuerbare
Energie nichts? Wie stellen Sie sich die Verteilung vor?
Das Erste, was Sie geregelt haben, ist: Die energieinten-
siven Industrien müssen die Kosten auf jeden Fall nicht
tragen. Sie bekommen eine Entlastung von
1,2 Milliarden Euro. Das heißt mit anderen Worten: Die
Bürgerinnen und Bürger und die kleinen Unternehmen
müssen die Kosten tragen. Genau das akzeptieren wir
nicht. Den Riesenprofit der Energiekonzerne habe ich
bereits erwähnt. Auch dieser muss, zumindest zum Teil,
herangezogen werden.

Heute haben wir die Situation, dass ein Hartz-IV-
Empfänger 44 Euro im Monat für Strom ausgibt. Ange-
rechnet werden aber nur 30,42 Euro. Auf diesen Betrag
wurde der Regelsatz festgelegt. Finden Sie das in Ord-
nung? Ich finde das nicht in Ordnung. Hartz-IV-Empfän-
ger wissen nämlich nicht mehr, wie sie das Ganze bezah-
len sollen.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Jedes Jahr werden 800 000 Strom- und Gasversor-
gungssperrungen vorgenommen. Haben Sie sich damit
einmal beschäftigt? Ich habe eine alleinerziehende Frau
mit drei Kindern besucht, bei der eine Stromsperre vor-
genommen wurde. Ich sage Ihnen: Ich war wirklich ent-
setzt. Das verletzt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgeset-
zes. Die Würde des Menschen ist so nicht zu garantieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Stromsperren und Gassperren sind zu
verbieten. Dafür brauchen wir – jetzt werden Sie sich
wieder furchtbar aufregen – eine staatliche Strompreis-
kontrolle,


(Beifall bei der LINKEN)


wie es sie übrigens unter allen Unionsregierungen bis
zur Großen Koalition gab. SPD und Union haben sie
dann abgeschafft mit der Begründung, es gebe genug
Wettbewerb. Das war ein schlechter Scherz; denn die
vier Konzerne telefonieren miteinander und verabreden,
wie sie uns abzocken. Hier gibt es keinen wirklichen
Wettbewerb.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zum sogenannten
Strahlenproletariat, das entstanden ist. Ich finde, das ist
ein einzigartiger Skandal.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Einzigartig?)


– Ja. Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. – Meine Fraktion
hat eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Da-
bei stellte sich heraus, dass es bei den AKW-Betreibern
weniger als 6 000 Festangestellte, aber über 24 000 Leih-
arbeiterinnen und Leiharbeiter und Beschäftigte von
Fremdfirmen gibt. Die Leiharbeiterinnen und Leiharbei-
ter verdienen im Schnitt nur zwei Drittel dessen, was
Festangestellte verdienen – das muss man wissen –, und
– das ist der größte Skandal – sie sind einer doppelt so
hohen Strahlenbelastung ausgesetzt wie die Festange-
stellten, weil sie immer wieder in die entsprechenden
Bereiche geschickt werden. Ich sage Ihnen: Das ist eine
Unverschämtheit der Konzerne!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will auch begründen, warum. Es stecken drei
Dinge dahinter.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711400700

Herr Kollege.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711400800

Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. – Die Konzerne

machen einen Profit von 100 Milliarden Euro, zahlen
Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern aber schlechte
Löhne. Außerdem gefährden sie ihre Gesundheit. Sie
verachten sie. Das ist nicht zu dulden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht nur eine
Energiewende, sondern auch eine Kulturwende und eine
soziale Wende in unserem Land.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711400900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gerda Hasselfeldt

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1711401000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir beraten heute eines der wohl ehrgeizigsten Pro-
jekte in dieser Legislaturperiode.


(Zuruf von der SPD: Für Sie!)


Dass es bei diesem kontrovers diskutierten Thema ge-
lungen ist, den Sachverstand von Wissenschaft, Wirt-
schaft und Technik und den Sachverstand der breiten
Gesellschaft und der Politik zu bündeln und in konkretes
politisches Handeln umzusetzen, ist eine großartige
Leistung der Bundeskanzlerin und dieser Bundesregie-
rung. Das verdient Anerkennung und Respekt. Ich danke
dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Steinmeier, der größte Teil Ihrer Rede war


(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)


von einem Blick in die Vergangenheit geprägt.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Warum wollen Sie dann dahin?)


Um die Energiepolitik künftig für dieses Land zu gestal-
ten, ist es erforderlich, dass wir den Blick in die Zukunft
richten. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um das,
was wir gemeinsam wollen, nämlich einen schnelleren
Ausstieg aus der Kernenergie und einen schnelleren
Ausbau der erneuerbaren Energien, in gemeinsamer Ver-
antwortung richtig zu gestalten.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Haben Sie das vor sechs Monaten auch gesagt?)


Wir dürfen nicht in einer hämischen Art und Weise bes-
serwisserisch den Blick einfach in die Vergangenheit
richten. Wir brauchen den Blick in die Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will nur an zwei Punkten den Unterschied zwi-
schen dem, was damals von Ihnen beschlossen wurde,
und dem heutigen Weg deutlich machen.

Damals stand die Reststrommenge im Vordergrund,
und die Entscheidung über das Enddatum der einzelnen
Kraftwerke haben Sie in die Hände der Betreiber gelegt.
Heute wird gesetzlich ein Enddatum festgelegt. Dadurch
schaffen wir Planungssicherheit für alle Beteiligten: für
die Betreiber, für die Investoren und vor allem auch für
diejenigen, die in die erneuerbaren Energien investieren
wollen und müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Der zweite Unterschied ist, dass damals kein Wort
über die Fragen verloren wurde, wie wir den Umstieg
schaffen, was notwendig ist, um die Energieversorgung
tatsächlich zu sichern, was an Ersatzkraftwerken not-
wendig ist, was an Netzausbau notwendig ist, wie der
notwendige Netzausbau beschleunigt wird, wie es mit
der Netzintegration der erneuerbaren Energien ausschaut
und was mit den notwendigen Speicherkapazitäten ist.
Zu all diesen notwendigen Themen haben Sie nicht nur
nichts gesagt, sondern Sie haben in Ihrer ganzen Regie-
rungszeit auch überhaupt nichts in die Wege geleitet, um
dies zu realisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Unglaublich!)


Verantwortliche Energiepolitik schaut anders aus, als
nur Überschriften zu setzen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, wem sagen Sie das!)


Wir haben uns die Diskussion in den letzten Wochen
wirklich nicht leicht gemacht – auch in den eigenen Rei-
hen nicht –, und wir haben gerade in meiner Landes-
gruppe und in meiner Fraktion auch immer dafür Sorge
getragen, die Diskussion über das Enddatum nicht an
den Anfang zu stellen, sondern zuerst den Weg zum
Ausstieg und Umstieg zu definieren, um dann mit Fach-
leuten darüber zu diskutieren, was technisch, was wirt-
schaftlich und was auch aufgrund der Eigentumsrechte
rechtlich möglich und richtig ist. Dann erst sind wir zu
der Entscheidung für 2022 als Enddatum gekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Herr Seehofer gehört nicht zu Ihrer Partei?)


– Wir haben kontrovers diskutiert; das habe ich erwähnt.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben gerade von allen in Ihrer Partei gesprochen!)


– Entscheidend ist das, was im Gesetzentwurf steht. –
Das ist ein rechtlich sauberer und technisch und wirt-
schaftlich realisierbarer Weg. Damit ist das ein seriöser
Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer die Leute glauben machen will, es ginge noch
schneller, wie Sie das gerade gesagt haben, der streut
den Leuten Sand in die Augen und gaukelt ihnen etwas
nicht Realisierbares vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch ich weiß, dass das, was wir hier vor uns haben,
einer ganz großen Kraftanstrengung bedarf. Energiever-
sorgung betrifft die Grundbedürfnisse eines jeden Bür-
gers. Sie ist die Lebensader für unsere Volkswirtschaft
und für unsere Beschäftigten. Da lohnt es sich schon,
sich über den richtigen Weg auseinanderzusetzen. Es
lohnt sich meines Erachtens auch, zu streiten, und zwar
in dem Sinn, dass wir darum ringen, wie wir das beste
Ergebnis erreichen können. Wir dürfen aber nicht bes-
serwisserisch streiten, nur um recht zu haben. Wir müs-
sen vielmehr um die besten Argumente ringen.

(Ulrich Kelber [SPD]: Lassen Sie doch den Rösler in Ruhe!)


Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was uns verbin-
det.

Der Minister hat vorhin die drei Kernelemente ange-
sprochen, die auch im Energiewirtschaftsgesetz veran-
kert sind und an die wir uns bei jeder energiepolitischen
Diskussion erinnern sollten, nämlich Versorgungssicher-
heit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit. Darin
sind wir uns doch einig; das hoffe ich zumindest.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Der Kelber nicht! Der versteht das nie!)


Der Strom darf nicht ausfallen,


(Zuruf von der SPD: Ja, logisch!)


und zwar weder in den Betrieben und Krankenhäusern
noch im Bereich der Datenverarbeitung oder in den
Haushalten.

Wenn wir aus der Kernenergie aussteigen, müssen wir
gemeinsam für den entsprechenden Ersatz sorgen. Es
geht nicht ohne fossile Ersatzkraftwerke. Deshalb darf es
nicht sein, dass man konkrete Projekte blockiert. Das
wäre unglaubwürdig. Zu einem verantwortungsvollen
Handeln gehört auch, dass wir die Äußerungen der Bun-
desnetzagentur in Bezug auf die nächsten zwei Jahre
ernst nehmen. Wir können uns in diesem Lande keinen
Blackout leisten. Das wäre völlig verantwortungslos.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir uns darin einig sind, dass der Strom nicht
ausfallen darf, dann müssen wir uns auch darin einig
sein, dass wir beim Umstieg in die erneuerbaren Ener-
gien alles tun müssen, um den Netzausbau nicht nur the-
oretisch, sondern auch praktisch zu befördern. Wir müs-
sen die gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass er
zügig erfolgen kann, und zwar nicht nur in Bezug auf die
überregionalen Netze, sondern auch in Bezug auf die
Verteilernetze. Damit die Netzintegration der erneuerba-
ren Energien funktioniert, müssen wir dafür sorgen, dass
die entsprechenden Speicherkapazitäten vorhanden sind.
All das gehört dazu, wenn wir es mit der Versorgungssi-
cherheit und mit dem Ziel, dass der Strom in diesem
Land nicht ausfallen darf, ernst meinen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein zweiter Punkt. Wir haben mit diesem Konzept
auch die Strompreise im Auge. Das gilt für die privaten
Verbraucher genauso wie für die Unternehmen. Es ist
deshalb wichtig, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz da-
rauf zu achten, dass die Einspeisevergütungen den
Zweck der Anschubfinanzierung und der Innovationsfi-
nanzierung erfüllen. Sie sollen aber keine Dauersubven-
tionierung sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich weiß sehr wohl, dass es an dieser Stelle immer wie-
der Diskussionen gibt. Diese sind auch berechtigt. Wir
dürfen aber auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik
diesen Zweck nie aus den Augen verlieren.





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Zur Behandlung der Strompreisproblematik gehört
auch, das Augenmerk auf die energieintensiven Betriebe
zu richten. Hunderttausende von Arbeitsplätzen in die-
sen Unternehmen sind davon unmittelbar betroffen. Es
sind aber auch Hunderttausende von Menschen in den
vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Es wäre
also zutiefst fahrlässig, wenn wir diese Problematik
nicht beachten würden. Deshalb wird es auch hier eine
zusätzliche Entlastung geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will noch einen dritten Punkt ansprechen; da sind
wir uns eigentlich einig. Es geht um die Verantwortung
für die Natur und unsere Umwelt, also für das, was uns
der Herrgott mitgegeben hat. Deshalb muss uns die Re-
duzierung der CO2-Belastung ein Anliegen sein. Des-
halb müssen wir in diesem Konzept ein starkes Augen-
merk auf die Energieeffizienz sowohl der Kraftwerke als
auch aller Geräte, die wir benutzen, und auf die Einspar-
möglichkeiten richten. Wir legen ebenfalls großen Wert
auf die Maßnahmen, die wir zum Beispiel in der Gebäu-
desanierung vorgesehen haben, und auf die Frage der in-
telligenten Netzinfrastruktur und Ähnliches.

Ich will dabei zum Ausdruck bringen, dass ich gerade
mit diesem Energiekonzept Chancen sehe, dass wir den
Schwerpunkt ein bisschen mehr, als wir das bisher tun,
auf dezentrale Energieversorgung legen. Hier bieten sich
sowohl im Bereich der erneuerbaren Energien als auch
im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung große Chancen.

Was uns, insbesondere in unserer Fraktion, ausgehend
von meiner eigenen Landesgruppe, noch wichtig ist, ist
der jährliche Fortschrittsbericht. Er ist uns deshalb wich-
tig, weil jeder, der den Ausstieg aus der Kernenergie
ernsthaft will, den Umstieg mitmachen muss und die
notwendigen Schritte auf diesem Weg nicht blockieren
darf. Da wir in der Vergangenheit erstens nicht dieses
genaue Konzept mit den Verbesserungsmöglichkeiten,
den Planungsbeschleunigungen und dergleichen, was
jetzt in den Gesetzentwürfen verankert ist, beschrieben
haben und zweitens auch kein Monitoring vorgesehen
hatten, ist vieles nicht geschehen, was auf dem Weg zum
weiteren notwendigen Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien notwendig gewesen wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb wollen wir diesen jährlichen Fortschrittsbe-
richt. Wir wollen ihn, um dann nachjustieren zu können,
und zwar nicht beim Enddatum des Ausstiegs, sondern
bei dem, was auf diesem Weg noch notwendig ist und
wo blockiert wird. Das war uns ein ganz wichtiger As-
pekt. Ich bin dankbar dafür, dass dieser nun in den Ge-
setzentwürfen verankert ist.

Nun wissen wir bei der riesigen Aufgabe, die vor uns
liegt, um den breiten gesellschaftlichen Konsens. Das
Ergebnis der Ethik-Kommission hat deutlich gemacht,
dass das vorgelegte Energiekonzept von einer breiten
Basis in der Gesellschaft und auch in der Ethik-Kommis-
sion voll mitgetragen wird. Wir alle wissen, dass das nur
mit einer Kraftanstrengung aller Beteiligten vor Ort
möglich ist: des Bundes, der Länder, der Kommunen,
aber auch der Investoren und der Bürger, ja jedes Einzel-
nen für sich. Da wird es noch viele Diskussionen in den
Regionen bei konkreten Kraftwerksbauten, Netzausbau-
ten und Ähnlichem geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ein gutes
Signal, wenn dieser Konsens nicht nur in der Gesell-
schaft, nicht nur in der Ethik-Kommission spürbar wäre,
sondern wenn dieser Konsens auch von diesem Hohen
Hause ausginge. Darum möchte ich Sie herzlich bitten.
Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen über die Ge-
setzentwürfe in den Ausschüssen ein und bitte Sie bei
der zweiten und dritten Lesung herzlich um Ihre Zustim-
mung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711401100

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711401200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Rösler, nachdem ich Ihrer Rede zugehört habe,


(Zurufe von der FDP: Haben Sie das?)


habe ich Verständnis für die Kanzlerin, die Sie bei diesen
Entscheidungen einfach übergangen und ignoriert hat,
weil Sie wirklich nichts zum Thema zu sagen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Durch Fukushima ist uns eines deutlich geworden: Es
gibt kein vernachlässigbares Restrisiko. In Fukushima
ist dieses Restrisiko dreimal höchst real geworden. Nun,
nach diesem Zwischenfall, 25 Jahre nach Tschernobyl,
zieht auch die CDU aus diesen Erfahrungen Konsequen-
zen. Das ist spät, aber es ist richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie, Frau Merkel, beenden damit auch einen persönli-
chen Kampf. Zehn Jahre lang haben Sie gegen die Ener-
giewende in Deutschland, gegen Energieeffizienz, Ener-
giesparsamkeit und erneuerbare Energien gekämpft. Sie
haben noch in der Bundestagswahl – ich zitiere – erklärt:

Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke weltweit
gebaut werden, wäre es jammerschade, wenn
Deutschland aussteigen würde.

Das war Ihre Position.

Dieser Tage lobte der US-Präsident die deutsche
Energiepolitik, weil sie mit neuer Technologie Klima-
schutz, Wachstum und Arbeitsplätze verbunden hat.
Meine Damen und Herren, das war ein scharfer Tadel an
Sie, Frau Merkel; denn Sie haben in der Energiepolitik
der letzten zehn Jahre eine ganz einfache Rolle einge-
nommen. Sie waren die Dagegen-Partei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben nicht nur versucht, uns im letzten Jahr die
Laufzeitverlängerung als Revolution – oder Ihr Umwelt-





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

minister als Meilenstein – zu verkaufen. Die CDU ver-
anstaltete in Nordrhein-Westfalen Fackelzüge gegen die
Einführung des Emissionshandels. Sie waren gegen die
Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Da, wo
die Union regiert hat – in Hessen, Bayern und Baden-
Württemberg –, haben Sie den Ausbau der Windenergie
bürokratisch so schikaniert und blockiert, dass es heute
nicht einmal lächerliche 1 Prozent an Windstrom in die-
sen Bundesländern gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie haben das schrittweise korrigiert: erst beim Emis-
sionshandel, dann beim Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Heute rollen Sie auch die Fahne beim Ausstieg aus der
Atomenergie ein. Da kann ich nur sagen: Willkommen,
gnädige Frau, im 21. Jahrhundert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dies ist ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung und der
Umweltverbände. Es ist ein Erfolg der Hunderttausende
von Menschen, die auf Mahnwachen, bei Demonstratio-
nen und Sitzblockaden für einen Ausstieg gestritten ha-
ben. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich bei denen
schon nicht entschuldigen wollen – dafür hätte ich ja
Verständnis –, so finde ich, dass Sie sich heute bei diesen
Menschen für die Nachhilfe hätten bedanken sollen, die
sie Ihnen erteilt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Heute übernehmen Sie die Laufzeitbegrenzung von
Rot-Grün. Sie packen einen Deckel drauf, damit die von
Ihnen selbst verursachte und angestiftete Zockerei mit
den Reststrommengen ein Ende hat. Sie üben tätige
Reue und schalten die sieben ältesten Atomkraftwerke
plus Krümmel ab, die aufgrund eben dieser Zockerei
noch am Netz sind. Ohne diese Zockerei wären sie nicht
am Netz. Sie schalten damit die Kraftwerke ab, die ge-
gen einen Flugzeugabsturz überhaupt keinen Schutz ha-
ben.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Da haben Sie ja nichts gemacht, gar nichts!)


Für all das haben Sie unsere Unterstützung.

Aber warum nehmen Sie eigentlich Ihre Novelle vom
letzten Jahr nicht vollständig zurück? Warum bleibt es
bei der Absenkung der Sicherheitsstandards? Warum
wird § 7 d des Atomgesetzes nicht gestrichen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Warum müssen wir – wenn Sie einen Konsens wollen –
das nach wie vor vor dem Bundesverfassungsgericht be-
klagen? Sie haben den Ministerpräsidenten zugesagt, Sie
wollten – ich zitiere – „eine ergebnisoffene Standortsu-
che auf einer gesetzlichen Grundlage“.

Ich frage Sie: Was ist daran ergebnisoffen, wenn man
parallel dazu in Gorleben weiterbaut? Wenn es ergebnis-
offen sein soll, warum wollen Sie dann weiterhin in Gor-
leben den Grafen Bernstorff enteignen? Warum streichen
Sie nicht die Ermächtigung zur Enteignung im Atomge-
setz? Das frage ich Sie, wenn Sie Konsens wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Heute wandeln Sie beim Ausstieg zögerlich auf grü-
nen Pfaden. Damit kann man bekanntlich nichts verkehrt
machen. Aber beim Einstieg in die energiepolitische Zu-
kunft halten Sie an den Fehlentscheidungen fest, die Sie
im letzten Jahr getroffen haben. Mit der Laufzeitverlän-
gerung bis 2040 wollten Sie bis 2020 den Ausbau er-
neuerbarer Energien auf 35 Prozent deckeln. Das ist we-
niger, als Sie selbst in Brüssel bei der EU-Kommission
für Deutschland gemeldet haben. Jetzt, wo Sie bis 2022
aus der Atomenergie ausgestiegen sein wollen, bleibt es
bei den 35 Prozent.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, da stimmt was nicht!)


Da wundert es Sie, dass die Wende, die Sie vollzogen
haben, von den Menschen in diesem Lande nicht als
glaubwürdig angesehen wird?

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Sie haben sich mit
den Ministerpräsidenten darauf verständigt, dass On-
shorewindenergie, also Windenergie an Land, nicht be-
nachteiligt werden soll. Sie mindern zwar die Benachtei-
ligung, die Sie ursprünglich vorgesehen haben, aber Sie
verschlechtern die Bedingungen für das Repowering. Er-
klären Sie uns doch einmal, wie Sie bei einer zusätz-
lichen Hürde, die Sie mit der EEG-Umlage darauf-
packen,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Genau!)


zu einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien
zu verträglichen Preisen an Land kommen wollen, wenn
Sie weiterhin Repowering und Onshorewindenergie in
dieser Weise schlechter behandeln, als es notwendig ge-
wesen wäre!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dafür gäbe es eine Erklärung. Die Erklärung ist: Sie
haben das Wesen der Energiewende immer noch nicht
verstanden.


(Zuruf von der FDP: Das sagen Sie!)


Es geht hierbei um den Ausbau erneuerbarer Energien,
Energieeinsparung und Energieeffizienz. Aber dies setzt
eine andere Struktur unserer Energieversorgung voraus,
nämlich eine flexiblere und dezentralere Struktur.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Worauf Sie hinauswollen, ist der Ersatz der Grundlast
Atom durch die Grundlast Kohle. Da treffen Sie sich mit
der Linken von Gregor Gysi.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Energiewende geht, gerade im Einstiegsprozess, an-
ders. Ob Erneuerbare-Energien-Gesetz oder Netzausbau-





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

gesetz: Bei all diesen Gesetzen gibt es massiven Ände-
rungsbedarf. Ich habe Ihre Botschaft durchaus gehört,
Frau Hasselfeldt – Ihr Minister hat das auch gesagt –,
dass Sie bereit seien, tatsächlich zu konkreten Verände-
rungen zu kommen. Wir werden in dem Gesetzgebungs-
prozess darauf achten, dass diesen Ankündigungen auch
Taten folgen.

Seit Montag steht Frau Merkel der Energiewende
nicht mehr im Weg. Aber eines scheint immer noch zu
gelten: Merkel bleibt Merkel. Sie glauben immer noch,
man käme vorwärts, wenn man gleichzeitig bremst und
Gas gibt. Gnädige Frau, damit kommt man nur ins
Schleudern und ist zu abrupten Kehrtwendungen ge-
zwungen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711401300

Michael Kauch ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1711401400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Trittin, Hochmut kommt vor dem Fall.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist das beste Beispiel dafür!)


Die Grünen sollten sich fragen, ob sie, wenn sie regieren
würden, ihre Energiepolitik nicht auch hätten ändern
müssen. Denn das von uns vorgelegte Konzept sieht eine
deutlich frühere Abschaltung der alten Kernkraftwerke
vor, als sie es vorgesehen haben. Sie haben es mit dem
Reststrommengenkonzept doch gerade den Unterneh-
men ermöglicht, das Datum immer weiter nach hinten zu
verschieben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das war doch ein rot-grünes Gesetz, von Ihnen als Um-
weltminister verantwortet, Herr Trittin.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Warum haben Sie denn die ältesten Kraftwerke nicht
abgeschaltet? Warum haben Sie denn keine zusätzliche
Sicherheit eingefordert? Weil Sie, Herr Trittin, einen
Deal mit den vier großen Stromkonzernen gemacht ha-
ben. Die Hybris, die die Grünen hier an den Tag legen,
besteht darin, einen Deal gemacht zu haben, nichts für
die Sicherheit getan zu haben und uns vorzuwerfen, dass
wir den Paragrafen, mit dem wir mehr Sicherheit schaf-
fen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welcher war das noch?)

jetzt nicht abschaffen. Das ist absurd, meine Damen und
Herren von den Grünen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die FDP will den schnelleren Umstieg in der Energie-
versorgung, wir wollen den schnelleren Ausstieg aus der
Kernkraft. Deswegen haben wir gemeinsam mit der
Union ein Gesetzespaket vorgelegt.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Weiß das Herr Lindner? – Rolf Hempelmann [SPD]: Für welchen Teil der FDP sprechen Sie?)


Die Koalition hat gemeinsam ein klares Signal gesetzt.
Wir Liberale haben insbesondere an drei Punkten dieses
Gesetzes einen wesentlichen Anteil.

Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass die Brennele-
mentesteuer nicht abgeschafft wird. Diese Brennelemen-
testeuer wurde eingeführt, weil sich die Stromkonzerne
in vergangenen Jahren ihrer Abfälle sehr günstig in der
Asse entledigt haben. Deshalb müssen sie auch an den
Kosten beteiligt werden. Wir haben vereinbart, dass die
Konzerne einen Beitrag zur Haushaltssanierung leisten.
Daran hat sich nichts geändert. Wir wollen die Bürger
entlasten, wir wollen die Spielräume nicht einengen und
das Geld nicht dadurch verpulvern, dass wir vier Kon-
zernen ein Geschenk machen. Dafür hat die FDP ge-
sorgt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und noch ein Mövenpick-Eis dazu!)


Zweitens. Die FDP hat dafür gesorgt, dass wir neben
der Erkundung von Gorleben auch andere Entsorgungs-
optionen entwickeln. Da bin ich schon sehr erstaunt über
das, was Herr Steinmeier gesagt hat, nämlich dass man
das jetzt endlich machen müsse. Wir haben vereinbart,
dass wir das machen. Ich möchte festhalten: Wer das
nicht gemacht hat, das waren Herr Trittin und Herr
Gabriel. Rote und grüne Umweltminister haben elf Jahre
davon geredet, aber sie haben es nicht durchgesetzt. Wir
werden es jetzt durchsetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Auch die Unwahrheiten sind unter Ihrem Niveau!)


Drittens. Wir sorgen für Netzstabilität in diesem
Land. Frau Hasselfeldt hat es sehr deutlich gesagt: Man
kann den Bürgerinnen und Bürgern, den Menschen in
den Betrieben, den Arbeitenden in den Krankhäusern
und in den EDV-Zentralen nicht zumuten, dass wir das
Risiko eingehen, dass der Strom ausgeht, auch nicht in
Bayern, auch nicht in Baden-Württemberg.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb ist es notwendig, ein Stand-by-Kraftwerk für
die nächsten beiden Winter vorzuhalten. Das ist unsere
Versicherung für die Stromversorgung der Bürgerinnen
und Bürger.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

Wir kümmern uns nicht nur um den Ausstieg, wir
kümmern uns auch um den Einstieg; denn der Einstieg
ist eine Chance für unser Land, eine Chance für Innova-
tion, für neue Technologien und für die Modernisierung
unserer Wirtschaft. Dieser Einstieg wird in erheblichem
Maße anlagesuchendes Kapital nach Deutschland zie-
hen. Das ist ein neues Konjunkturprogramm, und zwar
ein marktwirtschaftliches. Aber es ist auch eine Heraus-
forderung an uns alle. Das funktioniert nicht von alleine.

Das bedeutet, dass auch der ländliche Raum Funktio-
nen für die Energieversorgung übernehmen muss, die
bisher zu großen Teilen die Städte übernommen haben.
Nicht überall wird es so bleiben, und nicht alles wird so
bleiben, wie es war. Das müssen die Menschen wissen,
wenn wir aus der Kernkraft aussteigen. Wir werden
Netze brauchen, und wir werden Masten brauchen. Die
wird man in der Landschaft sehen, ebenso Windräder,
die Schlagschatten werfen, Solarkraftwerke, die dem ei-
nen oder anderen nicht gefallen werden, und große Bio-
gasanlagen, die gegebenenfalls zu mehr Verkehr in den
Dörfern führen. All das ist unvermeidbar. Wir sind be-
reit, das zu tragen. Wir sind gespannt, ob auch die Grü-
nen bereit sind, Verantwortung für den Umstieg bei der
Energieversorgung zu tragen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Rot-Grün hat das EEG immer so gestrickt, dass mög-
lichst viele neue Anlagen errichtet wurden.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen Sie ändern?)


Das haben Sie gemacht, ohne dass Sie die Netze entspre-
chend angepasst haben; denn Sie haben immer nur auf
die Anlagen geschaut, nie auf das Gesamtsystem. Das
Ergebnis können Sie heute sehen: Nachdem die sieben
ältesten Kraftwerke und Krümmel abgeschaltet worden
sind, exportieren wir im Norden den Windstrom und im-
portieren im Süden den Kernkraftstrom und den Braun-
kohlestrom aus Frankreich und aus Tschechien. Das ist
das Ergebnis von elf Jahren mit rot-grünen Umwelt-
ministern in diesem Land.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die FDP will mit der Erneuerung des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes drei Ziele erreichen: Wir wollen wei-
ter und schneller einen dynamischen Ausbau der er-
neuerbaren Energien. Wir wollen mehr Effizienz. Ich
freue mich, dass es uns in der Koalition gelungen ist, uns
darauf zu verständigen, dass wir die Umlage bei
3,5 Cent stabilisieren. Das bedeutet: kein fester Deckel.
Aber das bedeutet auch: Es gibt eine politische Ver-
pflichtung, dass wir die Kosten ernst nehmen, die wir
den Bürgerinnen und Bürgern über ihre Stromrechnung
auferlegen, und dass wir nicht nur daran denken, den Be-
treibern eine möglichst fette Rendite zu garantieren, wie
es uns Herr Trittin heute hier wieder vorgeworfen hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Grüne Klientelpolitik!)

Meine Damen und Herren, wir wollen Anreize setzen
für eine möglichst gute Integration der erneuerbaren
Energien in den Markt und in das Netz. Deswegen set-
zen wir auf die Direktvermarktung. Wir geben den An-
lagenbetreibern bei ihrer Vergütung sozusagen einen
Airbag. Mit der Marktprämie stehen sie sich vergütungs-
mäßig nie schlechter als bei der Festvergütung; aber erst-
mals müssen sie sich darüber Gedanken machen, sich ei-
nen Kunden zu suchen. Das ist das Mindeste, was man
in einer Marktwirtschaft erwarten muss: dass sich zum
Beispiel große Anbieter von Biogasanlagen für den
Strom einen Kunden suchen müssen und dass sie den
Strom dem Netzbetreiber nicht nur vor die Füße werfen
nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Abschluss möchte ich sehr deutlich machen: Wir
wollen Onshore- und Offshorewindkraft. Es geht auch
um das Planungsrecht. Es nützt nichts, einem Windpark-
betreiber oder einem Anlagenbetreiber eine möglichst
fette Rendite zu garantieren, wenn man keine Flächen
geben kann, weil sie in der Planung nicht ausgewiesen
werden. Es nützt eben auch nichts – da müssen wir noch
eine Änderung am Erneuerbare-Energien-Gesetz vor-
nehmen –, dass man sagt: „Solarparks, Solarkraftwerke
in der Freifläche sind für den Verbraucher am günstigs-
ten“, aber nur Flächen zur Verfügung stellt, die in Ost-
deutschland oder Nordrhein-Westfalen liegen, während
dort, wo wir wegen des Kernkraftausstiegs jetzt Kapazi-
täten brauchen – in Bayern, in Baden-Württemberg –,
gesagt wird: Wir haben leider keine Flächen für die So-
larenergieerzeugung. – Zum Umstieg gehört, dass man
sagt: Wir schaffen auch Flächen für Anlagen und sorgen
nicht nur für Vergütungen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711401500

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1711401600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ein herzliches Dankeschön an die Hunderttausen-
den und Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit
Jahrzehnten gegen die Atomenergie in unserem Land en-
gagiert haben,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Mannomann!)


die aushalten mussten, dass sie aus den Reihen von CDU
und CSU und FDP ignoriert, ausgelacht, verleumdet und
beleidigt worden sind, auch noch in den letzten Wochen,
sogar noch in den ersten Tagen nach Fukushima. Noch
einmal ein herzliches Danke! Ohne ihren Widerstand
hätten CDU/CSU und FDP auch nach Fukushima ein-
fach weitergemacht.





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt gilt aber: Sie haben gewonnen; Schwarz-Gelb
hat verloren. Die wollten die Energiewende im letzten
Jahr vernichten, wurden zum Einlenken gezwungen und
beschimpfen jetzt immer noch in Parlamentsreden, in
Flugblättern und auf den Webseiten die, die schon lange
auf dem richtigen Weg waren.

Herr Rösler, bei allem Respekt: Ihre Rede war die Be-
werbung als Kaltreserve der Koalition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])


Diese Rede werden wir eins zu eins in der heute-show
wiederfinden. Sie erinnert mich an das Verhalten eines
Kleinkindes, das über seine eigenen Füße gestolpert ist
und am Boden liegend nach allen um sich herum haut,
weil irgendjemand anderes an seinem Unglück ja schuld
gewesen sein muss.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt fangen Sie mit der Sache an!)


Frau Bundeskanzlerin, ein einziges Wort des Einse-
hens, eine einzige kleine Entschuldigung bei den Bürge-
rinnen und Bürgern, einmal der Verzicht auf das Überhö-
hen des eigenen Handelns, wäre das so schwierig
gewesen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Seit Mitte März wurden jetzt fast drei Monate Fach-
beratungszeit für gute Gesetze durch Grabenkämpfe in
der Koalition vergeudet. Selbst Koalitionsabgeordnete
haben sich gestern in den Ausschussanhörungen, vorges-
tern beim Deutschen Bauernverband über die mangelnde
Sorgfalt in den Gesetzentwürfen und über die mangelnde
Beratungszeit beschwert. Aber da gilt eines, werte Kol-
leginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP: Be-
schweren Sie sich doch nicht, ändern Sie es doch ge-
meinsam mit uns! Sie hätten nicht akzeptieren müssen,
dass selbst die Sachverständigen nur 24 Stunden Vorbe-
reitungszeit für die Fachanhörungen bekommen haben.

Aber jetzt sind wir mitten in der Debatte. Die Ethik-
Kommission hat ihr Ergebnis vorgelegt,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU] Jetzt kommt Inhaltliches!)


und dieses Ergebnis lautet: Die bisher von CDU/CSU
und FDP gemachte Energiepolitik ist unethisch gewe-
sen; Sie sollen zurück zu dem, was SPD und Grüne vor-
gelegt haben.


(Beifall bei der SPD)


Schwarz-Gelb will nun den mit voller Absicht – mit
voller Absicht! – gemachten Fehler einer Laufzeitverlän-
gerung weitgehend zurücknehmen. CDU und CSU ha-
ben in der letzten Woche auch bei der Brennelemente-
steuer und dem schrittweisen Ausstieg eingelenkt, verbal
übrigens ebenso bei der bundesweiten ergebnisoffenen
Endlagersuche. Ob die FDP das in allen Punkten unter-
stützt, ist mir auch nach den Reden von heute Morgen
unklar, ich glaube, den meisten innerhalb der FDP auch.
Sie müssen hier schon für Klarheit sorgen. Sind Sie Teil
der Koalition, legen Sie uns also einen Entwurf vor, über
den wir mit Ihnen diskutieren können, oder sind Sie bei
dem Versuch, die CSU von früher zu imitieren, gleich-
zeitig Regierung und Opposition zu sein? Das müssen
Sie unter sich klären.

Wir begrüßen das Einlenken von Schwarz-Gelb in der
Frage der Atomkraftlaufzeiten – trotz der Zeitverzöge-
rungen und Kosten, die durch die Extrarunde im Oktober
entstanden sind, als wir an der gleichen Stelle geredet
haben, als wir mit dem gleichen Pathos erklärt bekom-
men haben, warum Atomkraftwerke in diesem Land län-
ger laufen müssen, bis in die 40er-Jahre unseres Jahr-
hunderts hinein.

Eines gilt auch: Wir könnten noch schneller ausstei-
gen, wir könnten noch sicherer aussteigen, Herr Fuchs,
wir könnten auch preisgünstiger aussteigen,


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Mit der Solarwirtschaft?)


wir könnten die Erneuerbaren noch schneller ausbauen,
wir könnten die Energieeffizienz noch stärker voranbrin-
gen.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Und billiger wird es auch!)


Wir bitten Sie, wir fordern Sie auf: Nutzen Sie we-
nigstens die kurzen Beratungszeiten auch dafür, das
ernst zu nehmen, was Ihnen die Ethik-Kommission auf-
geschrieben hat, und das ernst zu nehmen, was die Sach-
verständigen gestern in den Anhörungen gesagt haben!
Selbst Ihre eigenen Sachverständigen haben massive
Kritik an den Gesetzentwürfen geübt.

Zum Erneuerbare-Energien-Gesetz.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jetzt kommt es!)


Ohne dieses Gesetz wäre ein schneller Atomausstieg gar
nicht möglich. Es ist eine deutsche Erfolgsgeschichte,
übrigens beschlossen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP, auch die erste Novelle beschlossen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP. Daran muss man
manchmal erinnern.


(Beifall bei der SPD)


Frau Merkel hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz zwei-
mal abgelehnt, Herr Röttgen – er wird ja gleich noch re-
den – hat es abgelehnt; aber der Atomausstieg, Milliar-
deninvestitionen und 400 000 Jobs in Deutschland
hängen am Erneuerbare-Energien-Gesetz.

Was hat die schwarz-gelbe Bundesregierung jetzt mit
diesem Gesetz vor?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, was hat sie da vor?)


Das Ausbauziel bleibt unverändert – trotz Atomaus-
stiegs. Das muss man mal erklären! Wir schalten also
20 Prozent der Leistung ab, aber die Erneuerbaren wol-





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

len Sie nicht mehr ausbauen, als bisher geplant. Es ist
eine dreiste Bevorzugung der großen Energiekonzerne,
quasi als Entschädigung für die Rücknahme der Lauf-
zeitverlängerung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Quatsch!)


Bei den preisgünstigen dezentralen Erneuerbaren wie
dem Onshorewind wird gekürzt und ausgebremst. Schon
heute brechen die Anmeldezahlen zusammen. Die teure-
ren zentralen Anlagen allerdings, wie die Energiekon-
zerne sie lieben, werden bei der Vergütung vergoldet.
Das Konzept, das hinter dieser Novelle des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes durch Schwarz-Gelb steht, heißt: we-
niger neue Kilowattstunden bei höheren Kosten, die die
Verbraucherinnen und Verbraucher zu tragen haben.
Dies ist ein unsinniger Entwurf; den müssen Sie ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Atomgesetz. Zunächst die gute Nachricht: Sie
nehmen die Laufzeitverlängerung tatsächlich weitge-
hend zurück. Ich fand den Begriff von Frank-Walter
Steinmeier, dass das ein Irrtumsbereinigungsgesetz ist,
die treffendste Beschreibung für ein Gesetz, die ich seit
Jahren gehört habe.


(Beifall bei der SPD)


Wir gehen auch davon aus, Frau Bundeskanzlerin,
dass Ihre Ankündigung einer ergebnisoffenen und, Frau
Hasselfeldt, bundesweiten Endlagersuche so gemeint ist,
wie Sie es gesagt haben, und dass dem auch Taten fol-
gen. Man muss übrigens nicht bis zum Ende des Jahres
warten. Man könnte mit einem einzigen Satz im Atom-
gesetz eine solche bundesweite Suche als Voraussetzung
für die Genehmigung eines Endlagers festschreiben und
dann am Ende des Jahres in einem weiteren Gesetz die
Details regeln. Auch auf diese Weise könnten Sie bewei-
sen, dass Sie es wirklich ernst meinen.

Wir als SPD behalten uns vor, mit eigener Mehrheit,
spätestens ab 2013, weitere schwarz-gelbe Irrtümer und
Unterlassungen im Atomrecht zu revidieren. Wir werden
die längst fertiggestellten höheren Sicherheitsstandards
in Kraft setzen. Herr Dr. Röttgen weigert sich ja, unter
diese seine Unterschrift zu setzen. Wir werden den Ent-
eignungsparagrafen wieder streichen und die vollen An-
wohnerrechte wiederherstellen. Wir werden auch den
Vorschlag der Ethik-Kommission für einen parlamenta-
risch kontrollierten Überwachungsprozess für den Atom-
ausstieg durchsetzen. Dieser sieht ja als Kernforderung
auch die Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung
des Atomausstiegs vor, wenn wir bei unseren Zielen des
Ausbaus und der Netzmodernisierung schneller voran-
kommen als heute erwartet.


(Beifall bei der SPD)


Die Mitglieder der Ethik-Kommission sind durch die
Bundeskanzlerin handverlesen worden. Durch keinen
parlamentarischen Prozess sind die Teilnehmer bestimmt
worden. Wenn es sich so verhält, muss aber auch die
obengenannte Kernforderung der Ethik-Kommission er-
füllt werden. Man darf sich nicht nur die genehmen Vor-
schläge heraussuchen, Frau Merkel. Das ist nicht in Ord-
nung.

Ein letzter Punkt: Die Expertenanhörung hat aufge-
zeigt, dass Zweifel berechtigt sind, ob die Novelle des
Atomgesetzes auch juristisch wasserdicht konstruiert ist.
Im Kern geht es um die nicht begründete Ungleichbe-
handlung bei den Laufzeiten. Alle Antworten der Bun-
desregierung gegenüber verschiedenen, bei der Anhö-
rung anwesenden Rechtsexperten waren unbefriedigend.
Wir können aber von der schwarz-gelben Bundesregie-
rung erwarten, dass sie ein ordentlich gemachtes Gesetz
vorlegt, das alle Kriterien erfüllt. Wir lassen nicht zu,
dass Sie eine juristische Hintertür in die Laufzeitverkür-
zung, in den Atomausstieg einbauen. Das geht nicht.


(Beifall bei der SPD)


Wir sind erschrocken über die mangelnde handwerk-
liche Qualität der Gesetzentwürfe. Eines können wir
aber erwarten: Tun Sie dem Land einen Gefallen, indem
Sie wenigstens bei der Beseitigung Ihrer Irrtümer etwas
Sorgfalt an den Tag legen! Das wäre ein letzter Dienst an
diesem Land.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ein letzter Dienst? Mamma mia! Wo leben Sie denn?)


Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1711401700

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael Fuchs

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1711401800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Trittin
ist leider schon weg, ich sage es aber trotzdem: Herr
Kollege Trittin, Sie waren, wenn ich mich nicht sehr irre,
von 1998 bis 2005 Umweltminister in diesem Lande. In
diesen sieben Jahren hätten Sie zusammen mit Ihren
Kollegen von der SPD das Flugzeugabsturzproblem lö-
sen können, wenn Sie es denn gewollt hätten. Es gibt ja
Stimmen, die behaupten, dass Sie persönlich es gewollt
haben. Aber Sie waren während dieser Zeit eben Kellner
und nie Koch. Sie werden wahrscheinlich auch nie Koch
werden.

Lieber Herr Kollege Steinmeier, ich habe Ihre rück-
wärts gewandte Rede sehr wohl gehört. Ich kann mir
auch durchaus denken, warum sie rückwärts gewandt
war: Weil Sie damals noch bessere Umfragewerte als
heute hatten, erinnern Sie sich lieber an diese Zeit.


(Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Thomas Oppermann [SPD]: Kommen Sie einmal zur Sache!)


Das ist verständlich. Zu Ihnen fällt mir ein Zitat von
John F. Kennedy ein:





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

Einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo
die anderen erst einmal reden.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Dann packen Sie mal an!)


Sie haben 25 Jahre nur geredet, aber nie angepackt; und
das macht diese Koalition jetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden
– dafür müssen wir alle gesellschaftlichen Kräfte zusam-
menführen – jetzt anpacken. Wir müssen dafür sorgen,
dass die Dinge, die wir uns vorgenommen haben, ge-
meinsam umgesetzt werden. Das wird alles andere als
einfach. Der Neubau von effizienten Gas- und Kohle-
kraftwerken wird nötig sein. Der Neubau von Pumpspei-
cherkraftwerken wird nötig sein. Der Ausbau der Strom-
leitungsnetze wird nötig sein. All das wird viel Kraft
kosten. Das wird häufig gerade von Politikern der Grü-
nen sehr kritisch betrachtet.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, natürlich muss man Kohlekraftwerke kritisch betrachten!)


Ich frage mich, woher diese fast überall in Deutsch-
land zu spürende grundsätzliche Angst vor neuen Tech-
nologien, vor neuen Infrastrukturprojekten kommt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die haben wir nicht!)


Was müssen wir dagegen tun? Ausländer sprechen ja so-
gar schon von „German Angst“.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Angst“ ist immer ein deutsches Wort! So ist die Sprache!)


Ich habe vor kurzem an einer Podiumsdiskussion in
den USA zum Thema „Energiepolitik nach Fukushima“
teilgenommen. Da fragte mich ein Japaner, mit dem ich
dort saß: Michael, where was the nuclear accident, in
Germany or in Japan?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)


Diese Frage ist durchaus berechtigt: Warum ist die
Hysterie in Deutschland so groß, und haben Sie von den
Grünen nicht einen großen Anteil an dem Schüren dieser
Hysterie?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lehnen Sie den Atomausstieg jetzt ab, oder stimmen Sie zu?)


Mit Hysterie und Ablehnung von Infrastrukturprojekten
werden wir in Deutschland keine Probleme lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Gegenteil: Wir müssen gemeinsam daran arbeiten,
die Probleme in den Griff zu bekommen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie stehen Sie denn zu dem Ausstieg? – Thomas Oppermann [SPD]: Was sagen Sie denn zu dem Ausstieg?)

Richtig ist, dass wir den Ausbau der erneuerbaren
Energien fördern müssen, dass wir so schnell wie mög-
lich auf erneuerbare Energien umsteigen müssen. Das ist
aber nicht neu, Herr Oppermann. Das haben wir bereits
mit dem Gesetz vom letzten Jahr beschlossen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen haben Sie die Laufzeit verlängert!)


Wir hatten nur Skepsis – ich habe sie immer noch –, ob
die Brücke von zehn Jahren, die wir jetzt bauen, aus-
reicht. Ich hoffe, dass das der Fall ist. Sie alle sind gefor-
dert, daran mitzuarbeiten. Dass das Ganze nicht einfach
ist, weiß, glaube ich, jeder in diesem Hohen Hause. Wir
müssen gemeinsam daran arbeiten; denn es sind eine
Menge Punkte zu berücksichtigen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Wenn es schwierig wird, sind Sie die Falschen!)


Versorgungssicherheit ist einer der zentralen Punkte.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deut-
schen Bundestag, das TAB, hat festgestellt, dass ein ein-
stündiger Ausfall, ein einstündiger Blackout in Deutsch-
land 1,3 Milliarden Euro kostet. Pro Tag wären das fast
30 Milliarden Euro. Wenn das passiert, dann werden wir
alle hier anders diskutieren. Wir werden darüber nach-
denken müssen, wie wir das verhindern können. Es ist
notwendig, dass wir uns darum in Zukunft stärker küm-
mern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Bundesnetzagentur mahnt uns schon die ganze
Zeit, dass wir vorsichtig sein sollen, falls der geplante
schnelle Ausbau nicht funktionieren wird. Seit Fuku-
shima sind wir zum Stromimporteur geworden. Wir
haben vor Fukushima 98 Gigawattstunden pro Tag ex-
portiert – ich zitiere die Bundesnetzagentur – und impor-
tieren seitdem pro Tag 23 Gigawattstunden. Das kann
nicht die Zielrichtung sein. Die Bundeskanzlerin hat völ-
lig zu Recht gesagt, dass wir das nicht wollen. Wir müs-
sen Selbstversorger bleiben. Aus diesem Grunde müssen
wir so schnell wie möglich auch mehr auf fossile Kraft-
werke setzen und Verträge mit Gasproduzenten abschlie-
ßen, um in Zukunft genügend Gas zu haben.

Einen Punkt möchte ich in dem Zusammenhang er-
wähnen, der mir Sorge macht: Wir werden natürlich in
eine noch größere Abhängigkeit von Russland geraten.
Machen wir uns nichts vor: Bis jetzt kommen bereits
38 Prozent unseres Gases aus russischen Quellen. Ich
gehe davon aus – und das sagen auch die Energieversor-
ger –, dass der Anteil auf eine Größenordnung von über
40 Prozent wachsen wird, wenn wir zukünftig acht bis
zehn zusätzliche Gaskraftwerke brauchen. In dem Zu-
sammenhang sollten wir uns noch einmal sehr intensiv
mit dem Thema LNG-Terminal, vielleicht in Wilhelms-
haven, beschäftigen.


(Rainer Brüderle [FDP]: Sehr richtig!)


Das muss dann als Alternative aufgebaut werden. Auch
das ist etwas, was von vielen von Ihnen abgelehnt
wurde.





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

Beim Netzausbau haben wir mit dem NABEG die
richtigen Weichen gestellt.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung, Herr Fuchs!)


Der Netzausbau ist dringend notwendig. Denn der Strom
von der Nordsee oder von der Ostsee nützt uns gar
nichts, wenn er nicht dahin transportiert werden kann,
wo er gebraucht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Bayern zum Beispiel!)


Sie wissen genau, dass es um einen Netzausbau von
4 400 Kilometern geht. Diese 4 400 Kilometer müssen
in kürzester Zeit gebaut werden. Bundesminister Rösler
hat vollkommen recht, wenn er sagt, dass sie innerhalb
von vier Jahren gebaut werden müssen. Das heißt, dass
eine gewaltige Beschleunigung erforderlich ist. Wir
müssen circa 500, 600, 700 Kilometer pro Jahr bauen.
Auch dabei sind Sie alle gefordert. Das funktioniert nur,
wenn alle Parteien das wollen. Da kann nicht einer vor
Ort sagen: Das geht mich nichts an; die sollen die Lei-
tungen irgendwo anders hinbauen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das Ihren Leuten vor Ort!)


So machen Sie von den Grünen das ja sonst sehr gerne.
Sie verbünden sich mit Ihren Freunden von Attac,
BUND etc., den üblichen Verdächtigen,


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und verhindern den Leitungsausbau. So kann es nicht
weitergehen. Wenn wir da nicht gemeinsam vorgehen,
werden wir die Energiewende nicht schaffen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was glauben Sie, wie viele CDU-Mitglieder beim BUND sind?)


Notwendig ist auch, dass wir beim EEG aufpassen.
Ich bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar für Ihre eben
gemachte Äußerung, dass die EEG-Umlage nicht über
3,5 Cent pro Kilowattstunde steigen soll. Das muss un-
sere Richtschnur sein, auch bei den jetzt anstehenden
Verhandlungen. Denn wenn dieser Preis steigt, zahlen
das gerade die kleinen Leute, Herr Gysi. Dann zahlen
nämlich gerade diejenigen, die sich keine Solaranlage
leisten können, die sie nicht auf dem Dach haben. Das ist
eine Umverteilung von unten nach oben. Herr Kelber
profitiert; er ist der Cheflobbyist der Solarwirtschaft.
Das war schon immer so.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sind einfach ein Lügner, der unerträglich arrogant ist!)


Unsere Aufgabe ist es aber nicht, dafür zu sorgen, dass
die Solarindustrie noch mehr Geld verdient.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt keine Zeitung, die in den letzten Tagen nicht
großformatige Anzeigen vom BSW enthalten hätte. Das
zeigt, dass man anscheinend doch verdammt viel Geld
haben muss; sonst könnte man sich solche Anzeigen in
der FAZ und anderswo nicht leisten. In Prospekten von
SolarWorld – das ist im Wahlkreis von Herrn Kelber,
glaube ich – werden 10 Prozent Rendite über 20 Jahre
versprochen. – Donnerwetter, das ist wesentlich mehr,
als man bei Griechenland bekommen kann, und in die-
sem Fall ist es sicher. – Das kann nicht funktionieren.
Das muss geändert werden. Solche Renditen sind unsitt-
lich; denn sie müssen von den kleinen Leuten bezahlt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das heißt, wir werden an das EEG herangehen; denn die
Solarwirtschaft ist in der Förderung die teuerste. Wir ha-
ben heute pro Jahr insgesamt eine EEG-Förderung von
13,5 Milliarden Euro; davon entfallen 6,7 Milliarden
Euro allein auf die Solarwirtschaft. Das kann nicht rich-
tig sein; denn nur 2 Prozent des gesamten Stroms der er-
neuerbaren Energien kommen aus Solarpaneelen. Das
zeigt, dass es hier ein totales Missverhältnis gibt. Das
werden wir beim EEG korrigieren. Da müssen wir alle
gemeinsam ran; es müssen vernünftige Lösungen gefun-
den werden. Wir müssen bei Solarenergie eine Decke-
lung im EEG einführen, ansonsten wird es nicht funktio-
nieren. Sonst wird zu viel aufgebaut. Das ist nicht meine
Vorstellung.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und nicht raus aus der Atomkraft! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Wichtigste, was wir in diesem Hohen Hause zu
beachten haben, ist, dass Deutschland ein guter Arbeits-
platzstandort bleibt. Auch die energieintensive Industrie
muss in Deutschland bleiben. Wenn die abwandert, ge-
hen Wertschöpfungsketten verloren und wird das Folgen
haben, die wir so nicht wollen. Mein Deutschland ist und
bleibt ein Industrieland. Daher werde ich dafür kämpfen,
dass die Industrie überall in Deutschland preisgünstigen
Strom erhält.

Das darf nicht durch verrückte Preissteigerungen ka-
puttgemacht werden. Das können wir uns nicht leisten.
Denn wir können gerade jetzt mit Freude feststellen,
dass sich die Arbeitsmarktsituation endlich entspannt
hat. Ich darf daran erinnern: Am Ende Ihrer Regierungs-
zeit hatten Sie 5 Millionen Arbeitslose zu verzeichnen,
Frau Künast. Wir werden dieses Jahr unter 2,3 Millionen
Arbeitslose haben; das ist eine Erfolgsstory. Das darf
nicht durch eine falsche Energiepolitik kaputtgemacht
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zum Schluss den Vater des Industrie-
landes Deutschland, Ludwig Erhard, zitieren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Oje!)


Er hat gesagt:

Unser Tun dient nicht nur der Stunde, dem Tag oder
diesem Jahr. Wir haben die Pflicht, in Generationen





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

zu denken und unseren Kindern und Kindeskindern
ein festes Fundament für eine glückliche Zukunft
zu bauen.

Das werden wir mit unseren Gesetzen tun. Bitte hel-
fen Sie dabei mit, dass es funktioniert!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Kein Wort über die Fehler der Vergangenheit!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711401900

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Ulrich Kelber.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Cheflobbyist! – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Jetzt kommt der Solarlobbyist!)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1711402000

Der Kollege Fuchs muss es einfach aushalten, dass

ich mich jedes Mal, wenn er seine Lügen verbreitet, zu
Wort melde.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das hat er überhaupt nicht!)


Außerhalb des Deutschen Bundestages ist das, was
Sie machen, natürlich längst strafbewehrt. Sie haben
wieder mit einer Formulierung versucht, den Eindruck
zu erwecken, ich hätte irgendeinen wirtschaftlichen Vor-
teil von meinem Engagement für erneuerbare Energien,
für die ich mich seit 30 Jahren einsetze.

Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Fuchs, veröffentli-
che ich meine Steuererklärung auf meiner Website. Dort
kann man sehen, dass ich keinen Cent daran verdiene.
Im Gegensatz zu Ihrem Kreisverband veröffentlicht
meine Partei übrigens auch sämtliche Spenden. Aber im-
merhin gibt es ja eine durch die SPD initiierte Verpflich-
tung zur Veröffentlichung von entgeltlichen Tätigkeiten
neben dem Mandat. Bei mir finden Sie da übrigens – mit
Ausnahme des kommunalen Aufsichtsrates – null. Bei
Ihnen finde ich: Vortrag Stufe 2, Vortrag Stufe 2, Vor-
trag 1 Stufe 2, Vortrag 2 Stufe 2, Vortrag 3 Stufe 3, Auf-
sichtsrat Stufe 3, Beirat Stufe 3, usw.

Zwei kleine Vorschläge:

Erstens. Lesen Sie meine Steuererklärung, die 0 Cent
Einnahmen neben dem Mandat ausweist!

Zweitens. Schaffen Sie einfach einmal so viel Trans-
parenz wie ich! Danach können Sie den Mund hier vorne
wieder aufmachen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD], an den Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU] gewandt: Wie viel haben Sie denn da verdient pro Stunde?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711402100

Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1711402200

Verehrter Herr Kollege Kelber, erstens habe ich fast

alle Ämter in Aufsichtsräten und Beiräten schon vor
meiner Tätigkeit als Abgeordneter des Hohen Hauses in-
negehabt.


(Ulrich Kelber [SPD]: Auch die Vorträge des Jahres 2010?)


Zweitens steht es mir frei, diese Tätigkeiten weiter
auszuüben. Ich erhalte dadurch erhebliche Erkenntnisse,
die Ihnen in vieler Hinsicht fehlen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wenn Sie für einen bezahlten Vortrag 10 000 Euro kriegen!)


Drittens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass
Sie hier vielleicht auch den Rechenschaftsbericht Ihrer
Kreispartei zitieren sollten, die erheblich von Solar-
World unterstützt wird; das verschweigen Sie immer
gerne.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Er hört ja nicht einmal zu, wenn ich etwas sage! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, er hat recht! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: 70 000 Euro von SolarWorld! – Volker Kauder [CDU/CSU], an den Abg. Ulrich Kelber [SPD] gewandt: Wissen Sie, was Sie sind? Kein gescheiter Mensch! Sie sind sogar ein kleinkarierter Simpel!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711402300

Das Wort hat nun Dorothee Menzner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711402400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der

Beitrag des Kollegen Fuchs hat eben deutlich gemacht,
womit wir es hier seit Tagen und Wochen zu tun haben:
mit einer Panikmache bei den Menschen, die vor ver-
meintlichen Strompreissteigerungen, Stromausfällen und
unbezahlbaren Stromrechnungen gewarnt werden. Dabei
sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Ein
Umbau der Energieversorgung hin zur Nutzung erneuer-
barer Energien wird Mehrkosten von durchschnittlich
0,2 bis 0,5 Cent je Kilowattstunde nach sich ziehen. Wir
sagen nicht: Das kostet nichts. Aber es geht um einen
sehr überschaubaren Betrag.

Ich habe mir einmal herausgesucht, wie sich die
Stromkosten eines Dreipersonenhaushalts mit einem
Verbrauch von 3 500 Kilowattstunden in den letzten Jah-
ren entwickelt haben. 2001 kostete die Kilowattstunde
im Durchschnitt 14,3 Cent, zehn Jahre später 24,9 Cent.
Wir hatten also in den letzten Jahren einen viel stärkeren
Anstieg, der vielen Menschen Probleme macht. Kollege
Gysi hat vorhin angesprochen, dass viele Menschen in-
zwischen längst Probleme haben, ihre Rechnungen zu
zahlen. Das hat nichts mit einem Umbau des Energiesek-
tors zu tun, sondern mit Abzocke, fehlender Strompreis-





Dorothee Menzner


(A) (C)



(D)(B)

aufsicht und fehlenden sozialen Tarifen, wie es sie in
Ländern wie Belgien und Frankreich längst gibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Und es hat etwas damit zu tun, dass die großen vier
Energiekonzerne entsprechende Gewinne gemacht ha-
ben. Wir haben uns die Daten zu den drei großen deut-
schen Energiekonzernen Eon, RWE und EnBW vom
Wissenschaftlichen Dienst geben lassen: Sie haben ihre
Gewinne in den letzten Jahren von circa 10 Milliarden
Euro im Jahr auf 23 Milliarden Euro im Jahr gesteigert.
Das zahlen die Kundinnen und Kunden. Worüber? Über
die Stromrechnung; ich habe es eben erläutert.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Sauerei!)


Jetzt erleben wir, dass es nicht zum schnellstmögli-
chen Ausstieg kommt, sondern zu einem Ausstieg erst
im Jahr 2022, einem Jahr, das keiner der Wissenschaftler
und Sachverständigen vorgeschlagen hat. Die Begrün-
dung dafür, dass der Ausstieg erst 2022 erfolgen soll,
findet sich in Ihren Texten: Da sagen Sie, dass nicht nur
die Abschreibung, sondern auch die Möglichkeit, ange-
messene Gewinne zu erzielen, zu berücksichtigen ist.
Deswegen kommen Sie auf das Jahr 2022.

Man muss sich das wirklich einmal auf der Zunge
zergehen lassen: Seit Wochen und Monaten – nicht erst
seit Fukushima, sondern auch schon anlässlich der Lauf-
zeitverlängerung – demonstrieren Hunderttausende von
Menschen, die eine sehr legitime Forderung erheben: die
Forderung nach dem sofortigen Ausstieg. Sie wissen
nämlich, dass jeder Tag des Betriebs von Kernkraftwer-
ken ein weiterer Tag der Gefahr ist. Sie wissen, dass der
Block 1 in Fukushima Ende März hätte vom Netz gehen
können. Das ist einer der Blöcke, die heute mit einer
Kernschmelze zu kämpfen haben und bei denen wir bis
heute nicht wissen, wie umfänglich die Gefahren und
wie groß die Folgen sind, wie viele Tausende von Toten
und Hunderttausende von Krebskranken das nach sich
ziehen wird. Die Menschen stellen also die sehr berech-
tigte Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir hier über Daten und Jahreszahlen diskutie-
ren, dann geht es um eine Abwägung zwischen dieser
sehr berechtigten Forderung und anderen Interessen,
nämlich dem Interesse an einer sicheren Stromversor-
gung und dem an bezahlbaren Strompreisen; dabei ist zu
berücksichtigen, in welchem Zeitraum der Umbau voll-
zogen werden kann. Die Gutachten nennen Jahreszahlen
zwischen 2013 und 2017; Sie aber nennen das Jahr 2022
und feiern das als große Errungenschaft. Ich erinnere da-
ran: Da waren wir vor einem halben Jahr schon einmal.


(Beifall bei der LINKEN)


An dieser Stelle möchte ich auch nicht verschweigen,
dass mit mir damals viele den Zeitraum für den rot-grü-
nen sogenannten Atomausstieg für zu lang hielten und
als Laufzeitgarantie empfunden haben, die mit den Kon-
zernen ausgehandelt worden war.


(Beifall bei der LINKEN)

Nun nennen Sie 2022 in der Hoffnung, dass deswegen
keine Klagen eingereicht werden. Gestern haben wir
aber gehört, dass es Klagen geben wird.


(Otto Fricke [FDP]: Klagen gibt es immer! Die Frage ist, ob sie gewinnbar sind!)


Wir haben es als Drohung empfunden, dass der Eon-Ver-
treter in der gestrigen Anhörung sagte: Wir werden die
Vermögensschäden konkret beziffern und mit der Bun-
desregierung erörtern und auf Gespräche setzen, um ju-
ristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. – Sie
wollen also weiterkungeln, und sie wollen Entschädi-
gungen. Dabei wissen Koalition und Konzerne, dass
nach einem Verfassungsgerichtsurteil von 1991 eine ent-
schädigungslose Enteignung aus Gründen des Gemein-
wohls sehr wohl möglich ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711402500

Das Wort hat nun Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711402600

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe von meiner Japan-Reise, die ich im Mai unter-
nommen habe und die mich auch in die Präfektur Fuku-
shima geführt hat, die Einsicht mitgenommen, dass aus
dem GAU eine weitere Lehre zu ziehen ist. Aus vielen
Gesprächen mit Flüchtlingen, aber auch mit Verantwort-
lichen, zum Beispiel mit Bürgermeistern und dem Gou-
verneur, habe ich die Lehre gezogen, dass jedes Land der
Welt und jede Regierung mit der Bewältigung der Aus-
wirkungen eines GAUs überfordert wäre. Das gibt uns
den Auftrag, den schnellstmöglichen Ausstieg ernsthaft
anzugehen.

Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
befinden sich in einem Lernprozess. Das ist erfreulich.
Um die Rückfallgefährdung Ihrer eigenen Parteien in
Grenzen zu halten, brauchen Sie aber einen Konsens mit
denen, die das, was Sie jetzt lernen, schon immer so ge-
sehen haben, und mit denen – teilweise sind sie in Ihrer
eigenen Partei –, die das immer noch nicht so sehen wol-
len. Wir Grüne sind uns unserer Verantwortung durchaus
bewusst. Wir wollen unsere Verantwortung gerne dafür
übernehmen, dass es in dieser Gesellschaft über die Par-
teien hinaus einen breiten Konsens gibt; denn wir wissen
so gut wie Sie, dass Sie einen gesellschaftlichen Kon-
sens in dieser Frage ohne die Grünen nicht bekommen
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind uns aber auch der Verantwortung bewusst, dass
gerade wir ganz genau darauf achten müssen, dass Ihre
Vorlage zum Atomausstieg und das, was wir hinterher
beschließen sollen, die Lehren aus Fukushima tatsäch-
lich berücksichtigt. Da haben wir noch Beratungsbedarf.

Nehmen wir das Thema Sicherheit. Wo findet man
das Thema Sicherheit in Ihrem Gesetzentwurf? Um Si-
cherheit zu gewährleisten, bedarf es gar nicht viel: Neh-





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)

men Sie § 7 d Atomgesetz zurück, der die Sicherheitsan-
forderungen relativiert.


(Michael Kauch [FDP]: Erhöht!)


Dann würde wieder der Stand von Wissenschaft und
Technik gelten, den bekanntermaßen nichts toppen kann.
Auf dem Stand von Wissenschaft und Technik führen
wir dann Sicherheitsanalysen durch, für die mehr Zeit
zur Verfügung steht, als Sie der RSK gegönnt haben, und
stellen anschließend Nachrüstanforderungen. Dann ha-
ben wir für die Sicherheit etwas getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu dem von Ihnen angestrebten Ziel der Unumkehr-
barkeit. Wir wissen: Gesetze kann man ändern, auch
Meinungen können sich ändern. Wir erleben das gerade
sehr häufig, in regelmäßigem Turnus.


(Michael Kauch [FDP]: Das nennt man Demokratie!)


– Ja, man kann alles ändern. – Wenn es Ihnen aber ernst
damit ist, so nah wie möglich an das Ziel der Unumkehr-
barkeit heranzukommen, frage ich Sie: Warum schieben
Sie das Ende des Atomausstieges, von heute aus gese-
hen, in eine dritte Legislatur? Das ist ja eine längere
Frist, als in der Empfehlung der Ethik-Kommission vor-
gesehen. In dieser dritten Legislatur, nach der dritten
Bundestagswahl, stehen theoretisch noch sechs Kraft-
werke zur Abschaltung an. In diesem Zusammenhang
möchte ich Herrn Töpfer zitieren, der auf meine Frage
hin gestern sagte: Wir wollten nicht, dass der Ausstieg
2021 beginnt, sondern dass er 2021 endet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was aber vor allem fehlt, ist eine Konkretisierung Ih-
rer angekündigten Bereitschaft, sich auf eine ergebnisof-
fene Endlagersuche zu begeben. Wenn Sie sagen, Sie
wollen andere Gesteinsformationen prüfen, so ist das ein
bisschen dünn.

Die neueste Vorschrift im Gesetz dazu ist die Enteig-
nungsklausel für Gorleben, die Lex Gorleben. Ich sage
Ihnen: Das überzeugt niemanden. Wer eine Endlager-
suche ernst meint, damit beginnen und ein Gesetz dazu
erlassen will, der kommt ohne einen Baustopp in Gorle-
ben nicht aus. Niemand wird Ihnen abnehmen, dass Sie
es wirklich ernst meinen.

Darüber hinaus sage ich Ihnen: Ohne den Brandherd
dort zu befrieden, werden Sie keinen gesellschaftlichen
Konsens herstellen können. Voraussetzung für einen sol-
chen Konsens ist ein Baustopp in Gorleben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ihre Vorlage ist Ausdruck eines Lernprozesses. Ich
hoffe, dass wir in den Beratungen der nächsten Wochen
– die Zeit ist kurz genug, aber wenn man sich anstrengt,
ist es möglich – das, was Ausdruck Ihres Lernprozesses
ist, gemeinsam so verbessern, dass es den Lehren aus
Fukushima entspricht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711402700

Das Wort hat nun Bundesminister Norbert Röttgen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Alois Glück, der Präsident des Zen-
tralkomitees der deutschen Katholiken, hat heute erklärt,
die Energiewende sei die größte Herausforderung für
Deutschland und die deutsche Gesellschaft seit der Wie-
dervereinigung.

Ich füge hinzu, dass nach meiner Auffassung mit die-
sem Projekt auch die größten Chancen für unser Land
verbunden sind, die es seit langem gegeben hat. Dabei ist
die Lage nicht so, wie sie vor zehn Jahren war. Frau
Kotting-Uhl, Sie haben gerade auf Fukushima hingewie-
sen. Das war am 11. März dieses Jahres. Fukushima war
und ist – das haben wir übereinstimmend festgestellt –
eine Zäsur. Fukushima ist eine neue Menschheitserfah-
rung: die Erfahrung der Nichtbeherrschbarkeit der Kern-
energie in einem Hochtechnologieland. Eine Gesell-
schaft darf das aufnehmen, eine Gesellschaft sollte das
aufnehmen. Die Politik ist ebenfalls gut beraten, wenn
sie aus den weltweiten Erfahrungen, die in diesem Zu-
sammenhang gemacht worden sind, lernt.

Darum ist die Situation heute nicht die gleiche wie
vor zehn Jahren. Vor zehn Jahren hat es keine Einladung
an die Opposition gegeben, zu einem parteiübergreifen-
den, fraktionsübergreifenden gesellschaftlichen Konsens
zu kommen, wie sie heute zum Beispiel Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion ausgesprochen
hat.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Es hat auch nicht die Bereitschaft der Opposition gegeben! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Es hat auch keine Einladung an die Ministerpräsidenten
gegeben, in dieser Frage zu einem Konsens zu kommen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr wärt ja nicht mal gekommen!)


Heute befinden wir uns in der Konsensbildung an einer
ganz anderen Stelle als vor zehn Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist eine positive Entwicklung in Deutschland.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist glatt gelogen, und das wissen Sie!)


Vor zehn Jahren gab es auch noch nicht 17 Prozent
Anteil der erneuerbaren Energien am Strom. Dieser Pro-
zentsatz hat sich erheblich gesteigert.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir gesteigert! – Thomas Oppermann [SPD]: Das haben wir geschafft!)






Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

Die technologisch-industriellen und ökonomischen
Möglichkeiten, die wir heute haben, bedeuten eine große
Chance. Wir sollten sie gemeinsam ergreifen. Die Bot-
schaft an die Bevölkerung muss heute sein,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unverschämt! Ihr wärt doch gar nicht gekommen!)


Gemeinschaft, Gemeinsinn und damit eine große
Chance für Deutschland zu realisieren. Das muss unsere
Debatte bestimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich bin davon überzeugt, dass es um Gemeinsamkeit
und Gemeinschaft geht.


(Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Das möchte ich jetzt gern ausführen, Herr Kollege
Fell. – Das Wesen der Demokratie ist nicht Harmonie
und auch nicht, dass wir alle einer Meinung sind und im-
mer das Gleiche wollen. Zum Wesen der Demokratie ge-
hören vielmehr Kontroverse und Auseinandersetzung als
ein Funktionselement oder ein Lebenselement von De-
mokratie. Einer Demokratie tut es gut, ja es ist geradezu
notwendig für eine gute Entwicklung, dass eine Gesell-
schaft auch in der Lage ist, über Grundfragen der gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung einen
Konsens zu erreichen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711402800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Fell?

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Nein. Ich habe ja gesagt, dass ich gleich gerne darauf
zurückkomme.

Ich finde es positiv – es gehört doch zu unserer ge-
meinsamen Erfahrung –, dass wir in der Kontroverse, in
dem Kampf zwischen Kapital und Arbeit, in der sozialen
Marktwirtschaft einen Ausgleich gefunden haben. Es ge-
hört zu unseren positiven Erfahrungen, dass wir in dem
Konflikt zwischen Friedensziel und der Bereitschaft zu
militärischen Einsätzen einen Ausgleich gefunden ha-
ben. Es ist für manche sehr schmerzhaft, diesen Weg zu
gehen, aber es ist doch Ausdruck von demokratischer
Entwicklung und Reife, dass man sich selber korrigiert
und zu neuen gemeinschaftlichen Positionen kommt. In
diesen Kontext stelle ich, dass wir in Deutschland zu der
Überzeugung kommen, dass es keinen Konflikt zwi-
schen Ökonomie und Ökologie gibt, sondern dass es ein
großes Ziel ist, die Bewahrung der Lebensgrundlagen,
die Bewahrung der Schöpfung in unsere Vorstellung und
Konzeption von Wachstum, Industrie und Wirtschaft zu
integrieren. Damit erreichen wir in Deutschland ein gro-
ßes Ziel und einen wichtigen Ausgleich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wir sollten den Blick nicht zurückwenden, sondern
die Chancen für unser Land ergreifen, indem wir fragen:
Welche Möglichkeiten bietet die Situation jetzt für die
Zukunft?


(Ulrich Kelber [SPD]: Mit den gleichen Worten haben Sie die Laufzeitverlängerung begründet! Mit den gleichen Worten!)


Diese Regierung ist entschlossen, diesen Weg zu gehen.
Wir sind entschlossen, den gesellschaftlichen Konsens,
den es in Deutschland gibt, in Politik und Gesetzgebung
zu realisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Kotting-Uhl, das, was Sie gerade gesagt haben,
war, glaube ich, falsch. Sie haben eben gesagt: Die Grü-
nen entscheiden darüber, ob es Konsens in der Gesell-
schaft gibt.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: So hätten die es gerne! So sehen die sich!)


– Wir können es ja im Protokoll nachlesen. Ich habe Ih-
rer Rede zugehört.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir machen! Sie würde das nie sagen!)


Ich glaube, niemand – keine Person, kein Mitglied
des Bundestages, keine Fraktion – sollte sich zu wichtig
nehmen. Die Gesellschaft möchte diesen Konsens, und
wir als Parteien disponieren nicht darüber, ob die Gesell-
schaft Frieden, Konsens und Fortentwicklung will. Die-
ses Recht hat keine Fraktion und keine Partei. Wir jeden-
falls wollen diesem Bedürfnis entsprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Willkommen im 21. Jahrhundert! – Rolf Hempelmann [SPD]: Warum erst jetzt?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711402900

Herr Kollege, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage

der Kollegin Kotting-Uhl?

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Bitte. Ich habe sie ja angesprochen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711403000

Herr Dr. Röttgen, wir neigen nicht zu Überheblich-

keit, auch wenn dies hier oft behauptet wird.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat der Trittin gerade gezeigt in seiner Arroganz!)


Ich erlaube mir, zu zitieren – ich glaube, das kann ich
ziemlich genau –, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt,
dass wir – so gut wie wohl auch Sie – wissen, dass es in
dieser Frage ohne die Grünen keinen gesellschaftlichen
Konsens geben wird. Stimmen Sie mir da zu?





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)


(Otto Fricke [FDP]: Also doch! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Anmaßung!)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Genau so hatte ich Sie verstanden und wollte ich Sie
zitieren. In dieser Selbsteinschätzung stimme ich Ihnen
ausdrücklich nicht zu. Die Grünen entscheiden nicht da-
rüber, ob es in Deutschland einen gesellschaftlichen
Konsens gibt. Vielmehr ist der gesellschaftliche Konsens
da,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und Sie müssen sich entscheiden, ob Sie Teil des gesell-
schaftlichen Konsenses sind oder ob Sie außen vor blei-
ben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir doch längst! Sie kommen dazu! Sie sind jetzt wirklich zum Schwätzer mutiert!)


Das ist die Frage, die Ihnen Schmerzen bereitet. Darum
habe ich Verständnis für manche Rede, die Sie halten.
Für die Zerrissenheit bei Ihnen habe ich Verständnis,
über die mache ich mich auch nicht lustig, sondern die
nehme ich sehr ernst.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen sich gerade zum Hampelmann!)


Für Sie stellt sich die Frage, ob Sie jetzt Gesetzentwür-
fen, die von den Koalitionsfraktionen vorgelegt worden
sind und in denen der Ausstieg aus der Kernenergie und
der Einstieg in die erneuerbaren Energien zeitlich defi-
niert werden, zustimmen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Kontakt mit der Realität verloren!)


Die Gesetzentwürfe wurden von den Koalitionsfraktio-
nen und nicht von Ihnen eingebracht. Das ist der Punkt,
mit dem Sie sich auseinandersetzen müssen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir auch nicht, weil wir nicht die Scheiße gebaut haben im letzten Jahr!)


Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sich nicht so wichtig,
sondern stellen auch Sie sich in den Dienst der Fortent-
wicklung der Gesellschaft! Das ist Ihre Aufgabe und
Verantwortung. Werden Sie Ihrer Verantwortung ge-
recht, und verfolgen Sie nicht parteipolitische Interes-
sen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben viel erreicht. Sie müssen sich jetzt ent-
scheiden, ob Sie zustimmen oder außen vor bleiben. Wir
haben eine ethische Haltung zur Kernenergie und zur
Bewertung des Risikos der Kernenergie erreicht. Die
Bundeskanzlerin hat das ausgeführt. Sie hat die ethi-
schen Aspekte genannt, die uns zu der Entscheidung
zum Ausstieg führen, nämlich dass wir im Hochtechno-
logieland Japan erneut die Erfahrung der Nichtperfek-
tion des Menschen, der Nichtbeherrschbarkeit der Natur
und der Nichteingrenzbarkeit der Schäden gemacht ha-
ben.


(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])


Das ist eine Erfahrung, die die Menschheit gemacht
hat. Daraus ziehen wir die ethische Konsequenz, dass es
geboten ist, die wirtschaftliche Nutzung dieser Techno-
logie zu beenden. Schon allein deshalb, weil wir eine
bessere Alternative haben, ist die Beendigung richtig
und ethisch fundiert. In dieser Frage besteht ein ethi-
scher Konsens.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben daraus allerdings auch eine Konsequenz in
anderer Richtung gezogen – auch dies ist ein Unter-
schied zur Situation vor zehn Jahren –: Die rot-grüne
Ausstiegskonstruktion sah eine nicht befristete, eine
zeitlich nicht bestimmte Übertragung von Strommengen
vor. Nach dem Gesetz von 2002, dem Ausstiegsgesetz
von damals, wäre es ganz sicher nicht zur Beendigung
der Nutzung der Kernenergie bis zum Jahre 2022 ge-
kommen. Vielmehr wäre die Kernenergie bis weit in die
Mitte des nächsten Jahrzehnts genutzt worden.

Der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, bietet
durch die vorgesehene zeitliche Staffelung die Chance,
Klarheit zu schaffen. Für die Gesellschaft, aber auch für
die Investoren wird Klarheit bestehen, wohin die Investi-
tionen jetzt fließen müssen, wenn man eine Rendite er-
zielen will. Das ist ein wesentlicher Vorzug dieses Ge-
setzentwurfes und eine wesentliche Veränderung im
Vergleich zu der Gesetzeslage, die Sie hier beschlossen
haben. Nehmen Sie das zur Kenntnis.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist auch nicht Hysterie und nicht Panik, sondern eine
rationale, eine ethische Bewertung, die auch von der gro-
ßen Mehrheit der Gesellschaft so vorgenommen wird.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das wurde auch vorher schon so gesehen!)


Dass Gesetzgebung, Politik und Parlament dies aufneh-
men, ist positiv.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711403100

Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage

der Kollegin Hendricks?

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Nein.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Feigling! – Gegenruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU]: Na, na! Das ist aber gar nicht nett, Frau Hendricks! – Weitere Gegenrufe von der CDU/CSU: Oh! – Unverschämtheit! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Als ob man vor Ihnen Angst haben müsste, Frau Hendricks! Ha, ha, Bundesminister Dr. Norbert Röttgen ha! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)





(A) (C)


(D)(B)


Ich möchte den zweiten Konsens, den wir erreicht ha-
ben, darstellen. Die Energiefrage betraf in Deutschland
immer den Kern von Industrie. Darum ist die Frage einer
neuen Energiepolitik auch eine Frage der wirtschaft-
lichen Modernisierung unseres Landes. Wir wollen näm-
lich Industrieland bleiben, und wir werden Industrieland
bleiben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Dank der Anti-AKW-Bewegung!)


Wir wollen wirtschaftliches Wachstum, und wir werden
es erzielen. Durch die neue Energiepolitik wollen wir
das wirtschaftliche Wachstum nicht begrenzen und die
Industrie nicht einschränken. Vielmehr geht es um wirt-
schaftliche Modernisierung und technologische Innova-
tion, die unserem Land guttun werden, auch bei der Ent-
wicklung der Industrie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Manche sagen: Ihr müsst investieren; das kostet doch
Geld. – Ja, klar. Glauben wir denn, dass wir als führen-
des Industrieland in einem Billigwettbewerb bestehen
könnten? Glauben wir denn, dass wir unsere Technolo-
gieführerschaft und unsere wirtschaftliche Spitzenstel-
lung dadurch behalten, dass wir nicht in Infrastruktur,
Energieerzeugung und Industrie investieren? Nein, diese
neue Energiepolitik ist ein Investitionsprogramm, sie ist
ein Modernisierungsprogramm, und sie ist ein Innova-
tionsprogramm. Sie leistet einen Beitrag dazu, dass wir
ein führendes Industrieland bleiben werden. Darum ist
die Frage „Kostet der Strom dann 0,3 Cent oder 0,8 Cent
pro Kilowattstunde mehr?“ falsch.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie doch schon letztes Jahr sagen können, Mensch! Sie Schläfer!)


Die Kosten werden beherrschbar sein. Das sind Investi-
tionskosten zum Nutzen unseres Landes. – Das ist der
Konsens, den wir erreicht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und was bedeutet das für den Verbraucher?)


Wir müssen dafür eine weitere Veränderung vorneh-
men, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz betrifft. Sei-
nen Ursprung hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz üb-
rigens im Stromeinspeisungsgesetz, das 1991 in Kraft
getreten ist; bei diesem Thema sollte man also etwas
weiter in die Vergangenheit blicken. Das Stromeinspei-
sungsgesetz wie auch jetzt das Erneuerbare-Energien-
Gesetz sind im Wesentlichen – bislang war das auch
richtig – ein Fördergesetz bzw. ein Subventionsgesetz,
um Technologien, die noch nicht wettbewerbsfähig sind,
in den Markt zu bringen.

Wir haben es geschafft, den Anteil erneuerbarer Ener-
gien an der gesamten Stromproduktion auf 17 Prozent
im Jahr 2010 zu erhöhen. Im Laufe von gut zehn Jahren
kam es zu einer Vervielfachung des Anteils erneuerbarer
Energien. Jetzt wollen wir eine weitere Verdopplung
oder sogar eine Verdreifachung erreichen. Der Anteil der
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung soll sich
bis 2050 auf 80 Prozent erhöhen. Die Grundversorgung
mit Strom soll dann durch den Einsatz erneuerbarer
Energien gewährleistet werden. Das kann man aber nicht
mehr auf der Basis eines Subventionsgesetzes leisten.
Daher muss sich der Charakter des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes verändern: von einem Subventionsgesetz
zu einem Marktordnungsgesetz. Wir wollen diese Tech-
nologien in den Markt führen. Dort sollen und werden
sie sich bewähren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch dies ist ein Unterschied zu früher: Wir setzen
nicht auf planwirtschaftliche Steuerung, sondern auf
marktwirtschaftliche Instrumente und Ordnung. Wir
glauben, beides miteinander verbinden zu können: eine
ökologische Ausrichtung in der sozialen Marktwirt-
schaft. Das ist jedenfalls unsere konkrete Vision. Ich
glaube, dies wird auch von der Bevölkerung gewollt.

Dritter Punkt. Was bedeutet das im Hinblick auf
Wachstum? Es wird gesagt: Das ist ein Sonderweg; un-
sere Nachbarn sind irritiert. – Selbstverständlich be-
obachten unsere Nachbarn, was in Deutschland passiert.
Sie fragen sich: Ist das richtig? Muss uns das besorgen?
Inwiefern sind wir davon betroffen?

Ich glaube, zum Konsens in unserer Gesellschaft ge-
hört, dass wir Wachstum anders verstehen müssen. Zwei
Missverständnisse, zwei historische Fehlverständnisse
von Wachstum dürfen wir nicht beibehalten.

Das eine ist aus meiner Sicht der postmaterialistische
Irrtum, wir könnten und sollten auf Wachstum verzich-
ten, um die Natur zu schützen. Wir werden ohne Wachs-
tum keine erfolgreiche solidarische Gesellschaft sein
und bleiben. Darum gehört das Wachstumsbekenntnis in
diese Debatte. Wir sind eine Gesellschaft, die nur auf-
rechtzuerhalten ist, wenn es Wachstum gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zum anderen geht es darum, die Grenzen der Natur in
unsere Vorstellung und unsere Konzeption von Wachs-
tum zu integrieren. Wachstum darf nicht mehr, wie es
seit der Industriealisierung der Fall war, durch den Ver-
brauch und die Zerstörung von Natur, durch Ressourcen-
verbrauch und CO2-Emissionen entstehen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie uns sagen!)


Die neue Vorstellung von Wachstum besteht darin, dass
wir die technologische Entwicklung, wie es sie beispiel-
haft in der Energieversorgung gibt, in unsere Industrie-
und Wachstumspolitik integrieren. Es ist nicht mehr der-
jenige der Gewinner, der am meisten Ressourcen ver-
braucht. Wir gewinnen den Wettbewerb um mehr Wohl-
stand und mehr Gerechtigkeit in unserer Zeit nur dann,
wenn wir mit immer weniger Verbrauch von Natur und
Ressourcen immer mehr produzieren. Das ist unser Ziel.
Darin besteht der Wettbewerb unserer Zeit, und wir wol-
len diesen Wettbewerb gewinnen.





Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Neu ist schließlich die Chance auf einen Konsens.
Wir brauchen diesen Konsens, weil es eine nationale
Pioniertat ist, für die wir alle brauchen: die Wissen-
schaft, die Wirtschaft, die Mittelständler, die großen Un-
ternehmen, die Kommunen, die Länder, den Bund und
auch die Bürger, die mitmachen, die sich in Energiege-
nossenschaften zusammenschließen und Energieerzeu-
ger werden, die nicht nur passive Verbraucher sind, son-
dern über intelligente Systeme und Zähler selber
bestimmen können, wann sie welchen Strom verbrau-
chen.

Ein Teil dieses Konsenses ist der Konsens über die si-
chere dauerhafte Lagerung von hochradioaktiven Abfäl-
len. Auch hier gibt es eine Veränderung hinsichtlich der
Wahrnehmung nationaler Verantwortung, und ich
glaube, das sollten wir sehr positiv würdigen. Aber auch
an dieser Stelle muss Klarheit herrschen. Die Augen zu
verschließen und nicht zu untersuchen, führt nicht zum
Ziel. Wir haben diese radioaktiven Abfälle. Es ist in un-
serer Verantwortung, sie dauerhaft sicher zu lagern. Da-
rum ist es falsch, zu sagen: Wir machen ein Moratorium
und beschäftigen uns nicht mit dieser Frage. – Natürlich
muss die Eignung des Standorts Gorleben unter Beteili-
gung der Öffentlichkeit ergebnisoffen – ich betone und
unterstreiche das: ergebnisoffen – geprüft werden.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist alles falsch! Das wissen Sie doch!)


Es müssen aber – über Gorleben hinaus – auch andere
Optionen der Endlagerung, andere geologische Forma-
tionen untersucht werden. Auch das ist eine neue Ent-
wicklung hin zum Konsens in dieser Gesellschaft.

Ich sage darum heute auch an die Bevölkerung ge-
richtet: Das ist eine veränderte Situation. Hier entsteht
ein gemeinschaftlicher Wille, und ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass das zum Nutzen unseres Landes ist. Der
Erfolg, den wir haben werden, wird über unser Land hi-
nausstrahlen, ein positiver Beitrag sein und ein Beispiel
dafür geben, dass es in einem Hochtechnologieland, im
Industrieland Deutschland möglich ist, die Bewahrung
der Lebensgrundlage und der Schöpfung mit einer klaren
Wachstums- und Industriepolitik zu verbinden. Das ist
eine große Chance. Wir sollten sie gemeinschaftlich er-
greifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711403200

Das Wort zu zwei Kurzinterventionen erteile ich zu-

nächst Hans-Josef Fell und dann Bärbel Höhn.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711403300

Herr Minister Röttgen, Sie haben gerade gesagt, die

erfolgreiche Entwicklung der erneuerbaren Energien
müssten wir gemeinsam weiterführen. Sinngemäß haben
Sie gesagt, es gebe dafür in der Bevölkerung eine große
Akzeptanz und auch Innovations- und Investitionsbereit-
schaft. Ich kann diese Worte nur unterstreichen; ich halte
das für richtig. Ich frage Sie aber: Warum haben Sie ei-
nen Gesetzentwurf zur Novellierung des EEG vorgelegt,
mit dem exakt das Gegenteil bewirkt wird?

Wir hatten gestern im Umweltausschuss des Deut-
schen Bundestages eine vierstündige Anhörung zur ge-
planten Reform des EEG. Die Verbändevertreter haben
diesen Gesetzentwurf aufgrund vieler Details schlicht-
weg zerrissen und ihn als klare Bremse für den Ausbau
der erneuerbaren Energien bezeichnet.

Der Bundesverband WindEnergie hat beispielsweise
gesagt, dass es wegen der von Ihnen angekündigten Ver-
schlechterungen bei der Onshorewindvergütung schon
jetzt eine Investitionszurückhaltung in den südlichen
Bundesländern gibt. Der Vorsitzende des Bundesverban-
des BioEnergie, Herr Lamp, ein ehemaliger CDU-Kol-
lege dieses Hohen Hauses, hat gesagt: Wenn das, was an
Vorstellungen zur Bioenergie in diesem Gesetzentwurf
enthalten ist, Realität wird, werden wir die Bioenergie in
wenigen Jahren nicht mehr wiedererkennen. Er hat De-
tails genannt und kopfschüttelnd gefragt, warum die Ver-
gütung für Bioöle völlig abgeschafft wird. Zu einem
Zeitpunkt, wo wir eine Nachhaltigkeitsverordnung auf
den Weg gebracht haben, kann das doch nicht der Weg
zu einem Ausbau der erneuerbaren Energien sein.

Die Solarenergiebranche hat gesagt, sie verstehe die
Welt nicht mehr. Sie will große Investitionen beispiels-
weise in Freiflächenanlagen tätigen, um mehr Netzstabi-
lität, Netzintegration und Speicherfähigkeit zu erreichen.
Sie hat aber angesichts des Gesetzentwurfs, in dem die
Ackerflächen nicht mehr berücksichtigt werden, keine
Chance, in diese Bereiche zu investieren.

Das alles ist eine Folge der Rahmenbedingungen, die
Sie schaffen wollen. Die Deckelung des Anteils erneuer-
barer Energie auf 35 Prozent bis zum Jahr 2020 stellt
keinen beschleunigten Ausbau dar. Frau Merkel hat es in
ihrer Rede noch einmal betont: Sie wollen über die De-
ckelung der EEG-Umlage auf 3,5 Cent eine Gesamt-
deckelung für den Ausbau erneuerbarer Energien errei-
chen. Herr Fuchs hat hier mit ganz klaren Worten gesagt,
die Solarenergie solle gedeckelt werden. Wie soll denn
ein Ausbau erneuerbarer Energie noch möglich sein,
wenn Sie im Detail solche Hemmnisse einbauen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Es wird keinen Ausbau geben, wenn erfolgen wird, was
Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen.

Ich fordere Sie daher auf: Ziehen Sie diesen Gesetz-
entwurf zurück, und treten Sie in Verhandlungen mit der
Branche ein! So haben wir eine Chance, den Ausbau der
erneuerbaren Energien, der gesamtgesellschaftlich ge-
wünscht wird, auch wirklich voranzutreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711403400

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Die

drei Minuten für die Kurzintervention sind abgelaufen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin am Schluss!)


– Dann hat jetzt Kollegin Bärbel Höhn das Wort und an-
schließend Barbara Hendricks, die sich ebenfalls zu ei-
ner Kurzintervention gemeldet hat. Danach gibt es keine
weiteren Kurzinterventionen zu dieser Rede.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711403500

Herr Präsident, ich brauche keine Redezeit von drei

Minuten. – Herr Minister Röttgen, Sie haben eben darauf
hingewiesen, dass es jetzt an der Zeit ist, miteinander zu
verhandeln, und dass Sie einen gesellschaftlichen Kon-
sens wollen. Wir wollen mit Ihnen verhandeln. Ich
möchte darum bitten – dazu werde ich Ihr Büro anrufen –,
dass wir einen Termin vereinbaren. In diesem Zusam-
menhang möchte ich gerne wissen: Wer hat Prokura?
Sollen wir mit Herrn Kauder, mit Ihnen oder mit der
Kanzlerin reden?

Wir haben eben gefragt, ob es in Gorleben einen Bau-
stopp gibt. Wir sind der Meinung, dass es keine ergebnis-
offene Suche geben kann, wenn Sie Fakten schaffen. Wir
wollen auch gerne wissen, was Sie zur Sicherheit sagen.
Vor einem halben Jahr haben Sie gesagt, Sie seien der
Minister für Sicherheit. Nach Fukushima sehen wir aber
keinerlei zusätzliche Sicherheitsanstrengungen bei den
Atomkraftwerken. Ich werde also mit einem Termin-
wunsch auf Sie zukommen. Ich erwarte, dass wir einen
Termin vereinbaren und dass wir Grüne mit Ihnen über
die uns wichtigen Punkte des Gesetzentwurfs reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711403600

Nun hat Barbara Hendricks das Wort zu einer letzten

Kurzintervention.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1711403700

Herr Minister, Sie haben durchaus versucht, Ihre in-

haltliche Neupositionierung argumentativ zu überhöhen.
In dem Zusammenhang haben Sie zum Beispiel gesagt,
es sei eine neue ethische Erkenntnis, dass der Mensch
nicht unfehlbar und die Technik deswegen nicht immer
beherrschbar sei. Ich habe einmal nachgeschaut und he-
rausgefunden, dass Sie derselben christlichen Kirche an-
gehören wie ich. Ich kann mir schlechterdings nicht vor-
stellen, dass es für einen Christen eine neue ethische
Erkenntnis ist, dass der Mensch nicht unfehlbar sei und
dass die vom Menschen erschaffene Technik nicht im-
mer beherrschbar sei.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711403800

Herr Minister, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Herr Kollege Fell, es ist ja der erste Versuch, gemein-
sam zu einem Ergebnis zu kommen. Sie stellen aber Be-
hauptungen auf, die sachlich falsch sind.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten gestern mal zur Anhörung kommen sollen!)


– Ich rede von dem Gesetzentwurf, den Sie kritisiert ha-
ben, und zwar im Tonfall der Empörung. Ich frage mich
immer, was die wahren Gründe dafür sind.

Sie haben gesagt, es gebe beim Ausbau der erneuer-
baren Energien eine Deckelung auf 35 Prozent. Das ist
Unsinn; das steht nicht im Gesetzentwurf, das schlagen
wir nicht vor. An dieser Stelle können Sie Ihre Empö-
rung ein Stück zurückschrauben. Es gibt keine 35-Pro-
zent-Deckelung, sondern diese 35 Prozent sind eine
Mindestgröße. Wir glauben, dass wir vielleicht sogar
noch mehr erreichen können. Aber unsere Aufgabe ist
es, innerhalb von neun Jahren mehr als eine Verdoppe-
lung des bisherigen Anteils auf mindestens 35 Prozent
zu erreichen. Das ist ein anspruchsvolles Ziel. Wenn wir
von 40 Prozent gesprochen hätten, hätten Sie wahr-
scheinlich erklärt, 40 Prozent seien zu wenig, es müssten
mindestens 45 Prozent sein. Insofern müssen Sie sich
selber einmal fragen, ob Sie noch realistische Ziele ver-
folgen und realistische Oppositionspolitik machen. Es ist
ein Mindestziel, keine Deckelung.

Genauso gibt es bei der EEG-Umlage keine Decke-
lung auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde. Allerdings wollen
wir das EEG so ausgestalten, dass wir diese Größenord-
nung halten und langfristig absenken können; denn diese
bezahlen die Verbraucher. Es klingt schön, wenn in den
Reden immer mehr gefordert wird, aber diese Rechnung
wird ohne den Wirt gemacht. Der Wirt ist der ganz nor-
male Bürger und die ganz normale Bürgerin in Deutsch-
land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Damit bin ich bei Ihrer Anhörung. Ich rede mit den
Verbänden und respektiere sie, weil sie die Vertreter der
Interessen von Unternehmen sind. Sie sind keine Träger
von Allgemeinwohlbelangen, sondern sie sind Vertreter
wirtschaftlicher Interessen,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


die sich dafür einsetzen, dass die Subventionen für ihre
Unternehmen möglichst hoch sind, um das einmal klar
zu sagen. Sie sollten zu diesen Vertretern wirtschaftli-
cher Interessen die gleiche Distanz haben, die Sie zu an-
deren Vertretern wirtschaftlicher Interessen haben, nicht
weil sie etwas Illegitimes tun, sondern weil sie legitim
ihre ureigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen,
und je höher die Subventionen sind, desto erfolgreicher
war der Verband. Auf diese Verbände haben Sie sich ge-
rade bezogen. Ein bisschen Distanz zu ihnen ist schon
angemessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich kenne das. Subventionen zu senken, ist schmerz-
haft. Stellen Sie sich ein Gesetz mit garantierten Subven-
tionen vor, die immer höher werden sollen, und in die-
sem Gesetz soll festgeschrieben werden, dass die
Kilowattstunde bezahlt wird, unabhängig davon, ob die-





Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

sen Strom irgendein Mensch braucht. So kann es nicht
bleiben. Wir müssen diese Subventionsabhängigkeit zu
einer Marktintegration dieser Branchen umlenken. Auch
diese Branchen müssen sich daran orientieren, ob man
das Produkt, das sie herstellen, braucht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ansonsten werden wir das nicht schaffen. Das ist doch
kein böser Wille. Wie soll denn eine Versorgung von
50 oder 80 Prozent mit erneuerbaren Energien gelingen,
wenn Strom unabhängig davon produziert wird, ob ihn
irgendein Mensch braucht? Wir müssen auch in diesen
Bereich ein bisschen Nachfrageorientierung und Markt
hineinbringen, sonst werden wir scheitern. Mit gutem
Willen allein kann man keine Energieversorgung errei-
chen, Herr Kollege.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das war das, worauf ich kurz hinweisen wollte. Wenn
man all das einmal nüchtern und sachlich betrachtet,
dann stellt man fest, was da an positiven Veränderungen
stattfindet. Ich wollte die Erfahrungen, die wir gemacht
haben, gerne noch mitteilen. Ihre Reden habe ich persön-
lich nicht alle nachgelesen. Ich habe vorher nicht histo-
risch recherchiert, sondern habe heute in meiner Rede
nach vorne gesehen. Aber vielleicht lesen Sie einmal
Ihre Reden nach, als es um die erste Reduzierung der
Photovoltaikvergütung ging, die wir eingebracht und be-
schlossen haben. Sie haben damals den Tod der Branche
vorausgesagt. Sie sagten, ich sei der Totengräber, die Re-
duzierung sei so falsch, wie sie nicht falscher sein könne,
und auch die Branche sei dagegen. Was haben wir er-
lebt? Ein munteres und lebendiges Wachstum dieser
Branche, sodass wir im zweiten Anlauf eine nochmalige
Senkung der Vergütung vorgenommen haben, und zwar
im Konsens mit der Branche. Diese Branche hat gelernt,
dass es auf Dauer auch für sie keine Perspektive ist, nur
mit immer höheren Subventionen zu wirtschaften. Sie
hat gelernt, alleine erfolgreich zu sein. Ich empfehle die-
ses Lernbeispiel auch allen anderen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Frau Höhn, wir können gerne einen Termin vereinba-
ren. Herr Brüderle hat sich schon gemeldet; er möchte
zum Gespräch hinzukommen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Hat er Prokura? – Rainer Brüderle [FDP]: Mein Nachfolger!)


– Gut, wer auch immer. – Es geht aber nicht darum, dass
wir jetzt verhandeln. Wir befinden uns in einer parla-
mentarischen Beratung. Es hat eine Anhörung statt-
gefunden. Es gibt selbstverständlich die Offenheit, auf
vernünftige Anregungen einzugehen, miteinander zu
diskutieren, um zu einem gemeinschaftlich guten Ergeb-
nis zu kommen. Wir sind aber doch keine Verhandlungs-
parteien, die sich gegenüberstehen. Vielleicht versuchen
Sie einmal, sich dem Gedanken zu öffnen, dass es hier
darum geht, ein nationales Werk zu schaffen, von dem
alle profitieren. Wir sollten uns in den Dienst der natio-
nalen Sache stellen. Das wäre doch einmal ein Ansatz,
an ein solches Thema heranzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Frau Hendricks, es ging doch nicht um die neue an-
thropologische Erkenntnis der Beherrschbarkeit bzw.
Nichtbeherrschbarkeit der Natur und der Begrenztheit
auch des Menschen. Ich habe die Positionierung des da-
maligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,
Kardinal Höffner, aus dem Jahr 1980 nachverfolgt. Er
hat aus dem Spannungsfeld zwischen einerseits dem mi-
nimalen bzw. klitzekleinen Risiko der Eintrittswahr-
scheinlichkeit und andererseits der Nichtbegrenzbarkeit
der Schäden heraus für sich damals die Position bezo-
gen: Weil die Schäden so immens und nicht begrenzbar
sind und weil sie sich über Generationen fortsetzen, ver-
lange ich absolute Sicherheit. Die gibt es – naturwissen-
schaftlich und anthropologisch – nicht. Darum gab es
vor 30 Jahren die ethische Positionierung von Kardinal
Höffner und übrigens – auch damals schon – der Deut-
schen Bischofskonferenz gegen die wirtschaftliche Nut-
zung der Kernenergie. Aber Kardinal Höffner hat nie-
mals gesagt: Das kann man gar nicht anders sehen.
Vielmehr geht es darum, wie eine Gesellschaft mit Risi-
ken umgeht, welche sie bereit ist hinzunehmen und in
Bezug auf welche sie sich zutraut, zu sagen: Das können
wir beherrschen. Weil wir alles tun, sind wir in der Lage,
mit dieser Technologie umzugehen. – Das ist übrigens
eine der Grundfragen moderner Gesellschaften bzw. Ri-
sikogesellschaften. Dabei geht es um eine der ernstesten
Diskussionen unserer Zeit. Darum sind Sie, glaube ich,
etwas oberflächlich mit dieser Frage umgegangen, Frau
Kollegin.

Ich glaube, dass die Frage der ethischen Verantwor-
tung in der Risikogesellschaft eine der Grundfragen auch
zukünftiger technologischer Entwicklung sein wird. Üb-
rigens sind auch die erneuerbaren Energien nicht nur
gut; auch sie führen zu Eingriffen und Belastungen, auch
da gibt es Konflikte. Das wird eine uns immer beglei-
tende Frage sein, nämlich die ganz konkrete Bestim-
mung des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfung.
Diese ganz konkrete Bestimmung haben wir hier an ei-
ner Stelle vorgenommen. Ich glaube, dass sie richtig ist
und auch in der Gesellschaft mit vollzogen wird.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711403900

Das Wort in der Debatte hat nun Rolf Hempelmann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1711404000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

In der Debatte, die jetzt für einige Zeit unterbrochen war,
haben Sie – da muss man, glaube ich, den Rednern der
Regierungskoalition ein Kompliment machen – ein un-
glaubliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Wenn man
bedenkt, dass Sie heute, zum Beispiel Herr Röttgen, den





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

Atomausstieg teilweise mit den gleichen Worten begrün-
det haben wie vor einem halben Jahr die Laufzeitverlän-
gerung – also das komplette Gegenteil –, kann man nur
sagen: bewundernswert, ganz toll. Nachdem Sie den
Karren sozusagen vor die Wand gefahren haben, bege-
hen Sie außerdem Fahrerflucht und zeigen auf alle ande-
ren, die es gewesen sein sollen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie sind diejenigen, die meinen, uns jetzt daran erinnern
zu müssen, dass zum Ausstieg aus der Kernenergie auch
der Einstieg in etwas Neues gehört. Meine Damen und
Herren, das ist Chuzpe.

Ich will Sie daran erinnern, dass wir es mit unserer
Gesetzgebung waren, die dafür gesorgt haben, dass aus
5 Prozent erneuerbare Energien im Strombereich
17 Prozent geworden sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist nicht von allein geschehen. Wir haben mit dem
Atomausstieg und durch das Erneuerbare-Energien-Ge-
setz die Rahmenbedingungen gesetzt, die diese Investi-
tionen überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir wa-
ren es, die das, was Sie jetzt als Forderungsliste
aufgestellt haben, schon längst begonnen hatten. Ihre
Forderungsliste – damit spreche ich beispielsweise Frau
Hasselfeldt an – ist im Grunde genommen Ihre Blocka-
deliste. Ich kann das im Einzelnen aufführen.

Sie sagen, Sie sorgen jetzt dafür, dass endlich auch in
Effizienz investiert wird. Sie haben Fortschritte bei der
effizientesten Form der Energieumwandlung, der Kraft-
Wärme-Kopplung, verhindert.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben in Ihrer jüngsten Regierungszeit die Kraft-
Wärme-Kopplung sogar noch mit zusätzlichen Auflagen
erschwert.

Sie haben auf der Nachfrageseite, also da, wo Ener-
gieeffizienz sozusagen beim Kunden beginnen soll,
schon in der schwarz-roten Koalition alle unsere Ansätze
blockiert, die – das propagieren Sie heute – etwa über ei-
nen Energieeffizienzfonds Haushalte beim effizienteren
Umgang mit Energie unterstützt hätten.

Sie haben die Industrie in den letzten anderthalb Jah-
ren nicht etwa unterstützt, wie Sie das heute gefordert
haben, sondern ihr zusätzliche Kosten auferlegt. Sie ha-
ben für die Industrie die Ökosteuer erhöht, wenn auch
nicht in dem Umfang, wie es die Regierung zunächst
vorgeschlagen hatte. Jetzt tun Sie so, als seien Sie der
Erfinder einer industriefreundlichen Politik, in der Er-
kenntnis, dass wir nur durch das Vorhandensein einer
vernetzten Industrie besser aus der Krise herausgekom-
men sind als viele andere.

Sie haben, um beim Thema Energieeffizienz zu blei-
ben, das erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm
zusammengestrichen.

Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in Sachen Ener-
giewende Nachhilfeunterricht nötig und müssten nicht
nur lernen, wie man aussteigt, sondern auch umsteigt,
dann sagen wir Ihnen: Wir waren schon lange auf dem
Weg und hätten schon sehr viel weiter sein können. Sie
haben das auch schon in Zeiten unserer schwarz-roten
Koalition blockiert.


(Beifall bei der SPD)


Ich könnte die Aufzählung fortsetzen, wie Sie bei-
spielsweise beim Netzausbau neue Technologien blo-
ckiert und beim Speicherausbau notwendige Anreize
verhindert haben oder wie Sie – das haben Sie heute als
besondere Errungenschaft propagiert – in der letzten
Legislaturperiode verhindert haben, dass wir mit der Sys-
temintegration der erneuerbaren Energien vorankom-
men. Dazu hatten wir schon Vorschläge vorgelegt. Jetzt
bewegen Sie sich. Aber die Marktprämie greift zu kurz;
das hat die Anhörung gestern gezeigt. Wir brauchen an-
dere Instrumente. Ich hoffe, dass wir mit Ihnen gemein-
sam zu Lösungen kommen.

Heute war viel von Konsens die Rede. Bei den meis-
ten Rednern hat aber der Stil der Rede nicht wirklich in
Richtung Konsens gezeigt. Ich will eines klarstellen:
Eben wurde gesagt, die Opposition sei im Jahr 2000
nicht eingeladen gewesen, sich an einem Energiekonsens
zu beteiligen. Die Opposition hat sich damals Gesprä-
chen verweigert. Sie war nicht an einem Konsens inte-
ressiert, der auf dem Atomausstieg aufbaut.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt haben wir eine völlig andere Situation. Für eine
Regierung ist es leicht, der Opposition Konsensgesprä-
che anzubieten. Aber die Lage hat sich doch völlig um-
gekehrt. Erstens sind wir, die Opposition, zuerst auf Sie
zugegangen und haben Ihnen angeboten, Konsensge-
spräche zu führen. Zweitens sind Sie doch darauf ange-
wiesen, mit uns zusammenzukommen. Denn – es ist
richtig, was hier gesagt worden ist, aber man darf es
nicht auf eine Fraktion beschränken – es ist wichtig, dass
wir als Politiker in dieser Frage mit einer Stimme spre-
chen. Ohne einen politischen Konsens wird ein gesell-
schaftlicher Konsens unglaublich schwierig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dabei geht es nicht nur um die Ausstiegsfrage und das
Tempo des Ausstiegs, sondern auch um die Frage, wie
wir Versorgungssicherheit schaffen wollen. Wie halten
wir es beispielsweise mit dem konventionellen Kraft-
werkspark? Wie wollen wir es mit der Industrie halten?
Was sind wir bereit für sie zu tun?

Frank-Walter Steinmeier hat heute einiges zu diesem
Thema gesagt, und ich glaube, es ist ein zentrales
Thema. Wenn wir die Wertschöpfungskette in Deutsch-
land verlieren, dann verlieren wir die Basis für unsere
Volkswirtschaft, und dann können wir uns alle hehren
Ziele auch im sonstigen energiepolitischen Bereich in
die Haare schmieren. Deswegen müssen wir sehr genau
darauf achten, was wir für die energieintensiven Unter-
nehmen tun können. Dazu liegen Vorschläge vor, einige
davon seit langem. Bisher ist aber nichts passiert.





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

Nehmen wir das Thema „abschaltbare Lasten“. Viele
dieser Unternehmen können abgeschaltet werden. Das
ist ein hoher Wert, gerade wenn volatile Einspeisung zu-
nimmt und wenn der Netzausbau noch nicht vollendet
ist. Das muss ausreichend honoriert werden. Die Kom-
pensation der CO2-Lasten ist genannt worden. Ich sage
noch ein Weiteres: Diese Unternehmen sind Grundlast-
stromabnehmer. Sie bekommen ihren Strom aus Grund-
lastkraftwerken, bezahlen aber nach der Merit Order
praktisch einen Gas-Strompreis. Das ist nicht in Ord-
nung. Das muss man angehen, und auch dazu liegen Vor-
schläge auf dem Tisch.

Ich bitte Sie herzlich, mit diesen Vorschlägen kon-
struktiv umzugehen. Wir brauchen Lösungen. Wir sind
daran interessiert, mit Ihnen gemeinsam Lösungen zu
finden, die über Wahldaten hinaus halten. Das muss un-
ser gemeinsames Ziel sein, allein schon deshalb, weil Sie
nur so die Akzeptanz für Infrastrukturinvestitionen in
diesem Land bekommen. Wenn wir das nicht schaffen
und am Ende weiter über Energiepolitik streiten, dann
wird sich der Streit in der Bevölkerung fortsetzen, und
dann werden Sie niemanden überzeugen können, vor Ort
Investitionen zuzulassen, die er eigentlich nicht haben
möchte. Also: Bitte keine Worthülsen, sondern ehrliches
Bemühen um einen parteiübergreifenden Konsens! Neh-
men Sie die Angebote zu Gesprächen an! Ob Sie diese
Gespräche dann Verhandlungen oder Beratungen nen-
nen, ist egal; aber sorgen Sie dafür, dass es möglich ist,
ausreichend und intensiv genug über einen möglichen
Konsens zu reden. Dann wird man am Ende vielleicht an
der einen oder anderen Stelle ein Auge zudrücken. Das
wird wahrscheinlich jeder müssen. Aber Sie sind es, die
ein vernünftiges Angebot machen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711404100

Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1711404200

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Wenn es auf dieser Seite des Hauses
auch nur annähernd so viel Sinn für Klamauk und thea-
tralische Auftritte gäbe wie auf jener Seite des Hauses,
hätte ich eigentlich barfuß ans Rednerpult treten müssen;
denn nach der Rede von Herrn Steinmeier hat es mir
nicht nur die Schuhe, sondern auch die Socken ausgezo-
gen.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will auch gerne sagen, warum. Wer mit so viel fal-
schem Pathos und Unaufrichtigkeit seine vergangene,
übrigens inzwischen abgewählte, Politik im Nachhinein
zu verklären versucht, der lebt nicht im Hier und Heute
und im Morgen, sondern in der Vergangenheit. Das ist,
glaube ich, das Grundproblem der Sozialdemokraten in
diesen Tagen, nicht nur bei diesem Thema. Sie leben in
der Vergangenheit. Kommen Sie mit! Machen Sie mit
bei der Gestaltung der Zukunft!


(Rolf Hempelmann [SPD]: Haben Sie überhaupt unser Energieprogramm gelesen?)


Wie schrieb doch die Stuttgarter Zeitung dieser Tage
so schön in einem Kommentar? Während Rot-Grün sich
aus der Kernenergie herausschleichen wollte, legt diese
Bundesregierung ein klares Konzept zum Umstieg vor.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Rolf Hempelmann [SPD]: Dann müssen Sie aber auch sagen, dass das in der Glosse gestanden hat!)


Dem ist nichts hinzuzufügen; denn im Gegensatz zu Ih-
rer früheren Politik belassen wir es nicht bei einem Aus-
stiegsbeschluss, sondern wir legen feste Ausstiegsdaten
fest, wir beschäftigen uns mit allen Fragen rund um den
Ausstieg aus der Kernenergie, wir beschäftigen uns mit
dem Ausbau aller erneuerbaren Energien, und wir be-
schäftigen uns auch mit Endlagerfragen, Netzausbau und
Speicherkapazitäten.

An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich für die um-
fassende, auch ethisch unterfütterte Position der Ethik-
Kommission danken. Auf der Tribüne sitzt Herr Profes-
sor Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsge-
meinschaft. Ich möchte den Dank an Sie stellvertretend
für die Ethik-Kommission weitergeben. Herzlichen
Dank!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich als Haushälter etwas zu den haushal-
terischen Auswirkungen unserer Konzeption sagen;
denn das ist meine Aufgabe. Der beschleunigte Umstieg
in die erneuerbaren Energien wird nicht spurlos an Haus-
halt und Verbrauchern vorübergehen. Darauf wurde
schon hingewiesen. Es ist für mich eine Selbstverständ-
lichkeit, dass auch der Haushalt davon betroffen ist;
denn es handelt sich um eine grundsätzliche gesell-
schaftspolitische Entscheidung von großer Tragweite,
sowohl in technischer als auch in volkswirtschaftlicher
und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Diese Herausfor-
derung ist nicht nur für uns auf nationaler Ebene von
weitreichender Bedeutung; wir werden auch internatio-
nal sehr aufmerksam beobachtet. Ich finde es schon be-
merkenswert, dass wir uns an die Spitze der Bewegung
in diesem Bereich setzen. Wir werden sicherlich noch
große Erfahrungen sammeln können, wie international
darauf reagiert wird.

Was heißt das aber für den Bundeshaushalt? Für die
Jahre 2011 bis 2015 rechnen wir mit ansteigenden Belas-
tungen von 0,2 Milliarden Euro bis 2 Milliarden Euro
jährlich. Diese Belastungen resultieren aus folgenden
Maßnahmen:

Erstens, die steuerliche Förderung von Maßnahmen
der energetischen Gebäudesanierung ab 2013. Das wird
uns nach dem Finanztableau des Gesetzentwurfs im Ent-
stehungsjahr zunächst einmal mit etwa 100 Millionen





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)

Euro belasten. In den Folgejahren steigt diese Belastung
kontinuierlich auf circa 1,5 Milliarden Euro in der vollen
Jahreswirkung an.

Zweitens. Wir haben Mindereinnahmen bei der Kern-
brennstoffsteuer. Es ist vollkommen klar, dass dadurch,
dass die sieben älteren Kernkraftwerke plus Krümmel
nicht mehr ans Netz gehen, entsprechend weniger Ein-
nahmen aus dieser Steuer fließen. Wir rechnen damit,
dass uns an dieser Stelle etwa 1 Milliarde Euro fehlen
wird. Ich will hier nur anmerken, dass die Grünen darauf
immer mit großem Beifall reagieren, obwohl sie ansons-
ten stets für Steuererhöhungen sind. Ich bin froh, dass
die Kernbrennstoffsteuer erhalten bleibt. Dafür zu sor-
gen, das war, sehr geehrter Herr Kauch, auch unser Be-
mühen; ich kann das zumindest für mich persönlich sa-
gen.

Was kommt hinzu? Risiken sind sicherlich damit ver-
bunden, dass die Energieversorgungsunternehmen ange-
kündigt haben, gegen das Erheben der Kernbrennstoff-
steuer zu klagen. Unbestritten ist es das Recht jedes
Steuerpflichtigen, sich gegen Besteuerung zu wehren. Es
erschließt sich mir aber nicht, wie sich aus der Gesetzesbe-
gründung ein Grund zur Klage gegen das Erheben dieser
Steuer ableiten lässt. Einen rechtlichen Zusammenhang
zwischen der Laufzeitverlängerung und der Einführung
der Kernbrennstoffsteuer gab es nicht und gibt es nämlich
nicht; darauf hat der Kollege Kauch schon hingewiesen.
Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich eindeutig, dass
die Steuereinnahmen zur Haushaltskonsolidierung ver-
wendet werden und als Beteiligung an der Deckung der
Kosten der Asse zu verstehen sind. Nebenbei bemerkt: Im
Hinterkopf hatte man immer den Gedanken, dass die
Kernkraftbetreiber durch die Strompreissteigerung nach
der Einführung des CO2-Emissionshandels nicht belastet
werden, sondern von ihr profitieren. Es geht um den Ef-
fekt der sogenannten Windfall Profits, der sich aus der
Nichtbeteiligung am Emissionshandel und gleichzeitig
steigenden Strompreisen ergibt; diesen Effekt gibt es
auch in Zukunft.

Eine weitere Belastung für den Bundeshaushalt resul-
tiert aus der kompletten Umschichtung der Einnahmen
aus der Versteigerung der CO2-Zertifikate vom Haushalt
in den neu zu schaffenden Energie- und Klimafonds. Ich
will kurz darstellen, wie dieser Fonds ausgerichtet sein
wird – da gibt es einige Änderungen –:

Erstens. Eingerichtet ist er, um zusätzliche Ausgaben
zur Förderung einer umweltschonenden, zuverlässigen
und bezahlbaren Energieversorgung zu ermöglichen. Es
handelt sich um ein Sondervermögen. Zunächst einmal
ist anzumerken, dass die freiwilligen Zahlungen der
EVUs in diesen Fonds wegfallen. Bisher sind mehr als
70 Millionen Euro eingezahlt worden. In den folgenden
Jahren werden 1,4 Milliarden Euro fehlen. Wir sehen,
dass wir zumindest 2011 einen Ausgleich aus dem Haus-
halt in diesen Fonds in der Größenordnung von etwa bis
zu 225 Millionen Euro leisten müssen. Ich sage bewusst
„bis zu“; denn die Höhe dieses Ausgleichs hängt von den
Ausgaben dieses Fonds ab.

Zweitens. Die Einnahmen aus der Versteigerung der
Emissionszertifikate fallen dauerhaft weg. Ab 2012 wer-
den diese Einnahmen nämlich in diesen Fonds fließen;
bisher war vorgesehen, dass dem Bundeshaushalt 2012
knapp 850 Millionen Euro und ab 2013 jährlich gut
900 Millionen Euro zugute kommen. Damit werden die
Einnahmen dieses Fonds gefestigt. Sie werden in den
kommenden Jahren auf einen jährlichen Betrag von über
3 Milliarden Euro ansteigen. Damit ist dieser Fonds mit
Sicherheit gut ausgestattet.

Drittens. Gleichzeitig werden in diesem Fonds die
Ausgaben für Elektromobilität gebündelt. Damit wird
dieser Bereich übersichtlicher, transparenter gestaltet.
Bisher sind die Ausgaben über die Ministerien Verkehr,
Wirtschaft, Umwelt und Forschung verteilt. Das bedeu-
tet aus meiner Sicht einerseits eine Entlastung des Haus-
halts, andererseits mehr Transparenz.

Viertens. Außerdem statten wir das CO2-Gebäudesa-
nierungsprogramm künftig besser aus. Seine Mittel wer-
den von derzeit gut 900 Millionen Euro auf über
1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Das wird entsprechend
gegenfinanziert.

Fünftens. Darüber hinaus erfolgt aus diesem Fonds
ein Ausgleich emissionshandelsbedingter Strompreiser-
höhungen für stromintensive Unternehmen in Höhe von
jährlich bis zu 500 Millionen Euro. Warum machen wir
das, meine Damen und Herren? – Wir sind der Auffas-
sung, dass wir, wenn die Europäische Kommission dem
zustimmt, etwas dafür tun müssen, dass Arbeitsplätze in
diesem Bereich in Deutschland erhalten bleiben. Es geht
um den Arbeitsplatzstandort Deutschland. Wir dürfen
Arbeitsplätze nicht gefährden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Schließlich gibt es noch eine Kreditermächtigung für
den Fonds, die aber nicht dauerhaft sein soll, sondern nur
in Ausnahmefällen greifen soll. Wir müssen noch genau
darüber reden, wie wir dies ausgestalten.


(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)


Aber da werden wir uns, glaube ich, schnell einig.

Wenn ich zusammenfasse, komme ich zu dem Ergeb-
nis, dass wir angesichts der Größenordnung des Vorha-
bens überschaubare Belastungen haben. Allerdings darf
daraus nicht der Schluss gezogen werden, es bestünden
noch Spielräume für neue Wünsche. Denn eines muss
man immer wieder festhalten: Zentrales Ziel der Koali-
tion von CDU/CSU und FDP ist die Konsolidierung des
Haushalts. Das steht über allen politischen Vorhaben in
der gesamten Legislaturperiode. Das ist schon allein des-
halb so, weil wir besser mit Geld umgehen können als
alle anderen Fraktionen in diesem Haus. Das wird auch
so bleiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711404300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6070 bis 17/6077, 17/5931, 17/6092,





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

17/6084, 17/6119 und 17/6109 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Da ich keinen Widerspruch höre,
ist das offensichtlich der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Carsten
Sieling, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine Bätzing-
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Finanztransaktionsteuer in Europa einfüh-
ren – Gesetzesinitiative jetzt vorlegen

– Drucksache 17/6086 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffnet die Aussprache und erteile Kollegen
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1711404400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Antrag zur Finanztransaktionsteuer, den wir hier heute
im Deutschen Bundestag debattieren, ist eine besondere
parlamentarische Initiative. Zeitgleich wird der gleiche
Antrag in der französischen Assemblée nationale bera-
ten. Es handelt sich also – das passiert ja nicht jeden Tag
oder jede Woche hier im deutschen Parlament – um eine
grenzüberschreitende, deutsch-französische Parlamenta-
rierinitiative in einer äußerst wichtigen Frage.


(Beifall bei der SPD)


Diese Initiative ist es wert, dass sie in beiden Parlamen-
ten breite Unterstützung findet. Ich bitte daher die Kolle-
ginnen und Kollegen aller Fraktionen um eine breite Un-
terstützung dieser Initiative,


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


nicht nur wegen der Sache selbst, sondern weil sich hier
ganz konkret zeigt, dass Deutsche und Franzosen an ei-
nem Strang ziehen und zusammen ein gemeinsames In-
teresse verfolgen. Ich finde, so sollte europäische Demo-
kratie ablaufen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Warum aber ist eine solche Initiative bitter nötig? Wir
als Initiatoren wollen uns mit den vielen Sonntagsreden
der Regierenden in Deutschland und Frankreich zur Ein-
führung einer Finanztransaktionsteuer nicht mehr zufrie-
dengeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Das gilt auch für die vielen gesellschaftlichen Gruppen
und Initiativen im Land. Immer mehr Menschen in ganz
Europa wollen eine derartige Steuer und werden zu
Recht immer unruhiger, weil es auf der Ebene der Regie-
rungen nicht weitergeht.

Es stimmt, dass Frau Merkel und Herr Schäuble im-
mer wieder die Einführung einer Finanztransaktion-
steuer einfordern, genauso auch Herr Sarkozy und Frau
Lagarde. Aber außer dass hin und wieder Briefe ge-
schrieben wurden, hat sich in der Sache in den letzten
zwölf Monaten nichts bewegt. Dabei bringt es auch nie-
manden mehr weiter, auf die bösen internationalen Part-
nerstaaten zu verweisen, die partout nicht mitmachen
wollen. Natürlich wäre es sehr wünschenswert, wenn
alle relevanten Finanzzentren der Welt bei einer Finanz-
transaktionsteuer mitmachen würden. Aber darf man
sich hinter einer solchen Bedingung verstecken? Dann
passiert und bewegt sich nämlich gar nichts, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sehr wahr!)


Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der fünf
größten EU-Länder will die Einführung einer Finanz-
transaktionsteuer.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Schäuble, Frau Merkel, das sollte doch für Sie eine
ausreichende Basis sein, sich gegen die Ideologen und
Finanzlobbyisten in Ihren eigenen Reihen und in der
FDP durchzusetzen. Dieser Rückhalt müsste auch groß
genug sein, um es wagen zu können, sich mit der Fi-
nanzindustrie anzulegen. Seien Sie endlich so mutig, ein
Gesetz vorzulegen, durch das eine Finanztransaktion-
steuer in einem ersten Schritt schon einmal in Deutsch-
land, Frankreich und anderen dazu bereiten Staaten ein-
geführt wird. Das würde eine Entwicklung in Gang
setzen, die nicht mehr zu stoppen wäre.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn meine Informationen stimmen, denken auch die
französischen Konservativen in eine ähnliche Richtung.
Nur, es muss gehandelt werden. Oder ist diese Koalition
auch in dieser Frage wie üblich handlungsunfähig? Vor
diesem Problem stehen wir derzeit ja leider des Öfteren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen die Lenkungswirkung einer Finanz-
transaktionsteuer, um unerwünschte Aktivitäten und Ge-
schäfte zurückzudrängen und so einen weiteren Beitrag
zur Stabilisierung der Finanzmärkte zu leisten. Machen
wir uns doch nichts vor: Auch wenn die ökonomische
Entwicklung aktuell erfreulich ist, sind die Finanzmärkte
nach wie vor sehr labil. Die Lösung der Griechenland-
Probleme ist doch auch deshalb so schwierig, weil nicht
nur Banken und Finanzinstitute in Griechenland auf
wackligen Füßen stehen.





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)

Wir sind bei der Finanzmarktregulierung noch lange
nicht da, wo wir sein müssten. Das Kasino ist wieder er-
öffnet. Die Finanzindustrie macht wieder munter auf
Risiko. Da trifft leider auch die deutsche Regierung ein
gerüttelt Maß an Schuld. Wegen der großen Meinungs-
unterschiede in der Koalition gerade in Finanzmarktfra-
gen war die Regierung gelähmt und ist auf G-20-Ebene
und europäischer Ebene oftmals nur schwankend und
unklar aufgetreten. Auch hier zeigt sich, was es bedeutet,
wenn Führung fehlt. Deutschland muss als sehr starke
Macht in Europa die Führung mitprägen. Wir sind aber
auf europäischem Parkett derzeit nicht meinungsbildend,
und das kann nicht gut gehen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: So ein Quatsch!)


Was die Meinungsunterschiede angeht, will ich nur an
die schmerzhaften Debatten im letzten Jahr erinnern, als
sich der damalige FDP-Vorsitzende an dieser Stelle für
alle sichtbar und erkennbar gewunden hat, nur um das
Wort „Finanztransaktionsteuer“ nicht in den Mund neh-
men zu müssen. Wir brauchen aber diese Steuer, auch als
Finanzierungsinstrument. Dass wir darauf nicht verzich-
ten können, weiß auch der Bundesfinanzminister, der in
seinem Finanzkonzept ab 2012 daraus jährlich Einnah-
men in Höhe von 2 Milliarden Euro vorgesehen hatte.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssten Herr Schäuble
bzw. sein Haus aber auch anfangen, um dieses Geld zu
kämpfen, und dürften es nicht einfach streichen.

Es stimmt ja sowieso vieles nicht mehr von dem, was
vor einem Jahr in dieses sogenannte Sparpaket einge-
stellt wurde. Ich erinnere mich aber, was hierzu vor fast
genau einem Jahr in Fernsehbeiträgen gesagt wurde.
Frau Merkel und andere haben da gesagt: Wir stellen die
soziale Ausgeglichenheit dieses Pakets dadurch her, dass
die Wirtschaft in Form einer Finanztransaktionsteuer so-
wie anderer Maßnahmen wie einer Brennelementesteuer
beteiligt wird. – Wie sieht denn inzwischen das Ergebnis
aus? Mittlerweile wird der Haushalt nur noch dadurch
stabilisiert, dass man bei den sozial Schwachen und den
Arbeitslosen spart – das ist aber die falsche Stelle, ja-
wohl –, während andere Maßnahmen erst einmal nicht
umgesetzt wurden. Auch das ist ein Beleg für Ihre unso-
ziale Politik.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist so ähnlich wie in der Atomenergiefrage. Sie
wissen gar nicht mehr, was Sie vor drei Tagen, ge-
schweige denn vor einem Jahr öffentlich gesagt haben.
Sie setzen auf die Vergesslichkeit des Publikums – leider
oft zu Recht. Das muss sich ändern in der deutschen
Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Diejenigen, die von den Rettungsmaßnahmen des
Staates in der Finanzkrise profitiert haben, müssen also
auch an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt
werden. Sie dürfen nicht außen vor bleiben. Auch die ak-
tuell sprudelnden Steuerquellen können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das richtig und wichtig ist. Wir
müssen darüber eine ehrliche Debatte führen. Für die
Wahrnehmung wichtiger gesellschaftspolitischer Aufga-
ben ist dieser Staat auf allen Ebenen strukturell unterfi-
nanziert. Das gilt unabhängig von der aktuellen Ent-
wicklung bei den Steuereinnahmen. Darüber müssen wir
eine ehrliche Debatte in diesem Haus führen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dabei geht es dann nicht nur um eine Finanztransaktion-
steuer, sondern in meinen Augen zum Beispiel auch um
eine modernisierte private Vermögensteuer


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Da ist sie wieder!)


und andere Finanzierungsmaßnahmen, um Geld für die
Erfüllung gesellschaftspolitisch wichtiger Aufgaben – Be-
friedung der Gesellschaft, Forschung und Entwicklung,
Bildung und andere Zwecke – zur Verfügung zu haben
und verwenden zu können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711404500

Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1711404600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion ist grundsätzlich ge-
gen eine exzessive Erhöhung der Steuerbelastung und
gegen Doppelbesteuerungen, die eine Überforderung für
den Steuerzahler bedeuten. Das heißt aber nicht, dass wir
uns gegen einen Umbau der europäischen Steuersysteme
wenden oder gegen eine gerechtere Besteuerung des Fi-
nanzmarktes sind. Man muss das aber natürlich im Ge-
samtkontext sehen. Umschuldungen, Basel III, neue Ein-
lagensicherungssysteme, die deutsche Bankenabgabe –
all das muss wohl bedacht sein und darf nicht in einer
Scharfmacherrede angeprangert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das war eine Werberede, keine Scharfmacherrede, Herr Kollege!)


Eine bessere Lenkungswirkung durch Finanzmarkt-
steuern und ein Beitrag des Finanzsektors sind unter be-
stimmten Voraussetzungen mit uns durchaus denkbar
und machbar. Das muss intensiv geprüft und internatio-
nal zielführend gestaltet sein. Die Vorwürfe der SPD ge-
genüber der Bundesregierung wegen des angeblich feh-
lenden Handlungsnachweises weisen wir zurück. Die
Dinge müssen fachlich beurteilt werden.

Die Besteuerung des Finanzmarktes muss wettbe-
werbsneutral, wirksam, unbürokratisch, umsetzbar und
wachstumsfreundlich erreicht werden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist in Ordnung!)






Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Den Beweis dafür lieferte der EU-Kommissar für Steu-
ern, Herr Semeta, in dieser Woche im Finanzausschuss.
Leider waren Sie nicht anwesend, Herr Poß. Ich zitiere
ihn für Sie noch einmal wörtlich.


(Joachim Poß [SPD]: Da bin ich gespannt!)

Er sagt:

Es ist unverantwortlich, eine Bewertung vorzuneh-
men, wenn keine unvoreingenommene Prüfung ei-
ner positiven Lenkungsfunktion durch die EU-
Kommission vorliegt.

So weit der Kommissar.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Der ist weiter als Sie!)


Das ist eine klare Aussage. Er sagt, die Prüfung liege
noch nicht vor. Er hat uns eine Folgenabschätzung zur
Finanztransaktionsteuer oder einer Finanzaktivitätsteuer,
wie sie diskutiert wird, zugesagt.

Es ist nun einmal so, dass das Initiativrecht dafür die
Kommission hat und nicht die Parlamente, auch nicht in
Frankreich oder Deutschland. Deswegen, Herr Poß, ist
der SPD-Antrag ein reiner Schaufensterantrag.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Unglaublich!)


Da bringt uns auch die Begleitmusik, die Sie gemeinsam
mit Frankreich bestellt haben, nicht weiter. Wir weisen
diesen Schaufensterantrag zurück; wir werden ihm in
dieser Form nicht zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es geht um eine fachgerechte Entscheidung. Dabei
muss verhindert werden, dass Steuersubstrat in Dritt-
staaten verlagert und unsere Wettbewerbsfähigkeit am
Finanzplatz Deutschland erheblich beschädigt wird. Es
gilt, eine gemeinsame Lösung zumindest in Europa zu
erreichen. Wir setzen uns mit den Chancen und den Fak-
ten ohne ideologische Scheuklappen auseinander und
vertreten dabei folgenden Standpunkt: Um einen finan-
ziellen Beitrag des Finanzsektors zu erhalten, unterstüt-
zen wir die möglichst weltweite, aber zumindest auf eu-
ropäischer Ebene oder wenigstens innerhalb der Euro-
Zone abgestimmte Einführung einer Finanztransaktion-
steuer.


(Sabine Stüber [DIE LINKE]: Davon merkt man aber nichts!)


Diese ist nach unserer Auffassung zur zusätzlichen Ge-
nerierung von Einnahmen aus dem Finanzsektor sehr gut
geeignet. Diese Auffassung teilt auch das Europäische
Parlament. Ich glaube, das ist die beste Grundlage.

Es sollte uns bewusst sein, dass zum Erreichen dieses
Ziels so viele Länder wie möglich von der Einführung
einer Finanztransaktionsteuer überzeugt werden müssen.
Bisher sind nur Österreich, Frankreich und Deutschland
dafür, wobei Frankreich auch eine andere Lösung bevor-
zugen würde.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Luxemburg, Finnland, Belgien!)


Wir brauchen aber möglichst alle.
Wir müssen über die Ausgestaltung dieser Steuer nach-
denken. Hinsichtlich der Ausgestaltung einer Finanztrans-
aktionsteuer sollte, um einen Konsens auf europäischer
Ebene zu erreichen, den Diskussionen nicht – auch nicht
durch Deutschland – vorgegriffen werden. Wir sind der
Auffassung, dass die Finanztransaktionsteuer möglichst
alle Finanzinstrumente, die gehandelt werden, erfassen
soll. So sollten Finanzinstrumente, die börslich und au-
ßerbörslich gehandelt werden, in die Besteuerung einbe-
zogen werden. Damit könnte der Finanztransaktion-
steuer eine breite Bemessungsgrundlage zugrunde gelegt
werden. Insbesondere bei einer Ausklammerung be-
stimmter Finanzinstrumente wäre eine Verschiebung des
Geschäfts in diese Bereiche zu erwarten. Dies muss un-
bedingt vermieden werden. Deshalb sprechen wir uns
für eine möglichst alle Finanzinstrumente umfassende
Finanztransaktionsteuer aus.

Die Anknüpfung an die Erwerbsgeschäfte über Fi-
nanzinstrumente hat den großen Vorteil, dass es bei je-
dem auf Finanzinstrumente bezogenen Handelsgeschäft
bzw. Transaktionsgeschäft zu einer Steuerentstehung
kommen wird. Eine Unterscheidung in gute und
schlechte Geschäfte, wie sie die SPD immer wieder ver-
sucht vorzunehmen, wird damit nicht vorgenommen.
Das wäre auch nicht sinnvoll. Vorrangig bei der Einfüh-
rung einer Finanztransaktionsteuer ist die Erzielung von
Einnahmen. Natürlich sollte die Steuer auch Lenkungs-
wirkung entfalten. Wenn wir uns für die Finanztrans-
aktionsteuer eine breite Bemessungsgrundlage mit ei-
nem niedrigen Steuersatz vorstellen, dann dürfen wir
nicht vergessen, die Lenkungswirkung zu prüfen. Wir
sind auf die Prüfung der EU-Kommission angewiesen.
Ich glaube, wenn Sie wie in Ihrem Antrag von einem
Steuersatz in Höhe von 0,05 Prozent – letzten Endes eine
aus der Luft gegriffene Zahl – ausgehen, dann sind Sie
gewissermaßen nicht verhandlungsfähig. Das ist sicher
die oberste Grenze, die sich andere Länder vorstellen
können. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie einfach eine
Zahl ohne Prüfung der Lenkungswirkung und ohne Sub-
stanz in die Welt setzen, ist dies inkompetent. Dann kön-
nen Sie keine Kompetenz in der Finanzwirtschaft nach-
weisen. Sie erweisen damit Ihrer Sache, der Sache der
Finanztransaktionsteuer, wirklich keinen Dienst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ganz besonders schlimm wird es, wenn man sieht,
dass die SPD in ihrem Antrag das Geld schon weltweit
verteilt hat.


(Joachim Poß [SPD]: Was? Was? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was reden Sie denn da?)


Das ist nicht seriös. Dieses Geld gehört in den Bundes-
haushalt; denn der Bundeshaushalt hat in der Finanz-
marktkrise die Banken gerettet. Das Geld wurde nicht
weltweit an die Armen verteilt. Für die Bekämpfung der
Armut ist die Entwicklungshilfe zuständig. Sie machen
einfach ein Fass auf und sagen: Das Geld aus dieser
Steuer können wir in die Welt transferieren.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Worüber reden Sie eigentlich?)






Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Das sieht Ihr Antrag vor. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sa-
gen: Ich habe schon viele Anträge der SPD gelesen, aber
der nun vorliegende Antrag stellt keine gute Vorberei-
tung dieses Hohen Hauses dar. Das Budgetrecht wird
von diesem Hohen Haus und insbesondere vom Haus-
haltsausschuss des Deutschen Bundestages wahrgenom-
men und darf nicht für eine solche Verteilungsaktion,
wie sie im SPD-Antrag gefordert wird, genutzt werden.
Deswegen können wir diesem Antrag nicht zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711404700

Das Wort hat nun Richard Pitterle für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711404800

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Seit 2009 höre ich im Bundestag von der
Bundesregierung, man wolle die Finanzbranche zur Be-
wältigung der Krisenkosten heranziehen. Und? Es pas-
siert nichts. Die Linke sagt: Wir brauchen endlich die Fi-
nanztransaktionsteuer.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit dieser Steuer soll jeder und jede, der oder die an
der Börse und außerbörslich mit Wertpapieren, Deriva-
ten und Devisen spekuliert und dabei fette Gewinne
macht, mindestens 0,05 Prozent davon abgeben. Da sind
wir uns mit allen parlamentarischen und außerparlamen-
tarischen Initiativen ganz einig, die auch die Einführung
der Steuer fordern.

Blicken wir zurück. Am Anfang hat die Regierungs-
koalition die Finanztransaktionsteuer abgelehnt; mit den
Argumenten, sie verzerre den Wettbewerb, sei nicht ef-
fektiv, nur global machbar und leicht zu umgehen, haben
Sie all unsere Vorschläge abgeschmettert. Diese Argu-
mente haben Sie sich dann auch noch von Ihren Sachver-
ständigen bestätigen lassen.


(Björn Sänger [FDP]: Dafür gibt es Sachverständige!)


Dann wurde die Finanzkrise zur Euro-Krise, und die Re-
gierung wandelte sich vom Saulus zum Paulus. Vor gut
einem Jahr, am 17. Mai 2010, berichtete zum Beispiel
Die Zeit:

Auch der CSU-Vorsitzende … Horst Seehofer er-
neuerte die Forderung nach einer Finanztrans-
aktionssteuer, „ohne Wenn und Aber“. Die Regierung
müsse „diese Branche, die Finanzbranche insgesamt,
der wir ja zum großen Teil diese Wirtschafts- und
Finanzkrise leider zu verdanken haben, bei der Be-
wältigung der Kosten auch heranziehen“, sagte er.

Das ist Originalton Seehofer. Diese Regierung ist, wie
man auch in der Energiepolitik sieht, für manche Wende
gut. Wenn es in die richtige Richtung geht, werden wir
sie deswegen nicht kritisieren. Aber hier reicht es nicht,
den Mund nur zu spitzen; man muss auch pfeifen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Denn inzwischen wissen alle, dass die Finanzmärkte ei-
nerseits enorme Handelsvolumina haben und rasant ge-
wachsen sind und dass sie andererseits nach wie vor
kaum Steuern zahlen. Alle Unternehmen, die ein Pro-
dukt verkaufen, müssen auf das Produkt Umsatzsteuer
erheben und sie beim Staat abliefern; nur Finanztrans-
aktionen sind davon ausgenommen. Allein an der
Frankfurter Derivatenbörse Eurex werden Umsätze ge-
macht, die 60-mal so hoch sind wie das gesamte deut-
sche Bruttoinlandsprodukt, ohne dass ein einziger Cent
Steuern gezahlt wird. Das ist doch ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Fakt ist, dass die Finanztransaktionsteuer nicht nur
Staatseinnahmen bringen, sondern auch eine wichtige
Lenkungswirkung entfalten kann. Das heißt, dass es un-
attraktiver wird, mit hoher Geschwindigkeit an den Fi-
nanzmärkten zu spekulieren; für alle Zocker wird es we-
niger profitabel, weil bei jeder Spekulation ein Teil des
Profits abgezogen wird. Die maßlosen Spekulationen
nämlich führten zur Finanzkrise und später zur Euro-
Krise. Seither bedrohen sie die Stabilität zahlreicher
Volkswirtschaften, siehe Griechenland.

Frau Merkel und Herr Schäuble sind leider nicht da.
Gerne würde ich ihnen glauben, dass es ihnen mit dem
Versprechen ernst ist, das sie mit dem französischen
Staatspräsidenten Sarkozy abgegeben haben. Gerne
würde ich ihnen auch glauben, dass sie die Mehrheit ih-
rer Fraktionen hinter sich haben. Wenn wir heute gleich-
zeitig mit dem französischen Parlament eine Entschei-
dung zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer zu
treffen haben, dann können wir unseren Freundinnen
und Freunden in Frankreich nur zurufen: „Oui, Madame!
Oui, Monsieur!“ Sorgen Sie dafür, dass die Finanztrans-
aktionsteuer jetzt beschlossen wird. Wir brauchen in
Europa wirtschaftliche Stabilität; wir brauchen Steuer-
gerechtigkeit. Deshalb brauchen wir Gesetze, die verhin-
dern, dass die Geringverdienerinnen und Geringverdie-
ner, die Rentnerinnen und Rentner die Lasten der Krise
tragen müssen und die Vermögenden uneingeschränkt
und fröhlich weiterzocken können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711404900

Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1711405000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man von falschen Prämissen ausgeht, kommt man
nicht zum richtigen Ergebnis. Das belegt die SPD mit ih-
rem heute vorgelegten Antrag wieder einmal eindrucks-
voll. Ihre Feststellung, dass der Finanzsektor „keinen …
Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens“ leistet,


(Joachim Poß [SPD]: Keinen ausreichenden Beitrag!)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

ist in der Sache grundfalsch; das wissen Sie auch. Wenn
Sie sich einmal darüber informieren wollen, sollten Sie
einmal mit der Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt
sprechen und sie fragen, ob sie den Eindruck hat, dass
der Finanzsektor einen Beitrag zur Finanzierung des Ge-
meinwesens dieser Stadt leistet; danach sind Sie viel-
leicht klüger, als Sie es mit Ihrem Antrag zum Ausdruck
bringen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Björn Sänger [FDP]: Einfach mal anrufen!)


Meine Damen und Herren, man kann dem Finanzsektor
viele Dinge vorwerfen und vieles kritisieren; in den letz-
ten Jahren ist auch unter Ihrer Regierungsverantwortung
vieles nicht richtig gelaufen. Es schadet aber auch nicht,
wenn man sich vorher zumindest ansatzweise informiert.
Dieser Grundsatz gilt auch, wenn man Frank-Walter
Steinmeier heißt und einen Antrag in den Deutschen
Bundestag einbringt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihr Antrag zeigt einmal mehr, dass die SPD über kei-
nen Kompass mehr verfügt. Wohin wollen Sie eigent-
lich? Wollen Sie zurück in die Zeiten des Klassenkamp-
fes, oder wollen Sie nach vorne? Vertreten Sie heute
eigentlich die Finanzpolitik Ihres früheren Finanzminis-
ters Oskar Lafontaine, oder vertreten Sie die Finanzpoli-
tik Ihres früheren Ministers Peer Steinbrück?


(Joachim Poß [SPD]: Worüber reden Sie denn eigentlich? Sagen Sie etwas zur Sache!)


Beide haben übrigens keine Finanztransaktionsteuer ein-
geführt. Es gehört zu dem wenigen Guten, was man über
die sozialdemokratische Finanzpolitik sagen kann, dass
die SPD in der Regierung ganz schnell vergisst, was sie
in der Opposition gefordert hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Vermögensteuer? Fehlanzeige. Finanztransaktion-
steuer? O-Ton Steinbrück: Der Welt ist es egal, was der
SPD-Ortsverband Kessenich will. Nicht nur der Welt
war und ist es egal, was die SPD wollte. Ihrem selbster-
nannten Kanzlerkandidaten war es in seiner Zeit als Fi-
nanzminister erst recht schnurz. Deshalb darf es auch der
christlich-liberalen Koalition egal sein, was die SPD
heute mit diesem Antrag fordert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine Partei, die in ihrer gesamten Regierungszeit,
gleich ob sie mit der grünen Partei oder der CDU/CSU
regiert hat, nicht einmal einen ernsthaften Versuch unter-
nommen hat, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen,
sollte sich auch jetzt mit Anträgen zurückhalten.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch nicht dauernd über die SPD!)


Sie sind in dieser Frage nämlich schlicht unglaubwürdig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie haben die Finanztransaktionsteuer nicht eingeführt,
weil Sie diese, als Sie die Regierungsverantwortung tru-
gen, für falsch hielten und nicht wollten. Wir führen die
Finanztransaktionsteuer ebenfalls nicht ein, weil wir sie
für falsch halten und sie deshalb nicht wollen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aha! Jetzt kommen wir doch zur Sache!)


Es besteht zwischen uns im Grunde Konsens. Der Unter-
schied ist nur, dass Sie in der Opposition etwas fordern,
was Sie während Ihrer Regierungszeit nicht umgesetzt
haben.

Wenn man Argumente gegen die Finanztransaktion-
steuer benötigt, findet man in Ihrem Antrag eine geeig-
nete Arbeitsgrundlage. Er enthält viele Allgemeinplätze
und keine Fakten. Man könnte sagen: viel Sigmar
Gabriel, kaum Helmut Schmidt.


(Beifall des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP] – Lachen bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711405100

Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Steinbrück?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Kanzlerkandidat!)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1711405200

Ja, bitte.


Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1711405300

Sehr geehrter Herr Kollege Wissing, würden Sie be-

stätigen, dass sich die Bundeskanzlerin und der seiner-
zeitige Bundesfinanzminister auf den Finanzgipfeln im
April 2009 in London und im September 2009 in Pitts-
burgh massiv für die Einführung einer Finanzmarkt-
transaktionsteuer eingesetzt haben und – mehr noch –
die Aufnahme einer entsprechenden Empfehlung in das
Kommuniqué des Gipfels im September 2009 sowie ei-
nen konkreten Prüfauftrag an den Internationalen Wäh-
rungsfonds durchgesetzt haben? Wenn Sie dies zugeben,
würden Sie dann auch Ihre bisherigen Ausführungen
freundlicherweise korrigieren wollen?


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1711405400

Herr Steinbrück, es stimmt, dass man sich auf interna-

tionaler Ebene dafür eingesetzt hat. Übrigens hat auch
diese Bundesregierung auf internationaler Ebene gesagt,
dass sie eine Besteuerung des Finanzsektors erreichen
möchte. Auf internationaler Ebene hat es aber keinen
Konsens gegeben. Deshalb hat diese Regierung genauso
vernünftig gehandelt wie Sie damals und den Unfug ge-
lassen, diese Steuer auf nationaler Ebene einzuführen.
Diesen Unfug sollte die SPD weiterhin unterlassen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Es geht um die europäische Ebene! Lesen bildet!)


Es macht keinen Unterschied, ob man in der Regie-
rung oder in der Opposition ist. Eine nationale oder re-





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

gionale Transaktionsteuer bringt nichts. Das wissen Sie
sehr gut, Herr Steinbrück.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das ist Herumeierei!)


In dieser Position kann ich Sie nur unterstützen; damit
lagen Sie immer richtig. Ihre Fraktion liegt jetzt aber
falsch, wenn sie dem Bundestag vorschlägt, das Gegen-
teil zu machen, nämlich diese Steuer national einzufüh-
ren. Deswegen bleibe ich bei meiner Position.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Er hat das unterstützt! Er gehört zu unserer Fraktion! Haben Sie das vergessen?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711405500

Kollege, gestatten Sie eine Nachfrage des Kollegen

Steinbrück?


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1711405600

Ja.


Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1711405700

Würden Sie bestätigen, Herr Kollege Wissing, dass

die Diskussion inzwischen weitergegangen ist und auch
der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank die Ein-
führung einer solchen Finanzmarkttransaktionsteuer
dann für richtig hielte, wenn mindestens die wichtigsten
kontinentaleuropäischen Finanzplätze einbezogen wür-
den? Das heißt, wenn die Bundesrepublik Deutschland
sich mit ihrem Gewicht in Brüssel dafür einsetzen
würde, dass im Benelux-Bereich, in Frankreich, mögli-
cherweise auch in Italien eine solche Finanzmarkttrans-
aktionsteuer eingeführt würde, dann gäbe es sogar Ver-
treter der deutschen Finanzwirtschaft, die sich darüber
nicht grämen würden. Insofern kommt es darauf an – das
ist meine Frage –, ob Sie als FDP-Vertreter bereit wären,
auf die Bundesregierung stärker einzuwirken, dass zu-
sammen mit diesen Ländern, die sich teilweise bereits
für die Einführung einer solchen Finanzmarkttransak-
tionsteuer ausgesprochen haben, die Chance auf Reali-
sierung genutzt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1711405800

Sie kennen die Beschlussfassung des Deutschen Bun-

destages. Sie kennen auch die gemeinsamen Anträge
von CDU/CSU und FDP.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da steht dazu nichts drin!)


Deshalb lohnt es sich für Ihre Fraktion, nicht immer so
zu tun, als würden wir diesen Weg ausschließlich blo-
ckieren.


(Lachen bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: „Ausschließlich blockieren“! Das ist verräterisch!)

– Ganz ruhig. – Wir haben gesagt: Wir sehen nicht ein,
dass wir den deutschen Finanzplatz beschädigen


(Joachim Poß [SPD]: Jetzt kommt es!)


und Ausweichbewegungen beispielsweise nach London
eröffnen; denn – da bin ich ganz bei Ihnen – 10 Prozent
von nichts bringt noch lange keine höheren Steuerein-
nahmen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ist aber eine andere Steuer!)


Deshalb haben Sie einen nationalen Weg abgelehnt. Den
lehnen auch wir ab. Wir als FDP-Fraktion sagen: Eine
Finanztransaktionsteuer ausschließlich in der Euro-Zone
ist nicht vertretbar, weil sie den deutschen Finanzplatz
nachhaltig schädigt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Also doch nein! Ein klares Nein! Die Wahrheit ist auf dem Tisch!)


Ohne Großbritannien kommt eine solche Steuer nicht in
Betracht. Das ist die Position der Bundesregierung. In
der Opposition vertreten Sie jetzt die Auffassung, dass
es, wenn sie in Deutschland und in Frankreich eingeführt
würde, automatisch zu einer flächendeckenden Einfüh-
rung der Finanztransaktionsteuer kommen würde. Diese
Position haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie vertreten,
weil Sie wissen, dass sie falsch ist.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das steht auch nicht im Antrag!)


Deswegen sei es Ihr Recht als Oppositionsfraktion, jetzt
all die Dinge zu fordern, die Sie in der Regierung für
falsch gehalten haben. Wir bleiben bei einem klaren
Kurs.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Wir können uns gerne inhaltlich mit der Finanztrans-
aktionsteuer auseinandersetzen. Sie schreiben, die Steuer
würde unerwünschte Effekte zurückdrängen. Sie müss-
ten schon näher erklären, wie die Finanztransaktion-
steuer unerwünschte Effekte erkennt und zurückdrängt.
Diese Steuer ist nämlich nicht selektiv; sie unterscheidet
nicht zwischen guter und spekulativer Anlage, sondern
sie belastest alle, und zwar alle gleich. Sie belastet die
Riester-Rentner und Besitzer von Lebensversicherungen


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das RiesterArgument hatten wir schon in der vorletzten Debatte! – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Dann sagen Sie doch, dass Sie die Finanztransaktionsteuer nicht wollen!)


genauso wie Hedgefonds, nur dass es für Letztere ein
Leichtes ist, sich einen anderen Finanzplatz auszusuchen
und der Finanztransaktionsteuer zu entgehen. Ich er-
kenne daher nicht, welche unerwünschten Nebeneffekte
die Steuer zurückdrängen soll.

Wenn Sie schreiben, dass die Finanztransaktionsteuer
einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte leis-
tet, so ist auch das mehr als gewagt. Sie glauben doch
nicht allen Ernstes, dass die Anleger, nur weil Sie in





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

Deutschland und Frankreich eine Finanztransaktion-
steuer einführen, verlustbringende Investments länger
halten werden, und dass dies auch noch den Finanzmarkt
stabilisiert. Ich glaube, die Finanztransaktionsteuer wird
eher das Gegenteil bewirken.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Kommen Sie doch einmal zur Sache!)


Dort, wo sie nicht umgangen wird, wird sie zu stärkeren
Reaktionen der Märkte führen, weil die Märkte die
Steuer in ihre Kalkulation einbeziehen. Während bisher
die schnelle Reaktion der Märkte dazu beiträgt, Fehlent-
wicklungen frühzeitig zu erkennen,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sekundenhandel, so schnell handeln die!)


würde die Finanztransaktionsteuer dafür sorgen, dass die
Reaktionen später erfolgen und dafür umso heftiger aus-
fallen.

Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck,
dass Ihr Antrag vor allem autosuggestiven Charakter hat.
Sie glauben selber nicht mehr an diese Steuer und wollen
sich mit dem Antrag immer wieder selbst überzeugen.


(Lachen bei der SPD)


Ich habe auch Verständnis für die Widersprüchlichkeiten
in Ihrem Antrag. Ebenso habe ich Verständnis dafür,
dass Sie in der Opposition glauben, Punkte mit einer
Politik machen zu können, die Sie in der Regierung nie-
mals ernsthaft verfolgt haben. Deswegen schlage ich Ih-
nen vor: Machen Sie es wie Herr Steinbrück und schi-
cken Sie Ihren Finanztransaktionsteuer-Antrag dorthin,
woher er gekommen ist, nämlich an den Ortsverband
Kessenich. – Ich glaube, das habe ich richtig zitiert, Herr
Steinbrück.

Wie Sie richtig schreiben, gibt es bisher keinen Kon-
sens, eine Finanztransaktionsteuer einzuführen, weder
auf europäischer noch auf internationaler Ebene. Es ist
mehrfach versucht worden, ist aber ganz klar gescheitert.
Das liegt aber nicht daran, dass die anderen Regierungen
so viel dümmer wären als die SPD im Deutschen Bun-
destag; sie haben sich vielmehr mit der Finanztransak-
tionsteuer auseinandergesetzt, deren Schwächen erkannt
und suchen nun eine bessere Lösung zur Besteuerung
des Finanzsektors. Das geschieht aber nicht aus Gründen
der Regulierung, sondern zur Lösung der Haushaltspro-
bleme.

Nur die SPD tut in der Opposition immer so, als habe
sie einen finanzpolitischen Erkenntnisrausch, der ihr in
Regierungszeiten abhanden gekommen ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Meine Güte, diese Koalition hat es echt nicht leicht!)


Sie präsentieren der Öffentlichkeit in altbekannter Ma-
nier ein Sammelsurium sozialdemokratischer Wieder-
gänger wie die Vermögen- oder die Finanztransaktion-
steuer.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Die schütteln schon alle den Kopf auf der Regierungsbank!)

Hiervon wollten Sie zu Regierungszeiten nichts wissen.
Deswegen sollten Sie den Deutschen Bundestag damit
nicht länger behelligen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711405900

Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
der Frage, wer als Opposition bei bestimmten Themen
die Klappe aufgerissen hat und nachher in der Regie-
rungszeit nichts zu liefern hat, wäre ich als FDP ganz
leise.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Zu dem Vorwurf, man bringe hier nur Allgemeinplätze,
sage ich, Herr Wissing, dass die Gegenargumente, die
Sie heute gebracht haben, viel schlimmer als Allgemein-
plätze waren. Es waren längst widerlegte Behauptungen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In der Anhörung des Finanzausschusses ist ganz klar ge-
sagt worden: Die Belastung des Kleinanlegers ist mini-
mal und von Personen aufgebauscht worden, die die Fi-
nanztransaktionsteuer mit fadenscheinigen Argumenten
ins Aus katapultieren wollten, weil sie das tut, was not-
wendig ist, nämlich den Finanzsektor zu belasten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Gestern im Finanzausschuss sah man ganz klar, wie
die Positionen in dieser Debatte verteilt sind. Alle Frak-
tionen haben dem anwesenden EU-Kommissar Semeta
ganz eindeutig die deutsche Position mit auf den Weg
gegeben: Wir wollen eine Finanztransaktionsteuer. Wir
haben gesagt, dass das jetzt auf europäischer Ebene vo-
rangebracht werden muss und dass nicht nur rumgeeiert
werden darf, wie es auch hier die Koalition macht. Eine
Fraktion war die große Ausnahme. Man sieht, warum
diese Bundesregierung nicht vorankommt: Die Unter-
stützung der FDP für diese Position fehlt. Hören Sie auf,
zu blockieren! Wir brauchen keinen parlamentarischen
Arm der Finanzbranche, sondern eine Unterstützung für
das, was von einer breiten Mehrheit dieses Hauses getra-
gen wird: eine Finanztransaktionsteuer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711406000

Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-

gen Wissing?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerne.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Lobby!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1711406100

Würden Sie, Herr Kollege Schick, weil Sie sich im-

mer gerne mit der Vergangenheit beschäftigen, dem
Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit
erklären, wer unter Rot-Grün verhindert hat, dass eine
Finanztransaktionsteuer von der Bundesregierung auf
den Weg gebracht worden ist? War das damals die SPD
oder Bündnis 90/Die Grünen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gab unter Rot-Grün Initiativen für eine Tobin-
Steuer. Ich erinnere an eine Studie aus dem Hause
Wieczorek-Zeul. Man fragt sich, ob ein Ministerium der
aktuellen Bundesregierung auch nur mit einer Studie
versucht hat, die Debatte voranzutreiben. Das könnte
man ja tun. Das gab es damals, und das ist von beiden
Parteien unterstützt worden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Haben Sie es eingeführt?)


Ich frage Sie umgekehrt – das könnte vielleicht je-
mand aus den Koalitionsfraktionen klären –: Wenn ich
eine Idee voranbringen will, dann versuche ich, dazu
eine Konferenz zu organisieren, eine Studie in Auftrag
zu geben. Warum gibt es bisher nur von einem öster-
reichischen Institut eine Studie dazu und nicht einmal
von einem deutschen?


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber woran ist es gescheitert?)


Die Bundesregierung könnte ja eine Studie in Auftrag
geben. Hören Sie auf, nur zu reden! Handeln Sie endlich,
und bringen Sie diesen Gedanken voran!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Eine Antwort? – Dr. Daniel Volk [FDP]: Beantworten Sie doch einmal die Frage: Haben Sie die Tobin-Steuer eingeführt?)


Ich will noch kurz auf das eingehen, was Herr
Michelbach gesagt hat. Wissen Sie, Herr Michelbach,
wir haben hier heute etwas, was es nicht häufig gibt: eine
parallel organisierte Debatte der französischen National-
versammlung und des Deutschen Bundestages und einen
abgestimmten Antrag. Wenn wir bei allen Delegations-
gesprächen mit den französischen Kollegen immer die
Zusammenarbeit der nationalen Parlamente hochhalten
und dafür kämpfen – das ist richtig –, dann können wir
hier in der Debatte nicht sagen, das sei Begleitmusik. Ich
finde, eine solche Haltung haben Europa und auch der
Bundestag nicht verdient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das hat mit Europa nichts zu tun!)


Zur konkreten Frage: Warum brauchen wir unbedingt
eine Finanztransaktionsteuer? Wir stellen fest, dass der
Finanzmarkt an vielen Stellen zu groß ist. Das sagen
nicht nur einige Oppositionsleute, sondern inzwischen
ist das als Ursache dieser Finanzkrise deutlich gewor-
den. So schreibt ein Forscherteam des Internationalen
Währungsfonds und der UN-Konferenz für Handel und
Entwicklung, UNCTAD: Zu viel Finanzwirtschaft ist
schlecht. Es schadet der Wirtschaft eines Landes, wenn
es einen aufgeblähten Finanzsektor hat. – Genau aus die-
sem Grunde brauchen wir eine Schuldenbremse für Ban-
ken – Leverage-Ratio –, die Sie in harter Form aber nicht
wollen und auf internationaler Ebene verhindern.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Stimmt ja überhaupt nicht!)


Wir brauchen auch eine Besteuerung von Finanzumsät-
zen. Denn es ist für die wirtschaftliche Entwicklung
nicht gut, wenn Umsätze an den Finanzmärkten privile-
giert werden. Es ist falsch, wenn auf jedes Brötchen und
jeden Stuhl Umsatzsteuer erhoben wird, aber nicht auf
Finanzprodukte. Das muss korrigiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es gibt einen zweiten wichtigen Punkt: die soziale
Balance und die Verteilungsfrage. Ja, es ist zu Recht ge-
sagt worden, dass eine Finanztransaktionsteuer ein Teil
eines Ausgleiches sein kann, wenn wir jetzt die Haus-
haltssanierung angehen und es um die Frage geht: Wer
trägt die Finanzierung künftiger Ausgaben? So hat auch
die Bundeskanzlerin im Juni 2010, also vor einem Jahr,
gesagt: Die Tatsache, dass wir eine Finanztransaktion-
steuer einplanen, ist ein Beitrag zur Gerechtigkeit. – Das
war Ihre Aussage, als es damals um das Sparpaket ging.
Damit wurde begründet, dass es Kürzungen gibt: beim
Heizkostenzuschuss, bei der Rente und bei den Arbeits-
marktmaßnahmen. Sie haben damals gesagt: Dieses Pa-
ket ist ausgewogen, weil es auch zu einer Belastung der
Industrie bzw. der Wirtschaft kommt, zum Beispiel
durch die Brennelementesteuer und die Finanztrans-
aktionsteuer.

Wo stehen wir heute? Ursprünglich ging man von
Einnahmen aus der Brennelementesteuer in Höhe von
2,3 Milliarden Euro aus. Mittlerweile ist bekannt, dass
die Einnahmen deutlich geringer ausfallen – man rechnet
jetzt mit 1,3 Milliarden Euro –, und die Finanztrans-
aktionsteuer ist aus dem Finanztableau für den Haushalt
2012 hinausgeflogen. Das heißt, wenn Sie Ihren eigenen
Maßstab der sozialen Balance der Haushaltspolitik von
vor einem Jahr anlegen würden, müssten Sie heute zuge-
ben, dass von einem fairen Ausgleich keine Rede mehr
sein kann, weil die Maßnahmen, die zur Belastung der
Wirtschaft eingeplant waren, so nicht realisiert werden.
Bei der sozialen Balance Ihrer Politik besteht ganz drin-
gender Korrekturbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es hat einen tieferen Grund, warum wir diese soziale
Balance brauchen. Es ist so – das müssen Sie zur Kennt-
nis nehmen –, dass die Schieflage bei der Einkommens-
verteilung eine der Ursachen der Finanzkrise war.


(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

In diesem Punkt besteht in der Forschung inzwischen ein
ziemlich breiter Konsens; Joseph Stiglitz hat das schon
vor zwei Jahren deutlich gemacht. Studien des Interna-
tionalen Währungsfonds kamen zu dem Ergebnis, dass
der Zusammenhang zwischen der Konzentration hoher
Einkommen bei wenigen Haushalten und der hohen
Verschuldung ärmerer Haushalte in dieser Krise eine
wichtige Rolle gespielt hat. Wenn man aus der Krise he-
rauskommen und versuchen will, die Wirtschaft zu stabi-
lisieren, sodass die Wahrscheinlichkeit einer neuen Krise
sinkt, dann muss man dafür sorgen, dass auch die Ein-
kommen der Unter- und Mittelschicht wieder stabilisiert
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das heißt nichts anderes, als dass wir uns mit der
Frage beschäftigen müssen: Wie wird die Steuerlast ver-
teilt? Schauen Sie sich die Situation in Europa an. Die
EU-Kommission fordert von Spanien, die Mehrwert-
steuer auf Grundgüter, also auf Güter, die jede Bürgerin
und jeder Bürger braucht, zu erheben. Es ist wichtig,
dass sich die deutsche Bundesregierung jetzt aktiv dafür
einsetzt, dass nicht Steuern auf Grundgüter erhoben wer-
den, die jeder Bürger und jede Bürgerin zahlen muss
– auch die Menschen, die schon in der Finanzkrise viel
verloren haben –, sondern dass endlich die Privilegie-
rung von Finanzumsätzen abgeschafft und durch die
Einnahmen aus einer Finanztransaktionsteuer die Finan-
zierung europäischer Ausgaben gewährleistet wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Klassenkampf!)


– Für das Stichwort „Klassenkampf“ bin ich Ihnen sehr
dankbar, Herr Volk.


(Zuruf von der SPD: Was hat er gesagt?)


– „Klassenkampf“ hat er gesagt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Davon hat er doch gar keine Ahnung!)


Nein! Machen Sie sich einmal wieder den Gedanken
einer sozialen Marktwirtschaft klar. Schon am Beginn
der Bundesrepublik Deutschland ist ein breiter Konsens
entstanden – übrigens von Ordoliberalen formuliert und
vorgeschlagen –: Eine Marktwirtschaft kann nur stabil
sein, wenn es einen sozialen Ausgleich gibt. Wer heute
daran erinnert, mitten in der Krise, die dadurch ver-
schärft wurde, dass die Verteilungssituation nicht
stimmt, der macht keinen Klassenkampf, sondern der
sorgt dafür, dass eine solche Krise in Zukunft nicht mehr
stattfinden kann. Dass die FDP dabei nicht mitzieht, ist
ihr schwächster Punkt. Deswegen nähern sich Ihre Um-
frageergebnisse langsam den Steuersätzen, die wir für
die Finanztransaktionsteuer vorschlagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Haben Sie eigentlich wahrgenommen, dass in der
Wissenschaft inzwischen klar ist, dass der Markt für
Collateralized Debt Obligations – CDOs –, der Markt für
die problematischen Hypothekenpapiere, nur entstehen
konnte, weil es eine Konzentration von Reichtum bei
wenigen Individuen gab? Nehmen Sie es eigentlich zur
Kenntnis, dass die Schieflage auch eine Ursache dieser
Krise ist und dass wir aus dieser Krise nur herauskom-
men, wenn wir diese Schieflage korrigieren? Das hat
überhaupt nichts mit Klassenkampf zu tun, sondern das
ist das Wiederherstellen der Bedingungen für eine so-
ziale Marktwirtschaft. Erinnern Sie sich einmal: Das
führen Sie ständig im Mund. Tun Sie es auch!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Sie versprechen das Falsche! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP hat sich schon längst von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet!)


Ich muss zum Schluss kommen. – Ich glaube, eine
Sache ist wichtig: Wir müssen dieses Anliegen in diesem
Haus wirklich gemeinsam vertreten. Deswegen ist die
Kooperation mit der französischen Nationalversamm-
lung gut. Wir müssen uns klarmachen: Wenn wir die De-
batte in Europa gewinnen wollen und das sicherstellen
wollen, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land will, nämlich eine wirkliche Veränderung
an den Finanzmärkten, dann müssen wir gemeinsam da-
für kämpfen. Es kann dann nicht sein, dass Vertreter der
Regierungskoalition hier Larifari von sich geben und
ausweichende Bedingungen formulieren, sondern dann
ist an dieser Stelle ein wirkliches Handeln von Regie-
rung und Fraktionen notwendig. Wir haben heute bei den
Koalitionsfraktionen erlebt, dass das nicht der Fall ist.

Korrigieren Sie das, damit hinter den Ankündigungen
der Minister und der Kanzlerin etwas mehr als nur laue
Konzepte steht. Wir brauchen jetzt eine wirkliche Strate-
gie, die dieses Haus hier gemeinsam entwickeln muss.
Hören Sie auf, das zu blockieren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711406200

Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1711406300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Poß, nachdem sich die Sozialdemokraten bei
vielen bedeutenden europäischen Abstimmungen in den
letzten Monaten etwas schwergetan haben, begrüßen wir
es natürlich außerordentlich, dass uns deutsche Sozialde-
mokraten und französische Sozialisten nun gemeinsame,
wortgleiche Anträge zeitgleich diskutieren lassen. Da-
durch wird aber der Inhalt natürlich nicht viel aktueller.

Zum einen wissen Sie – mein Kollege Michelbach hat
darauf hingewiesen –, dass wir in wenigen Tagen oder
Wochen hoffentlich den Prüfbericht der Europäischen
Kommission zu eben diesem Thema Finanztransaktion-
steuer erwarten und dann gemeinsam prüfen müssen, ob





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)

unsere deutschen Interessen und unsere deutsche Posi-
tion dort hinreichend wiedergefunden werden.

Zum anderen wollen Sie mit diesem Antrag wahr-
scheinlich den Eindruck erwecken, dass, wenn wir auf
europäischer Ebene zu einer Finanztransaktionsteuer
kommen, es an Ihrem heutigen Antrag liegt. Wir wissen
beide, dass das am Ende wahrscheinlich nicht der Wahr-
heit entspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das ist eine kühne Unterstellung!)


Deswegen versuche ich, einige sachliche Anmerkun-
gen aus meiner Sicht in dieser Debatte zu machen.

Deutschland ist – das würde ich am Beginn gerne be-
wusst festhalten – bei der Einführung einer internationa-
len Finanztransaktionsteuer gemeinsam mit Frankreich
und Österreich momentan Motor in Europa.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Warum weiß die FDP nichts davon?)


Um das sehr klar zu sagen, weil es hinsichtlich der natio-
nalen Einführung, Herr Wissing, und der internationalen
Einführung hier offensichtlich eine unterschiedliche De-
battenlage gibt: Das Präsidium der CDU hat vor der
Euro-Krise, am 14. Januar 2010, einstimmig beschlos-
sen, dass wir eine internationale Finanztransaktionsteuer
einführen wollen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das stellt niemand infrage!)


Wir haben genauso klar gesagt: „Wir sind gegen einen
nationalen Alleingang“, weil wir fest davon überzeugt
sind, dass bei solchen Fragen sowohl die Zeit der Ideolo-
gien als auch die Zeit nationaler Alleingänge vorbei ist.
Auch das ist eine Lehre aus der Krise.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Einheit des Euro-Raums – was aus meiner Sicht
das Minimum sein müsste –, besser noch die Einheit
Europas, sollte in dieser Frage unser Maßstab und Ziel
sein. Es sind schon viele Zahlen genannt worden; ich
greife nur eine heraus: Zwei Drittel des Handelsumsat-
zes der europäischen Börsen – da bin ich noch nicht in
New York, Schanghai oder Hongkong – entfallen auf die
Börsen in London und Madrid. Das heißt, wenn Großbri-
tannien und Spanien nicht mitmachen, bleibt dieser
europäische Tiger, den wir zu schaffen versuchen, zahn-
los. Wir wissen auch, dass die Deutsche Börse in
Frankfurt nicht einmal einen Anteil von 10 Prozent am
europäischen Börsenumsatz macht. Wir sind also gut be-
raten, die Bundesregierung dabei zu unterstützen, inter-
nationale Lösungen – zumindest im Euro-Raum, besser
noch in ganz Europa – herbeizuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Weil ich den Eindruck habe, dass wir Deutsche hier
unsere Position offensiv vertreten müssen, will ich sehr
deutlich machen: Wir von der CDU/CSU sind nicht be-
reit, zu akzeptieren, dass auf der einen Seite Triple-A-
Länder wie Frankreich, Österreich und Deutschland, die
momentan Motor des Aufschwungs sind, und auch Finn-
land und Luxemburg dringend benötigt werden, um mit
ihrer herausragend guten Bonität Europa und den Euro
zu stabilisieren, sich Europa auf der anderen Seite wei-
gert, von diesen Ländern vorgeschlagene Regelungen zu
internationalen europäischen Spielregeln zu akzeptieren.
Wir erwarten deshalb, dass die EU – in diesem Punkt
teile ich Ihre Kritik, Herr Kollege Schick – jetzt zügig zu
Ergebnissen kommt. Deutschland hat sich aufgrund gu-
ter Politik, aber auch wegen der vielen fleißigen Arbeit-
nehmer und insbesondere des deutschen Mittelstandes,
der momentan in Europa ein stabilisierender Faktor ist
– auch das muss man an dieser Stelle einmal wohlwol-
lend und lobend erwähnen –, als stabil erwiesen und
sollte zusammen mit den vorhin von mir erwähnten Län-
dern Vorschläge für die Ausgestaltung von europäischen
Spielregeln machen.

Unser Finanzminister Wolfgang Schäuble hat völlig
recht, wenn er sagt: Eines darf keinesfalls passieren,
nämlich dass wir drei Jahre diskutieren und dann nichts
hinbekommen. – Das wäre in der Tat ernüchternd für
Europa, ernüchternd für das Thema, aber auch ernüch-
ternd für die Bevölkerung, weil sie dann den Eindruck
bekommen würde, dass wir weder Lehren aus der Krise
gezogen haben noch international in der Lage sind, den
Finanzsektor zu regulieren und so zu gestalten, wie wir
es mit Blick auf unsere Verantwortung für richtig halten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will jetzt sehr bewusst das aufgreifen, was Sie,
Herr Wissing, gesagt haben und was Gegenstand einer
kritischen Debatte war: Europa – das ist zumindest mein
Eindruck – benötigt Deutschland. Wenn ich an die
nächsten 48 Stunden denke, liegt mir auf der Zunge, zu
sagen: offenkundig mehr denn je. Europa benötigt inso-
fern auch unsere soziale Marktwirtschaft, die nicht zu-
letzt der Grund dafür ist, dass Deutschland so stark ist.
Zu dieser sozialen Marktwirtschaft – ich sage das sehr
deutlich – gehören neben Freiheit auch Spielregeln und
soziale Gerechtigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wer von uns also erwartet, dass wir in einer schwieri-
gen Situation zu Europa stehen – ich vermute, die Mehr-
heit dieses Hauses wird dies in den nächsten Stunden
tun – und dass wir für unsere Währung Euro einstehen,
der muss auch akzeptieren, dass wir bei den Regeln für
die Finanz- und Wirtschaftsordnung in Europa ein kräfti-
ges Wörtchen mitreden möchten. Die Menschen in
Deutschland erwarten von uns zu Recht, dass wir, wenn
wir aus Überzeugung für Europa werben, auch in ande-
ren Bereichen unsere Positionen durchsetzen, die zur
Vermeidung einer neuen Krise notwendig sind.

Wir erwarten hier von unseren europäischen Partnern
und Freunden – ich sage das sehr klar und glaube, dass
dies auch die überwältigende Mehrheit der Menschen in
Deutschland, völlig unabhängig von der Parteiorientie-
rung, so sieht –, dass sie die berechtigte Interessenlage
Deutschlands respektieren und sich in der Frage einer in-





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)

ternationalen europäischen Finanztransaktionsteuer dem
Vorschlag von Frankreich, Österreich und Deutschland
anschließen. Nach einer europäischen Lösung – auch das
sollte heute betont werden – muss es unser Ziel sein,
eine internationale Regelung in Nordamerika und in vie-
len anderen Ländern dieser Erde durchzusetzen. Denn
nur internationale Regeln schützen uns vor einer erneu-
ten Finanzkrise.

Der Grund für den Dissens in der Debatte, Herr Kol-
lege Wissing, war – das war zumindest mein Eindruck –,
dass einige Ihnen unterstellt haben, Sie würden nicht für
internationale Regeln einstehen. Natürlich sind wir in
der Koalition gemeinsam der Auffassung, dass auf inter-
nationaler Ebene Lehren aus dieser Finanzkrise gezogen
werden müssen. Da schaden nationale Alleingänge.
Denn bei aller Bedeutung der Finanztransaktionsteuer:
Sie wird nicht alle Probleme, die im Rahmen der Finanz-
krise aufgetreten sind, lösen können. Sie wäre aber ein
ergänzender Baustein neben vielen anderen Dingen, die
wir gemeinsam in den letzten Jahren angegangen sind,
und insofern ein weiterer Schutz vor einer möglichen
nächsten Krise. Deshalb unterstützen wir die Bundes-
regierung in ihrer Position, europäische Regelungen zu
erreichen und dann daran zu arbeiten, sie international
durchzusetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711406400

Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1711406500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Debatte hat uns in ihrem Verlauf leider gezeigt
– das wissen wir eigentlich schon –, wie der Zustand die-
ser Regierungskoalition ist und in welch unterschiedli-
chen Tonarten dort gesprochen wird. Ich will das aber
gar nicht weiter vertiefen, weil ich dann meine wertvolle
Redezeit auf die FDP verwenden müsste. Meine Rede-
zeit beträgt sieben Minuten. Diese Zahl ist Gott sei Dank
höher als die Prozentzahl, die die FDP bei einer Wahl
bekäme.

Ich möchte gerne aufgreifen, was mein Vorredner,
Herr Steffel, deutlich gemacht hat, und an seine Rede an-
knüpfen. Wir als Sozialdemokraten haben den vorliegen-
den Antrag nicht eingebracht, um dieses Thema zu ver-
einnahmen. Dafür sind dieses Thema und die damit in
Verbindung stehende Aufgabe zu wichtig. Wir haben das
Ganze im Zusammenhang mit der Bewältigung der euro-
päischen Krise und der Beteiligung des Finanzsektors an
den Kosten dieser Krise zu sehen. Das müssen wir errei-
chen. Das wollen wir über eine Finanztransaktionsteuer
hinbekommen. Daher ist es richtig, wenn hier eine sol-
che Tonart angeschlagen wird.


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte noch auf etwas anderes eingehen. Es ist
erfreulich, zu hören, dass der Bundesfinanzminister, der
sich hierzu unterschiedlich deutlich ausgesprochen hat,
von Teilen der Koalition unterstützt wird. Auch bei der
Bundeskanzlerin gab es ein Hin und Her;


(Joachim Poß [SPD]: Vorsichtshalber bleibt sie weg, um die Reden nicht zu hören!)


auch sie hat sich in diese Richtung geäußert. Hier bedarf
es weiterer Unterstützung. Wir sind auch deshalb noch
nicht weiter, weil aus der Regierungskoalition keine ein-
heitliche Unterstützung kommt. Da wollen wir gemein-
sam nachhelfen. Wir hoffen – diese Hoffnung gebe ich
noch nicht auf; denn die Debatte ist noch nicht zu
Ende –, dass wir hier einen Schritt weiterkommen.

Ich will einige Punkte ansprechen, die missverstanden
worden sind. Herr Michelbach hat sich dahin gehend ge-
äußert – das ist der erste Aspekt –, wir als SPD wollten
diese Steuer national einführen. In unserem Antrag wird
klar, dass eine internationale Einführung richtig wäre.
Ich muss an dieser Stelle aus unserem Antrag zitieren
– denn er ist offensichtlich nicht gelesen worden –:

Die Gesetzesinitiative soll so ausgestaltet sein, dass
sie sich in der Europäischen Union …, notfalls aber
vorerst allein in der Euro-Zone oder in einem Zu-
sammenschluss von mehreren Einzelstaaten einfüh-
ren lässt …

Darum geht es uns; das ist der Weg.

Dazu sage ich: Mit den Worten „mehrere Einzelstaa-
ten“ sind nicht nur Deutschland, Frankreich und Öster-
reich gemeint, sondern es sollte auch bekannt sein, dass
Belgien, Luxemburg, Finnland und außerhalb des EU-
Raums auch Norwegen diesen Weg mitgehen würden.
Von daher gibt es hierfür eine breite Basis. Diese Chance
muss ergriffen werden. Das ist der Kern des Antrags.
Darum geht es.


(Beifall bei der SPD)


Der zweite Aspekt ist der Prüfbericht. Es war gestern
im Finanzausschuss toll, Herrn Wissing und Kommissar
Semeta nebeneinander sitzen zu sehen. Ich bewundere
Herrn Wissing dafür, dass er gestern die Nerven behalten
hat.


(Joachim Poß [SPD]: Es ist unglaublich, dass Sie Herrn Wissing bewundern!)


Eigentlich hätte er aus dem Hemd springen müssen;
denn der Kommissar der Europäischen Union hat ges-
tern deutlich gemacht, dass die EU-Kommission nicht
mehr an der Finanzaktivitätsteuer festhält, die die Bun-
desregierung dankenswerterweise ablehnt und für die es
hoffentlich keine Mehrheit gibt, sondern jetzt vorurteils-
frei die Finanztransaktionsteuer prüfen will.

Er hat zu dem wichtigen Thema der Gefahr der Ab-
wanderung erklärt, dass wir uns nicht damit aufhalten
sollten, darüber zu jammern und es als Gegenargument
zu strapazieren, sondern dass die Kommission versucht,
Wege zu finden, wie man diese Abwanderung einhegen
kann, wie man dafür sorgen kann, dass die Transaktio-
nen besteuert werden, ohne dass es zu Abwanderungen





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

kommt. Einen solchen Weg muss man gehen. Das ist ein
konstruktiver Umgang damit.

Herr Wissing, statt hier Ihre Märchenstunde über die
Vergangenheit abzuhalten, die offensichtlich nur Sie sel-
ber und ein paar FDPler erlebt haben, wäre es besser ge-
wesen, dies zu sagen und deutlich zu machen; denn das
hätte auch Ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Ich erwarte, dass
Sie als Vorsitzender des Finanzausschusses – das sind Sie
noch – die Debatten kennen. Sie haben uns an einer Stelle
Unglaubwürdigkeit vorgeworfen: Wir würden sagen,
dass der Finanzsektor nicht vernünftig besteuert wird,
und das sei falsch. Die EU-Kommission befasst sich aber
deshalb mit diesem Thema, weil festgestellt worden ist
– Kollege Schick hat dies dargestellt –, dass der Finanz-
sektor im Bereich der Umsatzbesteuerung ausgespart
werde, dass dies – so steht es in Vorlagen der EU-Kom-
mission – eine Unterbesteuerung des Finanzsektors be-
deute und dass man das korrigieren wolle. Ich erwarte,
Herr Wissing, dass Sie als Vorsitzender des Finanzaus-
schusses das wissen und uns hier nichts vorwerfen, son-
dern endlich klar die Wahrheit sagen und sich dazu be-
kennen, dass Sie – und nicht wir mit unserem Antrag – auf
dem Holzweg sind.


(Beifall bei der SPD)


Zum Schluss möchte ich an Sie appellieren, sich
wirklich zu überlegen, wie Sie sich in dieser Sache ver-
halten und damit umgehen wollen. In dieser Minute
– das ist wahrscheinlich einmalig – führt die französi-
sche Nationalversammlung auf der Grundlage eines
gleichlautenden Antrages die gleiche Debatte wie wir.
Ich finde, das ist ein großer Schritt. Ich hoffe, dass wir
einen solchen Gleichschritt, wie wir ihn jetzt mit unseren
Parteien hinbekommen haben, auch zwischen Deutsch-
land und Frankreich erreichen.

Richtig überraschend und positiv ist aber, dass sich
vorgestern die UMP, die konservative Partei Frank-
reichs, die Partei des Präsidenten Sarkozy, dem Antrag
der Sozialisten in Frankreich, der dem Antrag der So-
zialdemokraten in Deutschland entspricht, angeschlos-
sen hat.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das war ein eigener Antrag!)


– Herr Brinkhaus, ich bedanke mich für die Detailkor-
rektur, die aber im Kern nichts ändert. Es wurde ein ei-
gener Antrag eingebracht, so wie man das parlamenta-
risch macht; aber er ist im Kern wortgleich.

Er sieht übrigens einen Steuersatz von 0,05 Prozent
– Herr Michelbach hat dies hier noch bekrittelt – und
eine breite Bemessungsgrundlage vor. Es gibt aber eine
Differenz: Die Einnahmen sollen nicht unbedingt in den
nationalen Haushalt eingestellt werden, wofür wir hier
sind, sondern die UMP schreibt, dass dieses Geld insbe-
sondere für Entwicklungshilfe und den Kampf für Kli-
maschutz eingesetzt werden soll.


(Beifall bei der SPD)


Ich teile das von der inhaltlichen Seite her. Das könnte
eine Verwendungsmöglichkeit sein. Wir sagen aber
trotzdem, dass es eine Vereinnahmung in den nationalen
Haushalt geben soll. Ich sage nur: Die UMP, Ihre
Schwesterpartei in Frankreich, geht da einen Schritt wei-
ter. Sie lehnen dies hier vehement ab. Auch das sollte Sie
zum Nachdenken bringen.

Ich hätte mich gefreut, wenn Sie diesen Schritt ge-
macht hätten. Sie können das hier nachholen, indem Sie
heute unserem Antrag zustimmen. Wenn Sie hier und
heute einen eigenen Antrag – wortgleich mit unserem –
eingebracht hätten, dann hätten wir auch Ihrem Antrag
zugestimmt, und wir hätten die Situation, dass nicht nur
die Franzosen in ihrer Nationalversammlung, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711406600

Herr Kollege.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1711406700

– sondern hoffentlich auch wir hier die Finanztransak-

tionsteuer auf den Weg bringen könnten. Das braucht
Deutschland dringend, das braucht Europa dringend, und
das brauchen auch die Menschen in unseren Ländern.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wo ist eigentlich der Herr Michelbach geblieben?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711406800

Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1711406900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Das deutsch-französische Verhältnis ist natür-
lich wichtig und verdient eine besondere Pflege. Es ist
auch begrüßenswert, wenn solche Initiativen in beiden
Parlamenten zeitgleich beraten werden. Das bedeutet
aber natürlich nicht, dass man die Dinge hier unkritisch
durchwinkt, sondern man sollte schon einen kritischen
Blick auf das werfen, was hier vorgelegt wurde.

Sie schreiben in Ihrem Antrag als erste These, dass
der Finanzsektor keinen seiner Bedeutung entsprechen-
den Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leistet.
Das steht auf der ersten Seite. Da habe ich mich gefragt,
wie es eigentlich um die Körperschaftsteuer, die Gewer-
besteuer und auch die Einkommensteuer bei den Mana-
gern jener Unternehmen steht; denn hier wird ja nach
Leistungsfähigkeit besteuert. Dass da keiner einen seiner
Bedeutung entsprechenden Beitrag zur Finanzierung des
Gemeinwesens leistet, kann man sicherlich nicht sagen.

Die Lösung aus Ihrer Sicht ist eine Finanztransaktion-
steuer, die – das haben Sie ja selber im Laufe der Debatte
mehrfach gesagt – wie eine Umsatzsteuer wirkt. Sie soll
aber die Verursacher treffen. Wenn man eine solche
Steuer einführen möchte, dann muss man Pro und Kon-
tra abwägen. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob sie das
geeignete Instrument ist, um dieses Ziel zu erreichen.
Wen wollen Sie denn damit treffen? Angesichts der Im-
mobilienblase in den Vereinigten Staaten, die man si-





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)

cherlich als krisenursächlich ansehen kann, frage ich
mich, ob Sie die Clinton-Administration treffen wollen,


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Mein Gott, Junge!)


die hinsichtlich der Hypothekenkredite in den Vereinig-
ten Staaten einen Fehler gemacht hat. Oder wollen Sie
vielleicht die Landesbanken treffen, die die Krise nach
Deutschland importiert haben, oder am Ende gar die
Sparkassenvorstände, die in den Aufsichtsräten der Lan-
desbanken agiert haben?

Das alles werden Sie mit der Finanztransaktionsteuer
nicht schaffen. Im Gegenteil: Sie werden wie bei jeder
Umsatzsteuer erreichen, dass die Belastung letzten En-
des an den Anleger durchgereicht wird. Dabei entsteht
auch – das schreiben Sie sogar in Ihrem Antrag, und es
blieb im Übrigen damals in der Anhörung unwiderspro-
chen – ein gewisser Effekt für die Arbeitnehmer, zum
Beispiel auf ihre Pensionskassen, und für die Riester-
Sparer.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch endlich mit dem Unsinn auf! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: 70 Euro in 20 Jahren!)


Denn wenn die Vermögen entsprechend umgeschlagen
werden, fällt auch diese Steuer an. Das kann das Endver-
mögen um 6 bis 9 Prozent mindern.

Die Frage ist, ob man damit wirklich die Finanz-
märkte erreicht. Werden diese an der Krise beteiligt?
Reichen die Maßnahmen, die die Bundesregierung zum
Beispiel mit der Bankenabgabe eingeleitet hat, nicht aus,
um den Sektor entsprechend an der Krise zu beteiligen?

Des Weiteren möchten Sie die Finanztransaktion-
steuer zur Bekämpfung der Armut heranziehen. Das ist
ein hehres, richtiges und gutes Ziel. Die Frage ist aber,
was Sie mit dem Geld machen wollen. Wollen Sie damit
die Krisenkosten bezahlen oder die Armut bekämpfen?
Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben; es sei denn,
Sie beherrschen die Kunst der wundersamen Geldver-
mehrung.

Das Ziel, das Sie mit dieser Steuer verfolgen, ent-
spricht dem Ziel, das Sie eigentlich immer verfolgen,
nämlich Abkassiererei. Sie stellen damit Ihr Ziel in eine
Linie mit Ihren bisherigen Vorhaben: Trinken für die
Truppe, Rauchen für die Rente und jetzt Spekulieren ge-
gen Hunger.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was sagt eigentlich die Bundesregierung zu so einer Rede? Das ist ja unglaublich!)


Die nächste Frage, die sich mir stellt, ist, ob die Len-
kungswirkung, die Sie dieser Steuer unterstellen, über-
haupt eintreten wird. Manche Ökonomen sagen, dass Sie
damit Liquidität aus dem Markt herausziehen und die
schnelle Informationsweitergabe bei Fehlbewertungen
am Markt beseitigen.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Sänger, wer hat Ihnen denn das gesagt?)

Am Ende würde eine derartige Steuer möglicherweise
mehr schaden als nutzen.

Damit komme ich zur Frage der Abwanderung. Das
ist aus meiner Sicht als jemand, der aus Hessen kommt
– Frankfurt liegt schließlich in Hessen –,


(Kerstin Tack [SPD]: Da hat er mal etwas Wahres gesagt!)


das größte Problem. Wenn Sie eine solche Steuer nur in
der Euro-Zone einführen wollen, dann ist der Finanzplatz
London davon nicht betroffen. In den Millisekunden, in
denen diese Geschäfte stattfinden, Herr Dr. Troost, kann
man auch den Handelsplatz ändern.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das auch nicht!)


Das ist ein einfacher Klick im Programm, und schon fin-
det die Transaktion in London statt. Damit haben Sie
letztlich keines Ihrer Ziele erreicht, weil die Spekulation
und der Handel mit Finanzprodukten dort weiterlaufen.

Wir unterstützen selbstverständlich eine Prüfung und
gründliche Aufarbeitung aller Punkte, die ich eben ge-
nannt habe, um zu einer vernünftigen Datenbasis zu kom-
men und zu erkennen, ob das Instrument sinnvoll ist. Wir
wollen aber keine Einführung einer solchen Steuer unter-
halb der Europäischen Union. Wenn überhaupt, dann
wäre die Ebene der G 20 sinnvoll. Ich glaube aber, das ist
ausgeschlossen, wobei man auch da sagen kann, dass
dann möglicherweise der 21. kommt, der Regulierungs-
arbitrage schafft.

Unterhalb der Europäischen Union bzw. ohne den
Finanzplatz London werden wir die Steuer nicht einfüh-
ren können, und wir werden dies auch nicht wollen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711407000

Der Kollege Dr. Axel Troost hat das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711407100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir begrüßen ausdrücklich diese zeitgleiche Debatte
hier und im französischen Parlament. Die Forderung
nach einer Finanztransaktionsteuer, für die wir schon vor
der Finanzkrise eingetreten sind, ist inzwischen breit in
der Bevölkerung und auch in diesem Haus verankert.
Dem ist eine lange Vorarbeit vorausgegangen. Zunächst
wurde die Forderung vor allem von Attac erhoben, in-
zwischen unterstützt sie ein breites Bündnis von 82 Or-
ganisationen in der Kampagne „Steuer gegen Armut“.
Dieses Engagement will ich hier ausdrücklich würdigen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch international ist die Stimmung gut: Neben
Frankreich sind inzwischen auch viele andere Länder zu





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)

der Einführung bereit. Das Europäische Parlament – das
ist heute noch nicht erwähnt worden – hat am 8. März
mit der deutlichen Mehrheit von 78 Prozent für die Ein-
führung dieser Steuer gestimmt. Die traditionell eher
links angesiedelte Forderung wird inzwischen also auch
breit von Konservativen in Europa befürwortet. Vorges-
tern, am Dienstag, hat Kommissionspräsident Barroso
gesagt:

Ich bin für eine Finanzmarkttransaktionsteuer und
werde dazu in sehr naher Zukunft einige Ideen ein-
bringen.

Nun haben wir gehört, dass uns der zuständige EU-
Kommissar, Herr Semeta, der gestern bei uns war, zuge-
sichert hat, dass eine unvoreingenommene, ergebnis-
offene Prüfung vorgenommen wird. Ich selbst bin Volks-
wirt und kenne die Kolleginnen und Kollegen und die
Mehrheiten. Wenn die Mehrheit derjenigen, die prüfen,
aus Personen besteht, die seit 20 Jahren sagen, die Fi-
nanzmärkte seien das Effektivste und Finanzkrisen
könnten nicht vorkommen, dann ist zumindest nicht si-
cher, ob diese Personen ihre Meinung wirklich so schnell
ändern. Oder – um es an einem einfachen Beispiel deut-
lich zu machen –: Wenn Sie dem sehr berühmten Profes-
sor „Un-Sinn“


(Heiterkeit bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


den Auftrag geben, unvoreingenommen und ergebnis-
offen eine Prüfung durchzuführen, dann wissen Sie, was
das Ergebnis ist: Unsinn!


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir Bundestagsabgeordnete sind nicht dazu gewählt
worden, Unsinn zu machen, sondern wir sind gefordert,
Politik zu machen. In diesem Zusammenhang möchte
ich ausdrücklich die Rede von Herrn Steffel begrüßen
und sagen, dass nahezu Einmütigkeit herrscht, dass
Druck ausgeübt werden muss und wir deutlich machen
müssen, dass wir als deutsches Parlament der Ansicht
sind, dass diese Steuer auf europäischer Ebene breit ein-
geführt werden muss.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung bemüht sich in der Tat, bei die-
ser Einigung voranzukommen, und dafür loben wir sie.
Aber mein Eindruck ist bisher, dass es zwei große Pro-
bleme gibt. Das erste Problem ist die FDP.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Da haben wir es wieder!)


Das ist heute sehr deutlich geworden. Ich will auf die
Beiträge gar nicht eingehen. Es war nur peinlich, was
Herr Sänger hier vorgetragen hat.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt allerdings!)


Es ist wirklich so: Die FDP steht auf völlig verlorenem
Posten und sollte nicht nur ihre Führungsmannschaft,
sondern auch ihre unhaltbaren Positionen ausrangieren,
damit wir weiterkommen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe schon einmal in einer Debatte zu diesem Thema
gesagt: Es kann nicht sein, dass der Schwanz FDP in die-
ser Frage mit dem Hund, dem gesamten Parlament, wa-
ckelt.


(Björn Sänger [FDP]: Da können Sie mal sehen, wie viel Einfluss wir haben!)


Wenn es stimmt, dass die FDP und die CDU/CSU eine
gemeinsame Fraktionsklausur abhalten wollen, dann
kann ich die CDU/CSU nur bitten, die FDP in dieser
Frage wieder an die Leine zu nehmen, damit man mit ge-
meinsamen Positionen vorangehen kann.

Das zweite Problem ist die Frage, auf welcher Ebene
die Steuer eingeführt werden soll und wie groß die Zu-
stimmung zu der Einführung der Steuer sein muss. Wenn
man die Zustimmung aller 27 EU-Staaten fordert, dann
ist das aus unserer Sicht eher unrealistisch. Es muss da-
rum gehen, mit dem Kern, Frankreich, Österreich und
anderen, zu schauen, insbesondere noch Großbritannien
ins Boot zu bekommen, um dann die Steuer einzuführen.
Es muss darum gehen, eine Koalition williger Staaten
hinzubekommen, die dann entsprechend handelt. Was
wir wirklich brauchen, ist ein Vorratsbeschluss des Deut-
schen Bundestages, der dokumentieren würde, dass die
Bundesrepublik wie Frankreich, Belgien und Österreich
sofort eine solche Steuer einführen würde.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch etwas zu den Einnahmen aus
dieser Steuer sagen. Eine Finanztransaktionsteuer – das
wissen alle, die sich damit beschäftigt haben – bringt
weit mehr Einnahmen als die von Schäuble veranschlag-
ten 2 Milliarden Euro. Insofern ging es nie um so etwas
wie ein Instrument zur Finanzierung von Steuersenkun-
gen für Hoteliers; die Finanztransaktionsteuer ist viel-
mehr traditionell eine Steuer zur Finanzierung globaler
Angelegenheiten wie Entwicklungshilfe oder Umwelt-
und Klimaschutz.


(Beifall bei der LINKEN)


Und das ist auch richtig so.

Seit 40 Jahren haben alle Bundesregierungen das Ver-
sprechen gebrochen, 0,7 Prozent des Bruttonationalein-
kommens für Entwicklungshilfe zu verwenden. Eine
Mehrheit von 353 Bundestagsabgeordneten, darunter
also auch Mitglieder der Regierungskoalition, unter-
stützt inzwischen einen Aufruf zur Erfüllung dieses Ver-
sprechens. Mit einer Finanztransaktionsteuer wäre dies
problemlos finanzierbar. Es ist schon wichtig, das hier
noch einmal zu betonen. Das heißt nicht, dass diese
Steuereinnahmen nicht in den Haushalt fließen. Das
heißt auch nicht, dass darüber hinausgehende Einnah-
men aus dieser Steuer nicht für eine nachhaltige Politik
in der Bundesrepublik selbst genutzt werden können.





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)

Die Bundesregierung sollte in enger Abstimmung mit
der französischen Regierung und koordiniert mit ande-
ren Regierungen noch in diesem Jahr eine Gesetzesini-
tiative für eine europäische Finanztransaktionsteuer vor-
legen und dann in der Tat – ich stimme Herrn Steffel
völlig zu – auch international, etwa im G-20-Rahmen,
versuchen, andere davon zu überzeugen, dass das Erhe-
ben dieser Steuer eine sinnvolle Maßnahme ist. Wir soll-
ten versuchen, noch vor der Sommerpause einen ent-
sprechenden Vorratsbeschluss hier im Bundestag zu
fassen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711407200

Der Kollege Ralph Brinkhaus spricht für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1711407300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte zwei Vorbemerkungen machen:

Erstens. Ich glaube, dass eine gut organisierte, inter-
national möglichst breit angelegte Finanztransaktion-
steuer nicht dazu führen wird, dass der Finanzplatz
Deutschland ernsthafte Probleme bekommt. Ich bin des-
wegen der Meinung, dass die eine oder andere Aufre-
gung an dieser Stelle übertrieben ist.

Zweitens. Ich bin der Meinung, dass das Konstrukt
Finanztransaktionsteuer völlig überschätzt wird. Man
konnte hier hören, welche Einnahmen damit erzielt wer-
den sollen, was damit gemacht werden soll: Der Hunger
und die Armut in der Welt sollen damit bekämpft wer-
den; die Umwelt soll gerettet werden.


(Björn Sänger [FDP]: Spannung, Spiel und Schokolade!)


Ich glaube, das ist illusorisch. Es ist auch illusorisch, zu
glauben, dass wir mit einer lokal begrenzten Finanz-
transaktionsteuer eine Lenkungswirkung in der Form er-
zielen, dass unerwünschte Geschäfte von den internatio-
nalen Finanzmärkten verschwinden. Ich finde es
befremdlich, mit welcher teilweise geradezu religiösen
Inbrunst dieses Thema vorangetragen wird. Ich erkenne
den guten Willen, insbesondere bei einigen Nichtregie-
rungsorganisationen; aber ich sehe auch sehr viel Naivi-
tät.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Zu Ihrem Antrag.

Erstens. Sie fordern die Bundesregierung auf, sich zu-
sammen mit den europäischen Partnern für eine Initia-
tive zur Finanztransaktionsteuer einzusetzen. Meine Da-
men und Herren von der SPD, Sie wissen: Die
Bundesregierung macht das bereits. Sie wissen auch:
Die Bundesregierung findet nicht schrecklich viele Part-
ner für dieses Projekt. Sie wissen darüber hinaus, dass
wichtige europäische Länder gegen dieses Projekt sind.
Insofern ist Ihr Antrag an dieser Stelle fehlgeleitet. Was
Sie formulieren, ist nicht richtig.

Zweitens. Sie fordern eine Finanztransaktionsteuer in
Höhe von 0,05 Prozent. Sie müssen uns jetzt auch ein-
mal begründen, wie Sie auf diese Zahl kommen. Herr
Troost ist hier einmal durch die Gegend gelaufen und hat
0,01 Prozent gefordert.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: National!)


Es gibt NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die
0,1 Prozent fordern. Dieser Steuersatz ist durchaus er-
heblich. Wenn nämlich ein zu niedriger Steuersatz ge-
wählt wird, dann werden wir kein Steuersubstrat erzie-
len. Wenn ein zu hoher Steuersatz gewählt wird, dann
werden wir die Geschäfte, die wir besteuern wollen, im
Zweifel in andere Länder vertreiben, und zwar in solche,
in denen diese Steuer nicht erhoben wird. Das gilt es zu
bedenken. Das konnten Sie nicht ausräumen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Dazu gibt es eine Studie! – Weitere Zurufe von der SPD)


Sie fordern in Ihrem Antrag, dass diese Steuer auf
Wertpapiergeschäfte, auf Derivate, auf Devisentransak-
tionen erhoben wird. Das kann man machen. Ich hätte
mir gewünscht, dass Sie erklären – schließlich wollten
Sie mit diesem Antrag etwas Neues einbringen –, warum
Sie genau diese Abgrenzung vornehmen. Sie sagen: Wir
wollen börsliche und nichtbörsliche Geschäfte besteu-
ern. Auch da müssen Sie mir noch erklären, wie das ad-
ministrierbar sein soll. Wie soll zum Beispiel die Ver-
waltung von nichtbörslichen Geschäften aussehen? Das
ist durchaus eine große Herausforderung.

Sie sagen, meine Damen und Herren von der SPD,
dass diese Steuer im ersten Schritt dazu genutzt werden
soll, die nationalen Haushalte zu stärken. Das kann man
machen. Damit befinden Sie sich im Widerspruch zu den
Nichtregierungsorganisationen, auch zu einzelnen Par-
teien, die dezidiert fordern, dass dieses Geld zur Rettung
der Umwelt und des Klimas, zur Bekämpfung des Hun-
gers und für die Dinge, die ich eben benannt habe, ver-
wandt wird. Sie müssen auch beantworten, warum Sie zu
dieser Schlussfolgerung gekommen sind.

Sie sagen: Wir bauen eine Kaskade auf. Die Steuer
soll möglichst in der Europäischen Union gelten, wenn
das nicht klappt, im Euro-Raum und sonst in einer Ko-
alition der Willigen. Herr Sieling von der SPD hat ge-
rade aufgeführt, wer zu dieser Koalition der Willigen,
die das einführen wollen, gehören könnte. Aber Sie müs-
sen die Frage beantworten: Was ist, wenn Großbritan-
nien, der Finanzplatz London, nicht mitmacht? Dann be-
kommen wir ein erhebliches Problem. Was machen wir,
wenn die Schweiz nicht mitmacht, wovon auszugehen
ist? Diese Fragen sind unbeantwortet geblieben.

Zum Schluss – ich weiß nicht, warum Sie das vorge-
sehen haben – fordern Sie, dass das Parlament über den
Prozess der Entscheidungsfindung zeitnah und umfas-
send zu informieren ist. Das ist ein selbstverständliches





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

parlamentarisches Recht. Aber vielleicht war einfach
noch ein bisschen Platz auf dem Papier, sodass Sie das
hinzugefügt haben.

Wenn ich das alles einmal zusammenfasse, dann muss
ich sagen: Ich halte es – das ist sehr ernst gemeint – für
eine sehr gute Idee, etwas zusammen mit den französi-
schen Parlamentariern zu machen. Ich glaube, das soll-
ten wir an der einen oder anderen Stelle öfter machen,
und zwar deswegen, um einen Gegenpol zum Europäi-
schen Parlament zu bilden und um die Bedeutung der na-
tionalen Parlamente herauszustellen. Ich glaube, das ist
wichtig und gut.

Dieser Antrag eignet sich nur bedingt dafür, weil Sie
mit Ihrem Antrag nichts wirklich Neues liefern,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das sieht Ihre Fraktionsfreundin ganz anders!)


weil Sie Dinge bekräftigen, die schon geschehen, weil
Sie viele Fragen unbeantwortet lassen und weil dieser
Antrag, bei allem Respekt, handwerklich noch eine
Menge Potenzial nach oben hat. Insofern habe ich mir
schon die Frage gestellt: Warum wurde dieser Antrag
eingebracht?

Im Übrigen – Sie haben es gestern im Finanzaus-
schuss gehört –, das Timing ist sehr schlecht, die Euro-
päische Kommission erwartet die Ergebnisse wichtiger
Studien in den nächsten Wochen, die uns dann sicherlich
auch weiterbringen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und das Gesetz im Oktober!)


Ich habe mir also die Frage gestellt: Was ist der An-
lass dafür, dass die SPD diesen Antrag eingebracht hat?
Erste Vermutung: Sie wollten als Opposition der Regie-
rung einfach einmal zeigen: Ihr müsst mehr tun. Ich
glaube, die Regierung tut eine Menge, und es ist schon
erstaunlich, dass es eine christlich-liberale Regierung ist,
die das Projekt Finanztransaktionsteuer mit einer derarti-
gen Vehemenz vorantreibt, und nicht eine sozialistische
Regierung.


(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU] – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das haben wir heute gehört! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber der liberale Teil ist so gut wie weg!)


Das kann es also nicht sein.

Der zweite Punkt ist: Sie wollten vielleicht dezent da-
rauf hinweisen, dass unser Koalitionspartner dieses Pro-
jekt nicht mit der gleichen Begeisterung verfolgt, wie
wir das tun.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das wissen wir ja schon!)


Dazu muss ich sagen: Das ist Ihnen, wenn ich mir die
heutige Debatte anschaue, graduell auch durchaus gelun-
gen.


(Lachen bei der LINKEN)

Aber wir befinden uns in einer Koalition. Ich glaube, es
ist auch ganz gut und richtig, dass die FDP nicht immer
einer Meinung mit uns ist und andere Akzente setzt. Das
war übrigens in der Großen Koalition mit Ihnen, Herr
Poß, genauso der Fall.


(Joachim Poß [SPD]: Das hat aber nicht zu Handlungsunfähigkeit geführt wie bei Ihnen!)


In einer Koalition muss man sich einfach einigen und
Kompromisse finden. Ich glaube, die Regierung hat ei-
nen guten Kompromiss gefunden und vertritt diese Linie
eigentlich ganz gut.


(Joachim Poß [SPD]: Wir haben aber gehandelt!)


Das kann es also auch nicht sein.

Meine dritte These ist – das ist die These, die am
schlagendsten ist –, dass die SPD einfach mal ein finanz-
politisches Lebenszeichen von sich geben wollte.


(Zuruf von der FDP: Ja!)


Denn während diese Bundesregierung und diese Regie-
rungskoalition in den letzten 14 Monaten acht Gesetze
auf den Weg gebracht haben, darunter sehr umfangrei-
che, innovative Pakete – ob das nun das Verbot der Leer-
verkäufe war oder zum Beispiel das Bankenrestrukturie-
rungsgesetz –, wurde in den Diskussionen von Ihrer
Seite, subjektiv gefühlt, immer nur geäußert: Eigentlich
brauchen wir eine Finanztransaktionsteuer. Mehr ist
nicht gekommen. Das war, subjektiv gefühlt, Ihr Beitrag.


(Zurufe von der FDP und des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Jetzt ist es nicht meine Aufgabe, die Oppositionspolitik
zu bewerten. Aber, ehrlich gesagt, konstruktive Vor-
schläge, auch wenn sie nicht gut waren und wir sie nicht
teilen, sind leider nicht von der größten Oppositionspar-
tei gekommen, sondern von den Grünen. Das ist ein
peinliches Beispiel dafür, wie die finanzpolitische Quali-
tät und die Situation der SPD momentan sind. Außer Fi-
nanztransaktionsteuer fällt Ihnen nichts, aber auch gar
nichts ein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Schlimme an der Sache ist, dass Sie den Men-
schen damit suggerieren, dass die Regulierung der Fi-
nanzmärkte und das Erzielen von Steuersubstrat aus dem
finanzwirtschaftlichen Sektor mal so eben per Feder-
strich durch diese Steuer erreicht werden können. Nein,
das ist eine mühsame Kärrnerarbeit, das ist ein Kampf
um jede Regulierung, und das ist ein Kampf um jede
gute Entscheidung. An diesem Kampf haben Sie sich
nicht beteiligt. Das werfe ich Ihnen vor.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie sind doch der Ausfall!)


Sie haben immer nur die Finanztransaktionsteuer ge-
fordert. Das ist der einzige Beitrag, den Sie hier leisten,
und das ist schlichtweg zu wenig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Wie geht es jetzt weiter? Das ist ja die entscheidende
Frage. Es geht jetzt so weiter, wie es die Bundesregie-
rung, unser Bundesfinanzminister und unsere Bundes-
kanzlerin angekündigt haben: Wir werden auf europäi-
scher Ebene weiterhin vehement darum kämpfen, dass
wir eine vernünftig ausjustierte Finanztransaktionsteuer
bekommen. Wir werden daran arbeiten.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Kämpfen Sie erst einmal in Ihrer Koalition darum! – Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD])


Aber wir werden auch darauf achten, dass eine solche
Finanztransaktionsteuer, wenn sie denn eingeführt wird,
so organisiert wird, dass danach der Finanzplatz
Deutschland und der Finanzplatz Europa noch Bestand
haben und nicht das passiert, was den Schweden Ende
der 90er-Jahre passiert ist, als mit viel gutem Willen eine
ähnliche Steuer eingeführt worden ist, was jedoch zur
Folge hatte, dass daraufhin der Finanzplatz nachhaltig
verwüstet worden ist. Das ist nicht der richtige Weg.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist etwas anderes!)


Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der Weg, den diese
Regierung geht, ist nicht spektakulär, weil Verhandlun-
gen, die im demokratischen Umfeld stattfinden, nie
spektakulär sind. Dieser Weg ist lang, aber wir werden
ihn gehen. Ihr Antrag dazu war nett, aber nicht unbe-
dingt hilfreich.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Ihre Rede war auch nett, aber ohne Auswirkungen! Sie war harmlos!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711407400

Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1711407500

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Ihre Rede, Kollege Brinkhaus, stand wohl offen-
bar unter dem Obersatz, wie man acht Minuten Redezeit
füllt, wenn man unschlüssig ist. Ich glaube, das war Ihr
Problem.


(Beifall bei der SPD)


Es ist in der Tat bemerkenswert, wie sich die Kolle-
gen aus der CDU/CSU-Fraktion bisher verhalten haben;
Sie, Herr Flosbach, werden ja gleich noch sprechen. Der
Kollege Dr. Steffel ist sehr deutlich geworden und hat,
wie ich finde, eine vollkommen klare Linie vertreten.
Diese hat ja die Koalition in der Bundesregierung eigent-
lich schon beschlossen. Insofern müsste eigentlich auch
die FDP sagen: Das ist schon beschlossen. Wir müssen
das mittragen, weil wir in dieser Koalition sind und als
eine der Koalitionsfraktionen die Regierung tragen. –
Kollege Michelbach war ein wenig offen in seinen For-
mulierungen; nun gut.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist aber schon wohlwollend formuliert!)

Und Kollege Brinkhaus war ein wenig unschlüssig.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Waren Sie vielleicht in einem anderen Plenarsaal?)


– Nein, ich war gerade hier. Sie waren ein wenig un-
schlüssig. Sie haben sich nicht so recht geäußert, in wel-
che Richtung Sie denn nun wirklich etwas vorantreiben
wollen. Es war Ihnen irgendwie nicht so ganz klar, wie
Sie mit dieser Frage umgehen sollen.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Vielleicht erläutern Sie erst einmal die Position der SPD!)


Deswegen haben Sie versucht, sich an der SPD abzuar-
beiten, die selbstverständlich im Finanzausschuss an al-
len mit der Finanzmarktregulierung zusammenhängen-
den Themen genauso verantwortungsvoll arbeitet wie
Sie.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Waren Sie im Finanzausschuss dabei? Es ist schon lange her, dass Sie im Finanzausschuss waren!)


– Ich bin stellvertretendes Mitglied des Finanzausschus-
ses. Ich komme gewöhnlich nicht,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein, noch nie!)


aber ich habe Zugang zu den Protokollen. Herzlichen
Dank.

Vor ungefähr zwei Monaten hat die Frühjahrstagung
von IWF und Weltbank stattgefunden. Im Vorfeld haben
1 000 Ökonomen aus 53 Ländern, darunter Jeffrey Sachs,
Dani Rodrik und Christian Fauliau, einen Aufruf unter-
zeichnet, in dem ein Appell an das G-20-Finanzminister-
treffen zur Einführung einer internationalen Finanztrans-
aktionsteuer enthalten war. Das hat bedauerlicherweise
die dort Zusammengekommenen nicht weiter interes-
siert. In der Unterrichtung des Bundesministeriums der
Finanzen an den Finanzausschuss über die Frühjahrsta-
gung vom 14. bis 16. April in Washington heißt es unter
„Sonstiges“ – man merke: „Sonstiges“ –: Das Thema
Entwicklung inklusive Financial Transaction Tax spielte
bei dem Treffen keine größere Rolle.

Bedauerlicherweise muss man das feststellen. Genau
hier knüpft der Antrag der SPD an. Wenn wir auf der
Ebene der G 20 zurzeit nicht vorankommen, dann ist es
nötig, über ein abgestuftes Verfahren, wie wir es im An-
trag dargestellt haben, wie es auch von meinen Vorred-
nern dargestellt worden ist und wie es übrigens auch
Kollege Steffel als möglich und zielführend – in dieser
Reihenfolge natürlich – dargestellt hat, das Thema
Finanztransaktionsteuer voranzutreiben.

Selbstverständlich verfolgen wir immer noch das
große Ziel, möglichst alle mit ins Boot zu holen. Aber
wenn das nicht geht, sollten zumindest wir damit anfan-
gen. Eigentlich müssten wir doch davon überzeugt sein,
dass dieses Vorhaben, wenn es denn gut ist und ein höhe-
res Finanzaufkommen ermöglicht, eine Strahlkraft ent-
wickeln wird. Es macht dann auch nichts, wenn der Lon-
doner Finanzplatz nicht von Anfang an dabei ist. Man
sollte sich nämlich nur einmal vor Augen führen, dass
Großbritannien bei der Relation der Neuverschuldung





Dr. Barbara Hendricks


(A) (C)



(D)(B)

seines Haushaltes zum Bruttoinlandsprodukt auch nicht
besser dasteht als Griechenland. Großbritannien könnte
also durchaus auch ein bisschen Geld gebrauchen, um
eigene Probleme besser zu lösen.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Ich will nur, vorsichtig und ohne den Briten zu nahe tre-
ten zu wollen, die Daten vor diesem Hause einmal deut-
lich machen. Wenn Aufkommen auf vernünftige Art und
Weise erzielbar ist, wird das seine Strahlkraft entwi-
ckeln.

Selbstverständlich wird das Aufkommen – da muss
ich Ihnen widersprechen, Kollege Brinkhaus – dem
deutschen Bundeshaushalt zugeführt, und die Verwen-
dungszwecke werden dann in diesem Parlament festge-
legt, auch zugunsten von Entwicklung und Klimaschutz,
und zwar in den jeweiligen Haushalten. Uns liegt daran,
dass es ein nationales Aufkommen ist, selbstverständlich
auch mit internationalen Verwendungszwecken, die
durch dieses Parlament, durch diesen Haushaltsgesetz-
geber zu bestimmen sind. Es soll keine europäische
Steuer mit europäischem Aufkommen definiert werden.
So ist das zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir den
NGOs widersprechen würden; im Gegenteil.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich möchte mich noch kurz mit der heutigen Debatte
auseinandersetzen. Der Kollege Volker Wissing hat wie
immer nach dem Motto agiert: Frechheit siegt. Damit hat
er zu verbergen versucht, dass er die Finanztransaktion-
steuer eigentlich nicht will. Er sagt das nur nicht deut-
lich, weil er sich nicht offen gegen die Koalitionsräson
stellen kann. Aber es kommt klar genug zum Ausdruck.
Da war es doch gut, dass der Kollege Dr. Steffel seinem
Koalitionspartner Wissing einen Grundkurs in sozialer
Marktwirtschaft gegeben hat. Das hat mich gefreut, Kol-
lege Steffel. Es hat aber leider nicht geholfen. Denn
schon der FDP-Kollege Sänger war, ebenso wie einige
Zwischenrufer aus der FDP, nicht bereit, die in diesem
Grundkurs enthaltene Botschaft zu akzeptieren.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Die Botschaft intellektuell aufzunehmen! – Joachim Poß [SPD]: Die sind nicht mal grundkursfähig!)


In diesem Zusammenhang möchte ich den Mitglie-
dern der FDP – ich meine nicht die Fraktion – zurufen:
Die Abgeordneten, die entsendet werden, sollten über
eine Grundausstattung an historisch-politischem Wissen
und an ökonomischem Wissen verfügen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711407600

Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1711407700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist sehr inte-
ressant. Aber an dieser Stelle sollte der Bundesregierung
– unserer Bundeskanzlerin, unserem Finanzminister
Schäuble –, auch vonseiten der Opposition, dafür ge-
dankt werden, dass sie bei jeder internationalen Tagung
deutlich macht, dass die große Mehrheit der Deutschen
für eine Finanztransaktionsteuer ist, und dass sie diese
Steuer weltweit, unter den G 20, in Europa oder wo auch
immer einführen will. Das ist unser gemeinsames Anlie-
gen, auch in diesem Parlament. Insbesondere die Regie-
rungskoalition hat dies deutlich gemacht, indem sie
2,3 Milliarden Euro in den Haushalt eingestellt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damit haben wir ein Ziel formuliert, auch wenn uns be-
wusst ist, dass es weltweit große Widerstände und
Schwierigkeiten, die Steuer durchzusetzen, gibt.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie haben sie wieder rausgenommen!)


Ich finde es auch gut, dass beispielsweise die Parla-
mente in Frankreich und in Deutschland – wir haben ja
einen relativ engen Kontakt zu den Franzosen – sowie
Präsident Sarkozy sich dieses Themas angenommen ha-
ben und dass wir dieses Thema in der Europäischen
Union federführend vorantreiben. Der heute vorliegende
Antrag der SPD ist im Grunde eine Bestätigung der Re-
gierungspolitik.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wenn die FDP Ihnen nicht hilft, müssen wir es machen, Herr Flosbach!)


Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, über dieses
Thema zu diskutieren; deswegen haben wir dazu keinen
eigenen Antrag eingebracht.

Ihre Worte, Herr Sieling, waren natürlich viel schärfer
als der Inhalt Ihres Antrages. Es ist ein relativ ruhiger
Antrag. Sie sagen: Setzen Sie die Finanztransaktion-
steuer global durch. Wenn das nicht klappt, machen Sie
es wenigstens in Europa oder, wenn auch das nicht funk-
tioniert, zumindest in der Euro-Zone oder auch nur mit
Gleichgesinnten. – Das ist natürlich ein bisschen wenig.
Die Einführung beinhaltet ein höheres Risiko, wenn nur
wenige dahinterstehen. Der Kollege Brinkhaus hat ge-
rade am Beispiel Schwedens deutlich gemacht, wie in-
nerhalb kürzester Zeit 85 Prozent des Marktes eingebro-
chen sind. Das passiert, wenn man es isoliert einführt
und nicht mit den anderen abstimmt. Das ist ein großes
Risiko, dessen wir uns bewusst sind.

Ich glaube jedoch, dass insgesamt die Chance, dieses
Thema voranzubringen, recht groß ist, und zwar nicht
nur in Europa, sondern auch global. Wir sollten uns ein-
mal die Länder China, Hongkong, Brasilien, Indien und
Südafrika auf der G-20-Ebene ansehen, die bereits heute
eine Besteuerung ihrer Transaktionen durchführen. Übri-
gens hat auch Großbritannien eine Steuer, eine Stempel-
steuer, die allerdings auf ansässige oder registrierte Un-
ternehmen beschränkt ist.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auch die Schweiz!)






Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

Aber sie haben einen Weg gefunden, eine Besteuerung
einzuführen, deren Aufkommen immerhin 3,5 Milliar-
den Pfund ausmacht.

Warum sind wir im Grunde für eine Besteuerung des
Finanzsektors? Wir haben nicht nur mehrere Krisen er-
lebt, sondern stecken teilweise noch mittendrin. Wir ha-
ben mehrfach überlegt, wie wir den Finanzmarkt durch
eine Besteuerung an den Kosten beteiligen können. Hier
wird über die Finanzaktivitätsteuer, das heißt die Besteu-
erung von Gewinnen und Vergütungen, diskutiert. Oder
soll man den Handel von Papieren im Bereich der Ban-
ken, aber auch der Privatleute besteuern? Wir haben am
Finanzmarkt bisher keine Mehrwertsteuer, die wir in al-
len anderen Bereichen selbstverständlich erheben.

Der erste Gedanke ist natürlich: Die Banken waren
die Hauptverursacher der Krise, also müssen wir sie he-
ranziehen. Nun wissen Sie alle, dass etwa zehn Banken
mit recht großen Beträgen gerettet werden mussten.
Aber es ging auch um die anderen Banken, die durch die
Rettung dieser zehn Banken gesichert werden mussten.

Jetzt kann man natürlich sagen, dass diese Banken
mehr Steuern zahlen sollten, zum Beispiel über die Akti-
vitätsteuer. Das würde heißen, die Gewinne und Vergü-
tungen würden noch einmal zusätzlich besteuert. Das
kann ein Weg sein. Aber mit dieser Besteuerung und
dem damit verbundenen Kumulativeffekt, durch den die
Banken mehrfach belastet würden, würden viele Dinge
nicht umgesetzt werden, die wir mit Blick auf die Regu-
lierung des Finanzmarktes für wichtig halten. Wir wol-
len, dass die Banken stabiler werden. Es ist ein Marken-
zeichen dieser Bundesregierung und dieser Koalition,
dass wir in erster Linie darauf abstellen, wie wir den
Finanzmarkt wieder stabil machen können. Da sagen
wir: Wir brauchen mehr Eigenkapital in den Unterneh-
men. Das ist einer der absolut wichtigsten Punkte, damit
eine solche Krise nicht noch einmal passieren kann. Sta-
bilität – das ist das Wort dieser Regierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Daran anknüpfend haben wir – Herr Kollege
Brinkhaus hat mehrere Gesetze aufgezählt – durch das
sogenannte Restrukturierungsgesetz einen Weg gefun-
den, wie wir Banken auch in der Insolvenz übertragen
können, wenn sie systemrelevant sind. Oder wir können
sie pleitegehen lassen, ohne dass das System gefährdet
wird. Dafür haben wir eine zusätzliche Bankenabgabe
eingeführt. Dies ist zwar noch einmal eine Belastung des
Finanzsektors, aber notwendig, um in Zukunft für wei-
tere Krisen gewappnet zu sein.

Das Wichtigste im deutschen Markt ist die Versor-
gung unserer mittelständischen Wirtschaft mit Krediten.
Dazu brauchen wir stabile Banken. Deswegen müssen
wir ganz genau festlegen, wo angesetzt werden soll, wo
Banken belastet werden sollen, wo wir aber auch Ban-
ken stärken können, damit sie unseren Mittelstand finan-
zieren können. Wir haben im Gegensatz zu England
einen starken Mittelstand. Diese Wirtschaft ist stabil.
Diese Wirtschaft schafft es, 40 Prozent aller Leistungen
ins Ausland zu transportieren. Das ist die Stärke. Deswe-
gen müssen wir darauf achten, dass die Banken hier in
Deutschland besonders stabil sind.

Die Finanztransaktionsteuer soll auf Umsätze bei-
spielsweise durch Aktien, Renten, Derivate, Devisen er-
hoben werden. Das ist hier vorgeschlagen worden. Die
Europäische Kommission hat gesagt: Das kriegen wir
derzeit nur global hin. Herr Semeta hat gestern bei uns
im Finanzausschuss deutlich gemacht, dass hier noch
keine Entscheidung gefallen ist, ob besser die Aktivität-
steuer oder die Transaktionsteuer eingeführt werden soll.

Warum gibt es hier noch Unterschiede? Viele gehen
davon aus, dass man mit einer Finanztransaktionsteuer
auch seinen eigenen Heimatmarkt beschädigen kann,
wenn das passiert, was heute in der Finanzwirtschaft
vielfach passiert: Im Grunde wird auf den Knopf ge-
drückt, und der Handel findet nicht in Frankfurt, sondern
in London, New York, Hongkong oder anderswo statt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Das ist eine Problematik, der wir uns stellen müssen.
Deswegen ist es auch so wichtig, Herr Staatssekretär, in-
ternationale Verhandlungen zu führen, um die anderen
mit auf diesen Weg zu nehmen. Es kann nicht sein, dass
wir unseren Finanzmarkt durch diese Abwanderung
schwächen und die anderen dadurch gestärkt werden,
wie beispielsweise damals in Schweden.

Bei jeder Besteuerung und jeder Regulierung stellt
sich aber die Frage: Sind sie eigentlich für den eigenen
Finanzmarkt richtig? Die Krise hat gezeigt, dass wir gute
Regulierung brauchen, wenn wir einen stabilen Finanz-
markt haben wollen. Jede Regulierung und jede Besteue-
rung bedeutet immer ein gewisses Stück Wettbewerbs-
behinderung für den eigenen Markt. Wenn wir dadurch
aber einen stabilen Markt erreichen können, kann es nur
der richtige Weg sein, recht scharfe Bedingungen für den
Finanzmarkt zu schaffen, gleichzeitig aber auch die
Möglichkeit, dass sich der Finanzmarkt zukünftig an den
Kosten der Finanzkrise und an unserem Gemeinwesen
beteiligt.

Meine Damen und Herren, die Finanztransaktion-
steuer hätte die Krise nicht verhindert; das wissen wir.


(Joachim Poß [SPD]: Das hat auch keiner behauptet!)


Oftmals wird so getan, als ob wir mit der Steuer unseren
ganzen Haushalt sanieren könnten. Wir haben Einnah-
men in Höhe von 2,3 Milliarden Euro in den Haushalt
eingestellt, weil wir das für einen realistischen Wert hal-
ten, der in naher Zukunft erreicht werden kann. Die
Finanztransaktionsteuer hätte die Krise nicht verhindert;
denn sie ist durch günstige Kreditzinsen in den USA ent-
standen. Die entsprechenden Kredite sind nach Europa
verkauft worden, auch an unsere Landesbanken. Das
wäre durch eine solche Steuer nicht verhindert worden.

Finanzmarktregulierungen hingegen können in Zu-
kunft Krisen verhindern. Wir haben in dieser Koalition
innerhalb eines Jahres acht große Gesetze auf den Weg
gebracht, um zukünftige Krisen zu verhindern. Das hat
es bisher noch nicht gegeben. Sie haben heute einen An-
trag zur Finanztransaktionsteuer vorgelegt, die in unse-





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

rem Paket bereits enthalten ist. Sie haben einen solchen
Antrag aber in den elf Jahren Ihrer Regierungsführung
nicht eingebracht; Sie haben nicht versucht, das Ganze
umzusetzen, auch nicht in der rot-grünen Koalition.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Waren da die internationalen Rahmenbedingungen so, dass man das konnte?)


Wir stellen uns als Koalition hinter unsere Regierung.
Wir unterstützen unsere Bundeskanzlerin und unseren
Finanzminister. Wir kämpfen für ein stabiles System.
Wir sind keine schwache Gesellschaft im europäischen
Konzert; wir Deutsche sind derzeit der große, stabile
Anker, im Gegensatz zu den Jahren am Anfang des Jahr-
tausends, als wir in allen Tabellen Letzter waren. Damals
hielten wir die rote Laterne, jetzt sind wir vorne: Wir
sind die Lokomotive in Europa; wir sind diejenigen, die
derzeit den Zug insgesamt ziehen. Diese Stärke haben
wir mit dieser Regierung erreicht. Wir haben dafür ge-
sorgt, dass wir am Finanzmarkt deutlich stabiler aufge-
stellt sind als in den Zeiten Ihrer Regierungsführung.
Darauf können wir stolz sein.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711407800

Ich schließe die Aussprache.

Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor-
lage auf Drucksache 17/6086 an die Ausschüsse zu über-
weisen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis n und
34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis e auf:

34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union und zur Anpassung na-
tionaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa-
kodex

– Drucksache 17/6053 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008
und zur Anpassung des Chemikaliengesetzes
und anderer Gesetze im Hinblick auf den Ver-
trag von Lissabon

– Drucksache 17/6054 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 5. April 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Interna-
tionalen Organisation für erneuerbare Ener-
gien über den Sitz des IRENA-Innovations-
und Technologiezentrums
– Drucksache 17/6039 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie
und zur Änderung des Bundeswasserstraßen-
gesetzes
– Drucksache 17/6055 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 9. März 2010 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Östlich des Uruguay zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen
– Drucksache 17/6056 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 4. Juni 2010 zwischen der Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Turks- und Caicosinseln
über den steuerlichen Informationsaustausch
– Drucksache 17/6057 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 21. Juni 2010 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
San Marino über die Unterstützung in Steuer-
und Steuerstrafsachen durch Informations-
austausch
– Drucksache 17/6058 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 5. Oktober 2010 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Britischen Jungferninseln
über die Unterstützung in Steuer- und Steuer-
strafsachen durch Informationsaustausch
– Drucksache 17/6059 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 28. Februar 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Ungarn zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und zur Verhinderung der Steuer-
verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen

– Drucksache 17/6060 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vierten,
Fünften und Sechsten Änderung des Europäi-
schen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über
die Arbeit des im internationalen Straßenver-
kehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR)


– Drucksache 17/6061 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Übereinkommens vom 4. Au-
gust 1963 zur Errichtung der Afrikanischen
Entwicklungsbank

– Drucksache 17/6062 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 29. November
1972 über die Errichtung des Afrikanischen
Entwicklungsfonds

– Drucksache 17/6063 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Rechtsausschuss

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Ulrike Höfken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Mit Essen spielt man nicht – Spekulation mit
Agrarrohstoffen eindämmen

– Drucksache 17/5934 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid
Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aussagekräftigen Abschlussbericht zur been-
deten Beteiligung deutscher Streitkräfte an
der Operation Enduring Freedom vorlegen

– Drucksache 17/6123 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

p) Beratung des Zwischenberichts der Enquete-
Kommission Ethik und Recht der modernen Me-
dizin

Organlebendspende

– Drucksache 15/5050 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 12a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin Griese,
Rüdiger Veit, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Die Integration der Sinti und Roma in Europa
verbessern

– Drucksache 17/6090 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Klare Regelungen für Intensivtierhaltung

– Drucksache 17/6089 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Christel Humme, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Auf die Einführung des Betreuungsgeldes ver-
zichten

– Drucksache 17/6088 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Wolfgang
Wieland, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

DDR-Altübersiedler und -Flüchtlinge vor
Rentenminderungen schützen – Gesetzliche
Regelung im SGB VI verankern

– Drucksache 17/6108 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bericht zum Risikomanagement bei Lebens-
mittelkrisen vorlegen

– Drucksache 17/6107 –

Hierbei handelt es sich um Überweisungen im ver-
einfachten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zuerst zu den unstrittigen Überweisun-
gen. Hier geht es um die Tagesordnungspunkte 34 a bis n
und 34 p sowie die Zusatzpunkte 12 a bis d. Interfraktio-
nell wird vorgeschlagen, diese Vorlagen an die Aus-
schüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung fin-
den. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.

Jetzt kommen wir zum Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6107 mit dem Ti-
tel „Bericht zum Risikomanagement bei Lebensmittel-
krisen vorlegen“. Hier wünscht die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen
der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und
zwar federführend an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie mitbera-
tend an den Gesundheitsausschuss. Die Abstimmung
über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach
ständiger Übung vor. Deshalb frage ich: Wer stimmt für
die Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist die Überweisung so beschlossen, bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppo-
sitionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Damit gibt es
heute keine Abstimmung zu diesem Punkt.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 35 a und b,
35 e bis m sowie Zusatzpunkt 13 auf. Hier handelt es
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
wir keine Aussprache vorgesehen haben.

Tagesordnungspunkt 35 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung der Bundes-Tierärzte-
ordnung

– Drucksache 17/5804 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/6106 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6106, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/5804 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Wer stimmt dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zu? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf wurde
einstimmig in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dafür stimmt, möge sich
bitte erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
In dritter Beratung wurde der Gesetzentwurf ebenfalls
einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Eckhardt Rehberg,
Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Torsten Staffeldt, Dr. Martin Lindner (Berlin),
Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Die Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirt-
schaft als nationale Aufgabe

– Drucksachen 17/5770, 17/6028 Buchstabe a –

Berichterstattung:
Abgeordneter Eckhardt Rehberg

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6028, den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Druck-
sache 17/5770 anzunehmen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-
mung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die
Oppositionsfraktionen haben dagegen gestimmt.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 35 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 269 zu Petitionen

– Drucksache 17/5919 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 35 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 270 zu Petitionen

– Drucksache 17/5920 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht wurde ebenfalls ein-
stimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 271 zu Petitionen

– Drucksache 17/5921 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und SPD angenommen. Dagegen
hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Bündnisgrü-
nen haben sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 35 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 272 zu Petitionen

– Drucksache 17/5922 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 35 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 273 zu Petitionen

– Drucksache 17/5923 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrüne ange-
nommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt.

Tagesordnungspunkt 36 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 274 zu Petitionen

– Drucksache 17/5924 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist angenommen. Zuge-
stimmt haben CDU/CSU, SPD und FDP. Dagegen haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke ge-
stimmt.
Tagesordnungspunkt 35 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 275 zu Petitionen

– Drucksache 17/5925 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen an-
genommen. SPD und Linke haben dagegen gestimmt.

Tagesordnungspunkt 35 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 276 zu Petitionen

– Drucksache 17/5926 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen
gestimmt haben SPD und Bündnisgrüne. Die Linke hat
sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 35 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 277 zu Petitionen

– Drucksache 17/5927 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Oppo-
sitionsfraktionen haben dagegen gestimmt.

Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Malczak, Sylvia Kotting-Uhl, Ute Koczy, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Aufnahme Indiens in die Nuclear Suppliers
Group verhindern – Keine weitere Erosion des
nuklearen Nichtverbreitungsregimes

– Drucksachen 17/5374, 17/6139 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Uta Zapf
Dr. Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/6139, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5374 abzu-
lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen ha-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

ben zugestimmt. Die Oppositionsfraktionen haben dage-
gen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.

Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD:

Ergebnisse der Maritimen Konferenz und die
Aufkündigung des Maritimen Bündnisses
durch die Bundesregierung


(Garrelt Duin [SPD], an den Abg. Eckhardt Rehberg [CDU/CSU] gewandt: Jetzt gibt es Haue! – Gegenruf der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU]: Nein, den Kollegen Rehberg nicht hauen!)


– Zu einem gewaltfreien Redebeitrag gebe ich jetzt das
Wort dem Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.


(Patrick Döring [FDP]: Ein wahrer Pazifist!)



Garrelt Duin (SPD):
Rede ID: ID1711407900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil
es aus unserer Sicht dringend notwendig ist, dieses
Thema nach der Nationalen Maritimen Konferenz in
Wilhelmshaven und der im Vorfeld geführten Debatte
noch einmal aufzugreifen.

Bei der Debatte, die wir nur wenige Tage vor der letz-
ten Nationalen Maritimen Konferenz in diesem Hause
geführt haben, waren sich alle einig, wohin die Reise ge-
hen sollte. Wenn man sich aber die Ergebnisse der Natio-
nalen Maritimen Konferenz anschaut, dann ist von die-
sen Absichtserklärungen, die insbesondere von der
Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfrak-
tionen abgegeben worden sind, nichts übrig geblieben.
Wir lesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die
Überschrift: „Eine maritime Enttäuschung“, in der
Financial Times Deutschland: „Reeder meutern gegen
Regierung“ und im Handelsblatt: „Reeder holen die
deutsche Flagge ein“. Was die Bundesregierung bei der
Nationalen Maritimen Konferenz an Nichtzusagen hin-
terlassen und was sie mit ihrem Agieren dort verursacht
hat, bedeutet einen schweren Schaden für die maritime
Wirtschaft in Deutschland.


(Beifall bei der SPD)


Ich kann für mich behaupten, bei internationalen
Konferenzen dabei gewesen zu sein, ob in Emden,
Rostock, Hamburg oder anderenorts.


(Zuruf von der FDP: Rostock und Hamburg sind international!)


– Das sind internationale Maritime Konferenzen, Herr
Kollege. – Es hat regelmäßig Erwartungen gegeben, die
nicht immer zu 100 Prozent erfüllt werden konnten. Das
ist völlig klar. Diesmal aber ist keine einzige Erwartung
erfüllt worden. Überhaupt nichts ist passiert.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das ist doch falsch!)

Gehen wir die einzelnen Punkte einmal durch: Wir
haben die Rede von Herrn Rösler gehört. Die war – da-
rauf hat der Staatssekretär in der Abmoderation Wert ge-
legt – frei gehalten, das war wunderbar. Sie hatte eine
gewisse Struktur, das war auch wunderbar. Konkrete Zu-
sagen aber, wie der maritimen Wirtschaft in den einzel-
nen Sektoren geholfen werden kann, gab es keine. Auch
denjenigen, die vielleicht von dem Stil der Rede in den
ersten Minuten noch begeistert waren, ist spätestens
beim Mittagessen aufgegangen, dass nichts Substanziel-
les hinter diesen Aussagen steckte.

Die Bundeskanzlerin hat, als sie über die Werften ge-
sprochen hat, gesagt: „Die Sorge ist im Raum.“ Herzli-
chen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. Wir brauchen
aber keine sich sorgende Mutti, sondern wir brauchen
eine handelnde Kanzlerin, die den Werften in Deutsch-
land hilft und Unterstützung anbietet.


(Beifall bei der SPD)


Der Kollege Ramsauer hat überhaupt noch nicht be-
griffen, was für eine Unruhe er mit seinen Entwürfen für
eine neue Wasserstraßenpolitik in diesen Bereich hinein-
getragen hat. Anstatt auf der Maritimen Konferenz klar
und deutlich zu sagen: „Das war eine Fehlentwicklung,
ich stehe unter Druck von einzelnen Abgeordneten in der
Koalition, das korrigieren wir“, will er diesen Weg
– bislang jedenfalls – nicht korrigieren oder verlassen.

In allen Reden seitens der Bundesregierung kam deut-
lich zum Ausdruck, dass es Handlungsdruck gebe, die
Haushaltslage schwierig sei und man ordnungspolitisch
sauber sein wolle. Das hat Herr Rösler, glaube ich, in je-
dem dritten Satz gesagt, das sagt auch der Maritime Ko-
ordinator alle naselang. Es geht aber nicht an, dabei zu-
zusehen, wie diese Branche immer wieder in große
Schwierigkeiten gerät, und sich trotzdem auf die Schul-
ter zu klopfen und zu sagen: Dafür sind wir aber ord-
nungspolitisch sauber.

S
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1711408000
Sie sind der Maritime Koordinator dieser Bundes-
regierung. Diese Funktion ist damals parallel zu den Ma-
ritimen Konferenzen eingeführt worden, um in der Bun-
desregierung jemanden zu haben, der die Interessen für
diesen Sektor wahrnimmt und der gerade nicht die Ab-
wehrhaltungen aus den einzelnen Ressorts noch vertei-
digt. Sie sagen: Im Verteidigungshaushalt ist nicht mehr
Geld vorhanden, deshalb kann die Marine keine Schiffe
bestellen; in anderen Bereichen sieht es ähnlich aus. Sie
sind nicht der Verteidiger der einzelnen Ressorts, son-
dern Sie sollten sich als Interessenvertreter der mariti-
men Wirtschaft gegen das aufbäumen, was auf der Mi-
nisterialebene überall vorgetragen wird. Das wäre Ihr
Job.

Ich möchte Ihnen, sehr geehrter Herr Otto, zum Ab-
schluss eines sagen – das kann ich Ihnen nicht ersparen –:
Als Frau Wöhrl diese Position zur Regierungszeit der
Großen Koalition übernahm, war die gesamte maritime
Szene skeptisch. Die heutige SPD-Opposition hatte
diese Skepsis gegenüber Frau Wöhrl zu Beginn ihrer
Amtszeit geteilt. Frau Wöhrl ist es gelungen, sich im





Garrelt Duin


(A) (C)



(D)(B)

Laufe ihrer Arbeit bei allen Beteiligten einen hohen Re-
spekt zu erarbeiten.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sie hat auch einen guten Job gemacht!)


Davon sind Sie, Herr Otto, noch weit entfernt.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Er hat auch noch zwei Jahre Zeit!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711408100

Ingbert Liebing hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1711408200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Genauso wie der Kollege Duin habe auch ich die Chance
gehabt, an der Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven
teilzunehmen. Ich habe dort die beiden Workshops zu
den Themen „Seeschifffahrt“ und „Offshorewindener-
gie“ besucht. Ich habe die strittigen Diskussionen im
Workshop „Seeschifffahrt“ erlebt, aber auch den Opti-
mismus und die Aufbruchsstimmung, als es um Offshore-
windenergie ging. Deshalb, Herr Kollege Duin, habe ich
für die Kritik, die Sie hier vorgetragen haben, überhaupt
kein Verständnis; denn damit werden Sie den Verhältnis-
sen nicht gerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Offensichtlich scheint Ihrer Fraktion das Thema nicht
so wichtig zu sein, sonst wären bei der Aktuellen Stunde,
die Sie beantragt haben, mehr Kollegen anwesend.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir sind bis zur vierten Reihe besetzt!)


Allein die Lokalität dieser Veranstaltung in Wilhelms-
haven auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports hat deut-
lich gemacht, welche Aufbruchsstimmung an der Küste
vorherrscht. Die Baustelle des Jade-Weser-Ports ist ein
Symbol für Dynamik in der maritimen Wirtschaft, nicht
zuletzt deshalb, weil die Bundesregierung mit Tatkraft
– insbesondere auch durch die zusätzliche Verkehrsan-
bindung – dafür sorgt, dass die maritime Wirtschaft er-
folgreich ist. Wir tun das, was für die maritime Wirt-
schaft notwendig, richtig und sinnvoll ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dennoch möchte und muss ich eine kritische Anmer-
kung an die Adresse des Maritimen Koordinators rich-
ten. Eine Bemerkung von ihm in seiner Abschlussan-
sprache konnte ich nicht nachvollziehen. Sie haben dort
zum Thema CCS mit Blick auf eine CO2-Speicherung
im Meer angekündigt: Seien Sie sicher, wir werden das
machen. – Dazu sage ich ausdrücklich: Seien Sie da
nicht so sicher. Wir arbeiten an einem Gesetzentwurf be-
züglich Demonstrations- und Forschungsvorhaben. Bei
solchen Vorhaben beginnt man nicht mit der teuersten
Lösung in der Ausschließlichen Wirtschaftszone. Mit
dieser Äußerung haben Sie Verunsicherung und Wider-
stand hervorgerufen sowie neue Gründungen von Bür-
gerinitiativen gegen CCS provoziert. Sie sollten jetzt erst
einmal das erledigen, was in diesem Bereich auf der Ta-
gesordnung steht. Deswegen sage ich ausdrücklich: Das
war nicht gerade hilfreich.

Die kritischen Diskussionen im Workshop „Seeschiff-
fahrt“ habe ich kurz angesprochen. Dazu wird mein Kol-
lege Rehberg noch einiges sagen. Ja, es gibt dort Kon-
flikte, die uns sicherlich noch weiter beschäftigen
werden. Das wird noch Thema hier im Parlament sein.

Ich möchte ausdrücklich die Aufbruchsstimmung und
den Optimismus im Workshop zur Offshorewindenergie
würdigen. Lange genug ist in diesem Bereich zu wenig
passiert. Umweltminister Trittin hat seinerzeit in rot-grü-
ner Verantwortung die Seeanlagenverordnung mit zwei
Sätzen geändert; das war es dann. Danach ist jahrelang
nichts passiert. Der erste Offshorewindpark, die erste
Demonstrationsanlage, Alpha Ventus, ist von CDU-Um-
weltminister Röttgen mit eingeweiht worden.

Jetzt, nach vielen Jahren, müssen wir uns an die Auf-
gaben machen, die in Ihrer Verantwortung viel zu lange
liegen geblieben sind. Wir haben jetzt ein großartiges
Paket auf den Weg gebracht. Es ist in dem Workshop ge-
lobt worden und wird von der Branche angenommen.
Wir werden in der nächsten Sitzungswoche im Zusam-
menhang mit dem EEG hier im Plenum darüber abstim-
men. Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen werden und
ob Sie zustimmen werden. In dem Gesetzentwurf wer-
den eine Verbesserung der Vergütung von Offshorewind-
energie, eine Einbeziehung der Sprinterprämie in die
Anfangsvergütung und die Verschiebung des Degres-
sionsbeginns von 2015 auf 2018 vorgesehen. Wir führen
ein optionales Stauchungsmodell ein; das sichert mehr
Liquidität in der schwierigen Anfangsphase. Wir ver-
pflichten die Netzbetreiber, dauerhaft für die Netzanbin-
dung zu sorgen. Das BSH wird einen Masterplan Off-
shorenetzanbindung erarbeiten. Wir werden eine neue
Genehmigungsstruktur schaffen, mit Konzentrationswir-
kung in der Verantwortung des BSH; das macht die Ge-
nehmigungsverfahren schneller, schlanker und einfacher.
Ich nenne auch das KfW-Programm mit einem Volumen
von 5 Milliarden Euro, das die finanzielle Absicherung
zehn weiterer Windparks ermöglicht.

Von dieser Entwicklung wird eine breite maritime
Wertschöpfungskette profitieren. Davon wird auch der
Schiffbau profitieren, wenn es um Errichter- und Versor-
gungsschiffe geht. Auch die Hafenwirtschaft blickt mit
Spannung und Optimismus auf diese Entwicklung, weil
es dort um eine vielfältige Versorgungs- und Dienstleis-
tungsstruktur geht, die sich jetzt im Aufbruch befindet.

Die Länder und die Kommunen engagieren sich bei
diesem Thema. Der runde Tisch „Maritime Offshore-
infrastruktur“ bündelt diese Engagements, um dies so
schnell wie möglich und so geordnet wie möglich über
die Bühne zu bringen, damit wir alle davon profitieren
können. Das Ziel ist, bis 2030 eine Leistung von
25 000 Megawatt zu erreichen. Dann würden wir off-





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)

shore etwa 15 Prozent des gesamten Strombedarfs de-
cken. Das allein ist eine gute Entwicklung und eine gute
Perspektive mit gewaltigen Chancen für die maritime
Wirtschaft. Ich habe das Signal, das von der Maritimen
Konferenz in Wilhelmshaven ausging, so verstanden,
dass die Branche Gewehr bei Fuß steht.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711408300

Herr Kollege.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1711408400

Sie möchte diese Maßnahmen umsetzen und wird es

auch tun. Hierin liegt eine gewaltige Chance, gerade vor
dem Hintergrund der Ergebnisse, die die Maritime Kon-
ferenz in Wilhelmshaven gebracht hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711408500

Herbert Behrens hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711408600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Maritime Konferenz in Wilhelmshaven sollte so et-
was wie eine Leistungsschau der Bundesregierung sein;
zumindest war sie so angekündigt. Das hat dieser Konfe-
renz enormen Wind verliehen. Hätte man diesen Wind
genutzt, um damit Energie zu erzeugen, dann wären wir
bei der Energiewende, über die wir heute Morgen disku-
tiert haben, wie ich glaube, schon ein Stück weiter.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sehen wir uns die Wirklichkeit an. Die Werften ste-
cken trotz des Spezialschiffbaus immer noch in einer tie-
fen Krise; das wurde auch in Wilhelmshaven von den
einzelnen Akteuren so gesagt. Trotzdem wird die Förde-
rung der Schiffbaufinanzierung zurückgeschraubt.


(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Wo haben Sie denn gelesen, Herr Behrens, dass die Förderung der Schiffbaufinanzierung zurückgeschraubt wird? Sie wissen wirklich nicht, worüber Sie reden! – Gegenruf des Abg. HansWerner Kammer [CDU/CSU]: Das hat er wahrscheinlich auf der alternativen Maritimen Konferenz der Linken gehört!)


Die Bürgschaftsquote muss bei 90 Prozent bleiben; das
wurde von Ihnen infrage gestellt. Wenn das nicht pas-
siert, wird den Werften in Mecklenburg-Vorpommern
die Luft ausgehen. Dann werden wir in Mecklenburg-
Vorpommern nicht nur in sozialer, sondern auch in tech-
nologischer Hinsicht ein Fiasko erleben. Das müssen wir
auf jeden Fall verhindern.


(Beifall bei der LINKEN – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Ich würde mich an Ihrer Stelle auch einmal mit den Inhalten beschäftigen, Herr Behrens!)


Bis zum Jahr 2020 sollen in der Nord- und Ostsee
Windparks mit einer Leistung von 10 000 Megawatt in-
stalliert werden. Doch das neue Offshoresonderpro-
gramm der staatlichen KfW steht den Werften, die bei-
spielsweise in den Bau von Offshoreversorgungsschiffen
investieren wollen, offenbar nicht zur Verfügung. Diese
Forderung von Werften, der Zulieferindustrie und der
IG Metall wird nicht erfüllt. Massive Kritik erntete die
Bundesregierung in Wilhelmshaven auch für ihren völlig
verkorksten Reformvorschlag im Hinblick auf die Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung; wir haben in den Work-
shops davon gehört. Beschäftigte und Unternehmen der
Binnenschifffahrtsbranche machten auf der Maritimen
Konferenz ihrem Unmut Luft.

Wir haben in Wilhelmshaven kein Bekenntnis zur
Verbesserung der ökologischen Bilanz des Schiffsver-
kehrs zu hören bekommen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! – Eckhardt Rehberg [CDU/ CSU]: Sie waren doch gar nicht da, Herr Behrens! Sie waren doch ganz woanders! – Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Sie waren doch auf einer ganz anderen Veranstaltung!)


Statt sich eindeutig für die Einhaltung der Grenzwerte
für Schwefelemissionen in Nord- und Ostsee stark zu
machen, philosophierten Mitglieder der Regierungsko-
alition über Moratorien und Stichtagsverschiebungen.

Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie wissen wollen,
wer an der Maritimen Konferenz teilgenommen hat,
sollten Sie nicht nur in das Veranstalterverzeichnis se-
hen. Sie sollten auch nach links und rechts schauen.
Dann würden Sie möglicherweise feststellen, dass auch
Menschen, die nicht im Teilnehmerverzeichnis stehen,
sehr wohl an dieser Konferenz teilgenommen haben.

Ich habe bereits einige Ausführungen zur Bilanz der
Maritimen Konferenz gemacht. Sie ist in gewisser Weise
desaströs. Dort, wo es zu wirklich zukunftsweisenden
Initiativen hätte kommen können, ist nichts geschehen.
An dieser Stelle stimme ich der Kritik der Kolleginnen
und Kollegen von der SPD zu.

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der Ge-
genstand der Maritimen Konferenz gewesen ist: die Auf-
kündigung des Maritimen Bündnisses.


(Patrick Döring [FDP]: Wer hat das denn aufgekündigt?)


Lassen Sie mich dazu noch ein paar Worte sagen.

3 700 Schiffe von deutschen Eignern fahren auf den
Weltmeeren – 445 davon unter deutsche Flagge. Das
heißt, über 3 000 Belegschaften arbeiten teils unter
schlimmen Bedingungen. Niedrige Heuern und geringe
Sicherheitsstandards sind an der Tagesordnung. Oft ha-
ben die Beschäftigten keine Chance, mit den Gewerk-
schaften Kontakt aufzunehmen und Unterstützung zu be-
kommen.





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Mit der Linken auch nicht!)


Aus diesen schlechten Bedingungen ziehen die Reeder
im Moment ihren Extraprofit. Wettbewerb auf Kosten
der Menschen und der ökologischen und sozialen Stan-
dards ist ein schmutziger Wettbewerb. Dagegen kämpft
die Linke.

Wir fordern ein Maritimes Bündnis zwischen Politik,
Reedern und Gewerkschaften, das maßgeblich den Be-
schäftigten dient. Wenn die Reeder Zuschüsse zu den
Lohnkosten bekommen, wenn Ausbildungskosten für
den Seeleutenachwuchs bezuschusst werden, dann ist
das in Ordnung, wenn wieder mehr Schiffe unter deut-
scher Flagge fahren und wenn wieder tarifliche Heuern
und soziale Standards gelten. Allerdings darf es Subven-
tionen nur so lange geben, bis ein vereinbartes Ziel er-
reicht worden ist. Darum kann es durchaus richtig sein,
dass die Bundesregierung ihre Lohnkostenzuschüsse
auslaufen lässt. Eine Subvention muss auf jeden Fall in-
frage gestellt werden, wenn sich eine Seite gar nicht
mehr an die Vereinbarung hält und einen Konsens auf-
löst.

600 Schiffe – das hatten die Reeder zugesagt – sollten
im internationalen Seehandel wieder unter deutscher
Flagge fahren. Dass die Reeder diese Zusage nicht ein-
halten, sondern heute nur 445 Schiffe unter deutscher
Flagge fahren,


(Torsten Staffeldt [FDP]: 589 am heutigen Tag!)


ist angeblich – das wurde gesagt – der Krise geschuldet.
Die Reeder sagen: Wir sind auf jeden Fall nicht damit
einverstanden, dass diese Subvention infrage gestellt
wird. Sie drohen damit, dass weitere Schiffe nicht mehr
unter der deutschen Flagge fahren werden. Das ist nicht
einmal mehr nur eine Drohung, sondern schon Wirklich-
keit. Die Zahl der ausgeflaggten Schiffe steigt an; die
Gesamttonnage der ausgeflaggten Schiffe hat sich in den
letzten zehn Jahren mehr als verzehnfacht.

Jetzt damit zu drohen, aus dem Maritimen Bündnis
auszusteigen, weil die Zuschüsse zu den Lohn- und Aus-
bildungskosten halbiert werden sollen, ist nicht akzepta-
bel und nicht aufrichtig. Wir brauchen eine vernünftige
Förderung, mit der den Beschäftigten geholfen wird.
Dies dürfen nicht nur Subventionen sein, und es darf
auch nicht nur zu Steuerentlastungen über die Tonnage-
steuer kommen, sondern wir brauchen eine sozial-ökolo-
gisch orientierte Wende in der maritimen Wirtschaft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711408700

Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamen-

tarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

H
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1711408800


Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Es freut mich durchaus, dass wir
heute im Rahmen einer Aktuellen Stunde noch einmal
Gelegenheit haben, die maritime Wirtschaft in den Fo-
kus der parlamentarischen Aufmerksamkeit rücken zu
können. Verbunden mit der Debatte, die wir vor knapp
vier Wochen hier im Hause geführt haben, und der ge-
rade erfolgreich beendeten Siebten Nationalen Mariti-
men Konferenz in Wilhelmshaven können wir damit er-
neut die strategische, unverzichtbare Bedeutung und die
große Perspektive für diese Zukunftsbranche in den
Blick nehmen.


(Garrelt Duin [SPD]: Bitte sehr!)


Die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wil-
helmshaven mit fast tausend Teilnehmern hat zum wie-
derholten Male gezeigt: Das Konzept der maritimen Ko-
ordinierung und auch des partei- und branchenübergrei-
fenden Zusammenhalts ist ein Erfolgsmodell.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele von Ihnen, Herr Kollege Duin, seien es Mitglie-
der der Koalitions- oder der Oppositionsfraktionen, ha-
ben die Konferenz mitgestaltet und an ihr mitgewirkt.
Dafür möchte ich mich namens der Bundesregierung bei
allen bedanken, auch wenn sie hier kritische Töne fin-
den.

Der Dank gilt darüber hinaus aber auch dem Land
Niedersachsen und der Stadt Wilhelmshaven, die in ei-
ner unglaublichen logistischen Kraftanstrengung diese
Konferenz auf der Baustelle des Jade-Weser-Ports mög-
lich gemacht haben. Auch das sollte an dieser Stelle im
Deutschen Bundestag lobend hervorgehoben werden.

Nicht zuletzt gelten mein Dank und meine Glückwün-
sche den vielen Tausend Beschäftigten und den Unter-
nehmern der Branche. Diesen ist nicht nur zu verdanken,
dass die Konferenz dank ihrer Mitwirkung so erfolgreich
abgelaufen ist, sondern vor allem, dass sich die Branche
heute so überraschend gut präsentieren kann. Die Zahlen
und die Wachstumsraten sprechen für sich. Ob das An-
ziehen des Welthandels, der Ausbau der Offshorewind-
energie oder das Entstehen bzw. Wachsen neuer
Geschäftsfelder für maritime Technologien: Seefahrt
und Häfen, Schiffbau und Zulieferer, Logistik und Mee-
restechnik werden in jedem Fall davon profitieren. Wenn
wir jetzt alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und
zwar in dieselbe Richtung, dann stehen wir vor einer
lang anhaltenden Phase des Aufschwungs für die ge-
samte Branche.

Ich warne aus den genannten Gründen vorsorglich da-
vor, die Lage und die Perspektiven der maritimen Wirt-
schaft schlechtzureden. Diese Warnung gilt auch außer-
halb dieses Parlaments, nämlich für die Verbände; denn
damit würden sie der Branche einen Bärendienst erwei-
sen und im schlimmsten Fall sogar schaden. Sie rücken
die maritime Wirtschaft damit in ein Licht, in dem sie
sich, gerade außerhalb der Küstenregionen – ich weiß,
wovon ich rede –, nicht so darstellen kann, wie sie es an-





Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto


(A) (C)



(D)(B)

gesichts der Erfolge, die sie hat, verdient hätte. Das gilt
auch – Herr Kollege Behrens hat es angesprochen – für
das Maritime Bündnis.

Das Maritime Bündnis wurde übrigens nicht gekün-
digt. Ich habe keine Kündigungserklärung bekommen.
Selbstverständlich ist es ein prioritäres Anliegen der
Bundesregierung und insbesondere von mir persönlich,
das Bündnis aufrechtzuerhalten und zu stärken. Herr
Kollege Duin, Herr Kollege Behrens, verständlicher-
weise ist es der Bundesregierung keine Freude, kleinere
– das betone ich: kleinere – Anpassungen am Haushalt
vornehmen zu müssen. Herr Kollege Duin, der Maritime
Koordinator ist, wie der Name sagt, ein Koordinator, er
ist leider kein Imperator. Das hätte ich zwar manchmal
gerne, aber ich darf nur koordinieren.

Wir alle kennen die Zwänge, die uns die Haushalts-
lage auferlegt. Das gilt auch für die Länder, und zwar
auch für die, die nicht von CDU/CSU und FDP regiert
werden. Daher waren nach Meinung des Bundesfinanz-
ministers Kürzungen an dem durchaus erfolgreichen
– darüber sind wir uns einig – Instrument der Lohnkos-
tenzuschüsse unumgänglich. Umso mehr ist ein Ergeb-
nis der Konferenz zu begrüßen: Der Bundesminister für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Herr Ramsauer,
wird sich in den nächsten Tagen mit der Branche erneut
zusammensetzen. Er wird mit der Branche nach Alterna-
tiven zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der
Seeverkehrswirtschaft suchen, übrigens auch nach sol-
chen, die den Haushalt und damit die Steuerzahler nicht
belasten.

Herr Kollege Duin, natürlich sind die Kürzungen um
rund 27 Millionen Euro schmerzhaft. Wir sollten aller-
dings nicht die vielen anderen erfolgreichen Instrumente
zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der maritimen
Wirtschaft im Rahmen des Maritimen Bündnisses und
des Programms „LeaderSHIP Deutschland“ aus den Au-
gen verlieren. Herr Kollege Behrens, nur zur Klarstel-
lung: Die Mittel für den Schiffbau sind immer erhöht
worden. Das liegt übrigens in der Verantwortung des
Bundeswirtschaftsministeriums. Was Sie beklagen, be-
trifft nicht die Mittel für Schiffbau, sondern die Mittel
für Reeder. Allein die Entlastungswirkung der Tonnage-
steuer – ich bitte Sie, sich das vor Augen zu halten –
wird auf mindestens 500 Millionen Euro, wahrscheinlich
auf bis zu 1 Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Ich kann
Ihnen versichern, die Bundesregierung hält daran fest.
Das gilt auch für die Ausbildungsbeihilfen für die See-
fahrt.

Die Titel für Innovationsbeihilfen und FuE-Mittel im
Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Tech-
nologie wurden erhöht. Mit dem Masterplan „Maritime
Technologien“, dem KfW-Sonderprogramm für Off-
shorewindenergie und dem fortschreitenden „Leader-
SHIP“-Prozess im Schiffbau stellen wir die Weichen für
ein langfristiges Wachstum auf den Zukunftsmärkten.
Deswegen, Herr Kollege Duin, lieber VDR – Verband
Deutscher Reeder –, halten Sie sich bitte vor Augen: Die
schmerzlichen Kürzungen im Bereich der Lohnkosten-
zuschüsse betreffen nur rund 2 bis 3 Prozent der gesam-
ten Fördermittel für die Teilbranche Schifffahrt. Wenn
Sie die gesamten Fördermittel heranziehen, die der Bund
für die maritime Wirtschaft bereitstellt, dann stellen Sie
fest, dass die Kürzungen im Promillebereich liegen. Das
alles ist kein Anlass, um das Maritime Bündnis infrage
zu stellen.

Ich lade Sie alle ein, Kollegen von Koalition und Op-
position, Vertreter der Teilbranchen der maritimen Wirt-
schaft, Unternehmer und Vertreter der Beschäftigten:
Lassen Sie uns den bewährten, gemeinsamen Weg er-
folgreich fortsetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunftsfähigkeit der
maritimen Wirtschaft im Blick behalten. Nur so können
wir den bereits eingeleiteten Wachstumskurs fortsetzen
und – darum geht es uns gemeinsam – den maritimen
Standort Deutschland dauerhaft stärken. Die Bundesre-
gierung wird im Rahmen der maritimen Koordinierung
weiterhin ihren Teil dazu beitragen. Seien Sie versichert,
Herr Kollege Duin, auch ich persönlich werde meinen
Beitrag wirksam, nicht immer laut nach außen, aber im-
mer sehr nachdrücklich innerhalb der Bundesregierung
leisten. Versprochen!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711408900

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde
steht nicht nur unter dem Titel „Ergebnisse der Mariti-
men Konferenz“, sondern Sie haben angekündigt, auch
zur Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch die
Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde zu spre-
chen.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Es wird gar nicht aufgekündigt! – Garrelt Duin [SPD]: Da haben wir nicht nur einen Redner!)


– Genau, es ist immer das Problem, alles unterzubringen.

Bündnisse sind dazu da, Konflikte beizulegen. Mit ih-
nen legt man gemeinsame Ziele und Interessen fest.
Bündnisse brauchen Verlässlichkeit, sonst funktionieren
sie nicht. Das Maritime Bündnis scheint nach dem, was
wir eben hier und auch schon in Wilhelmshaven gehört
haben, offensichtlich nicht mehr so ganz zu funktionie-
ren.

Die Bundesregierung trifft in dieser Debatte nur die
halbe Schuld.


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Oh!)


Denn wir müssen ehrlich sein: Auch die Reeder haben
ihren Teil des Bündnisses nicht eingehalten. Es fahren
heute kaum mehr Schiffe unter deutscher Flagge,
obwohl es eigentlich vereinbart war. Wir wollten auf
600 Schiffe unter deutscher Flagge kommen. Dorthin
sind wir nie gekommen. Prozentual ist es sogar weniger





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

geworden: Fuhren vor zehn Jahren noch 15 Prozent der
deutschen Schiffe unter deutscher Flagge, sind es heute
insgesamt lediglich 12 Prozent.

Jetzt hat die Bundesregierung ohne Vorankündigung
die Beiträge für die Seeschifffahrt gekürzt und hält sich
damit nicht an ihren Teil der Vereinbarung. Das Mari-
time Bündnis wurde also von beiden Seiten aufgekün-
digt. Reeder und Bundesregierung schieben sich jetzt ge-
genseitig den Schwarzen Peter zu. Wer wird verlieren?
Am Ende werden die Seeleute verlieren; Kollege
Behrens hat es schon angedeutet. Da kann man nur sa-
gen: Herzlichen Glückwunsch zu diesem gemeinsamen
Versagen!

Aber auch die Reeder haben sich nicht mit Ruhm be-
kleckert. Selbst die Jahre großer Gewinne haben kaum
etwas geändert. Die 600 Schiffe unter deutscher Flagge
hat es nie gegeben. Die Beihilfen wurden dankbar mit-
genommen und dazu weitere Subventionen eingestri-
chen, allen voran die Vorteile aus der Tonnagebesteue-
rung. Sie haben es schon gesagt: Das sind locker über
500 Millionen Euro.

Die Subventionen an die Reeder werden regelmäßig
unter den größten Posten im Subventionsbericht der
Bundesregierung gelistet. Hierzu gehören die Tonnage-
besteuerung mit etwa 500 Millionen Euro, der Lohn-
steuereinbehalt mit etwa 18 Millionen Euro, die Ausbil-
dungsförderung mit 2 Millionen Euro und der jetzt
gekürzte Finanzbeitrag an die Reeder für das Führen der
deutschen Flagge, der zuvor mit jährlich 57 Millionen
Euro zu Buche schlug. Alles in allem kommen hier pro
Jahr etwa 580 Millionen Euro an Subventionen zusam-
men. Die Seeschifffahrt bleibt damit eine stark subven-
tionierte Branche, obwohl sie in den Jahren vor der Krise
satte Gewinne geschrieben hat.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Aber warum?)


Natürlich ist die Kürzung von 30 Millionen Euro ein
großer Brocken, doch muss sie im Verhältnis der gesam-
ten Förderung und der fehlenden Gegenleistung durch
die Reeder gesehen werden. Die 30 Millionen Euro ma-
chen nur 5 Prozent der gesamten Fördersumme aus.


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Richtig!)


Es ist deswegen schon etwas vermessen, wenn man jetzt
von der Reederseite knallhart ankündigt – Herr Duin hat
das schon aus der Financial Times Deutschland zitiert –:

Wir werden ausflaggen und weniger deutsche See-
leute beschäftigen …

So geht das auch nicht. Gleichzeitig ist es genauso
falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
hier einfach nur den Geldhahn aufdrehen zu wollen.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Genau!)


Denn auch als das Geld geflossen ist, wurden die Verein-
barungen nicht eingehalten.

Im Maritimen Bündnis muss jeder seinen Beitrag leis-
ten. Deswegen muss das Bündnis jetzt erneuert werden.
Die Bundesregierung muss sich mit den Reedern an ei-
nen Tisch setzen, und zwar sofort. An die Reeder geht
meine klare Aufforderung: Drohen Sie nicht mit Aus-
flaggung; denn auch Sie brauchen die Unterstützung
durch die Politik in diesem Hause.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Reeder fordern wie selbstverständlich bei der
Piraterieproblematik die Hilfe des Staates. Wir haben im
Verkehrsausschuss schon einmal begonnen, die Debatte
darüber zu führen. Das ist auch richtig; denn das Risiko
der Reeder und vor allem der Besatzungsmitglieder,
wenn sie durch die entsprechenden Seegebiete fahren, ist
enorm. Die Reeder sollen hier nicht alleingelassen wer-
den, ihnen soll geholfen werden. Sie müssen aber auch
auf dem Teppich bleiben und beim Maritimen Bündnis
kompromissbereit sein. Deshalb muss das Maritime
Bündnis auf neue Beine gestellt werden. Herr Otto, Sie
hatten ja schon angedeutet, dass Sie es stärken wollen.
Dabei müssen wir auch insgesamt seine Machbarkeit
überprüfen. Utopische Versprechen helfen da nieman-
dem weiter.

Gleichzeitig muss man darüber reden, was bei Nicht-
einhaltung passiert; denn sonst steht das Bündnis wie
bisher nur auf dem Papier. Das neue Bündnis sollte aber
auch aktuelle Fragen aufgreifen. Es sollte über die
Einführung einer ökologischen Komponente in die Ton-
nagesteuer nachgedacht werden, es sollte strikte Rege-
lungen bei der Ausflaggungsgenehmigung durch die
Bundesregierung geben, und wir müssen auf mehr Aus-
bildung von Bordpersonal setzen, um weitere Schiffe
auch mit Personal aus Deutschland besetzen zu können.
Viertens sollte das neue Bündnis auch die Probleme
Piraterie, Emissionshandel und Meeresschutz mit einbe-
ziehen.

Greifen Sie, Herr Otto und meine Damen und Herren
von der Regierung, die Probleme umfassend auf und sor-
gen Sie gemeinsam für Verlässlichkeit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409100

Frau Kollegin, könnten Sie jetzt verlässlich zum

Schluss kommen?


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409200

Ja, ich bin so gut wie dabei.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409300

Na ja.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409400

Gehen Sie aufeinander zu und machen Sie das mari-

time Bündnis fit für die Zukunft. Der Fortbestand der
maritimen Wirtschaft, dieser durchaus wichtigen Bran-
che mit mehr als 380 000 Beschäftigten, hängt davon ab.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409500

Eckardt Rehberg hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1711409600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-

ordneten! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD! Ich
glaube, Sie haben die falsche Überschrift gewählt. Es
wäre in Ordnung gewesen, die Überschrift „Ergebnisse
der Maritimen Konferenz“ zu wählen. Aber die Formu-
lierung „Aufkündigung des Maritimen Bündnisses durch
die Bundesregierung“ in der Überschrift ist aus meiner
Sicht vollkommen falsch.

Herr Kollege Duin, ich meine, Sie können – bei aller
persönlichen Wertschätzung – nicht sagen: Da ist nichts
rausgekommen. Gucken Sie sich erst einmal die Hand-
lungsempfehlung aus dem Workshop „Schiffbauindus-
trie“ an. Ich finde, es ist wichtig und gut, dass eine
Arbeitsgruppe zum Thema Schiffbaufinanzierung einge-
setzt wird, damit die Thematik „Was können wir noch
mehr für den deutschen Schiffbau bzw. die deutsche
Werftindustrie tun“ wirklich noch einmal auf den Prüf-
stand kommt.

Wir wollen keine höheren Bürgschaften. Herr Kollege
Behrens, 90 Prozent Verbürgung bedeuten über 10 Pro-
zent Kapitalkosten. Ich möchte, dass wir wieder zu ganz
normalen Bauzeitenfinanzierungen zurückkommen:
80 Prozent Landesbürgschaft und 20 Prozent Fremdka-
pital mit Kapitalkosten zwischen 3 und 4 Prozent. Das
macht die deutschen Werften wettbewerbsfähig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Bereich maritimer Technologien ist ein Zukunfts-
feld. Hier gibt es ganz konkrete Vereinbarungen im na-
tionalen Masterplan „Maritime Technologien“. Dazu
wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, welche die kleintei-
lige mittelständische Industrie bzw. das kleinteilige For-
schungsnetz noch stärker miteinander verzahnen bzw.
verbinden soll. Denn bei uns fehlt im Bereich Offshore,
Öl und Gas der große Player. Eine ganz konkrete Maß-
nahme ist, dass man im nächsten Jahr zum ersten Mal
auf die Leitmesse nach Houston geht. Aus meiner Sicht
sind das Zukunftsfelder, die von der Bundesregierung
ins Visier genommen werden.

Sie haben hier den Eindruck erweckt, Wilhelmshaven
sei ein Fehlschlag gewesen. Dazu sage ich: Ganz im Ge-
genteil, Wilhelmshaven war eine kontinuierliche Fort-
entwicklung bzw. eine Fortsetzung der sechs vorange-
gangenen Nationalen Maritimen Konferenzen. Gerade
wir aus dem Norden, Herr Kollege Duin, sollten ein es-
senzielles Interesse daran haben, dass diese Konferenzen
weitergeführt werden; denn diese branchenübergreifende
Konferenz ist einmalig in Deutschland. Wir sollten sie
nicht schlechtreden, sondern sie positiv nach vorne tra-
gen, hinein in die gesellschaftliche Mitte der Bundesre-
publik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es gab ein Konfliktthema, und zwar die Zuschüsse für
die deutsche Seeschifffahrt. Frau Kollegin Wilms, für
mich sind das keine Subventionen. Die Tonnagesteuer
ist für mich Standortpolitik. Das ist erfolgreiche Stand-
ortpolitik, die dazu geführt hat, dass Deutschland der
führende Schifffahrtsstandort in der Welt ist.

Für mich sind auch Lohnsteuereinbehalt und Lohn-
kostenzuschüsse Standortpolitik. Denn die Europäische
Kommission hat 1997 und 2004 gesagt: Wir müssen die
europäischen Flotten stärken. Herr Kollege Duin, damals
waren Sie noch nicht im Parlament, aber Rot-Grün hat
regiert. Man muss fragen, warum man damals nicht die
gleichen Rahmenbedingungen geschaffen hat wie Ita-
lien, Frankreich, die skandinavischen Länder und Hol-
land. Jetzt haben wir das Ergebnis, dass bei gleicher
Tonnage ein holländisches Schiff rund 400 000 bis
500 000 Euro günstiger fährt als ein deutsches Schiff.
Unter liberianischer Flagge ist es fast 1 Million Euro
Unterschied.

Wir müssen uns, glaube ich, an diesem Punkt damit
befassen, wie wir der Kritik begegnen. Der Vorstands-
vorsitzende von Hamburg Süd, Herr Gast, beklagt in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember
2010, dass nur 440 Frachter unter deutscher Flagge fah-
ren. Er sagte – ich zitiere –:

Es gibt aber leider diverse Unternehmen, die das
nicht tun.

Er ist nämlich der Meinung, dass 20 Prozent der Linien-
reeder unter deutscher Flagge fahren könnten. Weiter
sagte er:

Sie haben dies aber auch nicht getan, als sie im
Boom viel Geld verdienten.

Wenn wir über das Fahren unter deutscher Flagge re-
den, dann treffen wir immer die Falschen. Wir müssen
eigentlich die treffen, die die Tonnagesteuer in Anspruch
nehmen, aber nicht unter deutscher Flagge fahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen glaube ich, dass wir die Tonnagesteuer mit
dem Thema Lohnsteuereinbehalt verbinden müssen.
Gleichzeitig müssen wir aber über die Schiffsbeset-
zungsverordnung dafür Sorge tragen, dass deutsche See-
leute auch weiterhin auf Schiffen von deutschen Reede-
reien eine Chance haben.


(Garrelt Duin [SPD]: Genau!)


Ich glaube, an der Stelle sind wir alle miteinander gefor-
dert. Denn die Reeder – Frau Wilms ist darauf eingegan-
gen – haben auch bei der Zahl der Ausbildungsplätze die
Zusage nicht eingehalten. Heute bilden weniger Reede-
reien aus als vor sieben oder acht Jahren.

Ich mache mich weder zum Fürsprecher von Verdi,
Herr Kollege Duin, noch zum Fürsprecher der Reeder;
ich habe das Allgemeinwohl des maritimen Standorts
Deutschland im Blick. Deswegen sollten wir weiter über
die Ergebnisse der Maritimen Konferenz diskutieren.
Aber Ihr zweiter Punkt, die Aufkündigung des Mariti-





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)

men Bündnisses, ist sachlich nicht gerechtfertigt und
einseitig.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409700

Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1711409800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die maritime Wirtschaft hat große Bedeutung für den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Als Abgeordnete für
die Stadt Wilhelmshaven habe ich mich auch persönlich
sehr über die Entscheidung gefreut, die Siebte Nationale
Maritime Konferenz 2011 in der Jadestadt zu veranstal-
ten. Das war ein sehr wichtiges Zeichen für die Region,
für den Tiefwasserhafen, für die maritime Wirtschaft in
Deutschland und Europa und auch ein wichtiges Zeichen
für den größten Marinestandort in unserem Land.

Ergebnisse der Konferenz vermissen wir leider bis
heute. In Wilhelmshaven ist klar geworden, dass Ihnen
in der maritimen Wirtschaftspolitik eine Idee fehlt. Es
fehlt Ihnen an Leidenschaft.


(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Was?)


Es fehlt an einer Linie, an einem Konzept für die Zu-
kunft des maritimen Standortes Deutschland.

Sie haben die Maritime Konferenz nicht nur zur
Selbstdarstellung missbraucht – das allein wäre schlimm
genug –, sondern Sie haben auch noch Schaden ange-
richtet, den andere jetzt richten müssen. Man muss sich
das einmal klarmachen: Die größte und wichtigste Kon-
ferenz zur maritimen Wirtschaft in Deutschland findet
am größten Bundeswehr- und Marinestandort Deutsch-
lands statt, und einige für die maritime Wirtschaft welt-
weit wichtige Themen kommen schlichtweg gar nicht
vor. Ich spreche zum Beispiel von der Hafen- und See-
sicherheit, für die unsere Soldatinnen und Soldaten der-
zeit vor der somalischen Küste und anderswo erfolgreich
arbeiten.

Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass dieses
Thema – denken Sie an die Piraterie am Horn von
Afrika! –, das wichtig ist für die maritime Wirtschaft in
der Welt, in dem sich Deutschland ein Profil erarbeitet
hat und in das sich deutsche Sicherheitsfirmen mit inno-
vativen Ideen einbringen können, völlig ignoriert wird?

80 Prozent des weltweiten Handels – das sagen auch
Sie immer – werden über See abgewickelt. Wir alle, die
deutsche Exportnation insbesondere, sind auf sichere
Häfen und verlässliche Handelswege auf See angewie-
sen. Wilhelmshaven als größter Marinestandort wäre die
ideale Kulisse gewesen, sich diesem Thema ernsthaft
und intensiv zu widmen und vor allem ein deutsches
Profil zu schärfen. Ein eigener Bereich der Marine zu
diesem Thema auf der Maritimen Konferenz wäre die
richtige Antwort auf die Herausforderung der Hafen-
und Seesicherheit gewesen. Sie haben diese Chance lei-
der verpasst.

Verehrter Herr Staatssekretär Otto, Sie schreiben mir
zu diesem Thema, dass ausreichend Marineangehörige
im Auditorium vertreten gewesen seien; ich hoffe zu Ih-
ren Gunsten, dass es sich bei der Antwort um ein Büro-
versehen gehandelt hat. Oder wollen Sie mir ernsthaft
erklären, dass der Maritime Koordinator der Bundesre-
gierung das Thema Seesicherheit ausreichend behandelt
sieht, wenn ein paar Marineangehörige als Gäste auf der
Konferenz umherwandeln?


(Beifall bei der SPD)


Kollege Otto, das ist ein bisschen unter Ihrem Niveau.


(Patrick Döring [FDP]: Ihre Rede aber auch!)


Bei der deutschen Marine – das kann ich Ihnen heute
hier sagen – haben Sie sich damit nicht viele neue
Freunde gemacht.

In Deutschland gibt es neben der Marine eine Reihe
von Unternehmen, die im Bereich der Hafen- und See-
sicherheit tätig sind. Deutschland hat hier ein Profil, mit
dem sich weltweit etwas für die Sicherheit auf See errei-
chen lässt. Das sollten wir unterstützen, und wir sollten
die Chancen, die darin liegen, nutzen. Ich hoffe sehr,
dass dieser Appell heute Gehör findet.

Wenn wir schon dabei sind: Mein zweiter Appell gilt
dem Thema Marineschiffbau, das auf der Konferenz
zwar eine Rolle spielen durfte, aber auch das war – mit
Verlaub – keine angemessene Rolle. Das passte ebenfalls
in das Bild einer verschenkten Konferenz. Im Verteidi-
gungsausschuss habe ich dazu die Auskunft bekommen,
dass die Bundesregierung bei der Branche keine falschen
Erwartungen wecken wollte. Ich frage mich, ob das der
richtige Ansatz für eine Maritime Konferenz ist; denn
die Idee dieser Konferenz ist doch, die gesamte Palette
an maritimen Themen zu diskutieren und nicht nur das,
was der Regierung gerade besonders aussichtsreich und
angenehm erscheint. Oder werden hier Themen abge-
setzt, die die schönen Bilder – Bundeskanzlerin Merkel,
Wirtschaftsminister Rösler und Verkehrsminister Ramsauer
mit goldenem Maschinentelegrafen – stören könnten?
Gerade beim Marineschiffbau wären eine ehrliche Be-
standsaufnahme und eine offene Diskussion über die
Perspektiven und Anforderungen gut gewesen. Aber
auch diese Chance wurde vertan. Den nächsten Telegra-
fen müssen Sie sich noch verdienen.

Die SPD-Fraktion und ich als Abgeordnete von der
Küste ohnehin sind immer bereit, mitzuhelfen, die mari-
time Wirtschaft in Deutschland zu stärken und neue
Betätigungsfelder zu erschließen. Die Maritime Konfe-
renz 2011 ist jedenfalls hinter ihren Möglichkeiten zu-
rückgeblieben. Für die Bundesregierung gilt dies nach
meiner Einschätzung nicht. Sie haben Ihre derzeitigen
Fähigkeiten ausgeschöpft, und wir haben festgestellt,
dass diese bei weitem nicht reichen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711409900

Torsten Staffeldt hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1711410000

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute
einen Brückentag. Heute Morgen ging es um Brücken zu
erneuerbaren Energien, und jetzt geht es um eine Brü-
cke, die man das Maritime Bündnis nennen kann. Das ist
eine Brücke zum Ufer der globalen Konkurrenzfähig-
keit. Diejenigen, die die Brücke gebaut haben, sind die
Reeder, die Schiffbauer, die Hafenbetriebe, die Sozial-
partner und die Politik. Die SPD behauptet nun, dass das
Bündnis aufgekündigt sei. Die SPD stellt sich vor die
Brücke und sagt: Da ist gar keine Brücke. Wir haben sie
damals mitgebaut. Darum wissen wir das. – Nur weil die
SPD etwas nicht sehen will, heißt das noch lange nicht,
dass dies nicht da ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Darum ist der Titel dieser Aktuellen Stunde mehr als
absurd. Von einer Aufkündigung des Maritimen Bünd-
nisses kann auf gar keinen Fall die Rede sein. Die SPD,
wie üblich, verunsichert wieder einmal die Partner des
Maritimen Bündnisses und scheint das Ende des Bünd-
nisses herbeizusehnen. Anders ist das nicht zu interpre-
tieren. Das ist demagogisch, führt zu Verunsicherung
und befördert genau die falschen Reaktionen: Ausflag-
gung und Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland
im schlimmsten Falle. Meine Damen und Herren von der
SPD, Sie reißen diese Brücke ein, unnötigerweise und
fahrlässig. Um Ihre Worte, Herr Duin, zu verwenden: Sie
sind die nationale Enttäuschung.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ganz stark! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das hat jetzt aber nicht gezündet! Betretenes Schweigen!)


Diese Brücke wird nicht nur von den Reedern getra-
gen, sondern auch von den Schiffbauern, der Meeres-
technik, den Offshoreunternehmen, den Hafenbetrieben
und nicht zuletzt den Sozialpartnern. Um beim Bild der
Brücke zu bleiben: Auf der Brücke hat jeder seine eigene
Fahrspur. Und das funktioniert auch. Wenn Sie die Er-
gebnisse der Nationalen Maritimen Konferenz ansehen,
stellen Sie fest, dass die große Mehrheit der Teilnehmer
die Ergebnisse positiv bewertet. Herr Behrens, auch
wenn ich nur in zwei Workshops war, habe ich feststel-
len können, dass die Mehrheit der Workshops sehr kon-
struktiv und sehr positiv verlaufen ist.

Alle Partner müssen bei dieser Brücke ihren Teil zum
Erfolg beitragen. Vor allen Dingen mit den Reedern ha-
ben wir Probleme. Man muss ganz klar sagen: Die Ree-
der, die unter deutscher Flagge fahren, sind ein Teil des
Fundaments dieser Brücke.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


– Danke, danke. – Gerade die wenigen, die seit Jahren
unter deutscher Flagge fahren, sind ein wesentliches
Fundament. Dieses Fundament ist aber auch in diesem
Jahr nicht so stark, wie vereinbart worden war. Wir sind
von der Zielgröße der 600 Schiffe nach wie vor entfernt.
Das ist ein Problem.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wo sind die Kiemen? Haben Sie die mitgebracht?)


– Nein. Das mache ich vielleicht beim nächsten Mal
wieder.

Um dieses Problem zu lösen, haben wir den Mariti-
men Koordinator, Herrn Hans-Joachim Otto.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er hat auch keine! Ich sehe jedenfalls keine!)


Um beim Bild der Brücke zu bleiben: Er inspiziert die
Brücke und macht Vorschläge zur Verbesserung der
Tragfähigkeit und der Verkehrsleistung; aber er baut sie
nicht. Er ist insofern, wenn Sie so wollen, ein Brücken-
inspektor.


(Garrelt Duin [SPD]: Auch ein Amt!)


Das macht er gut, und daran besteht eigentlich auch kein
Zweifel. Das sagen alle.

Wir machen natürlich noch andere Sachen. Eine
breite Straße auf der Brücke ist für die deutschen Reeder
die Tonnagesteuer. Es gibt Vorfahrtspuren auf der Brü-
cke für schnellere Fahrzeuge, die besondere Kriterien er-
füllen, zum Beispiel Ausbilden, unter deutscher Flagge
Fahren. Diese Vorfahrtspuren nennen sich „Schifffahrts-
beihilfe“, „Lohnsteuereinbehalt“ oder „Lohnnebenkos-
tensubvention“.

Meine Damen und Herren, auch ich sehe das Pro-
blem, dass die Kürzungen der Mittel für den maritimen
Standort Deutschland mit Schwierigkeiten verbunden
sind. Darum gibt es im Moment auf den Vorfahrtspuren
auf der Brücke Sperrungen und Baustellen. Daher be-
grüße ich ausdrücklich das Gesprächsangebot von Ver-
kehrsminister Ramsauer an die Reeder und an Verdi. Es
soll ergebnisoffen an einer Problemlösung gearbeitet
werden. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die Brü-
cke wieder besser befahrbar wird, dass die Baustellen
verschwinden und dass die Geschwindigkeitsbeschrän-
kungen aufgehoben werden. Das sollte schnell gesche-
hen. Meines Wissens ist schon nächste Woche der erste
Gesprächstermin.


(Garrelt Duin [SPD]: Super!)


Meine Damen und Herren von den Unternehmen, den
Verbänden und den Sozialpartnern, die jetzt zuhören, wir
als Politik können Ihnen keine goldenen Brücken bauen;
dem steht die Schuldenbremse des Grundgesetzes entge-
gen. Wir können Ihnen aber versichern, dass wir dafür
arbeiten, die breite Brücke des Maritimen Bündnisses
befahrbar zu halten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711410100

Ingo Egloff redet jetzt für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1711410200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Staffeldt, zu sagen, die SPD ge-
fährde das Maritime Bündnis, weil sie auf die Gefahren
hinweise, die vonseiten der Bundesregierung ausgingen,
ist ein bisschen – wenn wir schon von Spuren auf Brü-
cken usw. reden – neben der Spur. Fakt ist doch, dass in
einem Moment, wo hier allgemein festgestellt wird, dass
sich die Reeder nicht an die getroffenen Verabredungen
gehalten haben, diese Bundesregierung den Reedern zu-
sätzliche Munition dafür gibt, dieses Bündnis aufzukün-
digen, indem die Lohnnebenkostenhilfen halbiert wer-
den.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Selbstmord ist das doch!)


H
Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1711410300
Die Anträge für 2010 hatten zur
Folge, dass bereits 2011 das ganze Geld ausgegeben ist.
Was will Herr Ramsauer den Reedern in dem Gespräch
denn sagen? Diese Frage stellt sich doch an dieser Stelle.
Ich glaube, dass das das falsche Signal für die maritime
Wirtschaft ist.

Da die maritime Wirtschaft 12 Prozent des Bruttoin-
landsproduktes in diesem Land erwirtschaftet und über
400 000 Arbeitsplätze bis weit in den Süden der Repu-
blik hinein geschaffen hat, hat die SPD unter Bundes-
kanzler Schröder dafür gesorgt, dass im Rahmen dieser
Maritimen Konferenz versucht wurde, alle Player an ei-
nen Tisch zu bringen. Das war acht oder neun Jahre lang
erfolgreich, auch unter der Großen Koalition.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben mit den von Ihnen angekündigten Kür-
zungsmaßnahmen erreicht, dass ein Teil der Mitglieder
dieses Maritimen Bündnisses sagt: Wir können uns vor-
stellen, auszusteigen. Sie sind diejenigen, die mit dieser
Politik denen auch noch Argumente für diesen Ausstieg
liefern. Deswegen ist es falsch, meine Damen und Her-
ren, an dieser Stelle so zu handeln. Richtig wäre es, bei
den Zuschüssen zu bleiben und gleichzeitig die Reeder
zu verpflichten, sich an die Vereinbarungen zu halten,
die wir mit ihnen getroffen haben, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD)


Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede dazu lapidar
gesagt – ich habe das nachgelesen –: „Ich frage mich, ob
die Zuschüsse zu den Lohnnebenkosten unbedingt not-
wendig sind“, ohne das weiter auszuführen. Weiter
wurde gesagt, der Bundesverkehrsminister stehe für wei-
tere Gespräche bereit. Das ist, glaube ich, schlicht und
ergreifend zu wenig, wenn man das Maritime Bündnis
am Leben erhalten will.

Natürlich muss der Bundesverkehrsminister für derar-
tige Gespräche bereitstehen. Das ist sein Job. Sein Job ist
es im Übrigen auch, dafür zu sorgen, dass das Maritime
Bündnis weiter existiert, genauso wie es der Job der
Bundeskanzlerin wäre, das zu tun, wenn sie denn die Be-
deutung der maritimen Wirtschaft in der Bundesrepublik
Deutschland endlich erkennen würde, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD Wir kommen jedenfalls mit Fensterreden nicht weiter. Fensterreden werden nicht dafür sorgen, dass Arbeitsplätze auf deutschen Schiffen geschaffen werden. Wenn weiterhin Schiffe ausgeflaggt werden, dann können ja Herr Otto und Herr Ramsauer am Kai stehen und den Schiffen hinterherwinken, wenn sie unter der Flagge Maltas, Zyperns oder Liberias fahren. Aber welche junge deutsche Frau oder welcher junge deutsche Mann soll denn eine nautische Ausbildung anstreben, wenn klar ist, dass sie hinterher unter der Flagge Liberias fahren müssen? Das ist doch unrealistisch. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi in Hamburg hat dazu gesagt – Gewerkschafter haben ja immer eine etwas drastische Ausdrucksweise –: Es reicht nicht aus, „La Paloma“ durch das Bullauge zu pfeifen. Wer das tut, der hat noch lange keinen Beitrag zur deutschen Seeschifffahrt geleistet. – Recht hat er, der Mann. Vielen Dank. Der Kollege Dr. Matthias Heider spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion zu uns. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Egloff, lapidar ist das natürlich nicht, wenn eine Branche eine Sonderveranstaltung im Rahmen des Regierungsalltags bekommt. Das wird nicht jeder Branche zuteil. Die Resonanz auf die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelmshaven hat einmal mehr die herausragende Bedeutung der Exportnation Deutschland belegt. Sie ist mehrfach angesprochen worden: 95 Prozent des interkontinentalen Warenaustauschs werden über den Seeweg abgewickelt, 90 Prozent des europäischen Außenhandels und 60 Prozent des deutschen Exports, über den wir uns übrigens neulich im Wirtschaftsausschuss unterhalten haben. Diese Zahlen veranschaulichen, dass die Hafenwirtschaft und die Seeschifffahrt nicht nur für die Küstenregion eine sehr große Bedeutung haben, sondern für ganz Deutschland und den Europäischen Wirtschaftsraum spielen sie eine bedeutende Rolle. Häfen sind die Brückenköpfe der Wirtschaft, und die Logistikkette entfaltet ihre Tiefenwirkung bis weit in das deutsche Hinterland, aus dem übrigens ein Großteil der Waren kommt, die exportiert werden. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben die Bedeutung der maritimen Wirtschaft immer wieder betont und entsprechend gehandelt. In dem Bericht über die maritime Wirtschaft wird dies ebenso Dr. Matthias Heider deutlich wie im Antrag der Union und der FDP zur Zukunftsfähigkeit. Dass neben Häfen, Schiffbau und maritimen Technologien auch die leistungsfähige deutsche Seeschifffahrt von hoher Bedeutung ist, versteht sich von selbst. (Johannes Kahrs [SPD]: Aber dann müssen Sie etwas dafür tun!)


(Beifall bei der SPD)


(Beifall bei der SPD)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711410400

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Matthias Heider (CDU):
Rede ID: ID1711410500




(A) (C)


(D)(B)


Der Zweck, den maritimen Standort Deutschland zu
stärken, Wertschöpfung und Ausbildung auch unter
wettbewerblich schwierigen Bedingungen zu erhalten,
ist eine Herausforderung. Wir wollten es den deutschen
Reedern mit dem Maritimen Bündnis ja erleichtern, un-
ter deutscher Flagge zu fahren. Die Bundeskanzlerin hat
in Wilhelmshaven betont, dass sie die Erfolgsgeschichte
des Bündnisses fortschreiben will.


(Zuruf von der SPD: Im Haushalt sieht man das aber nicht!)


Von einer Aufkündigung kann da überhaupt keine Rede
sein, Herr Kollege Egloff.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Garrelt Duin [SPD]: Sie müssen nicht nur eine Veranstaltung organisieren, Sie müssen auch etwas dafür tun!)


Die Gewerkschaften hingegen klagen in der Online-
ausgabe der Welt am 31. Mai über den angeblichen Teil-
ausstieg aus dem Maritimen Bündnis. Von dem in dem
Artikel zitierten Hamburger Verdi-Landeschef Rose
hätte ich mir eine solch sorgenvolle Betrachtung auch
einmal gewünscht, als der DGB im Herbst letzten Jahres
aus dem Ausbildungspakt ausgestiegen ist, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ingo Egloff [SPD]: Herr Rose ist immer sorgenvoll!)


Gewerkschaften und SPD erheben hier den Vorwurf,
dass die Zuschüsse zur Senkung der Lohnkosten in der
Seeschifffahrt von 56 Millionen auf 28 Millionen Euro
in 2011 reduziert wurden und in 2012 ganz auslaufen.
Aber über welche Dimensionen reden wir hier eigent-
lich, Herr Kollege Duin? Durchschnittlich entfielen von
den 56 Millionen Euro auf jedes der 566 im Jahr 2010
unter deutscher Flagge fahrenden Handelsschiffe genau
98 936 Euro pro Jahr. Das entspricht den Brennstoffkos-
ten eines 8 000-TEU-Containerschiffes pro Tag auf Ba-
sis des aktuellen Energiepreisniveaus.


(Garrelt Duin [SPD]: Warum streichen Sie das denn dann nicht ganz, wenn es zu wenig ist?)


Zum Fahren der derzeit größten Containerschiffe der
Emma-Mærsk-Klasse mit 14 700 TEU werden gerade
einmal 13 Mann Besatzung benötigt. Die Bedeutung der
Personalkosten in der Seeschifffahrt nimmt ab. Diese be-
triebswirtschaftlichen Eckpunkte nenne ich nur, damit
einmal klar ist, wovon wir hier überhaupt reden.

Die Bundeskanzlerin hat den Reedern auf der Mariti-
men Konferenz ein klares Bekenntnis zur Ausbildungs-
platzförderung in Höhe von 7,5 Millionen Euro und zu
den Regelungen zur Tonnagesteuer überbracht. Laut
Subventionsbericht der Bundesregierung belaufen sich
die steuerlichen Ausfälle bei dieser Pauschalsteuer auf
500 Millionen Euro. Die nun in Rede stehenden 56 Mil-
lionen Euro machen nur ein Zehntel der bisherigen Sub-
ventionen in Höhe von 556 Millionen Euro in Form von
Tonnagesteuervorteilen plus Lohnkostenzuschüssen aus.

Nimmt man das Ziel der Haushaltskonsolidierung
ernst – das tun Sie, liebe Kollegen von der SPD, offenbar
nicht –, kann man der deutschen Seeschifffahrt durchaus
zumuten, einen solchen Beitrag zu erbringen, zumal die
Prognosen für den internationalen Handel hervorragend
sind. Dass darüber hinaus in Zeiten wirtschaftlichen
Aufschwungs deutsche Kapitäne und Offiziere gefragt
sind und zu guten Konditionen auch unter anderen Flag-
gen fahren, zeigt, dass wir uns um das maritime Fach-
wissen keine Sorgen zu machen brauchen.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Richtig!)


Ich komme zum Schluss: Ihre Vorhaltungen, meine
Damen und Herren von der SPD, sind reiner Alarmis-
mus. Es bleibt also die Frage zu klären, warum Sie diese
Aktuelle Stunde überhaupt auf die Tagesordnung ge-
bracht haben. Die Substanzlosigkeit Ihrer Vorwürfe lässt
eigentlich nur eine Erklärung zu: Die Idee kam Ihnen in
dieser Woche, als Sie auf der Spargelfahrt des Seeheimer
Kreises auf Havel und Spree unterwegs waren,


(Garrelt Duin [SPD]: Daran werden Sie nie teilnehmen! – Thomas Oppermann [SPD]: Man merkt: Sie kennen die Geschäftsordnung des Bundestages nicht!)


sich im Überschwang für Ihre Oppositionsarbeit auf die
Schultern geklopft haben und die Wellen an der Reling
des Schiffes „La Paloma“ – so hieß es übrigens – richtig
hochgeschlagen haben. Da haben Sie sich überlegt: Die-
ses Thema gehört eigentlich auf die Tagesordnung dieses
Hauses.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Garrelt Duin [SPD]: Das war wesentlich bedeutender als das, was Sie gestern Nachmittag als Aktuelle Stunde beantragt haben!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711410600

Herr Kollege, bevor Sie jetzt anfangen, zu singen – –


Dr. Matthias Heider (CDU):
Rede ID: ID1711410700

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Aktuell

haben wir hier einige SPD-Beiträge zu diesem Thema
gehört. Auf alle Fälle hatten sie nichts mit Haushaltskon-
solidierung zu tun und stellten auch keinen Beitrag zur
Verbesserung des Maritimen Bündnisses dar.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingo Egloff [SPD]: Wir wissen jedenfalls, wovon wir reden!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711410800

Hans-Joachim Hacker hat jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1711410900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Herr Heider, mit der Kenntnis der Ter-
minplanung des Deutschen Bundestages scheint es bei
Ihnen ja ein bisschen zu hapern; denn wenn erst auf der
Spargelfahrt der Beschluss zur Beantragung dieser Aktu-
ellen Stunde gefasst worden wäre, dann wäre dieses
Thema erst in der nächsten Sitzungswoche auf die Ta-
gesordnung gekommen. Aber sei’s drum. Das sollte ja
ein Gag von Ihnen sein; er ist nicht ganz so angekom-
men.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Dr. Matthias Heider [CDU/CSU]: Bei Ihnen vielleicht nicht!)


Ich denke, die heutige Debatte hat deutlich gemacht,
dass die Siebte Maritime Konferenz nicht die Erwartun-
gen erfüllt hat, die an sie gestellt worden sind. Wir woll-
ten nicht, Herr Staffeldt, dass hier heute darüber disku-
tiert wird, was die maritime Wirtschaft leistet, sondern
wir wollten heute über die Politik der Bundesregierung
und ihre Konzepte diskutieren. Ich sage es Ihnen in ei-
nem Satz: Diese Bundesregierung fährt in der maritimen
Politik ohne Kompass und ohne Ziel, und das darf nicht
so bleiben.


(Beifall bei der SPD – Torsten Staffeldt [FDP]: Wir haben GPS!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mariti-
men Konferenzen der letzten Jahre, die ja auf Bundes-
kanzler Gerhard Schröder zurückgehen, waren Treffen,
bei denen maritime Bündnisse geschmiedet wurden, bei
denen konkrete Verabredungen getroffen wurden und bei
denen auf aktuelle Fragen ganz konkrete Antworten ge-
geben wurden.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das war halt ein guter Kanzler!)


– Das ist richtig, Herr Kahrs. – Die Siebte Maritime
Konferenz war aber nun wirklich keine Erfolgsge-
schichte. Herr Staatssekretär, Sie haben Selbstlob ver-
teilt. Aber das, womit Sie sich geschmückt haben, waren
Leistungen der maritimen Wirtschaft, nicht Leistungen
der Bundesregierung. Das können wir so nicht stehen
lassen. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie ein Konzept
dazu vorlegen, wie es mit der maritimen Wirtschaft in
Deutschland weitergehen soll.


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Das habe ich doch gesagt!)


– Nein, das hat gefehlt.


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Sie haben meinen Bericht nicht gelesen! – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sie waren ja gar nicht da! Das ist das Problem: nicht da gewesen sein und keine Handlungsempfehlungen gelesen haben!)


Bei der Maritimen Konferenz machen Sie das Gleiche
wie im Bereich der Städtebauförderung: Sie wickeln er-
folgreiche Projekte ab. Das ist keine gute Politik für
Deutschland und im konkreten Fall nicht für die mari-
time Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Es sollten sich nur die melden, die was zur maritimen Wirtschaft zu erzählen haben!)


Ich hätte gedacht, dass die maritime Politik, gerade
weil die Kanzlerin einen Wahlkreis an der Küste hat, die-
ser Koalition eine Herzensangelegenheit wäre,


(Johannes Kahrs [SPD]: Das Gegenteil ist der Fall! – Gegenruf des Abg. Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Nun ist aber gut!)


dass sie mit Engagement und Empathie betrieben würde.
Aber Zukunftsfragen der maritimen Wirtschaft werden
in der Bundesregierung nicht beantwortet,


(Johannes Kahrs [SPD]: So ist das! – Patrick Döring [FDP]: Von Ihnen werden die ja nicht mal gestellt!)


weder in der Maritimen Konferenz noch in anderen Ge-
sprächen mit Ihnen, Herr Staatssekretär. Das darf so
nicht bleiben; denn das ist nicht gut für den Norden.
Ebenso wenig gut ist es für Süd- und Südwestdeutsch-
land, wo wichtige Zulieferbetriebe ihren Sitz haben und
wo bedeutsame Warenströme ihren Ursprung haben, die
über die Häfen abgewickelt werden.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Kommt da noch mal Butter bei die Fische, oder was?)


Ich möchte an dieser Stelle auch Herrn Ferlemann
einmal ansprechen. Herr Ferlemann, Sie schreiben ge-
rade fleißig. Ich hätte mir gewünscht, dass auf der Mari-
timen Konferenz in Wilhelmshaven endlich einmal eine
konkrete Aussage zur Elbe getroffen worden wäre.


(Patrick Döring [FDP]: Da läuft ein Planfeststellungsverfahren!)


An den Binnenhäfen an der Elbe, zum Beispiel in Wit-
tenberge, wird investiert. Wir warten dringend auf eine
Positionierung des Bundesverkehrsministeriums in der
Frage, wie es mit der Nutzung der Elbe weitergehen soll
und wie wir unsere Vereinbarung mit Tschechien erfül-
len können. Da haben Sie eine Bringschuld. Sie können
das nicht weiter auf die lange Bank schieben. Sie müssen
jetzt einen konkreten Vorschlag machen – wenn mög-
lich, noch in diesem Jahr, am besten noch vor der Som-
merpause, Herr Ferlemann.


(Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ja, mache ich!)


– Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)


Heute ist viel über Offshore gesprochen worden. Die
Kanzlerin hat einen Förderrahmen von 5 Milliarden
Euro angeboten. Aber sie hat nicht gesagt, wie das um-
gesetzt werden soll.





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Stimmt doch nicht! Liegt doch alles vor! – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Auch das wieder nicht gelesen, das Programm nicht durchgelesen!)


Es muss weiterhin darum gehen, dass die Offshorege-
biete an das deutsche Netz angebunden werden. Herr
Rehberg, da haben Sie in der Vergangenheit auf das fal-
sche Pferd gesetzt. Sie haben Offshore vernachlässigt,


(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Was?)


und zwar zugunsten der Atomindustrie.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Die Diskussion hatten wir heute Morgen! Thema verfehlt! Sag doch noch was zu Ehec!)


Sie haben jetzt die Wende geschafft und schalten nun
um. In der Vergangenheit haben Sie ganz andere Priori-
täten gesetzt.

Im Zusammenhang mit Offshore stelle ich die Frage:
Wo sind Ihre Angebote zur Finanzierung des Baus von
Spezialschiffen im Rahmen des KfW-Sonderprogramms
„Offshore-Windenergie“? Darauf wartet die Wirtschaft.
Es gibt kein Angebot.

Wenn wir über Offshore diskutieren, stellt sich für die
SPD auch die Frage nach der Lebens- und Rechtssitua-
tion der Arbeitnehmer in diesem Bereich. Wann wollen
Sie Regelungen treffen im Hinblick auf Arbeitsschutz,
Tarifverträge und Mindestlöhne?


(Patrick Döring [FDP]: Das machen immer noch die Sozialpartner in Deutschland!)


Was sich in diesem Bereich abspielt, ist nicht in Ord-
nung. Da brauchen wir Regelungen. Wir können das mit
auf den Weg bringen. Für den Gesundheitsschutz ist
auch die Bundesregierung verantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auf all diese Fragen haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, keine Antwort gegeben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711411000

Herr Kollege?


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1711411100

Ich werfe noch einen Blick in Richtung Verkehrs-

ministerium. Der Fokus muss viel stärker auf die Hinter-
landanbindung gerichtet werden, Herr Ferlemann.

Wenn ich dann ein letztes Wort sagen darf, Frau Präsi-
dentin, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711411200

Ein letztes Wort, ein letzter Blick.


(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Schluss, Ende!)


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1711411300

– dann geht dieses an die Kollegen von der Union, die

sich mit diesem Thema beschäftigen. Ich vermisse Ihr
Engagement


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Hat er zehn Minuten Redezeit?)


für den Hafen Mukran im Wahlkreis der Bundeskanzle-
rin.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711411400

Herr Kollege!


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1711411500

Dort ist ein riesiges Areal mit Loks der Deutschen

Bahn AG vollgestellt. Dieser Hafen muss dringend ent-
wickelt werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: 15. Juni ist Spatenstich für die B 96! Was ihr acht Jahre nicht geschafft habt, haben wir in zwei Jahren hingekriegt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711411600

Patrick Döring hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1711411700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wieder einmal wird in dieser Debatte versucht, mithilfe
eines völlig an der Realität vorbeigehenden Zerrbildes,
das hier insbesondere durch die Sozialdemokraten in ih-
ren Reden gezeichnet wird, die Situation in Deutsch-
land – in diesem Fall der maritimen Wirtschaft – völlig
falsch darzustellen.

Geschätzter Herr Kollege Hacker, die Lebensbeichte
über die schönsten Projekte des Wahlkreises kann man
zu Hause vortragen, aber sie hat in dieser Rede nun
wirklich nichts zu suchen. Diese Bundesregierung und
diese Koalition investieren mehr als alle Vorgängerregie-
rungen und -koalitionen in Hafenhinterlandanbindun-
gen,


(Ingo Egloff [SPD]: Das werden wir erst noch mal sehen!)


in das Schienennetz vor Wilhelmshaven, in die Ertüchti-
gung des Eisenbahnknotens Bremen, in die Anbindung
des Hamburger Hafens durch das dritte und vierte Gleis,


(Ingo Egloff [SPD]: Was ist mit der Y-Trasse?)


durch die Ertüchtigung der Strecke Uelzen–Stendal und
durch die Planfeststellung für die Y-Trasse.


(Ingo Egloff [SPD]: Die Planungskosten für die Y-Trasse zahlen die Bundesländer!)






Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

Wir sorgen dafür, dass unsere Seehäfen auf leistungsfä-
higen Strecken angebunden werden – mehr als alle ande-
ren Regierungen vor uns.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das gehört eben auch zur Leistung dieses Staates.

Dazu kommen 580 Millionen Euro unmittelbare Hil-
fen für diese Branche. Es ist ein großes Verdienst der
Haushälterinnen und Haushälter dieser Koalition und der
Fachpolitiker, dass in dieser gewaltigen Unterstützung
weitestgehend keine Kürzungen vorgenommen wurden,
einer Unterstützung, die wir zu Recht erbringen, weil wir
mit der Tonnagesteuer 1998 ein europäisches Besteue-
rungsregime geschaffen haben.

Aber ich sage auch: Man macht einen Fehler, wenn
man wegen der Kürzung von 27 Millionen Euro im Bun-
deshaushalt aus der florierenden maritimen Wirtschaft
eine Elendsbranche macht, indem man sie herbeiredet.
Damit tut man der Branche keinen Gefallen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich auf das kommen, was der Kollege
Hacker eben zum Thema Offshore gesagt hat. Wir wer-
den in den auf der Konferenz zuständigen Arbeitskreisen
und überall, wo wir zurzeit reden, für das, was wir in
diesem Bereich tun, gelobt.


(Garrelt Duin [SPD]: Was ist das denn für eine Veranstaltung gewesen?)


Wir realisieren schnell und zügig eines der größten in-
dustriellen Förderprojekte – über 5 Milliarden Euro
KfW-Mittel –, die es jemals gab. Wer uns vorwirft, wir
hätten an dieser Stelle aufs falsche Pferd gesetzt, hat
nicht begriffen, welche gewaltige Anstrengung wir mit
der Hilfe der KfW geleistet haben und was wir dort ins-
gesamt auf den Weg bringen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber wir müssen auch sehen: Wahrscheinlich hat die
Kürzung im Bundeshaushalt Auswirkungen auf die Be-
schäftigung und Ausbildung von deutschen Seeleuten.
Diese müssen wir in den Gesprächen, die das Ministe-
rium führt und die wir als Berichterstatter führen, noch
einmal genau analysieren; vielleicht müssen wir auch zu
anderen Lösungen kommen. Da geht es nicht darum,
dass der eine den anderen bestraft oder der eine dem an-
deren Wortbruch vorwirft oder gar eine Fraktion im
Deutschen Bundestag einseitig ein Bündnis, das die Re-
gierung und die Branche geschlossen haben, aufkündigt.
Es geht vielmehr darum, richtige und solide Lösungen
jenseits von Haushaltsbelastungen zu finden, zum Bei-
spiel über Entschlackung und Entbürokratisierung, über
andere Verfahren oder Anrechnungsmöglichkeiten oder
über Veränderungen bei der Tonnagesteuer.


(Zuruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD])


All das ist möglich. Das kann man besprechen. Jeden-
falls wollen wir nicht, dass maritime Kompetenz in
Deutschland verloren geht. Das gilt es zu verhindern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Garrelt Duin [SPD]: Das hätten Sie sich vorher überlegen müssen!)


Wir reden hier über 580 Millionen Euro Hilfe und
weit darüber hinausgehende zusätzliche Anstrengungen
der öffentlichen Hand. Da muss ich sagen – die Kollegin
Evers-Meyer musste schon gehen –: Man kann darüber
streiten, ob es richtig oder falsch war, dass das Thema
Pirateriebekämpfung auf der maritimen Konferenz nicht
diskutiert wurde. Aber ich hätte mir schon gewünscht,
dass man auch anerkennt, dass dieser Staat bzw. der
Deutsche Bundestag weit über die Fraktionsgrenzen der
Koalition hinaus mit gewaltigen Anstrengungen, auch fi-
nanzieller Art, die Sicherheit der Seewege garantiert und
den militärischen Einsatz finanziert. Auch das gehört
hinzugerechnet, wenn man über die Hilfe für die See-
wirtschaft und unsere Wirtschaft spricht. Das ist ein Ver-
dienst des gesamten Deutschen Bundestages. Das kann
man auch als Oppositionsredner erwähnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Kommen wir zu den Herausforderungen an die Inves-
titionen für die Infrastruktur unserer Seehäfen. Auch in
der Rede von Herrn Duin ist wieder das leidige Thema
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung angesprochen wor-
den.


(Garrelt Duin [SPD]: Das ist Ihnen leidig! Das ist aber der Branche nicht leidig!)


– Sehr geschätzter Herr Kollege Duin, das Einzige, was
in diesem Fall zur Verunsicherung beiträgt, sind die
Wortmeldungen von Ihnen und dem geschätzten Kolle-
gen Beckmeyer;


(Garrelt Duin [SPD]: Die ganze Branche schüttelt den Kopf über Sie!)


denn niemand sonst verbreitet Verunsicherung zu diesem
Thema. Im Koalitionsvertrag haben wir angekündigt,
dass wir leistungsfähige Verwaltungsstrukturen schaffen
wollen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das werden Sie doch nicht! – Garrelt Duin [SPD]: Was verbirgt sich denn dahinter?)


Diese leistungsfähigen Verwaltungsstrukturen werden
wir nach den Beschlüssen des Haushaltsausschusses mit
dem Ministerium ganz in Ruhe aufbauen. Parallel dazu
werden wir schauen, wo wir die Investitionen konzen-
trieren können.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wo denn? – HansJoachim Hacker [SPD]: Hü und hott!)


Es ist ein Verdienst des Hauses, dass wir über die Inves-
titionsnotwendigkeiten in diesem Bereich offensiv spre-
chen.

Abschließend will ich auf Folgendes hinweisen: In
Dresden hat die frühere Ratspräsidentin der EKD, Frau
Käßmann, gesagt:


(Garrelt Duin [SPD]: Jetzt müssen Sie da schon Hilfe suchen?)


Nichts ist gut in unserem Land …





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

So ähnlich haben sich auch die Debattenbeiträge der
Sozialdemokraten angehört. Ich glaube, wir sind als deut-
sche Parlamentarier aufgerufen, in diese Mentalität nicht
einzustimmen. In Deutschland ist viel mehr gut, als viele,
viele Menschen, offenbar auch in der SPD, glauben.


(Garrelt Duin [SPD]: Nur die Bundesregierung nicht!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711411800

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-

men.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1711411900

Wir werden sicherstellen, dass dies auch bei denen

ankommt, die betroffen sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Phrasendreschmaschine!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711412000

Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich

Kollegen Hans-Werner Kammer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1711412100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Wir werden es sicherlich unterschiedlich beurteilen, ob
die Siebte Nationale Maritime Konferenz in Wilhelms-
haven ein großer Erfolg war oder nicht. Für mich jeden-
falls ist klar: Diese Maritime Konferenz war ein großer
Erfolg.


(Johannes Kahrs [SPD]: War sie nicht!)


Ich möchte das anhand von zwei Punkten herausstellen.

Zum einen war die Veranstaltung auf dem Bauge-
lände des ersten deutschen Tiefwasserhafens ein einzig-
artiges Symbol für den Aufbruch der deutschen mariti-
men Wirtschaft in eine neue Zeit.

Zum anderen ging von ihr die klare Botschaft an die
Wirtschaft in der ganzen Welt aus: Die maritime Wirt-
schaft in Deutschland bleibt international führend und
hat weiterhin gewaltige Wachstumspotenziale.

Die Sozialdemokraten haben nach Ergebnissen ge-
fragt.


(Garrelt Duin [SPD]: Da müssen Sie mal liefern! – Johannes Kahrs [SPD]: Im Haushalt steht nichts!)


Das ist absolut verständlich. Denn es waren nur wenige
SPD-Bundestagsabgeordnete auf der Konferenz bzw. sie
waren nur für kurze Zeit da. Vor allem waren sie nicht
dabei, als die Präsentation der Ergebnisse der Gespräche
in den Foren anstand; da fehlten etliche.


(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Deshalb will ich Ihnen gern etwas Nachhilfe geben.
Vorher möchte ich einen Satz zu Herrn Behrens sa-
gen. Herr Behrens, ich bin von Ihrem Beitrag für die
Linke mehr als entsetzt. Ich nehme an, dass Sie zu einer
alternativen maritimen Konferenz vorgetragen haben.
Ich sage nur etwas zu Ihren Aussagen zur Vertiefung von
Elbe und Weser, die ich der Presse entnommen habe: Mit
einem Kanuboot werden wir niemals Container in die
Häfen bekommen; aber das fordern Sie im Grunde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das ist ja eine schlaue Feststellung!)


Ich hätte allerdings auch gern meine Wahlkreiskolle-
gin Evers-Meyer angesprochen, nur ist sie leider nicht
mehr da. Sie hat sich in der lokalen Presse darüber be-
schwert, dass die Marine nicht entsprechend beteiligt ist,
dass die Piraterie nicht auf der Tagesordnung stand. Ich
hätte mir von der SPD-Fraktion gewünscht, dass dieses
Thema in ihrem Antrag zur Maritimen Konferenz breiter
behandelt worden wäre. Bei uns wurde es breit behan-
delt. Wäre Frau Evers-Meyer damals bei der Debatte da-
bei gewesen, hätte sie es mitbekommen. Aber leider war
es so: Eröffnung, Abendessen und dann wieder weg. Das
genügt nicht, wenn man diese Themen ernsthaft bespre-
chen will.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: So kann man nicht mit der Bundeskanzlerin umgehen!)


Ich sage ausdrücklich: Ich nehme es nicht hin, dass
meine Kollegin sagt, die Fähigkeiten der Regierung
reichten nicht aus. Wir waren in einer Großen Koalition.
Da war ein Minister –


(Garrelt Duin [SPD]: Wir können nichts dafür, aber es ist so! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wir können es doch nicht ändern!)


– Herr Duin, nun hören Sie doch einmal zu – Tiefensee
gemeinsam mit uns in Wilhelmshaven.


(Patrick Döring [FDP]: Sie nannten ihn „Pfütze“!)


Als er wieder in Berlin war, hatte er nur vergessen, dass
es in Deutschland überhaupt eine Küste gibt; das muss
man dazusagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben in mehreren Arbeitsgruppen die verschie-
denen Themen besprochen. Ich war in der Arbeitsgruppe
„Hafenwirtschaft & Logistik“. Da ging es um die Zu-
kunft der deutschen Häfen. Ich habe dort Perspektiven
und Strategien für die Hinterlandanbindung, die Y-Trasse
und die Vertiefungen von Weser, Elbe und Ems ange-
sprochen. Das war aber für einen ehemaligen SPD-Bür-
germeister offensichtlich zu anspruchsvoll; es ging ihm
nur um die Klassifizierung der Fließgewässer. So sehen
intellektuelle Tiefpunkte aus; auch das muss man dazu
sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)

Unbestrittener Höhepunkt der Maritimen Konferenz
war aber das persönliche Bekenntnis unserer Kanzlerin
zur Küste, zu ihren Menschen und ihrer Wirtschaft.


(Garrelt Duin [SPD]: Was soll sie sonst auch tun? „Ich bekenne mich zur Küste“!)


Allen Anwesenden – aber nur denen, Herr Duin – wurde
wieder einmal bewusst: Diese Bundesregierung setzt die
Rahmenbedingungen für die Zukunft.

Sie haben von einer Kündigung des maritimen Pakts
gesprochen. Was Sie dazu gesagt haben, ist schlichtweg
die Unwahrheit. Wenn Sie nicht schon Rote wären, dann
müssten Sie von der Sozialdemokratie jetzt rot werden.
Da haben Sie uns wirklich die Unwahrheit gesagt.

Ich glaube, es ist klar, dass wir vor dem Hintergrund
der wirtschaftlichen Erholung auch unseren Subven-
tionskurs korrigieren müssen. Mein Kollege Dr. Heider
hat bereits gesagt, dass wir einige Dinge zurücknehmen
müssen. Diese Korrektur fällt aber sehr moderat aus, so-
dass es wirklich keinen sachlichen Grund zur Panikma-
che gibt. Wir steigen nicht aus dem Maritimen Bündnis
aus, ganz im Gegenteil: Wir sichern insbesondere die
Ausbildung qualifizierter Nachwuchskräfte für den ma-
ritimen Standort Deutschland. Das war so, und das wird
auch so bleiben.

Als Abgeordneter des Wahlkreises Wilhelmshaven
freue ich mich besonders über das Ergebnis der Siebten
Nationalen Maritimen Konferenz. Wenn wir auf diesen
Ergebnissen aufbauen, werden wir weitere Erfolge für
unser Maritimes Bündnis erzielen, und das ist gut so.
Dieses Signal ist von der Konferenz in Wilhelmshaven
ausgegangen. Darüber freue ich mich besonders.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711412200

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerver-
einfachungsgesetzes 2011
– Drucksachen 17/5125, 17/5196 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 17/6105, 17/6146 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Lothar Binding (Heidelberg)

Dr. Daniel Volk

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6121 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Sven-Christian Kindler

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Antje
Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1711412300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

verabschieden heute mit dem Entwurf eines Steuerver-
einfachungsgesetzes einen Gesetzentwurf, den Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, als lä-
cherlich bezeichnet haben. Deshalb beginne ich mit ein
paar Zitaten aus dem Protokoll der Anhörung, die wir
dazu durchgeführt haben. Professor Dr. Loritz sagte:
„Ich beurteile das Ziel des Gesetzes uneingeschränkt po-
sitiv.“ Weiter meinte er: Es ist „die einzige realistische
Chance, dass man sich einzelne Gesetzesänderungen
vornimmt, um insgesamt eine Vereinfachung zu errei-
chen“.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist das! – Manfred Zöllmer [SPD]: Das war auch der Einzige!)


– Nein, der Neue Verband der Lohnsteuerhilfevereine
sagt:

Wir begrüßen insbesondere, dass man sich bemüht,
im Gesetz zu bleiben, also nicht einen riesengroßen
Wurf zu machen, der dann viele neue Unwägbar-
keiten nach sich zieht, sondern sich einzelne Rege-
lungen vornimmt.

Auch der Familienbund der Katholiken sagt zu den
Familienmaßnahmen im Gesetzentwurf:

Die … Maßnahmen im Bereich der Familienbe-
steuerung … werden von uns sehr begrüßt.

Sie sehen, liebe Kollegen, Sie sind allein mit Ihrer
Kritik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich weiß auch, warum.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nichts hinkriegen, aber meckern!)


Sie haben an dem Gesetzentwurf außer Kleinigkeiten gar
nichts auszusetzen, und um ein Argument zu finden,
nicht zustimmen zu müssen, versuchen Sie hier, diesen
Gesetzentwurf kleinzureden, indem Sie ihn als lächer-
lich bezeichnen.

Nun aber zu den Einzelheiten. Dieser Gesetzentwurf
ist ganz wesentlich einer für Familien, für Bürokratieab-
bau, für Entlastungen und für Vereinfachungen für El-
tern mit Kindern und für Eltern in ihrem Verhältnis zu
ihren Eltern.





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

Fangen wir mit dem Kinderfreibetrag an, der den Fa-
milien allein eine Entlastung in Höhe von 260 Millionen
Euro bringt. Das ist aber nur der finanzielle Teil. Die
Vereinfachung, die damit verbunden ist, ist für die Fami-
lien noch viel wertvoller. Bisher war es so, dass Kinder
in Berufsausbildung, die über 18 Jahre alt waren und
durch Ferienjobs oder durch ihre Ausbildungsvergütung
mehr als 8 004 Euro verdient haben, kein Kindergeld
mehr beziehen konnten. Die Finanzämter mussten
100 Prozent der Fälle prüfen, obwohl in 99 Prozent der
Fälle die Einkommensgrenze nicht überschritten wurde.
Dieser Verwaltungsaufwand ist unnötig. Noch viel
schlimmer ist aber, dass bei 1 Prozent der Fälle durch die
Finanzverwaltung festgestellt wurde, dass die Grenze für
das eigene Einkommen der Kinder überschritten wurde.
Grund dafür konnte sein, dass die Kinder eine Stunde zu
viel gearbeitet und deshalb die Lohngrenze überschritten
haben. Ein anderer Grund, der noch schlimmer ist,
konnte das Verbummeln einer Monatskarte sein. Dies
konnte dazu führen, dass über 1 000 Euro weniger Kin-
dergeld bezogen wurden. Das finden wir nicht richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!)


Nun können Sie einwenden, dass in einem bürokrati-
schen Staat auch die Erziehung der Kinder zum Aufbe-
wahren von Belegen zum Erziehungsauftrag gehört.
Wenn dieser Erziehungsauftrag aber 1 000 Euro kostet,
ist das, glaube ich, ein teures Vergnügen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden diese Einkommensgrenzen wegfallen las-
sen und nur, um Missbrauch zu vermeiden, bei einer
Zweitausbildung eine 20-Stunden-Begrenzung vorsehen.
Ansonsten glauben wir, dass es gut ist, wenn junge Men-
schen sich anstrengen und versuchen, möglichst viele ei-
gene Einkünfte zu haben. Das wollen wir nicht durch bü-
rokratische Hemmnisse verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Zweiter Bereich: Kinderbetreuungskosten. Hier
herrschte bisher ein ziemliches Durcheinander. Zum
Beispiel musste der Steuerpflichtige, der Kinderbetreu-
ungskosten absetzen wollte, nachweisen, dass er entwe-
der einer Berufstätigkeit nachgeht, sich in Ausbildung
befindet oder krank ist. Bei einer Berufstätigkeit liegt
eine gewisse Regelmäßigkeit vor; bei Krankheit handelt
es sich dagegen eher um eine Frage von Wochen. Inner-
halb eines Jahres musste man der Finanzbehörde unter
Umständen mehrfach den aktuellen Status mitteilen, um
überhaupt Kinderbetreuungskosten geltend machen zu
können.

Das halten wir für falsch. Deshalb haben wir diese
Regelung geändert. Künftig sind bei Familien die Kin-
derbetreuungskosten – egal in welcher Situation – als
Sonderausgaben abzugsfähig. Die Behauptung, dass El-
tern deswegen höhere Kindergartengebühren zahlen
müssten, ist unwahr. Kinderbetreuungskosten mindern
stets die Bemessungsgrundlage.
Dritter Bereich: Kinderfreibeträge. Auch dieser Be-
reich war sehr ungerecht geregelt. Bislang war es so,
dass Elternteile, die zwar rechtlich zu Unterhaltszahlun-
gen verpflichtet sind, die Zahlung aber verweigern, den
Kinderfreibetrag nicht bekommen können. Elternteile
aber, bei denen festgestellt ist, dass sie keinen Unterhalt
zahlen müssen – zum Beispiel wegen Vermögenslosig-
keit –, konnten den Kinderfreibetrag behalten. Derjenige
– meistens handelt es sich um die Mütter –, der die Kos-
ten für das Kind alleine trägt, konnte somit nur einen
halben Kinderfreibetrag geltend machen. Das ist unge-
recht, und das werden wir mit dem neuen Gesetz ändern.

Immer mehr Eltern entscheiden sich Gott sei Dank
nach einer Scheidung dazu, die Kinder gemeinsam zu
betreuen. Die Kinder leben in der einen Hälfte des Jahres
beim Vater, in der anderen Hälfte bei der Mutter. Bisher
war es so, dass nur derjenige Kinderbetreuungskosten
über den Betreuungsfreibetrag geltend machen konnte,
bei dem das Kind mit Hauptwohnsitz gemeldet war. Das
ist ungerecht, und auch das werden wir ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vierter Bereich: die Ehegattenbesteuerung. Das ist ein
Dauerthema; wir haben uns schon sehr lange damit be-
fasst. Wir haben immer wieder versucht, Möglichkeiten
der Ehegattenbesteuerung zu schaffen, die verhindern,
dass Eheleute schlechter gestellt werden als Ledige.
Auch in diesem Bereich haben wir Vereinfachungen
durchgeführt. Wir haben aufgrund der Ergebnisse der
Anhörung sichergestellt, dass Eheleute, auch nachdem
sie sich für eine Veranlagung entschieden haben, das
Recht haben, eine andere Veranlagung zu wählen, die für
sie günstiger ist.

Ein weiterer Punkt. Familien sind nicht nur Eltern und
Kinder, sondern auch Kinder und Großeltern oder Eltern
und deren Eltern. Wir wollen, dass Familien füreinander
einstehen. Zum Beispiel soll Rentnern mit einer gerin-
gen Rente Wohnraum von ihren Kindern zu einem güns-
tigen Preis zur Verfügung gestellt werden können. Bis-
her war die Berechnung dieser Mieten sehr schwierig,
vor allem im Hinblick darauf, wie man das Ganze steu-
erlich absetzen konnte. Das war jedes Mal ein Fall für
den Steuerberater.

Es gab zwei Grenzen, nämlich 56 und 75 Prozent der
ortsüblichen Miete. In diesem Bereich musste die Miete
mindestens liegen, um die Kosten für die Wohnung über-
haupt steuerlich abziehen zu können. Das haben wir ver-
einfacht, was mit Sicherheit dazu führt, dass es weniger
Diskussionen zwischen Familienangehörigen gibt. Das
wird die Bereitschaft von Kindern, ihren Eltern günsti-
gen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sicherlich er-
höhen.

Wir haben die Abzugsfähigkeit von Spenden verbes-
sert; denn es ist ärgerlich, wenn man etwas Gutes tut und
hinterher feststellt, dass man leider an den Falschen
überwiesen hat und deshalb keine Spendenquittung be-
kommt.

Bei der Pendlerpauschale haben wir den Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern Wahlrechte gegeben, die
tatsächlich zu einer Vereinfachung führen. Auch hier ha-





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

ben wir für einen erheblichen Abbau von Bürokratie ge-
sorgt.

Wir schenken den Menschen in großen Bereichen
mehr Zeit. Das ist zugleich weniger Zeit, die sie für
Steuererklärungen aufbringen müssen. Weil ich die fa-
milienpolitischen Maßnahmen in den Vordergrund stelle,
sage ich: Das ist hoffentlich mehr Zeit, die sie mit ihren
Familien verbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind uns einig, dass wir über Steuervereinfachun-
gen sprechen, nicht über Steuersenkungen. Wir versu-
chen, dort zu entlasten, wo es den Staatshaushalt nicht
belastet. Das gelingt am besten bei den Bürokratiekos-
ten. Mit diesem Gesetz werden wir den Unternehmen
Bürokratiekosten in Höhe von 4 Milliarden Euro erspa-
ren. Zum Beispiel lassen wir bei der Umsatzsteuer zu,
dass demnächst Rechnungen nicht mehr nur auf Papier,
sondern auch per E-Mail übersandt werden können.
Rechnungen als einfache E-Mails, Computerfaxe oder
mittels Datenträgeraustausch – wenn der Empfänger zu-
stimmt – werden künftig von der Finanzbehörde aner-
kannt.

Natürlich tragen wir den Bedenken der Innenpolitiker
Rechnung, die sagen, dass eine einfache E-Mail auch
Gefahren bergen könne. Deshalb haben wir im Gesetz-
gebungsverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen,
dass neben der elektronischen Signatur und dem EDI-
Verfahren auch die neue De-Mail ein sicheres Verfahren
im Sinne des Gesetzes ist.

Wenn man also vor Hackern sicher sein möchte, ist
De-Mail ein einfaches Verfahren im Sinne des § 14 Um-
satzsteuergesetz, mit dem man auch erheblich Kosten
und Bürokratie einsparen kann. Der Normenkontrollrat
sagt dazu: Die elektronische Rechnungsstellung stellt
insbesondere wegen später folgender Vereinfachungs-
möglichkeiten eine zentrale Maßnahme zur Vereinfa-
chung dar. Diesem Bereich kommt eine Schlüsselstel-
lung zu, ähnlich wie anderen Projekten, wie zum
Beispiel ELENA. – Es gibt also noch einen Sachverstän-
digen, der ausdrücklich sagt: Dieses Gesetz ist richtig
und gut für die Unternehmen.

Wir haben die Pauschalen für Waldbesitzer geändert.
Wir haben uns im Rahmen der Anhörung davon überzeu-
gen lassen, dass bestimmte Betriebskostenpauschalen er-
höht werden müssen. Wir werden die Betriebskostenpau-
schale bei eingeschlagenem Holz von 65 auf 55 Prozent
senken; bei auf dem Stamm verkauftem Holz gehen wir
auf 20 Prozent. Auch das ist ein Ergebnis der Anhörung.
Wir haben ernst genommen, was uns Sachverständige ins
Stammbuch geschrieben haben. Dann macht eine Anhö-
rung wirklich Sinn, weil Bürgerinnen und Bürger und
Sachverständige mit Gesetzgebung machen und uns hel-
fen, Fehler bei der Gesetzgebung zu vermeiden.

All diese Maßnahmen werden heute nach der Verab-
schiedung des Gesetzentwurfes und nach Zustimmung
des Bundesrates dazu führen, dass das Verhältnis zwi-
schen Staat und Bürger einfacher wird. Aber wir wissen
natürlich auch, dass das nur ein erster Schritt ist. Wir ha-
ben jetzt im Wesentlichen Familien und Privatleute ent-
lastet. Wir werden ab Dienstag – Montag ist ja Pfingsten
– nahtlos mit der Erarbeitung von Vereinfachungen bei
der Unternehmensteuer weitermachen. Wir brauchen die
Verlängerung der Regelung bei der Umsatzgrenze im
Rahmen der Istbesteuerung. Wir brauchen den Gleich-
klang von Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht.
Wir brauchen eine Verkürzung von Aufbewahrungs- und
Prüffristen, und wir brauchen einheitliche IT-Schnittstel-
len von Steuer, Rente und Betriebsprüfung. Das alles
sind Maßnahmen, die wir völlig umsonst bekommen
können; diese werden wir angehen.

Ich würde mich freuen, wenn Sie den ersten Schritt
mitgehen. Wir gehen diesen Weg aber auch ohne Sie.
Wir werden auch bei der Unternehmensteuerreform im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger und im Sinne von Bü-
rokratieabbau und Haushaltskonsolidierung weiterma-
chen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711412400

Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1711412500

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einige
Vorbemerkungen zu einigen Sätzen machen, die ich vor-
hin aufgeschnappt habe. Herr Brinkhaus hat gesagt: Die
Regierung tut eine Menge. – Das finde auch ich. Herr
Döring sagte, wir hätten etwas nicht begriffen. Es ist ja
ein beliebtes Spiel, dass man den anderen unterstellt,
dass sie etwas nicht verstehen und es deshalb schief
läuft.


(Zuruf von der FDP: Schauen wir einmal, wie Ihre Rede weitergeht!)


Ich möchte einiges in Erinnerung rufen. Es gab eine
Phase eins. Sie erinnern sich: Holperstart, Gurkentruppe,
spätrömische Dekadenz, Westerwelle. Heute haben wir
gelernt, dass Rösler es schafft, dieses Niveau weiter ab-
zusenken.


(Beifall bei der SPD)


Die Phase zwei war eine Phase der Ruhe und des euro-
päischen Abtauchens.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Reden Sie noch zum Thema?)


Die Phase drei war der Herbst der Entscheidungen. Sie
erinnern sich: Die Laufzeiten der AKW wurden verlän-
gert usw. Jetzt erleben wir die Phase vier. Das ist sozusa-
gen die Phase der Kehrtwende. Das haben wir heute am
Beispiel AKW gesehen. Atomkraftwerke sind jetzt
plötzlich des Teufels. Ganz aktuell sehen wir das auch
am heutigen Desaster mit der Gewerbesteuer. Wir mer-
ken: Die Regierung tut eine Menge. Aber wer eine
Menge tut, tut nicht unbedingt das Richtige.





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Zum Thema!)


Ich möchte das, was Frau Tillmann gesagt hat, sowohl
als falsch bezeichnen als auch als richtig bestätigen. Sie
haben gesagt, dass wir diesen Gesetzentwurf lächerlich
finden.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Sie haben gesagt, dass Sie das lächerlich finden!)


– Ich habe das gesagt. – Diese Aussage ist, bezogen auf
einzelne Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf, nicht zu-
treffend. Aber bezogen auf Ihre eigenen Maßstäbe ist
diese Aussage richtig. Denn das, was Sie uns Bürgern
über viele Jahre hinweg versprochen haben, nämlich die
Steuern einfach, niedrig und gerecht zu gestalten – zwei
Jahre Ihrer Regierungszeit sind bereits um –, wird auch
mit diesem Gesetzentwurf erneut verfehlt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist die Aussage, der Gesetzentwurf sei lächer-
lich, gemessen an Ihren eigenen Maßstäben richtig. Ihr
Gesetz muss sich ja an Ihren Maßstäben messen lassen.

Hinweise auf E-Mail usw. finde ich im Jahr 2011
nicht besonders gelungen. Es gibt das EHUG, BilMoG
und ELENA; darüber müssen wir übrigens noch einmal
reden. Über ELENA werden die Unternehmen verpflich-
tet, einen Datenfriedhof anzulegen, der überhaupt nicht
genutzt wird. Die Unternehmen werden ohne jeglichen
Sinn über ein Jahr lang belastet.

Man muss sagen, dass der Gesetzentwurf insgesamt
positive Elemente enthält. Aber er erreicht trotz eines
großen Aufwands und hoher Kosten von fast 600 Millio-
nen Euro nur einen kleinen Effekt. Vielleicht sollte man
noch erwähnen – das macht viele gute Elemente aus –,
dass der Gesetzentwurf auf einvernehmlich vorgebrachte
Vorschläge der Länder zurückgreift. Insgesamt positiv
finde ich allerdings, dass man sagt: In den Ländern gibt
es gute Initiativen, die wir übernehmen.

Jetzt zu einigen konkreten Punkten. Es klingt nicht
schlecht, zu sagen: Die Einkommensüberprüfung bei
volljährigen Kindern, die sich in der Schul- oder Berufs-
ausbildung befinden, soll wegfallen. – Besonders gut ge-
fällt mir, dass der Fallbeileffekt – auch Sie haben ihn er-
wähnt – beseitigt werden soll. Die Regelung, dass
jemand, der 1 Euro zu viel verdient, den Anspruch auf
Kindergeld verliert, war sehr schlecht. Man muss aller-
dings beachten, dass auch Ihre Regelung im Hinblick auf
den Bezug von Kindergeld zu Schieflagen führt. Denn
die Missbrauchsregelung für die Zeit nach der Erstausbil-
dung bevorzugt jene, die Einkünfte aus Kapitalvermögen
erzielen, und benachteiligt jene, die einer Erwerbstätig-
keit im Umfang von größer/gleich 20 Stunden nachge-
hen. Diese Asymmetrie halten wir für problematisch. Wir
wollen nicht ausgerechnet diejenigen belohnen, die Ein-
künfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpach-
tung erzielen, sondern eher diejenigen, die selbst arbeiten
gehen. Diese Regelung macht diesen Gesetzentwurf,
glaube ich, sehr schlecht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was uns ohne Einschränkung gefällt, ist die Verbesse-
rung bei der Entfernungspauschale. Bisher musste man
auf sehr komplizierte Weise nachweisen, welche Strecke
man mit dem öffentlichen Personennahverkehr und wel-
che Strecke man mit dem privaten Pkw zurückgelegt hat,
und man musste umfangreiche Aufzeichnungen führen.
Dass dies wegfällt, ist sicherlich eine sehr gute Sache.

Die Ausführungen, die Sie in Ihrer Rede zum Thema
Kinderbetreuungskosten gemacht haben, habe ich nicht
richtig verstanden. Bisher konnte man durch Berufstätig-
keit veranlasste Kosten als Werbungskosten absetzen,
private und andere Ausgaben waren Sonderausgaben.
Ich habe Sie so verstanden, dass künftig all diese Ausga-
ben zu Sonderausgaben werden sollen. Das würde be-
deuten, dass diese Kosten nicht mehr abzugsfähig wären.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Nein! Falsch! Sonderausgaben sind abzugsfähig! Ich erkläre Ihnen das gerne noch mal!)


Sie haben aber gerade ausgeführt, diese Kosten seien in
Zukunft genauso abzugsfähig wie bisher. Ich glaube, wir
müssen noch genauer darüber diskutieren, wie das ge-
dacht ist.

Nicht eingegangen sind Sie auf den Antrag, den die
SPD eingebracht hat. In diesem Antrag, der auf einem
großen Konsens in den Ländern basiert, fordern wir, die
Pauschbeträge für behinderte Menschen, die seit 1975
festgeschrieben sind, anzuheben. Hier haben in der Ver-
gangenheit viele Leute nichts getan, weil dies in der
scharfen Form wie heute auch nicht nötig war.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Auch die SPD in den letzten zehn Jahren! – Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wirklich ganz originell, Herr Volk! – Gegenruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]: Es ist ja nicht neu, dass die SPD nichts gemacht hat! – Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was für ein Scharfsinn!)


– Sie haben recht; das ist völlig klar. Vielen Dank für Ih-
ren einmaligen Einwand. – Inzwischen bilden die
Pauschbeträge für behinderte Menschen, auch aufgrund
der Inflationsrate, die tatsächlichen Aufwendungen nicht
mehr angemessen ab. Wir wollten unseren Fehler, hier
zehn Jahre nichts getan zu haben, jetzt korrigieren.


(Florian Toncar [FDP]: Jetzt? Als Opposition?)


Aber die Regierung verhindert unseren ernsthaften Ver-
such, dies zu korrigieren. Das halten wir für eine traurige
Entwicklung im Umgang mit guten Vorschlägen der Op-
position.

Jetzt komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der be-
sonders gut klingt, bei dem man aber besonders merk-
würdig vorgegangen ist – auf dem Bundessteuerberater-
kongress, an dem 1 300 Steuerberater teilgenommen





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

haben, hat man allenthalben gehört, dass man die ge-
plante Regelung in ihrer jetzigen Form überhaupt nicht
versteht –: Es geht um die zweijährige Steuererklärung.
Wer „zweijährige Steuererklärung“ hört, denkt zunächst
einmal, damit ist gemeint, dass man für zwei Jahre eine
Steuererklärung abgibt. Aber so ist das nicht gedacht.
Gemeint ist nur die Möglichkeit der gleichzeitigen Ab-
gabe von zwei einzeljährigen Steuererklärungen zum
gleichen Zeitpunkt. Das ist natürlich keine besonders
gute Sache. Denn die Bürger haben nur die Möglichkeit,
auf diese Erstattung entweder zwei Jahre zu warten oder
aber Geld und Liquidität zu verlieren. Das ist, wie ge-
sagt, keine gute Sache.


(Florian Toncar [FDP]: Das kann der Bürger doch selber entscheiden!)


Es kommt aber noch schlimmer. Auf dem Steuerbera-
terkongress hieß es zu diesem Thema: Es gibt mehr of-
fene Fragen als positive Antworten. – Sie hatten gerade
die einmalige Chance, uns das zu erklären.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das macht Herr Volk gleich!)


Da das etwas ganz Neues ist, hätten Sie die Chance ge-
habt, eine Formulierung zu finden, die für jeden Bürger
verständlich, einfach und transparent ist. Ich zitiere den
neuen § 25 a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes:

Werden die Einkommensteuererklärungen unter
den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 und 2
oder des Absatzes 2 für zwei aufeinander folgende
Veranlagungszeiträume zusammen abgegeben, be-
ginnt der Zinslauf für Zinsen nach § 233 a der Ab-
gabenordnung für den ersten Veranlagungszeitraum
des Zweijahreszeitraums erst 15 Monate nach Ab-
lauf des zweiten Veranlagungszeitraums.

Jetzt werden Sie sagen: So etwas muss in jedem Gesetz
stehen. Da der Abs. 1 nicht vorgetragen wurde, konnte
man das gar nicht verstehen.

Sie hatten aber auch die Chance, den Abs. 1 ganz neu
und für jeden Bürger – hier sitzen ja viele Bürger – trans-
parent und verständlich zu formulieren. Ich möchte Ih-
nen § 25 a Abs. 1 Ihres Gesetzentwurfes vortragen:

Die steuerpflichtige Person kann die Einkommen-
steuererklärungen für zwei aufeinander folgende
Veranlagungszeiträume (Zweijahreszeitraum) auf
Antrag abweichend von § 25 Absatz 3 innerhalb
von fünf Monaten nach Ablauf des zweiten Veran-
lagungszeitraums zusammen abgeben,


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Vorlesen machen Sie gerne! Das können Sie schon!)


wenn sie in beiden Veranlagungszeiträumen vo-
raussichtlich

– damit wird schon angedeutet, was da passiert –

ausschließlich Einkünfte im Sinne des § 2 Absatz 1
Nummer 4 bis 7 erzielt. Die Summe der nicht ei-
nem inländischen Steuerabzug unterliegenden jähr-
lichen Einnahmen nach den §§ 20, 21 und 22
Nummer 1 Satz 1 und 2 und Nummer 2 und 3 darf
13 000 Euro nicht übersteigen. Erzielt die steuer-
pflichtige Person im Verlauf des ersten Veranla-
gungszeitraums des Zweijahreszeitraums andere als
die in Satz 1 genannten Einkünfte oder übersteigt die
Summe der Einnahmen nach Satz 2 13 000 Euro, ist
eine gleichzeitige Abgabe von Steuererklärungen
im Zweijahreszeitraum nicht möglich.

Ich denke, die Bürger gehen jetzt nach Hause und kön-
nen ihre zweijährige Steuerklärung abgeben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insofern wird deutlich, warum wir sagen: Mit dieser
Schimäre, mit dieser Begriffsbildung kann man dem
Bürger doch keine aus sich selbst generierte, einfache,
verständliche, transparente Steuergesetzgebung vorgau-
keln. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ach, deshalb?)


– Ja, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil diese
Art der Irrtumsverbreitung in der Bevölkerung keinen
guten Eindruck macht.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Arbeitnehmer werden sich freuen!)


Es gibt auch Steuersenkungen. Schauen wir einmal
nach, wo es Steuersenkungen gibt: Der Arbeitnehmer-
pauschbetrag wird von 920 Euro auf 1 000 Euro angeho-
ben. Gut, „1 000 Euro“ klingt einfacher als „920 Euro“;
das stimmt. In Wahrheit spart dadurch jeder Arbeitneh-
mer 3 Euro, aber nicht pro Tag – nicht, dass das jemand
falsch versteht. Das ist in Richtung Steuersenkung ja
doch ein erster Schritt.


(Heiterkeit bei der SPD und der LINKEN)


Insofern ist es richtig: Die CDU/CSU-FDP-Koalition tut
viel. Wenn Sie weiterhin in 3-Euro-Schritten vorgeht,
dann gibt es noch viel zu tun.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich zitiere hierzu die Bundessteuerberaterkammer, die
sagt: Das ist nicht effektiv. Außerdem betrifft das nur
Bürger, die Werbungskosten zwischen 920 Euro und
1 000 Euro haben.

Eine Sache ärgert uns besonders: Begünstigt werden
diejenigen, die keine berufsbedingten Aufwendungen
haben. Alle anderen müssen im Veranlagungszeitraum
nämlich ohnehin die Belege sammeln; denn es bleibt so
komplex wie bisher: Am Ende des Veranlagungszeit-
raums muss man schauen, ob man die Pauschale in An-
spruch nehmen kann oder ob man die Werbungskosten
einzeln abrechnen muss, sodass der Gesetzentwurf im
Ergebnis viel weniger hält, als er verspricht. Wir wollen
uns an diesem Fehlversprechen nicht beteiligen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Lothar Binding NEN] – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Peinliches Argument, Herr Kollege!)





(A) (C)


(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711412600

Das Wort hat nun Daniel Volk für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1711412700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lieber Kollege Binding, Ihre elfminütigen Ausfüh-
rungen


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Warum fassen Sie sich denn dabei ans linke Ohr?)


haben gezeigt, dass Sie krampfhaft danach gesucht ha-
ben,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Erfolgreich!)


irgendwie einen Grund zu finden,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Nicht irgendwie! Das waren Tausende!)


diesen Gesetzentwurf abzulehnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe Ihnen erklärt, warum!)


Der Höhepunkt wurde erreicht, als Sie hier einen Ge-
setzestext vorgelesen haben, ohne inhaltlich etwas dazu
zu sagen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Der Text ist doch selbsterklärend! Was soll ich denn da sagen? Das hat ja jeder verstanden!)


Sie haben leider Gottes auch verschwiegen, dass wir hier
ein Angebot an die Steuerpflichtigen machen. Niemand
wird gezwungen,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ist das liberal! – Heiterkeit bei der SPD)


von diesem Angebot Gebrauch zu machen, sondern je-
der einzelne Steuerpflichtige kann sich überlegen, ob er
einmal alle zwei Jahre seine Steuererklärung abgeben
will.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist komplizierter wegen der Fristen! – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Steuererklärungen!)


Ich möchte ganz kurz aus der Anhörung zitieren; denn
wir haben uns im Gegensatz zu Ihnen von den Sachver-
ständigen beraten lassen. Sie haben nämlich gesagt – zu-
mindest Professor Loritz und Dr. Hechtner –, dass es zu-
mindest ein richtiger Schritt ist, dies auszuprobieren, den
Steuerpflichtigen also dieses Angebot zu machen.

Sie haben von der Stimmung auf dem Deutschen
Steuerberaterkongress gesprochen. Ich sage eines ganz
deutlich: Das Angebot, die Steuererklärung alle zwei
Jahre abzugeben, richtet sich an jene Steuerpflichtigen,
die ihre Steuererklärung selber abgeben,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Deshalb ist der Text auch so einfach!)


und nicht an die Steuerberater, weil die Steuerberater
weiterhin dabei bleiben, die Steuererklärung für ihre
Klienten jährlich abzugeben. Das ist auch in Ordnung;
denn es ist ein Angebot. Ich gehe davon aus, dass die
Finanzämter die Steuerpflichtigen entsprechend beraten
werden, ob sie ihre Steuererklärung alle zwei Jahre ab-
geben können.

Ich möchte auf das eingehen, was Sie zum Thema Ar-
beitnehmerpauschbetrag gesagt haben. Die Diskussion
zeigt, dass Sie den Begriff Steuervereinfachung schlicht-
weg nicht verinnerlicht haben.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht kennen!)


Vielmehr sprechen Sie im Rahmen der Anhebung des
Arbeitnehmerpauschbetrages von Steuersenkungen. Für
uns ist das eine Maßnahme der Steuervereinfachung.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So war das auch zu lesen! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe das doch gelobt!)


Jeder Pauschbetrag muss immer wieder, schon allein in-
flationsbedingt, angepasst werden. Es ist für uns ein Bei-
trag zur Steuervereinfachung, dass der Arbeitnehmer ei-
nen höheren Pauschbetrag in Anspruch nehmen kann.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau 3 Euro!)


Einer Mär möchte ich deutlich widersprechen. Es
wird immer wieder behauptet, es seien in dieser Legisla-
turperiode auf Betreiben der FDP- und der Unionsfrak-
tion keine Steuerentlastungen vorgenommen worden.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Zum 1. Januar 2010 haben wir Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und Familien in einer Größenordnung von
24 Milliarden Euro entlastet.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das war eine deutliche Entlastung. Jetzt geht es um
Steuervereinfachung.

Ich darf im Übrigen darauf hinweisen, dass der Ar-
beitnehmerpauschbetrag unter der Ägide eines SPD-
Finanzministers gekürzt wurde. Ich bin mir nicht ganz
sicher, ob auf den Oppositionsbänken tatsächlich die Ar-
beitnehmerpartei sitzt. Ich habe daran große Zweifel;
denn wir machen Steuerpolitik für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie haben sie damals mit 3 Euro belastet! Jetzt entlasten Sie sie um 3 Euro! Das ist schon gewaltig!)


Weitere Punkte des vorliegenden Entwurfs eines
Steuervereinfachungsgesetzes führen in vielen anderen





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

Bereichen zu einem deutlichen Bürokratieabbau. Allein
durch die elektronische Rechnungsstellung rechnen wir
bei den Bürokratiekosten mit einem Entlastungsbetrag in
einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro. Das ist
keine Entlastung, die zulasten der Staatskasse geht, son-
dern es handelt sich um den Abbau übertriebener Büro-
kratie, die Sie als SPD-Finanzminister zehn Jahre lang in
finanzpolitischer Verantwortung schlichtweg haben be-
stehen lassen. Sie hatten zehn Jahre lang nicht die Kraft,
Sie hatten nicht die Vision und den Willen, das Steuer-
recht zu vereinfachen. Im Zweifel haben Sie das Steuer-
recht verkompliziert. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dann machen Sie es doch!)


Zu den Bereichen, die wir unterhalb der gesetzlichen
Regelung angehen. Ich spreche von einer stärkeren
Kommunikation in elektronischer Form zwischen
Steuerpflichtigen und Finanzamt. Ich spreche von dem
Projekt der vorausgefüllten Steuererklärung. Ich spreche
von dem Projekt der zeitnahen Betriebsprüfung. Dies
sind alles Punkte, die den Steuerpflichtigen, der seiner
Steuererklärungspflicht nachkommt, von Bürokratie ent-
lasten. Das macht die Steuererklärungspflicht einfacher.
Ich bin der Überzeugung: Wenn der Steuerpflichtige in
Deutschland schon Steuern zahlen muss, dann soll er es
wenigstens einfach haben; er soll Freude daran haben,
seine Steuererklärung auszufüllen. Dafür sorgen wir mit
dem vorliegenden Steuervereinfachungsgesetz.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Erlauben Sie mir abschließend, darauf hinzuweisen,
dass der vorliegende Gesetzentwurf nicht umsonst den Ti-
tel „Entwurf eines Steuervereinfachungsgesetzes 2011“
trägt. Er trägt diesen Titel deswegen,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Er kommt jährlich!)


weil dies das erste in einer Reihe weiterer Steuerverein-
fachungsgesetze sein wird.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ist das eine Drohung?)


Wir werden auch ein Steuervereinfachungsgesetz 2012
auf den Weg bringen, in dem wir weitere Vereinfachun-
gen im Steuerrecht gesetzlich formulieren werden, und
zwar Vereinfachungen, die die Steuerpflichtigen von Bü-
rokratie entlasten, ohne dass es in großem Umfang zu-
lasten der Staatskasse geht.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommt denn dann die Istbesteuerung?)


Ich lade Sie ganz herzlich ein, an der weiteren konti-
nuierlichen Arbeit an der Steuervereinfachung teilzuneh-
men. Ich lade Sie, den Bundesrat und die Opposition,
übrigens auch ein, dieses Steuervereinfachungsgesetz
2011 so schnell wie möglich in Kraft zu setzen, weil es
wirklich höchste Zeit wird, den Steuerpflichtigen klarzu-
machen: Wir kümmern uns tatsächlich um die mittler-
weile zu komplizierte Steuergesetzgebung. Wir wollen
es für die Steuerpflichtigen einfacher machen. Das ist
Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Ich lade Sie
herzlich ein, hieran mitzuwirken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711412800

Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Jetzt wollen wir gucken, ob sie der Einladung folgt!)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711412900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Kollegin Tillmann und Herr Flosbach von der
CDU haben den Entwurf eines Steuervereinfachungsge-
setzes unmittelbar nach der Anhörung gelobt und gesagt:

Die heutige Sachverständigenanhörung hat in ein-
helliger Weise die mit dem Steuervereinfachungs-
gesetz 2011 vorgesehenen Maßnahmen begrüßt.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist ja auch richtig!)


Dem Protokoll der Anhörung entnehme ich etwas ande-
res.


(Beifall der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Alle haben gesagt, das Ziel des Gesetzentwurfs sei un-
eingeschränkt positiv. Aber das besagt bei weitem nicht,
dass Ihre Maßnahmen dafür geeignet sind. Da kann ich
nur sagen, Herr Volk: Sie haben schlicht und ergreifend
Ihr Ziel verfehlt.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie waren wahrscheinlich nicht bei der Anhörung!)


Der Vertreter der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
Dieter Ondracek, – ich zitiere noch einmal – meinte in
der Anhörung:

Was kommt raus: keine Erleichterung, eher das Ge-
genteil.

Praktiker hauen Ihnen den Gesetzentwurf um die Ohren.
Von einer einhelligen Begrüßung ist dieser Gesetzent-
wurf meilenweit entfernt. Vielleicht haben Sie davon ge-
träumt, das hat aber mit der Realität nichts zu tun.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Fakt ist: Die Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf
werden im Großen und Ganzen zu keiner, in wenigen
Bereichen zu einer geringen Vereinfachung, in manchen
Bereichen sogar zu einer Verkomplizierung führen. Eini-
ges hat mein Kollege Binding schon ausgeführt; ich er-
gänze noch einige andere Punkte.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Ich begrüße ausdrücklich, dass Sie der Forderung der
Linken nachgekommen sind und auf die von Ihnen ge-
plante Anhebung der Bagatellgrenzen für Vermögens-
verwahrer und -verwalter bei der Erbschaftsteuer ver-
zichtet haben. Das begrüßen wir uneingeschränkt.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das war eine gute Entscheidung von uns!)


Ebenfalls begrüße ich die Anhebung des Arbeitneh-
merpauschbetrages um 80 Euro auf 1 000 Euro. Es
wurde aber schon gesagt: Im Jahr 2003 lag der Betrag
bei 1 044 Euro. Wenn es Ihnen bei der Anhebung um
eine Inflationsanpassung gegangen wäre, hätten Sie von-
seiten der CDU schon Jahre Zeit gehabt, hier tätig zu
werden.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wer hat denn 2003 regiert? – Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir hatten ein Jahr Zeit, Frau Kollegin!)


Sie sind weit von dem Stand entfernt, den wir vor acht
Jahren hatten.

Allein diese Maßnahme macht mit 330 Millionen
Euro etwa die Hälfte des konkreten Entlastungsbetrages
aus. Wer ungefähr 30 000 Euro brutto im Jahr verdient,
wird monatlich um 2 bis 3 Euro entlastet. Auf diese Pea-
nuts sind Sie auch noch stolz. Dabei ziehen Sie den
Menschen mit den gestiegenen Krankenversicherungs-
beiträgen ein Vielfaches aus der Tasche. Das ist die Rea-
lität.


(Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist die Sauerei!)


Zudem muss man sagen: Diese Vereinfachung kommt
gerade einmal 1,6 Prozent der Steuerpflichtigen zugute.
Damit kann man sich einfach nicht schmücken.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Vereinfachung, nicht Senkung!)


Als zweite große Vereinfachung verkaufen Sie die
zweijährige Steuererklärung. Das heftet sich die FDP
groß an die Brust. An dieser Stelle möchte ich dem lang-
jährigen Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerk-
schaft, Dieter Ondracek, zum einen für sein Wirken dan-
ken. Zum anderen möchte ich aus seiner gestrigen
Abschiedsrede zitieren: Gott verschone uns vor der
Zweijahreserklärung. – Recht hat der Mann, sage ich.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es handelt sich lediglich um eine Fristverlängerung.
Sollten Sie hier diesen Gesetzentwurf beschließen, so
hoffe ich – hier zitiere ich noch einmal Dieter Ondracek –:
Mit Gottes Hilfe wird niemand die Zweijahreserklärung
in Anspruch nehmen.

Sie wissen so gut wie ich, dass die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, die eine Steuererklärung abge-
ben, meistens zu Recht auf eine Erstattung hoffen. Nen-
nen Sie mir nur einen Grund, warum sie darauf noch ein
weiteres Jahr warten sollten. Dies sieht im Übrigen auch
die Bundessteuerberaterkammer so – ich zitiere –:

Da wird es … mehr Probleme geben, als es Verein-
fachungen geben wird …

Das hat auch der Kollege Binding schön belegt.

Das heißt, sowohl die Deutsche Steuer-Gewerkschaft
als auch die Bundessteuerberaterkammer wie auch zahl-
reiche Fachleute lehnen die zweijährige Steuererklärung
ab, und Sie stehen hier immer noch völlig ungerührt und
sagen: Es ist prächtig, was wir hier als Angebot unter-
breiten. – Das ist Ihnen wirklich prächtigst gelungen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Fragen Sie doch einmal die Steuerpflichtigen, was sie dazu sagen!)


Prächtigst gelungen ist Ihnen auch die Vereinfachung
der Veranlagungsarten für Eheleute. Erst streichen Sie
drei Veranlagungsarten, um dann festzustellen, dass das
verwaltungstechnisch nicht geht, und anschließend füh-
ren Sie mit Ihrem Änderungsantrag drei neue Tatbe-
stände ein. Prima Vereinfachung! Das ist doch Etiketten-
schwindel.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Das ist jetzt schlicht dummes Zeug!)


Schauen wir uns noch einmal an, wie es – von wegen
Senkung oder nicht – konkret abgelaufen ist. Sie haben
überlegt, ob Sie bei den Behindertenpauschbeträgen et-
was machen. Durch die Anhebung des Mindestbehinde-
rungsgrades wollten Sie eine Verschärfung einführen.
Gleichzeitig wollten Sie eine Erhöhung der Pauschbe-
träge vornehmen. Dies haben Sie wieder zurückgezogen

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1711413000
Wir hatten uns
zwischen einer Anhebung des Arbeitnehmerpauschbe-
trages und einer Anhebung des Behindertenpauschbetra-
ges zu entscheiden. – Das darf doch wohl nicht wahr
sein. Wenn es eine Vereinfachung geben soll, kann man
doch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei den Kinderbetreuungskosten müssen wir erst ein-
mal prüfen, was die von Ihnen gewählte Rechtskonstruk-
tion tatsächlich bedeutet und ob sie überhaupt so mög-
lich ist.

Ich frage Sie: Warum vereinfachen Sie nicht, indem
Sie die Abgeltungsteuer abschaffen, anstatt sie zuneh-
mend weiter zu verkomplizieren? Warum nehmen Sie
keine Vereinfachung vor, indem Sie das Ehegattensplit-
ting abschaffen? Wie den Zeitungen zu entnehmen ist,
wird das selbst aus Brüssel vorgeschlagen bzw. direkt
gefordert. Warum gestalten Sie nicht den Einkommen-
steuertarif gerecht, indem Sie den sogenannten Mittel-
standsbauch abschaffen und eine linear-progressive Be-
steuerung wählen?


(Beifall bei der LINKEN)


Da herrscht bei Ihnen Schweigen im Walde. Dabei
bräuchten Sie nur unsere Vorschläge aufzugreifen. Wir
brauchen dazu gar keine Einladung von Ihnen. Die Vor-





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

schläge liegen auf dem Tisch. Greifen Sie zu! Verwirkli-
chen Sie sie, und wir haben eine tatsächliche Steuerver-
einfachung!

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711413100

Das Wort hat nun Lisa Paus für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711413200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden

hier über das Steuervereinfachungsgesetz.


(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Als es im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht
wurde, hat Christian Lindner am 11. Dezember 2010 er-
klärt – das habe ich noch im Ohr –, dieses Steuerverein-
fachungsgesetz werde ein Meilenstein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So schauen die Meilensteine der FDP aus!)


Heute, bei der zweiten und dritten Lesung dieses Gesetz-
entwurfs, müssen wir allesamt feststellen: Das ist mehr
eine Mischung aus


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Stolperstein!)


– gut – Stolperstein und Placebo.

Die Zweijahressteuererklärung zum Beispiel ist ein
Placebo; denn sie ist nun einmal nichts anderes als eine
Fristverlängerung. Wir alle wissen, dass diejenigen, von
denen Sie sagen, sie sollten die Möglichkeit bekommen,
diese längere Frist in Anspruch zu nehmen, wahrschein-
lich eher diejenigen sind, die ein bisschen laxer damit
umgehen und Probleme haben, Fristen einzuhalten. Ge-
nau denjenigen werden Sie am Ende aber damit, dass sie
nicht mehr zum Steuerberater gehen können, ein zusätz-
liches Problem aufbürden. Dann haben sie das nämlich
verschlampt, stellen fest, dass sie das jetzt ganz schnell
machen müssen, das aber gar nicht mehr können, und
können sich schließlich noch nicht einmal vom Steuer-
berater helfen lassen.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Wir helfen jedem, der Hilfe braucht! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Es kann doch jeder zum Steuerberater gehen!)


Die sogenannte Zweijahressteuererklärung ist tat-
sächlich ein wichtiger Punkt Ihres sogenannten Steuer-
vereinfachungsgesetzes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ansonsten enthält Ihr Entwurf eines Steuervereinfa-
chungsgesetzes lächerliche Regelungen. Die Erhöhung
des Pauschbetrages um 80 Euro ist hier schon genug
durch den Kakao gezogen worden. Das brauche ich jetzt
nicht noch intensiver zu begründen. Die Ungerechtigkeit
gegenüber den Behinderten ist ebenfalls dokumentiert
worden. Dieser Kritik schließen wir uns uneingeschränkt
an.

Andere Punkte kritisieren wir gar nicht; diese Maß-
nahmen sind allerdings längst überfällig. Sie hätten au-
ßerdem durchaus in ein anderes Gesetz gepasst. Dafür
hätte das Jahressteuergesetz ausgereicht. Dass Rechnun-
gen jetzt auch elektronisch archiviert werden können
und nicht mehr in Papierform aufbewahrt werden müs-
sen, ist zwar okay, hätte aber nicht unbedingt des Steuer-
vereinfachungsgesetzes bedurft.

Mit 97 Vorschlägen haben Sie angefangen. Das Er-
gebnis ist schlicht halbherzig. Sie haben auch schon das
nächste Gesetz angekündigt; ansonsten wäre das auch
noch peinlicher gewesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Ich möchte mich auf zwei negative Beispiele be-
schränken, die noch nicht so im Fokus gestanden haben.

Beim Ehegattensplitting wollen Sie eine Reduzierung
der Veranlagungsmöglichkeiten von sieben auf vier vor-
nehmen. Eine echte Steuervereinfachung wäre es gewe-
sen, wenn Sie das Ehegattensplitting ganz abgeschafft
hätten und das System auf eine Individualbesteuerung
plus übertragbaren Grundfreibetrag umgestellt hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD] und Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Eine solche Änderung ist im Übrigen überfällig; denn
das Ehegattensplitting fördert weder Kinder noch die
Ehe, sondern wirkt sich schlichtweg positiv aus bei be-
sonders großen Einkommensunterschieden zwischen
Eheleuten.

Dabei geht es um eine relevante Geldsumme, nämlich
um 18,9 Milliarden Euro. Wenn man den Grundfreibe-
trag einführte, stünde zwar nicht die komplette Summe
zur Verfügung, aber grundsätzlich wäre es eine gute
Möglichkeit, sinnvolle Maßnahmen zugunsten der Fami-
lienförderung durchzuführen. Auch das lehnen Sie ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei wurde Ihnen das noch einmal ins Stammbuch
geschrieben. Zum Beispiel werden Sie im Gutachten Ih-
rer Sachverständigenkommission zum ersten Gleichstel-
lungsbericht der Bundesregierung im Januar 2011 aufge-
fordert, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Das ist eine
wichtige Maßnahme zur Gleichstellung in Deutschland.
Auch von außen gibt es Kritik. Die EU-Kommission bei-
spielsweise hat vor zwei Tagen betont, dass das Ehegat-
tensplitting in Deutschland ein wirtschaftspolitisches
Hemmnis und ein wettbewerbspolitisches Problem ist.
Machen Sie also endlich das, was zwar schon allgemein
bekannt ist, was Ihnen aber jetzt auch noch einmal offi-
ziell von EU-Seite und von Ihren eigenen Sachverständi-
gen ins Stammbuch geschrieben wird!





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ein anderes Beispiel ist die Steuergestaltung. Der
Steuerexperte der OECD beispielsweise sagt dazu, Steu-
ergestaltung sei selbstverständlich legitim, zumal bei ei-
nem so komplizierten Steuerrecht wie in Deutschland,
aber das Versteckspiel koste alle Beteiligten unglaublich
viel Zeit und Geld.

Was ist Steuergestaltung? Unter Steuergestaltung ver-
steht man den Versuch, möglichst wenig Steuern zu zah-
len. Da das deutsche Steuerrecht kompliziert ist, können
sich das nur diejenigen leisten,


(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Die auch Steuern zahlen!)


die Steuern zahlen, aber vor allem auch Fachleute beauf-
tragen können, nach Steuerschlupflöchern im deutschen
Gesetz zu suchen, die die Gesetzgeber, also wir, in der
Form nicht erkannt haben. Große Heere von Beratern
werden dafür bezahlt, diese Steuerschlupflöcher zu fin-
den.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch ein Grund, das einfacher zu machen!)


Spätestens dann, wenn ein Steuerschlupfloch besonders
groß ist, befassen wir uns wieder im Bundestag damit.
Dann müssen wir dem als Deutscher Bundestag mit viel
Mühe hinterherregulieren.

Das muss nicht sein; das kann man anders machen.
Das wissen Sie auch. Wir haben das Thema nicht neu
aufgebracht. Dazu gibt es bereits eine lange Diskussion.
Wir als grüne Fraktion beispielsweise haben schon 2007
einen Antrag dazu eingebracht. Auch der Bundesrat hat
fertige Gesetzesformulierungen vorgelegt. Aber dieses
Haus beschäftigt sich nicht damit. Wir haben dazu einen
Änderungsantrag eingebracht, den Sie gestern abgelehnt
haben.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ihr Antrag ist kein Beitrag zur Steuervereinfachung!)


Darin schlagen wir eine Anzeigepflicht für Steuergestal-
tungsmodelle vor. Sie würde Vereinfachung und Steuer-
gerechtigkeit miteinander verbinden. In den USA, in
Großbritannien und Kanada beispielsweise gibt es das
schon. Sie wirkt wie ein Frühwarnsystem für Behörden
und Firmen, schafft Rechtssicherheit für Unternehmen
und vermeidet Steuerausfälle. Das wäre ein echter Ver-
einfachungseffekt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711413300

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711413400

Ich komme zum Schluss.

Fazit: Sie haben uns einen großen Wurf versprochen.
Angekommen ist stattdessen ein großer Papierberg.
Mehr Steuervereinfachung wäre möglich gewesen; sie
wäre auch tatsächlich nötig.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711413500

Frau Kollegin!


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711413600

Eine letzte Bemerkung: Wir wollen aber nicht mehr

Steuervereinfachung auf Kosten von Steuergerechtig-
keit. Man muss beides miteinander verbinden. Wir ha-
ben entsprechende Änderungsanträge eingebracht. De-
nen sind Sie nicht gefolgt. Deswegen können wir den
Gesetzentwurf nur ablehnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711413700

Das Wort hat nun Peter Aumer für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1711413800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kollegen! Frau Paus, Sie haben gerade selber
gesagt, das deutsche Steuerrecht sei kompliziert. Wir
leisten einen Beitrag dazu, es ein bisschen zu vereinfa-
chen und Bürokratie abzubauen. Ein Schritt wird heute
getan. Viele weitere Schritte müssen folgen. Das ist ein
Ziel, das sich die christlich-liberale Koalition gesetzt hat.
Es wäre schön, wenn Sie diese Arbeit unterstützen wür-
den.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch mit unseren Vorschlägen gemacht!)


Sehr viele konstruktive Vorschläge kamen in den Bera-
tungen aber nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Binding, es ist schön, dass Sie unser Motto „Ein-
fach und gerecht“ übernommen haben,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das nehme ich sehr ernst! Aber Sie nehmen das nicht ernst!)


das ein sehr wertvoller und wichtiger Beitrag zur Gestal-
tung des Steuerrechts in Deutschland ist.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ein gutes Ziel!)


Sie haben allerdings von einer grünen Wiese gespro-
chen, die es leider nicht gibt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Doch!)


Wir haben die Steuergesetzgebung im Einkommensteu-
errecht und in allen anderen steuerlichen Bereichen. Da-
raus müssen wir das Beste machen und die besten Leh-
ren ziehen. Deswegen ist es fast schon lächerlich, wenn
Sie Paragrafen zitieren; denn die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler werden das Einkommensteuergesetz sicher-
lich nicht in Gänze lesen.





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe auch nicht das Ganze vorgelesen! Ich habe nur den neuen Teil vorgelesen!)


– Das hätten Sie vielleicht machen können; aber wegen
der Kürze der Redezeit war das nicht möglich.

Die Reduzierung der Erklärungs-, Prüfungs- und Ver-
anlagungsaufwendungen ist das erklärte Ziel, das wir
mit dem Steuervereinfachungsgesetz erreichen wollen.
Ich glaube, es gelingt uns, das Steuerrecht zu vereinfa-
chen und Bürokratie abzubauen. Das ist die große Auf-
gabe, die wir uns gestellt haben. Ich glaube, wir leisten
einen Beitrag dazu, diese Aufgabe zu erfüllen.

Man muss auch schauen, welche finanziellen Auswir-
kungen das Ganze hat. Sie reden immer von 3 oder
4 Euro. Wir stehen vor der großen Herausforderung der
Einhaltung der Schuldenbremse, die ab 2016 gilt, und
der Konsolidierung der Haushalte. Davon haben Sie
nicht gesprochen. Unser Gesetz trägt zur Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem der Fa-
milien mit Kindern, bei. Es handelt sich um 590 Millio-
nen Euro, was eine schöne Summe ist. Der geringere Bü-
rokratieaufwand für Unternehmen schlägt sich in einer
Kostenersparnis von ungefähr 4 Milliarden Euro pro
Jahr nieder. Das ist etwas, was sich sehen lassen kann.
Das sollte man in einer solchen Debatte nicht verschwei-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt viele Maßnahmen, die sicherlich sinnvoll
sind. Ich nenne zum Beispiel die Anhebung des Arbeit-
nehmerpauschbetrages. Frau Kollegin Dr. Höll, 60 Pro-
zent aller steuerpflichtigen Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer ersparen sich durch die Anhebung des
Pauschbetrages einen bürokratischen Aufwand.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Durch die Änderung nicht!)


– Durch die Änderung nicht. – Durch die Änderung sind
in der Summe 550 000 Arbeitnehmer mehr betroffen,
insgesamt über 22 Millionen. Auch das ist etwas, was
sich sehen lassen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt viele weitere positive Punkte. Durch die ver-
besserte Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten
werden die Steuerzahler um 60 Millionen Euro entlastet,
200 Millionen Euro Entlastung ergeben sich aus dem
Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze bei der Bean-
tragung von Kindergeld und bei dem Kinderfreibetrag.
Von der Vereinfachung bei der Berechnung der Entfer-
nungspauschale profitieren hauptsächlich die Menschen
in den ländlichen Räumen. Auch für die Unternehmen
– das ist in der Debatte verschwiegen worden – sind
Erleichterungen im Gesetz vorgesehen, die sich auf
4 Milliarden Euro belaufen. Diese Einsparung für die
Unternehmen resultiert unter anderem aus Erleichterun-
gen bei der elektronischen Rechnungslegung. Man sollte
nicht immer nur die negativen Dinge sehen. Es ist auch
die Aufgabe der Opposition, das Positive herauszuarbei-
ten. Man sollte nicht nur Dinge miesmachen, sondern
auch schauen, an welcher Stelle man konstruktive Vor-
schläge machen kann. Ich habe bis auf kleine Ansätze
von Frau Paus in dieser Hinsicht nicht sehr viel gesehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es müssen weitere wichtige Maßnahmen auf den Weg
gebracht werden. Das Steuervereinfachungsgesetz ist ein
Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen eine bes-
sere Harmonisierung der steuerlichen und sozialrechtli-
chen Vorschriften, die bisher die Unternehmen stark be-
lasten. Dieser Aufgabe müssen wir uns gemeinsam in
diesem Haus stellen. Es gibt noch viele Dinge, die im
Bereich des Unternehmensteuerrechts zu tun sind.

Das Steuervereinfachungsgesetz ist kein Steuerentlas-
tungsgesetz. Ich glaube, meine Damen und Herren von
der Opposition, Sie haben da etwas falsch verstanden. Es
gehen sicherlich steuerliche Erleichterungen mit diesem
Gesetz einher, aber diese sind nicht das Ziel des Geset-
zes. Wir wollen Bürokratie abbauen und Steuererleichte-
rungen für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler errei-
chen. Es ist ein kleiner Schritt – das habe ich gesagt –,
aber es ist ein Schritt. Wir haben diesen Schritt getan.
Sie – Herr Binding, Sie haben es angesprochen – haben
lange Zeit einen Bundesfinanzminister gestellt; aber in
dieser Zeit sind keine positiven Effekte für die Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler erzielt worden. Das aber ist
in dieser Zeit wichtig.

Unser Ziel muss es sein, vor allen Dingen die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer und die Beschäftigten in
unserem Land am Aufschwung teilhaben zu lassen. Es
müssen in der Steuergesetzgebung Maßnahmen ergriffen
werden, um die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-
men zu entlasten. Das hat der finanzpolitische Sprecher
unserer Fraktion in die Diskussion eingebracht. Wir
müssen neue Regelungen bei der Steuerprogression auf
den Weg bringen; wir müssen aber auch schauen, welche
Spielräume wir haben. Die Schuldenbremse, die Haus-
haltskonsolidierung und die Nachhaltigkeit sind ange-
sprochen worden. Frau Kollegin Paus, wir haben uns
über dieses Thema im Rahmen der Debatte schon einmal
unterhalten.

Eines unserer Ziele bei der Weiterentwicklung der
Steuergesetzgebung muss sein, dass wir die Auswirkun-
gen auf die kommenden Generationen immer mit beach-
ten. Wir müssen die Nachhaltigkeitsprüfung als einen
wesentlichen Bestandteil der Gesetzgebung ansehen.
Wir müssen in diesem Hause verstärkt Wert darauf le-
gen, dass die arbeitenden Menschen in diesem Land un-
ter keiner zu hohen Steuerlast leiden. Vom Bund der
Steuerzahler stammt die Feststellung, dass aufgrund der
kalten Progression eine Lohnerhöhung um 1 Prozent
eine um 2 Prozent höhere steuerliche Belastung nach
sich zieht. Unsere Aufgabe ist es, hieran etwas zu än-
dern. Dabei müssen wir den Haushalt natürlich im Blick
haben; die Konsolidierung unserer Staatsfinanzen ist die
große Aufgabe.

Stimmen Sie unserem ersten Schritt in Richtung Steu-
ererleichterungen zu. Bisher sind wichtige Maßnahmen





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)

ergriffen worden. In Zukunft können Sie sie mittragen,
gerade im Hinblick auf die Familien mit Kindern, die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unter-
nehmen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Lassen Sie
uns weiter daran arbeiten, das deutsche Steuerrecht zu
vereinfachen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711413900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Steuerverein-
fachungsgesetzes 2011. Der Finanzausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 17/6105
und 17/6146, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/5125 und 17/5196 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge-
gen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthal-
tung der Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie
zuvor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6122. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
Stimmenthaltung von SPD und Linken abgelehnt.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis r auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Ägypten endgültig stoppen

– Drucksache 17/5935 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Libyen endgültig stoppen

– Drucksache 17/5936 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Syrien endgültig stoppen
– Drucksache 17/5937 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Tunesien endgültig stoppen
– Drucksache 17/5938 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Oman stoppen
– Drucksache 17/5939 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern in den Jemen stoppen
– Drucksache 17/5940 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern in die Vereinigten Arabischen
Emirate stoppen
– Drucksache 17/5941 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Saudi-Arabien stoppen

– Drucksache 17/5942 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Israel stoppen

– Drucksache 17/5943 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Marokko stoppen

– Drucksache 17/5944 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern in den Libanon stoppen

– Drucksache 17/5945 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Kuwait stoppen

– Drucksache 17/5946 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Jordanien stoppen

– Drucksache 17/5947 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Bahrain stoppen

– Drucksache 17/5948 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Katar stoppen

– Drucksache 17/5949 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gregor Gysi, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern nach Algerien stoppen

– Drucksache 17/5950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

q) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens
einstellen – Militärische Zusammenarbeit be-
enden – Atomwaffenfreie Zone befördern

– Drucksachen 17/2481, 17/4508 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt

r) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Mit Transparenz und parlamentarischer Be-
teiligung gegen die Ausweitung von Rüs-
tungsexporten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor
Gysi, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Alle Exporte von Kriegswaffen und sonsti-
gen Rüstungsgütern stoppen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul,
Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Genehmigung für Waffenexporte bei Unzu-
verlässigkeit konsequent aussetzen

– Drucksachen 17/5054, 17/5039, 17/5204,
17/5823 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jan
van Aken für die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711414000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine

Legende, dass deutsche Rüstungsexporte besonders
scharf kontrolliert werden. Im Gegenteil: Man kann
praktisch jede deutsche Waffe fast überall in die Welt lie-
fern. Nur ein Beispiel: Im Jahr 2009 hat die Regierung
Rüstungsexportgenehmigungen für 135 Länder welt-
weit erteilt, darunter für Kriegsgebiete, auch für Diktatu-
ren, etwa im Nahen Osten und in Nordafrika.

Ein besonders schwerer Fall ist Saudi-Arabien. Die
Bundesregierung selbst schreibt in ihrem Menschen-
rechtsbericht von schwersten Menschenrechtsverletzun-
gen, von Folterungen, von Todesstrafen. Sie beschreibt
in ihrem eigenen Menschenrechtsbericht, dass Frauen
dort Menschenrechte vorenthalten werden, Dissidenten
inhaftiert werden, Geständnisse erzwungen werden; au-
ßer der muslimischen dürfe keine andere Religion ausge-
übt werden. Trotzdem hat Deutschland in den letzten
zehn Jahren Rüstungsexporte im Wert von sage und
schreibe 675 Millionen Euro nach Saudi-Arabien geneh-
migt. Das muss doch irgendwann einmal ein Ende ha-
ben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein!)


Das sind übrigens Waffen, mit denen die Saudis nicht
nur ihr eigenes Volk unterdrücken; damit führen sie auch
praktisch Krieg. Wir haben Fotos, die zeigen, wie saudi-
sche Soldaten mit deutschen G-36-Sturmgewehren vor
zwei Jahren an der jemenitischen Grenze Krieg geführt
haben. Selbst solche Vorfälle halten die Bundesregierung
nicht davon ab, eine Waffenfabrik in Saudi-Arabien auf-
zubauen. Das muss man sich vorstellen: Dort wird eine
Fabrik zur Produktion des deutschen G-36-Sturmge-
wehrs aufgebaut. Diese Fabrik wird über Jahrzehnte
Waffen produzieren, und diese Waffen werden über Jahr-
zehnte eingesetzt werden. Noch in 100 Jahren werden
überall auf der Welt Menschen mit deutsch-saudischen
G-36-Gewehren erschossen werden, weil Sie jetzt eine
falsche Entscheidung getroffen haben. Die sollten Sie
sofort zurücknehmen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das haben Sie alles schon mal erzählt!)


Jetzt wird es ganz pikant – das hat uns die Bundesre-
gierung diese Woche schriftlich gegeben –: Der deutsche
Rüstungskonzern EADS wollte einen Milliardendeal mit
den Saudis machen. Die Saudis haben zur Bedingung
gemacht: Dann müssen aber saudische Grenzpolizisten
durch deutsche Polizisten ausgebildet werden. – Und Sie
tun das! Sie schicken über 70 deutsche Polizisten nach
Saudi-Arabien, damit EADS einen Rüstungsdeal ma-
chen kann.


(Zuruf von der FDP)


Die Reisekosten der deutschen Polizisten werden von
EADS bezahlt, ihr Gehalt vom deutschen Steuerzahler.
Sie finanzieren mit deutschen Steuergeldern einen riesi-
gen Rüstungsdeal von EADS, und zwar mit einem Land,
von dem Sie selber sagen, dass es große Menschen-
rechtsverletzungen begeht. Diesen Deal müssen Sie so-
fort aufkündigen!


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Auf keinen Fall!)


Saudi-Arabien ist aber nur ein Beispiel. Das Gleiche
gilt für viele andere Länder in dieser Region. Die Linke
hat jetzt 16 Anträge eingebracht, damit der Rüstungsex-
port in 16 Länder des Nahen und Mittleren Ostens und
Nordafrikas verboten wird. Wir wollen, dass über alle
16 Anträge namentlich abgestimmt wird; denn ich finde,
Sie sollten auch ganz persönlich eine Entscheidung tref-
fen, ob in Zukunft noch Waffen nach Saudi-Arabien oder
an andere Diktatoren geliefert werden oder nicht, und
dann die Verantwortung dafür übernehmen.





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich weiß, dass
wir darüber nicht so schnell einig werden. Aber Sie kön-
nen hier einen kleinen Anfang machen. Sie können nun
entscheiden, dass an einzelne Diktatoren keine Waffen
mehr geliefert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Da möchte ich die Damen und Herren der FDP direkt an-
sprechen. Es ist doch ein geradezu liberales Prinzip, die
individuelle Freiheit hochzuhalten. Wie können Sie ver-
antworten, dass diese Freiheit in Saudi-Arabien mit
deutschen Waffen niedergehalten wird? Meine Damen
und Herren von CDU und CSU, ich verstehe bis heute
nicht, wie Sie Waffenexporte mit Ihrem christlichen
Glauben vereinbaren können. Nur zur Erinnerung: In
Saudi-Arabien darf das Christentum nicht praktiziert
werden.

In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie sich jeden Antrag
genau anschauen und zumindest bei dem einen oder an-
deren Land sagen werden: In diese Diktatur, in diese
Kriegsregion darf keine deutsche Waffe mehr exportiert
werden. – Sie sollten nicht den gleichen Fehler wie bei
Ägypten, Libyen und Tunesien machen. Überall dorthin
haben Sie bis vor kurzem Waffen geliefert. Selbst Herr
Kauder hat öffentlich gesagt: Das war ein Fehler. – Ma-
chen Sie den Fehler nicht noch einmal! Stoppen Sie die
Waffenexporte in die infrage stehenden 16 Länder!

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711414100

Das Wort hat nun Erich G. Fritz für die CDU/CSU-

Fraktion.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1711414200

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber

Herr van Aken, bevor ich sage, was zu sagen ist: Ihre
pauschale Darstellung der Polizeiausbildung ist zu
schlicht. Der Zusammenhang – das kann ich jetzt nicht
nachprüfen – mag diskussionswürdig sein. Aber wir ha-
ben nun einmal überall auf der Welt die Erfahrung ge-
macht: Dort, wo wir Polizisten und Führungskräfte aus-
bilden, gibt es anschließend eine größere demokratische
Substanz, gibt es in Krisensituationen Menschen, die an-
dere Qualitäten aufweisen als den puren Gehorsam ge-
genüber Diktaturen. Deshalb ist es zumindest gefährlich,
auf diese Art und Weise zu argumentieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, bei diesem Thema lassen
sich nach Max Weber interessengeleitete Positionen auf
der einen und wertgebundene Positionen auf der anderen
Seite wunderbar gegeneinander in Stellung bringen. Das
hilft aber nicht wirklich weiter. Wenn der an Werte Ge-
bundene nur an seine Werte denkt, ist er politisch hand-
lungsunfähig. Wer nur interessengeleitet ist, bewegt sich
am Rand der moralischen Unfähigkeit. Es geht also da-
rum, die beiden Prinzipien vernünftig und möglichst ver-
antwortungsvoll miteinander zu verbinden.
In Ihren 16 Anträgen zum Verbot von Exporten von
Kriegswaffen und Rüstungsgütern unterscheiden Sie
überhaupt nicht. Sie verstehen auch gesicherte Autos für
Botschaften als Waffen. Das ist zumindest oberflächlich
und zeigt, dass Sie mit diesen Anträgen bestimmte Inten-
tionen verfolgen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Klientelpflege, sonst gar nichts!)


Alle Ihre Anträge sind fast inhaltsgleich. In den Aus-
schussberatungen haben Sie einen Antrag für die ge-
samte Region gestellt. Das war durchaus sinnvoll. Jetzt
zeigen Sie, dass Sie etwas ganz anderes im Sinn haben,
als wirklich darüber zu diskutieren. Ihnen geht es näm-
lich in Wirklichkeit um einen propagandistischen Erfolg.

Sie hatten auch eine Reihe von Anfragen gestellt, mit
deren Hilfe Sie belegen wollten, dass die Rüstungsex-
portpolitik der Bundesregierungen der letzten zehn Jahre
das Schlimmste darstelle, was man sich überhaupt vor-
stellen könne. Das ist Ihnen ja nicht gelungen; das lässt
sich weder den Summen noch den Zielländerlisten ent-
nehmen. Weil Ihnen das nicht gelungen ist, haben Sie
nun erneut eine ganze Reihe von Anträgen gestellt, die
wir heute zu beraten haben. Sie verschweigen dabei
aber, dass etwa gegen Libyen und Syrien jeweils ein
Waffenembargo besteht; daran halten wir uns natürlich.
So gibt es eigentlich gar keinen Grund, entsprechende
Anträge vorzulegen. Sie wollen vergessen machen, dass
die Bundesregierung selbstverständlich das Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, unverzüg-
lich angewiesen hat, ihr alle Anträge, die diese Region
betreffen, vorzulegen. Diese werden damit separat be-
handelt und gehen nicht den routinemäßigen Weg.

In einer der Anfragen, die Sie gestellt hatten,
schildern Sie – das hat mich besonders beeindruckt – das
ägyptische System. Sie tun so, als ob Sie schon seit
20 Jahren zu den intensivsten Kritikern dieser Diktatur
gehört hätten. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit ha-
ben Sie genauso auf die stabilisierende Wirkung Ägyp-
tens gehofft und gesetzt wie alle anderen.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Das ist falsch, Herr Fritz! Wir haben schon vor einem halben Jahr beantragt, Rüstungsexporte nach Ägypten zu stoppen, also vor der Revolution! Das wissen Sie!)


– Ja. Wir gehen jetzt seit einem Jahr anders an die Sache
heran. Hier sind wir einer Meinung. Hier gibt es ja nun
auch keine Genehmigungen mehr.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Aber Sie haben unseren Antrag abgelehnt und im letzten Dezember geliefert!)


– Sagen Sie hier doch einmal, was denn geliefert worden
ist. Sie verschweigen einfach zu viel.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Sturmgewehre zum Beispiel!)


Wir halten uns an alle Maßnahmen, die die Bundesre-
gierungen in den letzten 20 Jahren seit Rabta, seit dem
illegalen Export nach Libyen, getroffen haben. Ob Aus-





Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)

bau des Zollkriminalinstituts, Entwicklung neuer Instru-
mentarien, verbesserte Eingriffsmöglichkeiten bei Fahn-
dungen oder erhöhte Strafandrohungen, wir versuchen
alles, um illegale Ausfuhren zu verhindern. Wir tun das
alles in einem insgesamt transparenten Verfahren. Damit
glauben wir die Genehmigungen verantworten zu kön-
nen, die die Bundesregierung bisher erteilt hat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Sie haben auch schon einmal besser argumentiert!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711414300

Das Wort hat nun Heidemarie Wieczorek-Zeul für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1711414400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

beraten heute unter anderem über den SPD-Antrag zur
Reduzierung von Waffenexporten und zu einer stärkeren
parlamentarischen Beteiligung des Deutschen Bundesta-
ges an Entscheidungen, die ansonsten in geheimer Sit-
zung im Bundessicherheitsrat allein von den Ressortver-
tretern der Bundesregierung getroffen werden. Ich
appelliere an CDU/CSU und FDP, unseren Antrag entge-
gen Ihrem Verhalten in den Ausschüssen anzunehmen.
Damit würden Sie auch die Forderungen der katholi-
schen und der evangelischen Kirche, die wir aufgenom-
men haben, umsetzen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wenn Sie in den elf Jahren Ihrer Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat das gebracht hätten, wären wir weiter!)


Die Einwände, die wir in den Beratungen von Ihnen
gehört haben – das waren bisher die einzigen –, lassen
sich leicht widerlegen; denn sie sind lediglich vorge-
schoben. Da wurde gesagt, es gehe um die Trennung von
Exekutive und Legislative. Schweden und Großbritan-
nien haben natürlich auch eine entsprechende Trennung
zwischen Exekutive und Legislative; trotzdem gibt es
dort solche Regelungen, wie wir sie vorschlagen. Es geht
also, wenn man will. Mein Verdacht ist jedoch, dass die
Regierungsparteien bei Waffen- und Rüstungsexporten
keine wirkliche Transparenz schaffen wollen.

Des Weiteren wird gesagt, das bringe zu viel Verwal-
tungsaufwand mit sich. Es wäre, ehrlich gesagt, wohl ein
bisschen Verwaltungsaufwand wert gewesen, wenn man
damit verhindert hätte, dass dem Gaddafi-Regime Ab-
schussrampen für Panzerabwehrraketen, Kommunika-
tionstechnik und Störsender geliefert wurden, die dieser
nun gegen die eigene Bevölkerung einsetzen kann.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind so glaubwürdig wie ein T-Bone-fressender Vegetarier! – Gegenruf des Abg. Jan van Aken [DIE LINKE]: Herr Lindner, benehmen Sie sich einmal hier! Das ist doch unverschämt! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ CSU]: Brüllen Sie nicht so herum!)


Ich habe elf Jahre dem Bundessicherheitsrat angehört
und darf mich aus Gründen der Geheimhaltung natürlich
nicht zu Einzelentscheidungen und auch nicht zu mei-
nem eigenen Stimmverhalten äußern. Ich bitte Sie aus-
drücklich, mich auch nicht dazu zu zwingen. Aber so
viel kann ich aufgrund meiner Erfahrung sagen: Diese
Geheimhaltung hat in den letzten Jahren dazu geführt,
dass die richtigen politischen Grundsätze zu den Waffen-
und Rüstungsexporten, die die rot-grüne Regierung 1999
und 2000 beschlossen hat, einerseits und die realen Ent-
scheidungen im Bundessicherheitsrat zu den Rüstungs-
exporten andererseits immer weiter auseinanderklaffen.
Da hilft nur parlamentarische Offenheit. Das ist die
Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Erfahrungen im Bundessicherheitsrat sind – ne-
ben meiner grundsätzlichen restriktiven Haltung gegen-
über Waffen- und Rüstungsexporten – ein Grund, warum
ich diese Initiative verfolge. Ich werde sie weiter verfol-
gen, und sie wird zum Erfolg führen.

Warum muss der Bundestag über Waffen- und Rüs-
tungsexporte parlamentarisch mit entscheiden, und wa-
rum muss dieses Thema auf der Tagesordnung bleiben?
Dafür gibt es mindestens sechs gute Gründe:

Erstens. Waffen- und Rüstungsexportlieferungen an
nordafrikanische Länder müssen ein Ende haben. Was
brauchen die Menschen in der Region jetzt wirklich? In
Tunesien oder Ägypten braucht man Hunderttausende
Arbeitsplätze für junge Menschen, die gut ausgebildet
sind und Hoffnungen auf den demokratischen Wandel
setzen. Darauf müssen diese Länder ihre Finanzmittel
konzentrieren, statt sie für Rüstungsimporte zu ver-
schwenden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich das ergänzen darf: Die nordafrikanischen Län-
der brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, die auf
Demokratisierung nicht mit Frontex antwortet, sondern
die den europäischen Werten der Menschlichkeit und
Solidarität entspricht.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Wir fordern die Regierung auf, hier zu erklären, dass
der Stopp von Waffenexporten in nordafrikanische Län-
der, den sie Anfang des Jahres beschlossen hat, jetzt fort-
gesetzt wird. Ich würde gerne wissen: Wie ist der Stand
in Bezug auf diese Länder?

Zweitens. Unsere Befürchtung ist, dass die anste-
hende Umstrukturierung der Bundeswehr dazu führen
wird, dass ausgemusterte Waffen und Rüstungsgüter
weltweit exportiert und dadurch die nächsten Konflikte
angeheizt werden. Gerade bei dem Export solcher Güter,
die bereits vom deutschen Steuerzahler bezahlt worden
sind, ist eine parlamentarische Mitentscheidung wichtig.





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Besonders schädlich finde ich das Verhalten
der Bundesregierung beim Export von Kampfflugzeugen
nach Indien. Nach den damaligen Ministern Brüderle
und zu Guttenberg haben Minister Westerwelle und nun
noch die Bundeskanzlerin in Indien antichambriert. Hier
wird leichtfertig mit den restriktiv formulierten deut-
schen Rüstungsexportrichtlinien umgegangen;


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


denn diese Richtlinien besagen, dass Lieferungen in
Spannungsgebiete nicht genehmigungsfähig sind. An die
Adresse Indiens gerichtet sage ich: Statt 126 Kampfflug-
zeuge im Milliardenwert zu kaufen, sollte die indische
Politik auf die Bekämpfung der Armut im Land setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Etwa ein Drittel der 1,2 Milliarden Menschen in Indien
lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Viertens. Die Bundesregierung versucht, die restrikti-
ven Regelungen der Rüstungsexportrichtlinien auszu-
höhlen, indem sie auf strategische Partnerschaften ver-
weist. Unter diesem Deckmantel wird dann auch in
Länder geliefert, die vom Waffenexport eigentlich aus-
geschlossen sind.

Fünftens. Wichtig für die Transparenz gegenüber dem
Deutschen Bundestag ist auch, dass die Bundesregierung
durch die Vorlage des Rüstungsexportberichtes verstärkt
ihrer Informationspflicht nachkommt. Das hätten wir – das
sage ich selbstkritisch und gestehe es freimütig zu – be-
reits früher veranlassen können. Schön und richtig wäre,
wenn er in drei- oder sechsmonatigen Abständen erfolgt.
Ich fordere alle Fraktionen des Deutschen Bundestags
auf, sich über eine neue Struktur dieses Rüstungsexport-
berichts Gedanken zu machen; denn – vielleicht hat es
noch nicht jeder festgestellt – die Verteidigungsgüter-
richtlinie, die in diesem Jahr in Kraft tritt, wird zukünftig
bewirken, dass Waffenlieferungen innerhalb europäi-
scher Länder nicht mehr in der Statistik des Rüstungs-
exportberichtes auftauchen. Wir weisen frühzeitig auf
diesen Sachverhalt hin und fordern, das in dem Bericht
auch deutlich zu machen. Sonst wird uns die Bundes-
regierung noch erzählen, in ihrer Regierungszeit seien
die Waffen- und Rüstungsexporte zurückgegangen.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Das ist auch richtig!)


– Ja, genau.

Sechster und letzter Punkt. Viele europäische Staaten
– Frankreich, Österreich, Großbritannien, Italien, Nie-
derlande – haben neben Deutschland Waffen und Rüs-
tungsgüter nach Nordafrika geliefert. Außerdem gibt es
europäische Rüstungsfirmen. Es ist an der Zeit, dass
endlich die acht gemeinsamen Regeln, die Ausdruck des
gemeinsamen europäischen Standpunkts sind und die
sehr wichtig und richtig sind, in den europäischen Län-
dern gesetzlich fixiert werden.

Eines ist klar – darauf wird vielleicht auch in der mor-
gigen Debatte Bezug genommen –: Die exzessive Ver-
schuldung europäischer Partnerländer wie Griechenland
und im Übrigen auch Portugal hängt auch damit zusam-
men, dass sie teure, unnötige Waffenimporte unter ande-
rem aus Deutschland und Frankreich zu bezahlen hatten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


SIPRI weist darauf hin, dass der Anteil deutscher Waffen-
exporte nach Griechenland bei 13 Prozent und der Anteil
französischer Waffenexporte bei 12 Prozent liegt.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wissen Sie, wann die Beschlüsse dazu gefasst worden sind? Die Beschlüsse sind damals unter Rot-Grün gefasst worden!)


Es ist wirklich eine Schizophrenie, sich von Ländern wie
Griechenland und Portugal Waffen abkaufen zu lassen
und ihnen gleichzeitig Geld zu liefern, damit sie finan-
ziell stabilisiert werden können. Dieser Schizophrenie
muss ein Ende gemacht werden. Ich fordere Sie auf:
Stimmen Sie unserem Antrag zu!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711414500

Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1711414600

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Sie

alle kennen diesen wunderbaren Film Und täglich grüßt
das Murmeltier mit Bill Murray. Ein bisschen erinnert
mich die heutige Debatte daran. Wir haben bereits am
18. März, am 24. März und am 12. Mai über dieselben
Anträge geredet. Die Szenarien sind gleich. Ich glaube,
der einzige Unterschied ist, dass heute Staatsministerin
Pieper anstelle des damaligen Staatsministers Hoyer an-
wesend ist. Ansonsten haben wir komplett die gleiche
Aufstellung. Der große Unterschied ist: Bei Und täglich
grüßt das Murmeltier handelt es sich um eine 120-minü-
tige, witzige, intelligente Unterhaltung. Das, was Sie uns
vorlegen, ist weder witzig noch intelligent. Es sind die-
selben langweiligen Schaufensteranträge, die Sie für
Ihre Klientel brauchen.


(Beifall bei der FDP)


Damit betreiben Sie Klientelpflege und wenden sich an
die S-Bahn-Brandstifter, die unter dem Deckmantel, ge-
gen Waffenexporte zu sein, gehandelt haben.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Sind Sie das Murmeltier oder Bill Murray?)


Seriös ist das natürlich nicht, was Sie vorlegen.

Seriös wäre es, darauf hinzuweisen, dass eine militä-
rische Mittelmacht wie Deutschland selbstverständlich
eine Sicherheits- und Verteidigungsindustrie braucht und
dass Sicherheit durch diese Industrie exportiert wird,
zum Beispiel auch nach Saudi-Arabien.





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Und nach Libyen?)


Der Export nach Saudi-Arabien bestand im Wesentli-
chen in einem Auftrag an EADS zum Küstenschutz.
Dieser Milliardenauftrag ist übrigens unter Frau
Wieczorek-Zeul genehmigt worden, die elf Jahre im
Bundessicherheitsrat saß.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Genau deshalb weiß ich, wovon die Rede ist!)


Frau Kollegin, in diesen elf Jahren sind Sie nicht auf die
Idee gekommen, einen solch wunderbaren Antrag wie
den heutigen zu stellen. Deswegen wiederhole ich mei-
nen Zuruf von vorhin: Ein Vegetarier, der T-Bone-Steaks
verzehrt, ist glaubwürdig im Vergleich zu Ihnen; das
kann ich Ihnen sagen, Frau Wieczorek-Zeul.


(Beifall bei der FDP)


Alles, was Sie sagen, ist Kokolores. Es ist nicht glaub-
würdig, wenn man so lange wie Sie in der Verantwor-
tung stand und sich in dieser Zeit nichts getan hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt steht die FDP in der Verantwortung!)


Ich erinnere Sie daran: Im Jahr 2005 – da waren Sie
schon geraume Zeit im Amt – sind die Rüstungsexporte
um 1,2 Milliarden Euro gestiegen. Ich habe nachge-
schaut: Lag das vielleicht an einem Großauftrag? Nein,
Exporte im Umfang von 900 Millionen Euro gingen in
die Dritte Welt,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach Afrika!)


in die Länder, für die Sie verantwortlich und zuständig
waren. Wenn Sie uns Schizophrenie vorwerfen, muss ich
mich fragen, worum es sich bei dem handelt, was Sie
heute hier vorgetragen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, eine Thematisierung der
Anträge der Linken ist nicht lohnenswert; sie sind ein re-
lativ naives und perfides Manöver zur Klientelpflege.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Ihre Arroganz ist nicht zu übertreffen!)


Aber was Sie als eigentlich ernst zu nehmende Fraktion
beantragen, meine Damen und Herren von der SPD, ist
nicht minder problematisch. Ihre Anträge sind natürlich
nicht so populistisch wie die der Linken. Aber erzählen
Sie uns einmal, wie Sie sich die praktische Exekution
der Anträge vorstellen. Wie sollen die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages 16 000 Anfragen betreffend
Rüstungsexporte seriös bearbeiten? Das können sie
nicht.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Wieso können die Amerikaner das? Die Amerikaner machen das!)


Das ist klassisches exekutives Handeln. Der Deutsche
Bundestag setzt den gesetzgeberischen Rahmen unter
anderem für die Exportwirtschaft; die Verwaltung voll-
zieht diese Gesetze. Die Bearbeitung einzelner Anträge
und darauf erfolgender Genehmigungen gehören selbst-
verständlich zum exekutiven Handeln. Wie soll es, bitte
schön, anders gehen? Wie soll denn ein Ausschuss oder
gar ein einzelner Abgeordneter einen Rüstungsexport-
antrag in seiner ganzen Tiefe bearbeiten?


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Sie schaffen das nicht! Wir schaffen das! Die Amerikaner schaffen das auch!)


– Sie schaffen das? Sie schaffen es doch nicht einmal,
anständige Anträge zu formulieren. Wie können Sie
glauben, dass Sie in der Lage wären, solche Anträge se-
riös zu bescheiden? Das ist schlichtweg lächerlich.


(Beifall bei der FDP)


Wenn wir über das Thema Rüstungsexporte sprechen,
müssen wir natürlich eine Diskussion darüber führen,
wie die Länder der NATO und der Europäischen Union
ihre Rüstungsanstrengungen bei Hightechprodukten ko-
ordinieren können. Darin scheint mir ein Hauptproblem
zu bestehen. Wir bilden zwar mit der NATO eine Vertei-
digungsgemeinschaft und mit der EU eine Wirtschafts-
gemeinschaft; aber wir haben, was die Rüstungsindustrie
angeht, noch immer nationale Verteidigungsstrategien.
Da liegt das Problem: Die Stückkosten sind gigantisch
hoch; damit steigt der Druck, zu exportieren. Es gibt
zwei Möglichkeiten: Entweder wir zahlen die hohen
Stückkosten und belasten damit die nationalen Verteidi-
gungsetats überproportional, oder wir koordinieren zu-
künftig unsere Rüstungsprojekte auf intelligentere
Weise; dann wäre bei gemeinsamen Unternehmen wie
EADS der Druck geringer, zu Exporten in größerem
Umfang zu kommen. Das wäre ein seriöser Beitrag, den
Export von Hightechprodukten zu verringern.

Wir reden hier nicht über G 36. Sie glauben doch
nicht im Ernst, dass sich die Sicherheitslage der Men-
schen im Nahen oder Mittleren Osten dadurch geändert
hat, dass dort Waffenfabriken unter deutscher Beteili-
gung gebaut wurden; anderenfalls hätten China und
Russland dort Fabriken gebaut. Darum geht es nicht; das
ist doch nicht der entscheidende Punkt. Der entschei-
dende Punkt ist – da besteht ein berechtigtes Interesse –,
dass wir beim Export von Hightechprodukten zu einer
restriktiven Handhabung kommen; denn es tangiert na-
türlich unsere Sicherheitslage, wenn Produkte – keine
Stangenware – in nennenswertem Umfang unkontrolliert
exportiert werden, die tatsächlich zu einer Gefährdung
unserer Sicherheit führen können. Hier stehen die FDP,
die Koalition und die Bundesregierung für eine weiter-
hin vernünftige, restriktive Handhabung, natürlich in
dem Bewusstsein, dass Deutschland eine bedeutende
Exportmacht ist und es bleiben will.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711414700

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich zu-

nächst dem Kollegen Fritz. Diese Kurzintervention be-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

zieht sich auf die Rede von Heidemarie Wieczorek-Zeul,
die anschließend eine Kurzintervention angemeldet hat.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, vielleicht können Sie
gleich darauf erwidern und dann Ihre Intervention for-
mulieren.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1711414800

Verehrte Frau Kollegin, ich bin auf den SPD-Antrag,

der sich qualitativ von den übrigen Anträgen unterschei-
det, nicht eingegangen, weil ich nach der Beratung im
Wirtschaftsausschuss den Eindruck gewonnen hatte,
dass es Ihnen nicht um den Inhalt Ihres Antrags geht,
sondern nur um die Darstellung Ihres Antrags im Ple-
num. Im Rahmen der ersten Lesung habe ich ausdrück-
lich angeboten, über diese Themen ausführlich zu reden.
Im federführenden Ausschuss war eine Diskussion da-
rüber nicht möglich, weil dieser Antrag ohne Diskussion
wieder an das Plenum überwiesen worden ist. Insofern
hatte ich den Eindruck, dass er Ihnen nicht so wichtig ist,
und habe ihn unter die anderen subsumiert.

Ansonsten haben wir die Zwischenzeit genutzt und
uns die verschiedenen Praktiken noch einmal genau an-
gesehen. Ich glaube nicht, dass Sie das britische Modell
wirklich wollen. Dort liegen Beschaffung für die Armee
und Genehmigung der Exporte nämlich in einer Hand.
Das möchten Sie bestimmt nicht. Das einzige Modell,
über das man reden kann – es gibt sehr gute Gründe da-
für, aber auch dagegen –, ist das schwedische Modell.
Sie werden allerdings feststellen, dass die beiden Länder
nicht vergleichbar sind, weder in bündnispolitischer
Hinsicht noch hinsichtlich der industriellen Basis noch
hinsichtlich aller anderen Aspekte, die die Verantwor-
tung für eine gemeinsame Sicherheitspolitik und die Ko-
operationsfähigkeit betreffen. Die Schweden haben das
Genehmigungsverfahren in ein unabhängiges Institut
ausgelagert. Weil dieses Institut völlig außerhalb der
Exekutive steht, haben sie logischerweise ein zusätzli-
ches parlamentarisches Kontrollgremium, das innerhalb
eines ganzen Jahres etwa 1 600 Anträge bearbeitet. Inso-
fern ist ein Vergleich schwierig. Man müsste auf der Ba-
sis eines solchen Antrages einen längeren Disput darüber
führen, was sinnvoll ist und was nicht und wie man die
Gewalten auch in dieser Frage ordentlich teilt.

Dass es in diesem Haus Kontrolle gibt, zeigen nicht zu-
letzt die vorliegenden Anfragen. Ich habe noch von kei-
nem Kollegen gehört, dass ihm in irgendeinem Ministe-
rium die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, wenn er
über ein bestimmtes Projekt etwas erfahren wollte.

Von daher sollten wir die Sache adäquat und zielfüh-
rend behandeln. Wir sollten uns möglichst nicht gegen-
seitig Versagen und moralische Unfähigkeit vorwerfen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711414900

Kollegin Wieczorek-Zeul.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1711415000

Vielen Dank, Herr Kollege Fritz. Ihr Beitrag hat sich

positiv von dem – ich persönlich würde sagen: herabset-
zenden – Ton Ihres Kollegen Lindner unterschieden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich muss sagen: Vielleicht wäre es an der Zeit, dass in-
nerhalb der FDP einmal über die Frage des Umgangs ge-
sprochen wird, insbesondere unter dem Gesichtspunkt,
welche subkutanen Beleidigungen über den Tisch ge-
reicht werden.

Zu dem Punkt, den Sie angesprochen haben, Herr
Fritz. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Vorsitzenden des
Auswärtigen Ausschusses – ich nenne jetzt keinen Na-
men – gesprochen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: „Ich nenne jetzt keinen Namen!“ Lustiges Ratespiel!)


– Also: Herr Polenz. – Ich habe mit Herrn Polenz und
Herrn Mißfelder – da ist er – zusammengesessen und ge-
sagt: Überlegt, ob wir in der Richtung weiterarbeiten
können. – Es gab keine positive Reaktion. Das ist die
Wahrheit.

Ich nehme aber zur Kenntnis – deshalb sage ich das
jetzt auch –, dass der Rüstungsexportbericht wegen der
nicht mehr auftauchenden innereuropäischen Waffen-
und Rüstungsexporte sowieso geändert werden muss.
Deshalb sollten sich – erstens – alle zusammensetzen
und überlegen, wie er künftig aussehen soll. Zweitens
– wir haben diesen Vorschlag gemacht – sollten wir den
Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses in diesem
Sinne einsetzen; denn jedes Parlament nutzt seine Mög-
lichkeiten. Das Angebot steht. Wir werden die Anträge
voranbringen. Insofern wird es dazu Gelegenheit geben.

Ich komme zu meinem zweiten Punkt, zu dem, was
Herr Lindner bereits in der ersten Debatte gesagt hat. Ich
weise darauf hin, dass es sich hierbei um einen Ablen-
kungsversuch handelt. In der Zeit von Rot-Grün ist der
Anteil von Genehmigungen von Rüstungsexporten in die
ärmsten Entwicklungsländer drastisch reduziert worden.
Sie haben eine Zahl aus dem Jahr 2005 genannt. Der An-
teil der Lieferungen an die ärmsten Entwicklungsländer
ist hier gering. Im Übrigen weisen der Rüstungsexport-
bericht der GKKE – also der Kirchen – sowie der deut-
sche Rüstungsexportbericht darauf hin, dass der Anteil
der armen Entwicklungsländer bei den Rüstungsexpor-
ten verschwindend gering ist. Im Jahr 2005 gab es mit
Südafrika einen spezifischen Fall. Dieser Punkt war sehr
umstritten. Er war auch für mich umstritten, ohne dass
ich jetzt ins Detail gehen kann.

Lenken Sie also bitte nicht ab. Beteiligen Sie sich im
Sinne von Herrn Fritz konstruktiv und ohne Ihren hämi-
schen Ton an der Sachdebatte. Das wäre dem Ernst die-
ses Themas angemessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711415100

Kollege Lindner, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1711415200

Frau Kollegin, mir ist Häme wirklich fern.


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Mir ist Häme wirklich fern, grundsätzlich. – Wenn
man, einen Tag bevor man Sie hört, den Rüstungsexport-
bericht in die Hand bekommt und dort liest, dass in dem
von Ihnen genannten Jahr die Rüstungsexporte um
900 Millionen Euro in die Höhe gegangen sind, und
weiß, dass Sie wie kein anderes Mitglied des Hauses
lange in Regierungsverantwortung waren, von 1998 bis
zum Jahr 2009, und ununterbrochen dem Bundessicher-
heitsrat angehört haben, Sie aber genau in dem Moment
aufwachen, in dem Sie die exekutive Verantwortung ver-
lassen und damit die Chance verloren haben, auf eigenen
Mehrheiten beruhende Vorschläge zum vernünftigen
Umgang mit dem Thema Rüstungsexport einzubringen,
und glauben, uns im Monatsrhythmus Vorschläge unter-
breiten zu können, wie nunmehr die Legislative einzelne
Rüstungsentscheidungen zu handhaben hat, dann erlau-
ben Sie uns bitte, dass wir das nicht so vollständig ernst
nehmen können, wie es der Sache vielleicht – wie Sie es
zu recht angemerkt haben – angemessen wäre.

Herzlichen Dank.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711415300

Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711415400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Lindner, Inhaftierung von
Dissidenten, unter Folter erzwungene Geständnisse, öf-
fentliche Hinrichtungen, Sie würden wahrscheinlich an
dieser Stelle sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier.

Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung
führt die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien
akribisch auf. Dennoch genehmigt dieselbe Regierung
nicht nur Rüstungs-, sondern auch Kriegswaffenexporte
in dieses Land und entsendet zudem noch deutsche Poli-
zisten zur Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte. Dabei
sind nach der Rüstungsexportrichtlinie und dem Verhal-
tenskodex der EU die menschenrechtliche Lage und frie-
denspolitische Kriterien zwingend zu berücksichtigen.
Wir müssen feststellen, dass in der Rüstungsexportpoli-
tik der Bundesregierung Anspruch und Wirklichkeit weit
auseinanderklaffen.

Die Linke hat in 16 Anträgen die kritische Menschen-
rechtslage in arabischen Ländern dargelegt und fordert
für jedes einzelne ein umfassendes Embargo für Rüs-
tungsgüter. Wo bereits ein Embargo besteht, fordert sie
eine Art Ewigkeitsgarantie, unabhängig von der zukünf-
tigen Entwicklung des Landes. Wenn man diese Forde-
rung logisch übersetzt, heißt das eigentlich, sämtliche
Rüstungsexporte für alle Zeit zu verbieten.


(Beifall bei der LINKEN)


So steht es auch in Ihrem anderen Antrag, der heute zur
Abstimmung steht und den wir ablehnen werden.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711415500

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Lindner?


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711415600

Ja.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1711415700

Frau Kollegin Keul, bei Saudi-Arabien muss man dif-

ferenzieren. Es geht im Wesentlichen – ich sagte das vor-
hin schon – um einen Küstenschutzauftrag für Saudi-
Arabien durch EADS. Das ist öffentlich bekannt.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Sie wollten doch eine Frage stellen!)


Das sind im Wesentlichen Radargeräte, Küstenschutzge-
räte und Elektronik. Das hat doch mit Menschenrechts-
verletzungen wirklich nichts zu tun. Wir helfen dort,
eine Radarüberwachung zum Schutz gegen Piraterie auf-
zubauen.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Sie reden sich immer tiefer hinein! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gewehr G 36!)


Sie können den Küstenschutz doch nicht zur Bekämp-
fung von missliebigen Bürgern einsetzen; das gilt auch
für U-Boote und anderes. Bei der Betrachtung dessen,
was exportiert wird, muss man differenzieren.

Das andere sind Konzessionen, die gehandelt werden.
Im eigenen Land werden Fabriken aufgebaut. Auch das
hat mit Exporten von Deutschland in diese Länder nichts
zu tun.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was?)


Ich glaube, es lohnt sich für eine seriöse Partei, der
Sie angehören, die Dinge, über die wir reden, anders als
die Populisten auf der linken Seite des Hauses sauber
auseinanderzuhalten.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711415800

Herr Lindner, ich habe gedacht, Sie seien zynisch,

aber es ist noch viel schlimmer. Sie haben sich gar nicht
mit dem befasst, was in Saudi-Arabien passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Bei dem Auftrag der Firma Cassidian geht es nicht um
Küstenschutz, sondern um die Sicherung der Tausende
Kilometer langen Grenze quer durch die Wüste. Diese
wird überwacht. Es geht auch um innere Repressionen.
Man darf sich dieser Grenze vonseiten Saudi-Arabiens
gar nicht nähern; wenn man es tut, setzt man sich den
Repressalien des Regimes aus. Beschäftigen Sie sich
also erst einmal damit. Polizisten werden dazu ausgebil-
det, nach innen repressiv zu unterdrücken. Es geht hier
nicht um Boote oder Fregatten für den Küstenschutz.
Das ist etwas völlig anderes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

Das Anliegen, das wir teilen, ist: weniger Handel mit
todbringenden Waffen. Da sind wir uns einig. Auch
meine Fraktion setzt sich für eine restriktivere Rüstungs-
exportpolitik ein. Aber ob es nun zielführend ist, für alle
genannten Staaten ein umfassendes Embargo zu fordern,
bezweifele ich sehr. Denn diese Forderung dürfte in ihrer
Radikalität nicht nur auf politische, sondern auch auf
verfassungsrechtliche Hürden stoßen, besonders wenn es
um Rüstungsgüter geht, die keine Kriegswaffen sind.

Sie von der Linken machen es sich einmal wieder
sehr einfach. Wer ohnehin keine Regierungsverantwor-
tung übernehmen will, kann erst einmal das Blaue vom
Himmel fordern.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Natürlich! So ist das!)


Es gibt aber durchaus einige diskussionswürdige Punkte,
auf die wir an dieser Stelle hinweisen müssen. Nach un-
serem geltenden Recht sind Exporte von Kriegswaffen
in Drittländer außerhalb von NATO und EU generell un-
tersagt und dürfen nur ausnahmsweise genehmigt wer-
den, wenn deutsche Sicherheitsinteressen es erfordern.
Diese Einschränkung des freien Handels hat bei uns so-
gar Verfassungsrang.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Joschka Fischer!)


Warum aber beispielsweise Waffenfabriken und Polizei-
training in Saudi-Arabien in einem besonderen deut-
schen Sicherheitsinteresse liegen sollen, hat die Bundes-
regierung bislang nicht begründen wollen und wohl auch
nicht begründen können. Auf Nachfrage werden wir Par-
lamentarier immer wieder auf die allgemeinen Rechts-
grundlagen und auf das Prinzip der Einzelfallentschei-
dung verwiesen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das war doch Grundlage rot-grüner Politik!)


Ich bin allerdings durchaus der Meinung, dass einige
der hier genannten Länder sich für den Export von
Kriegswaffen deutlich disqualifiziert haben. Das ist doch
ein Punkt, über den wir als Parlamentarier einmal reden
sollten. Wollen wir nicht eine Rechtsgrundlage für den
Erlass von einer Liste von Ländern, an die aufgrund der
Menschenrechtslage und der Repressionen im Inneren
keine Kriegswaffen geliefert werden dürfen, schaffen?
Für eine solche Rechtsverordnung ließe sich im Außen-
wirtschaftsgesetz leicht eine Grundlage schaffen. So,
wie es in der Außenwirtschaftsverordnung Listen von
Waffengattungen gibt, gäbe es dann auch eine Liste von
Ländern, bei denen das Ermessen der Genehmigungsbe-
hörde auf Null sinkt. Über die Rechtsverordnung ver-
bliebe die Entscheidung in der Sache selbst bei der
Exekutive. Ein großer Vorteil wäre die Transparenz. Die
Liste der Länder wäre Gegenstand öffentlicher Debatte
und parlamentarischer Kontrolle. Wegen der Sensibilität
und friedenspolitischen Bedeutung des Themas sind
mehr Öffentlichkeit und weniger Geheimniskrämerei
ohnehin dringend erforderlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Vor diesem Hintergrund werden wir dem entspre-
chenden Antrag der SPD zustimmen. Im Zusammen-
hang mit der Verbesserung des Außenwirtschaftsgeset-
zes würde ich auch vorschlagen, den Wortlaut der
Rüstungsexportrichtlinien gleich ins Außenwirtschafts-
gesetz zu integrieren, um dem Menschenrechtskriterium
klaren Gesetzesrang zu verschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Abschließend möchte ich noch kurz auf den Antrag
„Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstel-
len“ eingehen. Er enthält viele richtige Forderungen, ins-
besondere was die atomwaffenfreie Zone und die Ein-
haltung völker- und menschenrechtlicher Standards
betrifft. Die Einstellung jeglicher Zusammenarbeit mit
Israel ist jedoch für uns keine tragbare Forderung, sodass
Sie hier ohne unsere Zustimmung auskommen müssen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711415900

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1711416000

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

In ihren Anträgen fordert die Linke die Bundesregierung
auf, den Export sämtlicher Rüstungsgüter in alle Länder
des Nahen und Mittleren Ostens einzustellen bzw. keine
weiteren Exporte zu genehmigen.


(Zurufe von der LINKEN: Ja! – Richtig!)


Außerdem soll die Ausbildungskooperation zwischen
der Bundeswehr und der israelischen Armee beendet
werden.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Jawohl!)


Dies soll wohl zu einer Verminderung der politischen
Spannungen im Nahen Osten beitragen.


(Jan van Aken [DIE LINKE]: Richtig!)


Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist das Ziel aller
Fraktionen im Deutschen Bundestag,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glaube ich nicht!)


eine nachhaltige politische Entspannung im Nahen und
Mittleren Osten und in Nordafrika herbeizuführen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das würde ich so nicht behaupten!)






Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

Die uns heute vorliegenden Anträge der Linken sind
hierzu ganz sicher nicht geeignet.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war zu erwarten!)


Es handelt sich hierbei – das möchte ich unterstreichen –
um scheinheilige Schaufensteranträge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein Wort zu Ihnen, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul.
Sie haben zwar sachlich geredet, aber natürlich Kritik an
der Praxis dieser Bundesregierung in den letzten Jahren
geübt.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: An allen, ja!)


Auch Sie müssen sich einige Zahlen vorhalten lassen;
zum Teil sind sie schon genannt worden.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ja! Aber sie sind falsch! Das habe ich doch erklärt!)


– Die Zahlen sind nicht falsch.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Doch! Das habe ich belegt!)


Unter Rot-Grün wurden die meisten Rüstungsexporte
genehmigt. Es geht um den Zeitpunkt der Genehmigung,
nicht um den Zeitpunkt der Lieferung; das ist ein großer
Unterschied.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, eben!)


Bei Paul Holtom vom SIPRI-Institut stößt die Kritik
beispielsweise der Grünen-Chefin Claudia Roth am An-
stieg der deutschen Rüstungsexporte auf Unverständnis.
Jetzt kommt ein wörtliches Zitat:

Die meisten Verträge, die diese Verdoppelung be-
wirkt haben, wurden ja während der rot-grünen Re-
gierungszeit abgeschlossen.

Das sagt der Vertreter des SIPRI-Instituts.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Da schau her! Das sagt sogar das heilige SIPRI-Institut!)


Es gibt eine weitere interessante Zahl, Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul. Im Jahr 1998 – damals noch unter der
Regierung Kohl – wurden nach offiziellen Angaben Ex-
portgenehmigungen für Rüstungsgüter im Umfang von
1,338 Milliarden DM erteilt, im Jahr 2000 – unter Rot-
Grün – waren es 5,9 Milliarden DM, sprich: etwa
3 Milliarden Euro. Diese Zahlen müssen Sie sich vorhal-
ten lassen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Damit hat sie nichts zu tun! An dem Tag war sie krank!)


Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches zum
deutschen Rüstungsexport sagen. Alle Anträge auf Aus-
fuhrgenehmigungen werden im jeweiligen Einzelfall
nach sorgfältiger Abwägung vor allem der außen-, der
sicherheits- und der menschenrechtspolitischen Argu-
mente entschieden. Wichtige Kriterien jeder Entschei-
dung sind dabei auch die Konfliktprävention und natür-
lich die Beachtung der Menschenrechte im Empfangs-
land. Ebendiesem Verfahren unterliegen auch Entschei-
dungen über Rüstungsexporte in die Regionen, die Ge-
genstand der Anträge der Linkspartei sind.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Und was sagt das? Gar nichts!)


Die Tatsache, dass das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie im Februar dieses Jahres in An-
betracht der aktuellen Ereignisse in Ägypten das Bun-
desamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle angewiesen
hat, ihm sämtliche Anträge auf Erteilung von Ausfuhr-
genehmigungen von Rüstungsgütern nach Ägypten
vorzulegen, und dass die Bearbeitung dieser Anträge
ausgesetzt wurde, zeigt, dass das derzeitige System
funktioniert.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Hält die Aussetzung denn noch an? Für alle nordafrikanischen Staaten?)


Ich darf noch einmal Paul Holtom vom SIPRI-Institut
zitieren, der dazu sagt – das ist ein wörtliches Zitat –:

Es ist nun mal so, dass die Deutschen bei Ausfuh-
ren in Spannungsgebiete deutlich restriktiver sind
als ihre Konkurrenten.

Hört! Hört!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja! Und die machen damit auch noch Werbung!)


Da Israel in mehreren Ihrer Anträge erwähnt wird,
möchte ich aus gegebenem Anlass darauf hinweisen,
dass Deutschland aufgrund seiner Historie eine beson-
dere Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit
des Staates Israel hat. Deutschland hat sich bislang im-
mer offen zu dieser Verantwortung bekannt und wird
dies auch zukünftig tun. Diese deutsch-israelische Son-
derbeziehung umfasst auch eine enge Zusammenarbeit
Deutschlands mit Israel im Verteidigungsbereich. Die
Anträge der Linken berücksichtigen in keiner Weise die
besondere deutsche Beziehung zu Israel. Diesen Aspekt
zu unterschlagen, ist unverantwortlich. Freilich ist das
einmal mehr bezeichnend für das Verhältnis der Linken
zu Israel.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist es! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist doch ein ganz anderes Thema!)


Über dieses Thema haben wir vor nicht allzu langer
Zeit im Rahmen einer Aktuellen Stunde diskutiert. Wer
heute die Tageszeitung Die Welt liest, erfährt, dass Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
sich offensichtlich schon selber mit der Abgrenzung zum
Antisemitismus in Ihren eigenen Reihen beschäftigen
mussten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ducken sie sich noch weg!)


Offensichtlich haben Sie dies nötig. Die Forderungen
bezogen auf Israel gehen im Übrigen gänzlich an den





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

politischen und militärischen Realitäten im Nahen Osten
vorbei. Deutschland muss und wird an seiner Verantwor-
tung für die Sicherheit Israels festhalten und in diesem
Zusammenhang auch die verteidigungspolitische Zu-
sammenarbeit mit Israel fortsetzen.

Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel ist zu-
dem darauf hinzuweisen, dass auch Deutschland von
dieser Kooperation profitiert. Die in Israel hergestellten
Drohnen, die die Bundeswehr nutzt, tragen wesentlich
zur Verbesserung des Lagebildes der Bundeswehr in Af-
ghanistan und somit zur Erhöhung der Sicherheit unserer
Soldaten im Einsatzgebiet bei. Hierauf können und dür-
fen wir nicht verzichten.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass Deutsch-
land eine äußerst verantwortungsvolle und zurückhal-
tende Rüstungspolitik betreibt.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Dies gilt ganz besonders für die Regionen, die in den
Anträgen der Linkspartei genannt sind.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jan van Aken [DIE LINKE]: Das glaubt er wirklich!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1711416100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5935 bis 17/5950 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen
Ostens einstellen – Militärische Zusammenarbeit been-
den – Atomwaffenfreie Zone befördern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4508, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2481 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des
übrigen Hauses angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck-
sache 17/5823.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5054 mit dem Titel
„Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung ge-
gen die Ausweitung von Rüstungsexporten“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5039 mit dem Ti-
tel „Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüs-
tungsgütern stoppen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-
ses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/5204 mit dem Titel „Genehmigung für Waffen-
exporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Ent-
haltung der Linken angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zu-
satzpunkt 15 auf:

7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Elisabeth
Winkelmeier-Becker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Marlene Rupprecht, Petra
Crone, Christel Humme, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Christian
Ahrendt, Stephan Thomae, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Katja Dörner, Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Opfern von Unrecht und Misshandlungen in
der Heimerziehung wirksam helfen

– Drucksache 17/6143 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss

ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Dittrich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unterstützung für Opfer der Heimerziehung –
Angemessene Entschädigung für ehemalige
Heimkinder umsetzen

– Drucksache 17/6093 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1711416200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
darf zu dieser heutigen Debatte auch einige ehemalige
Heimkinder sehr herzlich begrüßen, weil ich von einigen
aus Briefen weiß, dass sie heute extra nach Berlin gereist
sind, um diese Debatte hier vor Ort zu verfolgen, und
viele haben mir geschrieben, dass sie sich unsere De-
batte heute live zu Hause vor dem Fernseher ansehen
wollen.

Wenn wir heute über diesen Antrag sprechen – ich bin
sehr froh, dass dieser Antrag in einem fraktionsübergrei-
fenden Konsens geschrieben wurde –, dann wissen wir
bei der Verarbeitung der zum Teil erschütternden Ge-
schehnisse in den Erziehungsheimen der alten Bundesre-
publik und der DDR um die große Aufmerksamkeit der
Betroffenen.

Ich weiß nicht, warum von der linken Seite höhni-
sches Gelächter kommt; denn es ist ein sehr ernstes
Thema.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ging es, glaube ich, um etwas anderes!)


Ich kann mich nicht erinnern, im Bundestag in den
letzten Jahren zu einem solch schwierigen Thema am
Rednerpult gestanden zu haben. Für diejenigen, die das
Ganze persönlich miterleben mussten, ist das Erlebte
keine Geschichte, sondern es ist eine nachwirkende Re-
alität. Das Leid – wenn man nicht selbst davon betroffen
war – kann man sich nicht einmal im Ansatz vorstellen.
Selbst wenn man es täte, könnte man sicher nicht nach-
empfinden, was den Opfern in ihrer Kindheit passiert ist.

Als ungefähr vor acht Jahren die ersten Berichte über
das Unrecht und das Leid in Heimen der jungen Bundes-
republik erschienen sind und drei Jahre später die ersten
Petitionen beim Deutschen Bundestag eingegangen sind,
habe ich – wie sicherlich viele von uns – gehofft, dass es
sich einfach nur um schreckliche Einzelfälle handelt.
Aber wir haben längst erfahren, dass es in Wahrheit kei-
neswegs so war: Es waren keine Einzelfälle, sondern es
war für sehr viele Menschen bittere Realität.

Die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen
war in der Praxis sehr unterschiedlich. Es gab sicherlich
Heime mit einer sehr fürsorglichen Unterbringung, aber
es gab auch Heime, in denen Kindern und Jugendlichen
systematisch Leid und Unrecht zugefügt wurden. Wir
mussten erfahren, dass das Ganze in katholischen Hei-
men, in evangelischen Heimen und auch in staatlichen
Einrichtungen geschehen ist und dass tagtäglich, stünd-
lich, minütlich gegen bestehendes Recht und elementare
Grundsätze unserer Verfassung verstoßen wurde.
Wenn man mit ehemaligen Heimkindern spricht, dann
erfährt man von körperlicher Gewalt, aber auch von star-
ker psychischer Gewalt, von Schlägen, Beschimpfungen
und Beleidigungen, von dem immerwährenden Druck
und der immerwährenden Furcht, die den betroffenen
Kindern in einer der wichtigsten Entwicklungsphasen
tagtäglich zuteil wurde. Es gab Essensentzug, Schlafent-
zug, Arrest und Isolation. Es gab – schon allein das Wort
ist unglaublicher Hohn – sogenannte Besinnungszim-
mer. Betroffene berichten, dass sie sich jeden Tag al-
leine, verloren, ängstlich, hilflos und traurig gefühlt ha-
ben. Das Allerschlimmste in einer solchen Situation ist,
wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat, sich jeman-
dem anzuvertrauen.

Die älteren Heimkinder wurden im Heim und für das
Heim zur Arbeit geschickt, aber auch für externe Be-
triebe verpflichtet. Selbstverständlich gab es für ihre Ar-
beit keinen Beitrag für die Rentenkasse. Kein einziges
Heimkind sah für sich die Möglichkeit, jemanden um
Hilfe zu bitten oder sich über die Institution beschweren
zu können. In der Bundesrepublik schied es faktisch aus,
in der DDR gab es noch nicht einmal die theoretische
Möglichkeit, Hilfe zu suchen.

Die Folgen dieser Heimerziehung reichen bis in die
Gegenwart. Viele ehemalige Heimkinder leiden noch
immer unter Angstzuständen und posttraumatischen Be-
lastungsstörungen. Das sind Erlebnisse, die immer wie-
der hochkommen und die man ein ganzes Leben lang
nicht mehr los wird.

Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages
hat sich zwei Jahre lang intensiv mit der Thematik be-
schäftigt und festgestellt, dass mögliche Schadensersatz-
oder Entschädigungstatbestände in vielen Fällen mittler-
weile verjährt sind. Deshalb wurde ein Runder Tisch ein-
gerichtet. Knapp zwei Jahre hat der Runde Tisch bera-
ten. Als Rehabilitierung wurde ein ganzes Maßnahmen-
bündel vorgeschlagen. Es ist uns wichtig, dieses Maß-
nahmenbündel fraktionsübergreifend nicht einfach nur
zur Kenntnis zu nehmen, sondern es konkret umsetzen
zu können. Dazu gehören materielle Hilfen, das ist wich-
tig, aber selbstverständlich auch immaterielle Hilfen, zu
denen meine Kolleginnen und Kollegen noch näher Stel-
lung nehmen werden.

Auch die Kinder und Jugendlichen in den Heimen der
DDR haben Leid und Unrecht erlitten. Deswegen haben
wir gesagt, wir halten es für notwendig, auch für die ehe-
maligen Heimkinder in der DDR Hilfsangebote vorzuse-
hen und diese an den Empfehlungen des Runden Tisches
Heimerziehung zu orientieren.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sind einen wichtigen Schritt weitergekommen,
um für die ehemaligen Heimkinder wenigstens im An-
satz zu versuchen, Wiedergutmachung herzustellen.
Selbstverständlich wird Leid – egal welche Summe be-
zahlt wird – nicht ausreichend bzw. angemessen ausge-
glichen werden können. Aber es war wichtig, diese Ar-
beit zu leisten, auch die Arbeit des Runden Tisches, der





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

stattgefunden hat. Ich möchte mich noch einmal im Na-
men aller bei denjenigen bedanken, die sich diese Jahre
Zeit genommen haben, an diesem Runden Tisch mitzu-
wirken, die es versucht und vielleicht auch geschafft ha-
ben, all das etwas menschlicher erscheinen zu lassen.

Wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass
unser aufrichtiges Bedauern, unser aufrichtiges Mitge-
fühl im Hinblick auf dieses düstere Kapitel unserer Ge-
schichte nicht nur in Worten zum Ausdruck kommt. Als
Deutscher Bundestag wollen wir auch darangehen, kon-
krete Maßnahmen zu ergreifen und eine finanzielle Re-
habilitierung der Opfer zu ermöglichen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711416300

Die Kollegin Rupprecht hat für die SPD-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1711416400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

2003 wurde in Deutschland der Film mit dem deutschen
Titel Die unbarmherzigen Schwestern gezeigt. Er han-
delte von der Heimerziehung in Irland. Viele von uns
werden ihn nicht gesehen haben, aber einige ehemalige
Heimkinder haben ihn gesehen. Das löste bei ihnen Fol-
gendes aus: All das, was sie glaubten ganz tief in sich
vergraben zu haben – sie meinten, so mit ihrer Vergan-
genheit abgeschlossen zu haben –, brach wie bei einem
Vulkan aus ihnen heraus. Alle Verletzungen, alle Hilflo-
sigkeit waren auf einmal wieder da.

Diese betroffenen Menschen haben sich an Journalis-
ten und auch an das Parlament gewandt, und zwar an
eine Kollegin, die heute gar nicht mehr im Bundestag ist,
und haben gesagt: Wir wollen darüber reden. – Denn
Menschen, die Traumatisierungen, die schreckliche
Dinge erleben, ob Misshandlung oder Missbrauch oder
seelische Zerstörung, müssen ja weiterleben. Was tun
sie? Sie müssen all das ganz tief vergraben, damit sie
überleben können. Wenn aber das, was tief vergraben ist,
wieder hervorkommt, brauchen sie Hilfe. Dieser Schrei
nach Hilfe ging an die Öffentlichkeit.

Meine Kollegin sprach mich damals an und sagte: Du
bist doch für Heimerziehung in der Bundesrepublik zu-
ständig. Ich antwortete: Ja, ich bin Kinderbeauftragte
und bin auch für Jugendhilfe zuständig. Ich wusste da-
mals nicht, dass es um erwachsene Menschen in meinem
Alter ging.

Ich habe mich damit auseinandergesetzt. Im Spiegel
erschien immer wieder einmal ein Artikel des Journalis-
ten Peter Wensierski über Heimerziehung und über
Filme zu diesem Thema. Die erste Reaktion war eher
eine Ablehnung dessen, was man gelesen hat, weil man
einfach nicht wahrhaben wollte, dass so etwas nach dem
Krieg in der Bundesrepublik passiert ist: Menschen-
rechtsverletzungen, Zerstörung von Menschen, von Per-
sönlichkeiten.

Ich bin heute Mittag ins Internet gegangen, weil ich
mir noch einmal vergegenwärtigen wollte, warum ich
damals gekämpft habe. Ich habe mir das Buch des ge-
nannten Spiegel-Journalisten, Schläge im Namen des
Herrn, noch einmal angesehen. Ich habe mir noch ein-
mal eines der Schicksale von Menschen, die ich zum
Teil kenne, vor Augen geführt. Immer wieder bin ich da-
von betroffen. Ich habe dann noch einmal die Berichte
der Menschen anlässlich des Treffens in Torgau aufgeru-
fen und über Strafen und Belobigungen nachgelesen. Ich
habe gedacht: Egal worauf die Kinder und Jugendlichen
getrimmt werden sollten, sie sind in beiden Systemen
misshandelt worden. In beiden Systemen sind sie kaputt-
gemacht worden.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich habe damals mit dem Spiegel-Journalisten und
auch mit Betroffenen Kontakt aufgenommen. Ein erster
Verein wurde gegründet. Ich war zusammen mit
Gabriele Lösekrug-Möller, Josef Winkler und Herrn
Schiewerling Mitglied im Petitionsausschuss. Daher hat-
ten wir Erfahrung mit Petitionsarbeit. Ich habe gesagt:
Da wir nicht auf Grundlage eines Gesetzes helfen kön-
nen – alles ist verjährt –, ist das Einzige, was wir tun
können, das in Anspruch zu nehmen, was unser Grund-
gesetz in einem solchen Fall für Bürger bereithält, näm-
lich das Recht der Beschwerde und der Eingabe über den
Petitionsausschuss. So kamen die ersten beiden Petitio-
nen, die Herr Wensierski vom Spiegel und Herr
Schiltsky vom Verein ehemaliger Heimkinder geschrie-
ben haben, in den Petitionsausschuss.

Ich kann mich noch gut an die Sitzung erinnern, zu
der wir die ersten Betroffenen eingeladen haben. Noch
nie habe ich Kollegen so erschüttert und mit Tränen in
den Augen erlebt wie damals, als sie hörten, was mit
Kindern gemacht wurde – die heute noch nicht wissen,
warum das mit ihnen gemacht wurde. Für manche war es
das erste Mal, dass sie darüber gesprochen haben.

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Ein junges
Mädchen ist schwanger und bekommt ein Kind. Sie ist
nicht volljährig; damals lag das Volljährigkeitsalter noch
bei 21 Jahren. Nach der Entbindung nimmt man ihr das
Kind weg. Dieses Kind weiß nicht, warum es wegge-
nommen wird. Es kommt in ein Säuglingsheim. Von da
gerät es in die Erziehungsmaschinerie und erfährt nie,
warum es eigentlich dort ist. Schon im Säuglingsheim
erlebt es aber nur eines: Es ist niemand da, der ihm Hilfe
gibt und es unterstützt. Es hat keine Tante, keinen Onkel,
keine Oma oder Opa, zu der oder dem es flüchten kann,
sondern ist gnadenlos ausgeliefert. – Das muss man sich
einmal vor Augen führen.

Deshalb hat sich der Petitionsausschuss sehr ernsthaft
und intensiv zwei Jahre lang damit beschäftigt. Nach
diesen zwei Jahren wussten wir zwar vieles mehr. Wir
wussten aber nicht, wie wir es regeln können. Der Peti-
tionsausschuss hat nicht so viele Instrumente zur Verfü-
gung. Wir haben dann ein neues Instrument erdacht,





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)

nämlich einen Runden Tisch, mit allen, die beteiligt wa-
ren und sind, und Nachfolgenden.

Man kann wirklich viel über diesen Bundestag und
über Politiker schimpfen. Wir haben es aber dort und
auch weiterhin geschafft – darüber freue ich mich, so
schlimm der Anlass ist, aus dem heraus wir heute debat-
tieren müssen –, gemeinsam etwas auf den Weg zu brin-
gen, indem wir sagen: Wir stellen uns der Verantwor-
tung. Wir übernehmen diese Verantwortung. Wir werden
das Leid nicht ungeschehen machen. Wir wollen, dass
Menschen Zugang zu dem haben, was ihnen passiert ist,
und dass sie darüber reden können. Wir wollen, dass Ak-
ten nicht mehr vernichtet werden, sondern dass das
Ganze auch für die Nachwelt dokumentiert wird. Viele
Betroffene leben heute in Not und Armut. Sie sollen jetzt
Unterstützung bekommen, angesetzt am heutigen Leid.

Es ist gut, Menschen dafür zu gewinnen und sie zu
überzeugen. Wir hatten nämlich keine Rechtsgrundlage,
sondern mussten mit gutem Willen alle an den Runden
Tisch bitten. An diesem Runden Tisch mussten wir erst
manche Hürden überwinden, die von außen kamen, um
dann gemeinsam sagen zu können: Wir wollen diesen
Menschen konkrete Hilfe geben, über Beratungsstellen,
also über das Angebot von Beratung, und finanziell.

Wir hatten von Anfang an die Kinder aus den Heimen
im Osten nicht mit einbezogen, und zwar deshalb, weil
der Petitionsausschuss kein Selbstbefassungsrecht hat.
Wir durften sie nicht mit aufnehmen. Wir haben aber im-
mer mit an sie gedacht. Mit Blick auf sie haben wir im-
mer überlegt, was wir für sie tun können. Wir können
nicht zweierlei Recht schaffen. Wir können weder nur
für Heimkinder im Westen noch nur für Heimkinder im
Osten oder nur für Kinder in der Psychiatrie oder nur für
Kinder in Behinderteneinrichtungen Recht schaffen. Wir
brauchen ein Recht für alle Menschen, die in Deutsch-
land als Kinder und Jugendliche Menschenrechtsverlet-
zungen erlitten haben.

Deshalb bringen wir heute gemeinsam einen Antrag
ein. Ich danke Ihnen allen für Ihre Bereitschaft dazu und
für die konstruktive Zusammenarbeit.

Es wird noch manches zur Überwindung notwendig
sein. Die Jugend- und Familienministerkonferenz – und
damit der Bundesrat – hat bereits für sich entschieden,
für die Westeinrichtungen die Dinge auf den Weg zu
bringen. Für die Heimkinder im Osten wurde jetzt aus
Sachsen ein Antrag eingebracht.

Ich hoffe, dass wir das Ganze schnell auf den Weg
bringen können und eine gemeinsame Lösung hinbe-
kommen. Es darf nicht passieren, dass sie im Parteige-
harke untergeht. Das wäre fatal, weil wir den betroffenen
Menschen damit nicht helfen. Zwar können wir ihnen
die Last nicht abnehmen; aber wir können ihnen zumin-
dest sagen: Wir unterstützen euch, damit ihr aus dem
Elend herauskommt, in das ihr, was wir als Gesellschaft
zugelassen haben, hineingestoßen wurdet. Die Betroffe-
nen sollen wieder aufrecht gehen können, das erste Mal
durchatmen und ihren Familien und Kindern darüber be-
richten können.
Ich hoffe, dass wir das ganz zügig schaffen, sodass
wir bereits am 1. Januar 2012 die große Stelle in Angriff
nehmen können und die ersten Auszahlungen vorneh-
men können.

Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kolle-
gen, die all die Jahre ganz nah an den betroffenen Men-
schen gearbeitet haben, statt über Pressemitteilungen
und Ähnliches Öffentlichkeit zu suchen. Das ist ein
Lichtblick für den Bundestag.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711416500

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Laurischk das

Wort.


Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1711416600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem

Antrag „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der
Heimerziehung wirksam helfen“ richten wir den Blick
auf die deutsche Geschichte. Im Frühjahr 2006 kamen
die ersten Petitionen im Petitionsausschuss an, die sich
mit dem Thema Heimerziehung in den 50er- und 60er-
Jahren in der damaligen Bundesrepublik befassten.

Ziel der Petenten war, das erzieherische Unrecht, wel-
ches ihnen als Kindern und Jugendlichen in der Heim-
erziehung zugefügt wurde, öffentlich zu machen und
eine finanzielle Wiedergutmachung zu erlangen. Ich
möchte mich an dieser Stelle gerade auch bei diesen Pe-
tenten für ihren Mut bedanken, dieses Thema zum
Thema zu machen und nicht still zu leiden, sondern es
dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich in den
Bundestag.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


2008 kam der Petitionsausschuss zu dem Ergebnis
– der Kollege Jens Ackermann, der damals Mitglied die-
ses Ausschusses war, hat mich gerade darauf hingewie-
sen –, dass das Thema nicht mit einer Beschlussfassung
abschließend behandelt werden kann, sondern dass die
verjährten Ansprüche eine weitere Behandlung erfor-
dern.

Es kam seinerzeit durch einen gemeinsamen Be-
schluss des Bundestages zur Gründung eines Runden Ti-
sches, der sich ausführlich mit der Heimerziehung be-
fasst hat. Das hat zwei Jahre gedauert. Anfang dieses
Jahres wurde uns als Ergebnis der Bericht des Runden
Tisches überreicht. Wir haben uns als Mitglieder des Fa-
milienausschusses und des Rechtsausschusses mit dem
Bericht befasst, der für uns auch Leitfaden für die wei-
tere Beratung und Beschlussfassung war.

Es war für uns eine wichtige Erfahrung, fraktions-
übergreifend zu arbeiten. In den Beratungen waren im-
mer alle Fraktionen vertreten, und wir haben uns sehr
sachlich und im Bewusstsein der Problematik ausge-
tauscht.





Sibylle Laurischk


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben insbesondere erkannt, dass das erlittene
Unrecht Anerkennung finden muss. Wir stellen uns die-
sem Unrecht und der Problematik der Menschen, die es
erlitten haben, und wir bedauern es ausdrücklich.

Wir sind auch der Meinung, dass eine finanzielle Ent-
schädigung notwendig ist. Wir haben Vorschläge ge-
macht, wie eine solche Entschädigung auszusehen hat.
Die verschiedenen Träger sind daran zu beteiligen.

Wir sind im Übrigen über das Ergebnis des Runden
Tisches hinausgehend zu dem Ergebnis gekommen, dass
das Schicksal der Heimkinder im Osten aufgegriffen
werden muss. Auch das Leid von Kindern und Jugendli-
chen in Heimen in der DDR ist ernst zu nehmen. Es darf
keinesfalls bagatellisiert oder vergessen werden.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu bedarf es aber einer weiteren Aufarbeitung und
Aufklärung der Vorgänge in der DDR. Das wird eine
Aufgabe sein, der wir uns im Weiteren zu stellen haben.

Die Heimkinder in den 50er- und 60er-Jahren, bis in
die 70er-Jahre hinein, wurden in Deutschland drangsa-
liert, gedemütigt, oftmals verprügelt und vernachlässigt.
Die Opfer haben schweres Leid und Unrecht erlebt. Sie
waren körperlicher, seelischer und auch sexueller Ge-
walt hilflos ausgesetzt. Dabei waren die Kinder und auch
die betroffenen Familien dem unmenschlichen System
zum Teil schutzlos ausgeliefert.

Es gab weder eine Aufsichts- noch eine Eingriffs-
ebene. Verantwortlich für das erlebte Leid waren sowohl
staatliche Organe als auch Träger der Einrichtungen,
Heimleitungen und -personal, auch Eltern, Vormünder
und Pfleger.

Wir sind auch zu dem Ergebnis gekommen, dass es
nicht nur Halbwüchsige und Jugendliche waren, die be-
troffen waren, sondern teilweise auch – das wurde schon
angeschnitten – ganz kleine Kinder und Säuglinge. Ich
erinnere mich gut an die Aussage einer betroffenen Frau,
die nur relativ kurz in einem solchen Säuglingsheim war,
aber zu mir sagte: Ich bin damals in diesem Heim see-
lisch gestorben.

Viele ehemalige Heimkinder haben noch heute mit
den Folgen der physischen und psychischen Misshand-
lungen zu kämpfen. Die Betroffenen leiden unter der le-
benslangen Traumatisierung mit erheblichen Konse-
quenzen für sich selbst und auch für ihre Umgebung.
Alle Beteiligten der Arbeitsgruppe im Bundestag waren
sich deshalb einig, dass die Auseinandersetzung mit die-
sem Thema nicht durch die Übergabe des Abschlussbe-
richts erledigt sein kann und die Arbeit des Runden Ti-
sches nicht folgenlos bleiben darf. Die FDP-Fraktion
hält es insbesondere für wichtig, im Anschluss an die Ei-
nigung des Runden Tisches auch eine Einigung im Bun-
destag zu erzielen. Wir begrüßen es daher, dass alle
Fraktionen bis zum Schluss zusammengearbeitet haben.
Die gute Zusammenarbeit über alle Fraktionsgrenzen
hinweg zeigt, dass sich jeder Einzelne der Notwendig-
keit der Aufarbeitung des erlittenen Unrechts bewusst
war.

Die Auseinandersetzung mit der Situation der Heim-
kinder dient allerdings nicht nur der Vergangenheitsbe-
wältigung. Ich halte es auch für wichtig, dass eine gesell-
schaftliche Aufarbeitung mit Blick in die Zukunft
stattfindet. Die Eingriffe in die Freiheitsrechte der Kin-
der und Jugendlichen und die Eingriffe in ihre körperli-
che Unversehrtheit müssen uns zu der Erkenntnis füh-
ren, dass nur ein funktionierender Rechtsstaat vor einer
Wiederholung schützt. Nur ein funktionierender Rechts-
staat garantiert, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die
Opfer der damaligen Heimerziehung haben ein Anrecht
darauf, dass sich Politik und Gesellschaft mit den Ge-
schehnissen auseinandersetzen. Die Frage der Wieder-
gutmachung und der Hilfestellung muss für die Betroffe-
nen abschließend und zufriedenstellend geklärt werden.
Der vorgelegte Antrag ist ein eindeutiger Auftrag an die
Bundesregierung, eine umfassende Lösung bis zum Jah-
resende vorzulegen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711416700

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dittrich

das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711416800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Sehr geehrte ehemalige Heimkinder! Die
ehemaligen Heimkinder, die Gewalt und Misshandlun-
gen in der Heimerziehung der Bundesrepublik Deutsch-
land erlebt haben, wurden so stark diskriminiert, dass sie
oft 30 Jahre benötigten, um über ihr Schicksal zu spre-
chen. In der Bundesrepublik waren nach der Gründung
1949 bis 1975 in 3 000 Heimen fast 800 000 Kinder und
Jugendliche betroffen.

Aber die Opfer sind an die Öffentlichkeit gegangen,
und zwar nicht mit Hilferufen, sondern mit Forderungen.
Sie haben Demonstrationen organisiert und Petitionen
im Bundestag eingereicht. Sie haben es geschafft, dass
heute über ihre Forderung nach einer monatlichen Ent-
schädigung im Bundestag gesprochen wird. Es ist er-
staunlich, dass alle anderen Fraktionen in ihrem gemein-
samen Antrag nichts zu den Möglichkeiten der Wieder-
gutmachung und dem finanziellen Teil gesagt haben. Für
die entgangenen Lebenschancen und die Verletzungen
der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrt-
heit sind Entschädigungsforderungen der ehemaligen
Heimkinder in Höhe von einer monatlichen Zahlung von
300 Euro oder – hochgerechnet auf 15 Jahre – von
54 000 Euro wohl das Mindeste, was als Versuch der
Wiedergutmachung gezahlt werden sollte.


(Beifall bei der LINKEN)


Daher haben wir als Linke uns dem Antrag der ande-
ren Fraktionen nicht angeschlossen;





Heidrun Dittrich


(A) (C)



(D)(B)


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist ein bisschen Geschichtsklitterung! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht hat das damit zu tun, dass vom Unrechtsstaat DDR die Rede war!)


wir haben vielmehr einen eigenen Antrag eingebracht,
der einen Anspruch der Opfer auf Entschädigung nach
einem Gesetz für die Opfer ehemaliger Heimerziehung
vorsieht. Sie, meine Damen und Herren der anderen Frak-
tionen, entscheiden nach Kassenlage. Sie erklären, dass
die Möglichkeit einer Klage nicht besteht, weil die An-
sprüche verjährt sind. Ein Opferverband hat 1 000 Betrof-
fene gefragt, was sie möchten. Von diesen 1 000 haben
nur 9 Prozent gesagt: Wir nehmen die Empfehlung des
Runden Tisches an. 88 Prozent haben gesagt: Dieser
Spatz in der Hand ist uns zu klein.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja extrem repräsentativ! Eine Internetumfrage – toll!)


Jetzt komme ich zu den Empfehlungen des Runden
Tisches. Mit 18 Vertretern der evangelischen Kirche, der
katholischen Kirche, der staatlichen Heimträger, der
Vertreter der Landesjugendämter, der Bundesländer und
mit nur drei betroffenen Heimkindern haben Sie getagt.
Die Zustimmung zu Ihrem Vorschlag einer freiwilligen
Fondsregelung anstelle eines gesetzlichen Anspruchs ha-
ben Sie von den Heimkindern mit dem Ausspruch er-
presst: Sonst gibt es gar nichts.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unfug! Sie waren doch gar nicht dabei!)


Das allein ist schon ein Skandal.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie sind ein Skandal!)


Sie sind erneut würdelos mit den betroffenen Opfern
umgegangen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Ich habe die entsprechenden Briefe dabei. Ich kann sie
ja vorlesen.

Von den sechs abstimmungsberechtigten Betroffenen,
die an der letzten Sitzung teilgenommen haben, zogen
fünf ihre Zustimmung zurück.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stehen unter Druck!)


Das heißt, Sie beschließen an den Opfern vorbei.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711416900

Kollegin Dittrich, gestatten Sie eine Frage der Kolle-

gin Rupprecht?


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417000

Sie, meine Damen und Herren, wollen hiermit Un-

recht relativieren. Sie schreiben auf Seite 2 Ihres An-
trags, dass es auch fürsorgliche Heime gab.

Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417100

Kollegin Dittrich, noch einmal: Gestatten Sie eine

Frage der Kollegin Rupprecht?


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417200

Ja.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1711417300

Ich möchte keine Frage stellen, Frau Präsidentin.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417400

Natürlich können Sie auch eine Feststellung treffen.


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417500

Wenn Sie keine Frage stellen, dann können wir später

darüber sprechen.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1711417600

Die Kollegin Dittrich behauptet, dass die ehemaligen

Heimkinder am Runden Tisch – sechs waren es – unter
Druck gesetzt und erpresst wurden. Ich war für den Peti-
tionsausschuss Mitglied des Runden Tisches. Ich möchte
hier feststellen, dass ich es nie zugelassen hätte, dass ir-
gendjemand erpresst oder unter Druck gesetzt wird.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Aufgabe am Runden Tisch war, darauf zu ach-
ten, dass die Vorgaben des Petitionsausschusses umge-
setzt werden. Egal wer was im Nachhinein behauptet: Es
stimmt so nicht.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das weiß Frau Dittrich auch! Das haben wir ihr ja schon mal erzählt!)



Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417700

Dann muss ich mich wohl auf das Brieflein vom Lan-

dessprecher der ehemaligen Heimkinder Niedersachsens
beziehen, in dem auch Sie angesprochen werden, Frau
Marlene Rupprecht. Er beschreibt eindeutig, dass die
Zustimmung erpresst wurde. Diese Aussage liegt hier
schriftlich vor. Das Ganze ging auch an die SPD und an
Sie.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann steht wohl Aussage gegen Aussage! Es waren ja noch ein paar mehr beim Runden Tisch dabei!)


Es gibt auch noch andere, die geschrieben haben.


(Burkhard Lischka [SPD]: Ein bisschen rumgoogeln, und dann geht’s los!)


Von den sechs, die berechtigt waren, an der Abschluss-
abstimmung teilzunehmen, haben bereits fünf ihre Zu-
stimmung wieder zurückgezogen. Das bedeutet: Sie be-
schließen an den Opfern vorbei.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Was wollen Sie denn eigentlich?)






Heidrun Dittrich


(A) (C)



(D)(B)

In einem echten Täter-Opfer-Ausgleich wird zunächst
die Schuld anerkannt. Man geht auf die Opfer zu und
bietet eine Wiedergutmachung, meist finanzieller Art,
an.


(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Unerträglich!)


Diese Opfer mussten sich aber durchkämpfen.

Sie schreiben, dass es fürsorgliche Heime gab. Heime
mit Schutz, Geborgenheit und Schulausbildung ohne Ar-
beitszwang? Nennen Sie diese Heime jetzt. Wo sind die
Generationen von Heimkindern, die diese Heime erlebt
haben?


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Keine Ahnung haben Sie! – Sibylle Laurischk [FDP]: Völlig verfehlt!)


Welche Bedingungen gab es dort, die es woanders nicht
gab?

Sie selbst zählen auf den Seiten 3 und 4 Ihres Antrags
alle Verantwortlichen für die Heimerziehung auf: die
Vormünder, die Pfleger, die Jugendämter, die Landesju-
gendämter, die Heimträger, die Gerichte und weitere.
Wer fehlte eigentlich? Die gesamte staatliche Gewalt
war beteiligt. Kinder und Jugendliche waren – dem stim-
men auch Sie zu – rechtlich ausgeliefert; sie befanden
sich in einer Situation der Ohnmacht. Sie behaupten, den
Opfern werde geglaubt; aber die Entschädigung weisen
Sie zurück.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417800

Frau Kollegin Dittrich, kommen Sie bitte zum

Schluss und beachten Sie das Signal.


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711417900

Dennoch weinen Sie hier fast Krokodilstränen und

wollen nicht entschädigen. Wir fordern dagegen eine ge-
setzliche Entschädigung. Der von Ihnen vorgeschlagene
Fonds mit 120 Millionen Euro bedeutet, dass für Rehabi-
litationen, die eigentlich Krankenkassenleistungen sind,
der Krankenkasse 100 Millionen Euro zur Verfügung
stehen und dass nur die restlichen 20 Millionen Euro di-
rekt ausgezahlt würden. Für nur 30 000 Antragsteller be-
deutete das eine Einmalzahlung von 666 Euro.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt bitte schön „nur“? Wie viele Milliarden hätten Sie denn gern?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711418000

Kollegin Dittrich, ich bitte Sie jetzt wirklich, zum

Schluss zu kommen.


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711418100

Mit der Umsetzung Ihres Vorschlags kämen die Kir-

chen, der Staat und die Betriebe, die wir ebenfalls heran-
ziehen wollen, sehr billig davon. Schaffen Sie als Ge-
setzgeber Recht! Schaffen Sie ein Entschädigungsge-
setz!


(Dagmar Ziegler [SPD]: Peinlich, peinlich!)


– Peinlich bei Ihnen.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie sind nur peinlich!)


– Sie lügen sogar hier im Parlament.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE] – Weitere Zurufe: Peinlich!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711418200

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Dörner das Wort.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711418300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Dittrich, ich finde es
sehr traurig und auch sehr unangemessen, wie durch Ih-
ren Redebeitrag die sehr gute und immens wichtige Ar-
beit des Runden Tisches Heimkinder hier diffamiert
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Das hätte bei solch einem interfraktionellen Antrag und
einer so großen Einigkeit hier im Parlament wirklich
nicht sein dürfen.

Ich möchte mit einigen Sätzen eines ehemaligen
Heimkindes beginnen, die so in dem Materialband des
Runden Tisches Heimkinder dokumentiert sind:

Wärme, Zuneigung und Geborgenheit gab es nicht.
Dafür gab es aber Demütigungen, Schläge und Er-
niedrigungen im Überfluss. Als ich einmal nachts
ins Bett nässte, musste ich am nächsten Morgen vor
der versammelten Gruppe den gestreiften ‚Bettnäs-
ser-Schlafanzug‘ anziehen. … Alle Kinder sollten
einen ihrer Schuhe/Hausschuhe ausziehen, mir da-
mit auf den Po schlagen und mich dabei laut als
Bettnässer beschimpfen.

Diese Sätze sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt des-
sen, was der Runde Tisch Heimkinder in den letzten Jah-
ren aufgearbeitet und dokumentiert hat. Aber ich denke,
er gibt uns einen kleinen Einblick in die damalige Le-
bensrealität in vielen Heimen und lässt uns vielleicht
auch die Gefühlswelt der Kinder und Jugendlichen, die
dem ausgesetzt waren, ein bisschen verstehen.

Klar ist: Nichts, was der Deutsche Bundestag be-
schließt, kann dem Unrecht und dem Leid, das viele Kin-
der in Heimen erfahren haben, irgendwie gerecht wer-
den. Viele Leben wurden in ganz jungen Jahren auf sehr
schwierige Gleise gesetzt, oft – wir wissen das aus den
Gesprächen mit den Heimkindern – mit schwerwiegen-
den Folgen bis heute. Das kann nicht wiedergutgemacht
werden.

Was aber geschehen kann, ist, die heutige Lebens-
situation der ehemaligen Heimkinder zu verbessern. Das
ist es, was wir tun wollen.

Hier kann die Arbeit des Runden Tisches Heimkinder
aus meiner Sicht gar nicht oft genug hervorgehoben wer-
den, der hierzu sehr konkrete Empfehlungen unterbreitet
hat. Ich möchte an dieser Stelle der Vorsitzenden des
Rundes Tisches, Frau Dr. Antje Vollmer, und gerade den





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

involvierten Heimkindern im Namen aller Fraktionen,
die den interfraktionellen Antrag eingebracht haben,
ausdrücklich danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Als Deutscher Bundestag wollen wir die Empfehlun-
gen des Runden Tisches Heimkinder sehr schnell umset-
zen. Schon zum kommenden Jahr soll ein Fonds bzw.
eine Stiftung arbeitsfähig sein, die, konkret mit
120 Millionen Euro ausgestattet, Rentenansprüche aus-
gleicht und Entschädigungen an die ehemaligen west-
deutschen Heimkinder zahlt.

Es ist mir wichtig, an dieser Stelle noch einmal auf
die Anlauf- und Beratungsstellen hinzuweisen, die nun
von den Ländern eingerichtet werden; denn die mate-
rielle Frage ist ja immer nur eine Frage. Sie ist zwar eine
sehr wichtige Frage; aber mit ihrer Lotsenfunktion neh-
men diese Anlaufstellen eine sehr wichtige Aufgabe
wahr.

Mit der Würdigung der Leistungen des Runden Ti-
sches wird aber auch deutlich, wie viele Schicksale tat-
sächlich noch aufzuarbeiten sind. Für die Aufarbeitung
des Unrechts gegenüber den Heimkindern in der DDR
ist ein Anfang gemacht. Uns allen ist auch klar, dass es
keine Opfer erster und zweiter Klasse geben darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Nicht unterschieden werden darf zwischen Ost und
West, aber auch nicht entlang der Frage, in welcher Ein-
richtung den Kindern und Jugendlichen Unrecht angetan
wurde, ob in einem Säuglingsheim, ob im Fürsorgeheim
oder in Einrichtungen der Kinderpsychiatrie oder der
Behindertenhilfe. Ich bin sehr froh, dass wir in unserem
Antrag auch einen Prüfauftrag verankern konnten.

Ich möchte abschließend einen kurzen Blick in die
Zukunft werfen. Viel Unrecht war in den Heimen ja auch
deshalb möglich, weil es Strukturen gab, die kein Kor-
rektiv hatten, und weil Kinder und Jugendliche selber
nicht beteiligt waren und sich nicht selber einbringen
konnten. Hier hat sich in den letzten Jahren zum Glück
sehr viel getan. Aber ich würde mir wünschen, dass wir
gemeinsam auch in die Zukunft blicken und schauen,
wie man den Rechten von Kindern und Jugendlichen
auch in der Kinder- und Jugendhilfe selbst stärkeres Ge-
wicht verleihen kann. Beispielsweise den Bereich der
Ombudschaft, der auch in den Empfehlungen des Run-
den Tisches vorkommt, halte ich für sehr zukunftswei-
send.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Rechtshilfe!)


In den Gesprächen mit den Heimkindern und auch im
Bericht des Runden Tisches wird ja deutlich, dass es den
ehemaligen Heimkindern gerade auch darum geht, dass
es den Kindern und Jugendlichen, die heute in den Ein-
richtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind, gut geht.
Das hat mich immer sehr berührt, wenn dieser Aspekt in
den Gesprächen genannt wurde. Ich finde, dass wir uns
bemühen sollten, dieses Signal aufzugreifen und dieses
Ziel in unsere zukünftige Arbeit im Bereich der Kinder-
und Jugendhilfe mitaufzunehmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711418400

Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin

Winkelmeier-Becker.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1711418500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir haben heute mehrfach auch Einzel-
heiten darüber gehört, was Heimkindern widerfahren ist.
Diese Geschichten machen uns immer sehr betroffen.
Viele Menschen haben darunter viele Jahrzehnte gelit-
ten, nicht nur in den Zeiten, die sie in Heimen verbracht
haben, sondern das hat vielfach ihr ganzes Leben ge-
prägt. Sie konnten lange Zeit nicht darüber sprechen,
weil es zu schwer war, weil es geradezu unaussprechlich
war, aber auch, weil es keiner hören und glauben wollte.
Diese Lebensgeschichten müssen jetzt erzählt werden,
sie müssen jetzt gehört werden. Dazu haben der Peti-
tionsausschuss und dann der „Runde Tisch Heimerzie-
hung“ das Forum gegeben. Es wurde daraufhin in der öf-
fentlichen Diskussion aufgegriffen. Jetzt ist es an uns,
am Parlament, daraus die Konsequenzen zu ziehen.

Schon die bisherige Diskussion ist nicht ohne Wir-
kung geblieben. Sie verändert auch unseren Blick retro-
spektiv auf die Zeit, in der das alles geschehen ist. Wir
müssen daraus aber auch Lehren ziehen für das, was
heute in der Jugendhilfe geschehen muss. Ich finde es
toll, dass die Heimkinder nicht nur ihre eigene Situation
in den Mittelpunkt stellen, sondern auch dafür eintreten,
dass sich das, was sie erfahren haben, oder Ähnliches nie
wieder ereignet.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich weiß natürlich, dass Heimerziehung heute ganz
anders läuft als damals, dass das nicht vergleichbar ist.
Es kommt aber in Einzelfällen immer noch vor, dass
Kinder wehrlos bzw. ausgeliefert sind. Wir müssen alle
dafür sensibilisieren, dass sie schutzbedürftig sind und
nicht verletzt werden dürfen.

Der jetzt vorliegende fraktionsübergreifende Antrag
knüpft an die Ergebnisse des „Runden Tisches Heim-
erziehung“ an. Als ich zum ersten Mal gelesen habe, was
der Bericht empfiehlt, habe ich mir gedacht, dass das
wirklich nicht üppig ist. Der Umfang der finanziellen
Leistungen in Höhe von 120 Millionen Euro ist sehr
überschaubar. Auch die Tatbestände, bei deren Vorliegen
Hilfe geleistet werden soll, sind nicht sehr weit gefasst.
Im Wesentlichen beschränkt man sich auf den Ersatz für
verpasste Rentenanwartschaften – für den entsprechen-





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)

den Rentenersatzfonds sind 20 Millionen Euro vorgese-
hen – sowie auf die Bewältigung gesundheitlicher oder
traumatischer Folgen, die nicht über die Krankenversi-
cherung abgedeckt sind, und auf Hilfen bei der Aufklä-
rung, was ja auch sehr wichtig ist. Dafür sollen 100 Mil-
lionen Euro zur Verfügung gestellt werden.

Ehe wir das bewerten, sollten wir die Ausgangslage
berücksichtigen. Da gibt es zum einen schlichtweg den
Befund, dass hier Sachverhalte zur Bewertung anstehen,
die nur sehr schwer aufgeklärt werden können. Dann
muss man sicherlich auch sehen, dass Heimerziehung
nicht per se und grundsätzlich immer nur als schädlich
angesehen werden darf. Wir haben ja zum Glück auch
Aussagen von Heimkindern gehört, in denen sie von lie-
bevoller Erziehung und Zuwendung berichtet haben oder
Problemlagen aufgezeigt haben, bei denen die Heim-
erziehung die bessere Alternative darstellte. Vor allem
ist es aber so, dass alle Schadensersatzansprüche verjährt
sind. Man kann die Haftung zulasten der Täter oder Trä-
ger auch nicht wiederbeleben. Deshalb gibt es an dieser
Stelle keine zwingende Grundlage und auch keinen An-
lass für den Bund, hier komplett für ausgleichende Ge-
rechtigkeit zu sorgen und umfänglichen Schadensersatz
zu leisten.

Vor diesem Hintergrund ist das, was nun herausge-
kommen ist, kein schlechtes Ergebnis. Man muss auch
sehen, dass Länder und Kirchen, in deren Verantwor-
tungsbereich die Missstände bestanden haben, gemein-
sam mit dem Bund diese Lösung gefunden haben und
der Bund in diesem Rahmen auch seinen Beitrag leistet.

Ich möchte mich auch dafür einsetzen, dass die Aus-
gaben des Bundes dafür nicht komplett im Einzelplan 17
untergebracht werden; denn das würde bedeuten, dass
die Aufarbeitung des damaligen Leides auf Kosten der
Kinder und Jugendlichen von heute erfolgt. Das wäre so
ziemlich das Letzte, was im Sinne der Heimkinder von
damals wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Antrag bezieht auch die Heimkinder in der DDR
mit ein, obwohl diese nicht Gegenstand des Runden Ti-
sches waren. Aber die Diskussion am Runden Tisch hat
auch das Bewusstsein für das Unrecht, das den Heimkin-
dern in der DDR widerfahren ist, geschärft. Auch sie ha-
ben Petitionen eingereicht. Ein bisschen schade ist, dass
wir die Aufarbeitung nicht parallel betrieben haben. Es
gibt aber bereits Vorarbeiten, zum Beispiel der Initiative
Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Ich habe gehört,
dass sich unter den Besuchergruppen eine Abordnung
der Initiative des Jugendwerkhofs Torgau befindet.
Wenn das stimmt, dann seien Sie herzlich gegrüßt.


(Beifall)


Bei der weiteren Aufarbeitung werden wir sowohl
Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den
Situationen im Osten und im Westen feststellen. Eine
Gemeinsamkeit ist eine aus heutiger Sicht teilweise mo-
ralisch verstaubte und autoritäre Pädagogik, die allzu
schnell von Verwahrlosung ausging, die alleinerziehen-
den Müttern die Erziehungsfähigkeit generell absprach
und die auch ein anderes Verhältnis zu Strafen hatte. Auf
beiden Seiten werden wir Strafmethoden finden, die
auch über das damalige Maß hinausgingen.

Es war aber eine Spezialität der DDR, den Hilfebe-
darf selbst herbeizuführen. Zum Beispiel wenn die Ent-
scheidung einer Familie, das Land zu verlassen und an-
derswo zu leben, oder wenn allein Kritik am politischen
System so kriminalisiert wurde, dass die Eltern in die
Haft gesteckt wurden und die Kinder ins Heim mussten,
dann ist das eine Besonderheit dieses Staates.

Es ist eine Spezialität der DDR, dass der Staat mit-
hilfe der Heime sein Menschen- und Gesellschaftsbild
durchsetzen und den Familien aufoktroyieren wollte.
Deshalb ist das Unrecht an dieser Stelle nicht vergleich-
bar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Aspekt der politischen Verfolgung ist im Wesent-
lichen bereits durch die Rehabilitationsgesetze aufge-
griffen. In dem vorliegenden Antrag geht es mehr um
den Aspekt, dass pädagogische Gründe dazu geführt ha-
ben, Kinder in Heime zu stecken. Das von den Opfern
empfundene Leid ist gleich. Deshalb ist das der entschei-
dende Blickwinkel des Staates und unser Grund dafür,
bei dem Engagement für die Opfer auf beiden Seiten den
gleichen Maßstab anzulegen. Deshalb soll sich der Bund
mit einem Drittel an den Kosten für die entsprechenden
Maßnahmen zugunsten der Opfer in der DDR beteiligen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass das nicht auf Kosten der Heimkinder im Westen
geschehen darf, ist klar. Neben dem Drittel, das der
Bund zahlen wird, werden auch die neuen Länder in die
Pflicht genommen werden müssen. Des Weiteren ist
über den Vorschlag nachzudenken, ob hier ein Rückgriff
auf noch vorhandenes Vermögen der Parteien und Mas-
senorganisationen der DDR möglich ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Der CDU!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711418600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/6143 und 17/6093 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiteren





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Strafrechtsänderungsgesetzes – Bestechung
und Bestechlichkeit von Abgeordneten

– Drucksache 17/5933 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy

(Bremen)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen der
Vereinten Nationen gegen Korruption

– Drucksache 17/5932 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711418700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ein international tätiges Hochbauunternehmen
zwischen Deutschland und Dänemark ein Bauwerk er-
richten will und der Vorstand dieses Unternehmens vor
diesem Hintergrund beschließt, dass sich ein Mitglied
des Vorstands mit dänischen Abgeordneten trifft und ein
anderes Mitglied mit deutschen, und dann beide Vor-
stände den Abgeordneten bei dieser Zusammenkunft er-
klären: „Wenn ihr euch für unser Bauanliegen zwischen
Deutschland und Dänemark starkmacht und euch dafür
in den Parlamenten einsetzt, dann werdet ihr von uns
100 000 Euro bekommen, oder die Ausbildung eurer
Kinder im Ausland wird finanziert“, und die dänischen
Abgeordneten darauf eingehen, dann ist das in Deutsch-
land seit September 1998 eine Straftat. Aber wenn die
deutschen Abgeordneten auf dasselbe Angebot einge-
hen, dann ist das in Deutschland bis zum heutigen Tag
keine Straftat.

Diesen gesetzgeberischen Irrsinn haben wir der letz-
ten schwarz-gelben Koalition zu verdanken, die im Sep-
tember 1998 genau diese Rechtslage herbeigeführt hat.
Seit dieser Zeit geraten wir international immer mehr in
eine völlig vertrackte Situation, weil Sie – Schwarz und
Gelb – sich weigern, diesen Rechtszustand zu beenden.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Was haben Sie denn gemacht? – Marco Buschmann [FDP]: Wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, zeigen drei Finger auf einen zurück!)

1999 hat der Europarat gefordert, dass Abgeordneten-
bestechung für strafbar erklärt wird.


(Marco Buschmann [FDP]: Im ersten Jahr von Rot-Grün!)


Und die Bundesregierung hat dieses Abkommen unter-
schrieben.


(Marco Buschmann [FDP]: Da war Herr Fischer Vizekanzler!)


Bis zum heutigen Tag haben 43 Staaten Europas dieses
Abkommen ratifiziert. Wir gehören zu denjenigen, die
die rote Laterne tragen und die es bisher immer noch
nicht geschafft haben, zu ratifizieren.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711418800

Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Geis?


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711418900

Aber gerne, deswegen ist er ja gekommen.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1711419000

Herr Montag, vielleicht sollten Sie eher sagen: eine

rot-grüne Laterne. Denn ich frage Sie, ob Sie die Gründe
nennen können, weshalb die Koalition von Rot und
Grün, warum Ihre damalige Regierung dieses Gesetz,
nachdem das 1998 von Schwarz und Gelb so eingeführt
worden ist, nicht geändert oder ergänzt hat.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711419100

Ich kann Ihnen die Antwort darauf sehr gerne geben,

betreffend die Zeit ab dem Jahr 2002, seit ich diesem
Hohen Hause angehöre. Wir haben ab Oktober 2002 den
Versuch unternommen, ein solches Gesetz zustande zu
bringen.


(Marco Buschmann [FDP]: Keine Mehrheit in den eigenen Reihen!)


Nachdem das Bundesjustizministerium einen Vorschlag
gemacht hat, der von allen Fraktionen abgelehnt worden
ist, haben wir uns darauf geeinigt, dass ein entsprechen-
der Gesetzentwurf aus der Mitte des Deutschen Bundes-
tages entwickelt wird. Daran mitzuarbeiten, haben sich
Schwarz und Gelb verweigert.


(Marco Buschmann [FDP]: Ihr hättet es selbst machen können!)


Und als wir – Rot-Grün – so gut wie fertig damit waren,
ist es leider zum Ende der Legislaturperiode gekommen.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


– Sie können gerne lachen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, aber ich weiß nicht, was daran eigentlich so lustig
ist. Seit 2005 sind Sie am Ruder, und Sie kämpfen nicht
einmal um eine Lösung.


(Marco Buschmann [FDP]: Wenn es so einfach wäre!)


Sie bemühen sich ja überhaupt nicht darum.





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie diskutieren mit uns nicht über diese Frage, son-
dern Sie erklären uns – wie im April dieses Jahres in ei-
ner Bundestagsdebatte durch den Kollegen van Essen
geschehen –: Für alle Bürger dieses Landes sei es
schrecklich, wenn sie eine Straftat begehen und dafür
bestraft würden. Nur für die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages gebe es eine schlimmere Strafe, näm-
lich nicht bestraft zu werden. – Das war Ihre Argumenta-
tion, Herr van Essen.


(Jörg van Essen [FDP]: Dann haben Sie es nicht verstanden! Das ist doch Unsinn, das wissen Sie doch!)


Sie können das im Protokoll nachlesen.

Der Kollege Kauder hat im April in dieser Diskussion
gesagt:

Sie sagen: Alle

– er meint die 152 Staaten, die die Völkerrechtsvereinba-
rung zur Bekämpfung der Korruption unterschrieben ha-
ben –

machen es. – Wenn alle ins Meer springen, springen
wir dann hinterher?

Das war seine Argumentation, auch nachzulesen im Pro-
tokoll. So beschäftigen Sie sich mit dieser Angelegen-
heit.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Meine Damen und Herren, wir haben jetzt wieder ei-
nen Gesetzentwurf vorgelegt, der zeigt, wie man dieses
Thema auf eine vernünftige, rationale, klare und rechts-
staatliche Weise behandeln kann. Wir haben jetzt auch
ein Ratifizierungsgesetz vorgelegt; wir sind neugierig,
wie Sie sich dazu verhalten werden.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP, die uns hier im April gesagt haben, dass
sie sich nicht an der Arbeit an einem solchen Gesetz be-
teiligen, ich will zum Schluss sagen: Der Präsident des
Deutschen Bundestags, Kollege Dr. Lammert, hat mich,
weil er nicht hier sein kann, heute Vormittag ausdrück-
lich gebeten, in seinem Namen zu erklären, dass er ein
solches Gesetz für den Parlamentarismus für dringend
notwendig hält und deswegen das Haus bittet, sich damit
zu beschäftigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das sollten Sie sich einmal zu Herzen nehmen, meine
Damen und Herren.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711419200

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege

Heveling.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1711419300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Thema ist ganz offenkundig entschieden kom-
plizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.


(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zumindest das ist in der Debatte deutlich gewor-
den, die neben offensichtlichen Unterschieden auch
erkennbare Übereinstimmungen in der Beurteilung
dieser differenzierten Sachverhalte deutlich ge-
macht hat. Weil hier zweifellos ein Zusammenhang
mit dem Immunitätsrecht besteht, könnte die Be-
trachtung dieses Zusammenhangs ein Bestandteil
der gemeinsamen Bemühungen in diesem Themen-
umfeld sein.

So sprach vor acht Wochen der Präsident des Deut-
schen Bundestages, Kollege Norbert Lammert, zum
Schluss der Debatte zum Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke zum Thema Abgeordnetenbestechung.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)


Herr Kollege Ströbele ist ob dieser Äußerungen in ver-
zücktes Jubilieren geraten,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist noch begeisterungsfähig!)


und das Protokoll der Sitzung vermerkt Zwischenrufe
der SPD und eine darauf bezogene Dankesbekundung
des Präsidenten.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Worte
indessen kein bisschen ernst genommen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber selbstverständlich!)


Im Gegenteil: Sie haben sich keinen Deut um das ge-
schert, was der Bundestagspräsident gesagt hat.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sie scheren sich nicht darum! – Dr. Eva Högl [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)


Anders ist das, was wir heute von Ihnen geboten bekom-
men haben, jedenfalls nicht zu erklären. Denn heute be-
kommen wir, wie schon vor acht Wochen von der Frak-
tion Die Linke, einfach nur den Aufguss eines Antrags
aus der letzten Wahlperiode als Wiedergänger präsen-
tiert:


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ihnen kommt gar nichts!)


Sie haben 2008 exakt den gleichen Gesetzentwurf schon
einmal eingebracht. Offenkundiger lässt sich wohl kaum
deutlich machen, dass man gar nicht so viel Interesse an
einer zielführenden und ernsthaften Debatte hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Marco Buschmann [FDP] – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gesetzentwurf war damals gut und ist heute gut!)


– Lieber Herr Kollege Montag, ich werde gleich darauf
eingehen. Dazu gibt es nämlich einiges Interessante zu





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

sagen, auch in Bezug auf das, was der Herr Bundestags-
präsident gesagt hat.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer nichts tut, macht keine Fehler!)


Offensichtlich geht es darum, hier den Oberlehrer zu
spielen und sich wieder einmal nicht die Gelegenheit
entgehen zu lassen, den Finger in eine vermeintliche
Wunde zu legen. Dann werden scharfe und große Worte
gewählt: Vor acht Wochen war von „peinlich“ und
„oberpeinlich“ die Rede.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War es auch!)


Als das Thema 2008 schon einmal diskutiert wurde, war
von einem „Makel“ die Rede. Heute ist es auch nicht an-
ders. Auch die Kritik am Gesetzentwurf ist die gleiche
wie 2008. Insofern machen Sie vom Bündnis 90/Die
Grünen es einem wirklich nicht leicht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind eben die Dagegen-Partei!)


Ich habe bei der Vorbereitung der heutigen Rede
lange überlegt, wie ich heute mit dem Gesetzentwurf
umgehen soll. In Zeiten von VroniPlag und Co hielt ich
es nicht für angemessen, die Beiträge der Kollegen aus
der letzten Wahlperiode einfach zu plagiieren.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch keinen Doktortitel zu verlieren! Also nur zu!)


Auch wollte ich meine vor acht Wochen gehaltene Rede
nicht noch einmal halten. Andererseits gibt es einfach
keine neuen Argumente.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Richtig!)


Da Sie damals offensichtlich nicht bereit waren, sich mit
den sachlichen Argumenten auseinanderzusetzen, ge-
schweige denn heute dazu bereit sind – Sie haben am
Entwurf kein Jota verändert –, ist es vielleicht doch an-
gebracht, die Argumente von damals noch einmal aufzu-
rufen.

Lassen Sie mich das ganz korrekt mit der Methode
des Zitierens machen. Herr Kollege Kauder hat in der
Debatte am 25. September 2008 zu Recht auf das größte
Problem Ihres Gesetzentwurfs hingewiesen, auf die
Übertragung der Verwerflichkeitsklausel. Ich darf zitie-
ren:

Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor
Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung
ausgeführt hat. Wenn der Gesetzgeber einen
Straftatbestand mit normativen Elementen – also
mit wertausfüllenden Elementen – schmückt, sagt
er eigentlich nichts. Das ist das Problem und die
Krux des Gesetzentwurfs … Dieser Gesetzentwurf
lässt mehr Fragen offen, als er klärt. …

Regina Michalke hat sich in der Festschrift für
Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerf-
lichkeitsklausel befasst. … Nimmt ein Politiker ei-
nen Vorteil für seine Handlung im Deutschen Bun-
destag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel- und
Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln
verwerflich sind.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kopieren Sie doch! – Gegenruf des Abg. Jörg van Essen [FDP]: Er hat ordnungsgemäß zitiert!)


Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in
der Rechtssprache wird er durch einen anderen, ge-
nauso unverständlichen Begriff ersetzt. Verwerf-
lichkeit ist durch ein besonders hohes Maß an sittli-
cher Missbilligung definiert. … Es stimmt, was
Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn ein Ge-
setzgeber normative Begriffe verwendet, dann sagt
er letztendlich gar nichts.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Nun werden Sie einwenden, dass das bei § 240 des
Strafgesetzbuches, dem Nötigungsstraftatbestand,
auch möglich ist.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und in vielen anderen Gesetzen auch!)


Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke
in der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr
2008: Der § 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders
strukturiert als der Straftatbestand des § 108 e des
Strafgesetzbuches, sprich Abgeordnetenbestechung.
In § 240 Abs. 2 – dem Nötigungsstraftatbestand –
sind die Nötigungsmittel genau definiert. Das kön-
nen Sie hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung
nicht eins zu eins übernehmen.

Zitat Ende.

Dieses Argument war 2008 genauso richtig, wie es
heute richtig ist. Man kann an den Formulierungen, die
Sie damals wie heute zur Gesetzesbegründung bemüht
haben, ablesen, wie bewusst Sie sich dieses Problems
sind.


(Jörg van Essen [FDP]: Natürlich!)


Diese Unbestimmtheit und das Ungeklärte des Tatbe-
standes führen zu einem zweiten bedeutenden Problem-
kreis, der sich von 2008 bis heute ebenfalls nicht verän-
dert hat. Hierauf hat der damalige Kollege Stünker von
der SPD-Fraktion am 25. September 2008 richtigerweise
hingewiesen – ich darf auch ihn zitieren –:


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch die Sozialdemokraten haben nichts anderes vorgelegt!)


Wo liegt das Problem? Das Problem liegt – das ist
hier schon häufig angesprochen worden – im Tatbe-
standsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vor-
teilsbegriff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu
schwammig gefasst. Die Abgeordneten des Deut-
schen Bundestages werden im Ergebnis in die
Hände der dritten Gewalt, in die Auslegung gege-
ben, was mit dem freien Mandat aus Art. 38 des





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Grundgesetzes sicherlich nicht in Übereinstimmung
zu bringen ist.

Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grund-
gesetzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter
sein. Er muss Interessenvertreter sein. Er ist partei-
lich. Er darf parteilich sein. Das alles ist richtig. …

Wir sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der
Tatbestand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung
für eine Strafverfolgung nicht auch noch die Er-
mächtigung der Volksvertretung notwendig ist, ob
wir also das Strafrecht mit dem Recht der Immuni-
tät verbinden müssen.

Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja:
Bereits eine entsprechende Überschrift in der Bild-
Zeitung, dass jemand durch eine Anzeige in ein Er-
mittlungsverfahren geraten ist – das kann ja völlig
im Sande verlaufen –, führt zum politischen Tod.
Das muss man mit bedenken.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711419400

Kollege Heveling, gestatten Sie eine Frage des Kolle-

gen Ströbele?


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1711419500

Nein, ich würde das jetzt gerne weiter ausführen.


(Jörg van Essen [FDP]: Herr Ströbele ist schon wieder nicht als Redner aufgeführt! Er wird nie als Redner aufgeführt und muss dann immer die Redner stören! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei zwölf Minuten Redezeit keine Frage zuzulassen, ist jämmerlich!)


Sieh mal einer an, selbst das, was der Bundestagsprä-
sident vor acht Wochen gesagt hat, ist schon in der De-
batte 2008 angeführt worden. Kein Erkenntnisgewinn
bei den Grünen von 2008 bis heute. Stur wird wieder
eingebracht, was schon 2008 Murks gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der damaligen Debatte, im September 2008, ist
vom damaligen Kollegen Stünker auch das Thema ange-
sprochen worden, bei dem sich Kollege Montag eben auf
die Frage des Kollegen Geis hin ein bisschen gewunden
hat. Auch das möchte ich gerne zitieren. Da ging es um
die Frage, warum das von Rot-Grün nicht geändert wor-
den ist. Der damalige Kollege Stünker hat laut Protokoll
dazu in Richtung des Kollegen Ströbele ausgeführt:

Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke
schon lange schließen können. Sie und ich, wir
beide wissen das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in
einer Kommission … eine Regelung erarbeitet. …

– Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen pein-
lich. – Ich meine, es war eine sehr gute Regelung,
die wir damals erarbeitet hatten – …

– Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. –
Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir
durften sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns
die Grünen blockiert haben. Man höre und staune. …

Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu
weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug
ging. …

Also war gar nichts zu machen. Man hat sich da-
mals gegenseitig blockiert.

So weit das Zitat des Herrn Kollegen Stünker.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Jörg van Essen [FDP]: Genau so war es!)


So sehr Sie uns den Mangel an Bereitschaft vorwer-
fen, das Thema überhaupt anzugehen, so sehr muss man
Ihnen den Vorwurf machen, dass es Ihnen an der Bereit-
schaft mangelt, überzeugende Lösungen auf den Tisch
des Hauses zu legen. Dadurch entlarvt sich der Gesetz-
entwurf als das, was er ist: als reine Show.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich selbst habe vor acht Wochen zum Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke ausgeführt:

Wenn es also überhaupt Regelungsbedarf geben
sollte …, dann ist es mit einem gesetzgeberischen
Schnellschuss, bei dem im Übrigen auch fraglich
ist, ob er überhaupt den Vorgaben des Bestimmt-
heitsgebots Genüge tut, sicherlich nicht getan.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können ja langsamer schießen, aber schießen Sie doch einmal!)


Das ist der Sache … nicht angemessen, und der
Schaden wäre hinterher weitaus größer als der Nut-
zen.

Das aber gilt auch für Ihren Gesetzentwurf aus dem
Jahr 2008. Er offenbart keinen tauglichen Lösungsan-
satz. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie wirklich sorgfältig
und ernsthaft – jedenfalls 2008 – nach einer tragfähigen
Lösung gesucht haben. Dann hätten Sie aber schon da-
mals aufgrund der gewichtigen Kritikpunkte einsehen
müssen: Das Thema ist ganz offenkundig entschieden
komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb machen Sie nichts!)


Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, die
neben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbare
Übereinstimmungen in der Beurteilung dieser differen-
zierten Sachverhalte deutlich gemacht hat. Mit Ihrem
Gesetzentwurf wird eine Lösung aber nicht gelingen.
Wir lehnen ihn ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil er so kompliziert ist, tun Sie gar nichts!)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711419600

Die Kollegin Dr. Högl hat für die SPD-Fraktion das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1711419700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen
alle, dass jedes Thema eine Geschichte hat und dass es
gut ist, diese zu kennen. Man braucht sie für den Hinter-
grund. Ich darf aber an uns alle appellieren: Wir haben
heute einen Vorschlag vorliegen und führen eine weitere
Debatte, nachdem es bereits eine am 8. April gegeben
hat. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam über die Zukunft
diskutieren und darüber, dass es im Deutschen Bundes-
tag Handlungsbedarf gibt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Gegensatz zu meinem Vorredner, Herrn Heveling,
habe ich unserem Bundestagspräsidenten Lammert am
8. April sehr gut zugehört. Wer nicht zugehört hat, kann
es noch einmal nachlesen. Unser Bundestagspräsident
hat am Ende der Debatte davon gesprochen, dass wir in
dieser Frage einen erheblichen Handlungsbedarf haben
und dass es trotz offensichtlicher Unterschiede in der
Bewertung der Detailregelungen – darüber können und
werden wir im weiteren Verlauf gerne streiten – erkenn-
bare Übereinstimmungen gibt.

Der Bundestagspräsident hat an uns appelliert, dieses
Thema gemeinsam anzugehen. Diesen Appell möchte
auch ich gerne – Herr Kollege Montag hat es bereits ge-
tan – aufgreifen. Diese Bemerkung unseres Bundestags-
präsidenten fand ich sehr hilfreich. Wir sollten sie sehr
ernst nehmen; denn so etwas macht ein Bundestagspräsi-
dent am Ende einer Debatte nicht jeden Tag.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir als SPD-Fraktion sind Bündnis 90/Die Grünen
für die Vorlage der beiden Gesetzentwürfe dankbar. Am
8. April haben wir bereits über eine Vorlage von der
Fraktion Die Linke diskutiert. Selbstverständlich werden
wir auch mit eigenen Vorschlägen in die Debatte einstei-
gen. Wir waren in der Vergangenheit auch initiativ; des-
wegen kündige ich an, dass wir uns engagiert an der wei-
teren Beratung der vorliegenden Papiere sowie mit
eigenen Vorschlägen beteiligen werden.

Ich möchte voranschicken – das ist mir wichtig –,
dass Deutschland kein Land ist, in dem Korruption
herrscht. Wir sollten bei dieser Debatte auch nicht davon
ausgehen, dass wir es mit Verwerfungen zu tun haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711419800

Frau Kollegin Högl, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Ströbele?


(Jörg van Essen [FDP]: Weil er nicht als Redner aufgestellt wird! Das ist auch gut so!)


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1711419900

Aber sicher. Bitte sehr. Jetzt dürfen Sie eine Zwi-

schenfrage stellen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Frau Kollegin. Ich frage Sie natürlich etwas
ganz anderes als das, was ich den Kollegen von der CDU
gefragt hätte;


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich habe die Antwort gegeben, ohne dass Sie gefragt haben!)


er hat meinen Namen hier wieder ins Spiel gebracht.

Seinerzeit hat die Justizministerin Frau Zypries


(Marco Buschmann [FDP]: Jetzt war die schuld!)


von den Sozialdemokraten – ich sage das lobend – den
Mut aufgebracht, die UNO-Konvention für die Bundes-
republik Deutschland zu unterschreiben. Sie wurde von
der Regierung damals unterschrieben, aber leider hat der
Deutsche Bundestag es bis heute nicht geschafft, diese
Urkunde zu ratifizieren. Deshalb fordern wir dies.

Meine Frage an Sie lautet: Wir hatten in der Tat viele
Wochen und Monate lang sehr intensive Verhandlungen
über sehr viele unterschiedliche Vorschläge geführt und
hatten, wie das in einer Koalition ist, auch unterschiedli-
che Auffassungen. Der Kollege Stünker hat damals ei-
nen Vorschlag vorgelegt, dem ich sehr viel abgewinnen
konnte.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1711420000

Wir auch.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seitdem sind ja viele Jahre vergangen, und ich frage
mich: Warum ist die sozialdemokratische Fraktion nicht
in der Lage, diesen fertigen Entwurf des Kollegen
Stünker als Antrag oder Gesetzentwurf hier in die De-
batte einzubringen?


(Marco Buschmann [FDP]: Familienkrach in der Opposition!)


Dann wären wir schon sehr viel weiter. Dann hätten wir
uns, zumindest die SPD und Bündnis 90/Die Grünen,
vielleicht schon darauf verständigen können. Dann hätte
auch die CDU/CSU noch die Möglichkeit – anders als
Kollege van Essen, der das vollständig ablehnt –, sich
einzubringen und mitzumachen.

Es ist doch wirklich ein Unding – Kollege Montag hat
das zu Beginn seiner Rede gesagt –, dass wir Abgeord-
nete anderer Länder unter Strafe stellen für einen Tatbe-
stand, der in Deutschland für deutsche Abgeordnete
nicht strafbar ist. Geben Sie mir recht, dass das ein un-
haltbarer Zustand ist und dass Sie sich möglichst schnell
an die Arbeit machen sollten, den Vorschlag des Kolle-
gen Stünker in den Deutschen Bundestag einzubringen?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1711420100

Lieber Herr Kollege Ströbele, ganz herzlichen Dank

für Ihre Zwischenfrage bzw. Zwischenbemerkung. Ich
darf Sie beruhigen – das hatte ich eben auch schon ange-
kündigt –: Die SPD wird die Debatte mit Vorschlägen
bereichern; sie wird Vorschläge vorlegen. Wir werden si-
cherlich auch an die umfangreichen Vorarbeiten anknüp-
fen. Sie wissen auch, dass es die SPD war, die sehr ini-
tiativ und drängend war und nach der Unterzeichnung
der UN-Konvention sehr schnell Vorschläge vorgelegt
hat.

Uns ist, wie Sie wissen, 2005 die Neuwahl dazwi-
schengekommen.


(Marco Buschmann [FDP]: Abwahl!)


Sie fragen sich, warum wir seitdem den Vorschlag des
Kollegen Stünker nicht vorgelegt haben.


(Jörg van Essen [FDP]: Sie waren doch danach auch in der Regierung, oder nicht?)


– Ja, das will ich Ihnen ganz genau sagen: Wir haben re-
giert, aber, wie Sie sich vielleicht erinnern können, in an-
derer Konstellation. Wir waren in einer Großen Koali-
tion


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war fürchterlich!)


– das dürfen Sie gerne so sagen; die Bewertung muss je-
der für sich treffen –, und die Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion der CDU/CSU haben verhindert, dass
wir zu einer gemeinsamen Vorlage zum Thema Abge-
ordnetenbestechung kamen. Deswegen werden wir jetzt
einen neuen Vorschlag machen. Wir werden uns an der
Debatte beteiligen. Seien Sie gespannt und gewiss, dass
wir auf bestimmte Vorschläge zurückkommen werden.
Ich hoffe natürlich, dass Ihnen unser Vorschlag dann
auch gefallen wird.


(Beifall bei der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich auch in dieser Legislaturperiode!)


– Ja, wir werden im Herbst etwas vorlegen.

Ich möchte noch ganz kurz etwas erwähnen, das bei
der grundsätzlichen Frage, wie wir mit dem Thema Ab-
geordnetenbestechung umgehen, sehr wichtig ist. Wir
müssen eine sehr sorgfältige Trennung zwischen legiti-
mer, sinnvoller und richtiger Interessenvertretung auf
der einen Seite und Korruption, Bestechung und Be-
stechlichkeit auf der anderen Seite vornehmen. Es ist
sehr wichtig – das haben wir bei unseren Debatten über
ein verbindliches Lobbyistenregister oder die Beschäfti-
gung von Externen in der Bundesverwaltung schon an-
gesprochen –, die Interessenvertretung, die wir in einer
Demokratie brauchen, von den Verwerfungen, von Vor-
teilsnahme, von Korruption, von Bestechung und Be-
stechlichkeit zu trennen.

Deswegen appelliere ich hier an uns alle, vor allen
Dingen an die Koalitionsfraktionen, von einem grund-
sätzlichen Nein abzurücken. Das Signal gegen Korrup-
tion, Bestechung und Bestechlichkeit muss von uns hier
im Deutschen Bundestag ausgehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist wichtig. Wir haben es mit sehr vielen Vorurteilen
zu tun. Deswegen müssen wir jedem Eindruck von Kor-
ruption selbstbewusst entgegentreten und ihn zurückwei-
sen.

Ich möchte ganz kurz eine Bemerkung zur UN-Kon-
vention machen. Es ist schon gesagt worden, dass es uns
in Deutschland schadet, dass wir die Konvention nicht
ratifiziert haben. Wir müssen uns mit dem Thema Abge-
ordnetenbestechung befassen und endlich gesetzliche
Regelungen vornehmen. Ich will in diesem Zusammen-
hang auch etwas zum internationalen Ansehen Deutsch-
lands sagen; das halte ich für nicht unwesentlich.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711420200

Kollegin Högl, gestatten Sie vorher eine Zwischen-

frage des Kollegen Kauder?


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1711420300

Gerne. Bitte, Herr Kauder.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Liebe Frau Kollegin Högl, Sie haben zu Recht den
Bundestagspräsidenten Lammert erwähnt. Er sprach
aber nicht von einem Straftatbestand. Wir reden hier
über Bestechung und Bestechlichkeit von Amtsträgern.
Verstehen Sie sich als Amtsträger? Das sind wir nicht.
Wir sind freie Abgeordnete.

Die Österreicher haben versucht, dies über den Be-
griff des Amtsträgers zu regeln,


(Christine Lambrecht [SPD]: Das muss man aber nicht!)


und gesagt: Der Abgeordnete ist ein Amtsträger. Das gilt
aber nur, wenn er sich wie folgt verhält. – Damit haben
sie den Amtsträgerbegriff wieder ausgehebelt. Sie haben
also einen Klimmzug gemacht, der letztendlich nichts
gebracht hat. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis:
Darüber sollten wir nachdenken. Fangen wir mit der
Diskussion noch einmal bei null an.


(Christine Lambrecht [SPD]: Bei null ist die CDU ja gut aufgehoben!)


Reden wir nicht über Bestechung, Bestechlichkeit und
Korruption, sondern über Verhaltensmaßregeln. Das ist
ein ganz anderer Ansatz, den der Bundestagspräsident
meinte.


(Christine Lambrecht [SPD]: Nein!)


Das ist vielleicht ein besserer Weg als der, Abgeordnete
mit einem Amtsträger zu vergleichen.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1711420400

Wir können den Herrn Bundestagspräsidenten bei Ge-

legenheit vielleicht fragen, was genau er mit seinen hin-
weisenden Bemerkungen gemeint hat.





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)


(Heiterkeit des Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU])


Ich habe sie in dieser Richtung verstanden.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe ihn heute gefragt!)


Lieber Herr Kollege Kauder, wir reden über Abgeord-
netenbestechung. Da ist nicht die Rede von Amtsträge-
rinnen und Amtsträgern. Wir unterscheiden hier sehr
sorgfältig.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! Das tun auch wir in unserem Gesetzentwurf! – Jörg van Essen [FDP]: Die UN-Konvention tut das nicht!)


Ich möchte mich selbstverständlich nicht als Amtsträge-
rin, sondern als Abgeordnete verstanden wissen. Natür-
lich gehören dazu auch – das habe ich eben betont – das
freie Mandat und die Möglichkeit, Interessen aufzugrei-
fen und zu vertreten. Deswegen müssen wir bei der For-
mulierung der Regelungen zur Abgeordnetenbestechung
sehr sorgfältig darauf achten, wie wir sie im Konkreten
ausgestalten. Wenn ich Ihre Hinweise zur konkreten
Ausgestaltung so verstehen darf, dass auch Sie grund-
sätzlich dafür sind, Regelungen zum Thema Abgeordne-
tenbestechung zu treffen, dann freue ich mich natürlich
sehr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte eine Be-
merkung zum internationalen Ansehen Deutschlands
machen. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten, wie wir in
der Welt dastehen. Wir diskutieren zurzeit über den
Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien und
über den Beitritt von Kroatien zur Europäischen Union.
Welches Thema steht da ganz oben an? Das Thema Kor-
ruptionsbekämpfung.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Weil es ein aktuelles Thema ist! Aus gutem Grund!)


Wir geben zur Korruptionsbekämpfung sehr wichtige
und sinnvolle Hinweise, auch bei unserem Einsatz in
Afghanistan. Ich finde es mehr als peinlich und sehr be-
schämend, dass Deutschland neben Syrien, Saudi-Ara-
bien, Myanmar und dem Sudan eines der wenigen Län-
der der Welt ist, das die UN-Konvention gegen
Korruption noch nicht ratifiziert hat. Das sollten wir
schnellstmöglich ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin mir allerdings gar nicht so sicher, wie die
Positionen der Koalitionsfraktionen sind. Sie haben sich
dazu sehr im Detail geäußert. Vielleicht sind Sie, lieber
Herr Heveling, wenn Sie sich schon mit den Detailrege-
lungen auseinandersetzen, im Grundsatz doch dafür zu
gewinnen, hier etwas zu tun.

Ich möchte zitieren, was die Staatssekretärin im Bun-
desjustizministerium, Frau Dr. Grundmann, am 30. Juni
2010 – das ist noch gar nicht so lange her – auf die Frage
des Kollegen Movassat von den Linken geantwortet hat:

Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass
Deutschland das Übereinkommen der Vereinten
Nationen gegen Korruption so schnell wie möglich
ratifizieren kann.

Hört! Hört! Außerdem führte sie aus:

Den Entwurf für ein Vertragsgesetz … wird die
Bundesregierung unverzüglich vorlegen …

Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
sind Sie der gleichen Auffassung wie die geschätzte
Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, oder sind
Sie anderer Auffassung?


(Jörg van Essen [FDP]: Anderer Auffassung! Ganz klar!)


Mich würde sehr interessieren, was Sie dazu sagen. Ich
würde mich freuen, wenn Sie sich der Auffassung Ihrer
eigenen Staatssekretärin anschließen würden; denn hier
besteht wirklich Handlungsbedarf. Wir müssen diesen
peinlichen Zustand schnellstmöglich beenden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will noch einige Bemerkungen zu der konkreten
Formulierung machen. Es ist in der Tat – auch Sie, Herr
Heveling, haben das gesagt – kein leichtes Thema.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es nämlich!)


Wir müssen bei der Formulierung der Norm sehr sorgfäl-
tig vorgehen.


(Jörg van Essen [FDP]: Deswegen sollte man auch den Begriff „peinlich“ sehr sorgfältig vermeiden!)


– Ich glaube, Sie bekommen gleich nach meiner Rede
das Wort. Dann können Sie sich auch dazu äußern.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ich glaube, das würde er gerne schon vorher tun!)


Wir brauchen eine klare Definition des strafbaren
Verhaltens. Wir müssen die Verwendung unbestimmter
Rechtsbegriffe vermeiden. Wir dürfen die Interpretation
dessen, was wir in den Straftatbestand einbeziehen, nicht
Dritten überlassen; das halte ich für ganz entscheidend.
Wir dürfen vor allen Dingen keinen Anlass für grundlose
Verdächtigungen und für einen Generalverdacht gegen-
über Politikerinnen und Politikern geben. Ich glaube,
auch Sie, Herr Kauder, haben darauf angespielt, dass wir
dies auf jeden Fall vermeiden müssen.

Deswegen bin ich noch skeptisch, ob der Ansatz der
Grünen, den Vorteil mit dem Adjektiv „rechtswidrig“
einzugrenzen und dann auf ein verwerfliches Verhalten
abzustellen, richtig ist. Ich denke, dass wir eine andere,
bessere Definition des Vorteils benötigen, den Vorteil an-
ders einschränken und vor allen Dingen das Verhältnis
Leistung und Gegenleistung im Rahmen der Abgeordne-
tentätigkeit ganz sorgfältig definieren müssen.

Lassen Sie uns doch gemeinsam allen Sachverstand,
der hier im Deutschen Bundestag versammelt ist, zusam-





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

mennehmen und auf der Basis der vorliegenden Vor-
schläge und der noch kommenden Vorschläge – unter
anderem von uns – gemeinsam eine bestmögliche For-
mulierung des Gesetzentwurfs erarbeiten. Das wäre
doch der richtige Weg, und das wäre ein gutes Signal
hier aus dem Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind dabei!)


– Das hört sich gut an.

Ich möchte noch eine Bemerkung zum Thema Immu-
nitätsrecht machen. Es ist noch ein wichtiger Zusam-
menhang zwischen einem Straftatbestand der Abgeord-
netenbestechung und dem Immunitätsrecht, das wir hier
im Deutschen Bundestag haben, herzustellen. Deswegen
ist es wichtig, sich in diesem Zusammenhang auch über
die Ausgestaltung des Immunitätsrechts Gedanken zu
machen. Das möchte ich gerne in einem Zusammenhang
sehen.

Wir müssen uns darüber unterhalten, ob wir sagen,
der Vorteil, der entgegengenommen bzw. gewährt wird,
ist vorher zu genehmigen – das wäre eine Variante –,
oder ob wir sagen – man kann auch beide Varianten
gleichzeitig diskutieren –, dass die Verfolgung der Tat
der vorherigen Zustimmung durch den Deutschen Bun-
destag bedarf. Diese Variante favorisiere ich persönlich,
aber darüber müssen wir uns im Folgenden noch unter-
halten.

Ich darf mich bedanken und schließe mit einem Ap-
pell insbesondere an die Koalitionsfraktionen: Überle-
gen Sie noch einmal, ob Ihre Staatssekretärin im Bun-
desjustizministerium vielleicht doch nicht ganz falsch
liegt, dass es sich nämlich lohnt, die UN-Konvention zu
ratifizieren und gemeinsam mit uns an einer guten Rege-
lung zur Abgeordnetenbestechung zu arbeiten, die über-
fällig ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711420500

Das Wort hat der Kollege van Essen für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1711420600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich weiß nicht, zum wievielten Male ich jetzt hier stehe
und etwas zur Abgeordnetenbestechung sage.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sagen Sie doch etwas Neues!)


– Ja, es ist ganz schwierig. Das ist die gleiche Problema-
tik, die auch der Kollege Heveling schon aufgezeigt hat.
Es sind eigentlich alle Argumente ausgetauscht.

Was noch nicht ausgetauscht wurde – deshalb bin ich
dem Kollegen Heveling ganz dankbar –, ist, dass von der
linken Seite des Hauses der Eindruck erweckt wird: Da
ist die böse CDU/CSU, da ist die böse FDP.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch schlimmer! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, so sehen wir das!)


Der Kollege Montag hat mir sogar unterstellt, ich
hätte es gut gefunden, dass ein Abgeordneter nicht be-
straft wird.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wortwörtlich!)


– Herr Kollege, ich schätze Sie außerordentlich. Dass
Sie zu einem solchen Argument greifen müssen, zeigt
aber, wie schlecht Ihre Argumente sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Uta Zapf [SPD]: Das war ein Zitat! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er darf doch zitieren!)


– Er hat mich natürlich nicht zitiert, sondern er hat hier
schlichten Unsinn vorgetragen.

Es gehört natürlich zur Geschichte, dass die hier ge-
lobte Bundesjustizministerin eine UN-Konvention, die
heute auch auf Vorschlag der Grünen zur Diskussion
steht, unterzeichnet hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Sie hat das damals gegen den ausdrücklichen Wider-
stand der damals größten Fraktion, der SPD, getan. Sie
hat das auch gegen den ausdrücklichen Widerstand des
damaligen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers
der Grünen, des Kollegen Beck, getan, der heute wahr-
scheinlich nicht ohne Grund nicht hier ist.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage ihm, dass Sie ihn vermisst haben!)


– Ja, das können Sie gerne ausrichten. – Der Kollege
Beck hat das in gleicher Weise getan, wie das CDU/CSU
und FDP auch getan haben.

Der Grund ist unverändert gleich und richtig: In der
UN-Konvention wird ganz allgemein von Amtsträgern
gesprochen, und es ist klar, dass es Unterschiede zwi-
schen Abgeordneten und Beamten gibt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Der Beamte hat seinen Pflichten neutral nachzukom-
men. Ein Abgeordneter hat nach dem Grundgesetz ein
freies Mandat und kann auch völlig einseitige Interessen
vertreten, was ein Beamter zu Recht nicht darf. Das ist
ein ganz wesentlicher Unterschied. Deshalb ist es auch
schwierig, das rechtlich zu fassen. In der Debatte hier,
die wir erlebt haben, wurde das ja auch deutlich. Die rot-
grüne Koalition hat damals sehr lange Zeit zusammenge-
sessen, weil sie die Probleme offensichtlich gesehen und
sehr lange gebraucht hat, bis überhaupt irgendetwas zur
Abstimmung kam.





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)

Das Ganze ist nicht eingebracht worden, und wir ha-
ben hier auch gehört, dass es bei den Grünen dann ganz
offensichtlich Widerstand gegen die Formulierung gege-
ben hat – wieder vom Kollegen Beck, der der Bundes-
justizministerin ja vorher auch schon deutlich gemacht
hatte, dass er der Auffassung ist, dass die Bundesrepu-
blik Deutschland das Abkommen der Vereinten Natio-
nen nicht unterzeichnen sollte. Das ist bis heute unverän-
dert meine Auffassung, weil ich großen Wert darauf
lege, dass es keine Verbeamtung des Deutschen Bundes-
tages gibt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt verstecken Sie sich nicht hinter Herrn Beck!)


Ich komme zu einem zweiten Punkt, der mir wichtig
ist. Kollege Stünker hat in einer früheren Debatte exzel-
lent aufgezeigt, dass es schwierig ist, mit bestimmten
Begriffen zu arbeiten. In der Diskussion ging es um
Geldbündel, die übergeben werden; das könnte man
rechtlich noch fassen. Aber wenn eine Schulausbildung
ermöglicht wird – Sie haben ein Beispiel genannt; es
gibt viele unterschiedliche Fälle, die man sich vorstellen
kann –, dann ist das strafrechtlich schwer zu fassen.

Zu den Prinzipien des Rechtsstaates gehören Nor-
menklarheit und Normenwahrheit. Das ist das Problem.
Frau Kollegin Högl hat in einem Nebensatz darauf hin-
gewiesen, dass es viele rechtliche Probleme gibt. Ja, sie
sind unbestreitbar vorhanden. Ich bin Ihnen dankbar,
dass Sie das angesprochen haben. Von daher ist unser
Vorgehen nicht Unwillen. Vielmehr haben wir Probleme,
die wir nicht vernünftig lösen können. Dazu gehört zum
Beispiel auch, dass es einen Unterschied zwischen den
Abgeordneten des Bundestages und der Landtage auf der
einen Seite und denen der kommunalen Vertretungen auf
der anderen Seite gibt.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Richtig!)


Auch das ist rechtlich schwierig. Ich weiß, dass das in
der Öffentlichkeit nicht immer ankommt. Wenn ich die
Zuschauer oben auf der Tribüne fragen würde: „Muss
das sein?“, dann würde mit Sicherheit jeder sagen: Klar
muss das so sein!


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben! Da spricht das Volk!)


Trotzdem bitte ich um Verständnis, dass wir darauf ach-
ten müssen, dass auch die Abgeordneten Rechtsvor-
schriften vorfinden, die den Ansprüchen eines Rechts-
staates genügen.


(Zuruf von der FDP: Ein aufklärerischer Anspruch!)


Ein weiterer Punkt, der für mich wichtig ist, ist das
Immunitätsrecht. Frau Kollegin Högl, Sie haben es ange-
sprochen, wofür ich sehr dankbar bin. Wir haben in
Deutschland die Tradition, dass wir eine Aufhebung der
Immunität in aller Regel durchwinken, und das ist auch
gut so. Ich finde, dass sich jeder Abgeordnete, wenn ein
strafrechtlicher Vorwurf gegen ihn erhoben wird, den
Gerichten zu stellen hat. Die Staatsanwaltschaften müs-
sen ermitteln können. Weil wir das so großzügig tun, ist
die Versuchung, Vorwürfe gegen jemanden zu erheben
und damit staatsanwaltschaftliche Ermittlungen loszutre-
ten, bei uns besonders hoch. Wir alle kennen Fälle – ich
bin seit 1994 im Immunitätsausschuss –, in denen aus
politischen Gründen bestimmte Vorwürfe erhoben wor-
den sind. Ein Kollege fand sich mit solchen Vorwürfen
konfrontiert in den großen Zeitungen wieder. Als sich
hinterher herausgestellt hatte, dass alle diese Vorwürfe
aus der Luft gegriffen waren, haben die Zeitungen leider
vergessen, das der Öffentlichkeit mitzuteilen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Die Staatsanwaltschaft auch!)


Deshalb haben wir die Verantwortung gegenüber den
Kollegen, die sich einem strafrechtlichen Vorwurf ausge-
setzt sehen, dass wir klare und eindeutige Vorschriften
anwenden, wenn wir Vorwürfe gegen sie erheben.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schaffen Sie die! – Gegenruf von der CDU/CSU: Die haben wir ja!)


Mein Wunsch ist deshalb – in den Beratungen werden
wir das tun –, dass wir uns zusammensetzen. Vielleicht
fällt dem einen oder anderen, trotz der Schwierigkeiten,
die ich aufgezeigt habe, etwas Neues ein.


(Christine Lambrecht [SPD]: Dem sind Sie doch intellektuell gewachsen!)


Bisher habe ich leider nichts Neues gehört. Ihr schlech-
ter Vorschlag von 2008 ist durch das Liegenbleiben nicht
besser geworden.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Trotzdem bin ich der Auffassung, dass wir über dieses
Thema reden sollen und müssen. Frau Högl, insofern
nehme ich Ihr Angebot an.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Geht doch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711420700

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Montag

das Wort.


(Marco Buschmann [FDP]: Jetzt kommt wieder: peinlich, peinlich, peinlich!)



Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711420800

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege van Essen,

Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte Sie nicht richtig zi-
tiert, es sei Unsinn gewesen, was ich erzählt habe.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja, das ist auch so!)


Sie haben Recht: Die rechtsstaatliche Abfassung von
Strafnormen unter der Berücksichtigung des Grundsat-
zes der Normenklarheit ist schwierig. Aber ich habe
noch nie gehört, dass dies dazu geführt hätte, dass dieses
Parlament bei Strafvorschriften, die es für notwendig





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

hält und die die Menschen draußen betreffen, gesagt
hätte: Weil es so schwierig ist, machen wir es lieber
nicht.


(Jörg van Essen [FDP]: Das hat es natürlich gegeben!)


Nur hier in diesem Falle wollen Sie ein Sonderrecht ha-
ben.


(Jörg van Essen [FDP]: Falsch!)


Das ist das, was ich kritisiere, nicht, dass die Sache
schwierig ist.

Nun, Herr Kollege van Essen, komme ich zu dem Zi-
tat. Am 8. April 2011 haben wir hier im Plenum disku-
tiert. Frau Kollegin Wawzyniak hat geschildert, wie ein
Europaabgeordneter gefilmt worden ist, als er sich – ich
kürze das einmal ab – hat bestechen lassen. Dazu sagen
Sie ausweislich des Protokolls Folgendes:

Sie

– damit ist Frau Wawzyniak gemeint –

hat allerdings nicht unterlassen, auf einen Vorgang,
der sich vor einiger Zeit im Europäischen Parla-
ment abgespielt hat, hinzuweisen. Auch ich

– das sind Sie, Herr van Essen –

habe die Bilder gesehen, die zeigten, wie ein Abge-
ordneter aus Österreich die Verhandlungen führte
und sich für bestimmte Dinge bezahlen lassen
wollte … Das sehe ich genauso wie Sie, Herr
Hartmann. Das ist eine Schande. Auf der anderen
Seite hat sich gezeigt: Kontrolle funktioniert …
Was ich noch viel besser finde: Dieser Abgeordnete
hat eine viel höhere Strafe für sein Fehlverhalten
bekommen, als es jede strafrechtliche Verurteilung
sein könnte. Er musste sein Mandat aufgeben und
ist gesellschaftlich geächtet. Das ist, finde ich, eine
Strafe, die durch keinen Strafrichter höher ausge-
sprochen werden könnte.

Lieber Herr Kollege van Essen, dies habe ich sinnge-
mäß zitiert, als ich Ihnen gesagt habe, Sie seien der Mei-
nung, für alle Bürger dieses Landes sei es richtig, bei ei-
ner Straftat von einem Strafrichter bestraft zu werden,
aber bei uns Abgeordneten sei es besser, wir würden
nicht bestraft; denn die höhere Strafe sei, dass wir in der
Öffentlichkeit geächtet wären. Ich glaube, Sie sollten
den Vorwurf gegen mich, dass ich falsch zitiert habe, zu-
rücknehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711420900

Der Kollege van Essen hat das Wort.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1711421000

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie mich wörtlich zi-

tiert haben. Ich glaube, jeder, der mein wörtliches Zitat
gehört hat, hat gemerkt, dass der Vorwurf, den Sie in Ih-
rer Rede gegen mich erhoben haben, völlig falsch ist.
Es ist richtig, dass ich gesagt habe – das bleibt auch
meine Meinung –: Der Kollege aus Österreich, der ge-
filmt worden ist, hätte möglicherweise eine Geldstrafe
bekommen. Das, was jetzt passiert ist, dass nämlich
seine politische Karriere zu Ende ist, dass er öffentlich
geächtet ist, dass er all das verloren hat, was er sich auf-
gebaut hat, ist natürlich eine höhere Strafe, als sie jeder
Strafrichter verhängen könnte. Dass uns das aber nicht
davon entbindet, das, was wir dort an Fehlverhalten ge-
sehen haben, strafrechtlich zu fassen zu versuchen, habe
ich in meiner Rede deutlich gemacht. Deshalb weise ich
erneut den Vorwurf, den Sie mir gegenüber erhoben ha-
ben, mit Nachdruck zurück.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711421100

Das Wort hat die Kollegin Wawzyniak für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711421200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir haben über dieses Thema bereits am
8. April diskutiert. Die Debatte hier zeigt: Seitdem hat
keiner von uns neue Erkenntnisse gesammelt oder seine
Position grundlegend geändert. Neue Argumente sind
hier nicht genannt worden. Aber immerhin treten Grüne
und die Linksfraktion in den Wettbewerb um die beste
juristische Formulierung im Detail.


(Jörg van Essen [FDP]: Oh, oh!)


Sinnvoll ist das nur bedingt. Sinnvoll wäre es, ge-
meinsam an einer Vorlage zu arbeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Zumindest die Oppositionsfraktionen könnten dabei
schnell eine Einigung erzielen. Natürlich ist dafür noch
ein bisschen Feinarbeit nötig, aber das wäre sehr loh-
nenswert; denn am Ende stünde ein breiter Konsens, zu-
mindest in der Opposition. Das wäre gut.

Besser wäre es, wenn sich auch die Regierungsfrak-
tionen an der Arbeit, einen Konsens zu erzielen, beteili-
gen würden. Aber ich habe Herrn van Essen so verstan-
den, dass er das in Angriff nimmt. Ein Konsens wäre
gut, weil dieses Thema uns alle betrifft. Wir täten gut da-
ran, ein klares Signal an die Öffentlichkeit zu senden,
wie wir als Parlament uns diesem Thema stellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Worum geht es? Wir sind gefordert, einen Missstand
zu beseitigen. Deutschland hat die UN-Konvention ge-
gen Korruption aus dem Jahr 2003 nicht ratifiziert. Bis-
lang ist hierzulande nur der Stimmenkauf verboten. Es
geht um den Kampf gegen Korruption und darum, dass
Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten
strafbar sein sollen. Niemand soll und darf sich – auf
keiner Ebene – mit Geld politisches Handeln kaufen.
Darauf muss jede Bürgerin und jeder Bürger vertrauen
können. Dafür müssen wir die gesetzlichen Rahmenbe-
dingungen schaffen bzw. sie verbessern.


(Beifall bei der LINKEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Ich frage Sie: Warum sollten wir uns auf andere – und
sei es die notwendige vierte Gewalt im Staate, also die
Medien – verlassen, wenn wir selbst etwas tun können,
um Bestechlichkeit und Bestechung zu unterbinden? Es
ist unsere Aufgabe, und dieser Aufgabe sollten wir uns
stellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gegensatz zu den Regierungsfraktionen sind
Linke und Grüne der Meinung, dass es not- und der De-
mokratie guttut, Regelungslücken zu schließen, und dass
es nicht ausreicht, die Aufdeckung von Korruption den
Medien zu überlassen. Deshalb haben sowohl Grüne als
auch wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, nein, leider kei-
nen gemeinsamen, sondern jeweils einen eigenen.

Ich habe mir die Mühe gemacht, beide Gesetzent-
würfe zu vergleichen, um zu sehen, wo die Unterschiede
sind. Sie sind marginal. In den meisten und wichtigsten
Punkten stimmen die beiden Gesetzentwürfe überein. Es
gibt einen wirklich essenziellen Unterschied zwischen
den Anträgen in zwei Punkten. Das eine ist die Ver-
suchsstrafbarkeit. Die wollen wir, die wollen Sie nicht.
Den Vorschlag der Grünen, auch Wahlbewerber und
Wahlbewerberinnen in die Regelung aufzunehmen, fin-
den wir gut. Da, finde ich, kann man doch zusammen-
kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Seitens der Regierungsfraktionen sind leider keine
Fortschritte in der Diskussion zu erwarten. Immerhin hat
Herr van Essen heute darauf verzichtet, uns im Hinblick
auf die Ratifizierung der UN-Konvention gegen Korrup-
tion durch inzwischen 75 Staaten, zu denen unter ande-
rem Großbritannien, Frankreich und die USA gehören,
vorzuhalten, dass wir auch den Unterzeichnerstaat China
aufgeführt haben. Ansonsten war wenig Neues zu hören.

Die Koalitionsfraktionen haben auch heute darauf
verzichtet – im Nachgang zur letzten Debatte muss man
das allerdings noch einmal sagen –, darauf hinzuweisen,
dass sie finden, dass die Einbeziehung auch von Mitglie-
dern von Gemeindevertretungen nicht eingeführt werden
sollte. Das Motto war damals: Völkerrechtliche Verein-
barungen gelten für uns nur, wenn sie uns passen.

Ich glaube, dass wir uns selbst und der Sache keinen
großen Gefallen tun, wenn wir jetzt bis in die letzte De-
tailfrage weiter einen Wettstreit führen. Es ist, glaube
ich, nötig, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch set-
zen. Ich würde mich freuen, wenn wir alle gemeinsam
dafür sorgen, dass es endlich eine gesetzliche Regelung
gibt.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711421300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksache 17/5933 und 17/5932 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der United Nations Inte-
rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grund-
lage der Resolution 1701 (2006) vom 11. Au-
gust 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
1937 (2010) vom 30. August 2010 des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen

– Drucksachen 17/5864, 17/6133 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6134 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfeh-
lung werden wir später namentlich abstimmen. Nach ei-
ner interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausspra-
che eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Stinner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1711421400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als wir vor einem Jahr über dieses Mandat gesprochen
haben, hätte wohl niemand von uns im Traum daran ge-
dacht, unter welch regionalpolitischem Kontext wir uns
heute mit diesem Mandat beschäftigen müssen. Die Welt
in der Region hat sich dramatisch verändert, verändert
sich täglich aufs Neue. Natürlich müssen wir uns heute
bei der Debatte über das Mandat überlegen, ob denn
diese regionale Veränderung Auswirkungen auf die
Ziele, den Inhalt und die Durchführung dieses Mandates
hat. Das haben wir sehr genau geprüft, und ich möchte
dazu einiges sagen.

Erstens ist klar, dass das UNIFIL-Mandat der Stabili-
sierung in der Region dient. Das wird von allen Anrai-
nern so gesehen. Alle Anrainer bitten uns inständig – ich
darf das hier so nachdrücklich sagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen –, diese Aufgabe auch in Zukunft fortzu-
setzen, weil natürlich alle Anrainer verstehen, dass auch





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

im gegenwärtigen Kontext eine solch stabilisierende
Funktion notwendig ist.

Wir haben im letzten Jahr eine Umorientierung und
Neufokussierung des Mandates vorgenommen, weil wir
der Meinung waren, dass die Überwachung auf See nicht
Daueraufgabe der deutschen Marine sein kann. Nein, es
muss auch hier darum gehen, dass wir Hilfe zur Selbst-
hilfe leisten. Wir haben bei der Neuorientierung des
Mandates im letzten Jahr den Schwerpunkt auf die Aus-
bildung der libanesischen Marine gelegt, damit wir die
Marine im Libanon schrittweise ermächtigen, die Auf-
gaben selbst wahrzunehmen, und wir dem Ziel nahe-
kommen, auch dieses Mandat richtig gut abschließen zu
können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Aufgabe ist noch nicht erfüllt, wie wir alle wis-
sen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich durch
Besuche vor Ort ein Bild gemacht. Wir wissen, dass die
libanesische Marine noch nicht so weit ist, aber daran
wollen wir weiter arbeiten.

Zweitens haben wir uns – auch das ist wichtig – sehr
nachhaltig für den Aufbau von zivilen Kapazitäten ein-
gesetzt. Ich nenne den Aufbau von Radarstationen. Auch
das ist wichtig und richtig. Ich bin sehr dankbar, dass die
Bundesregierung die Mittel hierfür bereitgestellt hat.
Wir wollen das auch in Zukunft tun.

UNIFIL ist ohne jeden Zweifel ein stabilisierendes
Instrument, und zwar sowohl an Land als Puffer zwi-
schen Israel und den Hisbollah-Kräften als auch auf See.
Ich möchte noch einmal unseren Soldatinnen und Solda-
ten ausdrücklich dafür danken – ich hoffe, auch in Ihrer
aller Namen, meine Damen und Herren –, dass sie diese
Aufgabe für die Stabilität in der Region nachhaltig wahr-
nehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es hat sich nicht nur in der Region vieles geändert.
Auch im Libanon hat sich in den letzten zwölf Monaten
einiges verändert. Mit Bedauern müssen wir feststellen,
dass bis zum heutigen Tage immer noch keine neue liba-
nesische Regierung steht.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wie in Deutschland! Die steht auch nicht!)


Den alten Premierminister kannten wir. Herr Hariri
war kalkulierbar. Er war auch in Berlin zu Gast. Herr
Miqati ist in der Warteschleife. Ich weiß nicht, was die
gestrigen Gespräche ergeben haben. Es hat gestern
Abend wohl ein Gespräch zwischen Miqati, Berri und
Aoun gegeben. Ich weiß nicht, was dabei herausgekom-
men ist. Wir können nur hoffen, dass es im Libanon bald
eine neue, möglichst stabile Regierung geben wird. Aber
ich verhehle nicht, dass wir in den nächsten Monaten
sehr genau beobachten müssen, welche innenpolitischen
Auswirkungen das im Libanon haben wird. Denn es
kann Einfluss auf unser Mandat haben. Wir werden uns
spätestens in einem Jahr, vielleicht aber auch schon frü-
her damit befassen müssen, welche Auswirkungen das
hat. Welche Rolle die Hisbollah in Zukunft in der Regie-
rung haben wird und wie sie eventuell bestimmte Posi-
tionen durchsetzen möchte, hat sicherlich Einfluss.

Aber auch die Situation in Syrien hat großen Einfluss
auf die Situation im Libanon. Es gibt in Syrien bis zum
heutigen Tage Kräfte, die der Meinung sind, dass Liba-
non eigentlich ein Teil von Syrien ist. Nach wie vor be-
steht in Syrien der Anspruch, nachhaltig Einfluss auf Li-
banon auszuüben.

Wir wissen nicht, wie die Entwicklung in Syrien aus-
gehen wird. Ich darf aber sehr deutlich sagen: Nach mei-
nem Dafürhalten ist auch das Regime von Herrn Assad
in Syrien am Ende. Wir sind uns sicherlich alle einig in
der Verurteilung des unmenschlichen Vorgehens der sy-
rischen Regierung gegen die eigenen Bürger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das heißt, auch in Zukunft werden wir die Auswir-
kungen der regionalen Veränderungen auf das Mandat
betrachten und diese mit einbeziehen müssen. Nachdem
wir die Schwerpunktsetzung geändert haben, möchten
wir sehr genau kontrollieren, ob auf Dauer ein solcher
deutscher Einsatz notwendig ist. Das werden wir genau
prüfen.

Aber ich stelle abschließend eindeutig fest: Zum heu-
tigen Zeitpunkt braucht die Region nach wie vor das sta-
bilisierende Instrument von UNIFIL. Zum heutigen Zeit-
punkt ist unser Einsatz für die Ausbildung der
libanesischen Marine unabdingbar notwendig. Zum heu-
tigen Zeitpunkt können wir uns zum Glück darauf beru-
fen, dass alle Anrainerstaaten das genauso sehen. Des-
halb darf ich Ihnen sagen, dass ich es richtig finde, dass
die Bundesregierung das Mandat vorlegt. Meine Frak-
tion wird deswegen heute diesem Mandat zustimmen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711421500

Die Kollegin Evers-Meyer hat für die SPD-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1711421600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

UNIFIL ist ein Einsatz der Bundeswehr, der regelmäßig
von den Meldungen aus Afghanistan überlagert wird.
Deswegen spreche ich hier zuallererst im Namen meiner
Fraktion allen Soldatinnen und Soldaten und den zivilen
Beschäftigten, die bei UNIFIL ihren Dienst leisten, un-
seren Dank und unsere Anerkennung aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Dank schließt auch die Familien ein, für die diese
langen Einsätze eine enorme Belastung sind. Wir schät-





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)

zen ihre Arbeit vor Ort, und wir sind von der großen Be-
deutung dieser Arbeit überzeugt. Deswegen werden wir
dem vorliegenden Mandat auch in diesem Jahr zustim-
men.

UNIFIL ist ein wichtiger Einsatz. Die Marine leistet
dort gute Arbeit und sendet ein wichtiges Signal für Si-
cherheit, Frieden und Stabilität in der Region. Die deut-
schen Schiffe vor der Küste Libanons helfen mit, den
zerbrechlichen Frieden zu stabilisieren. Sie sind dort
willkommen, und zwar bei allen Beteiligten. Nicht zu-
letzt deshalb waren wir immer davon überzeugt, dass
dieser Einsatz richtig und wichtig ist.

Die Kernaufgabe des Mandats, also Waffenschmug-
gel über See in den Libanon zu verhindern, bleibt ak-
tuell. Zwar wurden im vergangenen Jahr Fortschritte ge-
macht – das Küstenradarsystem ist bis auf drei
Radarstationen fertig –, aber die libanesische Marine ist
trotz aller Anstrengungen gerade auch unserer Marine
vor Ort noch nicht in der Lage, ihre Aufgaben verläss-
lich selbst zu übernehmen. Wenn man die kleinen Schiff-
chen sieht, die das Meer überwachen sollen, dann muss
man schon sagen, dass wir uns ein wenig mehr anstren-
gen könnten.

Ein zweiter wichtiger Punkt bei diesem Einsatz ist
deshalb die Ausbildung der örtlichen Kräfte. Die Ver-
stärkung der Anstrengungen bei der Ausbildung findet
unsere ausdrückliche Unterstützung. Eine gut ausgebil-
dete libanesische Marine mit funktionierendem Material
ist für uns ein zentrales Ziel, ohne das UNIFIL der ent-
scheidende Baustein für den nachhaltigen Erfolg fehlen
würde.

Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich der
Nahe Osten stabilisiert. Das gilt angesichts der Verände-
rungen in Nordafrika, aber auch in Syrien heute mehr
denn je. Das hätte man auch noch etwas deutlicher, so
finde ich, in den Antrag schreiben können. Deutschland
ist von allen Seiten, von Israel, vom Libanon und von
den Vereinten Nationen, aufgefordert worden, die Mis-
sion fortzusetzen. Das ist eine Bitte, die uns stolz ma-
chen sollte und die wir nicht abschlagen sollten. Sie
zeigt, dass wir, vertreten durch unsere Soldatinnen und
Soldaten vor Ort, ein sehr hohes Ansehen genießen. Ein
friedensstabilisierender Einsatz, der von allen Beteilig-
ten ausdrücklich gewünscht wird, ist selten, und das soll-
ten wir entsprechend würdigen.

Ungeachtet dieser eindeutigen Faktenlage kommen
andere Kolleginnen und Kollegen aber zu einem anderen
Ergebnis. Warum, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der FDP, versuchen Sie seit Beginn von UNIFIL,
diesen Einsatz zu verstecken? Sie tun das immer noch.
Warum bleibt es bei der willkürlichen Mandatsober-
grenze von 300 Mann? Sie wissen doch: Das sind zu we-
nige. Das reicht natürlich aus, um zwei Minenjagdboote
und ein Versorgungsschiff vor der libanesischen Küste
zu stationieren, aber – das wurde mir bei meinem Be-
such im Libanon im vergangenen Jahr immer wieder be-
stätigt – es reicht eben nicht, um eine Lead-Funktion in
diesem friedensstabilisierenden Einsatz zu übernehmen.
Dafür hätten wir nur 50 Soldatinnen und Soldaten mehr
ins Mandat schreiben müssen. Diesen Fehler haben Sie
bei der letzten Mandatsverlängerung schon gemacht. Sie
wollen ihn offensichtlich mit dieser Verlängerung nicht
beseitigen.

Das bedeutet aber, dass Deutschland bei diesem wich-
tigen UN-Einsatz auf der Führungsebene nicht vertreten
ist. Das muss man sich einmal vorstellen! Stattdessen
übernehmen jetzt Länder wie Brasilien die Führungs-
rolle. Nicht, dass wir etwas gegen Brasilien hätten,


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


aber Brasilien schickt keine Schiffe ins Mittelmeer, da-
für 20 Führungsoffiziere, die den Einsatz leiten. Bitte er-
kläre mir einmal einer die deutsche Politik!

Wenn Deutschland wirklich ein Interesse an diesem
Einsatz hat und wenn es in den Vereinten Nationen eine
bedeutendere Rolle spielen will, dann hätte sich bei
UNIFIL und insbesondere bei dieser Mandatsverlänge-
rung die Möglichkeit ergeben, unseren Anspruch kon-
kret umzusetzen. Das haben Sie verspielt. Warum, bleibt
Ihr Geheimnis.

Ich weiß nur, dass Sie damit Deutschlands Ansehen in
der Region eher schaden, und Sie schaden vor allen Din-
gen der Motivation unserer Soldaten vor Ort; denn sie
haben kein Verständnis dafür, dass sich Deutschland an
UNIFIL zwar beteiligt, aber keine Führung in dieser
Mission übernehmen will. Das ist Ihr politisches Ver-
säumnis.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So eine Rede!)


Ich will hier einmal mehr sehr klar sagen, was mir
wirklich Sorge bereitet – das geht vielen anderen in mei-
ner Fraktion genauso –: Wir werden seit 2009 außenpoli-
tisch nicht gut vertreten.


(Beifall des Abg. Fritz Rudolf Körper [SPD])


Der Außenminister lässt auch nach knapp zwei Jahren
im Amt eine Linie vermissen. Es fehlt an Führung, es
fehlt an Entscheidungen und klaren Positionen. Schon
hier bei UNIFIL, einem wirklich wichtigen, überschau-
baren und unterstützenswerten Einsatz, fehlt es dem Au-
ßenminister an jedweder Motivation. Herr Minister
Westerwelle, Sie sind doch für dieses Mandat verant-
wortlich. Es wäre gut, wenn Sie neben schönen Bemer-
kungen über die Demokratisierung in der arabischen
Welt einige handfeste Erklärungen dazu liefern könnten,
warum Deutschland bei UNIFIL so sehr hinter seinen
Möglichkeiten und Ansprüchen zurückbleibt.

Dieser Einsatz ist sinnvoll. Er wird von der interna-
tionalen Gemeinschaft getragen und vor Ort von allen
unterstützt. Dieser Einsatz verdient ein ernsthaftes Enga-
gement der deutschen Regierung. Mit der Mandatsbe-
grenzung auf 300 Soldatinnen und Soldaten setzen Sie
das falsche Signal. Es bleibt der Eindruck, auch bei un-
seren Partnern, dass wir uns in der Region – das ist mir
persönlich gesagt worden – nicht ernsthaft und nicht an
verantwortlicher Stelle einbringen möchten. Das ist be-
dauerlich; denn UNIFIL würde eine gute Möglichkeit
dafür bieten. So bleibt uns nur die Hoffnung, dass in den





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)

verbleibenden zwei Jahren etwas mehr außenpolitische
Weitsicht gezeigt wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711421700

Das Wort hat der Kollege Hahn für die Unionsfrak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Michael Groschek [SPD]: Das ist der Bad-Reichenhall-Versteher!)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1711421800

Ja, so ist es, Herr Kollege. – Sehr geehrte Frau Präsi-

dentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Anfangs
hatte die UNIFIL-Mission zwei Ziele: zum einen die
Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah zu über-
wachen und zum anderen den Wiederaufbau im Libanon
abzusichern. Hierbei haben wir nachhaltige Erfolge er-
zielt. Doch wir können und sollten nicht dauerhaft in der
Region präsent sein. Das haben wir auch so im Koali-
tionsvertrag festgelegt; der Kollege Stinner hat zu Recht
darauf hingewiesen. Wir müssen die aktuellen Entwick-
lungen trotzdem weiterhin verantwortungsvoll beobach-
ten.

Um sukzessiv die Verantwortung in die Hände der li-
banesischen Streitkräfte übergeben zu können, haben wir
uns im letzten Jahr entschieden, unseren Schwerpunkt
auf die Ausbildung der Marine zu setzen. Hierbei konn-
ten wir bereits gute Fortschritte erzielen. Mein Dank gilt
an dieser Stelle allen unseren Soldatinnen und Soldaten,
die bislang dort ihren Dienst versehen haben. Die Er-
folge, die wir für den Libanon und die gesamte Region
erzielen konnten, sind auch ihre Erfolge. Für ihr künfti-
ges Wirken wünsche ich ihnen weiterhin Gottes Segen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich konnte mich bei meinem letzten Besuch im ver-
gangenen Jahr in persönlichen Gesprächen mit Soldatin-
nen und Soldaten davon überzeugen, dass erstens die nö-
tige Motivation vorhanden ist und dass sie zweitens fest
daran glauben, dass unsere Hilfe zur Selbsthilfe an-
kommt und ein tragfähiges Konzept darstellt. Unser Er-
folg zeigt sich auch darin, dass wir zu Beginn des Man-
dats eine personelle Obergrenze von 2 400 Soldaten
hatten und dass wir diesen Auftrag heute mit 300 Solda-
ten sehr gut wahrnehmen können.

Unser Ziel ist es, dass Libanon mittelfristig selbst-
ständig die Seegrenzen überwachen kann. Deutschlands
bilaterale Aufbau- und Ausrüstungshilfe hat Libanon be-
reits befähigt, zumindest in Teilen die Überwachung der
Hoheitsgewässer selbst zu übernehmen. An dieser Stelle
appelliere ich aber auch an die Verantwortlichen im Li-
banon, den Willen zur Verantwortungsübernahme zu zei-
gen und das Ausbildungsangebot großzügig anzuneh-
men.
Im Rahmen des vernetzten Ansatzes wird Deutsch-
land auch künftig verstärkt den libanesischen Fähigkeits-
aufbau fördern. Hierzu gehören neben den Beteiligungen
am UNIFIL-Flottenverband auch politische, wirtschaft-
liche und sozioökonomische Maßnahmen. So beraten
beispielsweise Experten der Bundespolizei und des Zolls
seit September 2006 die zuständigen libanesischen Be-
hörden in Fragen der Grenzsicherheit mit finanzieller
Unterstützung aus Mitteln des Auswärtigen Amtes. Sie
sind am Flughafen Beirut, an den Seehäfen und an der
Nordgrenze zu Syrien beratend tätig. Die Beratertätig-
keit ist mit entsprechender Ausbildungs- und technischer
Ausstattungshilfe durch die Bundespolizei und den Zoll
verbunden.

Zum Wiederaufbau des im Sommer 2007 zerstörten
Flüchtlingslagers leistet die Bundesregierung aus Mit-
teln der Entwicklungszusammenarbeit und der zivilen
Krisenprävention ebenfalls wesentliche Beiträge. Sie
trägt dadurch zur Verbesserung der Lebensbedingungen
der palästinensischen Flüchtlinge bei.

Dies sind nur zwei Beispiele unserer vielschichtigen
und sehr erfolgreichen Hilfe.

Auch wenn von der Seeseite Waffenlieferungen
merklich eingedämmt sind und der zivile Wiederaufbau
vorangeht, können wir leider nicht von einer entspannten
Situation vor Ort sprechen. Denn seit Monaten gibt es
keine stabile Regierung. Doch ein stabiler Libanon ist
für die Sicherheit Israels und der Gesamtregion maßgeb-
lich und wichtig. Umso wichtiger ist es, dass Stabilität
dauerhaft hergestellt wird. Die Unruhen in den letzten
Monaten im Grenzgebiet zwischen Israel, Syrien und Li-
banon sind ein klares Zeichen dafür, wie angespannt die
Lage noch ist. Wir wissen leider, dass diese auch plötz-
lich eskalieren kann. UNIFIL hat einen wichtigen Bei-
trag dazu geleistet, dass die Situation nicht weiter ver-
schärft wurde.

Sowohl die libanesische als auch die israelische Re-
gierung haben ausdrücklich um die Aufrechterhaltung
des deutschen Engagements gebeten. Nur UNIFIL bietet
einen von beiden Seiten anerkannten Rahmen für direkte
Kontakte zur Klärung und Beilegung von Zwischenfäl-
len. So schätzen sowohl Israel als auch Libanon glei-
chermaßen die Rolle der Mission als bilateralen und re-
gionalen Stabilitätsanker.

Auch vonseiten der für friedenserhaltende Maßnah-
men zuständigen Abteilung des Sekretariats der Verein-
ten Nationen wurde großes Interesse an der Fortsetzung
der deutschen Beteiligung bei UNIFIL bekundet.

Daher bitte ich Sie alle um Zustimmung zur beantrag-
ten Mandatsverlängerung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711421900

Die Kollegin Buchholz hat für die Fraktion Die Linke

das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711422000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

stimme Herrn Stinner zu: Der arabische Frühling bietet
Chancen für den Frieden im Nahen Osten. Allerdings
glaube ich im Unterschied zur SPD, dass wir das nicht
unterstützen, indem wir noch mehr Soldaten in die Re-
gion schicken, sondern dass wir das unterstützen, indem
wir gar keine schicken.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke lehnt den UNIFIL-Einsatz ab.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erstaunlich!)


Ich möchte hier die wichtigsten Argumente dafür anfüh-
ren.

Als Allererstes: Das Mandat ist nicht neutral. Mit dem
Mandat wird zwar versucht, die Waffenlieferungen in
den Libanon zu unterbinden, aber gleichzeitig werden
die ungehemmten Waffenlieferungen an Israel ignoriert.

Der Bundestag hat in den nächsten Wochen die Gele-
genheit, diese Einseitigkeit zu beenden, indem er den
Anträgen der Linken gegen alle Waffenlieferungen in
den Nahen Osten zustimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch wenn ich nach der heutigen Debatte pessimis-
tisch bin, was die Position der anderen Parteien angeht,
denken wir, dass das der richtige Weg ist. Wenn Sie dem
nicht zustimmen, ist unsere Position wieder einmal be-
stätigt, dass Ihr Gerede davon, Frieden zu schaffen,
nichts anderes als geheuchelt ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens wurde 2006 das bisherige UNIFIL-Mandat
grundlegend erweitert, um die Einhaltung des Waffen-
stillstands in einer aktuell angespannten Situation nach
dem Libanon-Krieg zu überwachen. Aber nun sind die
Truppen bereits seit fünf Jahren dort, und es ist kein
Ende in Sicht. Alles sieht nach einer dauerhaften Statio-
nierung aus. Vielleicht war das ja auch ein Grund, wa-
rum die FDP bis zu ihrem Eintritt in die Regierung eine
kritische Position zum Mandat hatte und selbst in den
Koalitionsvertrag einen schrittweisen Ausstieg aus
UNIFIL hineinverhandelt hatte. Davon ist leider heute
nicht mehr viel zu spüren.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stinner ist ja froh, dass es wieder anders ist!)


Ob man es sinnvoll findet oder nicht – ich persönlich
finde es nicht sinnvoll –: Wenn es bei UNIFIL um einen
Beitrag zur Ausbildung der libanesischen Marine geht,
so gilt: Man kann auch bilaterale Vereinbarungen dazu
treffen; dazu braucht man kein umfassendes robustes
Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. UNIFIL ist ein Einsatz, wie gesagt, nach Ka-
pitel VII der UN-Charta. Das schließt die Möglichkeit
militärischer Zwangsmaßnahmen ein. Dadurch entsteht
das Risiko, dass die UNO-Truppen in einen militäri-
schen Konflikt hineingezogen werden und deren Rolle
als ein von allen Seiten akzeptierter neutraler Partner
nicht mehr anerkannt wird. Im schlimmsten Fall wird die
UNO zu einer Kriegspartei. Das lehnt die Linke prinzipi-
ell ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle Erfahrungen zeigen, dass militärisches Vorgehen
keine Probleme löst. Im Gegenteil: Sobald die UNO den
Boden der Unparteilichkeit verlässt, besteht zumindest
die Gefahr, dass sie zum Teil des Problems wird, statt
dass sie zur Lösung beiträgt. Deswegen möchte ich die
Kritik wiederholen, die die Linksfraktion bereits 2006 in
der Debatte zum selben Thema formuliert hat – ich zi-
tiere Lothar Bisky –:

Die vorherrschende Politik steckt mehr und mehr
Gedanken und materielle Ressourcen in militäri-
sche Konfliktbearbeitung. Das ist nicht der richtige
Weg.


(Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/ CSU]: Das war schon damals falsch!)


Viertens. Die Konflikte zwischen Libanon und Israel
werden wohl nur dann nachhaltig gelöst werden können,
wenn es einen gerechten Frieden im Nahen Osten gibt.
Die Linke hat dafür Vorschläge unterbreitet. Einen Mili-
täreinsatz hingegen lehnen wir ab. Deswegen sagen wir
auch heute Nein zum UNIFIL-Mandat.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711422100

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Kerstin Müller das Wort.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Buchholz, Sie haben hier noch einmal die
Tatsache beklagt, dass UNIFIL ein Kapitel-VII-Einsatz
ist. Ich sage es einmal so: Die Vorstellung, dass ein
Krieg zwischen Libanon und Israel, um den es im Jahr
2006 ging, ohne einen Kapitel-VII-Einsatz hätte beendet
werden können, ist derart naiv, dass ich wirklich nicht
weiß, wie Sie seriös mit dieser Argumentation hier auf-
treten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Es geht also nicht um einen Kriegseinsatz, sondern da-
rum, dass mit diesem Einsatz ein Krieg beendet wurde
und die Region so stabilisiert wird.

Aus unserer Sicht gibt es mindestens drei Gründe,
warum UNIFIL und die deutsche Beteiligung daran
wichtig sind. Meine Fraktion wird daher mit sehr, sehr
großer Mehrheit zustimmen.

Zuallererst hat diese Mission Bedeutung für die Stabi-
lität der Region. Die Umbrüche in der arabischen Welt
– sie wurden hier schon angesprochen – verändern die
Region tiefgreifend. Während die Demokratisierungs-





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

prozesse in Ägypten und Tunesien Fortschritte machen,
eskaliert die Lage in anderen Ländern, vor allem in Sy-
rien, in dramatischer Weise. Man kann ja nicht über den
Libanon sprechen, ohne Syrien anzusprechen. Das As-
sad-Regime geht mit unverminderter Gewalt gegen die
Demonstranten vor. In den letzten Wochen wurden
1 000 Zivilisten getötet, 10 000 Menschen inhaftiert.
Viele von den Freunden, die wir dort kennen und mit de-
nen wir zusammengearbeitet haben, sind im Gefängnis.
Wir wissen nicht einmal, wo sie sind. Zugleich sind Tau-
sende auf der Flucht. Wir konnten heute lesen, dass viele
aus Angst vor einem drohenden Massaker der Armee in
Dschisr al-Schughur in die Türkei flüchten. Das ist eine
schreckliche Bilanz.

Meine Damen und Herren, ich finde es unerträglich,
dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis heute
diese Gewalt nicht verurteilt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte von dieser Stelle aus wirklich an China und
Russland appellieren: Bitte verhindern Sie zumindest
diese Resolution, die auf Initiative von Deutschland,
Frankreich und Portugal dem Sicherheitsrat noch einmal
vorgelegt wird, nicht! Es muss zu einer Verurteilung
kommen. Das Assad-Regime muss isoliert werden, da-
mit es baldmöglichst abtritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ein Wandel in Syrien wird auch die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Libanon, etwa die Rolle der Hisbollah,
und vermutlich das Gesicht der ganzen Region verän-
dern. Auch deshalb hat der UN-Sonderkoordinator für
den Libanon, Michael Williams, noch einmal ganz deut-
lich gesagt: UNIFIL ist gerade in diesen außergewöhnli-
chen Zeiten ein Stabilitätsfaktor in der Region und muss
unbedingt fortgesetzt werden. Recht hat er mit dieser
Aussage.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Zweitens. Die Stabilität des Libanon und der Region
– Sie haben das kurz gestreift, aber meiner Meinung
nach falsch bewertet, Frau Buchholz – hängt eng mit der
Sicherheit Israels zusammen. Ich erinnere an die Unru-
hen am Nakba-Tag, der gerade begangen wurde. An die-
sem Tag wurden bei Protesten von Palästinensern an den
Grenzen 14 Menschen getötet. Es ist auch der Präsenz
von UNIFIL an der südlibanesischen Grenze zu verdan-
ken, dass die Situation nicht weiter eskaliert ist. Das ist
auch ein Grund, weshalb der Libanon und Israel für die
Fortsetzung des Mandates und ausdrücklich für eine
deutsche Beteiligung sind. Welche besseren Gründe
könnten es geben, das Mandat zu verlängern?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Der letzte Punkt ist die angespannte Lage im Libanon
selbst; Herr Stinner hat es angesprochen. Vier Monate
nach dem Sturz Hariris gibt es immer noch keine neue
Regierung. Hier zeigt sich aber auch ein Schwachpunkt
von UNIFIL, nämlich dass die Seeseite zwar erfolgreich
abgesichert wird, aber der Waffenschmuggel an der sy-
risch-libanesischen Grenze nicht verhindert werden kann
und die Hisbollah massiv aufgerüstet wurde. Dadurch
fühlt sich Israel zu Recht bedroht. Wir müssen also wei-
ter auf die Entwaffnung der Hisbollah drängen.

Aus all diesen Gründen ist klar: UNIFIL ist ein Stabi-
litätsanker in einer fragilen Region. Deshalb darf man
hier nicht lavieren. Wenn wir zu Frieden und Stabilität in
der Region beitragen wollen, dann braucht die Region
verlässliche Signale, und deshalb ist es vernünftig und
richtig, dieses Mandat zu verlängern.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711422200

Das Wort hat der Kollege Gädechens für die Unions-

fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1711422300

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele ha-
ben nach dem libanesisch-israelischen Krieg viel ver-
sprochen; wenige haben ihre Versprechen gehalten.
Deutschland hat nicht nur Hilfe versprochen, sondern
nachhaltig Hilfe zur Selbsthilfe geleistet. Weite Teile der
libanesischen Bevölkerung nehmen das deutsche Enga-
gement dankbar zur Kenntnis. – Mit diesen Worten
wurde in der letzen Woche eine Delegation von Mitglie-
dern des Verteidigungsausschusses, der auch ich ange-
hörte, vom obersten libanesischen Admiral empfangen.

Die Gründe, warum sich Deutschland im UNIFIL-
Mandat engagiert, sind in diesem Hohen Hause seit 2006
mehrfach diskutiert und beraten worden und sollten so-
mit hinlänglich bekannt sein. Gleichwohl gilt es, einmal
mehr festzustellen, dass unser Engagement nicht nur
wichtig, sondern tatsächlich auch effektiv ist und die ge-
wünschte Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht.

Ich durfte mich davon überzeugen, dass die nahezu
lückenlose Radarüberwachung in einem Radius von
24 nautischen Meilen, also circa 45 Kilometer, vor der
libanesischen Küste funktioniert. Die von uns zur Verfü-
gung gestellten Boote versetzen die sehr kleine, aber
hochmotivierte und gut ausgebildete libanesische Ma-
rine in die Lage, unidentifizierte Seeziele – jedenfalls
teilweise – abzufangen und zu kontrollieren.

Dabei mutierte das ehemalige deutsche Sicherungs-
boot „Bergen“ zum Flaggschiff der libanesischen Ma-
rine. Ich war seinerzeit bei der Übergabe des Siche-
rungsbootes an die libanesische Marine mit dabei





Ingo Gädechens


(A) (C)



(D)(B)

gewesen und war freudig überrascht, in welch einwand-
freiem Zustand sich das Boot heute immer noch befindet


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Dank der guten Pflege!)


und welch hohen Ausbildungsstand die Besatzungsmit-
glieder haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Drei oder vier Boote reichen aber nicht aus, um ge-
genüber Israel glaubhaft zu verdeutlichen, dass zumin-
dest die Seegrenze vor illegalem Waffenschmuggel ge-
schützt werden kann. Deshalb ist es zu begrüßen, dass
die Bundesregierung den UNIFIL-Einsatz bis zum Juni
2012 verlängern möchte. Würden wir nämlich das Man-
dat zum jetzigen Zeitpunkt beenden – beenden in einer
Zeit der Unruhe in weiten Teilen der arabischen Welt –,
würde Israel morgen die Seeblockade wieder aufleben
lassen.

Die innenpolitische Situation im Libanon – wir hörten
es – scheint so zu sein, dass man sie auf den ersten Blick
als ruhig bewerten könnte. Die Lage ist allerdings weit
davon entfernt, stabil zu sein. Das kontroverse Gespräch
zwischen zwei libanesischen Abgeordneten machte die
Situation deutlich: ein Land mit Verfassung, aber leider
immer noch ohne handelnde Regierung. Schlimmer
noch: Wenn man die Skyline von Beirut sieht, blickt
man auf eine prosperierende, pulsierende Metropole. Da
fragt man sich ganz automatisch, warum dieses Land
nicht in der Lage zu sein scheint, durch eigenes Steuer-
aufkommen eine wirkungsvolle Küstenwache aufzu-
bauen. Die Antwort mag in der allgegenwärtigen Hisbol-
lah liegen. Besonders nachdenklich kann man schon
werden, wenn man in den Beiruter Sportboothafen
blickt, in dem mehr und größere Motorjachteinheiten lie-
gen als in dem daneben liegenden Marinehafen. UNIFIL
kann das innenpolitische Dilemma nicht lösen, das Pro-
blem der mächtigen Hisbollah-Einflussnahme muss der
Staat Libanon eigenständig klären.

Die deutsche Präsenz durch UNIFIL bietet uns aber
noch eine ganz andere – für mich fast noch bedeutendere –
diplomatische Offerte. Das gewachsene Vertrauen und
die Hochachtung zwischen Israel und Deutschland, die
Anerkennung und Hilfsbereitschaft zwischen Deutsch-
land und dem Libanon bringen uns in die exzellente di-
plomatische Mittlerposition, die von allerhöchstem Stel-
lenwert ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sinnbildlich – das bekräftigten die deutsche Botschafte-
rin und der kommandierende Kapitän der Marineeinhei-
ten – sei die deutsche Flagge am Heck des in exponierter
Lage liegenden Tenders „Mosel“. Unsere Flagge als
Staatssymbol zeigt jedem Libanesen: Hier ist ein Land,
das nicht nur redet, sondern uns auf dem Weg in eine
hoffentlich bald bessere Zukunft unterstützt.

Dem Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten, die
im UNIFIL-Mandat hervorragende Arbeit leisten – er ist
hier heute schon mehrfach formuliert worden –, kann ich
mich nur anschließen, wiederholen muss ich ihn nicht,
weil ich diesen Dank in der letzten Woche vielen Kame-
radinnen und Kameraden gegenüber auf dem Schnell-
boot „Zobel“ und dem Tender „Mosel“ persönlich aus-
sprechen durfte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bitte Sie um Zustimmung zur Verlängerung des
UNIFIL-Mandats.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711422400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 17/6133 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Leba-
non.

Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
17/5864 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschluss-
empfehlung namentlich ab. Ich bitte nun die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein-
zunehmen.

Sind an allen Urnen die dafür vorgesehenen Schrift-
führerinnen und Schriftführer? – Das ist der Fall. Ich er-
öffne die Abstimmung und bitte, die Karten einzuwer-
fen.

Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten
eingeworfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann
schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6142. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die UN-Leitlinien für menschenrechtlich ver-
antwortliches unternehmerisches Handeln ak-
tiv unterstützen

– Drucksache 17/6087 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

1) Ergebnis Seite 13080 D





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD

Die Chance zur Stärkung des UN-Menschen-
rechtsrates nutzen

– Drucksachen 17/5482, 17/6078 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christoph Strässer
Marina Schuster
Katrin Werner
Tom Koenigs

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Christoph Strässer von der SPD-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1711422500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen feiert in die-
sen Tagen Jubiläum: Er wird fünf Jahre alt. Er ist neben
der Peacebuilding Commission eines der wenigen Er-
gebnisse des mit großem Eifer angestoßenen Prozesses
einer Reform der Vereinten Nationen insgesamt.

In der Resolution, die vor fünf Jahren zur Gründung
des Menschenrechtsrats geführt hat, hieß es – ich zitiere –:
Die Generalversammlung beschließt, „dass die Tätigkeit
des Rates von den Grundsätzen der Universalität, der
Unparteilichkeit, der Objektivität und der Nichtselektivi-
tät, eines konstruktiven internationalen Dialogs und der
… Zusammenarbeit“ im Hinblick auf die Förderung und
den Schutz aller Menschenrechte bestimmt wird. Ich
denke, wenn man nach fünf Jahren Bilanz zieht, inwie-
fern man diesem hohen Anspruch gerecht wurde, muss
man feststellen – ich sage das etwas vorsichtig –, dass si-
cherlich nicht alle Erwartungen erfüllt wurden.

Der Menschenrechtsrat ist die Nachfolgeorganisation
der Menschenrechtskommission. Diese Menschen-
rechtskommission hat in den Jahren ihrer Arbeit vielerlei
Kritik hinnehmen müssen, wie ich finde, zu Recht. Kri-
tikpunkte waren unter anderem die Blockbildung und die
Tatsache, dass es nicht möglich war, aktuelle menschen-
rechtliche Konflikte ernst zu nehmen und dort zu debat-
tieren. Die Etablierung des Menschenrechtsrats war der
Versuch, an diesen Umständen etwas zu ändern. Wenn
man nun bilanziert, muss man, glaube ich, sagen, dass es
hinsichtlich der Arbeit des Rates einige Fortschritte ge-
geben hat, es aber immer noch negative Punkte gibt.
Diese möchte ich vorweg bewerten. Sie zeigen auf, dass
noch viel zu tun ist.
Ich glaube, dass es ein ziemlicher Skandal ist, dass
Libyen vor anderthalb Jahren als Mitglied in den Men-
schenrechtsrat gewählt worden ist. Ich glaube, das kann
und darf man nicht hinnehmen.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von uns ist daher zu begrüßen – das zeigt, dass es mög-
lich ist, in diesem Menschenrechtsrat zu arbeiten –, dass
Libyen im März dieses Jahres mit der nötigen Zweidrit-
telmehrheit wieder aus dem Menschenrechtsrat entfernt
wurde. Auch dies sollte man zur Kenntnis nehmen. Das
gibt Anlass zu der Hoffnung, dass dieses Gremium vor
aktuellen Entwicklungen die Augen nicht verschließt.

Ich finde, an dieser Stelle muss man auch sehr deut-
lich ein Manko der ständigen Geschäftsordnung dieses
Rates ansprechen, das darin besteht, dass es nicht ge-
lingt, aktuelle Konflikte zum Thema zu machen. Man
muss sich wirklich Mühe geben – wir wissen das durch
den einen oder anderen Besuch des Menschenrechtsaus-
schusses vor Ort –, um Bündnisse zu bilden, damit man
bestimmte Punkte überhaupt auf die Tagesordnung brin-
gen kann. So finde ich es nicht nur unangenehm, sondern
sogar skandalös, dass sich der Menschenrechtsrat nach
Beendigung des Krieges in Sri Lanka geweigert hat, das
Vorgehen der sri-lankischen Regierung gegen die Tami-
len überhaupt auch nur auf die Tagesordnung zu setzen,
obwohl doch die ganze Welt weiß, dass dort massivste
Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen sind. Da-
mit wird, wie ich meine, der Menschenrechtsrat seiner
Aufgabe nicht gerecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genauso finden wir es nicht wirklich hilfreich – ich
glaube, auch da sind wir uns alle einig –, dass aktuelle
Probleme, die seit vielen Jahren virulent sind, zum Bei-
spiel der Konflikt zwischen Darfur und dem Sudan,
nicht auf der Tagesordnung des Rates erscheinen. Ich
möchte daher die Aufforderung an die Bundesregierung
richten, dass sie bei den Beratungen in der Generalver-
sammlung in den nächsten Wochen und Monaten darauf
hinwirkt, dass die ständige Geschäftsordnung derart ge-
ändert wird, dass die Behandlung dieser Konflikte auf
die Tagesordnung gesetzt werden kann. Es kann nicht
sein, dass man immer darauf achten muss, dass aufgrund
der Blockbildungen im Menschenrechtsrat Mehrheits-
verhältnisse entstehen, die nicht akzeptabel sind. Ich
zitiere Manfred Nowak – keine Sorge, das ist kein
Deutscher –, den österreichischen UNO-Sonderbericht-
erstatter für Folter, der noch vor zwei Jahren gesagt hat:
Eigentlich ist die Reform gelungen, aber wir müssen lei-
der feststellen, dass in dem Rat die Staaten die Mehrheit
haben, in denen die Menschenrechte am intensivsten
verletzt werden. – Diese Feststellung – wie gesagt: nicht
von einem deutschen Politiker – sollte man ernst neh-
men. Deshalb richte ich an dieser Stelle noch einmal die
Aufforderung aus unserem Antrag an die Bundesregie-
rung, möglichst dafür zu sorgen und dafür zu arbeiten,
dass es zu einem anderen Wahlverfahren kommt und





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


diese Blockabhängigkeit bald der Vergangenheit ange-
hört.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum zweiten Antrag, den wir in den Aus-
schüssen beraten. Im Menschenrechtsrat steht im Juli
dieses Jahres der Bericht des Sonderbeauftragten der
Vereinten Nationen, John Ruggie, zum Thema „men-
Das zieht auch inhaltliche Probleme nach sich. Ich
will nur ein Beispiel nennen: die Entscheidung des Rates
zur sogenannten Diffamierung von Religionen. Diese
Entscheidung ist durchgesetzt worden mit der Mehrheit
der Staaten der Islamischen Konferenz, die nur ein Ziel
hat, nämlich, die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit
in den Ländern, in denen auch der Islam kritisiert wird,
einzuschränken bzw. abzuschaffen und die Verhältnisse
in den islamischen Staaten zur menschenrechtlichen
Grundlage für das Verhalten in diesem Rat zu machen.
Das ist inakzeptabel, und auch solche Entscheidungen
dürfen in dieser Form nicht im Menschenrechtsrat ge-
troffen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nichtsdestotrotz glaube ich, dass der Menschen-
rechtsrat einen qualitativen Fortschritt darstellt. Einer
der wesentlichen Punkte, die ich ansprechen möchte, ist
das sogenannte UPR-Verfahren – Universal Periodic
Review. Dies ist ein ständiges Überprüfungsverfahren,
in dem sich alle 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Na-
tionen, also nicht nur die Mitgliedstaaten des Rates, im
Abstand von vier Jahren im Hinblick auf die menschen-
rechtliche Situation bei sich überprüfen lassen müssen.

Das ist ein Fortschritt; denn man bekommt vor Ort
– die Bundesregierung hat das, glaube ich, im Jahr 2009
in Genf gemacht – einen sehr intensiven Eindruck von
der Situation in den jeweiligen Ländern. Daran sollte
weiter gearbeitet werden. Wir fordern die Bundesregie-
rung auf, dafür zu sorgen, dass dieses Instrument ge-
schärft wird und nicht nur einmal in vier Jahren ein Be-
richt vorgelegt wird. Wir erwarten daher, dass uns im
Jahr 2012 – zur Halbzeit des Berichtes der Bundesregie-
rung – ein Zwischenbericht vorgelegt wird, aus dem wir
ersehen können, ob die Empfehlungen, die an die Bun-
desregierung gegeben wurden, befolgt werden. Wenn ja,
ist das gut; wenn nein, müssen wir schauen, warum das
nicht passiert ist.

Das alleine bringt uns weiter. Es macht unsere eigene
Glaubwürdigkeit in diesem Verfahren aus, nicht nur bei
den anderen auf die Einhaltung der Empfehlungen zu
achten, sondern auch bei uns selbst. Das wäre vorbild-
lich. Dass die Bundesregierung sich aus Kapazitätsgrün-
den bislang weigert, einen Zwischenbericht für das Jahr
2012 zu erstellen, ist kein positives Beispiel für die Men-
schenrechtspolitik dieser Regierung und dieses Landes.
Das muss geändert werden.
schenrechtliche Verantwortung von Unternehmen“ an.
Der Menschenrechtsausschuss hat dieses Thema im letz-
ten halben Jahr zu seinem Schwerpunkt gemacht. Auch
hier lautet die Aufforderung, dieses Verfahren massiv zu
unterstützen, weil es sich mit einer Frage auseinander-
setzt, die viel brisanter ist, als wir das alle vermuten.

Ruggie versucht – leider unverbindlich –, eine lücken-
lose Kontrolle von Produkten zu erreichen, die – aus wel-
chen Teilen der Welt auch immer – auf unsere Märkte
kommen. Damit soll nachgewiesen werden, dass Pro-
dukte sauber sind und man sie empfehlen kann. Das be-
deutet auch für unsere Unternehmen einen Schutz. Diese
Form von Politik ist keine Belastung für den Standort,
sondern ein positiver Standortfaktor. Die Menschen in
unserem Land wollen wissen, woher ein Produkt kommt.
Ist das ein Produkt aus einem Bürgerkriegsland? Ist das
ein Produkt aus Usbekistan, wo, wie wir es gesehen ha-
ben, bei der Baumwollproduktion Kinderarbeit nach wie
vor eine große Rolle spielt?

Ich glaube, wir sollten diese wirtschaftlichen und so-
zialen bzw. kulturellen Rechte massiv in den Vordergrund
unserer Politik stellen. Deshalb geht die Aufforderung an
die Bundesregierung, diese Politik zu unterstützen und
für ein Folgemandat zu sorgen, sodass diese Prinzipien
Eingang in die alltägliche Arbeit finden.

Wir können, sollen und dürfen uns Skandale wie den
aus Usbekistan geschilderten nicht leisten. Hierbei kann
dieser Bericht von großem Nutzen sein. Deshalb bitte
ich Sie um Unterstützung und darum, auch in diesem
Hohen Hause dafür zu werben, dass eine solche Politik
in Deutschland zur realen Praxis wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711422600

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ih-

nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortset-
zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der United Nations Interim Force in Lebanon“ be-
kannt: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben gestimmt
484, mit Nein haben gestimmt 80, Enthaltungen 7. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon

ja: 484
nein: 80
enthalten: 7

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht

(Tuchenbach)


Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Tobias Lindner
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Nein

SPD

Klaus Barthel
Willi Brase
Michael Groß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Hilde Mattheis
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


FDP

Dr. h. c. Jürgen Koppelin

DIE LINKE

Jan van Aken





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


digt worden ist. Das zeigt, dass sich Aktivitäten im soge-
Nachholbedarf gibt. Wichtig
antwortung ist, dass sowohl d
Organisationen als auch die n
nale Politik sich dieses Them

Aber auch der Verbrauche
nen Kaufentscheidungen ein
ebenfalls entscheidend, die
cken und Verbraucher inform
der Vergangenheit häufiger.

Sie können die Widersprüc
stellung der Unternehmen u
Produktionsländern aufdecke
der globalisierten Welt, dass
weit entfernt produziert werd
einem niedrigen Lohnniveau;

Problematisch ist, dass Arb
weltstandards in den Entwick
res Niveau haben und teilwe
Vorstellungen, die wir von
Deshalb ist es eine notwendig
bei der Unternehmensver-
ie Unternehmen und deren
ationale und die internatio-
as annehmen müssen.

r kann ganz aktiv mit sei-
greifen. Die Medien sind

Missstände vor Ort aufde-
ieren sollten. Das gab es in

he zwischen der Selbstdar-
nd der Wirklichkeit in den
n. Es ist eine Konsequenz
Produkte für unseren Markt
en, vor allem in Staaten mit
das ist völlig legitim.

eits-, Sicherheits- und Um-
lungsländern ein ganz ande-
ise nur in der Theorie den
ihnen haben, entsprechen.
e Folge der Globalisierung,
langfristig auszahlen. Ich gl
nur auf Quartalszahlen scha
Entwicklung verschlafen, wa
stehen kommen kann.


(Beifall des Abg. Chris Gleichwohl gibt es natürl Beispiel Textilien in Bangla herstellen lassen, die nicht e rungen an Arbeitsbedingung Wir wollen hier nicht auf Ei müssen aktiv für Veränderun Waffe wäre ein Verbraucherb lich nur das letzte Mittel. Grundsätzlich setze ich mi informationen ein, damit der sein für die Herstellungsbed entwickeln kann. Das kann z produktion durch ein zumin dem Titel „Socially made“ aube, dass die Firmen, die uen, eine gesellschaftliche s sie in der Zukunft teuer zu toph Strässer [SPD])


ich Unternehmen, die zum
desch unter Bedingungen
inmal die Mindestanforde-
en und Ökologie erfüllen.
nsicht warten, sondern wir
gen eintreten. Die stärkste
oykott; aber das ist eigent-

ch für bessere Verbraucher-
Verbraucher ein Bewusst-
ingungen eines Produktes
um Beispiel bei der Textil-
dest EU-weites Label mit
geschehen. Das heißt, der
Das bedeutet natürlich umgekehrt auch, dass es hier viel nannten Social Business für Unternehmen zumindest
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel

Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau

Jetzt kommen wir zum nächsten Redner. Das ist der
Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1711422700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ich schließe an das an, was
der Kollege Strässer am Schluss angesprochen hat, näm-
lich das Thema „menschenrechtliche Unternehmensver-
antwortung in Entwicklungsländern“. Das fällt nicht nur
in meine Zuständigkeit, sondern es ist vor allem eine
Herzensangelegenheit von mir.

Ich bin der Auffassung, dass positive Veränderungen
zu einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechts-
situation in den Entwicklungsländern führen können.
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Uwe Kekeritz
Monika Lazar
Till Seiler
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe

Enthalten
FDP
Helga Daub
Joachim Günther (Plauen)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Anton Hofreiter
Sylvia Kotting-Uhl
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn

dass wir den auf dem deutschen Markt arbeitenden Unter-
nehmen in die Produktionsländer folgen. Unzumutbare
Bedingungen, die diese Unternehmen dort verantworten,
dürfen wir nicht hinnehmen. Die Möglichkeiten, hier Ver-
besserungen zu schaffen, sind sehr vielfältig. Ich möchte
zunächst einmal die Eigenverantwortung der Unterneh-
men nennen. Ein geändertes gesellschaftliches Bewusst-
sein, aber auch eigene Erkenntnisse haben zu Corporate-
Social-Responsibility-Aktivitäten vieler Unternehmen
geführt, bei manchen eher als Feigenblatt, bei anderen als
echter Bestandteil der Firmenphilosophie.

Zu denen, für die das Teil der Firmenphilosophie ist,
gehört die Otto AG mit Sitz in meinem Wahlkreis, deren
Engagement vor wenigen Tagen durch die Verleihung
des Walter-Scheel-Preises an Dr. Michael Otto gewür-





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

Verbraucher kann nachvollziehen: Dieses T-Shirt ist un-
ter vernünftigen sozialen Bedingungen hergestellt wor-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für ein solches Siegel müssen Mindeststandards von
Lohnniveau, Arbeitsbedingungen und Ökologie erfüllt
sein. Wir haben ja auch Beispiele für solche Siegel. Ich
denke an Bio, an MSC und Fairtrade.

Unternehmen, die in den Produktionsländern diese
höheren Standards erfüllen, können damit werben und
den Verbraucher informieren, dass er sozial verantwor-
tungsvoll einkauft und ökologisch nachhaltig handelt,
wenn er sich für ihre Produkte entscheidet. Umgekehrt
werden Unternehmen Probleme bekommen, die teure
Markensachen in Deutschland verkaufen, aber in Bang-
ladesch oder anderswo nicht einmal die Mindeststan-
dards im sozialen Bereich erfüllen. Wir schließen damit
also eine wichtige Lücke. Deshalb freue ich mich, wenn
möglichst viele Kolleginnen und Kollegen auch aus den
anderen Fraktionen diese Idee aufgreifen.

Im Bereich der Unternehmensverantwortung ist es
meist so, dass nationale Alleingänge in unserer globali-
sierten Welt nicht weiterführen. Wir benötigen deshalb
internationale Grundlagen und Vereinbarungen, am bes-
ten unter dem Dach der Vereinten Nationen. Ich bin froh,
dass es gelungen ist, UN-Leitlinien für menschenrecht-
lich verantwortliches unternehmerisches Handeln als ei-
nen Global Compact zu entwickeln. Wir als Union sehen
uns in der Verantwortung, diese Leitlinien der Vereinten
Nationen zu unterstützen. Aktuell macht das auch die
OECD. Wir machen das, indem wir zum Beispiel den
Global Compact aus dem Etat des Entwicklungsministe-
riums mit 250 000 Euro unterstützen.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Anmer-
kungen zu Ihrem Antrag machen, Herr Strässer. Sank-
tionsbewehrte Menschenrechtsklauseln in Freihandels-
abkommen der EU haben Sie, als Sie noch in der
Regierung waren, immer abgelehnt.


(Christoph Strässer [SPD]: Ja!)


Jetzt fordern Sie diese. Welch wundersamer Gesinnungs-
wandel! Im Übrigen ist die Erfüllung dieser Forderung
bereits auf einem guten Wege.

Zweitens wollen Sie alle Unternehmen auf die Ein-
haltung der Menschenrechte in allen Tochter- und Zulie-
ferunternehmen verpflichten. Ich halte das für ein biss-
chen blauäugig. Wie wollen Sie diese Forderung vor
allen Dingen in den Entwicklungsländern durchsetzen
und ganz konkret erfüllen? Ich glaube, das ist sehr
schwierig, wenn auch der Anspruch sicherlich sinnvoll
ist.

Festzuhalten ist, dass wir gemeinsam die UN-Leitli-
nien als zielführende Strategie zur Verbesserung der
menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen
ansehen. Ich glaube, darauf gilt es in Zukunft aufzu-
bauen.

Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711422800

Das Wort hat die Kollegin Annette Groth von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711422900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich schließe mich dem Herrn Kollegen Klimke an
und möchte in erster Linie über die oft menschenrechts-
verletzenden Praktiken von Unternehmen sprechen; etli-
che Beispiele haben Sie schon benannt.

Durch die Liberalisierung des Welthandels ist die
Macht der internationalen Konzerne immer weiter ange-
wachsen; das bestreitet niemand mehr. Viele der großen
börsennotierten transnationalen Konzerne erzielen Jah-
resumsätze, die das Bruttoinlandsprodukt mittelgroßer
Staaten deutlich überschreiten. Aufgrund ihrer Markt-
macht diktieren Unternehmen den Zulieferbetrieben in
den verschiedenen Regionen der Welt ihre Forderungen.
Mit der Drohung, Arbeitsplätze zu verlagern, setzen sie
gegenüber den Staaten ihre Profitinteressen durch. Um-
welt- und Sozialstandards sowie Menschenrechte spielen
dabei leider keine Rolle. Die reichsten 20 Prozent der
Bevölkerung verfügen heute über mehr als 70 Prozent
des globalen Reichtums. Fast 80 Prozent der Weltbevöl-
kerung haben keinen Zugang zu elementarem sozialen
Schutz.

Juan Somavia, der Generaldirektor der Internationa-
len Arbeitsorganisation, der ILO, betonte kürzlich, dass
das Vertrauen der Menschen in Politik und Wirtschaft ei-
nen historischen Tiefststand erreicht habe. Die Fraktion
Die Linke fordert seit vielen Jahren verbindliche und
konkrete Mindeststandards für international arbeitende
Konzerne.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn das nicht gelingt, wird sich die Situation der Ar-
men noch weiter verschlechtern.

Beispiel Kakao. Weltweit bauen rund 5,5 Millionen
Kleinbauern Kakao an; er ist ein wesentlicher Bestandteil
unserer Schokolade. Unsichere Einkommen, schlechte
Arbeitsbedingungen sowie Kinderarbeit sind in diesem
Sektor weit verbreitet. In der Elfenbeinküste arbeiteten
im Jahr 2009 rund 820 000 Kinder in der Kakaobranche –
ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


In den Anbauregionen der Elfenbeinküste haben 72 Pro-
zent der Dörfer keinen Zugang zu einer Gesundheitsver-
sorgung, 53 Prozent keinen Stromanschluss und ledig-
lich 40 Prozent einen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Weltweit hungert inzwischen mehr als 1 Milliarde
Menschen. Wenn die Politik nicht umgehend handelt,
werden die Nahrungsmittelpreise weiter steigen. Von
diesen Preissteigerungen werden einige wenige Agro-
konzerne wie Cargill, Bunge, ADM und Dreyfus in gro-





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)

ßem Maßstab profitieren. Diese vier Konzerne kontrol-
lieren 73 Prozent des Weltgetreidehandels und haben
damit eine unglaubliche Macht über unsere Lebensmittel
und Nahrung. Auch die Förderung der Agrospritindus-
trie, die Milliardensubventionen bekommt, um Nah-
rungsmittel in Tankfüllungen zu verwandeln, trägt mas-
siv zur Verschlechterung der Lage der Ärmsten bei.

Die Agrarkonzerne kontrollieren die Lieferketten und
beherrschen die Märkte; auch Sie haben darauf hinge-
wiesen. Gleichzeitig zocken Finanzspekulanten mit
Nahrungsmitteln, um schnell Kasse zu machen. Auch
die Spekulationen sind für steigende Lebensmittelpreise
verantwortlich. Sie stellen damit einen Angriff auf eines
der grundlegenden Menschenrechte dar: auf das Recht,
sich selbstständig und angemessen ernähren zu können.
Diesem unerträglichen Treiben muss durch verbindliche
Regeln ein Ende gemacht werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fürchte nur, dass die allseits bekannten und zitier-
ten UN-Leitlinien nicht dazu beitragen werden, die men-
schenrechtsverletzenden Praktiken der transnationalen
Konzerne einzudämmen. In diesem Zusammenhang
möchte ich Oxfam zitieren:

Die Politik hat auf diesem Feld im Großen und
Ganzen versagt. Die meisten Regierungen sahen
untätig zu, wie die großen Agrarkonzerne immer
mehr Einfluss gewannen und die Landwirtschafts-
politik zunehmend mitgestalteten. Die Regierungen
haben Wirtschaftsinteressen Vorschub geleistet und
den Missbrauch öffentlicher Mittel für private Zwe-
cke zugelassen. Es wurde darauf verzichtet, effek-
tive Regeln zur Kontrolle der mächtigen Unterneh-
men zu beschließen.

Deshalb wollen wir verbindliche, effektive Regeln,
die in einem international gültigen völkerrechtlichen
Vertrag festgeschrieben werden müssen. Konzerne, die
diese Regeln brechen, müssen dafür zur Rechenschaft
gezogen und bestraft werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711423000

Das Wort hat die Kollegin Marina Schuster von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1711423100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

SPD-Fraktion hat heute zwei unterschiedliche Anträge
vorgelegt. Ich würde gerne noch einmal auf den ersten
Antrag eingehen, nämlich auf den Menschenrechtsrat als
solchen.

Wir sind als Mitglieder des Menschenrechtsausschus-
ses einmal im Jahr in Genf und führen dort Gespräche.
Bei der letzten Sitzung des Menschenrechtsrates haben
wir uns natürlich auch über den Stand der Reform des
sogenannten Review-Prozesses informiert. Insofern
müssen wir bezogen auf die bisherigen Ergebnisse auch
einmal Bilanz ziehen: Es gibt Erfolge, aber leider auch
Rückschläge. Zum einen ist es nicht gelungen, gute Vor-
schläge, die auch vonseiten der NGOs kamen, einzu-
bauen; andererseits konnte verhindert werden, dass zum
Beispiel das Mandat der Sonderberichterstatter abge-
schwächt wird. Insofern liegen jetzt viele Hoffnungen
auf der Generalversammlung in New York. Ich bin sehr
froh, dass sich die Bundesregierung sowohl in Genf als
auch in New York aktiv einbringt, um das Ergebnis des
Review-Prozesses zu verbessern; denn wir sind ein gro-
ßer Unterstützer, und es ist wichtig, dass wir andere
Staaten finden, die sich diesem Reformprozess anschlie-
ßen.

Der Reformprozess darf nicht stoppen. Es gibt noch
einiges, was an der Struktur des Menschenrechtsrates
verbessert werden kann, zum Beispiel die Glaubwürdig-
keit. Sie steht und fällt damit, wie schnell und effektiv
der Menschenrechtsrat auf schwere Menschenrechtsver-
letzungen reagiert. Da gibt es gute Beispiele, wie im Fall
von Libyen. Der Ausschluss Libyens ist gelungen, weil
der libysche Botschafter vor Ort aktiv daran mitgewirkt
hat und es hier zu einer klaren Stellungnahme des Men-
schenrechtsrates kam. Es gibt aber auch schlechte Bei-
spiele – Herr Strässer hat es erwähnt – wie Darfur und
Sri Lanka. Hier blieben die Debatten aus, und eindeutige
Resolutionen kamen nicht zustande.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das Problem ist, dass wir feststellen müssen, dass
Blockbildungen, die regionale Zugehörigkeit, aber auch
nationale Interessen manchmal mehr zählen als die
Grundsätze der Universalität der Menschenrechte.

Oft wird verhindert, dass zu humanitären Katastro-
phen Stellung genommen wird. Dafür sind andere The-
men ständig auf der Tagesordnung. Ich möchte nur ein
Beispiel nennen, nämlich den Nahostkonflikt. Ich
möchte nur eine Zahl zur Veranschaulichung nennen: Im
Jahr 2007 hat sich der Menschenrechtsrat 120-mal mit
der Situation in Nahost beschäftigt. Aber keine der Re-
solutionen beinhaltete kritische Stellungnahmen zu den
Menschenrechtsverletzungen der Palästinenser; es waren
ausschließlich israelkritische Stellungnahmen. Insofern
können wir mit dieser Bilanz des Menschenrechtsrates
nicht zufrieden sein.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Illusionen dürfen wir uns bei der Frage, wie wir dort
Verbesserungen durchsetzen können, nicht hingeben.
Herr Strässer hat Manfred Nowak zitiert. Die Mehrheits-
verhältnisse im Menschenrechtsrat sind, wie sie sind.
Leider wurde durch die Wahl der Demokratischen Repu-
blik Kongo in den Menschenrechtsrat die Position ver-
festigt, dass die Staaten in der Mehrheit sind, die bei der
Menschenrechtsbilanz fragwürdige Ergebnisse abliefern.
Ich denke, dass wir uns bei der Problemanalyse einig
sind. Es gilt weiter konstruktiv daran zu arbeiten und in
New York viel zu erreichen.





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

Ein Anliegen möchte ich ganz besonders herausstel-
len: Wir dürfen nicht zulassen, dass der Menschenrechts-
rat instrumentalisiert wird


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


gerade von Staaten wie China, Kuba oder Russland.
Auch die OECD ist hier genannt worden. Insofern gilt es
lange zu bohren und Überzeugungsarbeit zu leisten. Wir
unterstützen die laufende Kandidatur Deutschlands für
eine Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat, damit wir
den Reformprozess vor Ort beflügeln können.

Nun zum zweiten Antrag, der sich mit der menschen-
rechtlichen Verantwortung von Unternehmen beschäf-
tigt. Zu diesem Thema gab es eine Anhörung und eine
Reise in den Ostkongo und nach Ruanda. Man kann si-
cherlich sagen, dass sich John Ruggie um die Weiterent-
wicklung der Menschenrechtsstandards für Unterneh-
men verdient gemacht hat. Ich freue mich, dass die
Guiding Principles die bisherigen Regelungen, die es bei
der UN über den Global Compact, aber auch bei der
OECD gibt, gut zusammenfassen.

Gerade beim Thema OECD-Leitsätze sind zwei große
Erfolge gelungen: zum Ersten die Aufnahme eines eige-
nen Menschenrechtskapitels und zum Zweiten die Tatsa-
che, dass auch die Zulieferkette einbezogen wird. Es
muss jetzt vor allem darum gehen, dass wir mehr und
mehr Staaten und Unternehmen für die OECD-Leitsätze
gewinnen. Schwellenländer sind dringend gefordert, sich
den OECD-Leitsätzen anzuschließen. In dieser Richtung
arbeiten wir konsequent. Das ist ein Anliegen der Bun-
desregierung, aber auch der deutschen Wirtschaft; denn
unser Ziel muss sein, dass Menschenrechtsstandards
weltweit Geltung erhalten. Diesen Weg werden wir kon-
sequent weitergehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711423200

Das Wort hat der Kollege Volker Beck von Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711423300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu

beiden Anträgen etwas sagen. Der Menschenrechtsrat
verdient eine wahrheitsgetreue Würdigung, aber die
Wahrheit sieht leider nicht sehr gut aus. Das Problem ist
Folgendes: In Genf müssen sich Staaten, in denen es um
die Menschenrechte schlecht bestellt ist, sozusagen sel-
ber am Kragen aus dem Sumpf ziehen, weil die Mehrheit
dieser Staaten kein ehrliches Interesse an der Verbesse-
rung der Menschenrechtslage hat. Manche haben ein In-
teresse daran, die Menschenrechtssituation in bestimm-
ten Ländern in der außenpolitischen Argumentation als
Instrument zu nutzen. Das sieht man zum Beispiel am
Standing Point zu Palästina, der völlig unangemessen ist.
Dort gibt es zwar viele Menschenrechtsverletzungen;
aber wer Palästina bei jeder Sitzung auf der Agenda hat
und es gleichzeitig nicht einmal schafft, eine Sondersit-
zung zum Völkermord in Darfur hinzubekommen, der
zeigt, dass er einen einseitigen Fokus hat.

Das ist das Dilemma, das wir beschreiben müssen.
Das beschreibt aber auch die Aufgabe der deutschen und
der europäischen Außenpolitik. Wir müssen mehr daran
arbeiten, die Blockbildung aufzubrechen, und Ländern
politisch und in der Kooperation etwas anbieten, wenn
sie sich in Genf stärker an den Prinzipien der Menschen-
rechtspakte – die sie aus außenpolitischen Gründen un-
terschrieben haben – orientieren, statt sich im Block ge-
genseitig zu schützen. In Genf war interessant, zu
beobachten – Frau Schuster hat unsere Reise erwähnt –,
dass der ehemalige Büroleiter von Mubarak nach der de-
mokratischen Revolution in Ägypten immer noch die
Politik der Unabhängigen koordinierte, die eine Politik
gegen eine echte Menschenrechtsanalyse in vielen Län-
dern verfolgen. Man stellt sich vor die Schurkenstaaten
und redet das Ganze schön. Das verhindert, dass etwas
passiert.

Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, da der Herr
Außenminister anwesend ist. Demnächst wird der Papst
an diesem Pult stehen. Ich habe nicht verstanden, was
uns der Vertreter des Vatikans bei der Menschenrechts-
ratssitzung zur Verurteilung der Gewalt gegen Lesben
und Schwule sagen wollte. Nachdem mühsam eine
Mehrheit dafür zustande gebracht wurde, die Gewaltta-
ten zu verurteilen, sagte er, Schwule und Lesben würden
Leute attackieren, die eine andere moralische und ethi-
sche Auffassung haben als sie. Ich bitte, noch einmal
nachzufragen; denn das hat mich sehr irritiert. Diese
Frage hätte ich gerne geklärt, bevor der Papst hier im
Bundestag zu uns spricht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Im Antrag der SPD für menschenrechtlich verant-
wortliches unternehmerisches Handeln ist das Thema
Ruggie-Prozess ein wichtiger Ansatzpunkt. Es werden
wesentliche Forderungen unseres Antrags aus der letzten
Wahlperiode aufgegriffen. So begrenzt der zentrale Ge-
danke im Ruggie-Prozess ist, auf die Corporate Social
Responsibility zu setzen, obwohl sehr gut ausdefiniert
wird, was das für Unternehmen heißt, sollte man in die-
sem Report nicht überlesen, dass Ruggie in Kapitel 26
seines Berichtes die Mitgliedstaaten ausdrücklich auffor-
dert, in der nationalen Gesetzgebung darauf zu achten,
Opfern von Menschenrechtsverletzungen das Recht auf
Entschädigung einzuräumen. Er überlässt es den Mit-
gliedstaaten, die jeweiligen Defizite aufzuarbeiten. Da
gibt es auch im deutschen Recht eine ganze Menge zu
tun.

Der Ansatz der SPD, den wir teilen, dass man auch
Mutter- oder Tochtergesellschaften einbeziehen muss, ist
richtig, weil die Firmen oft anders nicht zu fassen sind.
Wir hatten dazu im Rechtsausschuss eine Anhörung. Die
Vertreterin von Amnesty International, Katharina Spieß,
hat am Fall Bhopal gezeigt, wie wenig die bisherigen
Mechanismen greifen. Wenn ein Unternehmen auf eine
solche Katastrophe, bei der Tausende von Menschen ge-





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

sundheitlich geschädigt wurden, damit reagiert, dass es
diesen Unternehmensteil verkauft und sich so aus der
rechtlichen Haftung stiehlt, dann ist klar, dass wir bes-
sere rechtliche Instrumentarien brauchen.

Wir können hier nicht nur auf das Prinzip Freiwillig-
keit, CSR und OECD-Leitlinien setzen, sondern wir
brauchen ein Instrumentarium, das den Managern von
Unternehmen deutlich macht, dass sich Menschenrechts-
verletzungen am Ende betriebswirtschaftlich nicht loh-
nen. Ansonsten ist es in dem Kalkül multinationaler
Konzerne angelegt, zur Gewinnmaximierung – das kann
man ihnen nur begrenzt vorwerfen – darauf zu setzen,
ein Auge zuzudrücken oder sich sogar aktiv an Men-
schenrechtsverletzungen zu beteiligen, weil sie dann ihre
Rohstoffe oder Halbfertigprodukte zu niedrigeren Prei-
sen einkaufen können. Das dürfen wir nicht zulassen,
sonst benachteiligen wir die Unternehmen im Wettbe-
werb, die sich daran zu Recht aus ethischen Gründen
nicht beteiligen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711423400

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1711423500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

spreche nur zum Menschenrechtsrat, da sich der Kollege
Klimke für die Union bereits zur menschenrechtlichen
Verantwortung in den Unternehmen geäußert hat.

Die Debattenbeiträge haben gezeigt, dass wir uns bei
der Beurteilung der Arbeitsweise des Menschenrechtsra-
tes einig sind und leider vieles zu beklagen ist. Die De-
batte hier im Haus ist sicherlich sehr sinnvoll. Dies aller-
dings mit einem Antrag zu verbinden, in dem die
Bundesregierung aufgefordert wird, aktiv zu werden, ist
– das hat auch die Ausschussberatung gezeigt – völlig
überflüssig, weil wir uns sehr einig sind.

Die Bundesregierung ist hinsichtlich der Arbeit des
Menschenrechtsrates sehr aktiv. Unser Außenminister
war auch in diesem Jahr beim Menschenrechtsrat. Auch
der Menschenrechtsausschuss war vor Ort. Der Men-
schenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus
Löning, war in Genf. Auch viele Kollegen hier sind nicht
zum ersten Mal bei den Sitzungen dabei gewesen. Wir
können feststellen: Unser Engagement ist gut. Wir haben
das, was im Menschenrechtsrat geschieht, zu kontrollieren
und zu kritisieren. Er ist eine Neuorganisation der Men-
schenrechtskommission, die ausgesprochen schlecht ge-
arbeitet hat. Das heißt nicht, dass es jetzt viel besser ist;
aber wir sind auf einem guten Weg. Das sollten wir kri-
tisch begleiten.

Der Review-Prozess war bei unserem diesjährigen
Besuch wie auch im Jahr zuvor ein zentrales Thema. Wir
haben eine Reihe von Gesprächen im Rat, aber auch am
Rande geführt. Im letzten Jahr haben wir mit der Hoch-
kommissarin für Menschenrechte darüber diskutiert, wie
der Review im nächsten Jahr, also in diesem Jahr, ausse-
hen soll. Wir haben in diesem Jahr mit dem Präsidenten
des Menschenrechtsrates gesprochen. Als wir nach Genf
gefahren sind, hatten wir die große Hoffnung, dass das,
was auf der Agenda der Bundesregierung, aber auch auf
unserer Agenda gestanden hat, zumindest in wichtigen
Teilen umgesetzt wird. Leider wurden wir enttäuscht.
Die Worte des Präsidenten des Menschenrechtsrates wa-
ren – die Kollegen, die dabei waren, erinnern sich –: Der
Prozess war schwierig und mitunter auch frustrierend. –
Wir waren dann auch sehr frustriert, als wir gehört ha-
ben, was erreicht bzw. was nicht erreicht werden konnte.

In drei Monaten Debatte gab es keine Annäherung der
Blöcke des Westens auf der einen Seite und des politi-
schen Südens, wenn man ihn so bezeichnen kann, auf
der anderen Seite. Es gab einige Verbesserungen auf Ne-
benschauplätzen. Aber die zentralen Punkte konnten
nicht durchgesetzt werden, was sicherlich auch daran
liegt, dass das Konsensprinzip gilt und die Mehrheitsver-
hältnisse eben so sind, wie sie hier schon beschrieben
wurden. Bei nüchterner Betrachtung kann man, glaube
ich, sagen, dass der Status quo dennoch akzeptabel ist.
Die Unabhängigkeit der Sonderberichterstatter, die uns
ganz wichtig war, wurde angesprochen. Wir hätten lieber
eine Stärkung gehabt. Auch hätten wir eine Stärkung der
Arbeit der Hochkommissarin für wünschenswert gehal-
ten. Beides konnte nicht durchgesetzt werden. Anderer-
seits konnte eine Schwächung der Position verhindern
werden. Insofern können wir zufrieden sein.

Ein Anliegen im Antrag der SPD betrifft den Review-
Prozess. Es geht auch um das Staatenüberprüfungs- und
UPR-Verfahren. Im Rahmen der zweiten Runde des
UPR-Prozesses, der 2012 beginnt, muss in den Staaten-
berichten auch in Bezug auf folgende Fragen – darauf
wird der Fokus zu richten sein – Auskunft gegeben wer-
den: Was ist in der ersten Runde berichtet worden? Wel-
che Hausaufgaben sollten daraufhin gemacht werden?
Wurde das in den Staaten auch auf den Weg gebracht? –
Das ist, denke ich, ein ganz wichtiger Punkt. Es war
auch ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung, dass
das Verfahren auf einen guten Weg kommt. Damit könn-
ten wir jetzt zufrieden sein.

Ein Manko ist, dass aktuelle Themen nicht so ohne
Weiteres auf die Tagesordnung gesetzt werden können;
Kollege Strässer hat als Beispiel Sri Lanka angespro-
chen. Der Westen wird das – bei 11 von 47 Stimmen –
aus eigener Kraft nicht schaffen. Wir müssen also Ver-
bündete suchen. Es geschieht relativ selten, dass wir da-
bei erfolgreich sind. Wir müssen die Regionalblöcke
aufbrechen. Bei Sachthemen geht das auch. Ich denke da
an die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland
und den Philippinen beim Thema Menschenhandel. Wir
müssen versuchen, langsam und in kleinen Schritten
diese Blöcke aufzubrechen, um im Sinne der Menschen-
rechte zu guten Ergebnissen zu kommen. Bei Libyen hat
das geklappt; wir haben es gesehen. Ich denke, das war
nur deshalb so, weil sich auch der libysche Botschafter
auf die Seite derer gestellt hat, die die Situation in
Libyen angeprangert haben. Wir waren live dabei und
später sehr guten Mutes, dass sich das vielleicht auch im





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)

Hinblick auf die Situation Syriens fortsetzen wird. Aber
dieser Prozess war leider nicht erfolgreich. Das einzig
Positive ist: Damals dachten wir, dass Syrien demnächst
einen Sitz im Rat haben wird. Das ist nicht geschehen.
Syrien hat Gott sei Dank zurückgezogen. Dafür ist Ku-
wait in den Rat eingezogen.

Im Hinblick auf die Statusfrage war Einvernehmen
erzielt worden, dass der Menschenrechtsrat ein Nebenor-
gan der Vereinten Nationen bleiben wird. Unser Anlie-
gen ist aber, dass die Beziehungen zwischen dem Men-
schenrechtsrat und dem UN-Sicherheitsrat verstärkt
werden. Es ist ein großer Wunsch von uns, dass die Bun-
desregierung, die dieses Verfahren jetzt in New York
weiter begleitet, dies vielleicht noch mit auf den Weg
nimmt. Die Resolution ist in New York – mit dem klei-
nen Konsens, der erzielt wurde, aber auch mit allen
Punkten, die strittig waren – vorgelegt worden. Sie ist
also bekannt. Wir schauen, ob wir da vielleicht noch das
eine oder andere erreichen können. Die Bundeskanzlerin
hat auf dem Kirchentag darauf gepocht, dass eine Re-
form des UN-Sicherheitsrates dringend auf den Weg ge-
bracht werden muss. Vielleicht ist das auch noch einmal
ein Anschub, über das Verfahren bzw. die Arbeitsweise
des Menschenrechtsrates nachzudenken, um bei den
Menschenrechten auf einen besseren Weg zu kommen.

Insgesamt sind wir uns in diesem Punkt, was den
Menschenrechtsrat angeht, im Ausschuss, aber auch hier
im Plenum sehr einig. Unsere Anliegen und Ziele sind
auch die der Bundesregierung. In diesem Sinne sollten
wir die Arbeit weiter begleiten. Ich denke, dass das bei
diesem Thema möglich sein wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Christoph Strässer [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711423600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/6087 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Huma-
nitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Die Chance zur Stärkung des UN-Menschenrechts-
rates nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/6078, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5482 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen von SPD und Grünen sowie Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des

(3. Ausschuss)

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)

des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech-
nischen Abkommens zwischen der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re-
gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien

(jetzt: Republik Serbien) und der Republik

Serbien vom 9. Juni 1999

– Drucksachen 17/5706, 17/6135 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6136 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-
schusses werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Joachim Spatz von der FDP-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1711423700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir

es mit einer EU-Perspektive für den gesamten Westbal-
kan ernst meinen, dann ist es unerlässlich, dass wir uns
weiterhin im Kosovo engagieren. Dabei sind die Erfor-
dernisse an die Präsenz von Truppen in den letzten Jah-
ren zurückgegangen. Wir werden auch diesmal die Ober-
grenze reduzieren, und zwar von 2 500 auf 1 850 Sol-
daten. Von den geplanten 5 500 Soldaten von KFOR ins-
gesamt werden wir 900 Soldatinnen und Soldaten stel-
len.

Frau Kollegin Evers-Meyer ist nicht anwesend. Des-
halb bitte ich, ihr auszurichten, dass Deutschland dort
den Kommandeur stellt und damit in dieser Mission die
Lead-Funktion hat. Auch stellen wir bis August dieses
Jahres den Leiter der EULEX-Polizeimission. Dass wir
uns, wie sie es in Bezug auf den UNIFIL-Einsatz gesagt
hat, bei diesen Einsätzen zurückhalten, was die Lead-
Funktion angeht, stimmt also zumindest in diesem Fall
nicht. Es ist ein sehr erfolgreicher Einsatz.





Joachim Spatz


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im Übrigen darf darauf hingewiesen werden, dass
weiterhin in einigen Regionen des Kosovo – Stichwort
„Mitrovica und Umgebung“ – ein Eskalationspotenzial
vorhanden ist. Insofern sind die Forderungen unbegrün-
det, die wahrscheinlich wieder gebetsmühlenartig von
den Linken kommen werden, das Militär an dieser Stelle
abzuziehen, weil es nicht mehr nötig ist.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das war es nie!)


– Wenn Sie sagen: „Das war es nie“, dann kann ich nur
sagen: So blind kann man in den 90er-Jahren nicht ge-
wesen sein, um nicht zu wissen, dass dort Truppen zur
Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen
notwendig gewesen waren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es sei denn, man ist ideologisch verblendet. Dann war
man vielleicht so blind.

Im Übrigen ist dieser Einsatz ein Beispiel für die ge-
lungene Verbindung von militärischen und zivilen Maß-
nahmen, also für den gelungenen vernetzten Ansatz. Ich
habe eben schon erwähnt, dass die Europäische Union
dort mit der EULEX-Mission präsent ist. Diese Mission
hilft, einen Rechtsstaat mit all seinen Komponenten auf-
zubauen, sowohl was die Polizeimission als auch den
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und der Recht-
sprechung angeht. Insbesondere die Bundesrepublik
Deutschland ist mit erheblichem Potenzial vertreten.
Über 100 deutsche Experten aus dem Bereich der Justiz
sind dort tätig, ebenso wie Polizeibeamte und andere
Kräfte.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist seit
Ende der 90er-Jahre dort aktiv, und zwar mit insgesamt
370 Millionen Euro seit 1999. Sie sehen also: Hier geht
unter dem Schutz unserer Militärstreitkräfte parallel der
zivile Aufbau der Gesellschaft voran.

Ich will bei dieser Gelegenheit auf einen allgemeinen
Punkt aufmerksam machen. Gerade an dem erfolgrei-
chen Beispiel der Mission im Kosovo zeigt sich die Not-
wendigkeit, dass wir bei den von mir genannten Kräften
wie Polizei, Verwaltungsbeamten und Justizbeamten
mehr Potenzial und Kapazitäten bei uns in der Bundesre-
publik Deutschland aufbauen und auch innerhalb der Eu-
ropäischen Union darauf hinwirken, dass die Planziele,
die dort vor Jahren vorgegeben worden sind, besser er-
reicht werden, als es bisher der Fall gewesen ist. Wir
werden erleben, dass wir auch in anderen Teilen der Welt
gefordert sein werden, und zwar nicht nur militärisch,
sondern vor allem auch mit zivilem Engagement beim
Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen, um bei der
Umsetzung der Rule of Law entsprechend tätig zu wer-
den. Wir sehen an allen Ecken und Enden, dass es an
entsprechend qualifiziertem Personal mangelt. Dabei ist
für die entsendenden Institutionen in Deutschland, also
die Länderjustiz und die Länderpolizei, vorzusehen, dass
die dort fehlenden Kräfte durch geeignete Kräfte ersetzt
werden.

Ich denke, wir alle haben in diesem Punkt eine gewal-
tige Aufgabe vor uns. Gerade das gelungene Beispiel des
Kosovo zeigt, dass es sich lohnt, diese Kapazitäten auf-
zubauen und zum Teil vorzuhalten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich sage zum Abschluss gegen die wahrscheinlich
nachher von der Linken kommende Unterstellung der
Militarisierung der Politik: Wer nicht erkennt, dass unter
dem Schutz der Bundeswehr und der Alliierten, die dort
präsent sind, eine Aufbauarbeit für dauerhafte Stabilität
und einen dauerhaften Staatsaufbau mit der Perspektive
eines Beitritts auch dieser Region zur Europäischen
Union geleistet wird, der muss ideologisch verblendet
sein. Wir stehen zu diesem Einsatz, weil er in seiner Ge-
samtheit und in der Verbindung mit EULEX sinnvoll ist,
und bitten um Zustimmung zur Verlängerung dieses
Mandats.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711423800

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen mit-

teilen, dass auf der Tribüne der Außenminister des Ko-
sovo, Enver Hoxhaj, in Begleitung des Botschafters
Dr. Vilson Mirdita Platz genommen hat. Herr Minister,
wir freuen uns, dass Sie die Gelegenheit nutzen, bei die-
ser Debatte hier im Deutschen Bundestag dabei zu sein.
Vielen Dank!


(Beifall im ganzen Hause)


Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kol-
lege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1711423900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn von anfangs 55 000 NATO-Soldatinnen und
-Soldaten nunmehr nur noch rund 5 000 im Kosovo im
Einsatz sind, stellen wir fest, dass der KFOR-Einsatz
weiterhin erforderlich ist. Er bleibt deshalb erforderlich,
weil wir ein stabiles Umfeld im Kosovo brauchen, damit
dort Sicherheit erreicht wird, aber auch Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte
weiterentwickelt werden können. Das ist nicht nur für
die Freiheit und Unversehrtheit aller Bürgerinnen und
Bürger im Kosovo notwendig, sondern diese Stabilität
ist auch Voraussetzung, damit das Kosovo eine Perspek-
tive hat und den Weg hin zu einer EU-Mitgliedschaft
weiter konstruktiv gehen kann.

Wie weit dieser Weg ist, zeigen die Fortschrittsbe-
richte der Europäischen Kommission. In manchen Berei-
chen gibt es Fortschritte; aber gerade in den Bereichen
der Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit gibt es
keine oder nur sehr geringe Fortschritte. Deshalb muss
es für uns darauf ankommen, gemeinsam Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, die die Kräfte im Kosovo unterstüt-





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

zen, die dort Reformen angehen wollen und die den Weg
in Richtung Ausbau von Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit gehen. Ich sage sehr deutlich: Damit diese
Kräfte gestärkt werden, muss das Engagement der Bun-
desrepublik Deutschland, aber auch das Engagement der
Europäischen Union im Kosovo und in der gesamten Re-
gion ausgebaut und gestärkt werden. Es muss klar sein,
dass das Versprechen von Thessaloniki steht: Die Staa-
ten in der Region, die den mühsamen Weg der Reformen
erfolgreich gehen, müssen sich darauf verlassen können,
dass sie am Ende dieses Weges die Perspektive des Bei-
tritts zur Europäischen Union haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Deshalb brauchen wir deutliche Signale – wir haben die
Argumente schon in anderen Debatten miteinander aus-
getauscht – aus der EU, aber auch aus wichtigen Mit-
gliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland, dass
nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union
nicht Schluss ist mit den Anstrengungen vonseiten der
Europäischen Union, die Beitrittsperspektive für die
Staaten offenzuhalten, die die Kriterien erfüllen.

Nach den Fortschritten, die wir in Serbien erleben
können, muss es jetzt auch ein klares Signal gegenüber
diesem Land geben, dass sich die dortigen Reformpoliti-
ker – nicht nur Präsident Tadic – darauf verlassen kön-
nen, dass die Europäische Union ihr Engagement, Ser-
bien auf dem Weg in die EU zu begleiten, ausbaut.
Gerade nach dem Erfolg der Verhaftung des Kriegsver-
brechers Mladic müssen diejenigen in Serbien, die dafür
verantwortlich sind, wissen, dass das aufseiten der Euro-
päischen Union honoriert wird. Das, was unter dem kon-
servativen Präsidenten Kostunica nicht möglich war, ist
jetzt unter Präsident Tadic gelungen. Ich finde, er ver-
dient dafür unsere Anerkennung und unsere Unterstüt-
zung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir in dieser Region glaubwürdig bleiben wol-
len, ist außerdem wichtig, dass wir alle Staaten dort fair
behandeln. Das heißt, dass zum Beispiel in der Frage der
Visaliberalisierung auch für das Kosovo weiterhin gelten
muss: Wenn ein Staat die Bedingungen, die wir entwi-
ckelt haben, um die Teilnahme an einem liberaleren
Visaregime zu ermöglichen, erfüllt, dann müssen wir da-
rauf angemessen reagieren, und es darf nicht aus politi-
schen Gründen oder Opportunitätsgründen Möglichkei-
ten erster und zweiter Klasse geben, die
Visaliberalisierung zu erlangen. Das wäre kontraproduk-
tiv, und das würde die Glaubwürdigkeit der Europäi-
schen Union aushöhlen.

Ein weiterer Punkt, den ich für sehr wichtig halte
– das ist vom Kollegen Spatz schon gesagt worden –:
Wir müssen unser Engagement in der Zivilgesellschaft
verstärken. Nur wenn es gelingt, tragfähige zivilgesell-
schaftliche Strukturen zu schaffen – nicht nur im Kosovo –,
können die Reformprozesse mehr Dynamik bekommen
und unumkehrbar werden. Außerdem ist aus meiner
Sicht sehr wichtig, dass wir das Monitoring ausbauen.
Trotz der Fortschrittsberichte der Europäischen Kom-
mission habe ich manchmal das Gefühl, wir müssten
noch etwas genauer schauen, ob es Fortschritte gibt, zum
Beispiel bei den Bürgerrechten.

Die Europäische Union muss sich stärker engagieren,
wenn wir feststellen, dass Konflikte in der Region zu es-
kalieren drohen. Ich wünsche mir zum Beispiel, dass die
Europäische Union deutlichere Signale aussendet, etwa
dass die Art und Weise, wie die Regierung Berisha in
Albanien mit der Opposition umgeht, von uns nicht tole-
riert wird und dass wir dazu nicht schweigen.


(Beifall bei der SPD)


Klar ist: Das Kosovo muss den Weg zu Reformen, zu
einer freiheitlichen Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit
selbst gehen und gehen wollen. Dazu bedarf es auch des
Vorbilds der politischen und ökonomischen Eliten.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass da noch einiges
verbesserungswürdig ist. Gerade die jungen Menschen
im Kosovo – das Kosovo hat eine der jüngsten Gesell-
schaften in Europa – brauchen eine Perspektive. Gesell-
schaften mit zahlreichen jungen Menschen, die etwas
können und etwas leisten wollen, gibt es nicht nur in
Nordafrika, sondern auch in dieser Region. Es wäre fa-
tal, wenn mangelndes Engagement der Europäischen
Union dazu führte, dass die dortige junge Generation
desillusioniert wird und das Gefühl hat, dass sie von uns
allein gelassen wird.

Im Kosovo und anderswo in dieser Region schwindet
das Vertrauen, dass die Europäische Union es mit der
Unterstützung beim EU-Beitritt wirklich ernst meint.
Manche Menschen im Kosovo erleben KFOR durchaus
als eine Art Besatzungsmacht. Angesichts dessen muss
klar sein, dass die politischen Initiativen durch die Euro-
päische Union, aber auch durch unsere Regierung im
Vordergrund stehen. Die SPD unterstützt die Mandats-
verlängerung. Wir verbinden das wirklich mit der Erwar-
tung, dass die Bundesregierung und die Europäische
Union ihr Engagement für das Kosovo, für die Region,
für die Zivilgesellschaft, für eine Perspektive der jungen
Menschen dort glaubhaft verstärken und ausbauen. Mit
unserem militärischen Einsatz stehen wir in der Verant-
wortung für das Gelingen der Demokratie in dieser Re-
gion. Aus dieser Verantwortung können wir uns nicht
wegstehlen. Wir sollten alles dafür tun, dass es durch ein
verstärktes, glaubwürdiges Engagement zu einer so posi-
tiven Entwicklung kommt, dass wir das KFOR-Mandat
möglichst bald beenden können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711424000

Das Wort hat der Kollege Florian Hahn von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1711424100

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Genau vor einem Jahr haben wir hier über
die Reduzierung der Mandatsobergrenze für KFOR von
damals 3 500 Soldaten auf 2 500 abstimmen können.
Der heutige Antrag sieht eine weitere Kürzung um mehr
als ein Viertel auf 1 850 Soldaten vor. Diese sukzessive
Reduzierung ist einmal mehr Beweis für den Erfolg un-
serer KFOR-Mission. Sie belegt, dass der Kurs von An-
fang an gestimmt hat und unsere Strategie richtig war.

Knapp 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten
haben bislang in diesem Einsatz gedient. Jede und jeder
Einzelne hat so einen Beitrag zur Befriedung des Ko-
sovo geleistet. Ich möchte ihnen daher von ganzem Her-
zen danken und wünsche ihnen weiterhin bei ihrem Auf-
trag Gottes Segen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Alle am Einsatz Beteiligten haben dazu beigetragen,
dass das Kosovo auf dem Weg nach Europa ein gutes
Stück vorwärtsgekommen ist und mit mehr Mut und Zu-
versicht in die Zukunft blicken kann. Dass hier und
heute Regierungsvertreter des Kosovo unserer Plenarsit-
zung beiwohnen und der Debatte folgen, freut mich be-
sonders. Es ist ein Zeichen, dass sie Interesse an einem
gemeinsamen Europa und an einer guten Entwicklung in
ihrem Land haben.

Dafür sprechen auch andere Fakten. So wurden beim
Aufbau einer funktionierenden Polizei und bei den ein-
heimischen Sicherheitskräften im letzten Jahr nachhal-
tige Fortschritte erzielt, ebenso bei der Rechtsstaatlich-
keitsmission EULEX, an der derzeit über 100 deutsche
Experten beteiligt sind. Die Funktionsfähigkeit des Kon-
zepts der drei Sicherheitsreihen aus Kosovo-Polizei,
EULEX-Bereitschaftspolizei und KFOR-Kräften hat
sich dabei bewährt und ist ein richtiger Schritt auf dem
Weg der sukzessiven Übergabe von Sicherheitsverant-
wortung. KFOR tritt mehr und mehr in den Hintergrund
und kann das Handeln zunehmend den nationalen Si-
cherheitskräften und EULEX überlassen. Der kosovari-
sche Sicherheitsapparat hat wiederholt bewiesen, dass er
immer mehr dazu in der Lage ist, Verantwortung für die
Sicherheit im Land zu übernehmen. So waren im Rah-
men der letzten beiden Parlamentswahlen weder KFOR
noch EULEX gefordert. Auch bei bislang fünf von neun
besonders schützenswerten serbischen Denkmälern
konnte die Sicherheitsverantwortung von KFOR an die
kosovarischen Sicherheitsapparate abgegeben werden.
Dies entlastet nicht nur KFOR, sondern es ermutigt auch
die lokalen Stellen, den Weg fortzusetzen und Verant-
wortung für ihr Land zu übernehmen.

Wie viel stabiler das Land heute schon ist, zeigt sich
auch daran, dass die Wechsel an der Staatsspitze und die
damit einhergehenden kurzzeitigen Phasen des Machtva-
kuums nicht zu einer Destabilisierung der Sicherheits-
lage geführt haben. Im Gegenteil: Der friedliche und ge-
waltfreie Ablauf unterstreicht vielmehr, dass das
staatliche und sicherheitspolitische System des Kosovo
sich zu festigen beginnt. Als wir damals die Entschei-
dung getroffen haben, einzugreifen und zu helfen, war
dies nicht einfach. Wenn wir uns noch einmal die Aus-
gangslage vor Augen führen, kann man den heutigen
Fortschritt gar nicht hoch genug bewerten. Dennoch sind
für das Kosovo noch viele Hürden auf dem Weg zur Eu-
ropäischen Union zu nehmen.

Die größten Problemfelder sind das geringe Wirt-
schaftswachstum, die hohe Arbeitslosigkeit, der hohe
Nettoimport sowie die anhaltende Korruption. All dies
hemmt internationale Investitionen, die die Wirtschaft
ankurbeln würden. Darüber hinaus schreibt beispiels-
weise die Neue Zürcher Zeitung zu Recht, dass ein Sys-
tem von Checks and Balances fehlt. Parlament und Re-
gierung stehen der Justiz fast machtlos gegenüber. Auch
die Medien sind leicht beinflussbar. Die kosovarische
Regierung muss hier konsequent tätig werden, damit das
Land eine gute Zukunft hat. Wir helfen gern. Wir wollen
ein friedliches Kosovo, und wir wollen Frieden auf dem
Balkan; denn diese Region gehört zu Europa. Dafür stel-
len wir Soldaten zur Verfügung, Polizei im Zuge von
EULEX, fördern Projekte zur interethnischen Aussöh-
nung sowie zur Multiethnizität im Kosovo. Dass die För-
derung ankommt, können wir unter anderem daran er-
kennen, dass mehr und mehr Serben am politischen
Leben teilnehmen. Dabei übernehmen sie demokratische
Funktionen und damit Verantwortung in der Politik des
Kosovo – ein wichtiger Schritt, um den multiethnischen
Konflikt langsam weiter abbauen und gegenseitiges Ver-
trauen schaffen zu können.

Um das Kosovo noch ein Stück auf dem Weg zu ei-
nem modernen und multiethnischen Staat in Europa zu
begleiten, bitte ich Sie um Ihre Zustimmung für dieses
Mandat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711424200

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711424300

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-

men und Herren! Die erste Debatte zur Verlängerung des
KFOR-Mandats hat sehr viel über die generelle Haltung
der hier vertretenen Parteien gegenüber dem Balkan zum
Ausdruck gebracht, eine Haltung, die vor Geschichtsver-
gessenheit und Paternalismus geradezu trieft. Da möchte
ich gerade Sie, Herr Mißfelder von der CDU, anspre-
chen. Sie sagten, die Weigerung des serbischen Präsi-
denten Tadic, an einem Gipfeltreffen mit Obama und der
sogenannten Präsidentin des Kosovo teilzunehmen, be-
dürfe „keiner Geißelung, aber des Hinweises, dass wir
uns das so nicht vorstellen.“ In dieser Wendung kommt
so viel Verachtung gegenüber dem serbischen Präsiden-
ten zum Ausdruck, dass man sich schon sehr wundern
muss, Herr Kollege.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind aber einseitig!)






Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)

Genau diese Haltung, Herr Kollege Mißfelder, kritisie-
ren ich und meine Fraktion. Wir wollen keine Außen-
politik der Gewalt, der Drohungen und Androhungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben damit bereits genug Unheil angerichtet. Damit
muss wirklich endlich einmal Schluss sein.

Meine Damen und Herren, leider gehen die Äußerun-
gen von Herrn Außenminister Westerwelle in eine ähnli-
che Richtung. Wiederholt behauptet er, dass der Status
des Kosovo geklärt sei. Da frage ich mich ehrlich und
ernsthaft: In welcher Welt leben Sie eigentlich?


(Zuruf von der FDP: In Ihrer garantiert nicht!)


Das entspricht doch einfach schlicht nicht den Tatsa-
chen. Für Sie persönlich mag das vielleicht gelten, aber
völkerrechtlich gilt das doch nicht, Herr Westerwelle.
Warum verschweigen Sie, dass das Kosovo eben kein
Mitglied der Vereinten Nationen ist? Ebenso gut könnten
Sie behaupten, der Status von Abchasien, Südossetien
oder Transnistrien sei geklärt. Die Linke fordert hier eine
radikale Kehrtwende, weg von einer Außenpolitik, die
einseitige Grenzveränderungen in Europa legitimiert und
befördert.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Ihre Radikalität hätte Tito unterstützt!)


Meine Kolleginnen und Kollegen, die Bundeswehr
hat auf dem Balkan und auch anderswo nichts zu suchen.
Sie hat dort bisher wirklich verheerend gewirkt, ange-
fangen mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen
Bombenkrieg gegen Jugoslawien


(Michael Brand [CDU/CSU]: So viel zur Geschichtsvergessenheit!)


bis hin zum Zuschauen, als ein kosovo-albanischer Mob
2004 serbische Enklaven stürmte und die Häuser von
Serben und Roma plünderte. Ich finde, ihre Erfolgsbi-
lanz ist hier wirklich sehr schlimm. Deshalb bitte ich
Sie, einmal nur für einen kurzen Moment innezuhalten
und sich endlich diese schlimme Bilanz anzusehen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Reden Sie einmal über die Opfer!)


Dazu gehört auch – das sage ich gerade meinen Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen – das absolute
Versagen gegenüber dem mutmaßlichen Kriegsverbre-
cher Hashim Thaci. Sie ignorieren schlicht die Berichte
des Europarates.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Eure Leute sind im Europarat nie da, im Gegensatz zu mir! Und Sie reden solche Dinge!)


Ja, man kann bei Ihnen den Eindruck gewinnen, Sie wür-
den diese Verbrechen auch noch beschweigen wollen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Herr Gysi ist zuerst zu Herrn Milosevic gefahren!)

Da Sie, Frau Beck, immer nach mir reden, möchte ich
Ihnen im Vorhinein etwas sagen: Dass Sie versuchen, je-
den, der es auch nur wagt, nach den Kriegsverbrechen
der UCK zu fragen, im Stile der UCK als serbischen Na-
tionalisten hinzustellen, ist für mich, Frau Beck, wirklich
unerträglich und abstoßend.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor so einer Außenpolitik graust es einem ja. Deshalb
bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, beschwei-
gen wir hier im Hause nicht weiter die Kriegsverbrechen
der UCK.

In diesem Zusammenhang ist die aktuelle Antwort
der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage mit der
Drucksachennummer 17/5848 sehr brisant. Sie bezeich-
net die Frage nach Kriegsverbrechern als eine „innere
Angelegenheit der Republik Kosovo“.


(Zuruf von der LINKEN: Unerhört!)


Man kann dies nur so interpretieren, dass Sie auf dem
Balkan mit zweierlei Maß messen und hier bewusst weg-
schauen. Geben Sie sich endlich einen Ruck, und leiten
Sie einen Richtungswechsel ein, um die fortgesetzte
Straflosigkeit unter dem Schutz der Bundeswehr zu be-
enden!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke stimmt gegen die Fortsetzung des Militär-
einsatzes.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711424400

Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Frau Kollegin Dağdelen, es wäre schon sehr
wünschenswert, dass Ihre Kollegen einmal im Europarat
auftauchen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind ständig da, Frau Beck!)


Wenn sie dort gewesen wären, wüssten Sie vielleicht
– aber Sie könnten es auch nachlesen, wenn Sie wollten –,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind da! Es ist unwahr, was Sie hier behaupten!)


dass bei der Plenardebatte über den Bericht des Kollegen
Dick Marty, der übrigens meiner Fraktion angehört und
der den Fragen der organisierten Kriminalität im Kosovo
nachgegangen ist, ich diejenige gewesen bin, die für eine
lückenlose und dringliche Aufklärung dieser Vorwürfe
plädiert hat, und dass ich sogar so weit gegangen bin,
vorzuschlagen, dass Ministerpräsident Thaci sich selber
anzeigen möge;





Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sind ja ganz neue Töne! – Gegenruf der Abg. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie doch mal zu, Mann!)


denn mit dem Leumund, dass man an einer organisierten
Kriminalität, die sogar mit Organen gehandelt hat, betei-
ligt gewesen sei, kann man eigentlich nicht Ministerprä-
sident sein. Das alles können Sie nachlesen, und dann
wäre es vielleicht an der Zeit, hier einiges von den un-
glaublichen Dingen, die Sie mir vorgehalten haben, zu-
rückzunehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Brand [CDU/ CSU]: Dann hat sie ja die Unwahrheit gesagt! – Florian Hahn [CDU/CSU], an die Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE] gewandt: Sie sollten sich entschuldigen!)


KFOR ist – das wissen alle, die bei Gewalt nicht weg-
sehen und zwischen Tätern und Opfern wirklich unter-
scheiden wollen – nicht denkbar ohne Srebrenica. Ich
möchte das hier noch einmal sagen, weil wir durch die
Festnahme von General Mladic noch einmal die Bilder
von Srebrenica vor Augen geführt bekommen haben.
Am 11. Juli werden sich die Geschehnisse zum 16. Mal
jähren, und wir werden an die Bilder der verzweifelten
Frauen und Mütter denken, die ihre Söhne und Männer
aus den Händen geben mussten, welche unter den Augen
der UN in die Wälder abgeführt und dort umgebracht
wurden.

Die Entscheidung für KFOR ist nur vor diesem Hin-
tergrund zu sehen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wenn es nach Ihnen geht, Frau Beck, ist die Bundeswehr auf ewig auf dem Balkan präsent! Gut, dass Sie nichts zu sagen haben!)


Sie hat mit Sicherheit allein durch ihre Anwesenheit vie-
len Menschen das Leben gerettet. Es ist gut, dass diese
Mission immer stärker ihren militärischen Charakter
verlieren und den polizeilichen Charakter verstärken
kann. Der Aufbau dieses kleinen Staates ist sehr schwie-
rig, viel mühseliger, als wir uns das vorgestellt haben. Es
gibt viele Schwierigkeiten in diesem Staat. Es gibt orga-
nisierte Kriminalität, bei der auch die zivile europäische
Mission sich schwertut, sie so deutlich und durchschla-
gend zu bekämpfen, wie wir es uns wünschen würden.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Schlagen ist immer gut!)


Zudem gibt es viele Schwierigkeiten, mit denen dieses
kleine Land konfrontiert ist, weil die Statusfrage zumin-
dest aus serbischer Sicht noch ungeklärt ist.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Auch aus Sicht der UNO, Frau Beck!)


Es macht mich sehr unruhig, dass bei der Stadt Mitro-
vica, die bis heute geteilt ist, immer noch nicht ganz klar
ist, dass diese Teilung keinen Bestand haben kann. Die-
ses kleine Kosovo wird nicht durch Gebietsaustausch
Ruhe finden, sondern nur, wenn dieser Staat von der ser-
bischen Bevölkerung, von Roma, von Ashkali, von
Ägyptern und von Kosovo-Albanern als gemeinsamer,
multiethischer Staat gesehen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Fantasien in Bezug auf einen Gebietsaustausch können
nur von denen in die Welt gesetzt werden, die nicht
wissen, dass die größten serbischen Enklaven im Süden
des Landes liegen und insofern ein Gebietsaustausch in
Mitrovica der serbischen Bevölkerung im Land nicht
helfen würde.

Der Weg wird nach wie vor schwierig sein. Es ist gut,
dass sich Serbien bewegt. Wir müssen Herrn Tadic allen
Respekt aussprechen und hoffen, dass dieser Weg der
Aussöhnung weitergegangen wird, damit sowohl Ser-
bien als auch das Kosovo die echte Perspektive haben,
zu uns in der Europäischen Union dazuzugehören. Das
wünschen sich vor allem die jungen Menschen in beiden
Ländern, auch die, die wir im Augenblick als Stipendia-
ten bei uns im Deutschen Bundestag haben. Ich habe
gestern Abend mit 13 jungen Menschen aus allen West-
balkanländern zusammengesessen. Sie wollen sich aus
dem Würgegriff der Nationalisten befreien, weil sie nach
Europa wollen und weil sie eine Zukunft haben wollen.
Diese Zukunft sollten wir ihnen wirklich geben und ih-
nen die Türen aufmachen.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie erpressen die doch nur!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711424500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Peter Beyer von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1711424600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was geht uns
das Kosovo an? Warum müssen wir dorthin immer noch
unsere Soldaten entsenden und Präsenz zeigen? Das al-
les sind Fragen, die sich die Menschen hierzulande stel-
len. Erinnern Sie sich noch an die Flüchtlinge in den
1990er-Jahren? Deutschland erklärte sich seinerzeit be-
reit, sogenannte Kontingentflüchtlinge aufzunehmen,
und zwar 10 000 an der Zahl. Insgesamt sprechen
Flüchtlingsorganisationen von 100 000 Menschen, die
vor Gewalt und Terror flohen. Uns allen wurde nicht zu-
letzt durch die Anwesenheit dieser Kinder, Frauen und
Männer deutlich vor Augen geführt, dass vor unserer
Haustür Krieg herrscht. Es handelte sich bei diesem Krieg
aber nicht um einen historisch abgeschlossenen Prozess,
den wir in den Geschichtsbüchern nachlesen könnten. Un-
ruhen gibt es nach wie vor. Peacekeeping – mit Betonung
auf „keeping“ – heißt die Formel für die Region, die
zweifelsohne zu den größten Herausforderungen euro-
päischer Friedenspolitik gehört.





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)

Das Kosovo ist nicht irgendwo, sondern gleich ne-
benan. Der Balkan hat uns schmerzlich daran erinnert,
dass Frieden und Demokratie auch in Europa nicht
selbstverständlich sind, dass wir als Deutsche im Schul-
terschluss mit unseren Partnern immer wieder für diese
höchsten Güter kämpfen müssen. Seit 1999 engagiert
sich die Bundeswehr nunmehr im Kosovo. KFOR ist da-
mit der längste, ununterbrochene Einsatz der Bundes-
wehr überhaupt. Es hat – das steht außer Frage – schwie-
rige Phasen des KFOR-Einsatzes gegeben. Das gilt nicht
nur für die Zeit der ersten Monate im Jahr 1999, sondern
zum Beispiel auch für den März 2004, als es zu schwe-
ren, gewaltsamen Ausschreitungen mit Toten und Ver-
letzten und in der Folge zu Tausenden von Vertriebenen
kam.

Mit Ausnahme von Teilen der nördlichen Region ist
die Sicherheitslage im Kosovo heute nachhaltig stabili-
siert. So konnte beispielsweise das 2004 schwer beschä-
digte Erzengelkloster nahe Prizren, das die Bundeswehr
viele Jahre über beschützte, im letzten Monat an die ko-
sovarischen Sicherheitsbehörden übergeben werden. Der
schrittweise Auf- und Ausbau selbsttragender Sicher-
heitsstrukturen ermöglicht uns jetzt die weitere Absen-
kung der Personalobergrenze des Mandats von ursprüng-
lich 8 500 auf 1 850 Soldatinnen und Soldaten. Damit
stellt Deutschland auch zukünftig das größte Truppen-
kontingent, von dem ein Teil als Reserve in Deutschland
verbleiben kann. Welch besseres Zeichen für eine posi-
tive Entwicklung im Kosovo kann es geben, als die kon-
tinuierliche Reduzierung der KFOR-Präsenz? Heute
wird KFOR vor allem noch als sogenannte dritte Sicher-
heitslinie hinter der Kosovo Police und EUPOL benö-
tigt.

Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière
hat die Einzelheiten und Hintergründe zu diesem Einsatz
in seinem Debattenbeitrag am 26. Mai an dieser Stelle
ausführlich erläutert. Erlauben Sie mir daher einige An-
merkungen zur Entwicklung in Serbien; denn dort liegt
ein ganz wesentlicher Schlüssel zu einer besseren Zu-
kunft auch des Kosovo.

Die Balkanregion steht nach wie vor unter dem Ein-
druck der Festnahme des Menschenschlächters von Sre-
brenica, Ratko Mladic. Mladic wird sich, wie seinerzeit
Slobodan Milosevic und derzeit Radovan Karadzic, vor
dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag in ei-
nem Prozess nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verant-
worten müssen; er hat seinen Opfern im Übrigen stets
die Rechtsstaatlichkeit verwehrt. Vieles ist für die Ange-
hörigen der Opfer auch heute noch nur sehr schwer zu
ertragen. Dennoch dürfen sie hoffen, durch die Themati-
sierung ihres Leids und die gerichtliche Aufarbeitung
Linderung zu erfahren. Dazu leistet der Internationale
Strafgerichtshof einen wertvollen Beitrag.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die serbische Regierung ist und bleibt aufgefordert, auf-
zuklären, weshalb es fast 16 Jahre gedauert hat, Mladic
festzusetzen, und welche Unterstützung er von wem,
wann und wo erfahren hat. Dennoch – das ist anzuerken-
nen – gibt es das Bemühen, die Kapitel der Vergangen-
heit aufzuarbeiten.

Meine Damen und Herren, dies ist nicht der Ort, die
denkbaren politischen Entwicklungen und Szenarien im
Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo en détail zu
diskutieren. Es ist aber klar, dass es für Kosovo und Ser-
bien an der Zeit ist, an der Lösung der gemeinsamen
Probleme zu arbeiten. Die ersten auf Vermittlung der EU
zustande gekommenen direkten Gespräche zwischen
Belgrad und Pristina, die im März dieses Jahres begon-
nen haben, sind ein wichtiger erster Schritt und eröffnen
der EU im Übrigen die nicht zu unterschätzende Mög-
lichkeit, Einfluss auf Serben und Kosovaren zu nehmen.
Bisher hat es drei Treffen in Brüssel und eines in Pristina
gegeben. Dabei ging es vor allem um die Lösung von
Alltagsfragen, beispielsweise um Pass- und Grundbuch-
fragen, Zollstempel, Telekommunikation und Elektrizi-
tätsversorgung. Es ist auf ein Momentum für eine umfas-
sende Gesprächsagenda zu hoffen, um die Beziehungen
zwischen Serben und Kosovaren auf eine solide Basis zu
stellen.

Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung und für
eine Zukunft in Europa. Für Stabilität und Sicherheit im
Kosovo braucht es die KFOR. Sie gewährleistet den
Rahmen, in den eingebettet das Land in eine europäische
Zukunft schreiten kann, und zwar so lange, bis der Auf-
trag der Vereinten Nationen beendet ist. Das wird dann
der Fall sein, meine Damen und Herren, wenn die Insti-
tutionen des Landes Sicherheit in allen regionalen Berei-
chen und allen Bevölkerungsschichten verlässlich ge-
währleisten können.

Lassen Sie uns mit Blick auf die Balkanregion auch
die Rolle unserer transatlantischen Partner, vor allem der
USA, im Blick behalten; denn sie übernehmen eine ver-
antwortungsvolle Rolle in der Region. So sind sie neben
der EU aktiv an den direkten Gesprächen zwischen Ser-
ben und Kosovaren beteiligt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711424700

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1711424800

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wie be-

deutend die verlässliche und partnerschaftliche Koopera-
tion mit unseren amerikanischen Freunden insgesamt ist,
hat der Besuch der Kanzlerin in Washington Anfang die-
ser Woche eindrücklich gezeigt.


(Michael Groschek [SPD]: Das hören wir jeden Tag!)


Zum Abschluss danke ich den Frauen und Männern,
die im Kosovo Dienst tun, und im Übrigen allen Solda-
tinnen und Soldaten der Bundeswehr in Auslandsver-
wendungen. So aufgestellt, können die Kosovaren, kann
Europa und können wir mit angemessen nüchterner Zu-
versicht nach vorn schauen.

Ich danke Ihnen.




Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711424900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 17/6135 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/5706 anzuneh-
men. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführer und Schriftführe-
rinnen, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.

Sind die Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? –
Dann eröffne ich die Abstimmung.

Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte
eingeworfen? – Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch eine
größere Zahl von Abstimmungen vorzunehmen. Ich bitte
Sie, soweit Sie sich daran beteiligen wollen, die Plätze
einzunehmen, damit wir das zügig durchziehen können.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
den nun folgenden Tagesordnungspunkten sämtlich zu
Protokoll zu nehmen. – Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen. Die Namen brauche ich nicht zu verlesen; sie
erscheinen im Protokoll.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:2)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben), Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Barrierefreier Tourismus für alle

– Drucksache 17/5913 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5913 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

1) Ergebnis Seite 13114 C
2) Anlage 2
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:3)

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Infek-
tionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze

– Drucksache 17/5178 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes
und weiterer Gesetze

– Drucksache 17/5708 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/6141 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Riebsamen
Bärbel Bas
Lars Lindemann
Harald Weinberg
Dr. Harald Terpe

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas,
Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Besserer Schutz vor Krankenhausinfektio-
nen durch mehr Fachpersonal für Hygiene
und Prävention

– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Krankenhausinfektionen vermeiden – Tödli-
che und gefährliche Keime bekämpfen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Prävention gegen Krankenhausinfektionen
verbessern

– Drucksachen 17/4452, 17/4489, 17/5203,
17/6141 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Riebsamen
Bärbel Bas
Lars Lindemann
Harald Weinberg
Dr. Harald Terpe

Tagesordnungspunkt 13 a. Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-

3) Anlage 3





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

empfehlung auf Drucksache 17/6141, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5178 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositions-
fraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss, den wortgleichen Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/5708 für erle-
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstim-
mung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Gesundheit auf Drucksache 17/6141 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/4452 mit dem Titel „Besserer Schutz
vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal
für Hygiene und Prävention“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der SPD und Enthaltung von den Linken und
Bündnis 90/Die Grünen.

Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/4489 mit dem Titel „Krankenhausinfektionen
vermeiden – Tödliche und gefährliche Keime bekämp-
fen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak-
tion.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/5203 mit dem Titel „Prävention gegen Kranken-
hausinfektionen verbessern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-
men der Linken und Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der SPD.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,

1) Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostof-
fen durchsetzen

– Drucksache 17/5917 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5917 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c auf:2)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
barkeit von Pflege und Beruf

– Drucksache 17/6000 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gem. § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf
verbessern – Pflegende Bezugspersonen wirk-
sam entlasten und unterstützen

– Drucksache 17/1434 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Bezahlte Pflegezeit einführen – Organisation
der Pflege sicherstellen

– Drucksache 17/1754 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/6000, 17/1434 und 17/1754 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/6000

2) Anlage 5





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

soll außerdem an den Haushaltsausschuss gemäß § 96
der Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:1)

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Änderung der Vorna-
men und die Feststellung der Geschlechtszuge-
hörigkeit (ÄVFGG)


– Drucksache 17/2211 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Cornelia Möhring, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Sexuelle Menschenrechte für Transsexuelle,
Transgender und Intersexuelle gewährleisten –
Transsexuellengesetz aufheben

– Drucksache 17/5916 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Federführung strittig

Tagesordnungspunkt 23 a. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2211 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23 b. Die Vorlage auf Drucksa-
che 17/5916 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Fe-
derführung ist hier jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen die Federführung beim
Innenausschuss, die Fraktion Die Linke wünscht die Fe-
derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den
Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Lin-
ken angenommen. Damit liegt die Federführung beim In-
nenausschuss.

1) Anlage 9
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 17 auf:2)

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Rechtsgrundlagen für die
Fortentwicklung des Emissionshandels

– Drucksachen 17/5296, 17/5711 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/6124 –

Berichterstattung:
Abg. Andreas Jung (Konstanz)

Abg. Frank Schwabe
Abg. Michael Kauch
Abg. Eva Bulling-Schröter
Abg. Dr. Hermann Ott

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/6125 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Sören Bartol
Heinz-Peter Haustein
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6124,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sachen 17/5296 und 17/5711 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke, Enthaltung SPD
und Grüne.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-
lierung des Finanzanlagenvermittler- und Ver-
mögensanlagenrechts

– Drucksache 17/6051 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

2) Anlage 6

(A) (C)



(D)(B)


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1711425000

Mit der heutigen Einbringung des Gesetzes zur No-

vellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermö-
gensanlagenrechts gehen wir einen weiteren wichtigen
Schritt in Richtung besserer, sicherer und fairer Finanz-
märkte.

Bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Anleger-
schutz- und Funktionsverbesserungsgesetz zu Beginn
dieses Jahres haben wir ein wesentliches Fundament für
einen verbrauchergerechteren Finanzmarkt gelegt. Wir
haben schon damals darauf hingewiesen, dass ein Ge-
setz zur Regulierung des sogenannten grauen Kapital-
marktes folgen wird. Dieses Gesetz legen wir Ihnen nun
heute, wie angekündigt, vor.

Mit dem Finanzanlagenvermittler- und Vermögens-
anlagengesetz stellen wir sicher, dass die Pflichten für
Wertpapierdienstleistungsunternehmen, die im regulier-
ten Finanzmarktbereich bereits Standard sind, nun auch
auf Produkte des bisher unregulierten, also des Grau-
marktbereichs ausgeweitet werden. Durch diese Auswei-
tung der Produkt- und Vertriebsregulierungsmaßnah-
men – zum Beispiel auf geschlossene Fonds – werden
Anleger nun auch in diesen Bereichen besser und um-
fänglicher geschützt. Zu den Regelungen gehört eine
Vielzahl von Beratungs- und Dokumentationspflichten,
wie beispielsweise das aufsichtsrechtliche Gebot, anle-
gergerecht zu beraten, die Provisionen für entspre-
chende Produkte und Dienstleistungen offenzulegen so-
wie die Pflicht, Protokolle über Beratungsgespräche zu
führen und diese dem Anleger zur Verfügung zu stellen.

Darüber hinaus sieht der Entwurf die Einführung
strengerer Anforderungen an den Inhalt und die Prüfung
von Verkaufsprospekten für Vermögensanlagen vor. Wie
bereits für Banken im Anlegerschutzgesetz verbindlich
geregelt, werden nun auch die Anbieter von Vermögens-
anlagen des bisher unregulierten Marktes verpflichtet,
kurze und übersichtliche Produktinformationsblätter zu
erstellen, um den Anlegern in leicht verständlicher Art
und Weise wichtige Informationen über Chancen und Ri-
siken der ihnen angebotenen Produkte zu liefern. Zudem
sollen für Emittenten von Vermögensanlagen zukünftig
strengere Rechnungslegungsvorschriften gelten. So ist
beispielsweise vorgesehen, dass Emittenten für jeden
Fonds einen Jahresabschluss und einen Lagebericht in-
nerhalb von sechs Monaten nach Ende des Geschäfts-
jahres von einem Wirtschaftsprüfer testieren lassen und
den Anlegern zur Verfügung stellen müssen. All diese
Maßnahmen leisten einen entscheidenden Beitrag für
die Förderung der Transparenz und des Anlegerschutzes
auf den Kapital- und Finanzmärkten.

Für die Erteilung einer Erlaubnis für den gewerbe-
rechtlichen Vertrieb von Finanzanlagen und für die Fi-
nanzberatung sollen darüber hinaus künftig strengere
Zulassungs- und Beratungsvorschriften gelten. Darun-
ter fallen auch der Nachweis der Sachkunde sowie der
Nachweis über eine Berufshaftpflichtversicherung.

Natürlich werden durch diese zusätzlichen Prüfungen
im Rahmen des Erlaubnisverfahrens sowie durch die
Prüfungen zur Einhaltung der Informations-, Bera-
tungs- und Dokumentationspflichten zusätzliche Kosten
Zu Protokoll
auf die Länder und Kommunen zukommen. Diese kön-
nen aber zum einen durch Gebühren gedeckt werden.
Und zum anderen sei angemerkt, dass zukünftig die Prü-
fung, ob es sich bei bestimmten Produkten des Grau-
marktbereichs um nach der Gewerbeordnung erlaubte
Finanzanlagen handelt, wegfallen wird, was wiederum
eine Erleichterung darstellt.

Lassen Sie mich kurz eine erste Bewertung – oder
besser: Einordnung – des Gesetzentwurfes vornehmen –
eine Einordnung der im Gesetz vorgesehenen Produkt-
und Vertriebsregulierung. Ein wesentlicher Teil dieses
Gesetzentwurfes befasst sich mit der Regulierung von
Produkten, insbesondere mit der Regulierung von ge-
schlossenen Fonds. Das ist uns sehr wichtig. Es ist uns
deswegen sehr wichtig, weil wir glauben, dass gerade
im Bereich der geschlossenen Fonds Handlungsbedarf
besteht. Wir haben in den Vorgesprächen zu diesem Ge-
setz zur Kenntnis genommen, dass die seriösen Anbieter
dieser Produkte sehr daran interessiert sind, eine weit-
reichende, über alle bisherigen Vorschriften hinausge-
hende Regulierung für diesen Bereich zu organisieren.
Wir sehen darin einen wichtigen Beitrag dafür, dass un-
seriös handelnde Unternehmen aus dem Markt heraus-
gehalten werden. Letztlich nützt diese Regulierung also
nicht nur den Verbrauchern, die qualitativ hochwerti-
gere Produkte erhalten, sondern auch den Anbietern, die
in einem sauberen Marktumfeld arbeiten können. Die
Verlängerung von Prospekthaftungsfristen, erweiterte
Rechnungslegungsfristen und einige weitere Maßnah-
men leisten ein Übriges, um eine bessere Produktquali-
tät sicherzustellen.

Produktregulierung ist im Übrigen ein Bereich, der
von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
überwacht wird. Nun kann man kritisieren, dass eben
diese Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
nicht auch damit betraut wird, die Aufsicht über die Fi-
nanzanlagenvermittler und damit über die Vertriebs-
wege zu führen. Denn dies soll – wie bisher – über die
Gewerbeordnung geregelt werden. Wir nehmen diese
Kritik sehr ernst und haben schon im Vorfeld des Gesetz-
gebungsprozesses intensiv über diese Frage diskutiert.

Auf der einen Seite wäre es sicherlich wünschens-
wert, für den gesamten Finanzdienstleistungsbereich
eine Aufsicht aus einer Hand zu organisieren. Auf der
anderen Seite muss man aber sehen, dass die BaFin
eben nicht darauf ausgerichtet ist, kleinteilige Struktu-
ren, wie sie zum Beispiel bei den Finanzanlagevermitt-
lern, aber auch bei Versicherungsvermittlern vorliegen,
zu überwachen. Die BaFin kann und macht Institutsauf-
sicht. Zu welchen Problemen „BaFin light“ führen
kann, sehen wir ganz aktuell im Bereich der Leasingun-
ternehmen, die über die bürokratischen und formalen
Belastungen sowie über die Art und Weise, wie die
BaFin die Aufsicht durchführt, klagen.

Ich rate daher dringend dazu, die Diskussion weniger
an den aufsichtsrechtlichen Strukturen festzumachen,
sondern sich vielmehr auf die Inhalte und Standards zu
konzentrieren.

Genau das werden wir im Gesetzgebungsprozess tun.
Wir möchten erreichen, dass die Verbraucher unabhän-



gegebene Reden

Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

gig vom Vertriebsweg einheitliche Qualitätsstandards
vorfinden. Und gerade das ist das dezidierte Ziel dieses
Gesetzentwurfes. Wir werden im parlamentarischen
Prozess daher sorgfältig prüfen, ob und in welchem Um-
fang dieses Ziel erreicht wird. Unser Augenmerk liegt
dabei in erster Linie auf den Inhalten und weniger auf
den Organisationsstrukturen.

Das Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanla-
gengesetz ist im Kontext mit bereits abgeschlossenen,
aber auch mit den noch geplanten bzw. den zum Teil
schon auf den Weg gebrachten Regulierungsvorhaben zu
sehen. Zu den abgeschlossenen Maßnahmen gehören
insbesondere das Anlegerschutz- und Funktionsverbes-
serungsgesetz, aber auch Projekte wie OGAW IV. Bei
den geplanten Vorhaben ist zum Beispiel die AIFM-
Richtlinie zu nennen. Im Zusammenspiel all dieser Ge-
setze, Richtlinien und Verordnungen haben und werden
wir die Finanzmärkte, wie einleitend bemerkt, besser,
fairer und sicherer machen. Die christlich-liberale Ko-
alition hat hier in den letzten zwölf Monaten ein un-
glaubliches Tempo vorgelegt und eine Menge auf den
Weg gebracht, darunter auch international Maßstab set-
zende Projekte wie das Bankenregulierungsgesetz oder
das Verbot der Leerverkäufe. Weitere wichtige Initiati-
ven werden in den nächsten Monaten folgen.

Dies ist die erste Lesung zu dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung. Wir werden in den Fachausschüssen
weiter daran arbeiten und dazu noch vor der parlamen-
tarischen Sommerpause eine Anhörung mit zahlreichen
Sachverständigen vornehmen. Wir freuen uns auf die
Stellungnahmen der Experten und die Erkenntnisse, die
wir daraus gewinnen werden. Und wir freuen uns auf die
bevorstehenden, hoffentlich fachlichen, Diskussionen.
Ich lade Sie alle recht herzlich ein, sich konstruktiv da-
ran zu beteiligen, um das Gesetz nach der Sommerpause
zu einem guten Abschluss zu bringen.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1711425100

Die Bundesregierung legt den Entwurf eines Gesetzes

zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Ver-
mögensanlagenrechts vor. Dieser soll alle Fragen rund
um den sogenannten grauen Kapitalmarkt neu regeln.

In diesem Zusammenhang ist zunächst mit einem weit
verbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Der graue Kapital-
markt ist nicht unreguliert. Die Produktanbieter und
Vermittler auf dem grauen Kapitalmarkt bedürfen schon
heute einer Gewerbeerlaubnis und unterliegen den all-
gemeinen Anforderungen der Gewerbeordnung. Sie haf-
ten nicht nur für Betrug, was eine Selbstverständlichkeit
ist, sondern zusätzlich für jegliche Schlecht- und Falsch-
beratung. Die zugehörige Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofs existiert seit nunmehr rund 20 Jahren. Sie
hat sich bewährt und hat gerade in den letzten Jahren an
Schärfe sogar noch gewonnen. So gilt beispielsweise die
Kick-back-Entscheidung des BGH zur Offenlegung von
Provisionen in Form von Rückvergütungen nicht nur für
Banken, sondern auch für die Anbieter anderer Finanz-
anlagen. Es mangelt daher nicht an Transparenz bei den
vertriebenen Anlagen.
Zu Protokoll
Der Anlegerschutz ist gewährleistet durch eine um-
fassende Prospektpflicht. Es gelten die gesetzlichen Re-
geln über Haustürgeschäfte. Es gelten die gesetzlichen
Regeln über verbundene Darlehen. Insbesondere sind
im grauen Kapitalmarkt nicht die Ursachen für die Fi-
nanzkrise zu finden. Diese entspringt dem regulierten
Bankenmarkt. Um es ganz klar zu sagen: Die Finanz-
krise ist daher ein Kind genau des Marktsegments, das
die dichteste Regulierung mit den schärfsten staatlichen
Aufsichtsmitteln überhaupt vorweist.

Trotz des Befunds eines ausgewogenen ordnungspoli-
tischen Rahmens hat sich die Koalition entschlossen,
das Netz um die Produkte und Akteure des sogenannten
grauen Kapitalmarkts so zu knüpfen, dass seine Ma-
schen den Anleger genauso schützen, wie es bei den
Wertpapierdienstleistern der Fall ist. Ziel ist ein ver-
gleichbares Spielfeld für die Wettbewerber. Fehlanreize,
von dem einen auf den anderen Markt auszuweichen,
soll es nicht geben. Wir wollen daher eine konsistente
Produktregulierung sicherstellen. Dazu greifen wir in
das bestehende haftungs- und aufsichtsrechtliche Ge-
füge ein.

Bei den zusätzlichen Anforderungen an freie Vermitt-
ler und an die Produkte berücksichtigen wir, dass sich
Vermögensanlagen von Wertpapieren unterscheiden.
Wertpapiere sind standardisiert und liquide, Vermögens-
anlagen sehr verschieden und oft illiquide Finanzpro-
dukte. Das führt zu besonderen Anforderungen insbe-
sondere bei der Aufsicht über ihren Vertrieb. Denn der
Verkauf von Vermögensanlagen vollzieht sich auf andere
Weise als der von Wertpapieren als standardisiertem
Produkt. Die gleiche Behandlung von Ungleichem ist
hier nicht sachgerecht. Dem tragen wir Rechnung. Eine
engere Aufsicht über den Vertrieb von Wertpapieren und
Vermögensanlagen muss sich in das System der Gewer-
beaufsicht einfügen. Vermittler von Finanzanlagen sind
keine Banken. Sie können nicht wie diese reguliert wer-
den. Hier geht es um einen Zuschnitt des Formats der
Aufsicht auf die Bedürfnisse des Anlegerschutzes einer-
seits und der Struktur der Branche andererseits. Des-
halb setzen wir im Bereich des Anlageprodukts und im
Bereich der Akteure jeweils am effektivsten Aufsichtshe-
bel an. Unser Vorbild bei der Aufsicht sind die Regeln,
die sich bei den Versicherungsvermittlern schon bewährt
haben. Unser Vorbild bei der Produktregulierung sind
die Regeln über Wertpapiere. Abgerundet wird das Ge-
setz durch die Beseitigung einiger Schwachstellen in
dem Bereich der Regulierung, der am schlagkräftigsten
ist, nämlich bei der zivilrechtlichen Haftung.

Im Einzelnen nun zu den drei Kernpunkten Produkt-
aufsicht, Vermittleraufsicht und Haftungsrecht: Im Pro-
duktbereich wird der Bundesanstalt für Finanzdienst-
leistungsaufsicht zukünftig eine größere und tragende
Rolle zukommen. Im Rahmen einer Kohärenzprüfung
wird sie die Verkaufsprospekte auf Verständlichkeit
überprüfen. Damit heben wir das Niveau bei den Ver-
kaufsprospekten für Vermögensanlagen auf das Schutz-
niveau bei den Wertpapierverkaufsprospekten an. Die
Bundesanstalt wird zukünftig auch die innere Wider-
spruchsfreiheit der zwingenden Prospektangaben über-
prüfen. Zu dieser inhaltlichen Prüfung ist fachlich nie-



gegebene Reden

Frank Schäffler


(A) (C)



(D)(B)

mand besser geeignet als die Bundesanstalt. Gleichwohl
sind wir uns einig, dass die Schaffung eines weiterge-
henden Schutzes etwa in Form einer umfangreichen in-
haltlichen Prüfung unmöglich zu leisten ist. Die Bundes-
anstalt ist keine Behörde des Verbraucherschutzes und
wird es auch niemals sein.

Im Vermittlerbereich werden wir präventiv tätig, in-
dem wir den Marktzugang in ordnungspolitischer Ab-
sicht und marktverträglich einschränken. Erstens ver-
langen wir von den Finanzanlagenvermittlern einen
Sachkundenachweis. Dieser wird höhere Anforderungen
an die Vermittler stellen als an Mitarbeiter von Banken.
Zweitens werden die Vermittler zukünftig eine Berufs-
haftpflichtversicherung vorweisen müssen, mit der even-
tuelle Vermögensschäden abgedeckt werden können.
Das Risiko des Kunden, schlecht beraten zu werden und
dann auf dem Schaden und zusätzlich den verauslagten
Prozesskosten sitzen zu bleiben, sinkt dadurch beträcht-
lich. Hier sind wir nah an dem, was die Anleger als
Nachfrager von den Vermittlern ohnehin bereits verlan-
gen; denn ein Großteil der Vermittler hat auf freiwilliger
Basis eine Vermögensschadenhaftpflichtversicherung
abgeschlossen.

Drittens erweitern wir das bereits für Versicherungs-
vermittler bei den Industrie- und Handelskammern ge-
führte Verzeichnis um die Finanzanlagenvermittler. Wir
nutzen so vorhandene und bewährte Strukturen in kos-
tengünstiger Weise aus. Und anders als das kürzlich ein-
geführte Beraterregister für Wertpapierdienstleister
wird das Register öffentlich sein. Anleger und Behörden
können daher bundesweit zugreifen und kontrollieren,
mit wem sie es zu tun haben. Mit dieser Struktur wird es
deutliche Verbesserungen beim präventiven Anleger-
schutz geben. Sollte die Bundesanstalt zum Beispiel auf
ein Schneeballsystem im Bereich der Vermögensanlagen
aufmerksam werden, so kann sie nicht nur eine Warnung
vor dem Produkt aussprechen, sondern zusätzlich über
die Daten im Vermittlerregister die Vermittler ausfindig
machen und die Gewerbeaufsichtsämter darüber infor-
mieren, welche der ihrer örtlichen Zuständigkeit unter-
fallenden Vermittler am Vertrieb des Schneeballprodukts
beteiligt sind. Mit dem herkömmlichen und wohlbekann-
ten Mittel der verwaltungsrechtlichen Auflage kann das
Gewerbeaufsichtsamt den Vertrieb des Produkts unter-
sagen. Das ist nur möglich, weil auf die dezentrale
Struktur der Gewerbeaufsicht zurückgegriffen wird. Wir
vereinen so das Beste beider Welten.

Die Bundesanstalt verfügt über die Produktexpertise,
die wir mit der jahrelangen Erfahrung und dem Vor-Ort-
Wissen der Gewerbeaufsicht – die ohnehin schon für die
Vermittler zuständig ist und diese kennt – kombinieren.
Jeder macht das, was er am besten kann. Das gilt auch
für die fortgesetzte Aufsicht über den laufenden Betrieb
der Finanzanlagenvermittler. Mit einer Rechtsverord-
nung werden wir die Informations-, Beratungs- und Do-
kumentationspflichten aus dem Wertpapierhandelsge-
setz auf die Finanzanlagenvermittler ausdehnen. Die
fachliche Beurteilung, ob diese Pflichten eingehalten
worden sind, erfolgt durch das Testat eines Wirtschafts-
prüfers. Die Sachkunde hierzu liegt also bei externen
Dritten. Die Gewerbeaufsicht überprüft nicht mehr als
Zu Protokoll
das Vorliegen des uneingeschränkten Testats. Nichts an-
ders würde übrigens die Bundesanstalt machen. Hielte
man hier eine Verantwortlichkeit der Bundesanstalt für
notwendig, so schösse man mit Kanonen auf Spatzen.
Denn wer hier eine Zuständigkeit der Bundesanstalt for-
dert, der fordert wegen der hohen Compliance-Kosten
ein faktisches Arbeitsverbot für 80 000 kleine, mittlere
und vor allem eigenverantwortlich tätige Unternehmer.
Neben einmaligen Initiierungskosten in Höhe von rund
30 000 Euro würden bei einer Regulierung nach dem
KWG laufende Kosten von jährlich mehr als 30 000
Euro anfallen. Das kann ein freier Vermittler nicht leis-
ten.

Durch eine KWG-Regulierung verschwände der freie
Vermittler. Aber es verschwände natürlich nicht der
Markt für Vermögensanlagen. Diesen teilen sich derzeit
die Banken mit 40 Prozent und die freien Vermittler mit
60 Prozent Marktanteil. Eine Regulierung des Vertriebs
von Vermögensanlagen durch die Bundesanstalt würde
die Marktverhältnisse deutlich verschieben. Wir bekä-
men eine gesetzlich bewirkte Marktkonzentration. Der-
artige Folgen würden wir – und nicht nur wir von der
FDP – bei jeder anderen Gelegenheit bekämpfen.

Abgerundet wird das Gesetz durch eine systematisie-
rende Angleichung bei der Prospekthaftung. Durch die
Aufhebung des Verkaufsprospektgesetzes und die Strei-
chung der Vorschriften über die Prospekthaftung aus
dem Börsengesetz wird die bisherige künstliche Tren-
nung aufgehoben. Inhaltlich finden sich die Vorschriften
dann in Form einer Regelung im Wertpapierprospektge-
setz wieder. Endlich wird dann auch die Verjährung der
Haftung einheitlicher aussehen und vor allem verlän-
gert.

Ich fasse zusammen: Mit dem Gesetz erleichtern wir
insbesondere die Durchsetzung von Ansprüchen. Der
präventive Sachkundenachweis siebt erstens die
schwarzen Schafe aus. Kommt es dann zu einem Haf-
tungsfall, erleichtern wir zweitens die Identifizierung
des Anspruchsgegners über das Werkzeug des Ver-
mittlerregisters. Bei der gerichtlichen Geltendmachung
hilft dem Anleger drittens die Verlängerung der Verjäh-
rung. Viertens sind die Titel nicht wertlos, weil es durch
die Berufshaftpflicht zukünftig eine ausreichende Haf-
tungsmasse geben wird, aus der etwaige Schadenser-
satzansprüche befriedigt werden können.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1711425200

Täglich ringen die Staats- und Regierungschefs mit

der europäischen Schuldenkrise und darum, die interna-
tionalen Finanzmärkte endlich zu zähmen. Abseits da-
von und weitgehend unbeachtet werden in Deutschland
auf dem sogenannten grauen Kapitalmarkt tausendfach
hochrisikoreiche, intransparente und schädliche Anla-
geprodukte an Anlegerinnen und Anleger verkauft, die
für sie immer wieder mit erheblichen Verlusten verbun-
den sind. Dort tummeln sich unseriöse Anbieter, oftmals
schlecht ausgebildet und teils in betrügerischer Absicht.

Spektakuläre Fälle wie die Insolvenz der Phoenix Ka-
pitaldienst GmbH mit rund 30 000 betrogenen Anlege-
rinnen und Anlegern und einem Gesamtschaden von



gegebene Reden

Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

über 200 Millionen Euro oder der Skandal um die Göt-
tinger Gruppe Vermögens- und Finanzholding GmbH &
Co. KGaA mit geschätzten 200 000 Geschädigten sind
nur die bekanntesten Einzelfälle. Diesen Markt müssen
wir endlich ans Licht holen.

Die Regierung ist mit dem erklärten Ziel gestartet,
hier Abhilfe zu schaffen. Seit über einem Jahr warten
wir nun auf einen Gesetzesvorschlag. Jetzt liegt uns der
„Gesetzentwurf zur Novellierung des Finanzanlagen-
vermittler- und Vermögensanlagenrechts“ vor. Nur: Lei-
der wird hier nicht gut, was lange währt.

Immerhin: Die umständliche Bezeichnung des Geset-
zes bringt einen Fortschritt: Die Koalition versucht
nicht – wie unlängst beim „Anlegerschutz- und Funk-
tionsverbesserungsgesetz“ – mit schicken Namen zu
verschwurbeln, dass leider ganz und gar nicht das drin-
steckt, was auf Seite eins des Konvoluts angekündigt ist.
Denn dass dieser Vorschlag tatsächlich dazu beiträgt,
den grauen Kapitalmarkt endgültig zu zähmen, ist mehr
als zweifelhaft.

Das lässt sich auch begründen. Ich will mich hier nur
auf einige wenige Punkte konzentrieren:

Erstens: Die Aufsicht über die freien Vermittler bleibt
bei den Gewerbebehörden.

Finanzminister Schäuble hatte in einem ersten Ent-
wurf für das Gesetz im März 2010 eine Regelung vorge-
sehen, wonach – statt wie derzeit die Gewerbeämter –
die BaFin zukünftig die Aufsicht über die ungefähr
80 000 freien Vermittlerinnen und Vermittler bekommen
soll. Das ist nicht nur im Hinblick auf eine umfassende
Aufsicht in Deutschland logisch, sondern auch ange-
sichts der personellen Situation der Gewerbeämter in
Deutschland mehr als notwendig. Wer soll auch Tau-
sende Finanzvermittler kontrollieren, wenn er sich sonst
um Frittenfett und die Organisation des örtlichen Weih-
nachtsmarktes kümmert? Das leuchtet jedem ein, nur
nicht der Lobby der Finanzvermittler. Also wurde eine
Unterschriftenaktion gestartet, Horrorzahlen zu zusätz-
lichen Kosten veröffentlicht, mit dem Verlust von Tau-
senden Arbeitsplätzen – kurz mit dem Untergang des
Abendlandes – gedroht.

Im damaligen Wirtschaftsminister Rainer Brüderle
fand sich denn auch eine Marionette, die die Argumente
der Finanzvermittlerlobby nachtrompetete und dabei so-
gar in Kauf nahm, dass Finanzminister Schäuble seinen
ursprünglichen Gesetzentwurf zurückziehen musste
und nun ein Vorschlag auf dem Tisch liegt, beim dem
die BaFin auch zukünftig bei der Aufsicht außen vor
bleibt. Das ist gegen jede Vernunft und widerspricht
auch dem Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb, wo es
heißt:

„Wir wollen ein konsistentes Finanzdienstleistungs-
recht schaffen, damit Verbraucher in Zukunft besser vor
vermeidbaren Verlusten und falscher Finanzberatung
geschützt werden. Ein angemessener Anlegerschutz ge-
gen unseriöse Produktanbieter und Falschberatung wird
prinzipiell unabhängig davon gewährleistet, welches
Produkt oder welcher Vertriebsweg vorliegt.“
Zu Protokoll
Die Realität sieht anders aus: In Zukunft hängt der
Schutz der Anlegerinnen und Anleger davon ab, welches
Produkt sie kaufen: Bei einer Aktie sitzen die Profis der
BaFin dem Anbieter im Nacken, bei einem geschlosse-
nen Fonds das Gewerbeamt Henstedt-Ulzburg.

Fußnote: Es wird vielleicht aufgefallen sein, dass
Verbraucherschutzministerin Aigner bisher noch nicht
erwähnt wurde. Noch Ende letzten Jahres hat sie groß-
spurig gefordert, die Finanzaufsicht bei der BaFin zu
konzentrieren. In der Berliner Invalidenstraße bei
Minister Brüderle und in der Wilhelmstraße bei Minister
Schäuble hat man damals darüber wahrscheinlich nur
müde gelächelt, wenn überhaupt. Die Ministerin ist
nichts anderes als ein Totalausfall.

Stichwort „KWG-light“: Für die SPD-Fraktion ist
klar, dass nicht jeder freie Vermittler in den Entschädi-
gungsfonds der Wertpapierhandelsunternehmen einzah-
len muss, die Vorschriften zum Risikomanagement von
Finanzdienstleistungsinstituten anwenden oder alle Be-
richtspflichten für Großbanken erfüllen kann und soll.
Das ist unnötige Bürokratie und bringt keinen wirkli-
chen Mehrwert. Hier müssen wir angemessene Regelun-
gen finden, die die Spezifika des Vermittlermarktes be-
rücksichtigen und die immer wieder unter dem Stichwort
„KWG-light“ diskutiert werden. Ich habe die große
Hoffnung, dass sich die Vertreter der Regierungskoali-
tionen hier durchsetzen, die schon damals der Meinung
waren, dass eine „KWG-light“-Lösung die bessere Al-
ternative zur gewerberechtlichen Lösung ist.

Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme dazu ei-
nen sehr eleganten Weg vorgeschlagen: Die Aufsichts-
befugnis der BaFin über den freien Vermittlermarkt wird
dort über eine spezielle Norm in der Gewerbeordnung
verankert. Welche Anforderungen aus dem Kreditwesen-
gesetz darüber hinaus für die freien Vermittler gelten
sollen, könnte dann im Rahmen einer „Opt-in“-Lösung
ebenfalls in der Gewerbeordnung verankert werden. So
ersparen wir uns auch die Krücke eines umfangreichen
Ausnahmenkatalogs für die freien Vermittler im KWG.

Der Vorschlag zeigt einmal mehr überdeutlich: Ein
einheitliches Schutzniveau für die Anlegerinnen und An-
leger ist möglich, ohne die Branche zu überfordern. Die
SPD bietet an diesem Punkt ausdrücklich ihre Unterstüt-
zung an.

Zweitens: Neue Anforderungen an die freien Vermitt-
ler.

Den Koalitionären von CDU und CSU ist es ganz of-
fensichtlich ein wenig peinlich, wie ihre Minister
Schäuble und Aigner vom Ex-Wirtschaftsminister beim
Thema BaFin-Aufsicht am Nasenring durch die Manege
gezogen wurden. Deshalb ist jetzt wohl die neue Sprach-
regelung, dass trotz Gewerbeaufsicht für die Vermittler
ganz neue, zusätzliche Anforderungen gelten sollen:
Sachkundeprüfung, Haftpflichtversicherung, Zuverläs-
sigkeit, geordnete Vermögensverhältnisse und Berichts-
pflichten. Dieser Vorschlag ist richtig und unterstützens-
wert. Denn bis jetzt hat mir noch niemand erklären
können, warum Friseure und Kfz-Mechaniker im Neben-
beruf der Verwandtschaft und dem geneigten Freundes-



gegebene Reden

Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)

kreis beim gemeinsamen abendlichen Grillen teils hoch-
riskante geschlossene Fonds verkaufen dürfen.

Nur: Alles das soll in einer vom Finanzministerium
gut gehüteten Verordnung geregelt werden, die der Bun-
destag noch nicht zu Gesicht bekommen hat und die
– Zitat Gesetzentwurf – „ein vergleichbares Anleger-
schutzniveau“ wie im Wertpapierhandelsgesetz sicher-
stellen soll. Das macht misstrauisch; denn Staatssekre-
tär Asmussen aus dem Finanzministerium hat in diesem
Zusammenhang von einer Eins-zu-eins-Lösung gespro-
chen. Die SPD wird genau darauf achten, ob das Ver-
sprechen der Eins-zu-eins-Lösung auch eingelöst wird.
Ich bleibe skeptisch.

Drittens: Das geplante Vermittlerregister.

Seit der Verabschiedung des Anlegerschutzgesetzes in
diesem Frühjahr müssen sich alle 300 000 Bankberater
und Tausende Vertriebsbeauftragte sowie Compliance-
Beauftragte der Banken ausnahms- und anlasslos in ein
internes Register bei der BaFin eintragen. Treten dann
im Beratungsgeschäft Kundenbeschwerden auf, sind sie
der BaFin zu melden, die ihrerseits Sanktionen bis hin
zum Tätigkeitsverbot für die einzelnen Berater verhän-
gen darf. Die SPD-Fraktion hat diese Registerlösung als
bürokratischen Unfug kritisiert. Wir wollten die Berater
erst beim Eingang solcher Beschwerden in dem Register
erfassen. Das wäre sinnvoll gewesen, ohne die präven-
tive Wirkung der Datenbank zu mindern.

Das Register ist jetzt offensichtlich die Allzweckwaffe
der Koalition: Im „Copy-Paste-Modus“ sieht nun auch
dieser Gesetzentwurf vor, dass sich künftig alle 80 000
Vermittler in das bereits existierende Register für Versi-
cherungsvermittler eintragen müssen. Nur: Bei der
Markierung des zu kopierenden Textes ist dem Ministe-
rium offenbar ein Fehler unterlaufen. Denn sämtliche
Passagen zur Möglichkeit von Kundenbeschwerden und
Sanktionen der Aufsichtsbehörde wie im Bankensektor
fehlen im Gesetzentwurf. Wir helfen da gerne bei den
Grundfunktionen von „Windows Word“ nach.

Diese kurze Aufzählung macht schon deutlich, dass
wir uns das Gesetz genau ansehen müssen. Viele andere
Punkte wären hier noch anzusprechen und werden uns
im Rahmen der Beratungen weiter beschäftigen. Stich-
worte sind hier das geplante Vermögensanlageninfor-
mationsblatt – das VIB –, die neuen Prospektpflichten
oder die Vorschriften zur Wertermittlung der Anlage.

Ich habe die Hoffnung, dass die Regierungskoalition
vom Struck’schen-Gesetz – dass nämlich Gesetze den
Bundestag nie so verlassen, wie sie ihn erreichen – aus-
führlich Gebrauch macht. Es gibt viele Punkte, die an
diesem Gesetzentwurf noch geändert werden müssen,
damit für die Anlegerinnen und Anleger vom grauen Ka-
pitalmarkt nicht weiter unkalkulierbare Risiken ausge-
hen.

Die SPD will einen integren und transparenten Kapi-
talmarkt, bei dem nicht die Anbieter und Vermittler so-
wie der kurzfristige Gewinn und die Maximalrendite im
Mittelpunkt stehen, sondern die Anlegerinnen und Anle-
ger. Dafür kämpfen wir.
Zu Protokoll

Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711425300

Ich möchte diesen Gesetzentwurf und seine Entste-

hung mit einem 100-Meter-Lauf vergleichen. Die Bun-
desregierung wusste seit Jahren, dass etwas getan
werden muss, um den Auswüchsen des grauen Kapital-
marktes Einhalt zu gebieten. Nun sprintet man los, etwas
holprig, aber immerhin in die richtige Richtung. Nach
50 Metern beginnen Sie jedoch schon, die Arme hochzu-
reißen und zu jubeln, obwohl das eigentliche Ziel noch
nicht erreicht ist.

Der graue Kapitalmarkt ist der Teil des Kapitalmark-
tes, der nicht vollständig unter das Kreditwesen-, Invest-
ment- und Versicherungsaufsichtsgesetz fällt und somit
fast gar nicht durch Rechtsvorschriften und Behörden
kontrolliert wird. Zu ihm gehören in erster Linie ge-

(Immobilien, Schiffe, Photovoltaik etc.)

schäfte mit Bankgarantien sowie manche Steuerspar-
modelle. Das gravierende Regulierungs- und Aufsichts-
gefälle zum regulierten „weißen“ Kapitalmarkt ist das
zentrale Problem.

Ich möchte geschlossene Fonds herausgreifen: Sie
sind in der Regel unternehmerische Beteiligungen ohne
Stimmrecht und zugleich schwer handel- bzw. verkaufbar.
Dem Anleger muss bewusst sein, dass er das volle Unter-
nehmerrisiko bis hin zum Totalverlust trägt und dass
unter Umständen Nachschusspflichten bestehen. Große
Anteile der Beteiligungssummen – zum Beispiel Ver-
triebsprovisionen und Marketingkosten – wandern schon
vorab in die Taschen der Fonds-Emittenten und -Vermitt-
ler.

Nach wie vor gibt es eine erschreckend hohe Zahl an
unseriösen Emittenten, deren graue Finanzprodukte von
wiederum unseriösen, wenig qualifizierten und provi-
sionsgetriebenen Produktvermittlern vertrieben werden.
Diese locken Anleger mit dem Versprechen hoher Ren-
dite und mit geschicktem Marketing in ihre Produkte,
welche die zuvor gemachten Versprechen in der Regel
nicht einlösen. Eine anlegergerechte Beratung oder Ver-
mittlung findet nicht statt. Da Risiko und Kosten dieser
Finanzprodukte insgesamt beträchtlich sind, beschert
der ungeregelte graue Kapitalmarkt Anlegern jährlich
finanzielle Verluste in Milliardenhöhe. Dies darf so nicht
weitergehen!

Die Linke ist deshalb der Meinung, dass Sie mit die-
sem Gesetzentwurf zumindest einen wichtigen und
längst überfälligen Schritt gehen, um weiterem verbrau-
cherschädlichen Verhalten Einhalt zu gebieten.

Es war an der Zeit, den Finanzinstrumentebegriff
auszuweiten. Damit werden nun einige Produkte des
grauen Kapitalmarktes als Vermögensanlage definiert,
die in der Folge dem Anwendungsbereich dieses Geset-
zes unterliegen und so der Finanzaufsicht unterstellt
werden. Natürlich muss man an dieser Stelle diskutieren,
ob nicht noch andere Anlageformen wie Bankgarantien
oder Schrottimmobilien mit in den Katalog aufgenom-
men werden müssen.

Gut ist zudem, dass den Kreditinstituten mit dem Ge-
setzentwurf einige Pflichten erwachsen, die im regulier-



gegebene Reden

Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)

ten Bereich zu den Standards gehören: Es muss anleger-
gerecht beraten werden, Provisionen sind offenzulegen,
und Beratungsprotokolle müssen angefertigt werden.
Gerade bei der Provisionsoffenlegung sind jedoch noch
weitergehende Regelungen notwendig. Weichkosten und
Margen sind beispielsweise ohne Ausnahmen offenzule-
gen. Alles in allem will die Linke aber provisionsgetrie-
bene Beratung überwinden. Nur ohne Provisionsdruck
kann Beratung von Finanzprodukten unabhängig und
das verkaufte Produkt folglich passgenau dem tatsächli-
chen Anlegerinteresse entsprechen!

Eine bedeutende Ausnahmeregelung im Gesetzent-
wurf bereitet darüber hinaus Bauchschmerzen: Sehr
kleine Fonds bis 100 000 Euro und mit einer Stückelung
in nicht mehr als 20 Anteile und demgegenüber sehr
große Anteile von mindestens 200 000 Euro bleiben von
den Vorschriften des Gesetzes unberührt. Damit wird
unterstellt, dass sehr große Anteile nur von professionel-
len Anlegern gehalten werden – die aufgrund der unter-
stellten „Professionalität“ als weniger schutzbedürftig
gelten – und dass kleineren Investitionsvorhaben keine
bürokratischen Erschwernisse auferlegt werden sollen.

Dagegen ist theoretisch wenig einzuwenden, aller-
dings wird vergessen, dass bei geschlossenen Fonds für
den Anleger auch Nachschusspflichten bestehen können.
In diesem Falle wäre der Verlust pro Anteil nicht unbe-
dingt nur auf 5 000 Euro begrenzt, sondern bedeutend
höher. Dies kann den Anleger immer weiter in Geldnot
und in eine Verschuldungsspirale treiben. Das dürfen
Sie nicht zulassen!

Man sollte an dieser Stelle die Produkt- bzw. Emitten-
tenebene, auf der ja unter anderem Nachschusspflichten
angesiedelt sind, stärker ins Auge fassen und auch dort
mit anlegergerechten Regelungen aufwarten: Seit eini-
gen Jahren gibt es vermehrt sogenannte Ansparfonds für
unternehmerische Beteiligungen, mit geringen Anzah-
lungen und kleinen Monatsraten, damit auch Kleinanle-
ger ihren Anteil am Fonds über Jahre zusammensparen
können und eine hohe Mindesteinlage nicht sofort schul-
tern müssen. Oft werden von den Fonds die Zielobjekte
auf Kredit erworben. Bei einer Schieflage stehen die An-
leger indes im Risiko, weil das gesamte zugesagte An-
sparkapital haftet und die Restzeichnungssumme auf ei-
nen Schlag einzuzahlen ist. Ansparfonds können somit
wie Nachschusspflichten ein Weg in die Privatinsolvenz
sein.

Auch sogenannte Blindpool-Konstruktionen stellen
ein Risiko für Kleinanleger, aber nicht nur für diese,
dar: Ein Blindpool ist ein Sammelbecken für Beteili-
gungskapital, bei dem den Anlegern zu Beginn noch un-
bekannt ist, in welche Art von Geldanlage mit welchem
Gesamtumfang investiert wird bzw. welche Beteiligun-
gen erworben werden. Der Anleger ist der Geschäftsfüh-
rung des Unternehmens weitgehend schutzlos ausgelie-
fert, denn er investiert „blind“. Das Einsammeln von
investitionswilligem Kapital durch den Emittenten darf
aus Transparenzgründen meiner Ansicht nach nur dann
infrage kommen, wenn klar und eindeutig im Voraus be-
schrieben und nachgewiesen wird, in welche Objekte in
welchem Umfang und mit welchem Ziel investiert wird.
Zu Protokoll
Dreierlei Dinge müssen infolgedessen angepackt
werden: Nachschusspflichten sind von vornherein zu de-
ckeln, wenn es sie denn weiterhin geben soll. Produkte
mit Nachschusspflichten dürfen ebenso wenig wie An-
sparfonds aus dem Graumarktsegment aktiv an Anleger
vertrieben werden; über deren Risiken ist an „prominen-
ter“ Stelle in Prospekten und Gesprächen umfassend
aufzuklären. Und über ein Verbot von Blindpool-Kon-
struktionen muss nachgedacht werden.

Kommen wir nun noch zu den Finanzanlagenvermitt-
lern:

Künftig soll die Gewerbeerlaubnis für Vermittler an
einen Sachkundenachweis und eine Berufshaftpflicht-
versicherung, ersatzweise eine entsprechende Kapital-
ausstattung, gebunden sein. Die Linke begrüßt es, dass
die schwarzen Schafe vom Markt verschwinden. Den-
noch sollte man überlegen, ob es sinnvoll ist, dass ein
einzelner, langjährig tätiger, seriöser Finanzvermittler
nun einen Qualifikationsnachweis erbringen muss, der
mit Folgekosten verbunden ist.

Wenn Sie dies schon auf diese Weise regeln wollen,
müssen Sie auch konsequent bleiben: Banken als Ganzes
fallen unter das Kreditwesengesetz. Doch dieses Gesetz
bietet nicht unbedingt ausreichende Gewähr dafür, dass
die Bankberater hinreichenden Sachverstand für eine
anlegergerechte Beratung zu geschlossenen Fonds und
Genussrechten besitzen. Diese Finanzprodukte dürfen
sie aber am Schalter verkaufen. Es ist nicht plausibel,
warum der Bankberater gegenüber dem einzelnen Ver-
mittler eine Bevorzugung dadurch erfahren soll, dass er
keinen gesonderten Qualifikationsnachweis erbringen
muss.

Der Linken ist wie auch den Verbraucherzentralen
generell wichtig, Vermittler von Vermögensanlagen
nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, der Gewerbe-
aufsicht, sondern der Finanzaufsicht, der BaFin, zu un-
terstellen. Die Vermittleraufsicht darf nicht zersplittert
bleiben! Dafür setzen wir uns ein!

Wenn sich freie Vermittler durch die regionale Orga-
nisation der Gewerbeaufsicht dort anmelden können, wo
eine weniger strenge Aufsicht vorherrscht, ist ein Auf-
sichtsgefälle zu befürchten. Durch ihre permanente Auf-

(auch für Verkaufsprospekte und Informationsblätter)

kann die BaFin präventiv wirken. Für Anleger wird
durch eine bundesweite Aufsicht zumindest ein bisschen
eher das von der Bundesregierung angestrebte „einheit-
liche Schutzniveau in Regulierung und Beaufsichtigung
unabhängig von Vertriebsweg und Produkt“ erreicht.

Selbst wenn der vorliegende Gesetzentwurf, wie ein-
gangs ausgeführt, ein Fortschritt ist, muss man trotzdem
festhalten, dass das ursprüngliche Ziel, den grauen Ka-
pitalmarkt umfassend zu regulieren oder gar verschwin-
den zu lassen, nicht erreicht wird. Sie beschränken sich
zu sehr auf die Vertriebsebene und lassen somit die Pro-
duktebene sowie die Emittenten von Graumarktproduk-
ten außer Acht. Damit befördern Sie einen „grauen Ka-
pitalmarkt light“.



gegebene Reden

Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)

Die Linke will hingegen den grauen Kapitalmarkt
derart umfänglich regulieren und am Anlegerschutz aus-
richten, dass er zu einem „weißen“ Kapitalmarkt wird!
Es darf nicht mehr ein halbwegs geregelter und ein so
gut wie ungeregelter Kapitalmarkt nebeneinander exis-
tieren! Das Aufsichts- und Regulierungsgefälle muss
weg, und damit muss der graue Kapitalmarkt in seiner
Gesamtheit weg!

Jeder Teil des Kapitalmarktes muss demnach unter
das entsprechende Dach des Kreditwesen-, Investment-
oder Versicherungsaufsichtsgesetzes gebracht werden.
Nicht nur der Vertrieb von Produkten des grauen Kapi-
talmarktes ist strengeren Vorschriften zu unterwerfen.
Intransparente, unseriöse und hochriskante Produkte
dürfen erst gar nicht auf den Markt kommen. Zwielich-
tige, unseriöse Anbieter bzw. Emittenten solcher Pro-
dukte dürfen erst gar nicht am Marktgeschehen teilneh-
men, hier müssen Barrieren aufgebaut werden.
Deswegen fordern wir, als Zulassungs- und Kontroll-
stelle für Finanzinstrumente und zur Etablierung von
Mindeststandards für Vermögensanlagen einen Finanz-
markt-TÜV einzurichten.

Und man sollte noch eine weitere Seriositätsschwelle
einziehen: Emittenten von beispielsweise geschlossenen
Fonds müssen eine hohe Mindest- oder Anfangskapital-
ausstattung in Abhängigkeit von dem insgesamt benötig-
ten Kapital für die Anlage aufweisen, und Gesellschafts-
vertrag sowie Businessplan sind frühzeitig und
vollständig vorlegen. Dies wären sinnvolle Regelungen!

Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koali-
tion, klopfen Sie sich jetzt noch nicht auf die Schulter,
bringen Sie nach der Anhörung Ihre Aufgabe zu Ende,
und stoppen Sie Ihren Lauf nicht auf halber Strecke! Die
Linke hilft Ihnen dabei, das Ziel nicht aus den Augen zu
verlieren: Ebnen Sie das Regulierungs- und Aufsichtsge-
fälle zwischen leidlich reguliertem und grauem Kapital-
markt auf hohem Niveau vollständig ein, und sorgen Sie
somit dafür, dass der graue Kapitalmarkt endlich
„weiß“ wird.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711425400

Sowohl im Jahr 2007, als auf Anregung der Grünen

im Finanzausschuss vereinbart wurde, sich die ge-
schlossenen Fonds in diesem Bereich noch einmal ge-
nauer anzuschauen, als auch am Ende der letzten Legis-
laturperiode, als wir Grüne mit unserem Antrag
„Grauen Kapitalmarkt durch einheitliches Anleger-
schutzniveau überwinden“ die drastischen Regulie-
rungsdefizite im grauen Kapitalmarkt zurück auf die
politische Agenda holten, war jeweils meine Hoffnung,
dass man zügiger diesen großen Problembereich des
deutschen Finanzmarkts in Angriff nehmen würde. Doch
kundenschädliche Regelungen sind offenbar langlebig.
Gut, dass wir jetzt endlich im konkreten Gesetzgebungs-
verfahren sind.

Doch der vorliegende Gesetzentwurf zur Novellie-
rung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanla-
genrechts ist inhaltlich leider kein Grund zum Jubeln.
Das im Koalitionsvertrag versprochene konsistente Fi-
nanzdienstleistungsrecht wird nicht erreicht.
Zu Protokoll
Zwar begrüßen wir, dass der Vertrieb von Vermö-
gensanlagen wie Anteile an geschlossenen Fonds durch
Banken und Sparkassen künftig unmittelbar den anle-
gerschützenden Vorschriften des Wertpapierhandelsge-
setzes, WpHG, und der Aufsicht der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, unterfällt. Nicht
zielführend ist es jedoch, freie Finanzvermittler von In-
vestmentfonds, geschlossenen Fonds und anderen Ver-
mögensanlagen weiterhin einer allein gewerberecht-
lichen Aufsicht durch die zuständigen Landesbehörden
zu unterstellen. Es ist mehr als fraglich, wie die Landes-
behörden mit den ungeeigneten Eingriffsbefugnissen des
Gewerbeaufsichtsrechts eine effektive Überwachung der
freien Finanzanlagenvermittler hinbekommen sollen
bzw. ob die zuständigen Landesbehörden personell und
fachlich dazu überhaupt in der Lage sind.

Darüber hinaus hat die nun auch für Vermittler von
Vermögensanlagen und geschlossenen Fonds in § 2 a
WpHG eingeführte Ausnahme zur Folge, dass die anleger-
schützenden Informations-, Beratungs- und Dokumenta-
tionspflichten einschließlich der Offenlegungspflicht von
Provisionen – sogenannte Wohlverhaltenspflichten –
nicht direkt, sondern nur über eine Verordnung gelten
sollen, um ein – so wörtlich – „gleichwertiges Anleger-
schutzniveau“ herzustellen. Halten wir also fest, dass
weder klar ist, inwieweit die Wohlverhaltenspflichten in
der freien Finanzanlagenvermittlung und -beratung
künftig gelten, noch klar ist, inwieweit deren Einhaltung
überprüft wird.

Sollte am Ende des Gesetzgebungsverfahrens gleich-
wohl eine gewerberechtliche Regulierung der freien
Finanzanlagenvermittlung gesetzlich fixiert werden,
wäre darauf zu achten, dass nicht die gleichen Ausnah-
metatbestände geschaffen werden wie im Rahmen der
Regulierung der Versicherungsvermittlung. Insbeson-
dere ist darauf Acht zu geben, dass von einer „Alte-
Hasen-Regelung“ – wie sie laut Presseberichten von
den Regierungsfraktionen nunmehr angestrebt wird –
soweit wie möglich Abstand genommen wird. Eine lang-
jährige Tätigkeit ist keine Garantie für eine angemes-
sene Qualifikation und würde gesetzgeberische Ver-
säumnisse für die nächsten Jahre quasi fortbestehen
lassen.

Als einen zweiten Punkt möchte ich auf die Anbieter
von Vermögensanlagen eingehen, die der Gesetzentwurf
ebenfalls adressiert. So wird jeder Anbieter künftig ne-
ben dem Verkaufsprospekt auch ein Vermögensanlagen-
Informationsblatt zu erstellen haben. Das ist zu begrü-
ßen. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle unsere im
Rahmen des Anlegerschutz- und Funktionsverbesse-
rungsgesetzes geäußerte Forderung bekräftigen, die we-
sentlichen Vorgaben für eine Produktkurzinformation
standardisiert und konkretisiert vorzuschreiben, damit
den Verpflichteten keine Spielräume gewährt werden,
die die Vergleichbarkeit einzuschränken vermögen.

Darüber hinaus befürworten wir, dass der Gesetzent-
wurf den Prüfungsumfang der BaFin hinsichtlich der
Prospektprüfung auf Kohärenz erweitert. So werden
Prospekte von Vermögensanlagen künftig nicht nur da-
rauf kontrolliert, ob die Informationen vollständig sind,



gegebene Reden





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

sondern auch, ob sie schlüssig und widerspruchsfrei
sind. Bedauerlich ist jedoch, dass die Bundesregierung
sich dem Vorschlag einer Prüfung der inhaltlichen Rich-
tigkeit der im Verkaufsprospekt enthaltenen Angaben
verschließt. Eine solche materielle Inhaltsprüfung
könnte nämlich durch die verpflichtende Erstellung ei-
nes Wirtschaftsprüfergutachtens – sogenannter IDW-S4-
Standard – und dessen Hinterlegung und Offenlegung
bei der BaFin erreicht werden. Da dieses Modell sowohl
von der Branche als auch vom Bundesrat befürwortet
wird, hoffe ich, dass wir im Rahmen der anstehenden
Beratungen diesen Punkt noch korrigieren können. Ent-
scheidend wird sein, wo man bei diesem Modell die Haf-
tung verortet, da nach geltender Rechtslage weder die
BaFin noch ein Wirtschaftsprüfer dem Anleger gegen-
über für die Richtigkeit des Gutachtens haftet. Daher
bietet sich die Schaffung einer spezialgesetzlichen Haf-
tungsnorm an.

Unentschuldbar ist in meinen Augen jedoch, dass
man eine für die Steigerung des Anlegerschutzes maßge-
bende Vorschrift des Diskussionsentwurfes im Referen-
tenentwurf vergeblich sucht. Der Diskussionsentwurf
sah in § 16 Vermögensanlagengesetz-Entwurf noch die
Plicht des Anbieters zur Mitteilung des Wertes der Ver-
mögensanlage vor. Das sollte Anlegerinnen und Anle-
gern ermöglichen, einmal im Jahr einen Überblick über
den Wert ihrer Kapitalanlage zu erhalten. Bedauer-
licherweise ist die Bundesregierung hier vor der Bran-
che eingeknickt. Das muss dringend revidiert werden.
Jedenfalls kann das Abwarten auf die europäisch ein-
heitlichen Bewertungskriterien, deren Umsetzung kaum
vor Mitte 2014 zu erwarten ist, hier nicht als Argument
gelten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711425500

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/6051 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? – Dann ist so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:1)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Lambrecht, Petra Crone, Dr. Peter Danckert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Gleichstellung eingetragener Lebenspart-
nerschaften

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Jan Korte, Cornelia Möhring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Öffnung der Ehe

– Drucksachen 17/2113, 17/2023, 17/4516 –

1) Anlage 7
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses auf Drucksache 17/4516. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/2113. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Linken.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2023. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim-
men von der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/
Die Grünen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:2)

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

Einrichtung einer Interparlamentarischen
Konferenz zur Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik bzw. Gemeinsamen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik der Europäi-
schen Union

– Drucksachen 17/5903, 17/6140 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
Dietmar Nietan
Joachim Spatz
Dr. Diether Dehm
Viola von Cramon-Taubadel

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gloser, Dietmar Nietan, Johannes Pflug, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für eine wirkungsvolle interparlamentari-
sche Begleitung der Europäischen Außen-
und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertra-
ges von Lissabon

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Müller (Köln), Marieluise Beck (Bremen),

2) Anlage 8





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kriterien und Anforderungen für eine par-
lamentarische Beteiligung an der Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik der EU

– Drucksachen 17/5389, 17/5771, 17/6137,
17/6138 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Joachim Spatz
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Zunächst Tagesordnungspunkt 20 a. Wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angele-
genheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Ein-
richtung einer Interparlamentarischen Konferenz zur
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bzw. Ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
Europäischen Union“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6140, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/5903 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der SPD-Fraktion.

Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Für eine wir-
kungsvolle interparlamentarische Begleitung der Europäi-
schen Außen- und Sicherheitspolitik im Geiste des Vertra-
ges von Lissabon“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/6137, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5389 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstim-
men der SPD und Enthaltung der Grünen angenommen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Kriterien und Anforderungen
für eine parlamentarische Beteiligung an der Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik der EU“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/6138, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/5771 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Linken bei Gegenstimmen der Grünen und Enthal-
tung der SPD angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth (Esslingen), Lothar Binding (Heidelberg),
Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Undine Kurth

(Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte indigener Völker stärken – ILO-Kon-
vention 169 ratifizieren

– Drucksache 17/5915 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe, Thilo
Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Verbot von Koka-Blättern – Für die völ-
kerrechtliche Anerkennung als schützens-
werte Kultur der indigenen Völker im Anden-
Raum

– Drucksache 17/6120 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung


Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1711425600

Heute befassen wir uns mit zwei Anträgen, die den

Schutz und die Rechte indigener Völker zum Gegenstand
haben.

Der Aufgabe, den Schutz und die Rechte indigener
Völker auf unserer Welt zu stärken, sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen der Fraktion der SPD und der Grü-
nen, unterstützen wir als CDU/CSU-Fraktion genauso
vehement wie Sie. Ob diese Stärkung jedoch durch die
Ratifizierung der ILO-Konvention 169 und durch den
freien Zugang zu Koka, wie Sie es in ihren Anträgen for-
dern, erreicht werden kann, bleibt zu diskutieren.

Deutschland stärkt in der Zusammenarbeit mit seinen
Partnerländern durch unterschiedlichste, zielgerichtete
Projekte und Programme die Rechte der Indigenen. Da-
bei richtet sich das Bundesministerium für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung nach den Vorga-
ben der ILO-Konvention 169 und hat diese Richtlinien
im Konzept „Zusammenarbeit mit indigenen Völkern in
Lateinamerika und der Karibik“ festgeschrieben. Das
bedeutet: Bei allen entwicklungspolitischen Aktivitäten
wird geprüft, ob sie negative Auswirkungen auf indigene
Völker haben könnten. Bei Vorhaben, die Indigene direkt
betreffen, werden diese bereits frühzeitig und umfassend
in die Planung mit einbezogen. Denn wir wissen, dass
indigene Völker einen besonderen Beitrag zur weltwei-
ten kulturellen Vielfalt leisten. Dabei gilt es, insbeson-
dere sowohl den Erfahrungsschatz als auch das natur-
spezifische Wissen dieser Völker als Fundus für den

Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)

Schutz der Biodiversität zu erhalten und zu nutzen. Da-
rin sind wir uns, so meine ich, alle einig.

Auch aus diesen Gründen hatte sich Deutschland bei
der Ausarbeitung der ILO-Konvention 169 im Jahr 1989
für diese stark gemacht und durch seine Paraphierung
gezeigt, welche Bedeutung wir dieser Konvention für
den Schutz und die Rechte indigener Völker zumessen,
zumal es das bisher einzige internationale Vertragswerk
mit völkerrechtlichem Status ist, das die Rechte indige-
ner oder in Stammesgesellschaften lebender Bevölke-
rungsgruppen schützt.

Die Forderung in Ihrem Antrag‚ Deutschland solle
nun endlich auch ratifizieren, um zu zeigen, wie ernst
wir es wirklich mit dem Schutz indigener Völker meinen,
ist eine rein populistische Forderung. Sie ist schnell ge-
fordert, klingt gut und findet leicht öffentliche Unterstüt-
zung.

Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch
Deutschland würde allerdings an der heutigen Situation
indigener Völker in ihren Ländern rein gar nichts än-
dern. Und das wissen Sie selbst auch. Dennoch möchte
ich gern noch einmal die Gründe dafür darlegen:

Die ILO-Konvention 169 erkennt indigene Gemein-
schaften als „Völker“ an, wenngleich auch ohne staat-
liche Souveränität, aber als kollektive Besitzer eines
Territoriums und als Gemeinschaften mit eigenen tradi-
tionellen Selbstverwaltungsorganen. Die Konvention
hat zum Ziel, Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl von
Grundrechten für die Angehörigen indigener Gruppen
rechtsverbindlich zu regeln. Dies betrifft unter anderem
das Recht auf ihre eigene Lebensweise, Sprache und
Kultur, das Recht auf traditionelles Land sowie die Nut-
zung der dort vorhandenen Ressourcen, das Recht auf
Selbstverwaltung und das Recht auf spezielle Konsulta-
tions- und Partizipationsverfahren, die Einfluss auf das
Territorium oder die Lebensweise von indigenen Grup-
pen haben. Die ILO-Konvention richtet sich vor allem
an die Länder, zu deren Bevölkerung in Stämmen le-
bende Völker oder Eingeborene zählen.

Das trifft für Deutschland nicht zu. Bei uns leben na-
tionale Minderheiten, wie die Friesen, Sorben, Sinti und
Roma oder die Dänen, die deutsche Staatsbürger sind.
Alle genießen weitreichende Rechte, die von allen Seiten
anerkannt und gefördert werden. Wir haben seit Jahren
in Zusammenarbeit mit den nationalen Minderheiten
eine sehr erfolgreiche Integrationspolitik, um die uns
viele beneiden. Die ILO-Konvention 169 verfolgt im Ge-
gensatz dazu einen segregativen Ansatz, der für indigene
Völker in den Ländern, die bereits die Konvention ratifi-
ziert haben, auch zielführend ist.

Diese zwei genannten Punkte sind ausreichend, um zu
verstehen, dass eine Ratifizierung nicht nur nicht nötig,
sondern für Deutschland auch nicht zweckdienlich ist.
Das wissen Sie genauso gut wie ich. Unter Rot-Grün, in
den Jahren 1999 bis 2005, haben Sie, als Sie die Mög-
lichkeit zur Ratifikation hatten, nämlich genau aus die-
sen Gründen nicht ratifiziert.

Auch die Forderung‚ Deutschland solle aus Solidari-
tätsgründen ratifizieren, hätten Sie sich selbst erfüllen
Zu Protokoll
können. Das haben Sie aber auch nicht getan. Unsere
Solidarität mit den indigenen Völkern – und das auch
schon zu Zeiten von Rot-Grün – spiegelt sich in den Pro-
jekten, Programmen und Handlungsrichtlinien der Bun-
desregierung wider. Diese entsprechen dem Geist der
Konvention.

Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass
diejenigen Staaten die Konvention ratifizieren, in deren
Gebiete indigene Völker leben. Nur dadurch wird die
Kraft dieser Konvention erhöht. Da unterscheiden wir
uns in unseren Politiken. Nicht die Anzahl der Unter-
schriften zählt, sondern wer und aus welchem Grund er
unterschreibt, ist entscheidend. Derzeit haben 22 Län-
der der 183 Mitgliedstaaten ratifiziert, davon 15 latein-
amerikanische Länder: In Europa sind es Spanien, Nor-
wegen, die Niederlande und Dänemark, also vier
europäische Länder mit zum Teil autonomen Gebieten,
deren Situation sich von der in Deutschland lebende na-
tionaler Minderheiten deutlich unterscheidet.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass weltweit circa
350 Millionen Menschen, das sind circa 4 Prozent der
Weltbevölkerung, Angehörige indigener Bevölkerungs-
gruppen sind. Diese leben in mehr als 500 Gemeinschaf-
ten und in mehr als 70 Ländern dieser Erde.

Lateinamerika ist mit einem hohen Anteil Indigener
an der Gesamtbevölkerung – circa 10 Prozent – ein re-
gionaler Schwerpunkt der deutschen bilateralen Zusam-
menarbeit zur Stärkung indigener Rechte. In Bolivien
gehören 62 Prozent der Bevölkerung indigenen Völkern
an. Die nachhaltige Entwicklung der Länder Lateiname-
rikas wird also wesentlich davon abhängen, ob und wie
die dort lebenden indigenen Völker mit eingebunden und
gefördert werden. Deren Rolle bei der Lösung regiona-
ler und globaler Probleme wird meines Erachtens im-
mer noch unterschätzt. Insbesondere beim Erhalt der
Biodiversität leisten Indigene aufgrund ihrer Lebens-
weise einen unschätzbaren Beitrag.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unter-
stützt vor allem die Bereiche Demokratieförderung,
Schutz und Management natürlicher Ressourcen, Kri-
senprävention und Konfliktmanagement sowie Bildung.
In Brasilien wurden zum Beispiel Indianergebiete aus-
gewiesen und geschützt. In Bolivien wurde die dezen-
trale Regierungsführung gestärkt und in Guatemala eine
interkulturelle zweisprachige Erziehung aufgebaut.

Auch auf internationaler Ebene wird die Bedeutung
indigener Völker zunehmend erkannt und anerkannt. So
gibt es im Rahmen des UN-Systems zahlreiche Gremien
und Resolutionen, die sich mit der Verbesserung der Si-
tuation von indigenen Völkern befassen. Dies geschieht
auf die unterschiedlichste Weise – beispielsweise durch
die Unterstützung regionaler Dachverbände indigener
Völker und ihrer Vertreter bei der Wahrnehmung ihrer
Interessen gegenüber Regierungen und auf internatio-
naler Ebene. Ein Beispiel ist das regionale Netzwerk
„Indigene interkulturelle Universität“: Es bietet Post-
graduiertenstudiengänge zu interkultureller, zweispra-
chiger Bildung und Medizin sowie zu Rechtspluralismus
an. Auch die Stärkung der Rechte indigener Frauen ist
Thema der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit



gegebene Reden

Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)

Lateinamerika. So kooperiert das BMZ auch mit der
COICA – Cordinadora de las Organizaciones Indigenas
de la Cuenca Amazonica –, die die Interessen der indi-
genen Amazonasvölker vertritt, oder mit dem Zentrala-
merikanischen Rat Indigener Völker, CICA.

In Lateinamerika haben, abgesehen von ganz weni-
gen Ausnahmen, alle Länder das ILO-Übereinkommen
ratifiziert. Die meisten Verfassungen lateinamerikani-
scher Länder erkennen die nationale Gesellschaft mitt-
lerweile als multiethnisch oder multikulturell an und
sprechen den indigenen Bevölkerungsgruppen entspre-
chende Rechte zu. Das sind ermutigende Signale. Den-
noch müssen wir die indigenen Völker und die Länder, in
denen sie leben, weiter unterstützen. Eine Ratifizierung
der ILO 169 durch Deutschland würde dahin gehend je-
doch wenig bewegen.

Und nun möchte ich noch etwas zu dem Antrag be-
züglich einer Legalisierung von Koka sagen: Die Blätter
der Kokapflanze gehören seit Jahrtausenden zum kultu-
rellen und religiösen Erbe und Brauchtum der indigenen
Völker, unter anderem auch in Bolivien. Das ist unbe-
stritten. Deshalb ist man den Kompromiss eingegangen,
dass Bolivien den Kokastrauch für traditionelle Zwecke
anbauen darf. Bis 2006 erlaubte das bolivianische Ge-
setz eine jährliche Anbaufläche von 12 000 Hektar in
der Yungas-Region. Die tatsächliche Anbaufläche der
Kokaplantagen lag jedoch um ein Vielfaches höher. In
diesem Zusammenhang muss man zur Kenntnis nehmen,
dass Bolivien der drittgrößte Kokainproduzent der Welt
ist.

2010 wurden 19 000 Tonnen Koka in Bolivien legal
verkauft. Dennoch will Bolivien die Fläche für den lega-
len Kokaanbau auf 20 000 Hektar erweitern. Die interne
Nachfrage des Kokablattes ist mit dieser Fläche mehr
als ausreichend gedeckt. Deutschland erkennt durchaus
die kulturelle Bedeutung von Koka an. Dennoch erach-
ten wir eine Legalisierung der Kokapflanze vor dem
Hintergrund der riesigen Drogenproblematik derzeit
nicht für gangbar.

Zur Begründung der gebotenen Legalisierung wird im
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts vom 9. März 1994 zur unter-
schiedlichen strafrechtlichen Behandlung des Gebrauchs
von Alkohol und Cannabis in Deutschland herangezo-
gen. Es wurden in Anlehnung an das Bundesverfas-
sungsgerichtsurteil Rückschlüsse dergestalt gezogen,
dass die Kokapflanze wie Alkohol eine Vielzahl von Ver-
wendungsmöglichkeiten hätte. Diese Parallele kann
meines Erachtens nicht gezogen werden. Zwar führt ex-
tensiver Alkoholmissbrauch zu schlimmen menschlichen
Einzelschicksalen. Aber der legale Zugang zu Alkohol
fördert nicht die organisierte Kriminalität, wie dies der
Anbau von Koka wegen der Herstellungsmöglichkeit
von Kokain zur Folge hat. Eine Folge, die Menschen,
Natur und letztendlich Staaten zerstört.

Dennoch hat sich die Bundesregierung bereit erklärt,
eine mögliche Einberufung einer Staatenkonferenz zur
umfassenden Diskussion des bolivianischen Anliegens
wohlwollend zu prüfen, sofern ein entsprechender An-
Zu Protokoll
trag von Bolivien gestellt würde. Die CDU/CSU-Frak-
tion lehnt beide Anträge ab.


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1711425700

Ist das Kauen von Kokablättern Tradition oder eine

Droge? Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte
Antrag zeigt, dass die Grünen das Kauen von Kokablät-
tern lediglich als Tradition sehen, losgelöst von der da-
mit zusammenhängenden Drogenproblematik in Form
der Weiterverarbeitung von Kokablättern zu Kokain.

Es ist richtig: Das Kauen von Kokablättern wird in
weiten Teilen der indigenen Bevölkerung Boliviens und
anderer Andenstaaten praktiziert und gilt nicht nur als
Symbol für Tradition, sondern auch als Mittel gegen
Schläfrigkeit und Höhenkrankheit. Entsprechend ist der
Vorstoß der bolivianischen Regierung unter Präsident
Evo Morales vom 12. März 2009 zu sehen, eine Ände-
rung der UN-Einheitskonvention über Betäubungsmittel
zu erreichen. Morales, selbst ehemaliger Kokabauer
und überzeugter Konsument, wollte mit seinem Antrag
auf Änderung von Art. 49 Abs. 2 e der UN-Einheitskon-
vention über Betäubungsmittel von 1961 eine Ausnahme
für das Kauen von Kokablättern erzielen. Die Änderung
sollte dabei nur für das Kauen des Kokablattes gelten,
während die Weiterverarbeitung zu Kokain nach wie vor
verboten bleiben sollte. Dieser Änderungsantrag ist je-
doch am Widerstand von 17 UN-Mitgliedstaaten ge-
scheitert.

Auch Deutschland hat dem Antrag Boliviens zur Än-
derung der Drogenkonvention nicht zugestimmt. Aus-
schlaggebend für die Haltung Deutschlands waren dro-
genpolitische Erwägungen. Deutschland sieht in dem
Änderungsvorschlag Boliviens die Gefahr, dass die über
Jahrzehnte entwickelten rechtlichen Instrumente zur Be-
kämpfung der weltweiten Drogenproblematik beschä-
digt werden könnten. Diese Sorge ist nicht unberechtigt.
Im Zuge einer Legalisierung des Anbaus von Kokablät-
tern zum traditionellen Kauen und für den medizini-
schen und religiösen Einsatz würden nämlich automa-
tisch die Rahmenbedingungen für eine lukrative
Weiterverarbeitung zu Kokain begünstigt werden. Eine
Trennung des Anbaus von Kokablättern zum Kauen ei-
nerseits und zur Weiterverarbeitung andererseits, wie im
bolivianischen Antrag vorgeschlagen, ist in der Praxis
aber nicht umsetzbar. Eine Ausnahmeregelung beim
Kokaanbau würde außerdem einer Aufweichung der
Konvention Tür und Tor öffnen und eine Grauzone beim
Kokaanbau schaffen.

Die traditionelle Bedeutung des Kokakauens für die
indigene Bevölkerung Boliviens und weiterer Anden-
staaten soll nicht verkannt werden. Die ILO-Konvention
der Vereinten Nationen schützt die Rechte und Traditio-
nen indigener Völker ausdrücklich. Die Gefahr eines
Missbrauchs ist aber nicht von der Hand zu weisen. Un-
ter dem Deckmantel des Brauchtumschutzes nämlich
würde einer kriminellen Industrie Tür und Tor geöffnet.
Ein Beispiel ist Mexiko, das unter den fortwährenden
Kämpfen rivalisierender Drogenkartelle leidet. Seit dem
Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón sind in Me-
xiko bereits über 36 000 Menschen ums Leben gekom-



gegebene Reden

Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)

men. Besonders betroffen ist der Norden des Landes,
insbesondere die Stadt Ciudad de Juárez an der Grenze
zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Juárez gilt in
dieser Hinsicht als gefährlichster Ort der Welt.

Drogenhandel ist in Bolivien zu einem wichtigen
Wirtschaftsfaktor geworden. Dies hat inzwischen die bo-
livianische Regierung eingeräumt. Seit 2007 ist die An-
baufläche für Kokablätter jährlich gewachsen. Laut
UNO werden auf rund 30 000 Hektar Fläche Kokablät-
ter angebaut. Nur ein Bruchteil davon deckt den Bedarf
zum traditionellen Kauen und für religiöse Rituale. Der
Großteil der Kokablätter wird in geheimen Labors zur
Herstellung von Kokain verwendet. Bolivien ist nach
Kolumbien der weltweit größte Produzent von Kokain.
Die Verquickungen der Drogenmafia reichen dabei bis
ins Umfeld von Präsident Morales. Morales selbst tritt
für die Legalisierung des Kauens der Kokapflanzen
nicht zuletzt auch deshalb ein, weil er als Anführer der
Organisation der Kokabauern in der Provinz Chapare
aktiv ist.

Im Februar dieses Jahres wurde der ehemalige Poli-
zeigeneral Boliviens, Rene Sanabria, in Panama wegen
Drogenhandels festgenommen und nach Miami ausge-
liefert. Auch in der Vergangenheit wurden einige dem
Präsidenten nahestehende Personen wegen Drogenhan-
dels verhaftet. Bereits 2008 hatte Morales die amerika-
nische Drogenbekämpfungsbehörde des Landes verwie-
sen mit der Begründung, sie mische sich in die inneren
Angelegenheiten Boliviens ein.

Angesichts der geschilderten Umstände halte ich die
Entscheidung Deutschlands und 16 weiterer Staaten,
den Antrag Boliviens zur Änderung der UN-Einheits-
konvention abzulehnen, für richtig. Vorrangiges Ziel der
Vereinten Nationen muss die Bekämpfung der internatio-
nalen Drogenökonomie sein. Deutschland ist trotz sei-
ner Ablehnung des bolivianischen Antrags bemüht, kon-
struktive Gespräche mit der bolivianischen Regierung
zu führen und gemeinsame Projekte zur Drogenbekämp-
fung zu intensivieren. Ich denke, dass dies der richtige
Weg ist. Dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen kön-
nen wir daher nicht zustimmen.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1711425800

Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, hat im

Jahr 1989 die ILO-Konvention 169 zu indigenen und in
Stämmen lebenden Völkern verabschiedet. Am 5. Sep-
tember 1991 trat die Konvention in Kraft. Bis heute ist
dies die einzige internationale Norm, die den Ureinwoh-
nervölkern rechtsverbindlichen Schutz und eine Vielzahl
von Grundrechten garantiert. Und bis heute – fast
20 Jahre nach Inkrafttreten – hat die Bundesrepublik
Deutschland die Konvention 169 immer noch nicht rati-
fiziert. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen in allen
Bundestagsfraktionen, sollten und müssen wir gemein-
sam ändern. Dies wäre Ausdruck der internationalen
Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands als
führende Nation in Europa und auch als Mitglied des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Zu dieser Ver-
antwortung und Glaubwürdigkeit gehört nämlich, dass
internationale Abkommen und Vereinbarungen national
Zu Protokoll
ratifiziert und umgesetzt werden. Der gemeinsame An-
trag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen, über den wir heute beraten, bietet dafür die parla-
mentarische Grundlage.

Laut Vereinten Nationen zählen rund 400 Millionen
Menschen in über 70 Ländern zu den indigenen Völkern.
Das sind mehr Menschen als die Einwohner der USA
und Deutschlands zusammen. Trotzdem sind die Lebens-
grundlagen und traditionellen Rechte indigener Völker
vielerorts bedroht. Hinzu kommen vielfach Menschen-
rechtsverletzungen vonseiten der jeweiligen Regierun-
gen.

Es geht um das Recht auf kulturadäquate und selbst-
bestimmte Entwicklung. Dazu gehört unter anderem die
Anerkennung und praktische Berücksichtigung ihrer
sprachlichen und kulturellen Besonderheiten. Das gilt
auch für ein Brauchtum, das seit Jahrtausenden Be-
standteil der Lebensverhältnisse von den indigenen
Völkern in den Anden ist, nämlich die Blätter der
Kokapflanzen zu konsumieren. Insofern bedarf es auch
einer Toleranz gegenüber diesem Brauchtum, damit un-
nötige Konflikte vermieden werden. Der Antrag der
Grünen zeigt hier Wege auf, wie auf internationaler
Ebene mit diesem Problem umzugehen ist. Eine interna-
tionale Untersuchung zu den gesundheitlichen Auswir-
kungen des Kauens von Kokablättern sollten die Verein-
ten Nationen einleiten, um weitere Erkenntnisse in
dieser Frage zu erhalten. Es geht um die Verhinderung
von Diskriminierung von Menschen mit indigenem Hin-
tergrund und um garantierte gesellschaftliche und poli-
tische Beteiligungsrechte. Es geht um das Recht auf
Aufrechterhaltung der politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Systeme indigener Völker sowie den Zugang zu
Land und Ressourcen – und deren Nutzung. Außerdem
geht es um die Bekämpfung der Armut und schlechter
Lebensbedingungen, von denen Menschen aus indige-
nen Völkern überproportional betroffen sind.

Gerade der letzte Punkt macht die Bedeutung der
Entwicklungszusammenarbeit mit und für indigene Völ-
ker deutlich. Denn: Die Stärkung der Rechte indigener
Völker und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen
stellen eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolg-
reiche Armutsbekämpfung dar. Vor allem in Ländern mit
hohem indigenen Bevölkerungsanteil lassen sich die
Millenniumsentwicklungsziele nur erreichen, wenn die
Potenziale indigener Völker genutzt und ihre spezifi-
schen Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt werden.

Außerdem ist die aktive Beteiligung aller Bevölke-
rungsgruppen, einschließlich der indigenen, für die Ent-
wicklung demokratischer und multiethnischer Gesell-
schaften unabdingbar. Dies stärkt die Zusammenarbeit
und den Dialog von Staat und Zivilgesellschaft und kann
möglichen Konflikten vorbeugen oder hilft, diese fried-
lich auszutragen. Schließlich leisten indigene Völker
dort, wo sie in unmittelbarer Nähe zu natürlichen Res-
sourcen und biologischer Vielfalt leben und wirtschaf-
ten, dank ihres über Generationen überlieferten Wissens
einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität.

Ein konkretes Beispiel dafür ist die Initiative zur Ret-
tung des Regenwaldes im Yasuni-Nationalpark in



gegebene Reden

Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)

Ecuador, bei deren Umsetzung die dort lebenden indige-
nen Völker eine wichtige Rolle spielen. In der vergange-
nen Legislaturperiode hatten sich alle im Bundestag
vertretenen Parteien in einem gemeinsamen Antrag für
eine Unterstützung der Initiative eingesetzt. Bundes-
minister Niebel will heute davon nichts mehr wissen. Die
Folgen sind klar: Wenn Deutschland als einer der wich-
tigsten Geber jetzt nicht zu seinem Wort steht, steht das
Projekt vor dem Aus, wird eine einmalige Tier- und
Pflanzenwelt für immer verloren gehen. Die SPD fordert
deshalb, für das Regenwaldprojekt jährlich 40 Millionen
Euro in den Haushalt einzustellen.

Die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 ist die Vo-
raussetzung dafür, dass indigene Völker ihr Recht be-
kommen und ihre Rechte gegenüber dem Staat einklagen
können. Sie ist die Grundlage zur Verbesserung der Le-
bens- und Arbeitsbedingungen sowie des Gesundheits-
und Bildungsstandes der indigenen Völker. Sie verbietet
jegliche Diskriminierung hinsichtlich des Arbeitsent-
gelts, der ärztlichen und sozialen Betreuung, der sozia-
len Sicherheit und der Vereinigungsfreiheit. Chancen-
gleichheit und Gleichbehandlung von Männern und
Frauen werden ebenfalls festgeschrieben.

Ein wichtiger Fortschritt war die Erklärung der Ver-
einten Nationen über die Rechte der indigenen Völker
vom September 2007, die von der VN-Generalversamm-
lung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet
wurde. Deutschland hatte dieser Resolution nicht nur
zugestimmt, sondern war im Vorfeld auch aktiv an ihrer
Ausarbeitung beteiligt. Deshalb wäre es nur folgerich-
tig, wenn Deutschland die ILO-Konvention 169 ratifizie-
ren würde.

Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht über die
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen
vom August 2010 zu Recht festgestellt, dass Personen
mit indigenem Hintergrund politische und gesellschaftli-
che Teilhabe ganz oder teilweise verwehrt werde. Die
Bundesregierung räumt ferner ein, dass aktive Partizi-
pation indigener Völker unabdingbar für die Verwirkli-
chung ihrer Menschenrechte sei und die ILO-Konven-
tion 169 das geeignete internationale Vertragswerk sei,
einen umfassenden Schutz dieser Rechte zu gewährleis-
ten.

Trotz dieser richtigen Erkenntnisse ist die Bundesre-
gierung bislang nicht bereit, dem Deutschen Bundestag
die ILO-Konvention 169 zur Ratifizierung vorzulegen,
und dies, obwohl die auswärtige Politik der Bundesre-
gierung massiven Einfluss auf die Lebensbedingungen
indigener Völker auf der ganzen Welt hat. So greifen die
wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Unternehmen und
die Außen-, Wirtschafts-, Handels-, Umwelt- und Ent-
wicklungspolitik der Bundesregierung direkt oder indi-
rekt in die Rechte indigener Völker ein. Beteiligungen
deutscher Firmen und Banken an Staudammbau- oder
Öl-Pipeline-Projekten oder die Aktivitäten der staatli-
chen Durchführungsorganisationen sind Beispiele dafür.
Auch die Maßnahmen im Rahmen der neuen Roh-
stoffstrategie der Bundesregierung berühren in vielen
Fällen die Interessen indigener Völker. Gestern war ge-
nau dieses Thema Gegenstand einer öffentlichen Anhö-
Zu Protokoll
rung im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Dies macht deutlich, dass der Schutz
der Rechte indigener Völker schon längst nicht mehr als
rein innerstaatliches, nationales Anliegen betrachtet
werden kann. Die Globalisierung hat Industrienationen,
Schwellen- und Entwicklungsländer und somit auch die
dort lebenden indigenen Völker näher denn je zusam-
mengebracht. Mit der Ratifizierung der ILO-Konvention
169 würde Deutschland seines besonderen internationa-
len Gewichts und seiner Verantwortung für die Wahrung
der Menschenrechte Rechnung tragen. Offiziell erweckt
die Bundesregierung jedenfalls den Eindruck, dass sie
ganz im Sinne der ILO-Konvention 169 handelt. Aber es
fehlt die vertragliche Verpflichtung.

Vor wenigen Tagen hat das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein
Folgekonzept zur menschenrechtsbasierten Entwick-
lungspolitik vorgelegt. Dieses Konzept stellt die Achtung
der Menschenrechte in allen Bereichen der wirtschaftli-
chen Zusammenarbeit in den Mittelpunkt. Dies ist nicht
neu, aber notwendig. Es baut im Wesentlichen auf dem
unter der sozialdemokratischen Entwicklungsministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul bereits im Jahr 2008 ent-
wickelten und anschließend in die Praxis umgesetzten
„Entwicklungspolitischen Aktionsplan für Menschen-
rechte“ auf.

Insgesamt zwölfmal werden die Menschenrechte der
indigenen Völker und deren Einhaltung in dem Konzept
erwähnt. Es wird kritisiert, dass indigene Völker in den
meisten Staaten vom politischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Leben weitgehend ausgeschlossen sind, dass
ihre fortgesetzte Ausgrenzung nicht nur ihre Entwick-
lungschancen beschränkt, sondern auch Konflikt-
potenzial mit Auswirkungen auf die politische Stabilität
in sich birgt und dass die Ratifizierung der ILO-Konven-
tion 169 Grundvoraussetzung für die aktive Partizipa-
tion indigener Völker und die Verwirklichung ihrer Men-
schenrechte ist. Alles richtig. So weit, so gut. Aber was
folgt daraus? Um es mit Doktor Faust in Goethes gleich-
namigem Werk zu sagen: „Die Botschaft hör’ ich wohl,
allein mir fehlt der Glaube.“ Das kann die Koalition und
die Bundesregierung jetzt ändern.

Im vorliegenden Antrag fordert die SPD-Fraktion ge-
meinsam mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen:

Erstens. Die Bundesregierung soll dem Deutschen
Bundestag die ILO-Konvention 169 umgehend zur Rati-
fizierung vorlegen. Das wäre ein wichtiges Signal an die
internationale Staatengemeinschaft und Ausdruck der
Verantwortung und Glaubwürdigkeit Deutschlands in
der Welt.

Zweitens. Die Bundesregierung soll die Resolutionen
der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker
in nationales Recht umsetzen und die entsprechenden in-
ternationalen Gremien mit ausreichenden Finanzmitteln
unterstützen.

Drittens. Die Bundesregierung soll sich auf europäi-
scher Ebene und im Rahmen der Europäischen Initiative
für Demokratie und Menschenrechte stärker für die
Rechte der indigenen Völker einsetzen.



gegebene Reden

Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)

Viertens. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ge-
meinsam mit der EU-Kommission die Rechte indigener
Völker in der Welthandelsorganisation, WTO, und im
Rahmen des Übereinkommens über geistiges Eigentum,
TRIPS, durchsetzt.

Wir fordern, fünftens, dass die Bundesregierung die
Bedeutung indigener Völker für die biologische Vielfalt
anerkennt und dem Deutschen Bundestag das Nagoya-
Protokoll für einen gerechten Ressourcenzugang zur Ra-
tifizierung vorlegt.

Am 5. September 2011 ist der 20. Jahrestag des In-
krafttretens der ILO-Konvention 169. Das wäre genau
der richtige Zeitpunkt, damit Deutschland als drittgröß-
ter Beitragszahler der ILO die Rechte indigener Völker
durch die Ratifizierung der Konvention endlich vollstän-
dig anerkennt. Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzu-
stimmen und ein internationales Zeichen – gemeinsam
über die Fraktionsgrenzen hinweg – zu setzen.


Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP):
Rede ID: ID1711425900

Kennen Sie Valentina Rosendo Cantú?

Valentina Rosendo Cantú wurde vor neun Jahren von
Soldaten vergewaltigt, in ihrem Dorf im Süden Mexikos.
Valentina Rosendo Cantú steht damit für eine Vielzahl
indigener Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden.
Die Täter von Valentina Rosendo Cantú wurden bis
heute nicht zur Rechenschaft gezogen. In Mexiko ist dies
trauriger Alltag. Ungewöhnlich am Fall von Valentina
Rosendo Cantú ist, dass er es bis vor den Interamerika-
nischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica
schaffte – und die Richter diese und andere Vergewalti-
gungen im vergangenen Jahr als Folter gegen die indi-
gene Bevölkerung beurteilten. Sie verpflichteten Me-
xiko, die Verfahren von der Militärjustiz an zivile
Gerichte zu übergeben und den Opfern Entschädigun-
gen zu zahlen.

Ohne diesen Druck von außen würde Mexiko gegen
dieses Verbrechen nichts tun. Die dortigen Gerichte se-
hen keinen Handlungsbedarf, nicht in diesem Fall und
auch nicht in den vielen anderen Fällen. Mexiko jedoch
hat die ILO-Konvention 169 ratifiziert.

Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Außen- und
Entwicklungspolitik konsequent für die Verbesserung
der Lage indigener Bevölkerungsgruppen und die Wah-
rung ihrer Rechte ein. Regierungsvertreter fordern die
Einbindung der indigenen Bevölkerung in politische
Prozesse und die zügige Umsetzung entsprechender Ver-
fassungsvorschriften. Die Bundesregierung nutzt ihre
bilateralen Beziehungen zu Ländern mit indigener Be-
völkerung, um sich für deren Interessen einzusetzen.

Deutschland setzt sich bei den Vereinten Nationen für
die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen ein und un-
terstützt entsprechende Resolutionen und Erklärungen.
Das „Permanente Forum für Indigene Angelegenhei-
ten“ wurde unter anderem durch das Engagement
Deutschlands eingesetzt.

Insbesondere in Ländern mit hohem indigenen Bevöl-
kerungsanteil können die Milleniumsziele ohne die kon-
Zu Protokoll
krete Verbesserung der Lebenssituation von Indigenen
nicht verbessert werden. Das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat
daher ein übersektorales Konzept mit dem Namen „Ent-
wicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern in La-
teinamerika und der Karibik“ erarbeitet. Es werden in-
tegrierte Vorhaben im Bereich der Armutsbekämpfung,
der Regionalentwicklung oder Demokratieförderung un-
terstützt und die Rechte und Interessen indigener Bevöl-
kerungsgruppen gefördert.

Wie wir sehen, engagiert sich die Bundesregierung
sehr für indigene Völker. Warum ratifiziert sie dann
nicht die ILO-Konvention 169?

Weil sie für Deutschland überflüssig ist und weil die
behandelte Problematik auf Deutschland nicht zutrifft.

Das Übereinkommen richtet sich ausnahmslos an frü-
here Kolonien, in denen heute indigene Bevölkerungs-
gruppen leben. In Brasilien sind das beispielsweise die
Kaingang, in Dänemark die Inuits. Deutschland ist kein
solches Land.

Mit der ILO-Konvention 169 sollen für indigene
Rechte der Gleichbehandlung und spezielle Beteili-
gungsrechte statuiert werden. Ihre soziale und kulturelle
Identität, ihre Bräuche und Überlieferungen und ihre
Einrichtungen sollen durch das Übereinkommen aner-
kannt und geschützt werden.

In Deutschland setzen wir uns – erfolgreich – seit
Jahrzehnten für die Integration von hier lebenden Min-
derheiten ein. Die Regelungen des Übereinkommens wi-
dersprechen dem und haben insgesamt eine trennende
Zielsetzung. Indigene Bevölkerungsgruppen erhalten se-
parate Rechte wie eigene Schulen und geschlossene
Räume. Das ist für Staaten, in denen ein beachtlicher
Bevölkerungsteil indigener Herkunft ist, sinnvoll, für
uns in Deutschland aber nicht. Wir sind dank unseres
Grundgesetzes und unserer Entwicklung in der Gleich-
behandlung von Minderheiten so weit, dass wir für sie
keine Sonderrechte brauchen. Wir leben die Gleichheit
vor Recht und Gesetz. Eine Trennung und Absonderung
würde nicht helfen, sie wäre kontraproduktiv.

Solange das Übereinkommen ILO 169 auch auf die
deutsche Bevölkerung angewendet werden könnte, muss
sich die Bundesregierung daher gegen die Ratifikation
aussprechen. In dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland leben keine Völker im Sinne des Abkom-
mens, und eine Anwendung der Konvention würde der
hiesigen Integration von Minderheiten schaden.

Eine weitere Frage bei dem zurzeit debattierten An-
trag lautet: Warum haben vorherige Regierungen die
Konvention nicht ratifiziert? Die Konvention steht schon
seit 20 Jahren zur Ratifikation bereit. Die Antragsteller
hätten dafür genug Zeit gehabt, als sie selbst in Regie-
rungsverantwortung standen. Ich kann es Ihnen erklä-
ren: SPD und Bündnis 90/Die Grünen sahen in ihren Re-
gierungszeiten genau die gleichen Probleme wie wir. So
ergab eine Ratifizierbarkeitsprüfung unter der rot-grü-
nen Bundesregierung „äußerst gravierende Hemm-
nisse“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellte im
Juni 2006 einen Antrag zur Ratifikation der ILO-Kon-



gegebene Reden
Dr. Christiane Ratjen-Damerau


(A) (C)



(D)(B)

vention 169. Zu der Zeit befand sie sich in der Opposi-
tion. Der Antrag wurde abgelehnt, auch mit den Stim-
men der SPD.

Hier werden also ernsthafte und wichtige Themen zur
Stimmungsmache genutzt. Es soll aussehen, als ob wir
uns nicht kümmern würden, als ob für uns Menschen-
rechtsverletzungen nicht von Belang wären, als ob wir
andere Interessen über die von diskriminierten Bevölke-
rungsgruppen stellen würden. Solche Anträge werden zu
Recht „Schaufensteranträge“ genannt. Sie taugen zu
nichts anderem, als im Schaufenster ausgestellt zu wer-
den und gut auszusehen. Ich empfinde dies im Hinblick
auf ein solch bedeutendes und sensibles Thema als be-
schämend.

Valentina Rosendo Cantú ist für mich eine Heldin.
Obwohl Mexiko die ILO-Konvention 169 ratifiziert hat,
hat sich der mexikanische Staat nicht für ihre Rechte
eingesetzt. Valentina Rosendo Cantú hat sich jedoch
nicht mit dem himmelschreienden Unrecht abgefunden,
das den Indigenen in Mexiko zugefügt wird. Sie hat den
Gang durch die Institutionen gewagt und gewonnen. An
uns liegt es, Druck auszuüben und Hilfestellungen zu
bieten. Die Einhaltung von Recht und Gesetz darf kein
Einzelfall bleiben; sie muss selbstverständlich werden.
Dafür arbeiten wir in der Entwicklungspolitik.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711426000

Berührt es uns wirklich, wenn Jumma-Indigene in

Bangladesch in einem Völkermordfeldzug ermordet, ge-
foltert, vergewaltigt und ihre Siedlungen niedergebrannt
werden? Wenn zahllose Yanomami- und Yekuana-Indi-
gene im Amazonas-Gebiet an von illegalen Goldgräbern
eingeschleppten Krankheiten sterben? Oder wenn in
Kolumbien innerhalb von fünf Jahren mehr als tausend
Indigene ermordet und Tausende aus ihrer Heimat ver-
trieben werden, weil sie auf strategisch oder ökono-
misch wichtigem Boden wohnen?

Die Antwort aller deutschen Regierungen seit 1989
ist: nein. Seither nämlich steht die Ratifizierung des
„Übereinkommens über eingeborene und in Stämmen le-
bende Völker in unabhängigen Ländern“, die ILO-Kon-
vention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation,
aus. Dabei ist es das bisher einzige rechtsverbindliche
Dokument der Vereinten Nationen zum Schutz und zur
Förderung indigener Gemeinschaften. Seit 22 Jahren
weigert sich Deutschland also, dieser Konvention beizu-
treten.

Das Europaparlament mahnte die Mitgliedstaaten
der Europäischen Union mehrfach, das Übereinkommen
zu unterzeichnen. Die deutsche Bundesregierung aber
verweigert eine Ratifizierung mit Hinweis auf die Prü-
fung der Rechtslage. Dass diese Begründung nur vorge-
schoben ist, liegt auf der Hand. Zum einen fehlt das In-
teresse und der politische Wille, sich des Themas
anzunehmen, zum anderen werden wirtschaftliche Nach-
teile für betroffene deutsche Unternehmen vor Ort, bei
Wirtschaftskooperationen oder der Vergabe von Her-
mes-Bürgschaften befürchtet. Zum Schutz deutscher Un-
ternehmen weigert man sich, endlich den Schutz für In-
Zu Protokoll
digene voranzutreiben. Das ist ein Skandal. Denn es
herrscht akuter politischer Handlungsbedarf.

Wenn der Bau des Belo-Monte-Staudamms in Brasi-
lien das Leben von bis zu 40 000 Menschen konkret be-
droht, dann ist dafür auch ein deutsches Unternehmen
verantwortlich. Die Voith Hydro, ein Gemeinschaftsun-
ternehmen von Voith und Siemens, hat erst kürzlich ei-
nen Vertrag über die Ausrüstung des mit dem Staudamm
verbundenen Wasserkraftwerks in Höhe von 443 Millio-
nen Euro unterzeichnet und somit die Zerstörung der Le-
bensgrundlage von Tausenden Indigenen im Gebiet des
Xingu-Flusses besiegelt.

Wenn in Kolumbien im Zuge des Kohleabbaus Indi-
gene vertrieben oder sogar ermordet werden, wenn im
Grenzgebiet Catatumbo die Existenz der Motilon Bari
durch die mit dem Bergbau einhergehende Zerstörung des
Ökosystems und Vertreibungen bedroht ist, dann profitie-
ren davon auch deutsche Kraftwerksbetreiber. Schließ-
lich hat Deutschland im Jahr 2009 17,9 Prozent der
Kraftwerkskohle aus Kolumbien bezogen, die deutsche
EnBW gar 30 Prozent. In den nächsten Jahren könnte
Kolumbien nach Prognosen des Vereins der deutschen
Kohleimporteure, dem Konzerne wie RWE, Thyssen-
Krupp und Vattenfall angehören, sogar Spitzenreiter für
den atlantischen Steinkohlemarkt zu werden.

Auch wenn es positive Beispiele gibt wie in Botswana,
wo lokale Gerichte die Vertreibung von 5 000 Indigenen
aus der Gruppe der San aus der Kalahari als verfas-
sungswidrig erklärt haben, sodass diese nach jahrelan-
gem Kampf nun endlich in ihre Ursprungsgebiete zu-
rückkehren können, steht eines fest: Bei Verhandlungen
um natürliche Ressourcen und Bodenschätze – Stichwort
Rohstoffstrategie –, beim Verkauf von Ländereien an
private Investoren – Stichwort Landgrabbing – oder bei
Handelsabkommen wie beispielsweise Assoziierungsab-
kommen zwischen lateinamerikanischen Ländern und
der Europäischen Union werden die Rechte der indige-
nen Gemeinschaften meistens übergangen.

Dabei sind die Menschenrechte ausdrücklich kein
ortsgebundenes Konzept. Die deutsche Bundesregierung
kann also auch dann Verpflichtungen nach internationa-
lem Recht gegenüber indigenen Gemeinschaften einge-
hen, wenn auf deutschem Staatsgebiet keine indigenen
Gruppen leben. Denn jeder Staat, der die ILO-Konven-
tion Nr. 169 ratifiziert, stärkt die Rechte indigener Ge-
meinschaften. Jeder Beitritt ist ein Beitrag, die Men-
schenrechte für die Indigenen durchzusetzen. Jeder
Beitritt hilft außerdem, traditionelles Wissen, Erfindun-
gen und Praktiken indigener Gemeinschaften zu schüt-
zen, Wissen also, das beispielsweise für den Erhalt und
die nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt relevant
ist, wie Art. 8 der Biodiversitätskonvention richtig fest-
stellt. Denn die etwa 370 Millionen Menschen, die in
5 000 indigenen Gemeinschaften in über 70 Ländern auf
allen Kontinenten leben, stehen für den Erhalt kulturel-
ler und ökologischer Vielfalt. Die Anerkennung der
Rechte indigener Gemeinschaften als nichtstaatliche
Kollektive gehört daher zu den großen Herausforderun-
gen unserer Zeit.



gegebene Reden

Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

Die positiven Entwicklungen seit Inkrafttreten der
ILO-Konvention Nr. 169 sind enorm. Immer mehr indi-
gene Organisationen schließen sich zusammen und bil-
den Netzwerke, um ihre Interessen zu vertreten. Ein be-
sonders positives Beispiel ist hierbei Bolivien, wo die
Wahl des ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas,
Evo Morales, unter anderem dazu geführt hat, das indi-
gene Konzept des „Buen Vivir“ und der Rechte der Na-
tur in die Verfassung aufzunehmen. Die ILO-Konvention
Nr. 169 wurde inzwischen von 22 Staaten ratifiziert. Es
ist Zeit, dass die deutsche Bundesregierung den guten
Beispielen folgt und ihrer Verantwortung gegenüber den
indigenen Gemeinschaften gerecht wird.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711426100

Bereits 2002 beschloss der Bundestag einen umfang-

reichen Menschenrechtsantrag, der die Bundesregie-
rung aufforderte, die Ratifizierung der ILO-Konvention
169 zu prüfen. Leider hat Deutschland die Konvention
der ILO bis heute nicht ratifiziert, obwohl sie als einzige
völkerrechtliche Norm die Rechte indigener Völker um-
fassend und verbindlich festlegt.

Damals scheiterte eine Ratifizierung vor allem an den
Bedenken des Wirtschafts- und des Innenministeriums.
Auch ein neuer Anlauf durch einen Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen in der letzten Legislaturperiode
wurde durch die Stimmen der damaligen Regierungsko-
alition abgeblockt. Es ist daher sehr erfreulich, dass wir
jetzt gemeinsam mit der SPD einen Antrag einbringen
können. Noch schöner wäre es, wenn daraus sogar ein
interfraktioneller Antrag gemeinsam mit der Koalition
werden könnte. Kämen Signale aus den Koalitionsfrak-
tionen, die in diese Richtung gehen, dann würden wir
uns Gesprächen nicht verschließen und gegebenenfalls
diesen Antrag zugunsten eines gemeinsamen Antrags zu-
rückziehen.

Als „Indigene“ werden weltweit circa 350 Millionen
Menschen bezeichnet. Sie leben in circa 70 verschiede-
nen Ländern – und viele von ihnen weitestgehend im
Einklang mit der Natur. Viele ihrer angestammten Ge-
biete sind regelrechte Biodiversitäts-Hotspots. Ihr tradi-
tionelles Wissen ist dabei unerlässlich für die Bewah-
rung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt
auf unserem Planeten.

Die Berichte des UN-Sonderberichterstatters für die
Rechte indigener Völker, Rodolfo Stavenhagen, belegen,
dass diese Menschen sowohl in ihren Grundrechten,
aber auch in ihren kulturellen Rechten in vielen Regio-
nen der Welt bedroht sind. Ihrer Lebensweise wird in zu-
nehmendem Maße durch Umweltverschmutzung und
skrupellose Ausbeutung von Rohstoffen die Grundlage
entzogen. Verantwortlich sind nicht nur die Regierungen
der einzelnen Länder, sondern auch multinationale Un-
ternehmen. Insofern sind auch die Regierungen der
wohlhabenden Industriestaaten in der Verantwortung,
zu handeln – und nicht nur Staaten, auf deren Territo-
rium indigene Völker leben. Wir fordern, wie in unserem
Antrag formuliert, Richtlinien für die Entwicklungszu-
sammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung, die die
Zu Protokoll
Rechte der indigenen Völker entsprechend der ILO-
Konvention 169 berücksichtigen.

Der entwicklungspolitische Dialog mit Repräsentan-
ten indigener Völker muss intensiviert und ihre Partizi-
pationsmöglichkeiten müssen auf nationaler wie auch
internationaler Ebene sowohl politisch als auch finan-
ziell unterstützt werden. Es muss endlich eine politische
Entscheidung für den Schutz dieser Menschen sowie für
den Schutz der biologischen Vielfalt getroffen werden –
gerade in Zeiten des Klimawandels. Die Ausreden von-
seiten des Wirtschafts- und Innenministeriums, nur Län-
der, in denen indigene Völker leben, könnten die Kon-
vention ratifizieren, dürfen nicht länger gelten, ebenso
wenig die ignorante Forderung, dass es möglichst keine
Auswirkungen auf deutsche wirtschafts- und innenpoliti-
sche Belange geben darf. Die blutig niedergeschlagenen
Indigenenproteste gegen ein Freihandelsabkommen in
Peru im Jahr 2009 haben erneut deutlich gemacht, wie
bedroht ihr Lebensraum ist und dass Indigenenrechte
nicht einfach Wirtschaftsinteressen geopfert werden
dürfen.

Jede Ratifizierung der ILO-Konvention 169 stellt ei-
nen wichtigen Beitrag zur Vertiefung des internationa-
len Menschenrechtsstandards für indigene Völker dar;
gerade auch durch Länder, die selbst keine indigene Be-
völkerung auf ihrem Staatsgebiet aufweisen. Die Nieder-
lande und Spanien haben es uns vorgemacht. Jetzt ist es
an Deutschland, die ILO-Konvention 169 endlich zu ra-
tifizieren und damit auch seiner neuen außenpolitischen
Verantwortung im UN-Sicherheitsrat gerecht zu werden.

Ein weiterer Antrag von uns Bündnisgrünen, der aber
auch ein interfraktioneller Antrag werden könnte – wir
freuen uns da über die zustimmenden Signale der SPD –,
fordert, dass den indigenen Völkern im Andenraum auch
weiterhin die Möglichkeit gegeben wird, legal Kokablät-
ter anzubauen. Dieser Antrag veranschaulicht beispiel-
haft die Problematik um die kulturellen Rechte indigener
Völker. Die Blätter der Kokapflanze gehören seit Jahr-
tausenden zum kulturell-religiösen Erbe und Brauchtum
dort. Auch zu medizinischen Zwecken werden die Blätter
gekaut, und Touristen, die an der Höhenkrankheit lei-
den, schätzen diese Pflanze ebenso. Trotzdem stehen Ko-
kablätter seit 1961 auf der Liste der verbotenen Betäu-
bungsmittel der Vereinten Nationen, weil sie mit
chemischen Mitteln zur gefährlichen Droge Kokain ver-
arbeitet werden können. 2009 hatte Bolivien deshalb bei
den Vereinten Nationen beantragt, das Anbauen von
Kokablättern nicht zu unterbinden. Jedoch sollte dies
nur im Inland geschehen und die Nutzung der Kokablät-
ter nicht für den Export gestattet werden. Die Verarbei-
tung von Koka zu Kokain sollte weiterhin streng verbo-
ten bleiben.

Auch in unserem Kulturkreis hat sich seit Jahrtausen-
den eine Droge etabliert: Alkohol. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 9. März
1994 den Alkoholkonsum in Deutschland damit gerecht-
fertigt, dass Alkohol als Lebens- und Genussmittel eine
Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hat; in Form
von Wein wird er auch im religiösen Kult verwendet.
Weiterhin sieht sich der Gesetzgeber auch mit der Tatsa-



gegebene Reden





Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)



(Reutlingen)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött

Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Schwenningen)
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)


Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Manfred Behrens (Börde) Alois Gerig Siegfried Kauder (Villingen- Maria Michalk
che konfrontiert, dass er den
der herkömmlichen Konsum
land und im europäischen K
terbinden kann. Genauso ge
denraum. Daher brauchen
Kokablättern als schützensw
standteil der Kultur der Indig

Wir begrüßen, dass das BM
schenrechtskonzept vorgeste
rechte zum verbindlichen Lei
wicklungszusammenarbeit m
Bundesregierung aber wirkl
sie jetzt im Kabinett beschli
schaftsförderung, die Agrar-
allem auch die neue Rohstof
Menschenrechten in ihrer vo
unter Einbeziehung der wir
kulturellen Menschenrechte
tig müssten die Koalitionsfra

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 565;
davon

ja: 489
nein: 66
enthalten: 10

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Genuss von Alkohol wegen
gewohnheiten in Deutsch-
ulturkreis nicht effektiv un-
ht es den Menschen im An-
wir die Anerkennung von
erte Heilpflanze und Be-
enen in den Anden.

Z kürzlich ein neues Men-
llt hat, dass die Menschen-
tprinzip der deutschen Ent-
achen soll. Wenn es der

ich ernst damit ist, müsste
eßen, auch die Außenwirt-
und Handelspolitik und vor
fstrategie kohärent an den

llen Bandbreite – also auch
tschaftlichen, sozialen und
– auszurichten. Folgerich-
ktionen auch beiden heute

Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
von uns vorgelegten Anträgen
Beratungen in den Ausschü
dass wir zu einem Konsens fi

Vizepräsident Dr. Herm
Interfraktionell wird Übe

den Drucksachen 17/5915 un
gesordnung aufgeführten A
Sind sie damit einverstanden?
das so beschlossen.

Ich gebe Ihnen zwischenz
führerinnen und Schriftführe
namentlichen Abstimmung
setzung der deutschen Beteili
Sicherheitspräsenz im Kos
Stimmen 565, mit Ja haben g
ben gestimmt 66, Enthaltung
fehlung ist angenommen.

Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
zustimmen. Ich bin auf die
ssen gespannt und hoffe,
nden.

ann Otto Solms:
rweisung der Vorlagen auf
d 17/6120 an die in der Ta-
usschüsse vorgeschlagen.
– Das ist der Fall. Dann ist

eitlich das von den Schrift-
rn ermittelte Ergebnis der
über den Antrag zur Fort-
gung an der internationalen
ovo bekannt: abgegebene
estimmt 489, mit Nein ha-
en 10. Die Beschlussemp-

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Claudia Winterstein
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer

Diana Golze
Annette Groth

DIE GRÜNEN
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger

Ich rufe den Zusatzpunkt 1

Beratung des Antrags
SPD, FDP und BÜND

Belarus nach den
beenden

– Drucksache 17/6144

Wir kommen zur Abstim
Fraktionen der CDU/CSU, S
Die Grünen auf Drucksache
diesen Antrag? – Gegenstimm
Antrag ist einstimmig angeno

1) Anlage 10
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU

Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


6 auf:1)

der Fraktionen CDU/CSU,
NIS 90/DIE GRÜNEN

Wahlen – Repressionen



mung über den Antrag der
PD, FDP und Bündnis 90/
17/6144. Wer stimmt für
en? – Enthaltungen? – Der
mmen.
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz

Ich rufe den Tagesordnung

Beratung der Beschlu
richts des Auswärtig
schuss) zu dem Antra
Dağdelen, Alexander
terer Abgeordneter un

Für die Demokratisi
rechts in der Türkei

– Drucksachen 17/110

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Sevim Dağdelen
Kerstin Müller (Köln)

Enthalten

SPD

Klaus Barthel
Petra Hinz (Essen)

Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


FDP

Dr. h. c. Jürgen Koppelin

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Uwe Kekeritz
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Dr. Harald Terpe

spunkt 22 auf:

ssempfehlung und des Be-

(3. Ausg der Abgeordneten Sevim Ulrich, Jan van Aken, weid der Fraktion DIE LINKE erung des Gewerkschafts 1, 17/2025 – gang Götzer Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff Claudia Roth Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Thilo Hoppe Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Ute Koczy Tom Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Markus Kurth Undine Kurth Tobias Lindner Nicole Maisch Agnes Malczak Jerzy Montag Kerstin Müller Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Ingrid Remmers Paul Schäfer Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute diskutieren, fordert die Bundesregierung auf, sich bilateral und im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen für freie gewerkschaftliche Betätigung und Garantie von Versammlungsund Vereinigungsfreiheit in der Türkei einzusetzen. Konkret wird die Bundesregierung aufgefordert, sich gegen die Kriminalisierung legitimer Arbeitnehmerproteste in der Türkei einzusetzen und die türkische Regierung zur Vorlage eines Beschäftigungsangebots an die Tekel-Mitarbeiter in Übereinstimmung mit international anerkannten Arbeitsund Vereinigungsrechten zu drängen. Die Bundesregierung wird weiter aufgefordert, gegenüber der türkischen Regierung die Polizeigewalt gegen streikende Gewerkschaftsvertreter deutlich zu kritisieren, die Demokratisierung des türkischen Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation als Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern sowie sich auf EU-Ebene für eine ausführliche Hervorhebung der Lage der türkischen Gewerkschaften in den Fortschrittsberichten der EU-Kommission einzusetzen. Der Antrag beinhaltet einige gerechtfertigte Kritikpunkte. In der Tat kam die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2010 zu dem Ergebnis, dass das Land zwar Fortschritte bei der Erfüllung der EU-Beitrittskriterien gemacht hat, im Bereich der Grundrechte jedoch noch mehr erreicht werden muss. Das Problem ist jedoch nicht allein auf die Frage des Gewerkschaftsrechts beschränkt. Auch Journalisten werden häufig strafrechtlich verfolgt und verurteilt, und der Druck auf die Medien untergräbt die Pressefreiheit. Nicht-muslimische Religionsgemeinschaften und die Aleviten werden weiterhin unangemessenen Beschränkungen unterworfen. Die „demokratische Öffnung“, mit der insbesondere die Kurdenfrage angegangen werden soll, hat nur zu begrenzten Ergebnissen geführt. Gerade weil die Problematik sich nicht nur auf das Gewerkschaftsrecht beschränkt, halten wir von der Union es für nicht zielführend, einzelne Aspekte durch einen Antrag herauszugreifen. Wir lehnen es ab, einem Antrag zuzustimmen, der sich ausschließlich um Gewerkschaftsfreiheit dreht und andere Probleme wie Minderheitenschutz, die Rechte von Frauen oder den Schutz von Christen in der Türkei nicht betrachtet. Es ist zudem nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, sich in diesem Maße und so detailliert, wie Sie es in Ihrem Antrag tun, liebe Kollegen von der Linken, in die inneren Angelegenheiten eines Partnerstaats einzumischen. Davon ist unbenommen, dass deutsche Parlamentarier in der Türkei regelmäßig Rechtsfragen stellen, Missstände anprangern und das Problem auf bilateraler Ebene immer wieder ansprechen. Gleichwohl halten wir von der Union es für ungemein wichtig, dass wir die Erfüllung und Einhaltung der Kopenhagen-Kriterien, aber auch die außenpolitische Rolle der Türkei mit ihrer Wirkung auf Zypern/Nordzypern kritisch beleuchten und begleiten. Wir ermutigen unsere Partner, sich im Bereich der Menschenrechte, der Zu Protokoll Minderheitenrechte und auch der Gewerkschaftsrechte, dem „Acquis communautaire“ der Europäischen Union voll und ganz anzunähern. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei sich in Richtung Europa orientiert. Wir möchten, dass die Türkei auf der Seite Europas steht sowie eine klare und Kriterien orientierte Beitrittsperspektive zur Europäischen Union behält. Grundsätzlich gilt: Über die Betrachtung von Einzelaspekten dürfen wir nicht die herausragende strategische Bedeutung der Türkei als Dialogpartner zum Islam, als Energietransitland und als aufstrebende Wirtschaftsnation aus den Augen verlieren. Ihr Antrag, verehrte Kollegen von der Linken, greift zu kurz und wird deshalb von uns abgelehnt. Defizite bei der Versammlungsund Vereinigungsfrei heit der Gewerkschaften in der Türkei können nicht geleugnet werden. Die Rechte der Gewerkschaften sind ebenso wie die der Arbeitnehmer in nicht unerheblichem Maße eingeschränkt. Es wurden zwar einige Rechte, wie beispielsweise das Recht zur Aushandlung von Tarifverträgen, auch im öffentlichen Bereich, gestärkt, doch sind die positiven Aspekte insgesamt eher bescheiden. Rechte zur Gewerkschaftsbildung und zur Organisationsfreiheit bleiben auch nach der letzten Verfassungsänderung deutlich hinter internationalen Standards zurück. Die Einschränkungen bei der Vereinigungsund Versammlungsfreiheit bilden nur einen kleinen Ausschnitt bestehender Defizite. Auch Jahre nach der Aufnahme der Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU sind auf etlichen Gebieten weiterhin spürbare Demokratiedefizite festzustellen. Dabei darf man nicht vergessen, dass zwischen der Ratifizierung von Verträgen, der Verabschiedung EU-konformer Gesetze und der Unterzeichnung internationaler Konventionen einerseits und der gesellschaftlichen Realität andererseits große Lücken klaffen. Dies ist auch und gerade auf arbeitsmarktpolitischem Gebiet traurige Realität in der Türkei. Der Antrag der Linken beschränkt sich auf die Frage der Demokratisierung des türkischen Gewerkschaftsrechts. Betrachten wir doch einmal ein anderes sozialund arbeitsmarktpolitisches Problem, nämlich das der Kinderarbeit, dann stellen wir eine deutliche Diskrepanz zwischen Gesetzeslage und Realität fest. Auf dem Papier ist die Türkei auf diesem Gebiet zwar den internationalen Verpflichtungen nachgekommen. So hat sie beispielsweise im Jahre 2001 die ILO-Konvention Nr. 182 über die schlimmste Form von Kinderarbeit ratifiziert und ist bereits 1992 dem von der ILO entworfenen Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit IPEC beigetreten. In der Realität aber gibt es noch viele Formen von Kinderarbeit in der Türkei, vor allem bei der landwirtschaftlichen Saisonarbeit sowie in kleinen und mittleren Familienbetrieben. Zwar haben die Gewerkschaften bei der Identifizierung von Kinderarbeit in der Vergangenheit eine positive Rolle gespielt, ihr Organisationsgrad aber ist in den genannten Sektoren relativ gering, wodurch ihren Einflussmöglichkeiten enge Grenzen gesetzt sind. gegebene Reden Dr. Egon Jüttner Diese und ähnlich gelagerte Probleme werden in dem Antrag außer Acht gelassen, was unweigerlich zu einer verkürzten Sichtweise führt. Die Benennung von Mängeln bei der Presseund Meinungsfreiheit beispielsweise findet ebenso wenig Erwähnung wie die Offenlegung von Defiziten auf der Ebene der Religionsfreiheit oder der Frauenrechte. Gerade im Zusammenhang mit der Presseund Meinungsfreiheit hat es in der Türkei in jüngster Zeit mitunter erschreckende Entwicklungen gegeben. Hier kommt auf die Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu als unabhängiger Eckpfeiler der türkischen Gesellschaft. Die Verhaftungen kritisch eingestellter Journalisten und Schriftsteller, wie sie gerade wieder im März dieses Jahres stattfanden, sind äußerst besorgniserregend. Hier ist zu hoffen, dass die türkischen Gewerkschaften ihrer zivilgesellschaftlichen Verpflichtung nachkommen und sich für transparente Prozesse und die Einhaltung demokratischer Spielregeln einsetzen. Unerwähnt im Antrag der Linken bleibt auch, dass aus Sicht der Regierung Erdogan unbequeme Journalisten verhaftet werden oder dass die Regierung von dem kritischen Medienkonzern Dogan Holding angebliche Steuernachforderungen in astronomischer Höhe verlangt und andere zu dieser Holding gehörende Firmen wegen deren kritischer Berichterstattung keine staatlichen Aufträge mehr erhalten. Dadurch sah sich die Dogan-Gruppe zum Verkauf ihrer Tankstellenkette gezwungen. Hier sind die Gewerkschaften aufgefordert, ihrer gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, welche Richtung die Türkei unter einer zu erwartenden weiteren Regierung Erdogan einschlägt. Einerseits gibt sich die Türkei unter der Regierung Erdogan wirtschaftlich als Musterknabe, andererseits sind nationalistische Töne und Alleingänge festzustellen, die unsere besondere Wachsamkeit erfordern. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, in dessen Zusammenhang die türkischen Gewerkschaften künftig besonders gefordert sind. Dies ist die schleichende Unterwanderung der Wirtschaft und sämtlicher staatlicher Organisationen durch die Fethullah-Gülen-Bewegung. Diese Bedrohung, die sich vor allem auf die öffentliche Verwaltung und das Erziehungswesen sowie die Polizei und langsam auch auf das Militär erstreckt, wird in dem Antrag der Linken leider nicht erwähnt. Es zeichnet sich nämlich ab, dass die regierungstreue Fethullah-GülenBewegung beziehungsweise ihr gleichnamiger Anführer die regierungskritische Dogan-Gruppe als größten Medienkonzern der Türkei ablösen wird. Der ehemalige stellvertretende Direktor der nachrichtendienstlichen Abteilung der türkischen Polizei, Hanefi Avci, schreibt in seiner Autobiografie, ich zitiere, „dass die FethullahBewegung die türkische Polizei unter ihre Kontrolle gebracht hat“. Avci wurde kurz nach Erscheinen seines Buches festgenommen. Ganz bewusst mache ich auch auf den Einfluss dieser Bewegung in Deutschland aufmerksam und zitiere hier die Menschenrechtsaktivistin Serap Cileli mit den Worten: „Die Gülen-Bewegung ist eine Glaubensgemeinschaft mit missionarischen AbsichZu Protokoll ten. Gleichgültigkeit und Unwissenheit der Deutschen über die Gülen-Bewegung führen zu fatalen Folgen.“ Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Türkei eng verbunden. Eine isolierte Betrachtung, die sich lediglich auf die EU-Konformität türkischer Gesetze bezieht, wird der Vielschichtigkeit der Probleme und Herausforderungen nicht gerecht. Wir können deshalb dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Es ist schon merkwürdig, wenn wir heute, am 9. Juni 2011, über einen Antrag zur Türkei abstimmen, der mehr als ein Jahr alt ist. Wir beschäftigen uns also einige Tage vor einer wichtigen Wahl – der Wahl zur türkischen Nationalversammlung am 12. Juni 2011 – mit einem Antrag, der einen Miniausschnitt türkischer Politik behandelt, noch dazu einem Antrag, der an Aktualität verloren hat. Um nicht missverstanden zu werden: Gewerkschaftsrechte, Mitbestimmung, Tarifrechte ebenso wie Arbeitsbedingungen und soziale Rechte sind für uns Sozialdemokraten von hoher Wichtigkeit. Auch nachdem gegenüber dem in diesem Antrag beschriebenen Zustand leichte Verbesserungen eingetreten sind, bleibt für die Türkei auf diesem Gebiet noch viel Reformbedarf, ehe sie hier internationalen Standards der ILO – der Internationalen Arbeitsorganisation – entspricht. Aber bei den bevorstehenden Wahlen steht mehr auf dem Spiel. Die spannende Frage ist doch: Wird die Türkei nach diesen Wahlen den Weg zur weiteren Demokratisierung gehen? Wird, wenn die AKP von Premier Erdoğan eine verfassungsgebende Mehrheit im Parlament erreicht, eine Präsidialverfassung ohne Referendum – also ohne Mitsprache des Volkssouveräns – durch das Parlament gepeitscht? Oder wird die Türkei, nachdem sich die Oppositionspartei CHP neu formiert hat, zu einer parlamentarischen Demokratie mit Kompromissen und Ausgleich in der Gesellschaft werden? Viele Reformen stehen noch aus. An oberster Stelle gilt es, endlich wahre Pressefreiheit herzustellen. Wahre Meinungsfreiheit, die auch vor den Gerichten standhält, ist noch nicht erreicht, das Vertrauen in Rechtsstaat und Justiz noch immer mangelhaft. Wie wird nach der Wahl mit dem längst nicht gelösten Kurdenproblem umgegangen? Wer demokratische Repräsentanz aller Bevölkerungsgruppen will, darf nicht ständig unliebsame Parteien im kurdischen Gebiet verbieten, sondern muss im Gegenteil die hohe Hürde von 10 Prozent für den Einzug in die Nationalversammlung senken. Die Wahlkampagne war eine Schlammschlacht, die einer Demokratie unwürdig ist. Es ist nur zu hoffen, dass nach der Wahl ein zivilisierter Umgang der Parteien einkehrt. Viele in der zivilen Gesellschaft der Türkei sind der Machtkämpfe müde. Sie hoffen auf eine prosperierende, tolerante, demokratische Entwicklung in ihrem Land. Das türkische Selbstbewusstsein ist gestiegen. Viele in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders diejenigen, die beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg genießen und die bisherigen Reformen begrüßen, wollen nicht mehr mit ihrer Politikentwicklung vom Schielen auf den gegebene Reden Uta Zapf EU-Beitritt abhängig sein. „Wir machen unsere Reformen für uns, nicht für die EU“, ist ein oft gehörter Satz. Die Kränkung durch die Haltung bestimmter EU-Länder, die nur eine „privilegierte Partnerschaft“ anbieten, sitzt tief. Die Türken und die Türkei haben sich von Europa entfernt. Nur noch 30 Prozent der Türken sind in Umfragen pro EU – in früheren Jahren waren es circa 70 Prozent. Die neue türkische Außenpolitik – „Null Probleme mit den Nachbarländern“ – führt zu einer Annäherung an Staaten wie Iran, Irak, Syrien und andere Länder des Mittleren Ostens, aber auch gleichzeitig zu Verwerfungen mit Israel. Dies muss die Europäer und die USA angesichts der Veränderungen und Risiken durch den arabischen Frühling alarmieren. Es muss in unserem Interesse sein, dass die Außenpolitiken nicht zu sehr auseinanderdriften. Die Türkei ist NATO-Mitglied und damit relevanter Sicherheitspartner, sie ist durch ihre geopolitische Lage von ausschlaggebender Wichtigkeit. Dies trifft auf die arabischen Länder ebenso zu wie auf den Kaukasus. Sie könnte hilfreich sein beim Lösen vieler Konflikte in der Region. Wir sollten die Türkei ermutigen, zur Lösung des Konfliktes um Berg-Karabach beizutragen und gleichzeitig das eigene Verhältnis zu Armenien zu klären. Ein „Modell für die arabische Welt“, wie manche hoffen, wird die Türkei nur werden, wenn sie ihre inneren demokratischen Reformen weitertreibt und gleichzeitig hohe Verantwortung zeigt in einer Region im Umbruch. Gewerkschaftsrechte sind ein Minibaustein auf dieser riesigen Baustelle. Die SPD enthält sich zum Antrag – wie in den Ausschüssen. Eine adäquate TürkeiDiskussion wird erst im Lichte der Ergebnisse der Wahlen möglich sein. Ob Europa die Türkei auf dem wichtigen Weg in die volle Demokratie begleiten kann, wird davon abhängen, ob wir die Türkei endlich als willkommenen Partner behandeln oder ob einige Länder, wie Deutschland, Frankreich und Österreich, mit ihrer Ausgrenzungsstrategie fortfahren. Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, dass der vorlie gende Antrag im Auswärtigen Ausschuss beraten wurde. Jetzt kommt er wieder ins Plenum zur abschließenden Beratung. Selbst der Zeitablauf sorgte nicht dafür, dass er besser und unterstützenswerter geworden wäre. Die Türkei ist ein sehr wichtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Union sowohl in wirtschaftlicher, kultureller als auch in militärisch-strategischer Hinsicht. Die EU und Deutschland arbeiten deshalb schon seit längerem mit der Türkei in den verschiedensten Bereichen eng zusammen. Wir haben deshalb ein großes Interesse daran, dass die Türkei bei der Demokratisierung und bei Menschenrechten weiter vorankommt. Und die Türkei muss ein eigens Interesse an diesen Fortschritten haben. Dies wird durch die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen mit der EU verstärkt. Wir sind uns auch alle einig, dass die Türkei nur dann eine Beitrittsperspektive hat, wenn sie die sehr hohen Standards der Kopenhagener Kriterien erfüllt. Nicht zuletzt wegen einer solchen Beitrittsperspektive hat die Türkei bereits einen Zu Protokoll beachtlichen Modernisierungsprozess hinter sich. Klar ist aber auch: Es gibt noch sehr viel zu tun. Auf vielen Feldern sind noch lange nicht die demokratischen Standards erreicht, wie wir sie fordern und wie sie für moderne Demokratien selbstverständlich sind, sei es im Justizsystem oder bei den Menschenrechten. So werden Misshandlungen von Personen in Polizeigewahrsam immer wieder öffentlich. Ebenso bedarf die Umsetzung von Minderheitenrechten für Kurden und Aleviten neuer Impulse. Hinsichtlich der Durchsetzung der zivilen Kontrolle des Militärs zeigen die derzeit laufenden Gerichtsverfahren und Verhaftungen im Zusammenhang mit aus der jüngeren Vergangenheit stammenden Putschplänen, dass die türkische Demokratie weiterhin große Anstrengungen bei der politischen Entmachtung des Militärs zu leisten hat. Und auch im Bereich des Gewerkschaftsrechts gibt es ohne Zweifel noch viel zu tun. Über all das muss mit der türkischen Regierung ernsthaft geredet werden. Und es wird geredet! Die Bundesregierung mahnt einen nicht nachlassenden Reformprozess bei jeder Gelegenheit an, und zwar auf allen Gebieten. Der vorliegende Antrag fordert also lediglich etwas, das schon längst Usus im Verhältnis zwischen der EU und Deutschland zur Türkei ist. Aber bei allem müssen wir die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren. Die Türkei hat in den letzten Jahren, trotz mancher Rückschritte, insgesamt gezeigt, wie reformbereit und -fähig sie ist. Es ist der falsche Weg, wenn jetzt der Deutsche Bundestag sich hinstellt und in einem offiziellen Beschluss den Zeigefinger hebt und der Türkei sagt, wie sie ihr Gewerkschaftsrecht zu gestalten hat. Auch auf EU-Ebene steht es dem Deutschen Bundestag nicht gut zu Gesicht, der Kommission vorzuschreiben, welche Punkte bei den Beitrittsverhandlungen wie zu gewichten sind. Es ist nicht angemessen, zum jetzigen Zeitpunkt die Beitrittsverhandlungen, die ergebnisoffen sein müssen, mit Anträgen aus einem nationalen Parlament zu beeinflussen und zu versuchen, zu steuern. Dass die Linke dies versucht, sagt übrigens einiges über deren Europahaltung und das Europaverständnis aus. Abgesehen davon greift der Antrag zu kurz. Wie kommt die Linke eigentlich dazu, sich nur auf ein einziges Thema zu konzentrieren? Wie gesagt, die Türkei muss noch viele Reformen im gesamten Sozialbereich anstoßen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Deutsche Bundestag jetzt und heute die Reform des Gewerkschaftsrechts derart hervorheben und einfordern sollte. Der Antrag tut geradezu so, als sei die Lage der Gewerkschaften der schlimmste Missstand und das dringlichste Problem in der Türkei. Es ist aber eines von vielen. Einer der wichtigsten Gründe allerdings, den Antrag abzulehnen, ist sein Unterton. Der Linken scheint es vordergründig darum zu gehen, die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts voranzubringen. In dem Antrag sind aber die Vorgänge um die Privatisierung des Tabakkonzerns Tekel der Drehund Angelpunkt der Kritik. Es soll so, meines Erachtens durchaus bewusst, die Privatisierung von Staatskonzernen als Quell allen Übels und eigentlicher Grund für soziale Verwerfungen dargestellt werden. Unterschwellig kann und soll man gegebene Reden Patrick Kurth herauslesen, dass die Verstaatlichung von Unternehmen bzw. die Nichtprivatisierung eine Lösung des Problems wären. Erst die Übernahme durch einen kapitalistischen Konzern – auch noch aus den USA – hätte demnach die Konflikte hervorgerufen, so die Lesart. Worauf der Antrag aber überhaupt nicht eingeht, sind die Hintergründe der Privatisierung, ob und inwiefern diese nützlich bzw. unumgänglich waren. Dieser Duktus des Antrags ist für uns nicht akzeptabel. Es ist keineswegs die Privatisierung von Betrieben an sich, die ein Problem darstellt. Aber der vorliegende Antrag will genau dies implizieren. Die Linke benutzt den Antrag also, die Problematik vor den Karren ihrer Sozialismusfantasien zu spannen. Schließlich ist der Antrag hinsichtlich einer seiner wichtigsten Forderungen überholt. Bereits seit dem letzten Jahr finden wieder Großdemonstrationen der Gewerkschaften am 1. Mai auf dem Taksim-Platz in Istanbul und auch an vielen anderen Orten des Landes statt, friedlich und ohne Repressionen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Türkei auf einem guten Weg ist und jetzt konstruktiv auf diesem umfassenden Reformweg weiter begleitet werden muss. Der vorliegende Antrag jedenfalls ist überholt und nicht geeignet, die Türkei auf diesem eingeschlagenen Weg der Reformen voranzubringen. Vom 15. Dezember 2009 bis 2. März 2010 kämpften rund 12 000 Arbeiterinnen und Arbeiter des ehemals staatlichen türkischen Tabakund Alkoholmonopols Tekel sowie deren Familien landesweit um ihre Arbeitsplätze und Zukunft. Tausende kamen in die türkische Hauptstadt Ankara, um gegen ihre drohende Entlassung im Zuge der Privatisierung oder Überführung in den rechtlosen Leiharbeiterstatus 4/C. zu protestieren. Unter Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern versuchte die Polizei, ihren Widerstand zu brechen. Die entlassenen Tekel-Arbeiter fordern eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst, wie es ihnen als Staatsbedienstete nach türkischem Arbeitsrecht zusteht. Dem ist die türkische Regierung bis heute nicht nachgekommen. Auch angemessene Abfindungen wurden nicht gezahlt. Im Gegenteil. Ein Solidaritätskonto der entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ihrer Familien im Wert von 30 000 Euro wurde auf Weisung des türkischen Innenministeriums eingefroren. Die Forderungen unseres Antrages sind immer noch aktuell. Denn obwohl die Türkei das Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, über das Recht auf Vereinigung und kollektive Tarifverträge unterzeichnet hat, werden gewerkschaftliche Rechte durch Gesetze, die vielfach noch auf die Militärdiktatur zurückgehen, erheblich eingeschränkt. Die Linke. fordert deshalb die Bundesregierung auf, darauf zu drängen, dass die türkische Regierung ein Beschäftigungsangebot den Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeitern in Übereinstimmung mit den bei der ILO verankerten und international anerkannten Arbeitsund Vereinigungsrechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorlegt. Eine weitere zentrale Forderung an die Bundesregierung ist, im RahZu Protokoll men der bilateralen Beziehungen mit der Türkei und auf EU-Ebene die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der ILO als Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern. Letzte Woche, am 3. Juni 2011, fand in Ankara der Prozess gegen 111 Gewerkschafter statt. Auf der Anklagebank sitzen aktuelle und ehemalige Vorsitzende mehrerer Branchengewerkschaften, unter ihnen der Präsident der Nahrungsmittelgewerkschaft TEKGIDA IS, Mustafa Türkel. Sie waren an einer Aktion in Ankara zur Unterstützung von 12 000 Arbeiterinnen und Arbeitern am 1. April 2010 beteiligt. Ihnen drohen nun Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Das alles scheint offensichtlich kein Problem für die CDU/CSU und FDP zu sein, wenn man sich ihre Ausführungen zu unserem Antrag aus der ersten Beratung anschaut. Bei der CDU/CSU vor allem deshalb, weil es ja auch in anderen Bereichen gravierende Defizite gibt. Und die würden in unserem Antrag nicht berücksichtigt. Das war das Argument, um unsere Initiative zur Verbesserung der rechtlichen und in deren Folge auch zur verbesserten Durchsetzung sozialer Rechte abzulehnen. Wie instrumentell CDU/CSU mit Menschenrechten umgehen, wird am Antrag zum Schutz des Klosters Mor Gabriel von 2009 deutlich. In dem damaligen Antrag ist ganz im Sinne des Vorwurfs des Kollegen Dr. Wolfgang Götzer aus der ersten Beratung am 25. März 2010 – Plenarprotokoll 17/34 – gegen den heute zu beschließenden Antrag meiner Fraktion ein einzelnes Problem aufgegriffen worden, ohne die Lage der Türkei insgesamt zu beleuchten. Da schien eine isolierte Behandlung eines Aspektes sehr wohl völlig ausreichend. Nur hier ging es vermeintlich um die Religionsfreiheit. Und die liegt den Konservativen eben mehr am Herzen. Wenn es um Religionsfreiheit geht, dann sind mit einem Mal Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die scheinbar größten Menschenrechtsverteidiger. Geht es um Arbeitnehmerrechte, ist von Ihnen keine Hilfe zu erwarten. Als in der Türkei die Verhaftungswelle gegen Journalistinnen und Journalisten schwappte, gab es seitens der Bundesregierung wenigstens noch Bekundungen von Besorgnis. Nicht einmal so lau fällt der Protest hinsichtlich der Repression gegen Arbeiterinnen und Arbeitern aus, die ihre gewerkschaftlichen Rechte in Anspruch nehmen, um sich vor der Willkür der Unternehmensbosse zu schützen. Dass Sie von der FDP nicht im Geringsten daran interessiert sind, dass die türkische Regierung aufgefordert wird, internationale Standards bei den sozialund arbeitsrechtlichen Normen einzuführen bzw. einzuhalten, wundert nun vermutlich niemanden. Die Rede meines Kollegen Serkan Tören in der ersten Beratung war geradezu eine Offenbarung in dieser Hinsicht. So wie die Kolleginnen und Kollegen von FDP in Deutschland den Unternehmen als ihrer ureigenen Klientel Steuergeschenke verteilt, will sie auch deutsche Unternehmen in der Türkei nicht mit international bindenden sozialen und arbeitsrechtlichen Standards „gängeln“, die deren Profit schmälern würden. Ganz nach dem Motto: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge gegebene Reden Sevim Daðdelen Sevim Dağdelen aus.“ Da zeigt sich eben wieder, wes Geistes Kind die FDP ist. Sie ist schlicht eine Klientelpartei. Dass das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Tekel-Arbeiterinnen und -Arbeiter nicht nur der türkischen Gesetzgebung, sondern auch dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation widerspricht, stört offenbar weder die Regierungsfraktionen noch die Bundesregierung. Das ist skandalös und beweist einmal mehr wie heuchlerisch sie mit den Menschenrechten umgehen. Die Durchsetzung von sozialen und Arbeitsrechten sind bei ihnen schlecht aufgehoben. Heuchlerisch ist die Behauptung seitens meines FDP-Kollegen Serkan Tören, der Deutsche Bundestag könne nicht die türkische Regierung zur Einhaltung bzw. Anwendung sozialund arbeitsrechtlicher Normen auffordern. Zum einen wird das in unserem Antrag nicht gefordert – wir fordern die Bundesregierung auf, sich diesbezüglich im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit der Türkei endlich zu engagieren –, zum anderen schien dies aber in anderen Fällen für die FDP kein Problem zu sein. Während im Antrag zum Schutz des Klosters Mor Gabriel darauf hingewiesen wurde, dass Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Probleme des Klosters aufmerksam gemacht und diese auch in Gesprächen mit der türkischen Führung verdeutlicht haben, wird den türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter dieses Privileg nicht zuteil. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften Verdi, IG Metall und Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, beim Prozess in Ankara letzte Woche vor Ort waren. Dass es hier eben nicht um ein isoliertes Problem geht, zeigt der aktuell erwähnte Prozess und zeigt auch, dass eine solche Verfolgung in der Türkei überhaupt möglich ist. Von Unabhängigkeit der Justiz, die meinem Kollegen in seiner Rede zur ersten Lesung so wichtig war, ist doch hier offensichtlich kaum was zu spüren. Die von 111 Angeklagten anwesenden circa 80 sind teilweise mit unzulässigen Fragen, wie nach der Religionszugehörigkeit, konfrontiert worden. Des Weiteren wurden jedem der Angeklagten der gesetzliche Paragraf, der den Verstoß gegen das Versammlungsrecht ahndet, verlesen. Einige von ihnen sind mit angeblichen Beweisfotos konfrontiert worden. Die Verhandlung war nach circa 9 Stunden zu Ende und wurde auf Oktober vertagt. Gegen die nichtanwesenden Angeklagten ist zwecks Feststellung der Personalien und Vernehmung Haftbefehl erlassen worden. Im Zuge der Verweigerung von sozialund arbeitsrechtlichen Normen werden auch solche Demokratiedefizite offenbar wie ungerechtfertigte Gerichtsverfahren, Einschüchterung und Polizeigewalt, wie sie gegenüber den demonstrierenden Arbeiterinnen und Arbeitern am 1. April 2010 stattfand. Was die derzeitige Regierung und der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von einer echten Demokratisierung halten, zeigen sie im aktuellen Wahlkampf wegen der Parlamentswahlen am kommenden Sonntag mehr als deutlich. Mit aller Macht und allen Mitteln will Zu Protokoll Erdogan die Zweidrittelmehrheit bei den Wahlen am 12. Juni erreichen. Damit könnte er eine neue Verfassung im Alleingang schreiben. Da verwundert es kaum, dass auch mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen versucht wird, die Konkurrenz, ist sie schon nicht komplett auszuschalten, so doch zumindest weitestgehend zu behindern oder kriminalisieren. So hatte die oberste Wahlbehörde YSK im April 2011 etliche unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten des Wahlbündnisses „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ nicht zur Wahl zugelassen. Nach Protesten im Inund Ausland wurde diese Entscheidung zurückgenommen. Doch die Repression geht weiter. Kritische Journalistinnen und Journalisten werden verhaftet, kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt. Große Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effektivität der Justiz bleiben weiterhin bestehen. Insbesondere mit den neuen Kompetenzen des Präsidenten sind die Sorgen und Ängste bezüglich einer zunehmenden Islamisierung der Türkei nicht von der Hand zu weisen. Die uneingeschränkte Wahrung der Gewerkschaftsrechte, das Streikrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen werden nicht gewährleistet. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Einhaltung bzw. Einführung international verpflichtender sozialund arbeitsrechtlicher Normen zu verknüpfen. Genau das fordert die Linke in dem Antrag „Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei“. Ich hoffe, dass die Linke nicht die einzige Partei im Bundestag ist, die die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeiter verteidigt und unterstützt. Claudia Roth NEN)


(Lüdenscheid)


(A) (C)


(D)(B)

Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1711426200
Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1711426300




(A) (C)


(D)(B)

Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1711426400




(A) (C)


(D)(B)

Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1711426500




(A) (C)


(D)(B)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711426600




(A) (C)


(D)(B)


In drei Tagen wird in der Türkei ein neues Parlament
gewählt. Obwohl mit einem Machtwechsel in Ankara
nicht zu rechnen ist, bleiben die Wahlen und die Aus-
einandersetzungen um die Zukunft der Türkei hochspan-
nend.

Seit neun Jahren regiert die AKP, die Partei von Mi-
nisterpräsident Erdogan, alleine. Sie hat in den ersten
Jahren ihrer Regierungszeit große und wichtige Refor-
men auf den Weg gebracht, die die Grundlagen der heu-
tigen Fortschritte der Türkei in Richtung Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit waren. Eine besonders wichtige
Komponente in dieser Reformdynamik war die Perspek-
tive für die Türkei, Mitgliedsstaat der EU zu werden.

Die aktuelle Lage und der Stand der Beitrittsverhand-
lungen geben aber Anlass zur Sorge; denn wir beobach-
ten eine beunruhigende Stagnation in den Beitrittsver-
handlungen der EU mit der Türkei, die auch die bisher
erzielten Erfolge und Fortschritte gefährden könnte. Aus
diesem Grund haben wir im März dieses Jahres einen
Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem explizi-
ten Anliegen, die „Beitrittsverhandlungen mit der Tür-
kei wiederbeleben“ zu wollen. Aus Sorge um Menschen-
und Minderheitenrechte in der Türkei ebenso wie aus
Sorge um den sozialen Frieden in diesem Land fordern
wir die Bundesregierung in diesem Antrag auf, der sich



gegebene Reden





Claudia Roth (Augsburg)



(A) (C)



(D)(B)

etablierenden Stagnation mit neuen außen- und europa-
politischen Initiativen zu begegnen.

Nicht nur die Lage der gewerkschaftlichen Rechte
und generell die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern sind meilenweit von den ILO-Standards
und den Gemeinschaftswerten der EU entfernt. Auch die
aktuellen Festnahmen von renommierten Journalisten
oder Schikanen und die juristische Verfolgung von Me-
dienvertretern machen deutlich, wie dringend notwen-
dig eine neue Dynamik und die Intensivierung der da-
mals begonnenen Reformen in der Türkei sind.

Die türkische Justiz braucht eine Generalsanierung
in Sachen Rechtsstaatlichkeit, um endlich Schluss damit
zu machen, dass jeder Verdächtige unmittelbar und
quasi prophylaktisch in Haft genommen werden kann
und manchmal sogar Jahre im Gefängnis verbringen
muss, bevor seine Schuld rechtlich bewiesen ist. Bei sol-
chen Fragen sind wir parteiisch, parteiisch für Men-
schen- und Bürgerrechte und für umfassende und vorbe-
haltlose Pressefreiheit. Die EU steht auch im eigenen
Interesse in der Pflicht, die Beitrittsverhandlungen im
Namen dieser fundamentalen Rechte der Menschen in
der Türkei zu führen. Nur eine glaubwürdige Beitritts-
perspektive kann den nötigen Druck und das günstige
Klima schaffen, um die türkische Innen- und Rechtspoli-
tik demokratisch und rechtsstaatlich zu gestalten und zu
stabilisieren.

Das ist der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgver-
sprechenden Türkei-Politik in Deutschland. Deshalb
setzen wir uns für das Ende der eingetretenen Blockade
bei den Beitrittsverhandlungen ein. So besteht die
Chance, dass die Türkei alle politischen und wirtschaft-
lichen Kopenhagen-Kriterien erfüllt und die daraus ab-
zuleitenden Konsequenzen in Reformschritte umsetzt.

Der Antrag der Fraktion Die Linke greift viele rich-
tige und wichtige Punkte im Bereich der Gewerkschafts-
rechte in der Türkei auf und thematisiert zu Recht die
Verantwortung und Verpflichtung der deutschen Wirt-
schaft in der Türkei und in allen Unternehmen, die in
beiden Ländern arbeiten. Dennoch werden wir uns ent-
halten, weil der Antrag detaillierte Erwartungen formu-
liert, die nur innerhalb der Türkei verwirklicht und um-
gesetzt werden können.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711426700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/2025, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/1101 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts
verbessern

– Drucksachen 17/4041, 17/5562 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring


Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1711426800

Bereits vor wenigen Monaten haben wir an dieser

Stelle vor dem Hintergrund des vorliegenden und eines
weiteren Antrags ausführlich über die Reiserechte in der
Bundesrepublik gesprochen. Auch heute noch gilt unver-
ändert, dass die Bundesregierung die Bürgerinnen und
Bürger mit einer ebenso nachhaltigen wie verantwor-
tungsbewussten Verbraucherpolitik begleitet. Das deut-
sche Reiserecht gewährt unbestritten ein hohes Maß an
Schutz und reicht nicht nur im europäischen Vergleich
deutlich über den geltenden Standard hinaus. Dieses
hohe Niveau des Verbraucherschutzes werden wir nicht
nur in Zukunft weiter halten; wir wollen die verbrau-
cherfreundlichen Strukturen bei Bedarf auch weiter ver-
bessern und punktuell ausbauen.

Gerade weil das Reiserecht und eine an den Bedürf-
nissen der Bürgerinnen und Bürger orientierte Verbrau-
cherpolitik aber einen hohen Stellenwert haben muss,
hat mich die bisher geführte Debatte verwundert und ir-
ritiert. Die Oppositionsparteien haben es versäumt, sich
mit nachvollziehbaren und gut gemeinten Absichten für
einen möglichen Ausbau der bewährten gesetzlichen
Rahmenbedingungen einzusetzen. Die Aussprache war
stattdessen immer wieder von unnötigem Aktionismus,
nicht nachvollziehbaren Forderungen und mangelnden
Sachzusammenhängen durchzogen.

Ein Beispiel hierfür ist die Kritik an der Bundesregie-
rung bezüglich des Krisenmanagements nach dem Aus-
bruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull. Zum ei-
nen betone ich an dieser Stelle wie in anderen Debatten
zuvor gerne erneut, dass im vergangenen Jahr auf natio-
naler und internationaler Ebene zeitnah und in enger
Abstimmung mit den am Luftverkehr Beteiligten die not-
wendigen Maßnahmen zur Bewältigung der Lage ge-
schaffen wurden. Zum anderen waren auch die Rechte
der gestrandeten Flugpassagiere durch die Fluggast-
rechte-Verordnung (EG) Nr. 261/2004 zu jeder Zeit ge-
deckt. Luftfahrtunternehmen waren und sind noch im-
mer verpflichtet, im Fall eines wegen Vulkanasche
annullierten Fluges Unterstützungsleistungen wie die
Erstattung des Flugpreises anzubieten. Eine ebenso in
der Verordnung festgeschriebene Informationspflicht
schreibt Fluggesellschaften zudem vor, die Reisenden
von den Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen in
Kenntnis zu setzen. Die Hilfs- und Informationsangebote
an Flughäfen vor diesem Hintergrund als unzureichend
zu beschreiben und dies sogar der Bundesregierung als
mangelndes Krisenmanagement anzulasten, ist schlicht
zusammenhanglos und nicht nachvollziehbar.

Auch die parteiübergreifende Forderung der Opposi-
tion nach der Einführung einer wirksamen Schlichtungs-

Peter Wichtel


(A) (C)



(D)(B)

stelle macht nur bedingt Sinn, da die Bundesregierung
dieses Vorhaben nicht nur im Koalitionsvertrag festge-
legt, sondern bereits umgesetzt hat. Mit der Schlich-
tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, söp, ist
die Realisierung einer unabhängigen und verkehrsträ-
gerübergreifenden Schiedsstelle bereits im Dezember
des Jahres 2009 gelungen. Die erfolgreiche Arbeit der
Einrichtung ist ein weiterer Beleg für das hohe Niveau
des Verbraucherschutzes in der Bundesrepublik und das
Engagement der Bundesregierung, dieses Niveau zu hal-
ten und weiter zu verbessern.

Der Ruf nach einer verpflichtenden Beteiligung der
Fluggesellschaften an der bestehenden Schlichtungs-
stelle für den öffentlichen Personenverkehr ist ebenso
unbegründet. Nachdem die Luftfahrtunternehmen sich
grundsätzlich für die Teilnahme an Schlichtungsverfah-
ren ausgesprochen haben, ist dies durchaus auch in ei-
ner eigenen Schlichtungsstelle denkbar. Letztendlich
muss beachtet werden, dass es in der Luftfahrtbranche
im Gegensatz zu anderen Verkehrsträgern wie der
Schiene einen deutlich intensiveren Wettbewerb gibt.
Die Bundesregierung arbeitet gegenwärtig mit Nach-
druck daran, die Einbeziehung der Luftverkehrsträger
in eine Schlichtung zu finalisieren. Entscheidend ist
schließlich weniger, wo, sondern vielmehr dass auch
Flugpassagiere ihre Anliegen so zeitnah und kosten-
günstig wie möglich im Rahmen einer außergerichtli-
chen Schlichtung prüfen lassen können.

Letztendlich hat mich aber insbesondere ein weiterer
in der Plenardebatte angesprochener Punkt verwundert.
So wurde dem der Dienst- und Fachaufsicht der Bundes-
regierung unterstehenden Luftfahrt-Bundesamt man-
gelnder Einsatz für behinderte Flugreisende seit dem
Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention vor-
geworfen. Eine Lektüre des jüngsten Berichtes der Euro-
päischen Kommission über die Anwendung und Ergeb-
nisse der Verordnung über die Rechte von behinderten
Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter
Mobilität verdeutlicht, dass diese Kritik absolut haltlos
und unbegründet ist. Der Bericht unterstreicht, dass sich
die Vorschriften der im Jahr 2008 in Kraft getretenen
Verordnung weitgehend bewährt haben. Zwar ist die
Auslegung der Verordnung in den Mitgliedstaaten noch
nicht komplett harmonisiert; die große Mehrheit der
europaweit betroffenen Passagiere hat aber die notwen-
digen Betreuungsleistungen erhalten, und es sind nur
wenige einzelfallbezogene Probleme aufgetreten. In der
Bundesrepublik hat das Luftfahrt-Bundesamt als natio-
nale Durchsetzungsstelle seit Inkrafttreten der Verord-
nung keine systematischen oder strukturellen Defizite
bei der Umsetzung feststellen können.

Die erwähnten Punkte verdeutlichen, dass die De-
batte seitens der Opposition teilweise unsachgemäß und
an der eigentlichen Thematik vorbei geführt wird. Ein
Fokus auf das Wesentliche – das ist die mögliche punk-
tuelle Verbesserung der bewährten gesetzlichen Rah-
menbedingungen – würde nicht nur der Aussprache be-
züglich des vorliegenden Antrages guttun. Insbesondere
das Reiserecht der Bürgerinnen und Bürger kann letzt-
endlich von einem konstruktiven Austausch profitieren.
Zu Protokoll
Dass sich die Bundesregierung und auch die CDU/
CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bei Bedarf für
eine Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedin-
gungen des Reiserechtes engagieren, belegen die jüngs-
ten Beratungen in den parlamentarischen Gremien zur
Fluggastrechte-Verordnung (EG) Nr. 261/2004. Nicht
erst seit Veröffentlichung des Berichtes der EU-Kommis-
sion zu den Entwicklungen und Erfahrungen mit der
Verordnung setzt sich die Bundesregierung nachhaltig
für deren zeitnahe Überarbeitung ein. Nach der bisheri-
gen Anwendung der Verordnung bestehen noch offene
Fragen und rechtliche Unklarheiten, die nur durch eine
Überarbeitung durch den Verordnungsgeber umfassend
und verbindlich geklärt werden können.

Wichtig ist uns dabei allerdings, dass die Verbesse-
rungen nicht pauschal und unverbindlich, sondern so
präzise und rechtssicher wie möglich gestaltet werden.
So werden die kurzfristigen Maßnahmen des von der
EU-Kommission vorgeschlagenen Zwölf-Punkte-Planes
die bestehende Rechtsunsicherheit nicht nachhaltig aus-
räumen können. Auch der Ansatz, die Verpflichtungen
der Mitgliedstaaten ohne Mitwirkung des Europäischen
Rates und des EU-Parlamentes festzusetzen, betrachten
wir als keine optimale Lösung. Sichere, verlässliche und
rechtsverbindliche Regelungen kann alleine der EU-
Verordnungsgeber treffen.

Auch inhaltlich müssen die Maßnahmen stimmig sein
und eine klare Verbesserung des Reiseschutzes darstel-
len. Das ist im Fall des Vorhabens, das Bewusstsein der
Reisenden für ihre Rechte durch Informationskampa-
gnen in Zusammenarbeit mit den Verbraucherschutznet-
zen zu schärfen, offensichtlich gegeben. Die Umsetzung
dieses Punktes wird von uns dementsprechend befürwor-
tet und unterstützt. Die vorgeschlagene Förderung der
Veröffentlichung verhängter Sanktionen betrachten wir
dagegen kritisch. Für Maßnahmen wie eine schwarze
Liste, die auch in der Debatte bezüglich des vorliegen-
den Antrages gefordert wird, gibt es schlicht keine recht-
liche Grundlage. Zudem würde die Veröffentlichung von
Daten einen Eingriff in die wirtschaftliche Tätigkeit der
Unternehmen darstellen.

Meine Ausführungen verdeutlichen, dass wir uns,
wann immer wir mögliche Verbesserungen im Reise-
recht erkennen, mit Nachdruck dafür einsetzen werden.
Diese Verbesserungen sehen wir aber insbesondere im
vorliegenden Antrag nicht. Bereits in der ersten Lesung
vor wenigen Monaten habe ich betont, dass es für die ge-
forderte Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luft-
verkehrs keine gesetzliche Grundlage gibt. Auch ein
Sachzusammenhang zwischen der geforderten Daten-
erhebung und der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung
ist nicht gegeben. Es ist nicht Aufgabe der amtlichen
Verkehrsstatistik, Daten für die Überwachung von Pas-
sagierrechten zu erfassen. Die im Antrag formulierte
Aufnahme der Verspätungstatbestände in das Verkehrs-
statistikgesetz, VerkStatG, wäre schlicht sachfremd.

Auch die Rolle des Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, die
im Antrag scheinbar missinterpretiert wird, sollte in die-
sem Zusammenhang noch einmal unterstrichen werden.
Das LBA ist kein rechtsdurchsetzendes Organ für Flug-



gegebene Reden

Peter Wichtel


(A) (C)



(D)(B)

gäste und auch nicht im zivilrechtlichen Interesse tätig.
Die Geltendmachung und Durchsetzung zivilrechtlicher
Ausgleichsansprüche gegenüber der Luftfahrtindustrie
im Interesse der betroffenen Fluggäste ist keinesfalls
Aufgabe der Behörde. Ein Sachzusammenhang zwischen
der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhe-
bung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs ist,
um dies erneut deutlich zu betonen, nach wie vor nicht
gegeben.

Abschließend betrachtet hebe ich erneut hervor, dass
die Bundesregierung ihrer Verantwortung für die Bür-
gerinnen und Bürger mit einer umsichtigen Verbrau-
cherpolitik nachkommt. Die gesetzlichen Rahmen-
bedingungen haben sich bewährt und werden, wenn es
erforderlich ist, punktuell ausgebaut und weiterentwi-
ckelt. Forderungen, mit denen das hohe Niveau des Ver-
braucherschutzes nicht verbessert werden kann und weit
über das Ziel eines angemessenen Reiseschutzes hinaus-
schießen, werden unsere Unterstützung dagegen nicht
finden. Den vorliegenden Antrag lehnen wir nicht zuletzt
vor diesem Hintergrund ab.


Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1711426900

Die Europäische Kommission hat im April dieses

Jahres dem Europäischen Parlament und dem Rat eine
Mitteilung vorgelegt, mit der sie eine Auswertung der
Fluggastrechteverordnung der EU (Nr. 261/2004) vor-
nimmt. In dieser Bestandsaufnahme nennt sie Verbesse-
rungen bei der Anwendung der Verordnung, erläutert
verbleibende Hindernisse und schlägt Maßnahmen vor,
die eine weiter verbesserte Anwendung dieser Verord-
nung ermöglichen könnten.

Koordiniert mit der derzeit laufenden Überarbeitung
der Pauschalreiserichtlinie (90/314/EWG) wird die EU-
Kommission in diesem Jahr eine Folgenabschätzung der
Fluggastrechteverordnung einleiten. Ziel ist, im Jahr
2012 Vorschläge zur weiteren Verbesserung der Flug-
gastrechte vorzulegen.

Nach Informationen der EU-Kommission ist die Zahl
der Fluggäste seit dem Jahr 2000 um rund 35 Prozent
gestiegen; auch die Zahl der Fluggastbeschwerden ist in
den letzten Jahren angestiegen.

Aufgrund des wachsenden Flugverkehrs ist nach In-
formationen der EU-Kommission die Qualität des Flug-
verkehrs für die Passagiere gesunken. Die Kommission
nennt als Gründe vermeidbare Verspätungen durch
Überlastungen im Luftraum und auf Flughäfen, unzurei-
chende Alternativplanungen bei extremen Schlecht-
wetterlagen und strengere Sicherheitsmaßnahmen, aber
auch größere Flughäfen mit langen Wegen, Schwierig-
keiten beim Gepäcktransfer und damit verbundene
höhere Risiken für die Fluggäste, Anschlussflüge zu ver-
passen. Auch Geschäftspraktiken von Luftfahrtunter-
nehmen zulasten von Flugpassagieren, die erst nach
Verabschiedung der Fluggastrechteverordnung in Er-
scheinung getreten sind, können sich für die Passagiere
als ebenso kostspielig erweisen wie Annullierung oder
große Verspätung von Flügen. Nach Meinung der Kom-
mission ist möglicherweise eine Anpassung der Flug-
gastrechteverordnung an diese Tatsachen notwendig.
Zu Protokoll
Aber auch Ansprüche, die die Fluggastrechteverord-
nung schon jetzt beinhaltet, werden laut EU-Kommis-
sion nicht ordnungsgemäß von den Luftfahrtunterneh-
men umgesetzt, wie der Anspruch auf Umbuchung bei
nächster Gelegenheit und unter vergleichbaren Reisebe-
dingungen, wenn ein vereinbarter Reiseweg geändert
wurde, und der Anspruch auf Betreuung bei Wartezeiten.
Nationale Durchsetzungsstellen bearbeiten die Be-
schwerden nicht schnell und effizient genug, und weil
die Entscheidungen der nationalen Durchsetzungsstel-
len nicht verbindlich sind, werden sie von Luftfahrtun-
ternehmen nicht immer befolgt oder von Gerichten nicht
immer anerkannt.

Laut Kommission fehlt es zudem an einer Überwa-
chung, Erfassung und Veröffentlichung von Informatio-
nen über das Verhalten der Unternehmen und über das
Niveau der Verbraucherzufriedenheit.

Die EU-Kommission hält eine öffentliche Bericht-
erstattung über Sanktionen und das Verhalten der Luft-
fahrtunternehmen für eine wichtige Bedingung für die
korrekte Anwendung der Verordnung. Aus diesem Grund
wird die Kommission die Herausgabe und Veröffentli-
chung der notwendigen Daten durch die Luftfahrtunter-
nehmen auch unterstützen. Die Luftfahrtunternehmen
sollen den nationalen Durchsetzungsstellen mehr Infor-
mationen zum Beispiel über Pünktlichkeit, die Zahl der
von Störungen betroffenen Flüge und die angewendeten
Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte übermitteln,
die diese dann veröffentlichen sollen.

Diese Transparenz zur besseren Überwachung der
Passagierrechte halten wir ebenfalls für notwendig. Die
Veröffentlichung dieser Daten sollte jedoch nicht nur
empfohlen, sondern über das Verkehrsstatistikgesetz von
der Bundesregierung auch verbindlich erlassen werden.
Die betroffenen Unternehmen sollten zur Herausgabe
der notwendigen relevanten Daten verpflichtet werden.

Hinsichtlich dieses Anliegens unterstützen wir den
vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.

Die Bundesregierung besitzt gegenwärtig keine ver-
lässlichen Zahlen zu Annullierungen, Verspätungen, He-
rabstufungen oder Nichtbeförderungen von Personen-
transporten. Diese Zahlen sind aber für eine effektive
Durchsetzung von Fahrgast- und Passagierrechten er-
forderlich. Die im Antrag vorgeschlagenen §§ 12 und 18
des Verkehrsstatistikgesetzes reichen allerdings nicht
aus, um die in diesem Antrag formulierte Forderung um-
zusetzen. § 12 befasst sich mit der Luftverkehrsstatistik,
und § 18 bezieht sich auf die Personenbeförderungssta-
tistik auf Schienenstrecken. Um auch den Busbereich
und die Schiffsreisen mit einzubeziehen, müssten die
§§ 3 und 17 ebenfalls entsprechend angepasst werden.

In der Begründung dieses Antrags wird umfangreich
auf die Flugbeförderung eingegangen. Alle anderen Ver-
kehrsträger werden in einem, nämlich dem letzten Satz
zusammengefasst: „Gleiches gilt auch für die anderen
sektorspezifischen Regelungen.“

Die Passagiere der anderen Verkehrsträger wie
Bahn, Bus und Schiff haben aber für uns eine gleichran-
gige Bedeutung wie die Passagiere im Luftverkehr.



gegebene Reden

Ulrike Gottschalck


(A) (C)



(D)(B)

Diese Bedeutung spiegelt sich übrigens auf EU-Ebene
auch in den Verordnungen für die Passagiere der übri-
gen Verkehrsträger wider.

Im Dezember 2009 trat die Verordnung über die
Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr in Kraft;
2010 verabschiedeten Rat und Parlament eine Verord-
nung über die Fahrgastrechte im See- und Binnen-
schiffsverkehr und 2011 eine Verordnung über die Fahr-
gastrechte im Busverkehr. Auch diese Verordnungen
beinhalten für die Fahrgäste, wie die Verordnung für die
Fluggäste, das Recht auf Information, Erstattung, Ände-
rung des Reisewegs, Betreuung während der Wartezei-
ten und unter bestimmten Bedingungen Ausgleichszah-
lungen.

Außer dem Luftverkehr müssen auch die anderen Ver-
kehrsträger in dem vorliegenden Antrag entsprechend
ihrer Bedeutung umfangreicher behandelt werden. Zu
den im vorliegenden Antrag genannten Parametern
könnten noch weitere hinzugefügt werden, wie zum Bei-
spiel die Anzahl der Beschwerden und die Anzahl und
Höhe der Entschädigungen.

Die Europäische Kommission schreibt in ihrem Be-
richt an das Europäische Parlament und den Rat über
die Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 über die Rechte von
behinderten Flugreisenden und Flugreisende mit einge-
schränkter Mobilität vom April dieses Jahres, dass jeder
sechste europäische Bürger unter einer Behinderung lei-
det. Die immer älter werdende europäische Bevölkerung
führt zu einer steten Zunahme der Zahl von Flugreisen-
den, die aufgrund einer Behinderung oder einge-
schränkter Mobilität spezieller Hilfe bedürfen.

Angesichts dieser Tatsache kommt mir die Behand-
lung dieser Bevölkerungsgruppe in dem vorliegenden
Antrag viel zu kurz; sie wird nur in einem Halbsatz er-
wähnt. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass das
Luftfahrt-Bundesamt, LBA, auch die Durchsetzung der
Rechte von Fluggästen mit eingeschränkter Mobilität
gewährleisten soll.

Abschließend kann ich sagen, dass der Antrag die
richtige Stoßrichtung hat. Er muss aber noch überarbei-
tet und um wichtige Punkte ergänzt werden. Die SPD-
Fraktion wird sich daher enthalten.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1711427000

Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/

Die Grünen mag den redlichen Ansatz verfolgen, die
Durchsetzung der Rechte von Reisenden in Deutschland
zu verbessern. Doch wie bei so vielem gilt auch hier:
Der Teufel steckt im Detail. Lassen Sie mich daher nur
kurz auf zwei kleine, jedoch nicht minder wichtige
Punkte eingehen.

Der erste Punkt ist die Datenbasis. Entgegen der An-
nahme meines geschätzen Kollegen Tressel haben wir
mit der Deutschen Flugsicherung, DFS, und dem Cen-
tral Office for Delay Analysis, CODA, einer Abteilung
von Eurocontrol, längst Institutionen, die uns Monat für
Monat umfangsreichstes Datenmaterial zur Verfügung
stellen. Auf Grundlage der Meldungen von Piloten, die
jede Verspätung einer von 76 möglichen Ursachen zu-
Zu Protokoll
ordnen und an die Flugsicherung melden müssen, wird
in Europa jede einzelne Abweichung vom geplanten
Flugablauf minutengenau erfasst. Vor diesem Hinter-
grung erschließt es sich mir nicht, warum wir darüber
hinaus noch eine weitere, rein nationale Statistik brau-
chen sollten.

Ich gebe allerdings zu: Wirft man einen ersten, flüch-
tigen Blick in diese Daten, so könnte man den Eindruck
erhalten, die Anzahl der Verspätungen und Annullierun-
gen hätte in den vergangenen Jahren dramatisch zuge-
nommen. Lag die durchschnittliche Verspätung aller in
Europa startenden und landenden Flüge im Jahr 2009
noch bei zehn Minuten, so schnellte sie binnen eines
Jahres um 40 Prozent nach oben. Da die Fluggesell-
schaften nach Angaben von Eurocontrol 2010 für jede
zweite Verspätung verantwortlich waren, wäre es nun
einfach, ihnen den Schwarzen Peter zuzuschieben, wie
es vonseiten der Opposition auch gerne und häufig ge-
tan wird. Völlig unberücksichtigt bleiben bei einer solch
simplen Betrachtungsweise jedoch die durchaus kom-
plexen Wirkungszusammenhänge.

Denn die nähere Analyse der Daten zeigt, dass ein
wesentlicher Teil der Verspätungen, die den Fluggesell-
schaften zugerechnet werden, Folgeverspätungen sind.
Dabei wird allerdings nicht danach unterschieden, wel-
chen Grund die ursprüngliche Verspätung hat. Es kön-
nen sowohl endogene Faktoren, etwa Verzögerungen im
Betriebsablauf oder technische Probleme am Flugzeuge
auf die die Fluggesellschaften mehr oder minder direk-
ten Einfluss haben, wie auch exogene Faktoren sein. Für
das Jahr 2010 sind hier insbesondere die massiven Ar-
beitskampfmaßnahmen der Fluglotsen in Europa und
das schlechte Wetter zu Beginn und zum Ende des Jahres
2010 zu nennen. Folglich müssen die in Deutschland
dargestellten Verspätungen weder zwangsläufig hier
entstanden sein, noch in der Verantwortung der Flugge-
sellschaften liegen.

Würde man, wie im Antrag gefordert, nun eine wei-
tere Differenzierung anstreben, würden sich für die Luft-
verkehrswirtschaft zusätzliche Informationspflichten
ergeben, die sicherlich nicht dem Ziel des Bürokratieab-
baus dienen.

Darüber hinaus sei angemerkt, dass über 90 Prozent
aller Flüge in Deutschland verzögerungsfrei ihr Ziel er-
reichten – bei rund 1,7 Millionen gewerblichen Flügen
und circa 160 Millionen beförderten Passagieren im
Jahr eine aus meiner Sicht durchaus beeindruckende
Leistung.

Der zweite Punkte der aus Sicht der FDP-Bundes-
tagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet werden
sollte, ist die Durchsetzung der Verbraucherrechte. Wie
im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP ver-
einbart, werden wir hierzu eine unabhängige und ver-
kehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle einrichten.
Derzeit finden noch letzte Abstimmungsgespräche zwi-
schen den verschiedenen Facheben statt, doch ich bin
zuversichtlich, dass wir noch in diesem Jahr einen kon-
sensfähigen Vorschlag auf den Tisch legen werden, der
allen Interessen gerecht wird – denen der Verbraucher



gegebene Reden

Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

und denen der Industrie. Einen Schlichtungszwang leh-
nen wir jedoch ab.

Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst
nach schlanken und praxisnahen Lösungen zu suchen,
um die berechtigten Verbraucherinteressen durchzuset-
zen, anstatt durch einen weiteren Wust an Daten und In-
formationen Bürger wie auch Wirtschaft zusätzlich zu
belasten.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711427100

Die Linke im Bundestag unterstützt den Antrag der

Grünen. Wir sehen ihn als Ergänzung zu unserem eige-
nen Antrag „Fluggastrechte stärken“. Die fehlende
Durchsetzung von Passagierrechten im Luftverkehr
stellt immer noch ein Problem dar, das gelöst werden
muss. In der Koalitionsvereinbarung der Bundesregie-
rung war noch die Rede von einer „Einrichtung einer
unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die
Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff“. Sie exis-
tiert bis heute nur auf dem Papier, obgleich täglich Hun-
derte von Passagieren Anspruch auf Entschädigung,
Ausgleich oder sonstige Leistungen haben.

Das Luftfahrt-Bundesamt ist in Deutschland offizielle
Durchsetzungs- und Beschwerdestelle für die Rechte der
Fluggäste. Nach unserer Auffassung kommt das Amt sei-
ner Aufgabe nicht genügend nach. Beschwerden nimmt
das LBA zwar entgegen, aber nachgewiesene Verstöße
werden selten ordnungsrechtlich gegenüber den Unter-
nehmen verfolgt.

Auch im Fall des Vulkanausbruchs Eyjafjallajökull
2010 sind die europäischen und deutschen Fluggesell-
schaften ihren Zahlungsverpflichtungen nur zögernd
und nicht zufriedenstellend nachgekommen. Klagen zum
Beispiel gegen Air Berlin sind anhängig. Ein Passagier,
der ein Problem mit einem konkreten Flug hat, ist heute
in Deutschland der Willkür der Fluggesellschaften aus-
geliefert, weil Beschwerden abgewiesen werden und ge-
rechtfertigte Ansprüche eingeklagt werden müssen. So
stellt sich die Linke Mobilität nicht vor. Gerechtigkeit
und Teilhabe müssen auch in der Mitte der Gesellschaft
möglich sein. Es kann nicht angehen, dass man bei Flug-
buchungen eine Rechtsschutzversicherung mit abschlie-
ßen muss.

Selbstverständlich ist eine genaue statistische Erhe-
bung der Verspätungen, Annullierungen, Fälle der Nicht-
beförderung und Herabstufung im Hinblick auf die Flug-
gastrechteverordnungen dringend erforderlich. Die
Ergebnisse dieser Evaluation sollten regelmäßig offen-
gelegt werden. Allerdings reicht eine solche Evaluierung
allein bei weitem nicht aus. Die Linke fordert die Einfüh-
rung einer verbindlichen, unabhängigen und verkehrs-
trägerübergreifenden Schlichtungsstelle. Eine Anbin-
dung an die bestehende Schiedsstelle öffentlicher
Personenverkehr ist denkbar, da oft mehrere Verkehrs-
träger Gegenstand einer Beschwerde sind. Eine Schlich-
tungsstelle, die allein von den Fluggesellschaften finan-
ziert und getragen wird, für deren Tätigwerden der
Fluggast erst einmal 50 Euro Eigenbeteiligung zahlen
muss, lehnen wir ab.
Zu Protokoll
Mobilität muss ökologisch, sozial gerecht, barriere-
frei und demokratisch sein. Mit der Evaluation von Be-
schwerden im Luftverkehrsbereich beschreiten wir den
richtigen Weg.


Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711427200

Passend zur gestrigen Debatte in den Ausschüssen

über die Mitteilung der Europäischen Kommission zur
Fluggastrechteverordnung haben wir heute diesen An-
trag im Plenum. Wenn Sie mich fragen: Das war eine
schallende Ohrfeige für die Bundesregierung. Selten
habe ich in einem offiziellen Papier der EU-Kommission
so deutliche Kritik gelesen. Das will ich Ihnen auch an
einigen Punkten verdeutlichen. Sanktionen seien „nicht
wirksam, verhältnismäßig und abschreckend genug“.
Die Durchsetzung erfolge „zu komplex, zu langsam oder
praktisch gar nicht“, heißt es wenig später. Die nationa-
len Durchsetzungsstellen seien „nicht in der Lage, eine
immer größer werdende Zahl von Beschwerden inner-
halb einer angemessenen Frist ordnungsgemäß zu bear-
beiten“. Deshalb werden beispielsweise kollektive
Rechtsmittel und Schlichtungsstellen gefordert. Auch
dieser Antrag von uns lag Ihnen bereits vor.

Aber das ist ja noch lange nicht genug: In Antworten
auf zahlreiche Kleine Anfragen stellte die Bundesregie-
rung erstaunlicherweise fest, dass Parameter wie Ver-
spätungen, Annullierungen und Nichtbeförderung gar
nicht erhoben würden. Die Zahlen sind sehr wohl vor-
handen und werden bisher allein aus betriebswirtschaft-
lichen Gründen erhoben. So hat jede Airline, jeder Flug-
hafen und auch die Deutsche Flugsicherung diese
Daten. Selbst die Auskunft erteilende Behörde, das LBA,
hat Statistiken, die beispielsweise Piloten einsehen kön-
nen.

Das Problem: Das LBA bewertet lediglich die einge-
henden Beschwerden. Dabei wissen wir doch alle: Die
Beschwerden bilden nur einen Bruchteil des Problems.
Denn: Welcher Fluggast kennt die Funktion des LBA?
Nur 23 Prozent der Passagiere haben überhaupt einmal
von der Fluggastrechteverordnung“ gehört. Wer von de-
nen wendet sich bei einem Problem an das LBA? 86 Pro-
zent der Passagiere geben an, durch die Fluggesell-
schaften nicht informiert zu werden. Wir alle haben das
schon einmal erfahren. Was schlägt die Europäische
Kommission neben einer besseren Aufklärung der Flug-
passagiere vor? Ich zitiere einmal wieder aus meiner
Lieblingslektüre der vergangen Tage:

Die Verordnung würde größere Wirkung erzielen,

(unter Einhaltung der Richtlinie 95/46/EG)

zungsstellen mehr Informationen übermitteln wür-
den, die für die Veröffentlichung von Informationen
bezüglich zum Beispiel Pünktlichkeit, Zahl der von
Störungen betroffenen Flüge und angewendeten
Maßnahmen in Bezug auf Fluggastrechte hilfreich
sind.

Wir haben deshalb die laut Bundesregierung angeb-
lich „nicht erhobenen“ Daten akquiriert und für
Deutschland auswerten lassen. Dabei sind wir auf eine
Dimension gestoßen, die zeigt, wie groß die Diskrepanz



gegebene Reden

Markus Tressel


(A) (C)



(D)(B)

zwischen Rechtsanspruch und Rechtsdurchsetzung für
die Verbraucherinnen und Verbraucher ist. So sehr die
einzelnen Verordnungen auch zu kritisieren sind, das
Problem liegt keineswegs auf europäischer Ebene. Das
Problem sind die Durchsetzungsstellen; in Deutschland
also das LBA und damit eine Behörde des Verkehrs-
ministeriums.

Solange hier keine offiziellen Daten gegenüber ent-
sprechenden Tatbeständen, wie Verspätungen und An-
nullierungen etc., vorliegen, die die Probleme in der
Umsetzung der einzelnen Verordnungen verdeutlichen,
wird hier auch kein Problembewusstsein entstehen. Eine
Evaluation dieser Daten ist letztlich der nächste Schritt
in einer konsequenten Rechtsdurchsetzung. Bislang gilt
beim BMVBS die Devise: keine Rechtsgrundlage für Sta-
tistiken, keine Daten, kein Problem. Aus den Antworten,
die wir bislang erhalten haben, kann man nur eines fol-
gern: Die Bundesregierung und allen voran Staatssekre-
tär Mücke und Minister Ramsauer scheren sich nicht um
Verbraucherrechte im Reisebereich. Einzig im Verbrau-
cherministerium ist noch ein zartes Aufbegehren vor-
handen, welches regelmäßig von Ramsauer und
Leutheusser-Schnarrenberger im Keim erstickt wird.

Die Rechtsdurchsetzung wird nicht allein durch Sta-
tistiken besser. Die bestehenden Probleme zwischen
Norm und Praxis werden jedoch offensichtlich. Das wol-
len wir mit dem vorliegenden Antrag ändern. Eine Eva-
luation mit entsprechenden Lösungsansätzen darf man
von den Fachbehörden durchaus erwarten. Die Passivi-
tät, die die Antworten der Bundesregierung zeigen, ist
absolut unangemessen.

Die ungenaue oder irreführende Information der
Fluggäste durch Vertragsbedingungen der Luft-
fahrtunternehmen, durch deren allgemeine Infor-
mationen in Werbung und Presseerklärungen und
durch spezifische Angaben in ihren Antworten auf
Fluggastansprüche

– lieber Herr Ramsauer –

stellt ein erhebliches Übel dar, das in jedem Fall
geahndet werden sollte, auch wenn keine entspre-
chenden Beschwerden eingelegt wurden.

Herr Ramsauer, Sie sollten sich einmal überlegen, ob
Sie und Ihre Behörde weiter an Ihrer Lobbypolitik fest-
halten wollen. Die Rechtsdurchsetzung ist nationale An-
gelegenheit und nicht die der EU.

Der vorliegende Antrag bedeutet letztlich nur eine
Anpassung der Rechtslage an den ohnehin zu erfüllen-
den Anspruch. Selten bedeutet ein Antrag so wenig
Mehraufwand für Behörden bei so viel mehr Erfolg.
Man könnte also von einer optimalen Kosten-Nutzen-
Bilanz sprechen. Die Beschlussempfehlung, diesen An-
trag abzulehnen, ist nicht nachvollziehbar. Wenn in den
Ausschüssen Kolleginnen und Kollegen der Koalition
das Gleiche beklagen, jetzt aber gegen unseren Antrag
stimmen, ist das noch unverständlicher. Reisende wür-
den Ihnen eine Zustimmung danken.
Zu Protokoll

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711427300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5562, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/4041 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der
Grünen und Enthaltung der SPD angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Alphabetisierung und Grundbildung in
Deutschland fördern

– Drucksache 17/5914 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1711427400

Lassen sie mich zunächst auf die neuen und überaus

positiven Zahlen der Bundesagentur für Arbeit einge-
hen, die letzte Woche erst veröffentlicht worden sind.
Die Arbeitslosigkeit sinkt, und das konstant und rapide
seit dem Regierungsantritt von Angela Merkel: bundes-
weit auf 7 Prozent mit weiter sinkender Tendenz und in
meinem Wahlkreis München-Land sogar auf unter
3 Prozent. Das bedeutet fast Vollbeschäftigung. Das ist,
wie ich finde, sehr erfreulich.

Bildung ist das wichtigste Kulturgut und die zentrale
wirtschaftliche Ressource unseres Landes. Da darf es
nicht sein, dass fast 90 000 junge Menschen die Schule
ohne Abschluss verlassen. Lesen und Schreiben sind
heute und künftig elementare Fähigkeiten, deren Be-
herrschung Voraussetzung für die Gestaltung der eige-
nen Biografie ist. Nur so ist es möglich, am öffentlichen
Leben teilzunehmen. Gerade deshalb sind die veröffent-
lichten Zahlen des „Level-One Survey“-Forschungs-
projekts der Universität Hamburg, das vom Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung mit
1,3 Millionen Euro gefördert wurde, so ernüchternd.
Fast 7,5 Millionen Menschen werden in Deutschland
dem funktionalen Analphabetismus zugerechnet. Das
entspricht etwa 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevöl-
kerung. Funktional bedeutet in diesem Sinne, dass Men-
schen zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht je-
doch zusammenhängende, auch kürzere Texte wie zum
Beispiel eine schriftliche Arbeitsanweisung verstehen
können. Die Studie wurde im Rahmen der Weltalphabe-
tisierungsdekade der Vereinten Nationen erstellt mit der
Zielrichtung, die tatsächliche Größenordnung des An-



gegebene Reden

Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

alphabetismus in Deutschland wissenschaftlich zu er-
mitteln.

Ziel der Dekade der Vereinten Nationen ist es, die An-
zahl der Menschen, die nicht ausreichend lesen und
schreiben können, weltweit zu halbieren und jedem Men-
schen eine Grundbildung zu ermöglichen. Für Industrie-
länder wie Deutschland bedeutet dies in Anbetracht des
demografischen Wandels und damit sinkender Erwerbs-
tätiger, vorhandene Bildungsbenachteiligungen früh-
zeitig zu erkennen und abzubauen. Analphabetismus ist
aber auch immer im Kontext gesellschaftlicher Bedin-
gungen zu verstehen. Es ist daher kein individuell ver-
schuldetes, sondern ein gesellschaftliches Problem, des-
sen Lösung auch von der Gesellschaft bewältigt werden
muss.

Mit der erschreckend hohen Zahl funktionaler An-
alphabeten in unserem Land dürfen wir uns nicht abfin-
den. Ansätze zur Lösung des Problems gibt es viele;
zahlreiche Vorhaben zur Stärkung der Alphabetisierung
und Verbesserung der Grundbildung in Deutschland
wurden bereits auf den Weg gebracht. Deutlich wird bei
der Bekämpfung des Analphabetismus aber auch, dass
durch die Kulturhoheit der Länder gerade diese ganz
besonders gefordert werden, da die Kompetenzen des
Bundes hier nur sehr eingeschränkt sind. Dennoch ver-
sucht die Bundesregierung im engen Schulterschluss mit
den Bundesländern, das ihr Mögliche auf den Weg zu
bringen. Dafür möchte ich Frau Ministerin Schavan an
dieser Stelle herzlich danken.

Wichtig ist es, es erst gar nicht zum Analphabetismus
kommen zu lassen: Daher ist der erste Ansatz, den die
Bundesregierung in Angriff genommen hat, bereits im
Rahmen der frühkindlichen Erziehung Defizite rechtzei-
tig zu erkennen und zu beheben, bevor diese sich dann
verfestigen und zu späterem Analphabetismus führen, so
immanent wichtig. Damit werden die Möglichkeiten der
Prävention vor Schulbeginn thematisiert sowie gute Bil-
dung, Erziehung und Betreuung in den Kindertagesein-
richtungen so früh wie möglich bundesweit zur Verfü-
gung gestellt, um die Chancen aller Kinder auf
erfolgreiche Teilhabe am Bildungssystem zu erhöhen.

Jedes Kind soll von Anfang an faire Chancen haben.
Dort aber, wo es im frühkindlichen Bereich schon zu
spät ist, ist die Anstrengung umso schwieriger und he-
rausfordernder für alle Beteiligten. Aber auch hier set-
zen wir an. So ist zu begrüßen, dass sich zur nationalen
Umsetzung der Ziele der Weltalphabetisierungsdekade
die wichtigsten Akteure der Alphabetisierungsarbeit in
einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen haben.
Dies sind neben dem BMBF die Deutsche UNESCO-
Kommission, der Deutsche Volkshochschul-Verband,
der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung
e. V., der Verlag Ernst Klett Sprachen, die GEW und die
Stiftung Lesen. Die Mitglieder dieses Aktionsbündnisses
haben auf mehreren vom BMBF geförderten Fachtagun-
gen eine Reihe von Maßnahmen verabschiedet, in denen
die wichtigsten Aufgaben für die Alphabetisierungs-
arbeit definiert wurden.

Im Rahmen seiner Zuständigkeit engagiert sich das
BMBF schon seit Jahrzehnten im Bereich Alphabetisie-
Zu Protokoll
rung. So hat die Bundesregierung 2006 durch das
BMBF seine Förderung neu ausgestaltet und in einem
Förderschwerpunkt „Forschung und Entwicklung zur
Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ ge-
bündelt. Mit einer Fördersumme von rund 30 Millionen
Euro (2007 bis 2012) werden insgesamt 24 Verbund-
vorhaben mit über 100 Einzelprojekten gefördert. Wir
werden also weiterhin verstärkt das Thema Alphabeti-
sierung und Grundbildung in die Öffentlichkeit hinein-
tragen und präventiv vorgehen.

Wir empfehlen, den Antrag der SPD an den Aus-
schuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgen-
abschätzung zu überweisen.


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1711427500

Lesen und Schreiben können, ist grundlegend. Denn

es bedeutet, an der Gesellschaft teilzuhaben und sich ihr
nicht verschließen zu müssen. Oft gehen mit Analphabe-
tismus Isolation, Nicht-verstanden Werden und
mangelndes Selbstbewusstsein einher. Neuste Studien
beziffern die Zahl der Analphabeten, die keine zusam-
menhängenden Texte lesen oder schreiben können, in
Deutschland auf 7,5 Millionen. 2 Millionen von ihnen
können sogar nur einzelne Wörter schreiben. Das Ziel
von Alphabetisierung und Grundbildung ist daher unter
dem Gesichtspunkt von Arbeitsmarktintegration und
Gesellschaftsintegration gleichermaßen bedeutend.

In Ihrem Antrag wenden Sie sich dieser sehr wichti-
gen – in der öffentlichen Diskussion oft vernachlässigten –
Frage zu, was wir grundsätzlich auch nur begrüßen kön-
nen. Jedoch hält Ihr Antrag leider wenig Überraschen-
des bereit. Und werte Kollegen der SPD-Fraktion, Sie
begeben sich mit Ihrem Antrag keinesfalls auf politi-
sches Terrain, das die Bundesregierung bisher vernach-
lässigt hätte.

Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesregie-
rung hat das Thema Alphabetisierung und Grundbil-
dung bereits seit längerem auf ihrer Agenda. Erste An-
sätze in die richtige Richtung haben wir bereits in der
Großen Koalition gesetzt, sogar mit Ihnen gemeinsam.
Die jetzige christlich-liberale Bundesregierung hat die-
sen Weg nicht nur fortgeführt, sondern ihr Engagement
weiter ausgebaut.

Alphabetisierung und Grundbildung werden mit ei-
nem ganzheitlichen Ansatz erfolgreich gefördert. Das
BMBF stellt in der sogenannten Alphabetisierungsde-
kade rund 50 Millionen Euro für lösungsorientierte Pro-
jekte zur Verfügung. Davon werden allein 35 Millionen
Euro für den Förderschwerpunkt „Forschung und Ent-
wicklung zur Alphabetisierung und Grundbildung“ auf-
gewendet, da wir in Zukunft durch die frühkindliche Bil-
dung Analphabetismus vermeiden wollen.

In diesem Zusammenhang möchte ich einige konkrete
Beispiele benennen:

Um Kinder bereits in der sensiblen Prägungsphase zu
fördern, hat die Bundesregierung zum einen das Projekt
„Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen“ gemein-
sam mit der Stiftung Lesen ins Leben gerufen. Mit dem
Programm erhalten Eltern kostenlos Lesebücher und



gegebene Reden

Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

sollen zum Vorlesen und die Kinder selbst später zum
Lesen ermutigt werden.

Zum anderen stellt die Bundesregierung mit dem Pro-
gramm „Offensive Frühe Chancen: Schwerpunkt-Kitas
Sprache & Integration“ bis zum Jahr 2014 rund
400 Millionen Euro zur Verfügung. Bis zu 4 000 Kitas
können mit diesen Mitteln zusätzliches qualifiziertes
Personal finanzieren, um den Bereich Sprachförderung
und Integration weiterzuentwickeln.

Neben der frühkindlichen Bildung und Leseförderung
der Kinder im Schulalter liegt ein weiterer Schwerpunkt
bei Menschen im erwerbsfähigen Alter, die unter soge-
nanntem funktionalen Analphabetismus leiden. Immer-
hin sind zwar 57 Prozent dieser Analphabeten in die Ar-
beitswelt integriert. Sie arbeiten jedoch meistens
unterhalb ihrer fachlichen Qualifikation bzw. persönli-
chen Befähigung. Unser Ziel ist es daher, den bisher vom
Erwerbsleben ausgeschlossenen Menschen die Möglich-
keit zu geben, Sprache zu beherrschen, einen Job zu er-
lernen und diesem auch nachzugehen. Die unter ihrer
Qualifikation tätigen Personen wollen wir durch ge-
zielte Förderungen besser in die Arbeitswelt integrieren.
So eröffnen wir ihnen die Chance auf eine adäquate Be-
schäftigung, schaffen Motivation und Selbstbestätigung.

Werte Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie fordern
mit Ihrem Antrag die Bundesregierung nun unter ande-
rem auf, gemeinsam mit den Ländern und den Kommu-
nen ein „Grundbildungspaket“ zu vereinbaren. Die Idee
ist gut, aber nicht neu und Ihre Forderung damit über-
holt. Die Bundesregierung hat diesen Ansatz bereits im
Frühjahr dieses Jahres aufgegriffen und gemeinsam mit
den Ländern ein breites gesellschaftliches Bündnis erar-
beitet. An diesem Bündnis werden auch Unternehmens-
verbände, Kammern, Gewerkschaften und Volkshoch-
schulverbände beteiligt.

Was die weiteren Forderungen angeht, erscheinen
diese ebenfalls weder zielführend noch erforderlich. Ich
deutete es bereits an: Um die Alphabetisierung und
Grundbildung nachhaltig und umfassend zu fördern,
müssen wir uns verdeutlichen, welche Maßnahmen ziel-
führend und wahrhaftig erfolgversprechend sind. Ein-
fach den Geldhahn aufzudrehen oder unzählige, nicht
zielorientierte Einzelmaßnahmen frei nach dem Gieß-
kannenprinzip zu fördern, wird es mit uns nicht geben.

Doch neben all den Forschungs- und Fördervorha-
ben dürfen wir eines nicht vergessen: Teilhabe an Ge-
sellschaft und Erwerbsleben wird uns darüber hinaus
nur mit einem breiten gesellschaftlichen Engagement
gelingen. Es ist also auch unerlässlich, dass sich die
Bürgerinnen und Bürger gegenseitig unterstützen, in-
dem sie Neugier und den Lernwillen in einer Vorbild-
funktion an die Kinder – auch aus den bildungsfernen
Elternhäusern – weitergeben. Hier sollten alle Akteure
aus Gesellschaft, Politik, Bildungswesen und Wirtschaft
Hand in Hand arbeiten.

Durch größere Sensibilität im Umgang mit Analpha-
betismus können wir dazu beitragen, dass wir Betroffene
in unsere gesellschaftliche Mitte holen und nicht an den
Rand verdrängen. Die Bundesregierung hat sich der Al-
Zu Protokoll
phabetisierung und Grundbildung in Deutschland be-
reits mit großem Engagement zugewandt. Fortschritte in
die richtige Richtung sollten daher nicht durch wieder
neue Projekte, Programme und föderale Abstimmungs-
prozesse ausgebremst werden. Aus diesem Grund wer-
den wir Ihrem Antrag auch nicht zustimmen können.

Ich fordere Sie daher auf, lieber gemeinsam mit uns
den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und abseits von
Parlamenten und Verwaltungen die Gesellschaft zu
mehr gegenseitiger Unterstützung zu bewegen und im
gesellschaftlichen Konsens Alphabetisierung und
Grundbildung in Deutschland nachhaltig zu erreichen.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1711427600

Mit unserem Antrag „Alphabetisierung und Grund-

bildung in Deutschland fördern“ wollen wir einen Bei-
trag dazu leisten, dass endlich ein bildungspolitisches
Tabu aufgebrochen wird, das viel zu lange in Deutsch-
land gegolten hat, nämlich das Tabu, dass Analphabetis-
mus ein Thema in unterentwickelten Ländern ist, in fer-
nen Kontinenten und nur weit weg von hochmodernen,
hochindustrialisierten und hochgebildeten Gesellschaf-
ten und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland.
Dieses Tabu war und ist nicht gut für die Betroffenen,
und es war und ist nicht gut für die Gesellschaft insge-
samt. Experten, Fachverbände und Wissenschaftler sind
bekanntlich Jahre lang von geschätzten 4 Millionen pri-
mären und funktionalen Analphabeten in Deutschland
ausgegangen, eine Zahl, die für sich schon schlimm ge-
nug war. Aber sie hat in der Vergangenheit keine bil-
dungspolitische Bewegung ausgelöst, wie sie beispiels-
weise der sogenannte PISA-Schock erzeugen konnte.
Über die Gründe sollten sich alle Beteiligten parteiüber-
greifend, ohne Schuldzuweisungen, aber selbstkritisch
und lernfähig noch einmal austauschen.

Immerhin hat sich die damalige Bundesregierung
2003 zusammen mit den Akteuren der Alphabetisie-
rungsarbeit auf die nationale Umsetzung der Weltalpha-
betisierungsdekade verpflichtet, die als Ziel hatte, bis
2012 die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend le-
sen und schreiben können, weltweit zu halbieren und je-
dem Menschen eine Grundbildung zu ermöglichen. Statt
uns über eine Halbierung freuen zu können, erfahren wir
jetzt durch neue wissenschaftliche Studien im Jahr 2011,
dass die Zahl der funktionalen Analphabeten in
Deutschland in Wirklichkeit fast doppelt so hoch ist wie
ursprünglich angenommen, nämlich 7,5 Millionen. Das
muss uns alle erst recht schockieren und zu gemeinsa-
men neuen Anstrengungen veranlassen, zumal wir eine
Kanzlerin haben, die die „Bildungsrepublik“ ausgeru-
fen hat.

Was ist nun die neu festgestellte und offensichtlich
schon länger vorhandene reale Ausgangslage, mit der
wir uns in Deutschland tabulos befassen müssen? Die
Studie „leo – Level-One Survey“ hat 2010 im Auftrag
des BMBF die Größenordnung des Analphabetismus un-
ter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und
64 Jahren untersucht. Die Ergebnisse der Studie wurden
Anfang dieses Jahres vorgestellt. Danach betrifft der
Analphabetismus im engeren Sinne mehr als 4 Prozent



gegebene Reden

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

der erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 18 bis
64 Jahren. Das entspricht einer Größenordnung von
2,3 Millionen Menschen, die zwar einzelne Wörter le-
send verstehen bzw. schreiben können, nicht jedoch
ganze Sätze. 300 000 Menschen davon können noch
nicht einmal ihren Namen schreiben.

Aber auch der funktionale Analphabetismus weist ein
beängstigend hohes Ausmaß auf und betrifft kumuliert
14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. 7,5 Mil-
lionen Menschen in Deutschland können danach zwar
einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusam-
menhängende – auch kürzere – Texte. Die Betroffenen
sind damit nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Le-
ben oder am Arbeitsleben angemessen teilzunehmen; sie
können schriftliche Arbeitsanweisungen nicht verstehen,
schon gar nicht Zeitungen und Bücher lesen.

Drei Sachverhalte wollen wir aus dieser Studie be-
sonders herausstellen: Der erste besondere Sachverhalt
ist, dass von den funktionalen Analphabeten knapp
57 Prozent erwerbstätig sind und nur 17 Prozent ar-
beitslos. Dieser Fakt hat sicherlich nicht nur mich über-
rascht, sondern wirft allgemein viele Fragen auf: Wie
sollen wir uns vorstellen, dass mehrere Millionen Men-
schen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, keine zu-
sammenhängende Texte lesen können? Wie kommen
diese Menschen trotzdem einigermaßen klar? Welche
„Überlebensstrategien“ haben sie entwickelt? Hier
wird noch viel wissenschaftliche Aufklärung, aber auch
persönliches Verständnis und persönliche Einfühlung
von uns allen zu leisten sein.

Ein zweiter besonderer Sachverhalt ist in unseren Au-
gen, dass etwa 20 Prozent der funktionalen Analphabe-
ten 18 bis 29 Jahre alt sind. Junge Menschen, die vor
kurzem die Schule verlassen haben, können danach
keine Bedienungsanleitung, keine Zeitung lesen oder
keine Formulare ausfüllen. Folglich können sie auch
nur sehr eingeschränkt mit dem Internet umgehen, wel-
ches für die junge Generation besonders hohen Stellen-
wert hat. Wie abgeschnitten müssen sie dadurch von
wichtigen Kommunikations- und Teilhabeprozessen
sein?

Als dritter Sachverhalt erscheint uns besonders be-
merkenswert, dass nur 19,3 Prozent der funktionalen
Analphabeten keinen Schulabschluss haben. Ein großer
Teil der funktionalen Analphabeten hat also Texte lesen
und schreiben gelernt, einen Bildungsabschluss ge-
macht, diese vorhandenen mehr oder weniger ausgebil-
deten Fähigkeiten im Laufe der Zeit aber wieder ver-
lernt.

Dies alles muss uns „wachrütteln“! Dieser „ALPHA-
Schock“ darf nicht ohne Antwort bleiben. Es kann nicht
sein, dass der PISA-Schock vor circa zehn Jahren wie
ein Blitz durch die Republik gegangen ist und unendli-
che Diskussionen über bzw. Konsequenzen für unser
Schulsystem ausgelöst hat, während das katastrophale
Ausmaß des Analphabetismus in Deutschland direkt
nach Veröffentlichung der Studie gerade einmal in
13 Zeitungsartikeln Erwähnung gefunden hat und dann
die Ergebnisse der Studie ins Nichts zu verpuffen dro-
hen, wenn wir nicht politisch aufwachen, aufpassen und
Zu Protokoll
uns engagieren. Ich sage noch einmal: Parteiübergrei-
fend aufwachen, aufpassen und uns engagieren, gemein-
sam mit Parlament und Regierung in Bund und Ländern,
mit den Sozialpartnern und Verbänden sowie mit den
Betroffenen und ihren Initiativen. Alphabetisierung ist
eine Gemeinschaftsaufgabe jenseits von politischen
Ideologien und verfassungsrechtlichen Zuständigkei-
ten. Denn im Prinzip dürften wir uns alle einig sein, dass
hier Entscheidendes getan werden muss. Wir dürfen das
Thema nicht immer wieder an den Rand drängen bzw.
vergessen und verdrängen, nur weil die Menschen, die
es betrifft, keine Lobby haben, auf sich aufmerksam zu
machen.

Herr Spiewak von der Wochenzeitung „Die Zeit“, die
sich als einzige überregional bedeutsame Zeitung inten-
siv mit der Alpha-Level-Studie auseinandergesetzt hat,
hat recht: Wir dürfen nicht länger wegschauen! Grund-
bildung bzw. Alphabetisierung ist eine elementare Auf-
gabe der Bildungspolitik, ein persönlicher existenzieller
Bedarf und eine gesellschaftlich existenzielle Notwen-
digkeit, wenn wir nicht ganze Bevölkerungsgruppen aus
dem gesellschaftlichen bzw. aus dem Erwerbsleben
nachhaltig auszuschließen wollen. Wir alle zusammen
müssen deshalb das Thema mit Nachdruck auf die
Agenda bringen.

Es ist hohe Zeit, mit einem „ALPHA-Grundbildungs-
pakt“ zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie
allen gesellschaftlichen Kräften die Anzahl der funktio-
nalen Analphabeten in Deutschland so schnell es geht zu
halbieren. Wir brauchen deutlich mehr Alphabetisie-
rungskurse, mehr Angebote berufsbegleitender Grund-
bildung und mehr soziale Begleitung der Betroffenen.
Wir brauchen eine zielgruppenorientierte Medienkam-
pagne, eine „ALPHA-Offensive“, damit Analphabetis-
mus entstigmatisiert wird und die Betroffenen ermutigt
werden, aus ihrer Anonymität herauszutreten und Kurse
zu besuchen. Hierbei brauchen wir nicht nur die Mas-
senmedien – wie Fernsehen und Radio –, sondern auch
die Hilfe der Familien, der Vereine und der Nachbar-
schaft, um Brücken zu bauen. Ebenso setzen wir uns ein
für einen Ausbau des Berufsbildes „Alphabetisierungs-
und Grundbildungspädagoge“.

Am Ende meiner Rede möchte ich großen Respekt und
Anerkennung an die Betroffenen aussprechen, die die
Scham überwunden haben und sich zu erkennen gege-
ben sowie den Kampf gegen den Analphabetismus auf-
genommen haben. Für ihren Mut zu diesem Schritt be-
wundere ich sie. Ich wünsche mir noch mehr solche
mutigen Menschen und ebenso viele Helfer in ihrem
Umfeld, die ihnen diesen schweren Schritt erleichtern.

Darüber hinaus möchte ich meinen herzlichen Dank
an alle Träger und Akteure der Alphabetisierungsarbeit
aussprechen. Sie leisten mit knappen Ressourcen – sei es
in Kursen oder in der Entwicklung von Lernportalen
etc. – Pionierarbeit. Pionierarbeit, die helfen kann,
diese Art des „Bildungsnotstands“ in unserem Land zu
überwinden. Dass dies jetzt endlich mit einem umfang-
reichen politischen Programm auch wirklich nachhaltig
und erfolgreich geschieht, das ist allerdings die Aufgabe
von uns als Parlamentarier und Regierung, denn sonst



gegebene Reden

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

sind die vielen betroffenen Menschen einmal mehr im
Tabu allein gelassen. Das haben sie allerdings wahrlich
nicht verdient.


Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1711427700

Die hohe Zahl von 7,5 Millionen funktionalen An-

alphabeten in Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht
eine besondere Mahnung, die uns die Forscher der
LEO-Studie am Ende der Weltalphabetisierungsdekade
der Vereinten Nationen mit auf den Weg geben. Denn Le-
sen und Schreiben sind nicht nur Grundtechniken. Die
Forscher der PISA-Studie beschreiben beispielsweise
Lesekompetenz vielschichtiger. Sie schreiben:

Lesekompetenz wird im Sinne einer Basiskompetenz
verstanden, von der angenommen wird, dass sie in
modernen Gesellschaften für eine befriedigende Le-
bensführung in persönlicher und wirtschaftlicher
Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesell-
schaftlichen Leben notwendig ist.

Insofern müssen wir die Herausforderung grundle-
gend verstehen. Alphabetisierung und Grundbildung
sind Aufgaben, die an konkreten Lebenssituationen von
Menschen anknüpfen und die sie umfassend in die Lage
versetzen müssen, auf eigenen Beinen am Leben der Ge-
sellschaft umfassend teilhaben zu können.

Deshalb fordert die SPD-Fraktion auch einen umfas-
senden Grundbildungspakt, den der Bund mit den Län-
dern und Kommunen abschließen sollte. Sein Ziel muss
sein, die Zahl der funktionalen Analphabeten in einem
übersichtlichen Zeitraum zu halbieren. Diese nationale
Aufgabe muss der Bund ressortübergreifend angehen.
Und er muss Länder und Kommunen angemessen dabei
unterstützen. Deshalb fordern wir bei einem Ausbau der
Kursplätze auf bis zu 100 000 die Beteiligung des Bun-
des mit mindestens 20 Millionen Euro an den Kosten.

Der Grundbildungspakt bildet das Dach für alle Akti-
vitäten. Er umfasst jedoch nicht alle Aufgaben, sondern
ermöglicht die Verständigung darüber, Aktivitäten auf
allen Ebenen und bei allen Akteuren anzustoßen. Wir se-
hen hier als SPD-Fraktion fünf wesentliche Aufgaben-
felder:

Erstens. Wir brauchen wirksame Instrumente, um An-
alphabetismus in den Betrieben und Verwaltungen dis-
kriminierungsfrei erkennen zu können und Grundbil-
dung zu fördern. Hier sind natürlich insbesondere die
Sozialpartner in den Betrieben zu unterstützen, An-
alphabetismus im Betrieb zu erkennen. Die Herausfor-
derung stellt sich aber ebenso für die Behörden, die für
den Umgang mit Analphabetismus zu sensibilisieren
sind. Deshalb fordern wir unter anderem auch, dass die
Bundesagentur für Arbeit Alphabetisierung und Grund-
bildung als Voraussetzung für die Integration in den Ar-
beitsmarkt versteht und entsprechende Maßnahmen för-
dert.

Zweitens. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis
von Qualität in der Grundbildung und Vereinbarungen
über Standards und nutzerorientierte Zertifikate. Rah-
mencurriculum, ein System von Zertifikaten, das Lern-
fortschritte arbeitsweltbezogen dokumentieren kann,
Zu Protokoll
Standards für die Aus- und Weiterbildung von Kursleite-
rinnen und Kursleitern sowie die Berufsausbildung zum
Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen sind
Instrumente, um eine hohe und vergleichbare Qualität
der Grundbildungsangebote zu gewährleisten. Dazu ge-
hört auch, die bestehenden Kurse in enger Zusammenar-
beit mit den Trägerorganisationen laufend zu evaluieren
und zu verbessern.

Für die Schulen gelten in Zusammenarbeit mit den
Bundesländern ebenso ehrgeizige Ziele: Wir müssen es
schaffen, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die
ohne die grundlegendsten Lese- und Schreibkenntnisse
die Schule verlassen, gegebenenfalls auch mittels För-
derangeboten außerhalb der Regelschulzeit deutlich zu
verringern.

Drittens. Mit Analphabetismus verbinden sich nicht
selten weitere Probleme bei den Betroffenen. Deshalb
muss in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Kommu-
nen und der Bundesagentur für Arbeit sichergestellt
werden, dass Alphabetisierungskurse sozialpädagogisch
begleitet werden, um die Probleme umfassend lösen zu
können.

Viertens. Wir brauchen ein dicht gestaffeltes Netz von
Beratungs- und Informationseinrichtungen. Vor Ort
müssen die Betroffenen auf eine flächendeckende und
niedrigschwellige Bildungsberatung mit spezifischen
Kenntnissen zurückgreifen können. Diese soll unter-
stützt werden durch eine bundesweite Service-, Bera-
tungs- und Informationsstelle. Sie kann helfen, bundes-
weite Kampagnen zu starten, damit Betroffene ermutigt
werden, aus der Anonymität herauszutreten und einen
Alphabetisierungskurs zu besuchen.

Im Übrigen sollten auch Behörden und Politik stärker
für das Thema sensibilisiert werden. Unserer Meinung
nach gehört auch die Aufnahme des Themenbereichs
„Funktionaler Analphabetismus“ in die Nationale
Bildungsberichterstattung zu den Maßnahmen, die ei-
nerseits öffentlich sensibilisieren und andererseits not-
wendiges Wissen für Administration und Politik kontinu-
ierlich bereitstellen können.

Fünftens. Die Städte und Gemeinden müssen gezielt
unterstützt werden beim Aufbau von Alphabetisierungs-
und Grundbildungsnetzwerken. Deshalb ist es beson-
ders wichtig, die gezielte Arbeit in besonders betroffe-
nen Stadtteilen zu erleichtern, zum Beispiel, indem das
bewährte Programm „Soziale Stadt“ um den Bereich
der Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse ergänzt
und erneuert wird.

Sicherlich können im Rahmen dieser Debatte Lö-
sungsansätze nur umrissen werden. Uns ist jedoch be-
sonders wichtig, dass wir nun endlich in einen intensi-
ven Dialog mit den Akteuren der Alphabetisierung und
Grundbildung eintreten, um etwas für die Betroffenen zu
erreichen. Denn wir können und wir wollen es uns vor
allem nicht leisten, dass 7,5 Millionen Menschen auf-
grund von funktionalem Analphabetismus von vollstän-
diger gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen blei-
ben.



gegebene Reden

(A) (C)



(D)(B)


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1711427800

Bereits im Jahr 2000 wurde auf dem Weltbildungs-

forum in Dakar das UNESCO-Programm „Bildung für
alle“ auf den Weg gebracht. Eines der sechs bis zum
Jahr 2015 zu erreichenden Bildungsziele ist die Halbie-
rung der Analphabetenrate weltweit. Im Zuge der 2003
ausgerufenen Weltalphabetisierungsdekade, die dieses
Ziel befördern soll, wurde für Deutschland mit der
Level-One-Studie – leo – dieses Jahr erstmals belast-
bares Zahlenmaterial zur Größenordnung des funktio-
nalen Analphabetismus vorgelegt.

Diese jüngsten empirischen Befunde machen darauf
aufmerksam, dass die Zahl derjenigen, die nur ein rudi-
mentäres Textverständnis – funktionaler Analphabetis-
mus – aufweisen, bei 14,5 Prozent – 7,5 Millionen Men-
schen – der erwerbsfähigen Bevölkerung liegt. Der
größte Teil, 32,6 Prozent der Betroffenen, befindet sich
in den Alterskohorten der 50- bis 64-Jährigen. Beunru-
higend sind jedoch vor allem die 20 Prozent der funktio-
nalen Analphabeten im Alter zwischen 18 und 29 Jah-
ren.

Der Antrag der SPD greift also ein Thema auf, das
durchaus von bildungspolitischer und ökonomischer Re-
levanz ist.

67 Prozent der funktionalen Analphabeten verfügen
über keinen oder einen unteren Bildungsabschluss. Psy-
cho-organische Beeinträchtigungen oder Analphabetis-
mus durch fehlende Praxis erklären die weiteren 23 Pro-
zent. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Ursachen für
das aufgeführte Phänomen vor allem bei den Defiziten
im Bereich der allgemeinschulischen Bildung gesucht
werden sollten.

Jedes Jahr verlassen fast 65 000 Jugendliche die
Schule ohne Abschluss, häufig gerade aufgrund man-
gelnder Schreib- und Lesekompetenzen. Lesen und
Schreiben sind der Schlüssel zum lebenslangen Lernen,
Grundbildung die Voraussetzung für gesellschaftliche
und berufliche Teilhabe.

Es muss leider festgehalten werden, dass die Abbre-
cherquote der SPD-geführten Bundesländer Berlin – von
9,9 Prozent auf 11,5 Prozent –, Brandenburg – 11,7 Pro-
zent auf 13 Prozent – und Mecklenburg-Vorpommern
– 12,1 Prozent auf 16,8 Prozent – in den vergangenen
Jahren auf ein trauriges Rekordniveau gestiegen sind,
während sich die Bildungsinvestitionen von Baden-
Württemberg – 6,3 Prozent auf 5,6 Prozent –, Bayern
– 7,2 Prozent auf 6,4 Prozent – und Hessen – 8,1 Prozent
auf 7 Prozent – auszahlen. Da der Kampf gegen den An-
alphabetismus vor allem in der Schule gewonnen oder
verloren wird, ist diese zweigeteilte Entwicklung durch-
aus beachtenswert.

Schließlich sei noch einmal an das Engagement der
Bundesregierung erinnert, welche mit 26 Millionen
Euro jährlich das Programm „Lesestart – Drei Meilen-
steine für das Lesen“ der Stiftung Lesen fördert. Hierbei
soll vor allem durch ein niedrigschwelliges Angebot die
Lesebegeisterung bei Kindern innerhalb der Familien
geweckt werden; denn wer früh und regelmäßig liest, hat
später bessere Chancen. Schlechte Schulleistungen re-
Zu Protokoll
sultieren oft aus Versäumnissen in der frühen Kindheit.
Die PISA-Ergebnisse haben gezeigt, dass viel zu viele
Schüler große Probleme mit dem Lesen und Verstehen
von Texten haben. Vorlesen in der Kindheit ist daher ein
wichtiger Impuls bei der Entwicklung von Lese- und
Sprachfähigkeiten und der Konzentrationsfähigkeit.

Dass ein Projekt aus meinem Wahlkreis – Family
Literacy, FLY, des Landesinstituts für Lehrerbildung und
Schulentwicklung in Hamburg – den UNESCO-Alpha-
betisierungspreis 2010 erhalten hat, freut mich beson-
ders; denn hier wird die gesamte Familie in den Prozess
einbezogen, und die Eltern werden darin gestärkt, den
Schriftspracherwerb ihrer Kinder früh zu unterstützen.

Zudem fördert das Bundesministerium für Bildung
und Forschung das Internetportal iCHANCE, mit wel-
chem vor allem junge Erwachsene angesprochen und
informiert werden. Internetangebote bieten durch die
Interaktivität in sozialen Netzwerken vielfältige Mög-
lichkeiten zur Information, zur Bewusstseinsbildung und
zum Abbau von Vorurteilen. Es ist nicht einfach, sich mit
seinen Lese- und Rechtschreibschwächen zu offenbaren.
Daher müssen wir ein offenes und unterstützendes
Klima in unserer Gesellschaft schaffen.

Die SPD weist im vorliegenden Antrag weiter darauf
hin, dass gerade die kommunal getragenen Volkshoch-
schulen als „Reparaturwerkstatt“ im Bereich des An-
alphabetismus tätig sind. Sicherlich wäre es wünschens-
wert, das Kursangebot auszuweiten und den
Qualifikationsgrad der Kursleiter noch weiter zu stei-
gern. Doch diesbezüglich stehen zunächst einmal Kom-
munen und Länder in der Pflicht.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711427900

Analphabetismus ist trotz der vermeintlich guten Schul-

bildung in Deutschland seit Jahren ein bekanntes Pro-
blem. Nun weist die LEO-Studie der Uni Hamburg nach,
dass es weit größer ist als bisher angenommen. In der Öf-
fentlichkeit wird es allerdings oft noch als Randthema be-
trachtet. Der SPD-Antrag nimmt die Studie zum Anlass,
um einen „Grundbildungspakt“ von Bund, Ländern und
Kommunen zu fordern und eine lange Liste von Maßnah-
men, die ihr geeignet scheinen, die Zahl der Betroffenen in
Deutschland zu halbieren.

Auffällig ist, dass in Veröffentlichungen wenig da-
rüber zu finden ist, warum die Zahl der funktionalen An-
alphabeten mit 7,5 Millionen betroffenen Menschen in
der erwachsenen deutschsprachigen Bevölkerung so
hoch ist und warum es noch einmal mehr als 13 Millio-
nen Menschen sind, die nur fehlerhaft lesen und schrei-
ben können. Nicht erklärt werden kann auch, warum es
deutlich mehr Männer als Frauen unter den Betroffenen
gibt.

Wenngleich der Anteil der betroffenen Menschen
ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten, die
keinen oder nur einen niedrigen Schulabschluss und/
oder einen Migrationshintergrund haben, besonders
hoch ist, muss auch die Frage gestellt werden, warum
Analphabetismus auch bei Menschen mit höherem
Schulabschluss in beträchtlichem Maße auftritt?



gegebene Reden

Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

Wenn aber diese Ursachen nicht hinreichend klar
sind, wird es schwer, wirksame und nachhaltige Gegen-
strategien zu finden. Es gibt offensichtlich noch einen
erheblichen Forschungsbedarf.

Der Antrag der SPD allerdings zielt zunächst darauf,
die Symptome zu bekämpfen. Das ist ehrenwert und not-
wendig. Einige Dinge kommen mir dabei allerdings zu
kurz, bzw. ich würde sie ob ihrer Angemessenheit infrage
stellen.

Die erste und offensichtlich wichtigste Ursache liegt
in der Qualität der Schulbildung und der starken Abhän-
gigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Situation
in den Familien. Wir wissen seit der ersten PISA-Studie,
dass die Lesefähigkeit der Schulabgängerinnen und
Schulabgänger zu wünschen übrig lässt. Damals wurde
mehr als 22 Prozent der Jugendlichen bescheinigt, nur
schlecht lesen zu können. Die damals 15-Jährigen sind
heute 25. Viele von ihnen dürften sich heute unter den
13 Prozent der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen
wiederfinden, die als funktionale Analphabeten gelten
müssen.

Wer nicht lesen und schreiben kann, ist in den Mög-
lichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
stark eingeschränkt, findet schwerer eine Arbeit, hat da-
mit weniger Einkommen, kann den eigenen Kindern
nicht so gut helfen usf. So setzt sich ein Teufelskreis in
Gang, aus dem ganze Familien nicht mehr herauskom-
men. PISA 2009 bescheinigte noch immer 18 Prozent
schlechte Leserinnen und Leser. In den vergangenen
zehn Jahren ist in Schule und Gesellschaft zu wenig pas-
siert, um hier Abhilfe zu schaffen. Wenn es diesen Zu-
sammenhang zwischen der Qualität der Lesefähigkeit,
die in der Schule erworben wird, und der Zahl der An-
alphabeten gibt – und alles spricht dafür –, dann besteht
die Gefahr, dass sich der Teufelskreis fortsetzt. Wenn An-
alphabetismus in der Zukunft verringert werden soll,
dann darf man nicht nur die Symptome des eingetrete-
nen Analphabetismus bekämpfen, sondern muss dort an-
setzen, wo ein Großteil der Ursachen liegt: in der
Schule!

Dazu aber gibt es gerade einmal einen Punkt unter
insgesamt 21 im Antrag der SPD. Hier aber muss man
vor allem ansetzen, wenn Analphabetismus in der Zu-
kunft spürbar verringert werden soll. Sonst hangelt man
sich auch künftig von Hilfsprogramm zu Hilfsprogramm.

Wir brauchen mehr Qualität in Schule, die ausfinan-
ziert werden muss, und ausreichendes und gut ausgebil-
detes pädagogisches Personal auf allen Bildungsebe-
nen. Ich verweise auf unsere diesbezüglichen Anträge.

Hinzu kommt das dringende Erfordernis, die soziale Si-
tuation der Familien zu verbessern. Geringes Einkommen
in sozial benachteiligten Familien beschneidet auch die
Möglichkeiten, Bildungs- und Kulturangebote überhaupt
in Anspruch zu nehmen. Zwar sucht die Bundesregierung
nun über das Bildungs- und Teilhabepaket, dem zumindes-
tens für Kinder und Jugendliche entgegenzuwirken, aber
der gesamte Ansatz bleibt unbefriedigend und reicht auch
in der Summe nicht aus. Pikant ist in diesem Zusammen-
hang, dass der Bund in diesem Paket Mittel für Nachhilfe
Zu Protokoll
über die Jobcenter zur Verfügung stellt, aber die Bundes-
agentur für Arbeit die Nachfrage des Bundesverbandes
Alphabetisierung und Grundbildung e. V. nach der Mög-
lichkeit der Finanzierung von Alphabetisierungskursen
verneint hat. Es sei nicht Aufgabe der Grundsicherung für
Arbeitslose. Ja was denn nun? Nachhilfe bei schlechten
Lernleistungen in der Schule – ja, Förderung der Alphabe-
tisierung für eine bessere Vermittlung am Arbeitsmarkt –
nein? Die Logik muss mir einer erklären!

Ein zweiter Kritikpunkt am SPD-Antrag: Wer An-
alphabeten den Schritt zum Lesen- und Schreibenlernen
erleichtern will, braucht niedrigschwellige Angebote,
die nicht stigmatisieren, die zugänglich und einladend
sind, auch wenn sich die Betroffenen nur wenig am ge-
sellschaftlichen Leben beteiligen (können). Sie müssen
vielleicht auch über Umwege an die potenziellen Schüle-
rinnen und Schüler gebracht werden.

Die Forderung, Menschen mit geringer Grundbil-
dung im Betrieb ausfindig zu machen, halte ich auch bei
besten Absichten eher für schwierig. Vielmehr sehe ich
hier eine große Gefahr von Stigmatisierung, die dann
wieder zur Perfektionierung von Meidverhalten führen
kann, aus Angst sich zu outen oder bloßgestellt zu wer-
den, möglicherweise die Arbeit zu verlieren.

Für sehr richtig und wichtig halten wir dagegen den
Aufbau eines öffentlich finanzierten Systems der Bil-
dungsberatung, in dem geschultes Personal tätig ist und
ebenso praktische wie psychologische Hilfe leicht und
gebührenfrei gegeben werden kann.

Überhaupt muss es ein Recht auf solche, auch nach-
holende Angebote der Grundbildung geben, und sie
müssen öffentlich finanziert werden. Die grundlegende
Beherrschung der Kulturtechniken ist eine wichtige Vo-
raussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie darf kei-
nem Menschen verwehrt werden.

Die Probleme des Analphabetismus sind lange be-
kannt. Abhilfe ist hier nicht in einem einmaligen Kraft-
akt und in kurzen Zeiträumen zu schaffen. Wenn man
aber nicht dort anfängt, wo die Hauptursache des Pro-
blems liegt, in der Schule und der sozialen Absicherung
von Menschen, wird es größer und auf künftige Genera-
tionen vererbt.

Petra Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Mit der aktuellen leo-Level-One-Studie liegen nun
endlich zum ersten Mal nationale, belastbare und diffe-
renzierte Daten zur Literalität im Level-One-Bereich vor,
dem untersten Kompetenzniveau im Lesen und Schrei-
ben. Die Ergebnisse der Studie, die uns seit Anfang März
vorliegen sind erschreckend: Die Zahl der funktionalen
Analphabeten in Deutschland ist doppelt so hoch wie
bisher angenommen. Bislang waren Experten von insge-
samt vier Millionen funktionalen Analphabeten ausge-
gangen, in der Realität sind es jedoch 7,5 Millionen!
7,5 Millionen Menschen, deren schriftsprachliche Kom-
petenzen nicht ausreichen, um beispielsweise einfache
Texte zu verstehen oder zu verschriftlichen. 7,5 Millio-
nen Menschen, deren Teilhabe am gesellschaftlichen,



gegebene Reden

Petra Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

sozialen Leben und an der Arbeitswelt massiv einge-
schränkt ist, deren Lebensqualität tagtäglich darunter
leidet. Zwar sind 57 Prozent der Betroffen erwerbstätig,
doch häufig in sehr schlecht bezahlten Jobs. Ihr Arbeits-
leben ist geprägt von inneren Ängsten sowie vom Zwang
zu vertuschen und vorzutäuschen.

Das Problem des Analphabetismus ist in Deutschland
lange Zeit nicht ausreichend im öffentlichen Bewusst-
sein gewesen. Ich begrüße es deshalb außerordentlich,
dass dieses Thema nun im Bundestag zur Diskussion
steht und die SPD mit ihrem Antrag viele wichtige
Punkte zur Verbesserung der Situation aufzeigt.

Die aktuelle Erkenntnisse belegen das Ausmaß des
Analphabetismus, die Dringlichkeit einer besseren Al-
phabetisierung und damit auch der Grundbildung in
Deutschland. Dies betrifft zum einen den primären An-
alphabetismus, bei dem Menschen aus verschiedensten
Gründen nicht in der Lage sind, sich Schriftsprache an-
zueignen, zum anderen die bereits erwähnte, weitaus
größere Gruppe, der funktionalen Analphabeten.

Wenn man sich die Zahlen nach Altersgruppen diffe-
renziert ansieht, besteht ebenfalls kein Grund zur Ent-
warnung. Zwar ist die Zahl der funktionalen Analphabe-
ten bei der Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen am
höchsten, doch finden sich auch bei den 18- bis 29-Jäh-
rigen fast 20 Prozent wieder. Auffällig ist weiterhin, dass
über 60 Prozent der funktionalen Analphabeten männ-
lich sind.

Angesichts der immer höheren Anforderungen auf
dem Arbeitsmarkt werden die beruflichen Möglichkeiten
dieser Menschen immer geringer und ihre Perspektivlo-
sigkeit wächst. Hier haben die Erwachsenenbildung und
die Volkshochschulen auch in Zukunft eine wichtige
Funktion. Notwendig ist es, die bereits 2003 von der vom
Bundesbildungsministerium geförderten Tagung ge-
meinsam mit den wichtigsten Akteuren der Alphabetisie-
rungsarbeit formulierten „Bernburger Thesen“ mit vol-
ler Kraft umzusetzen und die bisher eingeleiteten
Maßnahmen zu evaluieren.

Ein besonderer Handlungsauftrag für die Politik liegt
in der erschreckenden Tatsache, dass die meisten dieser
funktionalen Analphabeten in Deutschland eine Schule
besucht haben und dort offenbar Lesen und Schreiben
nur unzureichend gelernt oder später wieder verlernt
haben. Wissenschaftler bestätigen den Verdacht, dass
viele der späteren Analphabeten in der Schulzeit nur
schlecht, aber zumindest hinreichend, lesen und schrei-
ben können, dass diese Fähigkeit nach dem Verlassen
der Schule jedoch verkümmert, wenn sie nicht gepflegt
wird.

Um dem Entgegenzusteuern ist eine Bewusstseinsbil-
dung in allen Bereichen des menschlichen Lebens von-
nöten, um betroffene Personen zu ermutigen, sich dem
Problem zu stellen. Insbesondere den Kolleginnen und
Kollegen und Vorgesetzten im Betrieb fällt dabei eine
wichtige Aufgabe zu. Aber auch in anderen Bereichen
gilt es aufmerksam zu sein: So steigt beispielsweise die
Anzahl derjenigen, die sich die Fragen zur Fahrprüfung
Zu Protokoll
lieber vorlesen lassen, als sie eigenständig zu bearbei-
ten.

In der Schule hat sich in letzten Jahren in Bezug auf
individuelle Förderung Vieles verbessert – die schwa-
chen Schüler werden besser unterstützt, die Klassen sind
kleiner. Dennoch schafft es unser Bildungssystem offen-
bar immer noch nicht, allen Kindern und Jugendlichen
ein Mindestmaß an Bildung zu vermitteln. Professor
Grotlüschen, die die leo-Level-One-Studie durchgeführt
hat, bemängelt, dass es allein den Grundschulen über-
lassen wird, sich um die Basis des Lesens und Schrei-
bens zu kümmern. Das sei ein falscher Ansatz, da einige
Kinder langsamer lernen und auch in der weiterführen-
den Schule Unterstützung benötigen.

Wir Grüne fordern seit Langem, die Lehreraus- und -
fortbildung so zu reformieren, dass die zukünftigen Leh-
rerinnen und Lehrer Bildungsbenachteiligung besser er-
kennen und abbauen können. Der nationale Bildungsbe-
richt hat den Abbau von Chancenungleichheit als eine
Kernaufgabe für unser Bildungssystem eindrücklich be-
stätigt. Eine individuelle Bildungsplanung für jedes
Kind ist notwendig, um Defizite in der Lese- und Recht-
schreibung frühzeitig zu erkennen. Hier ist zum einen
eine stärkere Vernetzung der Sonderpädagogik mit der
allgemeinen Pädagogik und eine größere Vernetzung
vor Ort zwischen den Einrichtungen, die Grundbil-
dungskurse anbieten, und den allgemeinen und berufli-
chen Schulen vonnöten. Die Sprachförderung, nicht nur
für Kinder mit Migrationshintergrund, muss über die ge-
samte Bildungsbiografie systematisch fortgesetzt wer-
den. Aber nicht nur die Schule muss den Förderbedarf
erkennen, auch das familiäre Umfeld kann etwas tun.
Durch regelmäßiges Vorlesen und das Beschäftigen mit
Büchern können Eltern schon im Kleinkindalter wich-
tige Grundlagen legen.

Wir brauchen eine politische und gesellschaftliche
Kraftanstrengung um die Zahl der funktionalen An-
alphabeten zu senken. Die Länder sollten sicherstellen,
dass in allen Regionen ausreichend Plätze für Alphabe-
tisierungskurse zu Verfügung stehen, die Bundesregie-
rung fordern wir auf, ihre Alphabetisierungsprogramme
zu intensivieren, Lehrer- und Lehrerinnen, Betriebe und
Ehrenamtliche in Vereinen müssen auf das Problem hin-
gewiesen werden und ermutigt werden, einzugreifen.
Deutschland hat auch im Rahmen der Weltalphabetisie-
rungsdekade der Vereinten Nationen einen wichtigen
Beitrag zu leisten. Ziel der Dekade (2003 bis 2012) ist
es, die Anzahl der Menschen, die nicht ausreichend le-
sen und schreiben können, weltweit zu halbieren.

Der von der Bundesregierung angekündigte Grund-
bildungspakt kommt reichlich spät und ist in seiner Aus-
gestaltung ähnlich unkonkret und unverbindlich, wie der
Ausbildungspakt. Die Zahlen über die Risikogruppe von
Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlässt,
sind seit vielen Jahren bekannt und liegt mit 7,5 Prozent
auf einem nicht zu akzeptierenden Level. Auch bei der
Lesekompetenzvermittlung in der weiterführenden
Schule gibt es nach wie vor großen Handlungsbedarf,
das haben die PISA-Ergebnisse der letzten Jahre ein-
drücklich bewiesen. Die Schülerinnen und Schüler in



gegebene Reden





Petra Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

den weiterführenden Schulen werden häufig bei einer
Leseschwäche nicht ausreichend gefördert und drohen
im weiteren Bildungsverlauf abgehängt zu werden. Es
fehlt vielerorts an dem Bewusstsein, dass nicht alle Kin-
der diese Kompetenzen bereits in der Grundschule er-
worben haben. Doch die Nationale Qualifizierungsiniti-
ative hat bisher leider zu keinen Verbesserungen geführt
und ist auch in anderen Bereichen eine Enttäuschung:
Wie der Umsetzungsbericht „Aufstieg durch Bildung“
zeigt, ist nach zwei Jahren erschreckend wenig passiert.
Es werden Bestandsaufnahmen gemacht, Listen ausge-
füllt, aber mehr passiert nicht.

Wir fordern, dass Bund und Länder endlich initiativ
werden um gemeinsam Programme zur Bekämpfung des
Analphabetismus zu erarbeiten und umzusetzen. Für ein
westliches Industrieland wie Deutschland sollte der Ab-
bau von Bildungsbenachteiligung und die Bekämpfung
und Prävention von Analphabetismus ein Kernanliegen
sein.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711428000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/5914 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Adulte Stammzellforschung ausweiten, For-
schung in der regenerativen Medizin voran-
bringen und Deutschlands Spitzenposition
ausbauen

– Drucksachen 17/908, 17/3618 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eberhard Gienger
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)



Eberhard Gienger (CDU):
Rede ID: ID1711428100

Die adulte Stammzellforschung und die regenerative

Medizin befinden sich zum überwiegenden Teil noch in
der Grundlagenforschung. Bis es zu einer Anwendung
im klinischen Bereich kommt, ist es noch ein weiter Weg.
Die Bundesregierung hat die Potenziale der adulten
Stammzellforschung zweifelsohne längst erkannt. So hat
das Bundesministerium für Bildung und Forschung die
finanziellen Mittel zur Förderung sukzessive erhöht. Im
Jahr 2005 ist die Stammzellforschung mit 1,4 Millionen
Euro, 2009 mit 4,8 Millionen Euro, 2010 mit 9,1 Millio-
nen Euro gefördert worden. Für 2011 ist eine weitere
Steigerung auf 10,6 Millionen Euro vorgesehen. In An-
betracht der angespannten Haushaltslage meine ich,
dass wir uns hier mehr als großzügig erweisen. Somit
halten wir den Antrag der SPD-Fraktion für reichlich
übertrieben, hier noch mehr Forschungsgelder zu inves-
tieren.

Der Antrag der SPD-Fraktion erweckt in mir den
Eindruck, dass die Realitäten nicht erkannt werden
wollen. Ein „Fortpflanzungsmedizingesetz“ zu fordern
geht an der Realität vorbei, denn dafür sind die rechtli-
chen Regelungen bereits im Embryonenschutzgesetz
aufgeführt, und Fragen der regenerativen Medizin sind
ausführlich in vier weiteren Gesetzen geregelt und zwar
im Arzneimittelgesetz, im Medizinproduktegesetz, im
Transplantationsgesetz und im Transfusionsgesetz. Seit
1997 gibt es das ELSA-Programm zur Erforschung ethi-
scher, rechtlicher und sozialer Aspekte in den Lebens-
wissenschaften.

Warum verlangt hier die SPD-Fraktion erneut ein Be-
gleitprogramm? Sie kritisieren, dass es zu viele kommer-
zielle Nabelschnurblutbanken gibt. Auch das entspricht
nicht den Tatsachen. Es sind gerade mal drei kommer-
zielle. Fünf öffentliche und drei öffentlich-private Na-
belschnurblutbanken zeigen ein anderes Bild. Die nicht
kommerziellen befinden sich vor allem an Unikliniken.
Geld zu investieren, um eine öffentliche Nabelschnur-
blutbank zu schaffen, wäre somit verschleudertes Kapi-
tal.

Ihr Antrag enthält zu viele Forderungen und Prüfun-
gen, die einerseits schon längst erfüllt sind und somit
nicht mehr aktuell und andererseits auch entbehrlich
sind. Hierzu zählt beispielsweise die Einrichtung eines
Zentrums für klinische Studien in der regenerativen Me-
dizin. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass die
klinischen Studien dezentral und multizentrisch durch-
zuführen sind, und zwar dort, wo die entsprechenden
fachlichen Kompetenzen und die Rahmenbedingungen
vorhanden sind.

Im Übrigen wurde von verschiedenen Gremien be-
reits bestätigt, dass die derzeitigen Mittel, die der Bund
zur Verfügung stellt, den Anforderungen im vollem Um-
fang gerecht werden. Dies könnte die Opposition zur
Kenntnis nehmen. Wir sind auf dem Laufenden. Sollten
sich Veränderungen im Bereich der adulten Stammzell-
forschung ergeben, werden wir uns entsprechend bera-
ten. Seien Sie versichert, dass auch wir große Hoffnung
auf diese Forschung setzen, birgt sie doch das Potenzial,
Menschen mit Behinderungen und/oder schweren
Krankheiten zu therapieren.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1711428200

Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion, Drucksa-

che 17/908, hat zum Ziel, die Forschung mit adulten
Stammzellen und die regenerative Forschung weiter
auszuweiten und insbesondere den Wissenstransfer in
die Wirtschaft zu verbessern. Die positive Einschätzung
der Potentiale der adulten Stammzellen und der regene-
rativen Forschung, die diesem Antrag zugrunde liegt,
teile ich.

Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)

Bevor man jedoch Maßnahmen zur Erreichung be-
stimmter Ziele formuliert, ist es unabdingbar, den aktu-
ellen Istzustand richtig darzustellen, weil man sonst zu
falschen Schlussfolgerungen gelangt. Der vorliegende
Antrag gibt jedoch kein zutreffendes Bild der Förde-
rungsrealität im Bereich der Stammzellforschung und
der regenerativen Medizin wieder. Die in ihm formulier-
ten Forderungen sind in weiten Teilen bereits erfüllt
oder entbehrlich. Aus diesem Grund ist der Antrag abzu-
lehnen. Dies möchte ich an einigen Punkten deutlich
machen.

Die Erhaltung der Gesundheit ist eine der größten
Herausforderungen, vor denen Deutschland steht. Die
regenerative Medizin lässt auf effiziente Therapiean-
sätze hoffen, auch für bislang schwer oder gar nicht zu
behandelnde Krankheiten. Dabei spielt das Verständnis
der Zell-, Gewebs- und Organfunktionen sowie die Nut-
zung der körpereigenen, natürlichen Selbstheilungs-
kräfte eine entscheidende Rolle. Hierin liegt ein wichti-
ger Paradigmenwechsel von der symptomatischen
Behandlung hin zu einer Ursachenbehebung. Die
Stammzellforschung als Grundlagenwissenschaft der re-
generativen Medizin spielt in diesem Zusammenhang
eine wichtige Rolle.

Auch wenn sich die regenerative Medizin noch über-
wiegend im Bereich der Grundlagenforschung bewegt,
gibt es erste Anwendungen, zum Beispiel bei der Rege-
neration von Haut oder Knorpel sowie bei der Behand-
lung von Herzinfarkten, die sich bereits im klinischen
Einsatz befinden.

Aus diesem Grund spielt die regenerative Medizin
eine wichtige Rolle in der Forschungsförderung des
Bundes. Bereits 1999 wurden erste Fördermaßnahmen
bekannt gemacht. Im Rahmen des Gesundheitsfor-
schungsprogrammes sind zudem verschiedene Maß-
nahmen auf den Weg gebracht worden. Im Zuge des
Förderschwerpunktes „Biologischer Ersatz von Organ-
funktionen“ wurden 32 Vorhaben bis zum Jahr 2005 mit
knapp 10 Millionen Euro gefördert. Im Herbst 2005
starteten zehn interdisziplinäre Verbünde der themati-
schen Folgemaßnahme „Zellbasierte, regenerative Me-
dizin“, die mit insgesamt etwa 12 Millionen Euro geför-
dert werden und 46 Teilprojekte beinhalten. Daneben
werden in dem Förderschwerpunkt „Gewinnung pluri-
bzw. multipotenter Stammzellen“ gegenwärtig 51 Vorha-
ben bis zum Jahr 2013 mit ungefähr 15 Millionen Euro
gefördert.

Insgesamt haben sich die Ausgaben für die Stamm-
zellforschung seit 2005 fast verachtfacht. Beliefen sich
die finanziellen Zuwendungen 2005 noch auf 1,4 Millio-
nen Euro, sind sie auf 10,6 Millionen Euro in diesem
Jahr gestiegen. Die christlich-liberale Bundesregierung
hat die Fördersumme seit 2009 also innerhalb von zwei
Jahren mehr als verdoppelt.

Mit jährlich rund 4 Millionen Euro wird seit 1997
systematisch die Erforschung ethischer, rechtlicher und
sozialer Aspekte in den Lebenswissenschaften gefördert.
Die konkrete Auswahl der jeweiligen Themen erfolgt da-
bei wissenschaftsgetrieben durch die jeweiligen Antrag-
steller. Hier werden bereits Projekte gefördert, die auch
Zu Protokoll
für die regenerative Medizin von erheblicher Bedeutung
sind, sodass ein gesondertes Begleitprogramm zu ethi-
schen, rechtlichen und sozialen Aspekten und Verfahren
der regenerativen Medizin, wie es im Antrag gefordert
wird, aus Sicht meiner Fraktion als nicht notwendig er-
scheint.

Darüber hinaus sind die Maßnahmen des Biotechno-
logieprogramms zu berücksichtigen, die im vorliegen-
den Antrag nicht erwähnt werden. Seit dem Jahr 2000
wurden bis heute rund 100 Millionen Euro investiert, um
anwendungsorientierte Projekte zu fördern, die Wissen-
schaft, Kliniken, Behörden und Wirtschaft zusammen-
bringen.

Mithilfe dieser Förderung sind in den letzen Jahren
mehrere akademische Einrichtungen entstanden, die
sich durch eine ausgezeichnete Infrastruktur auszeich-
nen. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Heteroge-
nität der Forschungsthemen im weiten Feld der regene-
rativen Medizin der richtige Ansatz, um sicherzustellen,
dass die notwendigen klinischen Studien dezentral dort
durchgeführt werden, wo die Experten angesiedelt sind.
Das im Antrag geforderte Zentrum für klinische Studien
würde deshalb eben nicht zur Erleichterung von For-
schungsprojekten beitragen und ist als nicht zielführen-
des Instrument abzulehnen.

Da mit den Forschungen im Bereich der regenerati-
ven Medizin schnell auch große Erwartungen der betrof-
fenen Patienten auf mögliche Heilmethoden verbunden
sind, ist ein translationaler Forschungsansatz von ent-
scheidender Bedeutung. Das bedeutet, dass universi-
täre, außeruniversitäre und private Partner zusammen
daran arbeiten sollten, dass Forschungsergebnisse
schneller in Innovationen am Markt und in die Gesell-
schaft überführt und damit für den Endanwender nutz-
bar gemacht werden. Um die Möglichkeiten der regene-
rativen Forschung für die klinische Praxis zu erschließen,
wurden von 2006 bis 2011 zwei Translationszentren mit
jeweils 20 Millionen Euro gefördert: das Berlin-Bran-
denburger Center für Regenerative Therapien, BCRT,
und das Translationszentrum für regenerative Medizin,
TRM, der Universität Leipzig. Von 2009 bis 2011 wird
darüber hinaus die Arbeit des Referenz- und Translations-
zentrums für kardiale Stammzelltherapie mit rund 3,4 Mil-
lionen Euro unterstützt.

Als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises
Leipzig II, in dem das TRM der Universität Leipzig liegt,
freut es mich besonders, dass das Konzept des TRM
nach einer Evaluation im Jahr 2010 überzeugt hat und
weiterentwickelt werden konnte. Ziel des TRM und des
translationalen Ansatzes ist es, dazu beizutragen, die
Potenziale von Methoden und Verfahren für die regene-
rative Medizin näher zu validieren und für die therapeu-
tische Anwendung zu erschließen. Das TRM setzt gleich-
zeitig auf den wissenschaftlichen Nachwuchs, indem
Forscher, Ingenieure und Kliniker aus- und weitergebil-
det werden, um ihnen die Entwicklung, Evaluation und
Anwendung von regenerationsbasierten Therapie- und
Diagnoseverfahren zu ermöglichen. Dies ist der richtige
Weg. Das sehen auch die Experten so: In den nächsten
vier Jahren erhält das TRM in einer zweiten Förder-



gegebene Reden

Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)

phase weitere 15 Millionen Euro vom Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung, um diesen Ansatz kon-
sequent weiterzuverfolgen.

Dazu möchte ich den Forscherinnen und Forschern
aus Leipzig recht herzlich gratulieren. Zu Gratulationen
gibt es auch noch aus einem weiteren aktuellen Grund
Anlass: Für das Großprojekt „Sirius“ erhält das TRM
bis 2014 1,65 Millionen Euro vom Bundesministerium
für Bildung und Forschung. Mit zwei Kooperationspart-
nern aus den USA wird das Ziel verfolgt, unter Anwen-
dung von neuronalen Stammzellen das Zeitfenster für
eine erfolgreiche Behandlung von Hirninfarkten deut-
lich zu vergrößern. Diese Beispiele zeigen die überaus
positive Entwicklung des TRM. Sie zeigen, wie wichtig
der Bundesregierung die effektive Unterstützung von in-
novativen Konzepten im Bereich der regenerativen Me-
dizin ist. Das Beispiel TRM Leipzig zeigt auch, dass die
Forschungsförderung des Bundes hervorragend funktio-
niert und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern bei der Suche nach neuen Behandlungsmethoden
auf Grundlage der regenerativen Medizin die notwendi-
gen finanziellen Mittel bereitgestellt werden.

Zusätzlich zu den Wissenschaftlern stehen die Unter-
nehmer und die Öffentlichkeit im Blick unseres Förder-
interesses. Durch verschiedene Fördermaßnahmen wur-
den und werden vor allem kleine und mittlere
Unternehmen bei Forschungs- und Entwicklungsprojek-
ten in der regenerativen Medizin vom Bundesministe-
rium für Bildung und Forschung gefördert, zum Bei-
spiel: die Förderinitiative „Tissue Engineering“ mit
35 Millionen Euro in den Jahren 2000 bis 2009, die För-
derinitiative „Regenerationstechnologien“ mit 15 Millio-
nen Euro in den Jahren 2008 bis 2012, die Maßnahme
„Biotechnologie BioChance“, die verschiedene Förder-
maßnahmen unter dem Dach von „KMU-innovativ“
vereint. In den bisherigen sechs Runden wurden seit
1999 über 200 Zuwendungen ausgesprochen mit einer
Gesamtsumme von circa 90 Millionen Euro.

Wir brauchen den Antrag der SPD-Fraktion nicht,
denn wir unternehmen bereits alles dafür, Deutschlands
Spitzenposition in der biomedizinischen Forschung
nachhaltig zu sichern.

Um die Öffentlichkeit und insbesondere Schülerinnen
und Schüler über Biotechnologie zu informieren und zu
begeistern, stellt das Bundesministerium für Bildung
und Forschung Informationen auf vielfältigsten Wegen
zur Verfügung: als Filme, in Ausstellungen, durch Bro-
schüren. Als besonders lohnenswert möchte ich das In-
ternetportal biotechnologie.de erwähnen, welches die
internetaffine Jugend besonders anspricht. Ergänzend
zur virtuellen Welt nutzen wir die vielfältigen Möglich-
keiten interaktiver Begeisterung junger Menschen für
biotechnologische Forschungsthemen. Weil das tatsäch-
liche Erleben und Anfassen das Verständnis für kom-
plexe Zusammenhänge in hohem Maße fördert, bin ich
besonders vom „BioTruck“ überzeugt, der im Rahmen
der Initiative „BIOTechnikum. Leben erforschen – Zu-
kunft gestalten“ des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung als mobile Ausstellungs- und Erlebnis-
welt durch die Republik tourt. Begleitet von erfahrenen
Zu Protokoll
Wissenschaftlern bringt der Truck auf seiner Tour durch
Deutschland die Forschung in der modernen Biotechno-
logie direkt zu den Menschen vor Ort. In Leipzig war der
Truck bereits, und ich habe ein sehr positives Feedback
junger Menschen dazu erhalten. Im Juni hält der Truck
unter anderem in Düsseldorf, Hamburg und Dresden.
Ich kann Ihnen einen Besuch nur empfehlen, um sich ein
Bild von dem zu machen, was es bereits gibt.

Meine Ausführungen zur Forschungsförderung, Un-
terstützung der Unternehmen, Informationskampagnen
der Öffentlichkeit und insbesondere zum konkreten Bei-
spiel des TRM in Leipzig machten Ihnen hoffentlich
deutlich, dass die Forderungen des vorliegenden SPD-
Antrages bereits in großem Maße erfüllt sind. Die For-
schung im Bereich der regenerativen Medizin in
Deutschland befindet sich auf einem sehr guten Weg.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1711428300

Dank einer guten Forschungspolitik seit 1998 ist

Deutschland als Land mit vielen innovativen Forscherin-
nen und Forschern für die Zukunft der medizinischen
Forschung und Versorgung gut aufgestellt. Wir verfügen
über hervorragende Forschungsstrukturen und ein
– trotz gefährlicher Operationen und Eingriffe der
schwarz-gelben Bundesregierung – stabiles, solidarisch
finanziertes Gesundheitssystem.

Wir dürfen uns aber nicht auf den Meriten ausruhen,
deren Ursprung in den politischen Entscheidungen der
Vergangenheit liegt. Vielmehr müssen wir von parla-
mentarischer Seite immer wieder aktiv Themen aufgrei-
fen, wenn wir unseren Forschungsfortschritt ausbauen
und die Chancen Deutschlands in hoch innovativen Wis-
senschaftsfeldern sichern wollen.

Die regenerative Medizin wird seit einigen Jahren als
Schlagwort genutzt, wenn Beispiele für neue Ansätze
moderner Medizin genannt werden. Klar ist: Nicht jeder
Plan der Forscher von heute wird morgen oder über-
morgen Realität werden. Bekannt ist aber auch: Schon
heute kann die medizinische Wissenschaft Großes leis-
ten, was aber nur verzögert seinen Weg in die medizini-
sche Praxis findet.

Insbesondere durch die Nutzung von Stammzellen
konnten in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt
werden. Der Hype um die embryonalen Stammzellen ist
abgeflacht, die Nutzung von adulten Stammzellen, von
Stammzellen aus der Nabelschnur oder auch von repro-
grammierten Zellen hingegen hat in der Forschung
stark zugenommen.

Wir haben in Deutschland frühzeitig den Fokus der
Forschungsförderung auf diese – ethisch unumstritte-
nen – Zellen gelegt. Die von uns geforderte und von der
Bundesregierung zu Recht in den Ausschussberatungen
angeführte Anhebung der Haushaltsmittel für diese For-
schungsfelder von 1,5 Millionen Euro in 2005 auf
10,6 Millionen Euro in 2011 setzt deshalb einen erfolg-
reichen Weg fort.

Geld allein hilft der Forschung jedoch nur bis zur
Schwelle der kommerziellen Verwertung. Daher haben
wir unter anderem auf den Regelungsbedarf hinsichtlich



gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

der Erstattungsfähigkeit von Anwendungen der regene-
rativen Medizin hingewiesen. Leider hat die Bundesre-
gierung und haben auch die Regierungsfraktionen die-
sen Punkt in den Beratungen weitgehend ignoriert.

Unsere Forderung zur Einrichtung einer Nationalen
Nabelschnurblutbank hätte neue Impulse für die For-
schung erbringen können. Leider verwies die Bundesre-
gierung hier nur auf die hochdynamische Landschaft di-
verser Nabelschnurblutbanken, die bereits etabliert
seien. Wie wichtig aber ein koordiniertes Vorgehen nicht
nur für die Forscher, sondern vor allem für mögliche
Patienten ist, wird schlicht nicht berücksichtigt.

Wie auch bei unserer Debatte im Forschungsaus-
schuss zum Regelungsbedarf bei Biobanken zeigt sich,
dass die Regierung offensichtlich überall dort, wo sich
forschungspolitisch Dinge hochdynamisch entwickeln,
vor Regelungen zurückscheut.

Daher mein Hinweis an die Bundesregierung: Rege-
lungen für dynamische Forschungsfelder müssen For-
schung und Innovation nicht behindern; vielmehr kön-
nen sie Strukturen bieten, Erfolge sichern und eine
bestehende Dynamik zielführend kanalisieren. Hierzu
brauchen wir natürlich kluge Regelungen, und dies ist
fraglos eine Herausforderung für jede Bundesregierung.

In den Ausschussberatungen hat die Fraktion der
CDU/CSU betont, dass wir uns in den Zielen unseres
Antrages einig seien. Die Kritik an unserem Antrag, die
als Begründung für die ablehnende Haltung der Regie-
rungsfraktion herhalten musste, wirkte hingegen sehr
vorgeschoben. Der Tenor lautete: Alles in bester Ord-
nung, wir brauchen keine Veränderungen in Förderpra-
xis und Regelungswerken.

Mit dieser Feststellung unterscheidet sich die CDU/
CSU massiv von den Einschätzungen der Expertinnen
und Experten, die in der Forschung und – frühen – Pra-
xis der regenerativen Medizin tätig sind. Um es in den
Worten der Überschrift unseres Antrages zu sagen: Wir
wollten Deutschlands Spitzenposition ausbauen und uns
nicht mit der Einschätzung begnügen, dass heute alles
schön und gut sei.

Besonders überrascht hat uns, dass die FDP die Kri-
tik der CDU/CSU an unserem Antrag weitgehend über-
nommen hat. Im September 2006 hatte die FDP-Frak-
tion noch einen Antrag „Forschung auf dem Gebiet der
Regenerativen Medizin stärken“ in das parlamentari-
sche Verfahren eingebracht. Dieser Antrag enthielt eine
Reihe von Forderungen, die zum Teil auch in unserem
Antrag enthalten sind, der heute zur Schlussberatung
ansteht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich die
FDP auch bei diesem Thema als Regierungsfraktion von
ihren alten Forderungen aus Oppositionszeiten verab-
schiedet hat.

Während die Regierungsfraktionen ohne gute Gründe
unsere Initiative abgelehnt haben, haben die Grünen
und Linken unseren Antrag unterstützt. Bei dieser Gele-
genheit möchte ich den Kolleginnen und Kollegen für
ihre Unterstützung danken.
Zu Protokoll
Klar ist: Wir streiten in der Förderung der ethisch un-
problematischen Stammzellforschung und der regenera-
tiven Medizin nicht über den politisch richtigen Weg,
sondern darüber, wie wir ein gutes Forschungsförder-
konzept weiter voranbringen können.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine An-
frage unserer Fraktion zum Thema Stammzellforschung,
die wir gemeinsam mit den Grünen eingebracht haben,
zeigt: Wir sind auf einem guten Weg, die Bundesregie-
rung hat viele Akzente richtig gesetzt. Die umfassenden
Informationen in der Antwort auf die Kleine Anfrage
waren und sind übrigens ein positives Beispiel für den
Umgang der Regierung mit dem parlamentarischen
Fragerecht. Dafür herzlichen Dank!

Mit unserem Antrag wollten wir erreichen, dass das
Thema Stammzellforschung und regenerative Medizin
nicht unter den Tisch fällt. Dies ist uns gelungen. Wir ha-
ben Vorschläge unterbreitet, wie wir gemeinsam die Er-
folgsgeschichte fortschreiben können. Wir bedauern
sehr, dass die Regierungsfraktionen diesen Impuls nicht
aufgenommen und verstärkt haben. Mein Appell zum
Schluss: Auch wenn Sie heute unseren Antrag ablehnen,
so nehmen Sie sich bitte unsere Vorschläge zu Herzen
und entwickeln Sie die hilfreichen Regelungen und För-
dermaßnahmen für die Stammzellforschung und regene-
rative Medizin weiter – im Sinne der gemeinsamen
Sache, die wir in den Ausschussberatungen so klar er-
kennen und feststellen konnten.


Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1711428400

Die Stammzellforschung ist mit großen Hoffnungen

verbunden. Mithilfe von Stammzellen werden neue The-
rapien für neurodegenerative Erkrankungen, für Diabe-
tes oder auch für Krebserkrankungen entwickelt.
Stammzellen werden teilweise als medizinische Wunder-
waffen der Zukunft bezeichnet, als die Basis für nach-
wachsende Ersatzteile des menschlichen Körpers von A

(bei Hornhäuten funktioniert das schon recht gut)

gelungen, einen Mäusezahn zu züchten). Gerade bei der
Forschung mit adulten Stammzellen hat es in den letzten
zehn Jahren große Fortschritte gegeben.

Wir Liberalen teilen die positive Einschätzung der
Potenziale, die die regenerative Medizin bietet – nicht
nur im Bereich der Gesundheitsforschung, sondern auch
bei biotechnischen Verfahren, die die SPD in ihrem An-
trag nicht erwähnt.

Wenn man liest, was die SPD in diesem Antrag for-
dert, hat man den Eindruck, die Bundesregierung habe
dieses Thema bisher sträflich vernachlässigt. Das Ge-
genteil ist der Fall. Viele der Forderungen sind erfüllt.
Regenerative Medizin ist ein wichtiges Thema der For-
schungsförderung in Gesundheitsforschung und Bio-
technologie. Die Standardisierung von Herstellungspro-
zessen im Bereich der regenerativen Medizin wird von
der Bundesregierung gefördert. Die ethischen, rechtli-
chen und sozialen Aspekte werden berücksichtigt. Es
gibt, vor allem an Universitätskliniken, eine Reihe von
nicht kommerziellen Nabelschnurblutbanken. Der Da-



gegebene Reden

Dr. Peter Röhlinger


(A) (C)



(D)(B)

tenschutz ist im Rahmen der bestehenden Bundes- und
Landesgesetze geregelt.

Ihr Antrag enthält auch mehrere Aspekte, die einem
Liberalen sehr gut gefallen. Sie wollen kleine und mitt-
lere Unternehmen, KMU, in die Forschungsförderung
einbeziehen – sehr gut. Sie unterstützen die Validie-
rungsförderung, also den Wissenstransfer zwischen For-
schung und Unternehmen bei der Entwicklung von inno-
vativen Therapien und Produkten in der regenerativen
Medizin – auch sehr gut. Sie wollen bei der Jugend Inte-
resse an diesem Forschungsfeld wecken – das ist sehr
wichtig. Diese Aspekte sind aber nicht auf das Thema
Stammzellforschung begrenzt, sondern sie betreffen alle
Forschungsbereiche. Es handelt sich um Rahmenbedin-
gungen, um ein forschungsfreundliches Klima, das es zu
fördern gilt, unabhängig vom Thema.

Einen Teil der Forderungen in diesem Antrag lehnen
wir ab. Wir wollen zum Beispiel kein Zentrum für klini-
sche Studien, sondern wir wollen, dass solche Studien
dort durchgeführt werden, wo fachliche Kompetenz und
gute Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind. Dort
werden solche Studien dann auch gefördert, zum Bei-
spiel in Rostock, im Rostocker „Referenz- und Transla-
tionszentrum für kardiale Stammzelltherapie“, einem
der fünf Schwerpunktzentren für regenerative Medizin in
Deutschland. Hier werden Stammzelltherapien für Herz-
krankheiten erforscht und auch bereits angewandt. Hier
gibt es ein Zusammenwirken von grundlegender, ange-
wandter und klinischer Forschung an Stammzellen mit
dem Ziel, die wissenschaftlichen und die klinischen Er-
kenntnisse in standardisierte, qualitätsgesicherte Thera-
pien umzusetzen. Fast 150 Patienten mit Herzinfarkt
wurden in den letzten zehn Jahren behandelt. Mithilfe
von Stammzellen ist Muskelgewebe, das durch den In-
farkt verloren gegangen war, wieder nachgewachsen.
Der Herzchirurg Professor Steinhoff und sein Team sind
auf diesem Gebiet weltweit führend. Das Rostocker Zen-
trum wird vom Bund, BMBF, vom Land Mecklenburg-
Vorpommern und von der Wirtschaft gefördert. Dieser
Weg ist vielversprechend, so soll es weitergehen.

Wenn wir Ihren Antrag ablehnen, dann also nicht,
weil wir gegen Stammzellforschung wären – das sind wir
natürlich nicht – , sondern weil die Forderungen in Ih-
rem Antrag zu einem guten Teil bereits erfüllt sind. Die,
die nicht erfüllt sind, unterstützen wir nicht.

Dass die Stammzellforschung auf einem guten Weg ist,
möchte ich Ihnen zum Schluss noch an einem anderen
kleinen Beispiel illustrieren. Das Bundesministerium für
Bildung und Forschung unterstützt auf diesem Gebiet
auch die Kooperation von deutschen Wissenschaftlern
mit Kollegen in kalifornischen Forschungseinrichtungen
mit insgesamt bis zu 12 Millionen Euro. Die deutschen
Forscher können sich seit diesem Jahr an Ausschreibun-
gen des kalifornischen Instituts für Regenerative Medi-
zin, CIRM, beteiligen, eine auf Stammzellforschung spe-
zialisierte Einrichtung zur Forschungsförderung. Im
Rahmen von deutsch-amerikanischen Projekten sollen
vielversprechende Ergebnisse der grundlegenden Stamm-
zellforschung für eine medizinische Anwendung weiter-
entwickelt werden, damit die Therapie mit Stammzellen
Zu Protokoll
nicht länger nur Wunschdenken bleibt. Zu den ersten drei
Teams mit deutscher Beteiligung, die von einem interna-
tionalen Gutachtergremium für eine Förderung ausge-
wählt wurden, gehört neben einem Team an der Univer-
sität Bonn und einem Team an der TU München auch ein
Team vom Universitätsklinikum Jena.

Das Uniklinikum Jena praktiziert die Förderung von
Nachwuchswissenschaftlern bereits seit Jahren. Kürz-
lich wurden zum achten Mal junge Forscher ausgezeich-
net, am „8. Tag der Nachwuchswissenschaftler“ im
Forschungszentrum Lobeda. An diesem Wettbewerb be-
teiligten sich diesmal insgesamt 16 junge Mediziner,
Biologen, Biochemiker und Biotechnologen, die ihre
Forschungsergebnisse vorstellten. Jenaer Firmen haben
dafür Preise gestiftet. Einen der Preise erhielt eine junge
Forscherin, die an der Klinik für Innere Medizin ihre
Diplomarbeit auf dem Gebiet der Stammzellforschung
vorstellte. Sie sehen: Firmen, Nachwuchsförderung,
Stammzellforschung – auch in Jena ist das alles versam-
melt. Dass ich mich darüber sehr freue, muss ich sicher
nicht extra betonen.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711428500

Die Debatte über die Forschung mit adulten Stamm-

zellen kommt gerade recht zu den aktuellen Beratungen
über den zukünftigen Umgang mit der Organspende in
Deutschland. Der Gesundheitsausschuss führt dazu zwei
umfangreiche Anhörungen durch; die erste zu techni-
schen und organisatorischen Aspekten der Organspende
fand gerade gestern statt. Während dort der Frage nach-
gegangen wurde, wie Patienten besseren Zugang zu pas-
senden Spenderorganen bekommen, geht es hier darum,
den Erfolg von Transplantationen mithilfe der For-
schung zu adulten Stammzellen deutlich zu verbessern.
Denn eine bestimmte Art adulter Stammzellen hilft nach-
gewiesenermaßen dabei, Abwehrreaktionen des Körpers
gegen ein neues, fremdes Organ abzuschwächen. Diese
mesenchymalen Stammzellen, die aus dem Knochen-
mark oder Nabelschnurblut von Neugeborenen gewon-
nen werden, können die sonst üblichen Medikamente er-
setzen, die das Immunsystem unterdrücken, aber leider
auch gefährliche Nebenwirkungen haben.

Von der Forschung an und mit adulten Stammzellen
ist die Zukunft der regenerativen Medizin insgesamt ab-
hängig. In der Erprobung sind Therapien für infarktge-
schädigte Herzen, bei denen kardiale Stammzellen in
das abgestorbene Herzmuskelgewebe injiziert werden,
oder für die Regeneration der Leber bei Leberfibrose,
die ansonsten nur durch Transplantation überwunden
werden kann. Große Fortschritte gibt es inzwischen
auch beim Aufbau von zerstörtem Gewebe beispiels-
weise der Luftröhre und der Harnblase mithilfe des so-
genannten Tissue Engineering. Dabei wird Gewebe au-
ßerhalb des menschlichen Körpers auf Basis von
adulten Stammzellen aufgebaut, die eine Zellbildung an-
regen und zur Ausdifferenzierung in unterschiedliche
Zelltypen eingeschränkt fähig sind.

In der Grundlagenforschung liegt der Schwerpunkt
auf Verfahren, die adulte Stammzellen so reprogrammie-
ren können, dass sie wie die umstrittenen embryonalen



gegebene Reden

Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)

Stammzellen zu wirklich pluripotenten Zellen und damit
zum Ausgangspunkt für unterschiedliche Zelltypen wer-
den. Im Prinzip ist die Behandlung mit reprogrammier-
ten adulten Stammzellen bei allen Erkrankungen denk-
bar, bei denen es zur Degeneration bzw. zum Absterben
von Zellen kommt. Dazu zählen Herzinfarkt, Parkinson,
Diabetes, Knorpeldegeneration oder Alzheimer.

Doch den anfänglichen Erfolgen in der Therapie ste-
hen bislang vergleichsweise eingeschränkte Möglichkei-
ten zur Gewinnung von adulten Stammzellen gegenüber.
Abhilfe könnte hier eine öffentliche Nabelschnurblut-
bank leisten, die gegenüber den bereits bestehenden oft
kleineren Nabelschnurblutbanken einheitliche Stan-
dards in Bezug auf die Charakterisierung der gewonne-
nen Produkte, die Sicherung ihrer Qualität sowie den
Datenschutz der Spenderinnen und Spender entwickelt.
Solange die Bestände der öffentlich geförderten Einrich-
tungen nicht gemeinsam erfasst werden und Gewinnung
und Lagerung nicht systematisch untersucht und geprüft
werden, werden der Forschung Steine in den Weg gelegt,
die vermeidbar wären. Das Anliegen des vorliegenden
Antrags, dies zu ändern, findet unsere ausdrückliche
Unterstützung.

Ich will auch ergänzen, dass zur Frage des Daten-
schutzes, die in diesem Antrag von März 2010 noch vor-
sichtig als Prüfauftrag formuliert wird, inzwischen eine
Reihe von Vorschlägen vorliegt, die unter dem Stichwort
„Humanbiobanken für die Forschung“ erst jüngst in ei-
ner Anhörung des Forschungsausschusses diskutiert
worden sind. Daran anzuknüpfen, sollte der Bundes-
regierung daher leichtfallen.

Neben der Gewinnung der adulten Stammzellen
braucht auch ihre Erforschung insgesamt eine breitere
Förderung. Insofern ist auch dieses Anliegen des vorlie-
genden Antrags richtig. Derzeit ist nämlich noch nicht
abzusehen, ob und wann eine Stammzelltherapie für
weitere der erwähnten Erkrankungen tatsächlich eta-
bliert sein und zur Verfügung stehen wird. Nur bei der
Behandlung von Leukämie und Lymphdrüsenkrebs kön-
nen wir derzeit von Standardtherapien sprechen, mit de-
nen beispielsweise Blutkrebs überwunden werden kann.

Demgegenüber wird das Potenzial adulter Stamm-
zellen, sich auch zu anderen Gewebetypen zu entwi-
ckeln, noch höchst widersprüchlich eingeschätzt. Wie
aus dem Vierten Stammzellbericht der Bundesregierung
vom Februar dieses Jahres hervorgeht, haben sich bei
einem Teil der erforschten alternativen Verfahren zur
Gewinnung von pluripotenten Stammzellen noch keine
Erfolge eingestellt. Für den gleichnamigen Förder-
schwerpunkt hat das BMBF für den Zeitraum von 2008
bis 2013 15,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. An-
fang dieses Jahres haben zudem Forschungsergebnisse
die Stammzellszene aufgeschreckt, nach denen repro-
grammierte Zellen häufiger genetische Schädigungen
aufwiesen als die ursprünglichen Zellen.

Solche Rückschläge, die in der Wissenschaft normal
sind, zeigen, dass verstärkte Bemühungen und Förder-
mittel für die Weiterentwicklung des Potenzials adulter
Stammzellen nötig sind. Dabei sollte auch die Erfor-
schung von Risiken und Standards für die Patienten-
Zu Protokoll
sicherheit explizit ins Auge gefasst werden, was nicht
nur die zuletzt genannten Ergebnisse nahelegen. Aus der
Therapieforschung ist bekannt, dass Stammzellen auch
Krebs erzeugen können. Es gibt anfängliche hoffnungs-
volle Ansätze in den USA und in Deutschland, dieses
Risiko zu umgehen.

Insofern kann Frau Schavan bei der Forschung zur
regenerativen Medizin und zu adulten Stammzellen ru-
hig noch eine Schippe drauflegen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Bündnis 90/Die Grünen setzen sich schon seit vielen
Jahren bei der Stammzellforschung für eine Stärkung al-
ternativer Ansätze zur embryonalen Stammzellfor-
schung, zum Beispiel der adulten Stammzellforschung,
ein. Dieser Ansatz ist ethisch unbedenklich und auch im
Sinne einer „Ethik des Heilens“ erfolgreicher als die
embryonale Stammzellforschung mit ihren tumorauslö-
senden Risikopotenzialen. In diesem Sinne begrüßen wir
den Antrag der SPD „Adulte Stammzellforschung aus-
weiten, Forschung in der regenerativen Medizin voran-
bringen und Deutschlands Spitzenpositionen aus-
bauen“, der heute zur Debatte steht. In dem Antrag wird
unter anderem eine stärkere Förderung der adulten
Stammzellforschung mit öffentlichen Mitteln sowie die
Schaffung einer deutschen Nabelschnurdatenbank ge-
fordert. Weiterhin enthält der Antrag diverse Prüfauf-
träge an die Regierung hinsichtlich weiter gehender
Maßnahmen, mit denen die adulte Stammzellforschung
gefördert werden könnte, zum Beispiel mittels eines
Fortpflanzungsmedizingesetzes oder der Einrichtung ei-
nes Zentrums für klinische Studien im Bereich der rege-
nerativen Medizin.

Der Bundestag beschloss in der letzten Wahlperiode
auf Basis eines interfraktionellen Antrags eine Verschie-
bung des Stichtages im Stammzellgesetz und damit eine
Erweiterung der Möglichkeiten, mit embryonalen
Stammzellen zu forschen. Eine Mehrzahl der grünen Ab-
geordneten hatte sich bei der Änderung des Stammzell-
gesetzes in der letzten Wahlperiode nicht nur aus ethi-
schen, sondern auch aus forschungspolitischen Gründen
gegen eine Verschiebung des Stichtages eingesetzt. Unter
anderem zeigte sich schon damals, dass die viel größeren
Potenziale in der adulten Stammzellforschung stecken
und die embryonale Stammzellforschung keine Erfolge
vorzuzeigen hatte. Dieser Trend hat sich in den letzten
Jahren noch verstärkt. Er zeigt sich – zum Glück – auch
in der Zahl der mit Bundesmitteln geförderten Projekte,
wie die Antwort der Regierung auf eine gemeinsam von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestellten Kleinen An-
frage beweist. So wird die adulte Stammzellforschung
bzw. die Forschung mit anderen als embryonalen Stamm-
zellen derzeit mit 72,8 Millionen Euro gefördert, im Ver-
gleich dazu fließen 3,8 Millionen Euro in die embryonale
Stammzellforschung.

Anscheinend lässt sich die Schwerpunktsetzung bei
der Förderung der Stammzellforschung durch die Regie-
rung jedoch nicht auf Einsicht, sondern wohl eher auf
die Antragslage aus der Forschungsszene zurückzufüh-
ren. Denn bei der eigens von der Regierung im Februar
anberaumten Fragestunde zum letzten Stammzellbericht



gegebene Reden





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

– die bei den Abgeordneten mehr Fragen als Antworten
zurückließ – betonte der damalige Gesundheitsminister
Rösler auch noch nach mehrmaligem Nachfragen, dass
„die Bundesregierung ausdrücklich keine Präferenz für
ein bestimmtes Forschungsthema bei der Stammzellfor-
schung“ habe. Es werde dahin gehend keine strategi-
sche Ausrichtung der Regierung geben.

Unklar blieb auch, warum der Gesundheitsminister
statt der Forschungsministerin den Bericht vorstellte.
Schließlich befindet sich die embryonale Stammzellfor-
schung wie sowohl bei der Fragestunde im Februar als
auch in der Antwort der Regierung auf die Kleine An-
frage bestätigt auf dem Niveau der Grundlagenfor-
schung. Ein therapeutischer Nutzen embryonaler
Stammzellen ist nicht in Sicht.

Einen schlanken Fuß macht sich die Bundesregierung
bei der Frage, ob sie die Patentierung von embryonalen
Stammzellen gutheißt. Auf entsprechende Fragen antwor-
tet sie ausweichend bis gar nicht. So behauptet sie zum
Beispiel, dass ihr „keine Kenntnisse“ darüber vorliegen,
ob bei mit Bundesmitteln geförderten embryonalen
Stammzellprojekten Patente beim Europäischen Patent-
amt beantragt wurden. Dabei sagte der Stammzellforscher
Oliver Brüstle, dessen Patentantrag auf embryonale
Stammzellen derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof
verhandelt wird, unter anderem in der Zeitschrift „Der
Spiegel“ am 11. November 2009, dass seine Forschung
genehmigt und gefördert werde und er sogar nachweisen
müsse, dass er sich um den Patentschutz kümmere.

Wir kritisieren auch, dass von der Regierung embryo-
nale Stammzellprojekte genehmigt werden, die der toxi-
kologischen Prüfung von Pharmastoffen dienen. Diese
Projekte sind aus unserer Sicht alles andere als „alterna-
tivlos und hochrangig“, wie im Stammzellgesetz gefor-
dert. Die Antwort der Regierung auf unsere Kleine An-
frage, wie sie diese Genehmigung begründet, ist mehr als
unzureichend bis ärgerlich: „Die wesentlichen Begrün-
dungselemente für die vom RKI erteilten Genehmigun-
gen sind dem Stammzellregister des RKI zu entnehmen“.
Dort heißt es dann lapidar zu einem genehmigten Projekt
– Professor Hengstler, Uni Dortmund – in diesem ethisch
sehr umstrittenen Bereich, dass der Vorteil der Nutzung
die höhere Reinheit, besssere Standardisierung und die
mögliche unbebegrenzte Nutzung der Zellen für toxikolo-
gische Tests sei und dass sich dies „voraussichtlich nur
unter Verwendung von hES-Zellen erreichen lässt“. Aus
unserer Sicht gibt es derzeit keinen akuten Handlungsbe-
darf im Bereich der adulten Stammzellforschung. Die in
dem Antrag genannten Forderungen sind dementspre-
chend auch relativ unkonkret formuliert.

Sinnvoll ist sicherlich die Forderung, datenschutz-
rechtliche Erfordernisse bei der Einrichtung einer Na-
belschnurblutbank zu prüfen. Aus grüner Sicht wollen
wir generell eine rechtliche Regelung von Biobanken,
wozu auch Nabelschnurblutbanken gehören würden.
Die Regierungskoalition weigert sich jedoch, dieses
wichtige Thema zu regeln. Leider hat sich selbst die SPD
noch nicht festlegen können, ob sie eine gesetzliche Re-
gelung bei Biobanken will, sondern sie hat nur „Prüfbe-
darf“ angekündigt. Dabei forderten bei der Anhörung zu
Biobanken, die am 25. Mai im Forschungsausschuss
stattfand, mehrere Experten eine gesetzliche Regelung,
unter anderem Professor Dr. Kollek vom Deutschen
Ethikrat sowie Dr. Weichert vom Unabhängigen
Zentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein. Selbst der
von der SPD benannte Sachverständige Professor
Dr. Dabrock sprach sich für eine gesetzliche Regelung
aus, auch um das Vertrauen der Probanden und Öffent-
lichkeit in Biobanken stärken zu können.

Unverständlich und problematisch ist die Forderung
der SPD an die Regierung, zu prüfen, inwiefern ein Fort-
pflanzungsmedizingesetz die Bedingungen für die rege-
nerative Medizin fördern könnte. Ein Fortpflanzungsme-
dizingesetz würde vor allem Bereiche wie die Lagerung
von IVF-Embryonen, die Präimplantationsdiagnostik
oder die Nutzung von Keimzellen betreffen, und dies wie-
derum wäre dann nicht eine Stärkung der adulten
Stammzellforschung, sondern würde vermutlich eher
eine Ausweitung der embryonalen Stammzellforschung
andeuten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711428600

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/3618, den Antrag der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/908 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Annette Groth, Sevim Dağdelen, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit be-
kämpfen

– Drucksache 17/5759 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Katrin Werner, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Verbot der Einfuhr, des Handels und der Ver-
wendung von Steinprodukten, die durch aus-
beuterische Kinderarbeit hergestellt wurden

– Drucksache 17/5803 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

(A) (C)



(D)(B)


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1711428700

In drei Tagen – am 12. Juni 2011 – begehen wir den

Internationalen Tag gegen Kinderarbeit. Er markiert
den Jahrestag der Verabschiedung der ILO-Konvention
182, in der weitreichende Maßnahmen zur Bekämpfung
der Kinderarbeit beschlossen wurden.

Die Bundesrepublik Deutschland gehört seit Jahren
zu den Vorreitern im internationalen Kampf gegen Kin-
derarbeit. Wir haben die UN-Kinderrechtskonvention
am 26. Januar 1990 unterzeichnet, ebenso die bereits er-
wähnten ILO-Konventionen 138 und 182. Innerhalb der
Bundesrepublik haben wir schon lange vor der Unter-
zeichnung dieser Dokumente erforderliche Maßnahmen
beschlossen, um Kinderarbeit in unserem Land zu ver-
hindern. Dazu zählen die Ratifizierung des Jugendar-
beitsschutzgesetzes und der Kinderarbeitsschutzverord-
nung.

Nach Angaben der ILO ist die Zahl der arbeitenden
Kinder weltweit in den Jahren 2004 bis 2008 um 3 Pro-
zent zurückgegangen. Dies gilt aber leider nicht für alle
Regionen. In Asien und Südamerika geht die Kinderar-
beit zwar zurück. In Afrika, insbesondere südlich der Sa-
hara, nimmt sie hingegen weiter zu. Weltweit sind noch
immer 215 Millionen Minderjährige in Kinderarbeit ge-
fangen, 115 Millionen davon setzen regelmäßig ihre Ge-
sundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel. 69 Prozent der
Kinder sind in der Landwirtschaft beschäftigt, 22 Pro-
zent im Dienstleistungsgewerbe und 9 Prozent in der In-
dustrie. Besonders skandalös sind die Ergebnisse einer
Untersuchung von UNICEF, wonach vier von fünf Kin-
dern für ihre Arbeit keinerlei Lohn erhalten.

193 Staaten haben die UN-Menschenrechtskonven-
tion gezeichnet, mehr als jede andere UN-Konvention
bislang. In Art. 32 definiert sie Kinderarbeit als Tätig-
keiten, die – ich zitiere – „Gefahren mit sich bringen, die
die Erziehung des Kindes behindern, die Gesundheit des
Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittli-
che oder soziale Entwicklung schädigen.“

Die bereits erwähnte ILO-Konvention 182 verbietet
die schlimmsten Formen von Kinderarbeit und mahnt
unverzügliche Maßnahmen zu deren Beseitigung an.
Dazu zählen gemäß Art. 3 Satz 4 der Konvention zu-
nächst – Zitat – „alle Formen von Arbeit, die ihrer Natur
nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie ver-
richtet werden, voraussichtlich für die Gesundheit, die
Sicherheit oder die Sittlichkeit von Kindern schädlich
sind.“ Zu diesen schlimmsten Formen der Kinderarbeit
zählen unter anderem Sklaverei, Schuldknechtschaft,
Leibeigenschaft, die Zwangs- und Pflichtrekrutierung
von Kindern für den Einsatz in bewaffneten Konflikten,
der Einsatz von Kindern im Drogenhandel sowie das He-
ranziehen, Vermitteln oder Anbieten eines Kindes zur
Prostitution. Art. 2 definiert Kinder als Personen, die das
18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

Ich denke, wir sind uns – über alle Fraktionsgrenzen
hinweg – einig, dass die Hauptursache für Kinderarbeit
in der bitteren Armut der Eltern zu finden ist. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass Kinder von ihren Eltern zur
Arbeit geschickt würden, wenn nicht äußerste materielle
Not sie dazu zwingen würde. Die Regierungen der ärms-
Zu Protokoll
ten Staaten der Erde stehen vor kaum überwindbaren
Problemen. Beispiel Bangladesch: Das bitterarme Land
hat zwar bereits vor zehn Jahren die ILO-Konvention
182 unterzeichnet, für wirksame Kontrollen fehlt jedoch
schlicht das Geld. Die langfristige Lösung des Problems
– auch da sind wir uns einig – kann deshalb nur in nach-
haltigem Wirtschaftswachstum liegen, das zu sozialem
Fortschritt, zu universeller Bildung und somit letztlich
auch zur Linderung von Armut führt.

Wir haben uns mit dem Thema Kinderarbeit in dieser
Legislaturperiode bereits mehrfach beschäftigt. Es war
diese Bundesregierung, die mit ihrem Kabinettsbe-
schluss vom 6. März 2011 die Rücknahme der deutschen
Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention
eingeleitet hat. Diese schließt neben vielen anderen Kin-
derrechten auch das Verbot von Kinderarbeit mit ein.

Wenige Monate zuvor, am 9. Juli 2010, hat der Bun-
desrat einen „Entschließungsantrag zur Verhinderung
des Marktzugangs von Produkten aus ausbeuterischer
Kinderarbeit“ beschlossen. Die Bundesregierung hat in
ihrer Stellungnahme verdeutlicht, dass sie das politische
Ziel, durch Kinderarbeit hergestellte Produkte nicht zu
vertreiben und nicht zu nutzen, ausdrücklich unterstützt.

Obwohl wir uns seit Jahren auf allen politischen Ebe-
nen für dieses Ziel einsetzen, gibt es derzeit noch keine
rechtliche Handhabe, die den Import von Waren aus
ausbeuterischer Kinderarbeit unterbinden könnte. Dies
liegt – und diese Erkenntnis gehört zur Ehrlichkeit die-
ser Debatte mit dazu – in allererster Linie an den Ent-
wicklungsländern selbst. Sie sperren sich seit Jahren ve-
hement – zum Beispiel gegen Änderungen der WTO-
Vorschriften –, wohlwissend, dass diese nur im Konsens
umgesetzt werden können.

Der Antrag, mit dem wir uns heute befassen, setzt
sich umfassender als der erwähnte Entschließungsan-
trag des Bundesrates mit dem Thema Kinderarbeit aus-
einander. Jedoch ist die christlich-liberale Koalition bei
der Bekämpfung der Kinderarbeit – entgegen den Aus-
sagen des hier zu behandelnden Antrags – auf einem gu-
ten Weg.

Wir haben uns im Koalitionsvertrag nicht nur aus-
drücklich zur Stärkung der Kinderrechte bekannt, son-
dern uns auch verpflichtet, weltweit für die Abschaffung
unmenschlicher Behandlungen einzutreten. Dazu gehört
explizit auch Kinderarbeit und der Einsatz von Kinder-
soldaten. In der Globalisierung sehen wir insgesamt
eine Chance, Menschenrechten weltweit zur Durchset-
zung zu verhelfen. Unsere auswärtige Kultur- und Bil-
dungspolitik begreifen wir als Beitrag zum Menschen-
rechtsschutz. Ich sage es noch einmal: Diesen selbst
auferlegten Verpflichtungen ist die Bundesregierung bis-
lang in vollem Umfang nachgekommen. Lassen Sie mich
einige Beispiele des deutschen Engagements in Erinne-
rung rufen:

Zunächst unterstützt die Bundesregierung aktiv das
Ziel, Produkte, die durch Kinderarbeit hergestellt wur-
den, nicht länger zu verkaufen oder zu nutzen. Deshalb
fördert Deutschland das sogenannte International Pro-
gramme on the Elimination of Child Labour der ILO,



gegebene Reden

Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)

das sich diesem Ziel verschrieben hat. Seit den 1990er
Jahren sind rund 54 Millionen Euro geflossen.

In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung
auch zu einem verstärkten Engagement auf europäi-
scher Ebene auf. Sie verkennen dabei, dass wir dort be-
reits seit Jahren handelspolitische Anreize für von Kin-
derarbeit besonders betroffene Länder setzen. Das
allgemeine Präferenzsystem APS+ gewährt Handels-
partnern besonders attraktive Zollvergünstigungen,
wenn 27 internationale Übereinkommen, darunter die
ILO-Übereinkommen 138 und 182, ratifiziert und auch
umgesetzt werden.

Weiter setzen wir die Entwicklungszusammenarbeit
als wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Kinderar-
beit ein. Wir haben die Einhaltung der Kernarbeitsnor-
men zu einem wichtigen Parameter für die Entscheidung
über die Förderung von Entwicklungsprojekten im Aus-
land gemacht. Auch fördert die Bundesrepublik direkt
Projekte, die notwendige wirtschaftliche Alternativen
für die in Kinderarbeit gefangenen Minderjährigen und
ihre Familien schaffen.

Schließlich setzt sich die Bundesregierung im Rah-
men der internationalen Zusammenarbeit seit Jahren
mit Nachdruck für eine Verankerung der Kernarbeits-
normen – etwa auch in der Arbeit der WTO – ein. Dazu
zählen insbesondere die für die Bekämpfung der Kinder-
arbeit relevanten Übereinkommen 138 und 182.

Auch haben viele Länder und Kommunen hierzulande
bereits Initiativen ergriffen, um den Vertrieb von Pro-
dukten, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu ver-
hindern. Seit der Änderung des Vergaberechts am
24. April 2009 können Länder und Gemeinden in ihren
Ausschreibungen einfordern, dass die Maßgaben der
ILO-Kernarbeitsnormen bei der Herstellung von Pro-
dukten, die für den Export nach Deutschland bestimmt
sind, eingehalten werden müssen.

Zurück zum Antrag der Fraktion Die Linke. Sie for-
dern, die Bewilligung öffentlicher Kredite und weiterer
Fördermittel für deutsche Unternehmen an die Auflage
zu knüpfen, dass die ILO-Konvention 182 in der gesam-
ten Lieferkette verbindlich eingehalten wird. Ich bin da
sehr skeptisch. Zwar stimme ich Ihnen zu, dass auch die
deutsche Wirtschaft beim Thema Kinderarbeit nicht aus
der Verantwortung entlassen werden darf. Wahr ist aber
auch, dass deutsche Unternehmen gerade in den letzten
Jahren ein sehr viel stärkeres Problem- und Verantwor-
tungsbewusstsein entwickelt haben. Nicht nur ich bin
dieser Auffassung, sie findet sich auch in der Entschlie-
ßung des Bundesrates vom 9. Juli 2010, die Sie in Ihrem
Antrag ja ausdrücklich unterstützen. Es gibt zahlreiche
Beispiele für freiwillige Selbstverpflichtungen der deut-
schen Wirtschaft, die die Bekämpfung von Kinderarbeit
zum Inhalt haben.

Mir ist wichtig, das gestiegene Verantwortungsbe-
wusstsein der deutschen Öffentlichkeit im Umgang mit
dem Thema Kinderarbeit zu betonen. So beobachten wir
in den vergangenen Jahren verstärkt, dass sich Bürger
vor dem Einkauf zunehmend über die Art und Weise der
Herstellung von Produkten informieren und somit ihrer
Zu Protokoll
Verantwortung als mündige Verbraucher gerecht wer-
den.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die
Bundesrepublik Deutschland bei der Bekämpfung von
Kinderarbeit auf einem guten Weg befindet. Die Bundes-
regierung setzt sich auf bilateraler, europäischer und in-
ternationaler Ebene für eine stärkere Verankerung der
UN-Kinderrechtskonvention und der Übereinkommen
138 und 182 ein. Innerhalb der Bundesrepublik ergrei-
fen Länder und Kommunen sowie Unternehmen und
Bürger vermehrt Maßnahmen, um Produkte, die auch
durch Kinderarbeit entstanden sind, zu ächten. Auf die-
sem Weg machen wir weiter.


Sabine Weiss (CDU):
Rede ID: ID1711428800

Am Sonntag ist der Internationale Tag gegen Kinder-

arbeit. Wie wichtig und dringend nötig es ist, die inter-
nationale Aufmerksamkeit auf das Problem der weltwei-
ten Kinderarbeit zu richten, machen die Zahlen in
erschreckender Art und Weise deutlich: Rund 215 Mil-
lionen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren müssen nach
Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation arbei-
ten, mehr als die Hälfte von ihnen unter Bedingungen,
die ihrer Gesundheit und weiteren Entwicklung schaden.
Sie werden ausgebeutet, ihrer Rechte und ihrer Kindheit
beraubt. Millionen Kinder auf der ganzen Welt müssen
unter extremen Bedingungen den ganzen Tag schwer
schuften, viele von ihnen können keine Schule besuchen,
und die, die eine besuchen, sind häufig zu ausgelaugt
von der Arbeit, um dem Unterricht folgen zu können.
Ohne Schulbildung haben sie aber auch in ihrem späte-
ren Leben wenig Chancen auf eine Beschäftigung, die es
ihnen ermöglicht, aus der Armut auszubrechen. Damit
sind und bleiben sie gefangen im Teufelskreislauf der
Armut.

Die Frage ist, was wir nun tun können, um diesen
Teufelskreis zu durchbrechen und Kinder vor ausbeute-
rischer Kinderarbeit zu bewahren. Eine Antwort wäre
vielleicht, wir verbieten einfach die Einfuhr von Produk-
ten, die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, oder
boykottieren diese und damit wird dann alles gut. Das
hört sich gut an, und bestimmt würden dem auch die
meisten, die man so spontan auf der Straße zu dem
Thema befragt, ohne Weiteres zustimmen. Aber leider ist
es so einfach nicht. Es gibt nun mal für die komplexen
Problemstellungen auf dieser Welt in der Regel keine so
simplen Lösungen. Denn was passiert dann mit den Kin-
dern? Wovon leben sie und ihre Familien? Die meisten
dieser Kinder müssen arbeiten, weil das Einkommen der
Eltern nicht ausreicht, die Familie zu ernähren. Die Kin-
der sind gezwungen, ihren Beitrag am Familieneinkom-
men heranzuschaffen.

Allein die Einbringung eines Gesetzentwurfes in
Amerika in den 90er-Jahren, der die Einfuhr von Waren,
die durch Kinderarbeit hergestellt wurden, verbieten
sollte, hat in Bangladesch dazu geführt, dass circa
50 000 Kinder entlassen wurden und damit mehr oder
weniger über Nacht auf der Straße standen. Die meisten
von ihnen mussten dann so schnell wie möglich eine
neue Arbeit finden, und nicht wenige von ihnen landeten
in der Prostitution. Sicherlich haben solche Gesetze so-



gegebene Reden

Sabine Weiss (Wesel I)



(A) (C)



(D)(B)

wie die Berichterstattung darüber dazu beigetragen, die
Öffentlichkeit in den Industrie-, Schwellen- und Ent-
wicklungsländern für die Problematik zu sensibilisieren
und auch das eine oder andere Umdenken anzustoßen.
Die unmittelbaren Konsequenzen für die Kinder und
ihre Familien waren aber erst einmal dramatisch; denn
sie wurden in noch größeres Elend gestürzt. Die gesetz-
lichen Einfuhrverbote in den USA zeigen zudem auch
kaum praktische Wirkungen, sodass allein durch Sank-
tionen Kinderarbeit nicht wirksam bekämpft wird.

Es gibt für die Bekämpfung der Kinderarbeit keine
einfachen Lösungen. Wer die weltweite ausbeuterische
Kinderarbeit beenden will, der muss Alternativen zur
Kinderarbeit für die Familien schaffen. Sanktionen
– wie Boykotte oder Einfuhrverbote – beseitigen nicht
die sozialen Ursachen der Kinderarbeit. Allein mit ei-
nem Einfuhrverbot ist es nicht getan. Schlimmer noch:
Es kann tendenziell die Lage der Kinder sogar ver-
schlechtern, weil sie dann im schlimmsten Fall gezwun-
gen sind, noch ausbeuterischere Arbeiten zu verrichten,
oder weil sie und ihre Familien Hunger leiden müssen.
Auch Hilfsorganisationen wie beispielsweise UNICEF
vertreten den Standpunkt, dass Einfuhrverbote allein zu
kurz greifen.

Dauerhaft kann die ausbeuterische Kinderarbeit nur
besiegt werden, wenn wir die sozialen Ursachen dafür in
den Griff bekommen, sprich: Wir müssen das Problem
an der Wurzel packen. Denn nur wenn sich die wirt-
schaftliche Situation der Familien so nachhaltig verbes-
sert, dass die Familien auch ohne den Beitrag der Kin-
der über die Runden kommen können, werden die Kinder
nicht mehr arbeiten müssen. Deswegen ist die nachhal-
tige Bekämpfung der Armut in all ihren furchtbaren Aus-
prägungen und mit all ihren Konsequenzen für mich das
zentrale Mittel, um ausbeuterische Kinderarbeit dauer-
haft zu beenden.

Einfuhrverbote und Boykotte mögen sich zwar gut an-
hören und unser Gewissen hier erleichtern, werden aber
die entsetzliche Ausbeutung von Kindern in Entwick-
lungs- und Schwellenländern nicht stoppen können. Kin-
derarbeit lässt sich leider nicht so einfach und quasi
über Nacht beenden. Nur durch ein Bündel von Maßnah-
men wie konsequente Armutsbekämpfung, Bildung, Auf-
bau von Sozialsystemen usw. wird die ausbeuterische
Kinderarbeit in den Griff zu bekommen sein.

Ich bin froh, dass das Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sich nicht
nur intensiv und konsequent dafür einsetzt, die weltweite
ausbeuterische Kinderarbeit zurückzudrängen, sondern
auch den sozialen Ursachen, die zur Ausbeutung von
Millionen von Kindern führen, den Kampf angesagt hat.
Das Ministerium packt damit das Problem von der Wur-
zel her an, wohingegen die Forderungen in Ihren Anträ-
gen nach einem generellen Einfuhrverbot lediglich dazu
dienen können, den Konsumenten ein vermeintlich gutes
Gewissen zu suggerieren, ohne dass sich die Situation
der Kinder verbessert.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1711428900

Ein „entscheidender Wettbewerbsvorteil“ sei Kinder-

arbeit wegen der günstigen Löhne. Kinderarbeit sei
Zu Protokoll
zwar nicht schön, aber günstig. Und: Eine Kommune
müsse sparen, außerdem komme es der Kommune nicht
zugute, wenn sie auf Produkte aus Kinderarbeit ver-
zichte – Zynismus pur. Man mag es kaum glauben, dass
so im letzten Jahr in einem deutschen Kreistag von ei-
nem Landrat argumentiert wurde. Die öffentliche Empö-
rung war groß – zu Recht. Viele Zeitungen berichteten.
Wen es interessiert, der kann es nachlesen. Als der
Druck zu groß wurde, lenkte der Kreistag ein.

Ich gehe davon aus, dass niemand unter uns – frak-
tionsübergreifend – sich dieser Argumentation ange-
schlossen hätte. Aber es zeigt doch, dass noch ein gutes
Stück Arbeit an Bewusstseinsschärfung nötig ist, damit
so in Zukunft weder in Politik noch Gesellschaft argu-
mentiert wird.

Heute findet der 14. Kinder- und Jugendhilfetag in
Stuttgart statt. Das Deutsche Institut für Menschen-
rechte fordert zu Recht, dass die Menschenrechte von
Kindern – auch in Deutschland – umfassend beachtet
werden.

In wenigen Tagen am 12. Juni jährt sich wieder der
Internationale Tag gegen Kinderarbeit. Er markiert den
Jahrestag der Verabschiedung des ILO-Abkommens
Nr. 182 gegen Kinderarbeit. Deshalb ist es richtig, dass
wir heute hier nicht nur an die kinderunwürdigen Ver-
hältnisse in vielen Teilen der Welt erinnern, sondern
auch neue Wege suchen, wie wir selbst daran mitwirken
können, dass Kinderarbeit nicht nur nicht gefördert,
sondern auch bekämpft werden kann. UNICEF schätzt,
dass weltweit über 150 Millionen Kinder unter 15 Jahren
hart arbeiten müssen – zum Teil unter schwierigsten,
sklavischen und gesundheitsschädlichen Bedingungen.

Die Bestrebungen, die Kinderarbeit einzudämmen,
haben sich verschiedene internationale Konventionen
und Richtlinien zum Ziel gesetzt. Dazu zählen insbeson-
dere die Konventionen der Internationalen Arbeitsorga-
nisation – ILO – und deren Konvention 138 zum Verbot
der Erwerbstätigkeit unter einem bestimmten Mindestal-
ter und Konvention 182, die die schlimmsten Formen
der Kinderarbeit unterbinden soll.

Daneben hat Deutschland unter anderem die OECD-
Leitsätze für multinationale Unternehmen unterzeich-
net. Sie stellen für multinationale Unternehmen einen
Verhaltenskodex dar. Im Rahmen der Leitsätze haben die
Unternehmen zur Beseitigung der Kinderarbeit beizu-
tragen. In diesen Tagen wird die Revision der Leitsätze
beraten und abgeschlossen. Die Leitsätze sind wichtig,
leider sind sie zu unverbindlich, überwiegt das Soft Law
mit zu vielen Soll-Vorschriften. Auch die ILO war an der
Überarbeitung der Leitsätze beteiligt, um die Kern-
arbeitsnormen zu implementieren, zu denen eben auch
der Verzicht auf Kinderarbeit zählt.

Zum Kampf gegen Kinderarbeit bedarf es auf allen
politischen Ebenen Maßnahmen zur Verwirklichung der
ILO-Konvention Nr. 182. Deshalb ist ein Individualbe-
schwerdeverfahren auch so wichtig. Recht haben reicht
eben alleine nicht aus. Rechte müssen auch durchsetz-
bar sein. Hier ist der Menschenrechtsrat weiter gefor-
dert.



gegebene Reden





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

Viele Kinder arbeiten in Wirtschaftsbereichen, die
Produkte für den Export herstellen. Trotz ansteigenden
Verantwortungsbewusstseins bei den Verbrauchern ist
eine Kontrolle bzw. Identifizierung von aus Kinderarbeit
hergestellten Produkten nur eingeschränkt möglich.
Vielfach muss man sich an – einigen wenigen – privaten
Initiativen orientieren, die entsprechende Informationen
oder Zertifizierungen zur Verfügung stellen. Das ist
nicht ausreichend. Deshalb hat der Bundesrat auf Initia-
tive der SPD-geführten Länder Rheinland-Pfalz, Bre-
men, später hinzutretend auch Berlin und Brandenburg
zu Recht eine Initiative zur Verhinderung des Marktzu-
gangs von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit
gestartet. Insofern ist auch das Anliegen der Anträge,
über die wir heute debattieren, berechtigt, übernehmen
sie doch wichtige Passagen aus der Entschließung des
Bundesrates.

Die wichtigste Ursache von Kinderarbeit ist Armut.
Das wichtigste Instrument ist deshalb die Armuts-
bekämpfung in den Entwicklungsländern. Gleichzeitig
gehört dazu die Förderung der Schul- und Berufsausbil-
dung. In diesem Zusammenhang gibt es in einigen Län-
dern, wie zum Beispiel Mexiko und Brasilien, Sozialpro-
gramme, die Familien Sozialleistungen gewähren, wenn
Kinder Schulen besuchen. Die Programme sind erfolg-
reich und sollten auf weitere Länder übertragen werden.

Gleichzeitig muss die Bewusstseinsbildung und Ver-
antwortung in Wirtschaft und Gesellschaft der Industrie-
länder verstärkt werden. Wir begrüßen privatwirtschaft-
liche Initiativen fair gehandelter Produkte. Verbraucher
sollten in die Lage versetzt werden, bewusste Kaufent-
scheidungen treffen zu können. Das erfordert verstärkt
die Kennzeichnung gehandelter Waren durch die Wirt-
schaft. In einigen Bereichen wie im Kaffee-, Kakao- und
Textilsektor gibt es bereits einige Verhaltenskodizes, die
sukzessive ausgebaut werden müssen. Komplementär
kann man über Importverbote nachdenken. Gleich vor-
weg sollte man aber wissen, dass nach bisherigen Erfah-
rungen Importverbote alleine nicht dazu beigetragen
haben, Kinderarbeit zu verringern. Entsprechende Ge-
setze in den USA haben wenig Wirkung gezeigt. Es ist
dabei zu bedenken, dass ein Boykott auch dazu führen
kann, dass die betroffenen Familien noch ärmer werden,
die Kinder entweder in der Landwirtschaft oder in Pro-
duktionsbereichen, die keine Waren für den Export
herstellen, weiter arbeiten müssen. Deshalb sollten Im-
portverbote immer durch Sozialprogramme begleitet
werden. Das Problem darf nicht nur verlagert werden.

Gleichwohl hat die EU bisher keine Importverbote
gegenüber Drittstaaten, die Produkte aus Kinderarbeit
exportieren, erwogen. Die Niederlande hatten 2008 ei-
nen Vorstoß unternommen, der abgelehnt wurde. WTO-
rechtliche Bedenken spielen dabei eine große Rolle. Ein
solches Verbot könnte gegen das Allgemeine Zoll- und
Handelsabkommen – GATT – verstoßen. Eine Änderung
des WTO-Regelwerks ist wohl nicht sonderlich aus-
sichtsreich, da die entsprechenden Exportländer dem
nicht zustimmen würden. Gleichwohl sollte die Bundes-
regierung ergebnisoffen prüfen, ob und wie Marktzu-
gangssperren zur Bekämpfung ausbeuterischer Kinder-
arbeit möglich wären. Insofern wollen wir auch ergeb-
nisoffen über die beiden Anträge im Ausschuss diskutie-
ren.

Gleichwohl möchte ich vorab schon einmal anmer-
ken, dass die Anträge – wie so oft – überziehen und nicht
die Bemühungen und Erfolge deutscher Menschen-
rechts- und Entwicklungspolitik aufzeigen. Die Bundes-
regierung arbeitet seit 1972 mit der ILO im Rahmen der
technischen Hilfe zusammen. Das BMZ hat mit 55 Mil-
lionen Euro seit Anfang der 90er-Jahre Programme zur
Abschaffung der Kinderarbeit unterstützt und gehört zu
den größten Gebern. Die Bundesregierung setzt sich für
die Verankerung der Kernarbeitsnormen auch in ande-
ren Übereinkommen ein. In informellen Arbeitskreisen
zwischen WTO und ILO wird die Möglichkeit einer Ein-
beziehung von Sozialstandards besprochen. Aber auch
auf kommunaler Ebene gibt es immer häufiger Bestre-
bungen, Produkte aus Kinderarbeit zu meiden. Mit der
Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän-
kung 2009 können öffentliche Auftraggeber an Auftrag-
nehmer und bei Ausschreibungen zusätzliche Anforde-
rungen stellen, die nicht nur die Wirtschaftlichkeit des
Angebots, sondern auch ethische und soziale Aspekte
betreffen. Der öffentliche Auftraggeber kann die Vorga-
ben der Einhaltung der ILO-Normen auf die gesamte
Lieferkette bis ins Ursprungsland erstrecken. Trotz be-
rechtigter kritischer Betrachtung der Situation beleuch-
tet der Antrag „Ausbeuterische Kinderarbeit weltweit
bekämpfen“ all diese Bemühungen nicht. Darauf wird in
den Ausschussberatungen noch einzugehen sein.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1711429000

Am 12. Juni 2011 ist der Internationale Tag gegen

Kinderarbeit. Deshalb ist es richtig, dass wir heute über
dieses Thema im Deutschen Bundestag diskutieren. Um
es deutlich zu sagen: Kinderarbeit ist ein Verbrechen
und nichts anderes als eine besonders subtile Form von
Gewalt gegen Kinder.

Mit den ILO-Konventionen 138 und 182 wird Kinder-
arbeit deshalb weltweit geächtet. Auch Deutschland hat
diese Konventionen ratifiziert und damit nicht nur natio-
nale Verantwortung übernommen, sondern ist damit
auch die Verpflichtung eingegangen, sich weltweit für
die Bekämpfung von Kinderarbeit einzusetzen. Dennoch
arbeiten nach aktuellen Schätzungen der Internationa-
len Arbeitsorganisation, ILO, weltweit 215 Millionen
Kinder Tag für Tag – davon rund 115 Millionen unter ge-
fährlichen und ausbeuterischen Bedingungen. 53 Millio-
nen dieser Kinder sind jünger als 14 Jahre.

Besonders schlimme Formen der Kinderarbeit gibt es
beispielsweise im Bereich der Natursteinherstellung –
vor allem in Indien. Die so hergestellten Steinprodukte
finden sich dann in unserem Alltag wieder, sei es in den
Fußgängerzonen oder als Grabsteine auf den Fried-
höfen. Klar: Niemand möchte auf Pflastersteinen gehen,
die in ausbeuterischer Kinderarbeit in Indien oder
China zugehauen wurden. Trotzdem passiert dies Tag
für Tag überall im Land. Das müsste nicht sein, wenn
sich die öffentlichen Aufraggeber ihrer zentralen Markt-

Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)

position bewusst wären und diese auch entsprechend
nutzen würden.

Die Ursachen für Kinderarbeit gerade in Indien,
Bangladesch, Nepal und vielen anderen asiatischen
Ländern sind jedoch vielschichtig und beruhen wesent-
lich auf dem dortigen Kastenwesen und der existenziel-
len Armut der Familien in der untersten Kaste. Oft wer-
den die Kinder aus Armutsfamilien zur Kinderarbeit
geschickt, damit die Familie überhaupt überleben kann.
Es entsteht ein Teufelskreis der Armut. Den arbeitenden
Kindern wird Schulbildung vorenthalten und sie erlei-
den durch die schwere Arbeit körperliche und geistige
Schäden, mit der Folge, dass sich ihre Chancen, ihren
Lebensunterhalt später durch reguläre Arbeit zu bestrei-
ten, drastisch verschlechtern und sie in Armut verhar-
ren.

Ich erwarte vom Schwellenland Indien, dass es bereit
ist, die Kinderarbeit im Land zu unterbinden, indem es
die Kinder in die Schulen schickt und die Dumpinglöhne
verhindert. Auch in Deutschland und in Europa können
wir dazu beitragen, die Kinderarbeit zu bekämpfen. Die
öffentlichen Auftraggeber von Bund, Ländern und Kom-
munen sind in der Pflicht, alles zu tun, um indirekt die
Arbeit von Kindern zu vermeiden. Nicht nur die Anbie-
terseite, sondern vor allem die Nachfrage nach Gütern
ist entscheidend.

Jahr für Jahr gibt die öffentliche Hand in Deutsch-
land rund 360 Milliarden Euro für die Beschaffung von
Produkten und Dienstleistungen aus. Das entspricht
etwa 17 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Über die
Hälfte davon entfällt auf Städte, Gemeinde und Land-
kreise, was diese zum bedeutendsten öffentlichen Auf-
traggeber macht. Sie bilden damit eine enorme Nachfra-
gemacht. Als Großverbraucher können sie ihre
Marktstellung zu einer Umorientierung nutzen, indem
sie als verantwortungsvolle Akteure agieren, die soziale
und ökologische Anliegen in öffentlichen Ausschreibun-
gen integrieren.

Die Reform des deutschen Vergaberechts hat größere
Spielräume geschaffen, um soziale und ökologische An-
forderungen in öffentliche Ausschreibungen zu integrie-
ren – ein wichtiger Schritt für den Umwelt- und Klima-
schutz und eine soziale Gestaltung der Globalisierung.
Es geht darum, Rechtssicherheit für öffentliche Auftrag-
geber zu schaffen, die keine Gegenstände einkaufen wol-
len, die beispielsweise von Kindern unter ausbeuteri-
schen Bedingungen hergestellt wurden.

Die Berücksichtigung sozialer, ökologischer und in-
novativer Kriterien ist bei der Neufassung der öffent-
lichen Beschaffungsordnung allerdings nur als „Kann-
Vorschrift“ in das Vergaberecht aufgenommen worden.
Umso wichtiger ist es jetzt, darauf hinzuwirken, dass
diese Kann-Kriterien in der Vergabepraxis auch wirk-
lich angewandt werden.

Die Praxis sieht leider anders aus: Allzu oft bleiben
die sozialen und ökologischen Folgen des öffentlichen
Einkaufs in den Produktionsketten außer Betracht, so-
lange das entscheidende Kriterium das billigste Angebot
Zu Protokoll
ist. Deshalb sollte das Vergaberecht hier eindeutige Re-
gelungen vorsehen, auch mit dem Hinweis, dass die
ILO-Konventionen 138 und 182 dazu verpflichten.

In diesem Zusammenhang möchte ich an die wichtige
gemeinsame Initiative der damaligen SPD-Minister
Heidemarie Wieczorek-Zeul und Olaf Scholz mit dem
Deutschen Städtetag vom September 2009 erinnern. Mit
einem Leitfaden für die „Berücksichtigung sozialer Be-
lange im Vergaberecht“ wurden die Einkäufer vor Ort
praxisnah unterstützt. Die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung lässt leider die Kommunen in dieser Frage alleine.
Dass es auch anders geht, zeigt der Blick in unser Nach-
barland. So werden die Niederlande bis zum Jahr 2012
die gesamte öffentliche Beschaffung nach sozialen und
ökologischen Gesichtspunkten ausrichten.

Ich fordere deshalb, dass die Bundesregierung end-
lich Vorschläge auf den Tisch legt, damit soziale und
ökologische Mindeststandards bei der Vergabe ange-
wendet werden. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
durch Bund, Länder und Kommunen ist öffentlich zu ma-
chen, ob die ILO-Konventionen zur Bekämpfung von
Kinderarbeit im Ursprungsland und entlang der Liefer-
kette eingehalten wurden. Ich fordere die Bundesregie-
rung auf, sich dafür einzusetzen, dass die ILO-Konven-
tion 182 auch von den noch fehlenden zehn Staaten,
darunter vor allem Indien, ratifiziert wird.

Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung deutlich
stärker als bisher dafür einsetzt, dass die ILO-Kern-
arbeitsnormen und damit auch die ILO-Konventionen
138 und 182 zur Bekämpfung der Kinderarbeit im Rah-
men der Doha-Runde der Welthandelsorganisation,
WTO, umgesetzt werden. Ich erwarte zudem, dass die
Bundesregierung gemeinsam mit der EU-Kommission in
allen Verhandlungen zu internationalen Handelsabkom-
men – gerade aktuell mit Indien – nachdrücklich auf der
Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards besteht.
Dies wäre ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung der
Kinderarbeit in der indischen Natursteinindustrie.

Das Europäische Parlament hat bereits wichtige Vor-
schläge zu mehr Fairness in der künftigen EU-Han-
delspolitik gemacht. Dazu hatte auch die SPD-
Bundestagsfraktion im Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung einen Antrag einge-
bracht, mit dem die Bundesregierung und die EU-Kom-
mission dabei unterstützt werden sollten. Diesen Antrag
hat die schwarz-gelbe Koalition – vermutlich aus rein
parteitaktischem Kalkül – leider abgelehnt.

Ich darf daran erinnern, dass die Bundesregierung
vor zwei Wochen, am 25. Mai 2011, die neuen OECD-
Leitlinien für weltweite unternehmerische Verantwor-
tung, bei denen es genau um diese Themen – die Sorg-
faltspflicht entlang der Lieferkette, die Bekämpfung von
Kinderarbeit und die Wahrung der Menschenrechte –
geht, mit verhandelt und unterzeichnet hat. Und ich gehe
davon aus, dass die Standards, die die Bundesregierung
für die Privatwirtschaft setzt, erst recht für die öffent-
liche Hand und deren Vergabe- und Beschaffungsverfah-
ren gelten.



gegebene Reden

Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)

Transparenz ist ein zentraler Schlüssel für faire Ar-
beitsbedingungen und Voraussetzung für die Bekämp-
fung der weltweiten Kinderarbeit. Wir brauchen endlich
ein einheitliches Zertifizierungssystem für die gesamte
Produktions- und Lieferkette. Vorbild kann die interna-
tionale Initiative für Transparenz in der Rohstoffindus-
trie, EITI, sein. Dies schafft mehr Sicherheit für Unter-
nehmen und Beschäftigte und sorgt für mehr Vertrauen
bei Endabnehmern und Verbrauchern. Hier kann
Deutschland weltweit eine wichtige Vorreiterrolle ein-
nehmen. Dabei sollte die Kompetenz der Durchfüh-
rungsorganisation für Entwicklungspolitik GIZ genutzt
werden. Diese Investition lohnt sich allemal und könnte
von deutschen Unternehmen in allen Branchen genutzt
werden.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1711429100

Ohne Zweifel ist Kinderarbeit ein Problem von höchs-

ter menschenrechtlicher Brisanz. Häufig findet sie un-
sichtbar statt, wird also statistisch nur unzureichend er-
fasst. Ihr Ausmaß muss daher geschätzt werden. Wie
Frau Dr. Schmieg vom Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Aus-
schuss für Menschenrechte berichtete, gibt die ILO, die
Internationale Arbeitsorganisation, an, dass weltweit
215 Millionen Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren arbei-
ten. Nach Schätzungen von UNICEF sind es sogar
218 Millionen Kinder. Laut der ILO sind 115 Millionen
Kinder gezwungen, einer gefährlichen oder einer ihre
Entwicklung behindernden Arbeit nachzugehen. 5,7 Mil-
lionen Kinder müssen gar Zwangsarbeit leisten oder be-
finden sich aufgrund von Schuldknechtschaft in einer
modernen Form von Sklaverei, um die Schulden ihrer El-
tern abzuarbeiten. Vor allem das subsaharische Afrika
ist von Kinderarbeit betroffen – dort muss jedes dritte
Kind arbeiten.

Bundesentwicklungsminister Niebel hat Recht, wenn
er betont, dass man ein Land nicht von außen entwickeln
kann. Nachhaltige Entwicklung gelingt nur, wenn sich
ein Land selbst entwickelt. Natürlich wissen wir alle,
dass ein gutes Bildungsniveau hierfür unabdingbar ist.
Wenn wir uns vor Augen führen, wie viele Millionen Kin-
der tagtäglich einer Arbeit nachgehen müssen, anstatt
eine Schule zu besuchen, dann werden auch die gesamt-
gesellschaftlichen Folgen von Kinderarbeit deutlich.
Denn Bildung braucht Zeit, die man während der Arbeit
nicht hat. Und ohne Bildung keine Entwicklung.

Das in den vorliegenden Anträgen der Linken ver-
folgte Anliegen, Kinderarbeit zu bekämpfen und den
Handel mit Produkten, die unter solch unmenschlichen
Bedingungen hergestellt worden sind, zu unterbinden,
ist natürlich richtig. Selbstverständlich verfolgt auch die
FDP dieses Ziel. Auf Seite 126 unseres Koalitionsvertra-
ges verpflichten wir uns dazu, Kinderarbeit zu ächten
und international zu verbieten. Der Vertrag bleibt je-
doch dort nicht stehen, sondern nennt auch die Mittel,
mit denen wir dieses Ziel erreichen wollen. Dazu zählen
Zertifizierungsmaßnahmen und Initiativen verantwor-
tungsvoller Unternehmensführung.
Zu Protokoll
Da wir uns an unseren Taten, nicht an unseren Worten
messen lassen wollen, haben wir im März letzten Jahres
einen eigenen Antrag mit dem Titel „Menschenrechte
weltweit schützen“ verabschiedet. Unter anderem haben
wir die Bundesregierung darin aufgefordert, sich für die
Bekämpfung von Kinderarbeit einzusetzen. Diesem An-
liegen kommt sie erfolgreich nach, indem sie die Ursa-
chen der Kinderarbeit, die vor allen Dingen in der Ar-
mut der Eltern begründet liegen, entschieden bekämpft.
In ihren Vorhaben der staatlichen bilateralen Entwick-
lungszusammenarbeit beispielsweise bekämpft die deut-
sche Entwicklungszusammenarbeit die Kinderarbeit, in-
dem sie wirtschaftliche Alternativen für Kinder und ihre
Familien ermöglicht. Ebenfalls wichtig ist die Unterstüt-
zung multilateraler Initiativen und die partnerschaftli-
che Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft. Im Rah-
men des Public-Privat-Partnership-Programms fördert
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit Unterneh-
men bei der Erarbeitung und Umsetzung von Verhal-
tenskodizes, so etwa im Kaffee-, Kakao- und Textilsektor.
Neben zahlreichen anderen Aspekten bezwecken diese
Kodizes immer auch die Vermeidung von Kinderarbeit.
Außerdem fördert die Bundesregierung aktiv den fairen
Handel, denn dieser garantiert eine Herstellung ohne
ausbeuterische Arbeit und eine gerechte Entlohnung der
Produzenten in Entwicklungsländern. Erst ein gerechter
Lohn oder wirtschaftliche Alternativen für die von Kin-
derarbeit betroffenen Familien ermöglicht es diesen
Menschen, ihre Kinder zur Schule zu schicken und ein
Leben ohne Armut zu führen. Ferner setzt sich die Bun-
desregierung in ihrer internationalen Zusammenarbeit
für eine Verankerung der Kernarbeitsnormen, in erster
Linie der Übereinkommen 138 und 182, auch in der Ar-
beit anderer internationaler Organisationen ein. Auf die
Einhaltung dieser ILO-Kernarbeitsnormen wird auch
bei Projekten der bilateralen Entwicklungszusammenar-
beit gepocht.

So sehr ich Ihr Anliegen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen der Linken, unterstütze, so muss ich dennoch fest-
stellen, dass Ihre Anträge dem bestehenden Problem der
Kinderarbeit nicht gerecht werden. Denn ein Großteil
der darin enthaltenen Forderungen werden, wie soeben
dargelegt, seitens der Bundesregierung bereits erfüllt
und sind damit obsolet. Andere Forderungen wiederum
zeugen davon, dass Sie das komplexe Problem der Kin-
derarbeit offensichtlich noch nicht ganz erfasst haben.
Daher greifen Ihre Konzepte zu kurz, wenn es darum
geht, Kinderarbeit wirkungsvoll zu bekämpfen. Eine Ana-
lyse der Hintergründe von Kinderarbeit zeigt auf, dass
Verbote allein nicht weiterführen. Stattdessen müssen wir
die Gesamtsituation der Familien berücksichtigen und
mehrere Rahmenbedingungen gleichzeitig angehen. Wie
ich soeben dargelegt habe, ist die Bundesregierung vor
allem in ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit
bereits dabei, genau dies umzusetzen.

Ich möchte Ihnen noch deutlich machen, dass es auch
ohne das von Ihnen geforderte gesetzliche Verbot von
Steinprodukten aus Kinderarbeit schon heute möglich
ist, etwas dagegen zu tun. Die Stadt Reutlingen geht hier
mit gutem Beispiel voran. Auf Beschluss des Verwal-



gegebene Reden

Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

tungsausschusses verzichtet sie seit einigen Jahren bei
öffentlichen Anschaffungen auf alle Produkte, bei deren
Herstellung ausbeuterische Kinderarbeit involviert war.
Das betrifft beispielsweise Sportartikel wie Fußbälle,
aber auch Holzprodukte und eben auch Pflastersteine.
Derzeit ist Reutlingen bestrebt, vor allem die interkom-
munale Kooperation bei öffentlichen Ausschreibungen
und Beschaffungen zu vertiefen. Dies würde einen noch
größeren Anreiz für die Anbieter darstellen, im Herstel-
lungsprozess auf ausbeuterische Kinderarbeit zu ver-
zichten. Anhand hoffnungsvoller Beispiele wie der Stadt
Reutlingen können wir sehen, dass wir auch ohne Ihre
Anträge gegen Kinderarbeit vorgehen können.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1711429200

Kinder sind unsere Zukunft und bedürfen des beson-

deren Schutzes. Die Internationale Arbeitsorganisation,
ILO, schätzt, dass weltweit zwischen 126 und 165 Milli-
onen Kinder unter sklavenähnlichen Bedingungen scho-
nungslos ausgebeutet werden. Die Länder des Südens
sind besonders stark betroffen. Die Ursache ist meist
Massenarmut, die dazu führt, dass Eltern die Arbeits-
kraft ihrer Kinder verkaufen müssen. Die Kinder schuf-
ten oftmals unter extrem ausbeuterischen Bedingungen
zu Hungerlöhnen oder unentgeltlich in der Plantagen-
wirtschaft, in Steinbrüchen, in der Sexindustrie oder in
reichen Privathaushalten, um die Schulden ihrer Eltern
abzuarbeiten und den Lebensunterhalt für ihre Familien
zu verdienen. Das ist nichts anderes als Sklaverei. In-
folge der globalen Waren- und Handelsströme gelangen
allerdings zahlreiche Produkte, die mittels ausbeuteri-
scher Kinderarbeit hergestellt werden, auch in die EU
und die Bundesrepublik. Allein zwei Drittel aller in
Deutschland aufgestellten Grabsteine stammen aus In-
dien. Dort arbeiten circa 150 000 Kinder in häufig le-
bensgefährlichen Steinbrüchen.

Importgeschäfte dieser Art sind ein Skandal, der un-
verzüglich beendet werden muss. Wir können unsere To-
ten nicht mit Grabsteinen ehren, deren Herstellung
sämtlichen moralisch-ethischen Standards widerspricht
und das Leben von Kindern gefährdet. Diese ausbeuteri-
sche und schwere körperliche Arbeit führt häufig zu
Knochenbrüchen an Armen und Beinen, Taubheit,
Blindheit, Atemwegsproblemen und Hauterkrankungen
oder schlimmstenfalls zum Tod.

Ebenso wenig dürfen wir verdrängen, dass auch bei
uns Kinder unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten
müssen. Ich denke hierbei insbesondere an Kinder, die
von skrupellosen Menschenfängern als Sexsklavinnen
und Sexsklaven nach Deutschland verschleppt werden.

Die Bundesrepublik hat bereits im Jahr 2002 die ILO-
Konvention 182 über das Verbot der schlimmsten For-
men von Kinderarbeit ratifiziert. Dies verlangt ein akti-
ves Vorgehen der Bundesregierung gegen Arbeitsver-
sklavung und Schuldknechtschaft von Kindern, gegen
Kinderhandel, gegen Prostitution und Kinderpornogra-
fie und gegen Kindersoldaten. Allerdings nützt das beste
internationale Abkommen zum Schutz von Kindern
nichts, solange nicht effektive Maßnahmen zu seiner
Zu Protokoll
Umsetzung ergriffen werden. Den Worten müssen auch
international wirksame Taten folgen. Kinderhandels-
ringe nach und in Deutschland müssen zerschlagen und
die Täter müssen härter bestraft werden.

Die Linke fordert, vor allem die Ursachen für ausbeu-
terische Kinderarbeit stärker zu bekämpfen. Dies bedeu-
tet, deutlich mehr Mittel zur weltweiten Armutsbekämp-
fung zur Verfügung zu stellen. Deutschland hat die
vereinbarte Zusage, 0,7 Prozent seines Bruttoinlands-
produkts für die Entwicklungszusammenarbeit auszuge-
ben, bis heute nicht eingehalten. Dies ist schon unter
Rot-Grün und Schwarz-Rot so gewesen und hat sich un-
ter Schwarz-Gelb nicht geändert. Deutschland muss
endlich seine internationalen Verpflichtungen erfüllen.
Sonntagsreden eines vermeintlich mitfühlenden Libera-
lismus sind dafür kein Ersatz!

Die Linke unterstützt den mehrheitlichen Beschluss
des Bundesrates vom 9. Juli 2010, den Marktzugang von
Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhin-
dern. Die Bundesregierung muss sich in der WTO und
auf EU-Ebene umgehend für ein diesbezügliches Im-
portverbot einsetzen. Falls dies nicht gelingt, müssen zu-
mindest künftig die Herstellungsbedingungen von im-
portierten Gütern lückenlos dokumentiert werden. Pro-
dukte, die durch ausbeuterische Kinderarbeit gewonnen
werden, müssen von den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern auch klar als solche erkannt werden können.
Sie sollen wissen, unter welchen Bedingungen Produkte
hergestellt werden, bevor sie auf den EU-Binnenmarkt
gelangen. Unseren Konsumentinnen und Konsumenten
muss bewusst werden, ob die schicke Goldkette mit den
kleinen Händen von Kindern gefertigt wurde. In Burkina
Faso arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in
Goldminen. Rund 70 Prozent sind unter 15 Jahre alt;
schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwa-
schen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Unsere
Gesellschaft stigmatisiert bislang meist die Schwächsten
und betreibt gern Sündenbocksuche. Stattdessen gehö-
ren die Verursacher, profitgierige Großkonzerne und de-
ren Zwischenhändler, an den Pranger. Sie fördern mit
ihrem Preisdumping ausbeuterische Kinderarbeit in den
ärmsten Ländern. Dem kann mit einer Kennzeichnungs-
pflicht ein Riegel vorgeschoben werden. Ich bin mir si-
cher, dass sich das Kaufverhalten der Bevölkerung da-
durch ändern wird. Wenn ausbeuterische Kinderarbeit
durch die Verbraucherinnen und Verbraucher geächtet
wird, ist sie für Firmen auch nicht mehr lukrativ. Erfah-
rungen aus anderen Bereichen wie mit Fair-Trade-Pro-
dukten oder Zertifikaten über eine ökologische Anbau-
weise belegen dies.

Es geht aber nicht nur darum, mit effektiveren Pro-
duktions- und Handelskontrollen zu verhindern, dass
künftig Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu
uns gelangen. Wir müssen uns auch mit den in Deutsch-
land bereits vorhandenen Produkten auseinandersetzen.
Dies betrifft konkret indische Grabsteine auf deutschen
Friedhöfen, aber auch Natursteine oder Fensterplatten
aus Marmor für den Eigenheimbau, die nachweislich
durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt wurden.
Friedhofssatzungen von Kommunen in Bayern und



gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)

Rheinland-Pfalz, die das Aufstellen betreffender Grab-
steine verbieten, wurden nach erfolgreichen Klagen von
Steinmetzbetrieben für unwirksam erklärt. Dies zeigt,
dass das Problem auf kommunalpolitischer Ebene nicht
gelöst werden kann und der nationale Gesetzgeber ge-
fordert ist. Die Bundesregierung muss daher sofort ein
gesetzliches Verbot für die Einfuhr, den Handel und die
Verwendung von Steinprodukten aus ausbeuterischer
Kinderarbeit erlassen. Der weltweite Schutz der Kinder-
rechte muss Vorrang haben vor den Profitinteressen von
Unternehmen. Ich denke, hierüber sollte über Fraktions-
grenzen hinweg Einigkeit bestehen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1711429300

Wir begehen am 12. Juni den Internationalen Tag ge-

gen Kinderarbeit, und ich muss erneut mit Erschrecken
feststellen, dass die Zahl der arbeitenden Kinder im ver-
gangenen Jahrzehnt, entgegen den Bemühungen der in-
ternationalen Gemeinschaft, gestiegen ist. Dass Kinder-
arbeit immer noch ein massives internationales Problem
darstellt, darüber besteht offensichtlich ein breiter Kon-
sens.

Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, schätzt
die Zahl der arbeitenden Kinder zwischen 5 und 14 Jah-
ren auf circa 215 Millionen weltweit. Dies ist eine Stei-
gerung von 19 Millionen Kindern in nur einem Jahr-
zehnt. Das Verbot von Kinderarbeit alleine hat seine
Wirkung somit verfehlt. Daher begrüße ich den Antrag
der Fraktion Die Linke. Jedoch greift dieser zu kurz. Es
bedarf wesentlich mehr als einem reinen Importverbot
für Produkte, die nachweislich durch Kinderarbeit her-
gestellt wurden. Hierdurch alleine lässt sich das Pro-
blem nicht effektiv bekämpfen. Denn laut UNICEF sind
nur circa 5 Prozent der arbeitenden Kinder in der Ex-
portindustrie tätig. Heute weiß man, dass das Verbot von
Kinderarbeit oder Handelsboykotte ihre Wirkung ver-
fehlt haben. Entgegen allen Erwartungen hat sich die
Zahl der ausgebeuteten Kinder nicht verringert. Eine
politische Intervention ohne ein dazugehöriges Maß-
nahmenpaket zur Beseitigung der Ursachen von Kinder-
arbeit in den Ursprungsländern ist unzureichend oder
gar unverantwortlich.

Am Beispiel der UNICEF-Studie aus Nepal kann man
erkennen, wohin eine undurchdachte politische Maß-
nahme führen kann. Dort führte der weltweite Handels-
boykott gegen geknüpfte Teppiche dazu, dass alle Kin-
der, zumeist Mädchen, entlassen wurden. Viele dieser
jungen Mädchen wurden in die Prostitution gedrängt.
Dieses schreckliche Beispiel macht deutlich, wie wichtig
ein Maßnahmenpaket mit verschiedenen Vorgehenswei-
sen ist, um Kinderarbeit effektiv zu bekämpfen. Denn die
in einem Land bestehende Armut und die dadurch er-
möglichte Ausbeutung ist die eigentliche Wurzel des
Problems. Zu jeder umfassenden Strategie gegen Kin-
derarbeit gehören daher die drei Säulen von Prävention,
Entlassung aus der unwürdigen Arbeit und Rehabilita-
tion.

Das Recht auf kostenlose Bildung nach Art. 28 der
Kinderrechtskonvention ist für die Prävention unab-
dingbar. Bildung stellt das Zentrum jeder Präventions-
strategie dar; denn nur Bildung wirkt nachhaltig. Es ist
das zentrale Mittel, um den Teufelskreis der Armut zu
durchbrechen und Kindern Alternativen und Leben-
schancen aufzuweisen. Zudem verhindert kostenlose Bil-
dung, dass Kinder dazu genötigt werden, zu arbeiten,
um ihren Schulbesuch oder den ihrer Geschwister zu fi-
nanzieren.

Der Zugang zu Bildung, das möchte ich noch einmal
ausdrücklich betonen, sollte jedem Kind, gleich welcher
Nationalität, welcher sozialen Herkunft oder welchen Ge-
schlechts, ohne Barrieren möglich sein. Als Basis für er-
folgreiche Prävention gilt die Unterstützung der Familien
durch Stipendien für den Schulbesuch und Kleinkredite.
Auch die erfolgreiche Entlassung von Kindern aus aus-
beuterischen Arbeitsverhältnissen bedarf unterstützen-
der Maßnahmen, um den Wegfall des Einkommens abzu-
federn. Eine erfolgreiche Prävention hilft nicht nur,
Kinderarbeit auszumerzen, sondern wirkt sich laut ILO
auch positiv auf die Entwicklungsperspektiven des jewei-
ligen Landes aus.

Nationale Gesetze bilden das Rückgrat jeder Maß-
nahme gegen Kinderarbeit. Arbeit von Kindern unter
zwölf Jahren muss generell verboten sein. Wir dürfen die
vielen staatlichen Sonderregelungen, trotz Ratifizierung
der ILO-Konvention 138, beim Mindestalter für Beschäf-
tigung nicht akzeptieren. Außerdem sind wir verpflichtet,
die Zivilgesellschaft bei ihrer Arbeit gegen Kinderarbeit
zu unterstützen. Diese soziale Mobilisierung ist notwen-
dig, um nicht nur die Regierungen, sondern auch die Be-
völkerung für den Kampf gegen Kinderarbeit zu gewin-
nen. Zur Absicherung all dieser Maßnahmen bedarf es
internationaler Abkommen. Wir müssen dafür sorgen,
dass die Prinzipien der UN- und ILO-Konventionen end-
lich Realität werden. Internationale CSR-Richtlinien für
die Wirtschaft sind eine weitere Voraussetzung für die
Eindämmung von Kinderarbeit.

Es liegt an uns, die nationalen Bemühungen der Län-
der zu unterstützen. Ich plädiere dafür, dass wir die
Länder des Nordens zur Bereitstellung von Entwick-
lungshilfegeldern auf Grundlage der 20/20-Initiative
verpflichten, zur Sicherung der Grundbedürfnisse armer
Kinder und deren Familien beizutragen. In diesem Punkt
weist auch Deutschland noch ein deutliches Optimie-
rungspotenzial auf. Darum sollten wir dafür sorgen, dass
all diese Maßnahmen koordiniert durchgeführt werden,
um einen Erfolg im Kampf gegen die Kinderarbeit zu ga-
rantieren. Diese geschickte Kombination aus selektiven
Verboten und staatlichen Familienhilfen bewirkt, dass
eine Volkswirtschaft, die auf Kinderarbeit setzt, nachhal-
tig verändert wird.

Die Ausrottung der Kinderarbeit ist ein langfristiges
internationales Ziel, welches von uns konkrete Maßnah-
men erfordert, die weit über die übliche Symbolpolitik
hinausreichen müssen. Ich fordere die Bundesregierung
daher auf, sich international für eine Verbesserung der
Situation einzusetzen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1711429400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/5759 und 17/5803 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 10. Juni 2011,
8.30 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.