Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sit-
zung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Eckwerte für ein Gesetz zur
Förderung der Steuerehrlichkeit.
Das Wort für einen einleitenden Kurzbericht hat die
Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium
der Finanzen, Frau Dr. Hendricks.
D
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit wollenwir die Zinsbesteuerung ab 2004 neu regeln. Zinsen sollendann pauschal mit 25 Prozent besteuert werden. Bürger mitgeringerem persönlichen Steuersatz erhalten die Möglich-keit, im Rahmen ihrer Veranlagung auch die Zinsen diesemgeringeren Steuersatz zu unterwerfen und gegebenenfallsden Sparerfreibetrag berücksichtigen zu lassen. Die natio-nale Neuregelung der Zinsbesteuerung wird im europä-ischen Rahmen durch die EU-Zinsrichtlinie flankiert.Mit diesen Maßnahmen wird die Kapitalanlage inDeutschland wesentlich attraktiver als bisher. Dazu trägtnicht nur der geringe Steuersatz bei, sondern auch dasgroßzügige Angebot, das Bürgern unterbreitet wird, die inder Vergangenheit ihre steuerlichen Pflichten nicht immererfüllt haben. Ihnen soll befristet die Möglichkeit gebotenwerden, in die Steuerehrlichkeit zurückzukehren. Die vor-gesehene Regelung wird deutlich attraktiver sein als dieStraf- und Abgabenbefreiung im Rahmen der Steuer-reform 1990, weil diesmal nicht nur das angesparte Kapi-tal und die dadurch erzielten Zinsen begünstigt werdensollen, sondern auch die Quellen dieses Kapitals, also dasso genannte Schwarzgeld. Die vorgesehene Brücke zurSteuerehrlichkeit dürfte daher zu mehr Erfolg führen alsdie Regelung von 1990, die immerhin zu nacherklärten Ka-pitaleinkünften von rund 2,4 Milliarden DM geführt hat.Wer in der Vergangenheit Steuern verkürzt hat, solldurch Abgabe einer Erklärung und gleichzeitige Entrich-tung einer pauschalen, als Einkommensteuer zu behan-delnden Abgabe Strafbefreiung bzw. Befreiung von Geld-bußen erlangen können. In der strafbefreienden Erklärungist das Vermögen anzugeben, das bei der Besteuerung bis-her zu Unrecht nicht berücksichtigt wurde. Die Erklärungsoll als Steueranmeldung ausgestaltet werden und damitohne weiteres Zutun der Finanzbehörden als Steuerfest-setzung wirken. Der Staat verzichtet auf Nachweise desBürgers und auf Ermittlungen der Finanzbehörden.Es liegt in der Natur der Sache, dass bei später ent-deckten Steuerverkürzungen allein der Bürger wissenkann, ob er in seiner Erklärung diese Verkürzungen ange-geben hat. Daher trifft ihn als Preis für den Verzicht aufNachweise und Prüfungen bei Abgabe der strafbefreien-den Erklärung die Beweislast. Ich weise jedoch ausdrück-lich darauf hin, dass diese Vorgehensweise allgemeinenBeweislastregeln entspricht und keine Beweislastumkehrdarstellt.Mit Zahlung der pauschalen Abgabe erlöschen alle An-sprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, soweit sich diestrafbefreiende Erklärung auf diese Ansprüche bezieht.Der Bürger hat es damit in der Hand, durch umfassendeErklärung vollständig steuerehrlich und damit straffrei zuwerden.Die Eckwerte gehen davon aus, dass der Bürger wirk-lich steuerehrlich werden will und in Zukunft bleibenmöchte. Das ist auch die rechtliche Grundlage, auf derverfassungsrechtlich eine Besserstellung Steuerunehr-licher für die Vergangenheit basiert. Das Bundesverfas-sungsgericht hat in seinen Entscheidungen zur Amnestieim Rahmen des Steuerreformgesetzes 1990 betont, dasseine derartige Besserstellung steuerunehrlicher Bürgergegenüber steuerehrlichen Bürgern nur gerechtfertigt ist,wenn sie geeignet ist, die Steuerehrlichkeit in der Zukunftzu gewährleisten.Hinzu kommt, dass eine steuerliche Besserstellung fürdie Vergangenheit, die auch nur eine geringfügige Nach-versteuerung vorsieht, wirtschaftlich immer schlechter istals weitere erfolgreiche Steuerhinterziehung. Um eineBrücke zur Steuerehrlichkeit überhaupt attraktiv zu ma-chen, ist es deshalb erforderlich, die Möglichkeit weiterer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara HendricksSteuerhinterziehungen in der Zukunft möglichst zu ver-bauen. Zugleich effiziente und möglichst bürokratiearmeKontrollmöglichkeiten sind daher unabdingbar. Im weite-ren Gesetzgebungsverfahren wird der Steueranspruch desStaates mit dem Recht des Bürgers auf informationelleSelbstbestimmung in Einklang zu bringen sein.Die gesamte Maßnahme wird den Ehrlichen allerdingsnur dadurch vermittelbar, wenn sie dazu dient, Bürger indie Steuerehrlichkeit zurückzuführen. Die Gewährleis-tung der Steuerehrlichkeit aller Bürger ist ein Gebot derSteuergerechtigkeit. Dies ist ein Begriff, den man in die-ser Debatte bisher nur selten gehört hat, den man abernicht vergessen sollte.Es ist ein Erfahrungswert, dass die Neigung zur Steuer-ehrlichkeit wächst, je gerechter die Besteuerung empfun-den wird. Dieser Satz gilt allerdings auch umgekehrt undfindet Ausdruck in dem Schlagwort: Die Ehrlichen sindwieder die Dummen. Es sollte nicht Ziel der Steuerpolitiksein, dieses Schlagwort zu bestätigen.Diejenigen, die meinen, bei einer so genannten Abgel-tungsteuer sei mit dem Einbehalt der Steuern auf die Zin-sen alles erledigt, täuschen sich. Nehmen wir den BegriffAbgeltungsteuer so, wie er sowohl von der Bundesregie-rung als auch von der Opposition tatsächlich verstandenwird, dann handelt es sich bei der künftig vorgesehenenZinsbesteuerung gerade nicht um eine reine Abgeltung-steuer. Unstreitig sehen die Bundesregierung und die Op-position nämlich vor, den Bürgern bei der Einkommen-steuerveranlagung das Recht einzuräumen, die Zinsen mitihrem niedrigeren persönlichen Steuersatz zu berücksich-tigen. In diesen Fällen haben die Bürger in ihrer Steuer-erklärung, die von Verfassungs wegen auf Richtigkeit undVollständigkeit überprüfbar sein muss, sämtliche Zinsenanzugeben.Darüber hinaus müssen wir die europäischen und in-ternationalen Regeln zur Bekämpfung der Geldwäscheund anderer organisierter Kriminalität beachten. Schmutzi-ges Geld darf auch in Zukunft nicht reingewaschen werden.Herzlichen Dank.
Vielen Dank für den Bericht.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, zu dem der Bericht erstattet worden ist. Die erste
Wortmeldung stammt vom Kollegen Meister.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin, ich möchte
zunächst zu Ihrem Vortrag nachfragen: Habe ich es rich-
tig verstanden, dass die Bundesregierung beabsichtigt, im
Rahmen der Zinsabgeltungsteuer die Sparerfreibeträge
– es geht um die Freistellungsaufträge – abzuschaffen?
Wenn dem so ist, frage ich Sie: Was bedeutet das für die
Sparerfreibeträge jener, die die Zinsabgeltungsteuer in
Höhe der geplanten 25 Prozent in Anspruch nehmen?
Habe ich es richtig verstanden, dass der Sparerfreibetrag
für die Menschen, die die Zinsabgeltungsteuer in An-
spruch nehmen, entfällt?
D
Herr Kollege Meister, das würde sich logisch betrach-
tet sicherlich ergeben. Darauf will ich hier allerdings noch
nicht näher eingehen, weil dies dem Gesetzgebungsver-
fahren vorbehalten bleibt. Das Kabinett hat sich damit
heute nicht befasst.
Herr Dr. Solms.
Frau Staatssekretärin, Sie wissen, dass die FDP diesen
Vorschlag mit einer gewissen Sympathie verfolgt. Wir ha-
ben dies bereits vor zwei Jahren öffentlich gefordert. Das
steht in Zusammenhang damit, dass das Vertrauen der
Sparer und möglichen Anleger in den Kapitalmarkt
Deutschland insgesamt wieder hergestellt werden muss.
Deswegen frage ich Sie, warum Sie diesen vernünftigen
Vorschlag mit der flächendeckenden Einführung von Kon-
trollmitteilungen und der Aufhebung des Bankgeheimnis-
ses – all dies ist gar nicht notwendig, wenn die Steuer an
der Quelle erhoben wird – verbinden. Warum verbinden
Sie das nicht mit einer Entscheidung für die endgültige Ab-
schaffung der Vermögensteuer und die Nichterhöhung der
Erbschaftsteuer, um die leidige Diskussion zu beenden?
Dann hätten Sie sehr viel mehr Erfolg zu erwarten.
D
HerrKollegeSolms, zumerstenTeil IhrerFrage: Ichhatte
eben ausgeführt, dass es darum geht, sowohl effiziente als
auchbürokratiearmeKontrollmöglichkeitenvorzusehen,die
den Steueranspruch des Staates mit dem Recht des Bürgers
auf informationelle Selbstbestimmung in Einklang bringen.
Zur Abschaffung der Vermögensteuer: Es gibt zurzeit
einen Antrag auf Ebene des Bundesrates. Dieser beinhal-
tet den Vorschlag, man möge den Ländern das Hoheits-
recht für die Vermögensteuer geben. Wie Sie wissen, hat
sich die Bundesregierung dem nicht zuneigen können;
dies wurde im Plenum bereits behandelt. Ob in der nächs-
ten Zeit weitere Initiativen zur grundsätzlichen Abschaf-
fung der Vermögensteuer, die ja nicht mehr erhoben wird,
erfolgen, vermag ich nicht zu beurteilen.
Was die Erbschaftsteuer anbelangt, so wissen Sie so
gut wie ich, dass beim Bundesverfassungsgericht ein Vor-
lagebeschluss liegt. Infolgedessen kann der Gesetzgeber,
wohl wissend dass ein Bundesverfassungsgerichtsurteil
zu erwarten ist, keine endgültige Aussage treffen.
Herr Koppelin.
Frau Staatssekretärin, als wir vor zwei Jahren diesenVorschlag gemacht haben, ist er von der Koalition noch
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kritisiert worden. Ich habe den Eindruck, Sie haben sichgezwungen gesehen, diesen Gesetzentwurf vorzuberei-ten, weil Sie die Einnahmen benötigen.Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dassdas Finanzministerium am Dienstagmorgen bekanntgegeben hat, man gehe von zusätzlichen Einnahmen vonetwa 1 Milliarde Euro aus. Am Dienstagabend wurdeüber eine Agenturmeldung eine Schätzung von 2 Milliar-den Euro genannt. Mittwochmorgen wurde vom Finanz-ministerium eine Schätzung von 5 Milliarden Euro ver-öffentlicht. Jetzt wollen Sie zum Ausgleich des Haushalts2 Milliarden Euro an Einnahmen in den Bundeshaushalteinstellen. Darf ich Sie einmal fragen, von welchenSchätzungen Sie ausgehen, und was berechtigt Sie zuder Hoffnung, dass es diese Einnahmen – gehen wireinmal von 2 Milliarden Euro aus – tatsächlich gebenwird, wenn Sie dieses Amnestiegesetz verabschiedenwerden?D
Die Deutsche Bundesbank geht nach vorsichtigen
Schätzungen davon aus, dass im Ausland Kapital von
deutschen Steuerpflichtigen in der Größenordnung von
150 Milliarden Euro lagert. Darüber hinaus gibt es natür-
lich Schwarzgeld in der Bundesrepublik Deutschland, das
nacherklärt werden soll. Unsere Schätzungen beziehen
sich nicht nur auf ausländisches Kapital.
Deswegen sind wir in einer vorsichtigen Schätzung da-
von ausgegangen, dass sich die Einnahmen aus nacherklär-
tem Kapital zum Ende dieses Jahres in einer Größenord-
nung von 20 Milliarden Euro bewegen werden. 25 Prozent
davon sind 5 Milliarden Euro. Dieses Geld verteilt sich
selbstverständlich auf die drei Ebenen des Staates: präter-
propter 2 Milliarden Euro für den Bund, 2 Milliarden
Euro für die Länder und eine knappe Milliarde Euro für
die Kommunen. Auf der Basis dieser Schätzung, ange-
lehnt an die Schätzungen der Deutschen Bundesbank,
können wir unter Einhaltung des Prinzips der Vorsicht bei
der Aufstellung des Haushaltes mit Einnahmen von 2 Mil-
liarden Euro rechnen.
Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich bei dem Auf-
ruf der Fragesteller nach der Reihenfolge der Wortmel-
dungen vorgehe; denn es gibt relativ viele Wortmeldun-
gen.
Als Nächster erhält der Kollege Michelbach das Wort.
Frau Staatssekretärin, wie wollen Sie Ihre umfassende
Schwarzgeldamnestie mit einem wesentlichen Kapital-
rückfluss durchsetzen, wenn Sie gleichzeitig, wie heute
im Finanzausschuss vorgetragen, 40 Steuererhöhungen
mit einem Belastungsumfang von 42 Milliarden Euro be-
schließen? Ist damit ein Rückfluss von 20 Milliarden
Euro, wie Sie ihn annehmen, überhaupt möglich und wie
kommen Sie auf diesen Betrag?
D
Wie ich auf diesen Betrag komme, habe ich gerade
dem Herrn Kollegen Koppelin erläutert. Ich glaube, ich
kann mir mit Ihrem Einverständnis die Wiederholung er-
sparen.
Ich weise aber die in Ihrer Frage enthaltene Unterstel-
lung zurück, wir würden 40 Steuererhöhungen vorneh-
men. Das ist, um es vorsichtig auszudrücken, eine un-
technische Formulierung.
Sie als Mitglied des Finanzausschusses müssten eigent-
lich eine bessere Formulierung finden.
Nehmen wir uns einmal einige der Maßnahmen vor,
die Sie als Steuererhöhung bezeichnen, zum Beispiel die
im Bereich der Einführung des Regelsteuersatzes auf
landwirtschaftliche Vorprodukte. Unter den 40 Punkten,
die Sie als Steuererhöhungen anführen, sind das, wie ich
glaube, zwölf Maßnahmen. Ich gehe nicht davon aus, dass
zum Beispiel die Landwirte oder aber die Endverbraucher
von landwirtschaftlichen Produkten, in die landwirt-
schaftliche Vorprodukte eingegangen sind, in nennens-
wertem Umfang zu denjenigen gehören, die bisher
Schwarzgeld gebunkert haben. In diesem Bereich ist also
kein Zusammenhang festzustellen.
Herr Pinkwart.
Frau Staatssekretärin, ich möchte gerne im Nachgang
zu den Beratungen im Finanzausschuss von heute Morgen
im Hinblick auf Ihre Ausführungen zum Thema Kontroll-
mitteilungen nachfragen, welche Ausgestaltung sich die
Bundesregierung einfallen lassen wird, nachdem heute
Morgen Anträge der FDP- wie auch der CDU/CSU-Frak-
tion, die den Bedenken des Bundesdatenschutzbeauftrag-
ten Rechnung tragen, abgelehnt worden sind. In diesem
Zusammenhang wäre es gerade im Kontext der von Ihnen
vorgesehenen Brücke zur Steuerehrlichkeit und Erhöhung
der Steuerakzeptanz sehr interessant, zu erfahren, in wel-
cher Form die Bundesregierung meint, die Kontrollmit-
teilungen ersetzen zu können, bzw. inwiefern sie sie für
verzichtbar hält, um die von Ihnen erwähnte, letztlich
auch fiskalische Wirkung erzielen zu können.
D
Herr Kollege Pinkwart, die weitere Ausgestaltungbleibt dem Gesetzgebungsverfahren vorbehalten. Wie ichbereits ausgeführt habe, hat das Kabinett – ich habe ja ausder heutigen Kabinettssitzung zu berichten –, heute nichtdarüber entschieden. Ich darf aber noch einmal daraufJürgen Koppelin
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendrickshinweisen, dass im Zuge der Erarbeitung des Gesetzent-wurfs selbstverständlich ein Abwägungsprozess zwischendem Steueranspruch des Staates und dem Recht der Bür-ger auf informationelle Selbstbestimmung stattfindenwird.
Herr Kollege Dautzenberg.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin, Sie führten aus,
dass die vorgeschlagenen Eckpunkte in Form der Zinsbe-
steuerung eine relative Abgeltungsteuer darstellen, weil
Sie dem einzelnen Steuerpflichtigen auch die Möglichkeit
eröffnen, dass die Besteuerung nach seinem individuellen
Steuersatz erfolgt. Macht es aber Sinn, wenn Sie, wie be-
tont wurde, Bürokratieabbau anstreben und gleichzeitig
für die Erhebung der Abgeltungsteuer auf Kapitalein-
künfte direkt an der Quelle – dann ist die lückenlose Er-
fassung bereits gegeben – nach wie vor auf Kontrollmit-
teilungen bestehen? Dies ist doch nur dann sinnvoll, wenn
Sie die Kontrollmitteilungen noch für andere Elemente
nutzen, die im Grunde wenig mit steuerlichen Überlegun-
gen zu tun haben.
D
Herr Kollege Dautzenberg, ich habe eben schon mehr-
mals auf den Abwägungsprozess zwischen dem Recht des
Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung und dem
Steueranspruch des Staates hingewiesen.
Ich darf betonen, dass ich das Wort „Kontrollmitteilun-
gen“ bis jetzt als Antwort auf Ihre Frage heute noch nicht
in den Mund genommen habe. Ich denke, dass es nicht
zielführend ist, wenn Sie versuchen, mich hier heute fest-
zunageln. Dies wird dem weiteren Gesetzgebungsverfah-
ren, also zunächst der Formulierung des Gesetzentwurfs
der Bundesregierung, vorbehalten sein.
Ich darf aber auf Folgendes hinweisen. Sie haben ein-
gangs zu Recht festgestellt: Wenn dem Bürger weiter er-
möglicht werden soll, im Einzelfall auch weniger als
25 Prozent Steuern auf die Kaptitaleinkünfte zu zahlen,
weil sein persönlicher Steuersatz niedriger ist, dann kann
es keine vollständige Abgeltungsteuer geben. Im Zusam-
menhang mit Österreich wird immer wieder angeführt,
dass alle 25 Prozent zahlen und es niemals einen Sparer-
freibetrag gab. Das ist eine sehr einfache Regelung.
Es gibt aber immer einen Widerstreit zwischen Einfach-
heit und Gerechtigkeit. Wenn im Zuge der Einführung ei-
ner vollständigen Abgeltungsteuer eine Entlastung derje-
nigen, die bisher einen höheren Steuersatz zahlen,
erfolgen würde, während zukünftig diejenigen, die bisher
einem niedrigeren Steuersatz unterworfen sind, belastet
würden, würden wohl weder Sie als Volkspartei noch wir
das akzeptieren. Es ist sicherlich in unserem gemeinsamen
Interesse, so zu verfahren wie vorgesehen. Deswegen kann
keine vollständige Abgeltungsteuer eingeführt werden.
Aus diesem Grunde sind für die Zukunft Verifikations-
möglichkeiten notwendig. Wie diese ausgestaltet werden,
bleibt dem Gesetzgebungsverfahren vorbehalten. Aber
wir sind von Verfassungs wegen dazu veranlasst, die Ve-
rifikation bzw. Nachprüfbarkeit des Besteuerungsan-
spruchs des Staates vorzusehen, auch wegen der mögli-
chen Option, weiterhin unter die bestehende niedrige
Besteuerung zu fallen.
Herr Kollege Seiffert.
Frau Staatssekretärin, insbesondere die 20 Milliarden
Euro, die Sie an Kapitalrückflüssen erwarten, sind auch in
der Öffentlichkeit relativ stark umstritten. Meinen Sie
nicht, dass dieser Betrag eher durch die Einführung eines
anonymisierenden Verfahrens, das auch stärker vertrau-
ensbildend wirken würde, zu erreichen wäre? Das würde
bedeuten, dass diese Gelder ohne Kontrollmitteilungen
und ohne Einzelnachweis anonym zurückgebracht wer-
den könnten. Es ist schließlich zu befürchten, dass die de-
klarierten Gelder als Bemessungsgrundlage für alle mög-
lichen Zwecke herangezogen werden.
D
Eine strafbefreiende Erklärung ist schon deswegen
notwendig, weil wir natürlich auch die internationalen
Regelungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der or-
ganisierten Kriminalität einhalten müssen. Mit einer sol-
chen Erklärung – das hatte ich Ihnen schon zu Beginn
meiner Ausführungen gesagt – gibt es keine weiteren
Nachforschungstatbestände für die Finanzbehörden mehr.
Außerdem könnte es sein, dass man irgendwann später
von der Finanzbehörde gefragt wird, woher man das Geld
habe. Dann muss man doch in der Lage sein, zu sagen:
Das habe ich damals erklärt. Sonst ist man doch hinterher
der Dumme. Wie soll man denn Vertrauen entwickeln,
wenn man in Zukunft nicht nachweisen kann, wie das
Geld in den Besitz gekommen ist? Gerade im Interesse
desjenigen, der sich steuerehrlich macht, ist es notwendig,
dass er im Zweifelsfall sagen kann: Das war doch Gegen-
stand meiner Erklärung von Dezember 2003. Diese Si-
cherheit braucht er doch auf jeden Fall. Eine reine ano-
nyme Nacherklärung ist schon aus diesem Grund nicht
möglich. Das sollten wir einvernehmlich so sehen, weil
sonst der Bürger in Unsicherheit bleibt.
Frau Dr. Lötzsch.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin Hendricks, das,was als Rückkehr in die Steuerehrlichkeit bezeichnet
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wird, ist ja eigentlich – das Wort ist schon gefallen – einAmnestiegesetz. Gibt es denn in der Geschichte der Bun-desrepublik bzw. in den anderen europäischen LändernErfahrungen mit solchen Amnestiegesetzen und, wenn ja,welche Effekte hatten solche Gesetze?D
In der Geschichte der Bundesrepublik – darauf hatte
ich schon eben hingewiesen – gab es ein ähnliches Gesetz
im Jahr 1990. Das bezog sich allerdings ausschließlich auf
die hinterzogenen Kapitalzinsen, also auf solche Zinsen,
die nicht der Besteuerung unterlegen haben. Unser Vor-
schlag ist weiter gehend; denn er bezieht sich auch auf das
„Schwarzgeld“. Dass ein 25-prozentiger Steuersatz für
das nacherklärte Kapital fällig wird, ist ein außerordent-
lich günstiges Angebot. Es gibt selbstverständlich auch in
anderen europäischen Ländern Erfahrungen mit solchen
Amnestiegesetzen. Italien, Spanien, aber auch andere
Länder haben in jüngerer Vergangenheit ihren Steuerbür-
gern solche Angebote gemacht. Sie sind natürlich – das
gilt auch für die Steuersätze – immer unterschiedlich aus-
gestaltet gewesen. Aber im Prinzip sind solche Angebote
immer von Erfolg gekrönt gewesen.
Herr Kollege Spiller.
Frau Staatssekretärin, ich möchte noch einmal auf den
Prozess der Abwägung zwischen Datenschutzbelangen
und dem Anspruch, das Steuerrecht in der Praxis durch-
zusetzen, zurückkommen. Können Sie bestätigen, dass
das hier angesprochene Problem nicht erst bei den ge-
planten Kontrollmitteilungen über Kapitaleinkünfte auf-
taucht, sondern dass es beispielsweise bereits seit langem
auch bei Grundstücksveräußerungen und Grundstücks-
käufen Mitteilungen an das örtliche Finanzamt gibt? Kön-
nen Sie auch bestätigen, dass es bereits heute Mitteilun-
gen an das örtliche Finanzamt gibt, in denen wesentlich
mehr Daten offenbart werden, als es bei den geplanten
Kontrollmitteilungen vorgesehen ist? Ich möchte das
näher erläutern: Es gibt Schriftstücke an das Finanzamt,
in denen nicht nur die Höhe des Einkommens, sondern
auch die familiären Verhältnisse, die Anzahl der Kinder
und die Religionszugehörigkeit verzeichnet sind. Die
Schutzbedürftigkeit dieser Angaben, die unter das Per-
sönlichkeitsrecht fallen, bewerte ich sehr hoch. Diese
Schriftstücke nennen sich Lohnsteuerkarten.
D
Herr Kollege Spiller, ich kann Ihnen das bestätigen. Es
ist in der Tat so, dass in der Öffentlichkeit gerade bei Ka-
pitalerträgen normalerweise ein anderer Maßstab ange-
legt wird, wenn es um das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung geht, als beim übrigen Besteuerungs-
verfahren; das ist einfach so. Manchmal hat man in der Tat
den Eindruck, dass es viele Verbände gibt, die Steuerhin-
terzieher schützen wollen.
Herr Kollege Dr. Meister.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin, wenn man das,
was Sie vorgetragen und geantwortet haben, mit dem ver-
gleicht, was in der Pressekonferenz des Bundeskanzlers
und des Bundesfinanzministers geäußert worden ist, dann
stellt man fest, dass die Darstellungen an zwei Stellen weit
auseinander liegen. Meine Frage ist: Wie hoch schätzen
Sie den Verlust an Vertrauen in den Kapitalmarkt ein, der
durch die Diskrepanz zwischen dem, was heute im Bun-
deskabinett verabschiedet worden ist, und dem, was Bun-
deskanzler und Bundesfinanzminister in einer gemein-
samen Pressekonferenz vorgestellt haben, entsteht? In der
gemeinsamen Pressekonferenz wurde mitgeteilt, dass
auch nach Einführung einer relativen Zinsabgeltungsteuer
alle Steuerpflichtigen ihre Freibeträge und auch ihren per-
sönlichen Steuersatz in Anspruch nehmen können. Das,
was dort mitgeteilt wurde, scheint nicht mehr zu gelten.
Das heißt, man sorgt für eine massive Verunsicherung im
Kapitalmarkt und bei den Anlegern.
Was die Kontrollmitteilungen und das von Ihnen hier
vorgestellte Wahlverfahren angeht: Damit geht ein massi-
ver Bürokratiezuwachs in Deutschland einher. Wie brin-
gen Sie das mit dem Ziel dieser Regierung, Bürokratie ab-
zubauen, in Einklang?
D
Herr Kollege Meister, es gibt keinen Unterschied zudem, was der Bundeskanzler und BundesfinanzministerEichel in ihrer Pressekonferenz im Dezember des vergan-genen Jahres gesagt haben, nämlich dass der Sparerfrei-betrag erhalten bleibt. Das ist auch so. Ich sage noch ein-mal: Es wird dem weiteren Gesetzgebungsverfahrenvorbehalten bleiben, die Ausgestaltung im Einzelnen vor-zunehmen.Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was wir vor-haben, zu einer Verunsicherung des Kapitalmarktes führt.Wir ergreifen diese Maßnahme insbesondere aus folgendenGründen – Kollege Solms und vor allem die Banken-verbände haben uns seit Jahren, zu Recht, darauf hin-gewiesen –: Es gibt, insbesondere im Ausland, in nen-nenswertem Umfang Schwarzgeld, welches von Unter-nehmern nicht als Eigenkapital vorgezeigt werden kann.Angesichts der schwieriger werdenden Bedingungen derKapitalmarktfinanzierung möchten Betriebsinhaber ihrirgendwann ins Ausland gebrachtes Schwarzgeld gernnach Deutschland zurückbringen, um ihre Eigenkapital-quote zu stärken. Außerdem gibt es vermehrt Menschen,die Schwarzgeld erben.Wenn man Schwarzgeld erbt, das in der Schweiz liegt,dann kann man damit zwar vielleicht wunderschöne Ur-laube in Sankt Moritz finanzieren; aber man kann esschlecht in seinen heimischen Finanzkreislauf einbezie-hen. Drei Wochen Urlaub in Luxemburg – ich möchtedem luxemburgischen Regierungschef Juncker nicht zunahe treten – macht eigentlich niemand. Was soll manalso mit dem geerbten Schwarzgeld machen? Vor diesemDr. Gesine Lötzsch
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara HendricksHintergrund verfolgt unsere Politik das Ziel, die Eigenka-pitalquote derjenigen, die in früherer Zeit auf nicht steuer-ehrliche Weise Schwarzgeld erworben oder ohne ihr Zu-tun Schwarzgeld geerbt haben, zu erhöhen.Ich glaube, dass der Kapitalmarkt damit deutlich stabi-lisiert wird, weil Deutschland ab dem nächsten Jahr inVerbindung mit der dann erhobenen Kapitalertragsteuerin Höhe von 25 Prozent auch im internationalen Vergleichäußerst moderat besteuert, sodass auch aus diesem Grundkein Interesse mehr daran bestehen kann, sein Geld imAusland anzulegen.
Mir liegen noch Wortmeldungen der Kollegen Schindler,
Pinkwart, Kolbe und Michelbach vor. Danach möchte ich
diesen Komplex gerne abschließen, damit hoffentlich
noch ein wenig Zeit für andere Fragen zur heutigen Kabi-
nettssitzung verbleibt.
Herr Kollege Schindler.
Frau Staatssekretärin, dieser Ansatz ist allgemein zu
begrüßen. Aber was wollen Sie gegen das Misstrauen, das
auch in Ihren Formulierungen zum Ausdruck kommt, tun?
Sie benutzen die Begriffe „informelle Gleichstellung“
und „Verifikation“. In diese Begriffe kann man viel hinein-
interpretieren. Welche vertrauensbildenden Maßnahmen
wollen Sie – ich erinnere an den Vorschlag der Banken-
verbände – ergreifen? Ich rate Ihnen, Unternehmern nicht
noch einmal zu unterstellen, sie hätten ihr Geld im Aus-
land deponiert, nur weil das einige Banker vielleicht an-
nehmen. So weit sollten Sippenhaft und Verdächtigungen
nicht reichen; sonst erweckt man den Eindruck, alle Un-
ternehmer in diesem Staat würden so handeln.
Wie wollen Sie das Vertrauen, dass totale Anonymität
besteht, herstellen, wenn Sie gleichzeitig Kontrollmittei-
lungen wollen? Wenn das, was Sie vorhaben, kommt,
dann wird es keinen Kapitalrückfluss geben. Ohne das
nötige Vertrauen werden diejenigen, die gewillt sind, ihr
Kapital in zwei oder drei Jahren nach Deutschland
zurückzuholen, das nicht tun. Anders gesagt: Aufgrund
der Kontrollmitteilungen werden diese Personen fürch-
ten, dass man sie rechtlich noch belangen kann.
Wie hoch wird der staatliche Aufwand für die Kontroll-
mitteilungen sein? Ihr Ansatz als solcher ist doch voll-
kommen irrelevant, weil er nicht die nötige Wirkung er-
zielt. Man traut Ihnen doch nicht.
D
Herr Kollege Schindler, zu Beginn Ihrer Frage haben
Sie zwei Begriffe genannt, die – wie Sie es ausdrücken –
zum mangelnden Vertrauen beitragen bzw. sogar Miss-
trauen schüren. Ich will diese beiden Begriffe aufgreifen.
Zunächst komme ich auf den Begriff der „informatio-
nellen Selbstbestimmung“ zu sprechen. Dieser Begriff
stammt aus dem Datenschutzrecht – dazu gibt es auch ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts; das wurde im Zu-
sammenhang mit der Volkszählung erstritten –, der im
Wesentlichen beinhaltet, dass der Bürger das Recht an sei-
nen eigenen Daten hat und sie auch gegenüber Verwal-
tungsbehörden nicht vollständig öffnen muss. Es werden
also Grenzen gezogen. Wie aus diesem Sachverhalt man-
gelndes Vertrauen erwachsen soll, verstehe ich nicht.
Möglicherweise haben Sie meine Aussagen nicht richtig
verstanden.
– Ja. Der Begriff des „informationellen Selbstbestim-
mungsrechts“ wurde vom Datenschutzbeauftragten in die
Debatte eingebracht, um das einmal deutlich zu sagen.
Dieses Grundrecht der Bürger haben wir selbstverständ-
lich mit den Ansprüchen des Staates abzuwägen.
Den Begriff „Verifikation“ haben nicht wir, sondern
das Bundesverfassungsgericht gebraucht. Verifikation
heißt im Übrigen nichts anderes als Nachprüfbarkeit.
– Nein. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt
Folgendes: Der Gesetzgeber ist verpflichtet, dafür zu sor-
gen, dass die Gesetze, die er erlässt, auch in gleicher
Weise für alle Steuerbürger angewandt werden. Wenn der
Gesetzgeber nicht zugleich die Handhabe für eine gleiche
Anwendung für alle Bürger schafft, dann ist das Gesetz
verfassungswidrig.
Gerade deswegen gibt es einen Vorlagebeschluss, der
von Professor Tipke initiiert worden ist. Er hält das jetzige
Kapitalertragsbesteuerungssystem unter dem Gesichts-
punkt der Verifikation für verfassungswidrig, weil die
Nachprüfung eben nicht ausreichend ist. Das ist uns also
von Verfassungs wegen aufgegeben.
Ich bitte Sie als Mitglied dieses Hohen Hauses sehr
herzlich, die Prinzipien unserer Verfassung – das tun Sie
gewiss – zusammen mit uns zu beachten und nicht anzu-
nehmen, dass man daraus eine Verunsicherung der Bürger
ableiten könnte.
Ich füge hinzu: Der Bürger, der sein bisher nicht er-
klärtes Kapital nacherklärt, muss, wenn die Finanzver-
waltung zukünftig Fragen bezüglich der Herkunft des
Geldes stellt, nachweisen können, dass er das bereits er-
klärt hat. Beispielsweise muss er sagen können: Das habe
ich doch damals, im Dezember 2003, erklärt. Ein total
anonymisiertes Nacherklärungsverfahren würde dem
Bürger diese Möglichkeit nehmen und ihn für die Zukunft
in einer Position der Unsicherheit belassen.
Herr Kollege Pinkwart.
Frau Staatssekretärin, inwieweit kann der von Ihnenvorgesehene pauschalierte Nachversteuerungssatz, denSie in zwei Stufen einführen wollen, vor dem Hintergrundder Erfahrungen, die mit derartigen Maßnahmen im Aus-
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land bereits gesammelt werden konnten, tatsächlich zudem von Ihnen angestrebten Erfolg führen, den Steuer-widerstand zu überwinden und damit zu mehr Steuerehr-lichkeit und zu erhöhten Staatseinnahmen zu kommen?Meine Frage bezieht sich auf die Höhe des pauschaliertenNachversteuerungssatzes wie auf die Fristigkeit. Wir ha-ben es nicht nur mit Geldvermögen zu tun, sondern auchmit Sachvermögen. Dabei stellt sich die Frage der Liqui-dierung dieser Werte, damit die Steuerschuld überhauptentrichtet werden kann.Mir erscheinen die in Ihrem Eckpunktepapier genann-ten Zahlen – bis Jahresende 25 Prozent, bis Sommer desnächsten Jahres 35 Prozent – sowohl hinsichtlich des Zeit-raums als auch hinsichtlich der Höhe des Nachversteu-erungssatzes zu eng bemessen zu sein.D
Was die Höhe des Nachversteuerungssatzes anbetrifft,
möchte ich auf Folgendes hinweisen: Es geht nicht nur um
die Frage „Sind Kapitalerträge der Steuer nicht unterwor-
fen worden?“ Vielmehr gehen wir davon aus, dass es sich
um bisher überhaupt nicht versteuertes Kapital handelt,
dass also schon die Quelle schwarz ist. Wenn der Bürger
nachweisen kann, dass das nicht so ist und er – in An-
führungszeichen – lediglich die Kapitalertragszinsen der
Steuer bisher nicht unterworfen hat, so kann er dies natür-
lich nachträglich anmelden. Er wird dann entsprechend be-
steuert. Dann wird selbstverständlich nicht davon ausge-
gangen, dass bereits die Quelle des Geldes schwarz war.
Wenn Sie im Übrigen bedenken, dass es sich um bisher
unversteuertes Geld gehandelt hat und möglicherweise
auch Sozialversicherungsbeiträge hinterzogen wurden,
müssen Sie davon ausgehen, dass normalerweise Steuer-
und Sozialabgaben in einer Größenordnung von 65 und
70 Prozent fällig gewesen wären. Vor diesem Hintergrund
ist eine Nachbesteuerung in Höhe von 25 bzw. 35 Prozent
ein generöses Angebot.
Was die kurze Frist anbelangt, so ist es dem Gesetzge-
ber aufgegeben, den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen:
Du hast eine Chance, aber ergreife sie auch! – Die Frist
für solche Chancen kann man nicht beliebig verlängern
und solche Chancen kann man auch nicht beliebig ver-
mehren. Wiederkehrende Amnestien, also solche, die alle
paar Monate neu aufgelegt werden, würden bei den Bür-
gerinnen und Bürgern sicherlich noch mehr Rechtsunsi-
cherheit schaffen.
Herr Kollege Kolbe.
Frau Staatssekretärin, worauf bezieht sich die ange-
dachte Strafbefreiung, nur auf das Steuerdelikt, die Steuer-
hinterziehung oder Steuerverkürzung, oder auch auf das
möglicherweise davor begangene Grunddelikt?
Die Frage darf ich an einem Beispiel deutlich machen:
Nicht versteuertes Geld kann völlig legal erwirtschaftet
worden sein, kann unter Begehung von Ordnungswidrig-
keiten – Verstöße gegen Arbeitszeitbestimmungen oder im
Zusammenhang mit Aufenthaltserlaubnissen – erwirt-
schaftet worden sein, kann unter Missachtung der Sozial-
versicherungsvorschriften erwirtschaftet worden sein, kann
aber auch unter Begehung schwerster Verbrechen – ge-
werblicher Menschenhandel oder gewerblicher Drogen-
schmuggel – erwirtschaftet worden sein.
Worauf bezieht sich also die Strafbefreiung, nur auf das
Steuerdelikt, die Steuerhinterziehung oder die Steuerver-
kürzung, oder darüber hinaus auch auf das möglicher-
weise vorhergehende Grunddelikt? Wenn das Grunddelikt
erfasst wird, ist die weitere Frage: Wird zwischen den
möglichen Grunddelikten differenziert und, wenn ja, wie?
D
Sie bezieht sich auf das Delikt Steuerverkürzung oder
Steuerhinterziehung und auch auf die damit möglicher-
weise in Verbindung stehende Hinterziehung von Sozial-
versicherungsbeiträgen.
Ich habe eingangs schon ausgeführt, dass selbstver-
ständlich die nationalen, europäischen und internationa-
len Regelungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der
organisierten Kriminalität beachtet werden müssen. Wir
würden uns sonst im internationalen Rahmen nicht
pflichtgemäß verhalten. Wir haben die Geldwäschericht-
linie der Europäischen Union in nationales Recht umge-
setzt und wir müssen auch die Vereinbarungen in der
OECD zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität
berücksichtigen.
Selbstverständlich gilt die Strafbefreiung nicht für sol-
che Grunddelikte. Auch aus diesem Grund ist es nicht
möglich, ein rein anonymisiertes Rückkehrverfahren zu
installieren; denn dann würden wir die organisierten Kri-
minellen aller Welt gleichsam auffordern, ihr Geld jetzt in
Deutschland reinzuwaschen. Wenn man weiß, wie müh-
sam Kriminelle ihr Geld normalerweise waschen – sie ge-
hen meinetwegen in ein Spielkasino, wobei für sie die
große Gefahr besteht, eine ganze Menge zu verlieren;
trotzdem scheint es sich für sie immer noch zu lohnen, mit
dem Gewinn, der dabei herauskommt und der dann weiß
ist, wegzugehen –, dann kann man ermessen, wie attrak-
tiv es wäre, nur 25 Prozent abgeben zu müssen.
Letzte Frage, Kollege Michelbach. Auch wenn allen
Beteiligten klar ist, dass die Materie nun einmal sehr kom-
plex ist, bitte ich mit Blick auf die für die Regierungsbe-
fragung festgelegte Zeitdauer um eine möglichst knappe
Frage und eine ebenso knappe Antwort.
Frau Staatssekretärin, werden Sie bei Ihrer Schwarz-geldamnestie nicht von einem doch sehr einfach struktu-rierten fiskalischen Wunschdenken geleitet? Ein Steuer-satz von 25 Prozent bzw. 35 Prozent ist im internationalenVergleich doch sehr hoch. Mich würde dann noch interes-sieren: Ist das inklusive oder exklusive Kirchensteuer undDr. Andreas Pinkwart
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Hans MichelbachSoli? Ferner: Warum haben Sie diesen Einnahmewunsch-betrag gleich in den Haushalt eingestellt? Daraus ergibtsich der Eindruck, dass Sie damit den Haushalt retten wol-len. Ist das eigentlich die einzige Grundlage?D
Es entspricht dem Grundsatz von Haushaltswahrheit
und Haushaltsklarheit, dass absehbare Einnahmen in den
Haushalt eingestellt werden. Da die Bundesregierung be-
absichtigt, dieses Gesetz bald auf den Weg zu bringen – es
soll noch in der ersten Jahreshälfte verabschiedet wer-
den –, und deswegen heute diese Eckpunkte so beschlos-
sen hat, ist das eine vollständige und zutreffende Grund-
lage für die Aufnahme dieses erwarteten Betrages in den
Haushalt. Natürlich ist es interessant, in diesem Jahr noch
mit 25 Prozent davonzukommen. Daher ist unsere Erwar-
tung sicherlich nicht zu hoch angesetzt.
Sie haben das Spezialproblem Solidaritätszuschlag
und Kirchensteuer angesprochen. Ja, dafür müssen wir im
Gesetzgebungsverfahren noch eine Lösung finden. Das
ist bei einer Abgeltungsteuer gar nicht so einfach. Dieses
Problem wird noch zu lösen sein. Das haben wir den Kir-
chen auch zugesagt. Rein gesetzestechnisch ist das aller-
dings nicht so leicht. Darüber müssen wir uns noch einige
Gedanken machen.
– Soli und Kirchensteuer, beides; selbstverständlich.
Wir dürfen den Steueranspruch der Kirchen und natür-
lich auch den Solidaritätszuschlag nicht einfach unter den
Tisch fallen lassen. Dafür müssen wir eine Lösung finden;
das werden wir auch. Ich kann Ihnen aber die Lösung
noch nicht präsentieren, weil es, wie bereits gesagt, rein
gesetzestechnisch nicht so einfach ist. Selbstverständlich
wird aber darüber nachgedacht und der Steueranspruch
der Kirchen gewährleistet bleiben.
Zu sonstigen Fragen an die Bundesregierung über den
behandelten Themenbereich hinaus gibt es eine Wortmel-
dung des Kollegen Grund.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Frage geht an
Herrn Staatssekretär Schlauch. Herr Staatssekretär, in den
letzten Tagen berichteten verschiedene Tageszeitungen in
Deutschland von der Absicht des Bundeswirtschaftsminis-
ters, innerhalb Deutschlands Sonderwirtschaftszonen,
also Gebiete minderen Rechtes, einzurichten. Darüber
wollte er das Kabinett in der letzten oder in dieser Woche
informieren. Aufgrund dieser Mitteilung, der auch nicht
widersprochen wurde, haben sich verschiedene Industrie-
und Handelskammern in Deutschland insbesondere aus
den neuen Bundesländern gemeldet, die gerne in ihrem
Bereich eine Sonderwirtschaftszone hätten.
Meine Frage lautet: War dieser Ministervorstoß Gegen-
stand der heutigen Kabinettssitzung? Wenn nicht, gibt es
überhaupt Denkansätze des Ministeriums in diese Rich-
tung und wie gedenkt man, diese umzusetzen?
R
Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die
Errichtung von Innovationsregionen oder Sonderwirt-
schaftszonen war heute nicht Gegenstand der Beratungen
des Kabinetts. Wir haben aber im Wirtschaftsausschuss
dieses Thema heute ausführlichst besprochen, unter star-
ker Beteiligung auch von Kolleginnen und Kollegen der
Opposition.
Es würde jetzt zu weit führen, wenn ich diese Diskussion
zusammenfassen oder wiederholen würde.
Es gibt auch einen schriftlichen Bericht des Wirtschafts-
ministeriums, der heute Gegenstand der Beratungen des
Wirtschaftsausschusses war und in dem der Stand der Dinge
aufgeführt ist. Ansonsten bin ich und ist selbstverständlich
auch das Haus gerne bereit, weitere Fragen zu beantworten.
Jetzt würde das aber, wie ich glaube, den Rahmen sprengen.
Das ist jedenfalls mit Blick auf die Zeit zutreffend.
Ich beende damit die Regierungsbefragung und rufe
den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 15/438, 15/460 –
Gemäß Ziffer 10 der Richtlinien für die Fragestunde
sind zunächst dringliche Fragen aufzurufen. Sie liegen auf
Drucksache 15/460 vor und betreffen den Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums für Gesundheit und So-
ziale Sicherung. Zur Beantwortung steht uns die Parlamen-
tarische Staatssekretärin Frau Caspers-Merk zur Verfügung.
Wir kommen zunächst zur dringlichen Frage 1 des
Kollegen Hartmut Koschyk:
Aufgrund welcher Erkenntnisse hat das Bundesministerium
für Gesundheit im August 2002 auf die illegale Lagerung von
Pockenviren in Russland, Nordkorea und vor allem im Irak
hingewiesen – vergleiche „Frankfurter Allgemeine Sonntags-
zeitung“ vom 16. Februar 2003 – und über welche Informationen
verfügt die Bundesregierung hinsichtlich der Lagerung und mög-
lichen Herstellung von weiteren biologischen Kampfstoffen?
M
Herr Kollege Koschyk, Ihre Frage beantworte ich wiefolgt: Nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden
2076
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2077
waren und sind Anschläge in Deutschland mittels Pocken-viren weiterhin eher unwahrscheinlich. Gesicherte Er-kenntnisse darüber, dass Terroristen im Besitz von Pocken-viren sind bzw. über entsprechende Anschlagsplanungen,lagen und liegen nicht vor. Eine konkrete Bedrohung istinsofern nicht gegeben.Nach unbestätigten nachrichtendienstlichen Informatio-nen, die der Bundesregierung vorliegen, besteht die Mög-lichkeit, dass Erreger der Humanpocken auch noch außer-halb der beiden legalen Hinterlegungsstellen – das sind dieLaboratorien in Atlanta, USA, und Koitsovo, Russland –existieren. Der Irak hat Mitte der 90er-Jahre bezüglich sei-nes Biowaffenprogramms gegenüber der Überwachungs-kommission der Vereinten Nationen UNSCOM ein so ge-nanntes Camel-Pox Project deklariert, also ein Projekt mitKamelpocken. Gesicherte Erkenntnisse, dass er über Er-reger von Humanpocken verfügt, liegen nicht vor.
Zusatzfrage, Herr Kollege Koschyk?
Frau Staatssekretärin, über welche Erkenntnisse ver-
fügte dann die Bundesgesundheitsministerin, als sie be-
reits im Mai 2002 bei der Jahrestagung der Weltgesund-
heitsorganisation, WHO, in Genf öffentlich davon sprach,
es werde vermutet, dass auch im Irak Pockenviren gela-
gert würden, weshalb vorsorglich Impfdosen für alle
Menschen in Deutschland angeschafft würden?
M
Herr Kollege, die WHO hat in einer ersten Pressemit-
teilung vom 2. Oktober 2001 ihre Mitgliedsnationen auf-
gefordert, Pockenimpfstoff anzuschaffen, weil sich die
Bedrohungslage nach dem 11. September weltweit verän-
dert hat. Diesem Vorschlag der WHO sind wir unverzüg-
lich nachgekommen. Eine konkrete Bedrohung lag nicht
vor; aber eine Bedrohung ist niemals auszuschließen. Das
heißt, hier handelt es sich um eine vorsorgende Politik.
Deshalb haben wir mit der Beschaffung von entsprechen-
dem Impfstoff nicht erst im Zusammenhang mit dem Irak-
konflikt, sondern bereits Ende des Jahres 2001 begonnen.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Koschyk?
Frau Staatssekretärin, kann denn die Bundesregierung
eine Analyse des Bundesnachrichtendienstes bestätigen,
über die die Tageszeitung „Die Welt“ vom 19. November
des vergangenen Jahres berichtet hat, wonach der Ver-
dacht besteht, dass der Irak noch immer einen Teil seiner
in Munition abgefüllten biologischen Kampfstoffe besitzt
und der Irak den Besitz von Anthrax, Botulinustoxin und
Aflatoxin in munitionierter Form zugegeben hat und an
der Forschung und Entwicklung von Mykotoxinen, Rota-
viren, ebenso an Pocken, getarnt als Kamelpocken, arbei-
tet, woraus der BND laut Tageszeitung „Die Welt“
schlussfolgert:
„Die verwendeten Produktionsmethoden und hohen
Ausbeuten deuten auf eine fortgeschrittene Techno-
logie hin.“ Es müsse befürchtet werden, dass der Irak
„innerhalb von mehreren Monaten sein B-Waffen-
Programm wieder aufleben lassen könnte“.
M
Sehr geehrter Herr Kollege, zunächst einmal will ich
festhalten, dass wir zu dieser Pressemitteilung nicht Stel-
lung nehmen. Zu der Gefährdungslage habe ich ausführ-
lich Stellung bezogen. Der 11. September 2001 und die
Folgeanschläge haben verdeutlicht, dass islamistische
Terroristen durch ihre Anschläge den Tod Tausender Un-
schuldiger herbeiführen wollen. Das Bundeskriminalamt,
das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundes-
nachrichtendienst beurteilen übereinstimmend, dass kei-
ne Anzeichen für eine kurz- oder mittelfristige Entspan-
nung dieser insgesamt hohen Gefährdungslage gesehen
werden. Es dürfte daher klar sein, dass die Bundesregie-
rung für alle möglichen Gefahren Vorsorge zu treffen hat.
Ich weise allerdings nochmals darauf hin, dass keine
gesicherten Hinweise auf konkrete Anschläge mit Pocken
in Deutschland oder gegen deutsche Interessen im Aus-
land vorliegen. Insofern sage ich ausdrücklich, dass es
sich hier um eine abstrakte und nicht um eine konkrete
Gefährdungslage handelt. Aber auch auf abstrakte Ge-
fährdungslagen muss die Bundesregierung vorbereitet
sein. Eine abstrakte Gefährdungslage haben Sie zum Bei-
spiel, wenn Sie in einem Haus mit Feuer rechnen müssen.
Für diesen Fall haben wir eine Feuerwehr und Brandmel-
der. Eine konkrete Gefährdungslage bestünde, wenn ein
Brandstifter unterwegs wäre. Wir halten daran fest, dass
wir derzeit eine abstrakte Gefährdungslage haben.
Wir sollten in der Diskussion über das Thema Pocken,
über das sich die Menschen draußen Sorgen machen, auch
klar sagen, dass wir zwar für einen eher unwahrschein-
lichen Eventualfall Vorsorge treffen, aber dass wir gut da-
ran tun, auf diesen Eventualfall vorbereitet zu sein.
Die nächste Wortmeldung ist von Frau Kühn-Mengel.
Da
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hätte die Bundesregierung also in je-
dem Fall, auch bei noch so geringer Wahrscheinlichkeit,
dass Pockenviren freigesetzt werden, diese Maßnahme er-
griffen und befinden Sie sich hier auch im Einklang mit
Fachleuten im In- und Ausland?
M
Frau Kollegin Kühn-Mengel, wir befinden uns in voll-ständigem Einklang mit den Fachleuten im In- und Aus-land. Alle betreiben Vorsorge durch die Vorhaltung vonParl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-MerkPockenimpfstoff. Es ist ja so, dass die Pocken Ende der70er-Jahre international als ausgerottet galten. Aus die-sem Grunde stand praktisch nirgendwo mehr Impfstoff zurVerfügung oder es gab nur noch Restbestände. Insofern wares vorsorgende Politik, diesen Impfstoff zu besorgen unddie Bestände Zug um Zug aufzufüllen. Wir befinden unsdamit auch in Übereinstimmung mit den Bundesländern; eshandelte sich um eine gemeinsame Beschaffungsaktion.Wir hätten in jedem Fall, auch bei einer geringeren Be-drohung, so handeln müssen; denn bei diesem Erreger ist dieeinzige Vorsorgemöglichkeit das Impfen. Auch bei einemsehr viel kleineren Restrisiko hätten wir im Sinne einer vor-ausschauenden Gesundheitspolitik immer so gehandelt.
Frau Kollegin Mantel.
Frau Staatssekretärin, hat die Bundesregierung ihre
Verbündeten und vor allem auch die UNO-Inspektoren
über ihre Erkenntnisse hinsichtlich der Gefährdungslage
informiert?
M
Frau Kollegin, ich habe gerade erläutert, dass es keine
konkrete, sondern nur eine abstrakte Gefährdungs- und
Bedrohungslage gibt. Wir haben also keine anderen Er-
kenntnisse als die, die es international gibt. Ich will noch
einmal deutlich sagen, dass wir nicht mehr wissen als die
Waffeninspekteure. Um mehr Informationen zu bekom-
men, sollen sie im Irak ihre Arbeit tun.
Herr Kollege Dreßen.
Frau Staatssekretärin, wir haben im Ausschuss über das
Problem sehr intensiv und sehr offen diskutiert. Ich hatte
dort das Gefühl, dass die Opposition mit dem, was wir ge-
tan haben, einverstanden war. Deswegen verstehe ich
nicht – das kann man verschiedenen Pressemeldungen
entnehmen –, dass das jetzt anders gesehen wird.
Meine Frage an Sie: Erfolgte die Einschätzung hin-
sichtlich der Gefährdung durch Pockenerreger im Ein-
klang mit den Ländern oder gab es bei den Vorgesprächen
andere Meinungen? Halten Sie das, was derzeit abläuft,
nämlich dass man versucht, sozusagen eine Panik los-
zutreten, nicht für etwas wirr? Ich bin wirklich schockiert,
wie die Opposition zum Teil unsere Maßnahmen kritisiert.
M
Herr Kollege Dreßen, wir haben im Gesundheitsaus-
schuss und auch im Haushaltsausschuss in mehreren Sit-
zungen in der Tat sehr umfangreich über die Beschaffung
des Pockenimpfstoffs informiert. Darüber hinaus gab es
seit dem 15. Oktober 2001 in diesem Hohen Hause elf
schriftliche und mündliche Fragen von Kolleginnen und
Kollegen an die Bundesregierung. Auch diese Fragen sind
umfassend beantwortet worden.
Ich glaube, es muss einen Grundkonsens darüber geben,
dass die Beschaffung des Pockenimpfstoffs in unser aller
Interesse liegt und dass es am besten wäre, wir müssten ihn
niemals einsetzen. Deswegen halte ich die haarspalterische
Debatte über die Gefährdungslage für wenig zielführend.
Herr Kollege Storm.
Frau Staatssekretärin, Sie haben ausgeführt, es gebe
nur eine abstrakte, aber keine konkrete Bedrohungslage.
Es gibt aber einen Vermerk aus Ihrem Ministerium vom
9. August, in dem von dokumentierten Erkenntnissen die
Rede ist, dass der Irak über Biokampfstoffe verfügt. Die
Ministerin hat in einer Sitzung des Haushaltsausschusses
am 13. November vergangenen Jahres erklärt, es sei da-
von auszugehen, dass Staaten wie Nordkorea oder Irak
über Pockenvirenstämme verfügten, weshalb es eine po-
tenzielle Bedrohung gebe. Deshalb sei auch die Gefahr
nicht auszuschließen, dass sich jemand selbst infizieren
könne, um als Selbstmordattentäter zu fungieren.
Dieses widerspricht klar Ihrer Aussage, es gebe nur
Hinweise auf eine abstrakte, aber nicht auf eine konkrete
Gefahr. Hat die Ministerin im Haushaltsausschuss in die-
sem Punkt wissentlich die Unwahrheit gesagt?
M
Herr Kollege Storm, ich weise das in aller Form zu-
rück. Mir liegt das Protokoll der Sitzung des Haushalts-
ausschusses vom 13. November vor. Wenn Sie genau
nachlesen, können Sie Formulierungen finden wie die, es
werde allerdings vermutet, dass es Pockenviren gebe, die
in Staaten wie dem Irak oder Nordkorea gelagert werden
könnten. Aus einem Konjunktiv einen Indikativ und aus
Hinweisen Nachweise zu machen ist nicht statthaft.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich die zuneh-mende öffentliche Aufregung angesichts der Tatsache,
2078
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2079
dass bereits im August diese Maßnahmen intern bekanntwaren und dass sie im November sowohl im Ausschussals auch in Pressemeldungen – es wurde eben die „Welt“zitiert – aufgegriffen wurden? Es gab damals ein ver-gleichsweise geringes Echo. Wie erklären Sie sich, dass eszu einer deutlichen Zunahme der öffentlichen Aufregunggekommen ist?M
Frau Kollegin, ich erkläre mir das so, dass die Be-
schaffungsaktion in den Zusammenhang mit der innen-
politischen Auseinandersetzung um den Irakkonflikt ge-
bracht wird, was nicht zutreffend ist. Wenn man die
gesamte Entwicklung zurückverfolgt – das hatte ich ein-
gangs erläutert –, dann stellt man fest, dass wir schon
Ende des Jahres 2001 die ersten 6 Millionen Impfstoff-
dosen, die damals noch verfügbar waren, gekauft haben.
Es handelte sich dabei um Bestände des Impfstoffes, der
früher von der WHO eingesetzt worden ist.
Das heißt, wir haben damals auf die aktuelle Bedro-
hungssituation nach dem 11. September 2001 reagiert.
Alle unsere Maßnahmen sind in den Zusammenhang mit
der allgemeinen Vorsorge für unsere Bevölkerung zu brin-
gen. Jetzt wird versucht, das Ganze in einen innenpoliti-
schen Zusammenhang zu stellen, der damals nicht gege-
ben war.
Herr Binninger.
Frau Staatssekretärin, Ihr Haus spricht von einem
Szenario mit bis zu 25 Millionen Toten in einem Fall, der
hoffentlich nie eintritt und gegen den man alles Erdenk-
liche tun muss. Ich frage Sie: Welche konkreten Erkennt-
nisse, die zu einem solchen Szenario Anlass geben, haben
Sie? Inwiefern können vor dem Hintergrund, dass wir
zwischen konkreter und abstrakter Gefahr unterscheiden,
infizierte Selbstmordattentäter das Pockenvirus hier wirk-
lich verbreiten?
M
Herr Kollege, wir können dies nicht ausschließen, da
es in den USA und in Russland jeweils ein Laboratorium
gibt, in denen entsprechende Virenstämme gelagert wur-
den, wobei nicht auszuschließen ist, dass aus diesen Be-
ständen Virenstämme abhanden gekommen und verbrei-
tet worden sind. Wir wissen es nicht. Nicht wissen heißt
in diesem Falle, dass man auf alles Erdenkliche vorberei-
tet sein muss. Die einzige Möglichkeit, Vorsorge zu be-
treiben, besteht darin, Impfstoffe einzulagern. Das tun wir
auch.
Ich darf Sie daran erinnern, dass gerade von Ihrer Frak-
tion bzw. von Ministerpräsident Koch im November letz-
ten Jahres vehement gefordert wurde, eine Versorgung mit
Impfstoff für die gesamte Bevölkerung vorzusehen. Wir
haben dies eingeleitet. Sie wissen, dass es eine Verabre-
dung der Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler
gab. Wir setzen dieses gemeinsam abgesprochene Vor-
gehen Zug um Zug um. Deswegen verstehe ich diese De-
batte und diese Auseinandersetzung darum nicht.
Frau Kollegin Lotz.
Frau Staatssekretärin, Sie hatten vorhin auf die Frage
des Kollegen Dreßen berichtet, dass Sie diese Vorsorge im
Einklang mit Fachleuten im In- und Ausland getroffen ha-
ben. Meine Frage lautet konkret: Welche Erkenntnisse la-
gen diesen Planungen zugrunde?
M
Frau Kollegin Lotz, wir haben unmittelbar nach der
Warnung durch die WHO und nach dem 11. September
reagiert, indem zwischen Bund und Ländern zum Thema
Gesundheitsschutz eine gemeinsame Arbeitsgruppe ein-
gerichtet wurde. Dort waren die Fachleute der Länder und
des Bundes für die Innen- und die Gesundheitspolitik un-
ter Moderation des Robert-Koch-Instituts beisammen. Im
Hinblick auf alle möglichen Formen bioterroristischer
Angriffe wurden dort Szenarien entwickelt. Eines der Er-
gebnisse war, dass wir in Bezug auf die Bedrohung durch
Pockenviren am schlechtesten geschützt sind, weil diese
Krankheit als ausgerottet galt und wir keine Impfstoffe
mehr eingelagert hatten.
Aus dieser Situation heraus haben wir gehandelt. Denn
bei einem Ausbruch dieser Krankheit ist das Bedrohungs-
szenario in der Tat enorm. Wir sind zudem der Auffas-
sung: Wenn man ein Risiko nicht ausschließen kann, muss
man Vorsorge betreiben.
Herr Kollege Schröder.
Frau Staatssekretärin, Sie sagen, dass Sie Vorsorge
treffen. Deshalb meine Frage: Was hat die Bundesregie-
rung bisher veranlasst und was wird die Bundesregierung
noch veranlassen, um die bei Pockenimpfungen entste-
henden Nebenwirkungen, die gefährlich sind, zu verhin-
dern?
M
Herr Kollege, Sie sprechen damit eine sehr schwierigeFrage an. Denn der derzeit eingelagerte Impfstoff hatkeine Zulassung mehr – dies ist im Übrigen weltweit so –,weil diese Krankheit als ausgerottet galt. Vor diesemHintergrund haben wir in Deutschland auch Ende der70er-Jahre die Reihenpockenimpfungen eingestellt. BeiDr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merkder Pockenimpfung gibt es ja Nebenwirkungen. Manspricht von ungefähr 50 bis 100 Nebenwirkungsfällen undein bis zwei Todesfällen pro 1 Million Impfungen. Des-wegen verbietet es sich auch, prophylaktisch zu impfen. Ausdiesem Grund haben wir in der damaligen Situation, als dieKrankheit als ausgerottet galt, eben nicht mehr geimpft.Der heutige Impfstoff, der von uns eingelagert wird, istim Labor getestet. Er ist stabil und kann auch nach Auf-treten eines ersten Falles noch bis zu fünf Tage eingesetztwerden. Die Impfungen sind dann noch voll wirksam. Esist Aufgabe der Hersteller, einen nebenwirkungsärmerenImpfstoff zu entwickeln. Im Moment bemühen sich zu-mindest zwei Hersteller, zunächst einmal die Zulassungfür den Impfstoff zu erwerben und als nächsten Schritt ei-nen nebenwirkungsärmeren Impfstoff zu entwickeln. Aberwir haben seit über 20 Jahren keine Erfahrungen mehr mitdiesem Impfstoff. Deshalb haben wir auch keine gesicher-ten Erkenntnisse, ob andere Formen, zum Beispiel eineVorimpfung mit MVA – darüber wurde in Bayern einmaldiskutiert –, wirklich wirksam sind und den vollen Impf-schutz bieten. Es gibt eben keine Erfahrungen an geteste-ten Menschen. Deswegen haben wir uns in der Logik sowie alle anderen Nachbarländer verhalten.
Herr Kollege Hohmann.
Frau Staatssekretärin, man hat aus Ihrem Hause, von
Ihrer Ministerin, und vom Herrn Bundesinnenminister
durchaus unterschiedliche Bewertungen des ganzen Sach-
verhaltes gehört. Wie erklären Sie sich diese unterschied-
lichen Bewertungen?
M
Ich glaube nicht, dass es zu unterschiedlichen Erklä-
rungen gekommen ist, sondern es wurde ein interner Ver-
merk hochgespielt. Es ist im Übrigen auch in den vier
Pressemitteilungen des BMGS zum Thema Pocken nach-
zulesen, dass die Einschätzung des BMGS vollständig der
Einschätzung entspricht, die auch der Bundesinnenminis-
ter vorgetragen hat. Wir sprechen von einer angespannten
Gefährdungslage, von einer Situation, in der es eine Ge-
fährdung geben kann, in der wir es aber nicht wissen und
aus diesem Grund Vorsorge betreiben. Ich verstehe nicht
ganz, weshalb wir kritisiert werden. Ich glaube, bei der
derzeitigen weltweiten Situation wäre es unverantwort-
lich, keine Vorsorge zu betreiben.
Da es zwischendurch immer wieder Signale gibt, die
die Frage beinhalten, ob wir Wortmeldungen registriert
haben: Ich hoffe, dass wir die allermeisten tatsächlich re-
gistriert haben. Die Zahl der Zusatzfragen hält sich ziem-
lich stabil bei einem Dutzend. Diesen Hinweis gebe ich,
damit jeder weiß, mit welchem Zeitaufwand noch zu rech-
nen ist.
Die nächste Wortmeldung ist die des Herrn Kollegen
Wodarg.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilen Sie die von Bayern
in die Diskussion gebrachte Nutzung des bei München
hergestellten MVA-Impfstoffes angesichts der Tatsache,
dass dort wahrscheinlich mit weniger Nebenwirkungen
zu rechnen ist, dass aber auch wahrscheinlich die Schutz-
wirkung nicht so stark ist, dass also nicht sicher zu sagen
ist, ob überhaupt eine Schutzwirkung durch diesen Impf-
stoff besteht, und wie halten Sie es damit, dass wir die Be-
völkerung bundesweit möglichst in gleichem Maße schüt-
zen wollen?
M
Herr Kollege Wodarg, ich kann das fachlich nicht
selbst beurteilen, sondern wir stützen uns hierbei auf die
Beurteilung durch das Robert-Koch-Institut. Dort wird
gesagt: Wenn es wirklich eine Bedrohungslage gibt, kön-
nen wir es uns nicht leisten, mit einer Vorimpfung zu be-
ginnen, ohne zu wissen, ob diese Vorimpfung nur die Ne-
benwirkungen oder auch die Impfwirkung reduziert. Aus
diesem Grunde haben wir uns für den konventionellen
Weg entschieden, im Übrigen gemeinsam mit den Bun-
desländern und den europäischen Partnern. Damit eine
Vorimpfung irgendwann einmal erfolgreich sein kann,
müssten die Impfstoffe weiterentwickelt und getestet wer-
den. Dies wäre Aufgabe der Herstellerfirma, die daran ja
auch ein großes Interesse haben müsste.
Herr Kollege Luther.
Frau Staatssekretärin Casper-Merk, im Zusammen-
hang mit der Aufstellung des Bundeshaushalts für 2002,
also im Jahr 2001, wurden vor dem Hintergrund des
11. September 6 Millionen Dosen Pockenimpfstoff ange-
schafft. Das geschah sicherlich vor dem Hintergrund der
„allgemeinen abstrakten Gefahr“, wie es Bundesminister
Schily bezeichnet hat. Für die Haushaltsvorlage, die im
August zur Beschaffung von weiteren Dosen geführt hat,
ist ausgeführt worden – ich zitiere aus einem Informa-
tionspapier für den Haushaltsausschuss –: „Neue Erkennt-
nisse der Nachrichtendienste über die Wahrscheinlichkeit
eines bioterroristischen Angriffs mit Pockenviren zwan-
gen angesichts des hohen Gefährdungspotenzials für die
Bevölkerung zu sofortigem Handeln.“ Können Sie mir
erläutern, welcher Unterschied in der Betrachtung der
derzeitigen Gefahrenlage gegenüber der allgemeinen, ab-
strakten Gefahrenlage, also im November 2001 gegen-
über dem Sommer 2002, besteht?
M
Zunächst, Herr Kollege Luther: Mein Name ist Caspers-Merk.
2080
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2081
Zweitens weiß ich gar nicht, ob Sie hier aus internenProtokollvermerken oder Vorlagen zitieren dürfen. Es be-fremdet mich immer etwas, wenn ich diese in der Zeitungwiederfinde; gerade dann, wenn man im Haushaltsaus-schuss Vertraulichkeit vereinbart.Nun möchte ich aber drittens gern Ihre Frage beant-worten. Es handelt sich bei den dokumentierten Erkennt-nissen um Vermerke, die alle von Mai 2002 und August2002 stammen. Sie müssen sehen: Wir diskutieren dies al-les jetzt vor einem anderen Hintergrund. Damals gab esim Prinzip keine Waffeninspektionen und keine gesicher-ten Erkenntnisse, sondern man hat gemutmaßt. Vor demHintergrund dieser abstrakten Gefährdungssituation wur-de Impfstoff beschafft.Ich erinnere mich, dass damals von allen Seiten gefor-dert wurde, den Pockenimpfstoff auf eine Vollversorgungder Bevölkerung aufzustocken. Auch von Ihrer Seite gabes laute Stimmen, dass wir die Vollbevorratung sehr schnellund sehr zügig vornehmen sollten.
Herr Kollege Strobl.
Frau Staatssekretärin, wir sind uns sicher einig, dass
wir wegen der Gefahr terroristischer Angriffe wachsam
sein und bleiben müssen, aber gleichzeitig nicht durch un-
gerechtfertigte Übertreibungen zu einer Panikmache in
der Bevölkerung kommen dürfen.
Deswegen ist meine Frage: Wie ist es eigentlich vor
diesem Hintergrund zu verantworten, dass in Ihrem Hause
Sprechzettel für die Ministerin und amtliche Vermerke ge-
fertigt werden, auf denen die Rede von 40 Prozent Todes-
fällen, das heißt 25Millionen Menschen allein in der Bun-
desrepublik Deutschland, im Falle eines terroristischen
Angriffs ist?
In diesem Zusammenhang frage ich auch: Wie beurtei-
len Sie es dann eigentlich, dass solche Sprechzettel aus
Ihrem Hause an die Presse lanciert werden, und wer trägt
dafür die politische Verantwortung?
M
Herr Kollege, auch ich finde, dass man mit den Sorgen
der Menschen nicht spielen sollte. Deswegen hat mich die
Art und Weise, wie diese Diskussion geführt wird, etwas
befremdet, weil wir uns doch einig sein sollten,
dass es eine richtige Politik war, den Impfstoff anzulegen,
zu bevorraten und Zug um Zug aufzustocken. Es war
zweitens richtig, dies vor dem Hintergrund der weltpoliti-
schen Gefährdungslage zu tun. Es ist auch richtig, dass
man hier durch eine innenpolitische Debatte nicht weiter-
hin zur Verunsicherung beitragen sollte.
Darüber hinaus will ich Ihnen gern noch einmal sa-
gen – ich habe hier vorhin aus dem Protokoll zitiert –:
Wenn Sie Hinweise haben, sind es keine Nachweise, und
eine Gefährdungssituation ist keine aktuelle, konkrete
und sichere Gefährdung. Deswegen sollten wir froh sein,
dass wir nicht über eine konkrete Gefährdungssituation in
Deutschland reden müssen, sondern für abstrakte Gefähr-
dungssituationen Vorsorge betreiben. Genau dies haben
wir getan.
Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie die Presse an
diese internen Dokumente kommt. Dies führt natürlich
dazu, dass wir unsere sehr offene Informationspolitik ge-
genüber Haushalts- und Gesundheitsausschuss noch ein-
mal überdenken.
Es besteht ja voraussichtlich noch Gelegenheit zur
Diskussion, sodass wir uns jetzt bei den zahlreichen an-
gemeldeten Wortmeldungen vielleicht zunächst auf diese
konzentrieren sollten.
Bitte schön, Frau Mattheis.
Frau Staatssekretärin, teilt die Bundesregierung die
Einschätzung von Fachleuten, dass ohne Vorsorge und im
Falle des Ausbruchs von Pocken in Deutschland mit un-
gefähr 30 Millionen Toten zu rechnen wäre?
M
Diese Zahl, die uns die Fachleute nennen, ist bei der
Pockenerkrankung leider Realität. Deswegen wäre der
Ausbruch der Pocken eben auch ein Super-GAU. Pocken
gehören zu den wenigen Krankheiten, die man nicht mit
Antibiotika, sondern nur durch Impfen in den Griff be-
kommen kann. Aus diesem Grunde ist die Vorsorge so
wichtig. Deswegen haben wir genau dies getan.
Herr Kollege Weiß.Gerald Weiß (CDU/CSU):Frau Staatssekretärin, können Sie mir bitte noch einmalerläutern – ich habe es nicht recht verstanden –, wie einM-Sprechzettel aus Ihrem Hause, der in die Redaktion der„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gelangt ist, als Be-gründung dafür dienen kann, dass Sie Ihren Informati-onspflichten gegenüber dem Gesundheitsausschuss unddem Haushaltsausschuss nicht mehr in dem gleichen Um-fang wie bisher genügen wollen?
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
M
Herr Kollege, ich habe mich in meinen Ausführungen
nicht nur auf den Sprechzettel, sondern auch auf ausführ-
liche interne Aktenvermerke bezogen, die ausgedruckt
worden sind.
Diese kamen nicht aus unserem Hause. Sie wurden an die
Mitglieder des Haushaltsausschusses zur Vorbereitung
der Beratung über die zusätzliche Ausgabe für den Impf-
stoff verteilt. Wie diese an die Presse gelangen konnten,
wissen wir nicht. Es kann auch nicht in unserem gemein-
samen Interesse liegen, dass so etwas an die Presse ge-
spielt wird. Die dadurch entstehende Verunsicherung liegt
sicher nicht im Interesse des Hauses.
Herr Kollege Reichenbach.
Frau Staatssekretärin, vor dem Hintergrund, dass be-
reits im August des letzten Jahres unter anderem in der
„FAZ“ auf Hinweise rekurriert wurde, dass unter Um-
ständen in Nordkorea, im Irak, aber auch möglicherweise
in anderen Ländern Biokampfstoffe und entsprechende
gefährliche Erreger existieren – neben Anthrax waren
auch Pocken genannt –, frage ich Sie: Ist es richtig, dass
diese allgemeinen Gefährdungshinweise bis heute allge-
mein geblieben sind, und ist es richtig, dass eine abstrakte
Gefährdung genauso von Korea wie von einem anderen
potenziellen Träger solcher Waffen ausgehen könnte, der
sich diese Waffen beschafft und irgendwo in dieser Welt
in Umlauf bringt?
M
Herr Kollege, es ist zutreffend, dass wir die Gefahr
nicht an einem bestimmten Staat und einer bestimmten Si-
tuation festmachen können. Wir müssen vielmehr davon
ausgehen, dass sich Pockenerreger in den Labors irgend-
welcher anderen Staaten befinden. Wir wissen es eben
nicht genau. Wir müssen deshalb auf diese Gefährdung
vorbereitet sein.
Sie wissen, dass es Aufgabe der Waffeninspekteure ist,
die Frage nach biologischen und chemischen Kampfstof-
fen zu beantworten. Wir erhoffen uns durch die Weiter-
arbeit der Waffeninspekteure mehr Klarheit.
Herr Kollege Bosbach.
Frau Staatssekretärin, wir stimmen Ihnen ausdrücklich
zu, dass streng zwischen Vermutungen, über die und de-
ren politische Wertung man streiten kann, und Tatsachen-
behauptungen, die stimmen müssen, unterschieden wer-
den muss. Für den Fall, dass sie nicht stimmen, haben wir
einen Untersuchungsausschuss eingerichtet.
Ich möchte Sie nur mit Tatsachenbehauptungen und
nicht mit Mutmaßungen konfrontieren. In dem Schreiben
vom 9. August 2002 zur Erlangung der Haushaltsmittel
zum Erwerb der Impfdosen heißt es unter anderem wört-
lich:
Den deutschen Sicherheitsdiensten liegen dokumen-
tierte Erkenntnisse vor, dass Pockenerreger außer-
halb der offiziellen Labore in Atlanta und Koitsovo
illegal, z. B. in Russland, Irak und Nordkorea, gela-
gert werden. Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass
sich Terrorgruppen um die Herstellung biologischer
Kampfstoffe bemühen.
Dies sind Tatsachenbehauptungen. Stimmt diese Bedro-
hungsanalyse? Stimmen die Sachverhalte oder stimmen
sie nicht? Ist das, was hier steht, richtig oder falsch? Eine
andere Möglichkeit gibt es nicht.
M
Herr Kollege Bosbach, dieser Vermerk ist im August
letzten Jahres und nicht vor einer zugespitzten innenpoli-
tischen Debatte über den Irak verfasst worden.
– Die Frage beantworte ich gern. Ich glaube, dass es rich-
tig ist, zum Thema „dokumentierte Erkenntnisse“
nochmals festzuhalten: Der Begriff „dokumentierte Er-
kenntnisse“ bezeichnet Hinweise auf das Vorliegen von
Informationen in aufbereiteter Form, denen eine Wahr-
scheinlichkeitsanalyse zugrunde liegt. Mit dokumen-
tierten Erkenntnissen sind aber keineswegs eindeutige
Beweise oder Erkenntnisse zur absoluten Sicherheit ge-
meint. Dieser Begriff beschreibt lediglich eine Gefähr-
dungslage.
Frau Müller, bitte schön.
Fra
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kanndie Bundesministerin ausschließen, dass Personen, dienicht geheimschutzermächtigt sind, in ihrem Haus an Un-
2082
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2083
terlagen gelangen können, die dem Geheimschutz unter-liegen?
M
Frau Kollegin, wir gehen natürlich davon aus, dass bei
uns alle Regelungen des Geheimschutzes eingehalten
werden. Allerdings wurde gerade, obwohl wir uns hier in
einer öffentlichen Fragestunde befinden, aus einem inter-
nen Aktenvermerk zitiert, der eigentlich nur Mitgliedern
des Haushaltsausschusses zugänglich war. So etwas wird
nach wie vor gemacht.
Wir werden dafür Sorge tragen, dass diese Diskussion
nicht weiter geführt wird, weil sie zur Verunsicherung der
Bevölkerung beiträgt. Die Menschen haben Sorge, ob
eine konkrete Gefährdung vorliegt. Eine solche konkrete
Gefährdung liegt – das betone ich noch einmal – nicht vor.
Es handelt sich um eine abstrakte Gefährdung, auf die wir
vorbereitet sind. Eine Debatte, wie wir sie führen, verste-
hen die Menschen außerhalb dieses Hauses sicherlich
nicht.
Herr Kollege Schmidbauer, bitte.
Frau Kollegin, angesichts dessen, was der Kollege
Bosbach eben hier zitiert hat, will ich nachfragen. In einer
Kurzinformation ohne Klassifizierung vom September,
an der Ihr Haus beteiligt war, wurde vermerkt,
dass geheime Informationen vorliegen, wonach die sofor-
tige Beschaffung des Impfstoffes ohne Rücksicht auf die
Rechtslage zu fordern sei, dass aber weitere Einzelheiten
wegen der Geheimhaltungsverpflichtung nicht mitgeteilt
werden könnten. Die Beschaffung von arzneimittelrecht-
lich nicht zugelassenem Pockenimpfstoff in dieser Situa-
tion ist nicht zu kritisieren. Aber wenn bei der Beschaf-
fung erklärt wird, dass geheime Informationen vorliegen,
dann kann es nicht nur „Hinweise“ gegeben haben; dann
müssen schon Fakten vorgetragen worden sein, mit denen
die Notwendigkeit dieser Schritte untermauert wurde.
M
Herr Kollege Schmidbauer, es handelt sich – das sage
ich nochmals – um Vermerke vom Sommer letzten Jahres.
Es gab damals weder Waffeninspektoren im Irak noch de-
ren Erkenntnisse. Wir hatten aus den 90er-Jahren nur ein-
zelne Hinweise – das habe ich vorhin vorgetragen –, dass
im Irak zum Beispiel mit Kamelpocken experimentiert
wurde. Das war angemeldet. Es war aber nicht auszu-
schließen, dass diese Kamelpocken weiterentwickelt wur-
den. Deswegen haben wir uns entschieden, Vorsorge zu
betreiben.
Hinweise sind allerdings keine Nachweise und auch
keine gesicherten Erkenntnisse. Alles, was wir damals
hatten, waren einzelne Hinweise, die von den Diensten
zusammengetragen wurden. Es gab schon im Okto-
ber 2001 ein ausdrückliches Votum der WHO – das mit
der Irakdebatte überhaupt nichts zu tun hatte –, Impfstoff
zu besorgen, um im Eventualfall die eigene Bevölkerung
zu schützen. Unsere europäischen Nachbarn haben dies
Zug um Zug getan. Auch wir in der Bundesrepublik
Deutschland verfügen heute über nahezu 50 Millionen
Dosen Impfstoff. Bis Ende März werden wir nahezu eine
Vollversorgung erreicht haben. Es besteht mit allen Bun-
desländern die Absprache – das wird von ihnen geteilt –,
dass wir bis zum September über 100 Millionen Dosen
verfügen werden. Auch hier waren sich alle in der Ge-
fährdungseinschätzung und bei dem, was zu tun ist, einig.
Auch der Phasenplan zur Abwehr wurde in Bund-Länder-
Arbeitsgruppen gemeinsam erarbeitet.
Frau Dr. Ober, bitte.
Frau Staatssekretärin, Anfang November letzten Jahres
forderte der hessische Ministerpräsident Roland Koch
eine volle Bevorratung mit Pockenimpfstoff,
weil – ich zitiere –
alles fachlich Notwendige zum Schutz unserer Be-
völkerung getan werden muss.
Wie war damals die Position der Bundesregierung dazu?
Und wie wird die Abstimmung mit den Partnern in Europa
und in Übersee gehandhabt?
M
Zunächst einmal: Als die Forderung des hessischenMinisterpräsidenten gestellt wurde, hatte die Bundes-regierung bereits gehandelt.
Ich hatte vorhin bereits gesagt, dass bis Ende 2001 auf-grund einer neuen Impftechnik – es geht um den Einsatzvon neuem Nadelmaterial – sechs Millionen Dosen auf24 Millionen Dosen weiterentwickelt werden konnten.Bis Oktober 2002, bevor also diese Forderung gestelltwurde, hatten wir weitere 11,3 Millionen Dosen allein ausBundesmitteln angeschafft. Am 19. Dezember fand die Mi-nisterpräsidentenkonferenz statt, auf der abgesprochenwurde, eine Vollbevorratung durchzuführen. Am 21. Januarund am 7. Februar haben wir dann die restlichen Dosen be-schafft, sodass wir Ende März – das habe ich bereits aus-geführt – eine Bevorratung von rund 70 Millionen DosenHildegard Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merkerreicht haben werden. Als diese Forderung aufkam, hat-ten wir also längst gehandelt.Im internationalen Bereich befinden wir uns im Einklangmit unseren Partnern. Es gab die so genannte Ottawa-Gruppe – dazu gehören die G7-Staaten, die WHO und dieEU-Kommission –, die genau dieses, nämlich das Anle-gen einer Vollbevorratung, für die Bevölkerung geforderthat. Dabei wurde überhaupt nicht über Details der Sicher-heitslage gestritten. Nach dem 11. September hat sich dieWelt verändert. Auf diese neuen Gefährdungssituationenmüssen wir vorbereitet sein.
Herr Kollege Grindel.
Frau Staatssekretärin, ich möchte noch einmal auf den
Vermerk vom 9. August mit dem Hinweis auf dokumen-
tierte Erkenntnisse zurückkommen. Trifft es zu, dass dieser
Vermerk das Bundesfinanzministerium über das Bundes-
innenministerium erreicht hat und dass das Bundesinnen-
ministerium keinerlei Veränderungen vorgenommen hat,
dass sich die Erkenntnisse, die dort bestanden, also offen-
bar mit der Einschätzung, die in diesem Vermerk wieder-
gegeben worden ist, decken?
M
Sie haben bezogen auf das Bundesinnenministerium
gefragt. Deshalb bitte ich das Bundesinnenministerium,
dazu Stellung zu nehmen.
Ich kann nur wiederholen: Wir haben es nochmals
überprüft. Die Ministerin hat im Haushalts- und im Ge-
sundheitsausschuss immer gesagt, dass zwar keine ge-
sicherten Erkenntnisse vorliegen, man es aber nicht aus-
schließen kann. Aus dieser Situation heraus werde der
Pockenimpfstoff beschafft. Deswegen weiß ich auch
nicht, was zu kritisieren ist. Egal, ob die Gefährdungslage
niedrig oder anders einzuschätzen gewesen wäre: Wir hät-
ten in jedem Fall Impfstoff besorgt, weil es immer die bes-
sere Strategie ist, Vorsorge zu betreiben, als sich hinterher
in einer Situation zu befinden, in der keine Vorräte ange-
legt wurden.
Deshalb noch einmal: Wir haben es so verstanden, dass
im August Hinweise in Berichten – dort wurden sie zu-
sammengetragen – vorgelegen haben. Aus diesen Berich-
ten ist zitiert worden. Die Ministerin hat im Haushalts-
ausschuss aber eindeutig und klar gesagt, dass wir es nicht
sicher wissen. Aus diesem Grunde wollten wir Vorsorge
betreiben und haben um Unterstützung gebeten. Dieser
Bitte ist der Haushaltsausschuss dann auch nachgekommen.
Herr Kollege Rose.
Frau Staatssekretärin, nachdem Sie ständig versuchen,
das Wort „abstrakt“ zu verwenden sowie von Vorbeugung
zu reden, und sich dann wundern, dass es in der Innenpo-
litik derzeit eine größere Diskussion gibt, frage ich Sie:
Möchten Sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass der Bun-
desaußenminister auf der Sicherheitskonferenz in Mün-
chen im Zusammenhang mit Irak und Saddam Hussein
wörtlich davon gesprochen hat, dass er versucht, in den
Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen?
Ein Bundesminister äußert so etwas öffentlich und es
tauchen noch andere Meldungen auf, die von dem spra-
chen, was unter einem gewaltigen Druck damals – sicher-
lich lag dies einige Monate zurück – sowohl vom Bundes-
gesundheitsministerium als auch – dies hat der Kollege
Schmidbauer gesagt – vom Bundesverteidigungsministe-
rium geäußert wurde. Es ging um außerplanmäßige Aus-
gaben und erhebliche Forderungen an den Haushaltsaus-
schuss, der das sofort genehmigen möge. Glauben Sie
dann nicht, dass es sich nicht nur um eine hochgespielte
innenpolitische Diskussion, sondern um eine schwere
Sorge der Bevölkerung handelt, die endlich wissen will,
was hier gespielt wird?
M
Herr Kollege, ich glaube, dass hier nochmals auf eines
hinzuweisen ist: Wir hätten, egal wie die Gefährdungslage
auch aussieht, immer Impfstoff besorgt, weil dies von der
WHO schon im Oktober 2001 ausdrücklich gefordert
wurde.
Auf eine Bedrohung mit Pocken gibt es nämlich nur eine
Antwort: impfen.
Der zweite Punkt ist: Wir haben immer gesagt, dass wir
nicht sicher wissen, ob aus den beiden Labors Pockenviren
entwendet oder illegal weiterverbreitet worden sind. Da wir
das nicht wissen, kann ich Ihnen auch keine eindeutige Ant-
wort geben. Wir sind nicht im Besitz einer höheren Weisheit
als die Waffeninspekteure der UN. Wir verlassen uns auf de-
ren Berichte. Deswegen halten wir deren Arbeit für wichtig,
weil nur ein Bericht letzte Sicherheit bringen kann.
Herr Kollege Schönfeld.
Frau Staatssekretärin, aufgrund der Art und Weise, wievonseiten der Opposition die Fragen gestellt werden, hatman den Eindruck, dass eine konkrete Gefahr herbeigere-det werden soll.
2084
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2085
Stimmen Sie mir zu, dass die Antiterrorgesetze, die vonder Bundesregierung in diesem Hohen Hause nach dem11. September 2001 gemeinsam auf den Weg gebrachtwurden, in erster Linie aufgrund einer sehr abstrakten Ge-fährdungssituation und weniger aufgrund einer konkretenGefahr für Deutschland entstanden sind? Verhält es sichmit der jetzigen Situation der Versorgung mit dem Pocken-impfstoff durch die Bundesregierung nicht genauso?M
Herr Kollege Schönfeld, ich will Ihnen ausdrücklich
zustimmen. Wir hätten dies immer getan – das habe ich
hier wiederholt geäußert –, weil es keine andere Mög-
lichkeit gibt, sich zu schützen, und weil die Pocken die
schlimmste Krankheit sind, die wir kennen. Deswegen
war es ein großer Erfolg der WHO, dass die Pocken-
krankheit als ausgerottet galt. Eines der Probleme aber
ist, dass man nicht genau weiß, ob die Labore, wo die
letzten Stämme gelagert werden, lückenlos überwacht
worden sind. Deswegen ist es in diesem Fall wichtig,
Vorsorge zu betreiben. Die einzige Möglichkeit ist hier
das Impfen.
Wir haben auch in anderen Bereichen der Terrorab-
wehr reagiert. Zur Einschätzung der Sicherheitslage ist
das Innenministerium hier vertreten. Zu diesem Punkt
will ich nichts sagen. In unserer Verantwortung liegt das
Thema Bioterrorismus. Wir haben nicht nur beim Thema
Pocken gehandelt, sondern mit der Bevorratung von
Antibiotika und der Entwicklung eines Stufenplanes ha-
ben wir zum Beispiel auch auf mögliche Anschläge mit
Anthrax reagiert. Insofern sind wir das Thema Bioterro-
rismus in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Anlei-
tung des Robert-Koch-Instituts neu angegangen, um un-
sere Bevölkerung besser zu schützen.
Herr Kollege Schockenhoff.
Frau Staatssekretärin, wie verträgt sich Ihre wiederholt
geäußerte Behauptung, dies sei eine abstrakte Bedrohung,
die nicht im Zusammenhang mit einem bestimmten Staat
stehe,
mit dem schriftlichen Vermerk Ihres Hauses an die ande-
ren Ressorts der Bundesregierung vom 9. August 2002,
den der Kollege Bosbach bereits zitiert hat und in dem es
heißt:
Die Anzeichen für einen möglicherweise kurzfristig
bevorstehenden Angriff der USA auf den Irak ver-
dichten sich.
Dies war ein schriftlicher Vermerk. Weiter heißt es:
Es steht zu befürchten, dass der Irak in einem solchen
Falle mit den ihm zur Verfügung stehenden biologi-
schen Kampfstoffen, also auch Pockenviren, rea-
giert.
Frau Staatssekretärin, hat Ihr Haus die Bundesregierung
falsch informiert oder sagen Sie hier die Unwahrheit?
M
Herr Schockenhoff, bleiben Sie bitte stehen. Das ge-
hört zu den Gepflogenheiten dieses Hauses.
Frau Staatssekretärin, in aller Regel kümmert sich das
Präsidium darum, die Gepflogenheiten des Hauses zu si-
chern.
M
Ich bedanke mich beim Präsidenten für die Fürsorg-
lichkeit.
Das Problem tritt bei allen Flügeln dieses Hauses im-
mer mal wieder auf. Es handelt sich in aller Regel nicht
darum, mit diesem Verhalten etwas zu demonstrieren,
sondern es wird schlicht und ergreifend nicht daran ge-
dacht stehen zu bleiben.
M
Herr Schockenhoff,
ich habe bereits vorhin auf diese Frage geantwortet. Ichhabe erläutert, dass der Begriff der dokumentierten Er-kenntnisse Hinweise auf das Vorliegen von Informationenin aufbereiteter Form bezeichnet, denen eine Wahrschein-lichkeitsanalyse zugrunde liegt. Er bezeichnet keines-wegs einen eindeutigen Beweis oder eine eindeutige Si-cherheit.
Ich weise Ihren Versuch, Unterschiede in der Einschät-zung zwischen Innenministerium und dem Ministeriumfür Gesundheit und Soziale Sicherung zu konstruierenoder uns eine falsche Informationspolitik anzuhängen,ausdrücklich zurück. Wir haben vollständig und ausführ-lich informiert.Karsten Schönfeld
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-MerkAlle Beschlüsse zur Beschaffung des Impfstoffs sind ingroßem Konsens gefasst worden. Wir haben auch im Auf-trag und mit Zustimmung der Länder gehandelt. Dennohne die Länder wäre es nicht zu dem Beschluss der Voll-bevorratung gekommen.
Die Einschätzung der Gefährdungslage ist doch damalsvon allen geteilt worden.
Herr Dr. Bürsch.
Frau Staatssekretärin, alle Fachleute – von der WHO bis
zu allen Experten in Deutschland – stimmen darin überein,
dass Vorsorge sein muss, um etwaigen Gefahren zu be-
gegnen. Wie beurteilt die Bundesregierung vor diesem
Hintergrund die Aussage des Gesundheitsexperten Horst
Seehofer
in der „Aachener Zeitung“ vom 18. Februar 2003, dass es
ohne eine konkrete Bedrohungslage keine ausreichende
Grundlage gebe, Millionen für Impfstoffe auszugeben?
Heißt das, dass die Union nicht dafür ist, dass jetzt Vorsorge
in dem von Ihnen geschilderten Sinne betrieben wird?
– Entschuldigung, wir lesen auch Zeitung, so wie Sie
Vermerke lesen.
M
Herr Kollege Bürsch, wenn das wirklich die Haltung
des Kollegen Seehofer wäre, müsste ich sie als verant-
wortungslos zurückweisen, weil wir auf alle Fälle Vor-
sorge betreiben müssen, auch wenn es nur ein Restrisiko
geben sollte.
Herr Kollege Niebel.
Frau Staatssekretärin, zunächst stimme ich Ihnen zu,
dass es richtig war, den Impfstoff zu besorgen. Deswegen
haben auch alle Bundesländer zugestimmt. Das ist aber
nicht das Thema der heutigen Befragung; es geht vielmehr
um die Informationspolitik der Bundesregierung.
Hierbei geht es in erster Linie um die Frage, ob die
Gefährdungslage, die diesen Vermerken zugrunde gele-
gen hat – Sie haben mehrfach darauf angespielt, dass die
entsprechenden und verlesenen Vermerke aus dem Au-
gust und September des vergangenen Jahres stammen –,
vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse anders be-
urteilt wird als damals und um welche Erkenntnisse es
sich handelt. Deswegen ist die Frage, die der Kollege
Schockenhoff vorgebracht hat, durchaus nicht unbe-
gründet. Haben Sie das Parlament oder die Regierung
falsch informiert?
M
Herr Kollege, ich will die Frage beantworten: Wir habenweder das eine noch das andere getan. Wenn Sie sich die elfFragen ansehen, die die Kolleginnen und Kollegen imLaufe der Zeit – beginnend mit dem 15. Oktober 2001 –zum Thema Pocken gestellt haben, dann werden Sie mer-ken, dass sich die Einschätzung der Gefährdungslage kon-tinuierlich durch diese Fragen hindurch gezogen hat unddass auch die Antworten immer auf einer Linie gelegenhaben. Wenn Sie die vier Pressemitteilungen aus unseremHaus lesen, werden Sie dasselbe feststellen.Wir wiederholen immer wieder, dass wir nicht aus-schließen können, dass jemand über Pockenviren inausreichender Menge und der notwendigen Form ver-fügt. Wir wissen auch nicht, ob er gegebenenfalls bereitist, diese einzusetzen und ob er über die dafür erforder-lichen Kapazitäten verfügt. Da es aber nicht auszu-schließen ist, müssen wir für diesen Fall gerüstet sein.Aus diesem Grund haben wir in unserer Argumentationdurchgängig eine Linie verfolgt. Das werden Sie sicher-lich bestätigen, wenn Sie das über den betreffenden Zeit-raum hinweg verfolgen. Mir liegt eine Frage des Kolle-gen Bonitz
vom 9. November 2001 vor, in der die Situation in glei-cher Weise beschrieben wurde wie heute. Insofern trifftder Vorwurf, dass wir falsch oder unvollständig informierthaben, nicht; vielmehr wird durch die Auswahl vonBruchstücken und einzelnen Sätzen fälschlicherweisedieser Eindruck erweckt. Man muss die Sätze aber im Zu-sammenhang lesen.Ich verweise auf das Protokoll des Haushaltsausschus-ses vom 13. November, in dem ausdrücklich nur von Hin-weisen und einer Möglichkeit geredet wird, aber nicht vonErkenntnissen.
2086
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2087
Eine letzte Zusatzfrage zur ersten dringlichen Frage
stellt der Kollege Fischer.
Frau Staatssekretärin, Sie haben festgestellt, dass Hin-
weise keine Nachweise sind. Dokumentierte Erkenntnisse
erhält man aber doch nicht durch Hinweise, sondern nur
durch Nachweise. Deshalb frage ich die Bundesregierung
u
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie haben sich beim Bundesinnenministe-
rium die dokumentierten Erkenntnisse geändert? So et-
was ändert sich doch nicht durch den Ablauf der Zeit.
Die Fragen, die an die Bundesregierung gerichtet wer-
den, werden von dem Vertreter oder der Vertreterin des
zuständigen Ministeriums beantwortet.
– Oder auch nicht. Das obliegt in der Tat der Souveränität
der Fragesteller wie derjenigen, die Antworten zu geben
haben. Aber es kann jetzt nicht gezielt das eine oder das
andere Ministerium befragt werden. Das ist innerhalb der
Bundesregierung abzustimmen, unabhängig von dem
Reiz, den eine solche Konstellation zugegebenermaßen
haben könnte.
Bitte, Frau Kollegin Caspers-Merk.
M
Die eben gestellte Frage richtet sich eigentlich an das
Bundesinnenministerium. Ich kann Ihnen diese Frage
nicht beantworten.
Dann schließe ich jetzt die Befragung zu der ersten der
zwei eingereichten dringlichen Fragen ab.
Ich rufe die zweite dringliche Frage des Kollegen
Koschyk auf:
Warum hat die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt nicht die
für Katastrophenschutz zuständigen Länder im erforderlichen
Umfang unterrichtet, wenn, wie in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ vom 17. Februar 2003 zitiert, die Bundesministerin für
Gesundheit, Ulla Schmidt, bereits in einem Brief vom 17. Mai
2002 an die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin von
dokumentierten Erkenntnissen, die eine grundsätzliche Bedro-
hung weltweit begründen, spricht?
Zur Beantwortung steht ebenfalls Frau Staatssekretärin
Caspers-Merk zur Verfügung.
M
Herr Kollege Koschyk, in Ihrer zweiten dringlichen
Frage spielen Sie auf das Verhältnis zwischen Bund
und Ländern an. Die Länder werden seit dem 11. Sep-
tember 2001 in den einschlägigen Bund-Länder-Gremien
fortlaufend über alle sicherheitsrelevanten Erkenntnisse
informiert. Dies gilt auch für die Bund-Länder-Arbeits-
gruppe „Gesundheitsschutz“, an der sowohl die für Ge-
sundheit wie auch für den Bereich Inneres und Kata-
strophenschutz zuständigen Ministerien der Länder
teilnehmen. Die Innenministerien und die Gesundheits-
ministerien arbeiten also Hand in Hand. Bund und Länder
haben über diese Arbeitskontakte hinaus einen gemeinsa-
men Stufen- und Phasenplan erstellt, der am 24. Oktober
letzten Jahres beschlossen wurde. Dies ist in Kooperation
zwischen Bund und Ländern erfolgt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Koschyk.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich dann die
heute in den Medien zu lesende Kritik der sächsischen
Gesundheitsministerin Christine Weber? Sie kritisiert,
dass die Länder vom Bund nicht eher in die Lage versetzt
worden seien, ihre vorbereitende Pflicht zu tun.
M
Herr Kollege, ich dachte mir schon, dass Sie danach
fragen werden. Deswegen habe ich mich vergewissert, ob
der Freistaat Sachsen ausreichend informiert und einge-
bunden war. Ich möchte Ihnen wie folgt antworten: Un-
verzüglich nach dem 11. September 2001 wurde mit den
Ländern eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Gesundheits-
schutz“ auf Ebene der Innen- und Gesundheitsminister
einberufen. Diese sorgt seitdem für einen kontinuierli-
chen Informationsabgleich und hat einen gemeinsamen
Stufenplan entwickelt. Im Rahmen der Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe wurden unter Moderation des Robert-Koch-
Instituts Unterarbeitsgruppen für eine dezidierte Logis-
tikplanung zum Pockenschutz eingerichtet, die ihren
Abschlussbericht am 24. Oktober 2002 vorgelegt haben.
Dieses Abschlussdokument beinhaltet die Punkte Organi-
sation von Schutzimpfungen, Hygieneplan, Diagnostik
und Therapiefragen. Das Land Sachsen hat an allen die-
sen Planungen und an allen Sitzungen der Unterarbeits-
gruppen teilgenommen.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Koschyk.
Frau Staatssekretärin, ich möchte noch einmal auf den
Vermerk aus Ihrem Haus vom 9. August des vergangenen
Jahres zu sprechen kommen. Nachdem wir zur Kenntnis
nehmen müssen, dass auf die mehrfach gestellten Fragen
nach der Mitbefassung des Innenministerium nicht geant-
wortet worden ist, obwohl die Parlamentarische Staats-
sekretärin des Innenministeriums anwesend ist, möchte
i
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist Ihnen bekannt, ob das Bundesministerium des
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Hartmut KoschykInnern im Rahmen seiner Mitbefassung der in dem Ver-merk vom 9. August wiedergegebenen Gefahreneinschät-zung widersprochen hat oder ob das Bundesinnenminis-terium sie geteilt hat?M
Das ist mir nicht bekannt.
Damit an dieser Stelle keine formalen Irritationen ent-
stehen, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Dass die an-
wesende Staatssekretärin des Innenministeriums dazu
nicht Stellung nimmt, hängt mit unseren Regelungen zur
Befragung der Bundesregierung zusammen und nicht
etwa mit einer möglichen Weigerung, auf gestellte Fragen
zu antworten.
– Ich muss jetzt ganz sicherlich keine zweckdienlichen
Hinweise geben, wie man – zwar nicht in dieser, aber in
der nächsten Plenarwoche – gegebenenfalls den gleichen
Effekt erzielen kann. Es spricht schon manches dafür,
dass wir uns an die Verfahrensregeln, die wir einver-
nehmlich beschlossen haben, im konkreten Fall halten.
Ich sehe, dass es dazu keine weiteren Fragen gibt.
Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Grund ge-
meldet.
Die Antworten der Bundesregierung bleiben wider-
sprüchlich, ausweichend und unbefriedigend.
Das wurde auch durch die vielen Nachfragen, die von Ab-
geordneten der Koalitionsfraktionen gestellt wurden,
deutlich. Namens meiner Fraktion beantrage ich deshalb
zum Thema „Gefährdung in Deutschland durch Pocken“
eine Aktuelle Stunde im Anschluss an diese Fragestunde.
Dem Verlangen der Fraktion der CDU/CSU auf Durch-
führung einer Aktuellen Stunde aufgrund der Antworten
der Bundesregierung auf die Dringlichkeitsfragen ist nach
Anlage 5 I 1 b unserer Geschäftsordnung stattzugeben.
Diese Aktuelle Stunde muss unmittelbar im Anschluss an
die Fragestunde durchgeführt werden.
Für die Fragestunde verbleibt die Zeit von einer knap-
pen Stunde. In dieser Zeit behandeln wir die anderen Fra-
gen der Fragestunde.
Nach den dringlichen Fragen rufe ich nun gemäß
Nr. 15 der Richtlinien für die Fragestunde vier schriftliche
Fragen des Kollegen Jens Spahn auf:
1/282
Wie viel Prozent derjenigen, die eine Ausbildung in einer der
Ausbildungswerkstätten der Bundeswehr durchlaufen haben, stel-
len sich danach als Zeit- oder Berufssoldaten zur Verfügung?
1/283
Gibt es eine nachvollziehbare Begründung, warum mit dem
Fluglehrzentrum F-4F in Rheine die angegliederte Ausbildungs-
werkstätte geschlossen werden soll, obgleich sie inhaltlich über-
haupt nichts mit dem Waffensystem zu tun hat?
1/284
Ist eine Angliederung der Ausbildungswerkstätte an einen an-
deren Standort der Bundeswehr in Rheine geprüft worden, insbe-
sondere mit Blick auf das Gerätehauptdepot, und, wenn ja, mit
welchem Ergebnis?
1/285
Ist geprüft worden, ob für 2003 noch einmal Auszubildende in
der Ausbildungswerkstatt beim Fluglehrzentrum F-4F für die drei-
jährige Ausbildung aufgenommen werden können, da diese ja un-
abhängig von der Standortschließung im Jahr 2006 beendet wäre?
Diese Fragen wurden nicht in der dafür vorgesehenen
Frist beantwortet. Da diese Fragen inzwischen schriftlich
beantwortet wurden, kann der Fragesteller nun nicht mehr
nach der Sache, wohl aber nach dem Grund für die Über-
schreitung der Wochenfrist fragen.
Für die Beantwortung steht der Kollege Wagner vom
Bundesministerium der Verteidigung zur Verfügung. Herr
Kollege Spahn, bitte.
Ich frage hiermit nach dem Grund für die Überschrei-
tung der Wochenfrist.
H
Lieber Herr Kollege, an der Beantwortung der vier Fra-
gen, die Sie zu den Themenkomplexen „Ausbildung“,
„Übernahme als Berufs- und Zeitsoldat“, „Schließung einer
Ausbildungswerkstatt“ und„Standortfragen“gestellt haben,
waren mehrereAbteilungen des Verteidigungsministeriums
beteiligt. Wegen der verschiedenen Zuständigkeiten in den
EinzelfragenundderdamitverbundenenKomplexitäthatdie
notwendige Abstimmung einen über das übliche Maß hin-
ausgehenden Zeitrahmen inAnspruch genommen.
Erschwerend und eigentlich entscheidend kam die
dienstlich bedingte Abwesenheit des für die Beantwor-
tung zuständigen Parlamentarischen Staatssekretärs, un-
seres Kollegen Walter Kolbow, hinzu – er war dienstlich
in Brüssel und anschließend auf der Sicherheitskonferenz
in München –, sodass Sie unser Antwortschreiben leider
erst am 11. Februar erreicht hat. Für dieses Versäumnis
bitte ich um Ihr Verständnis.
Herr Kollege Spahn, bitte.
Abgesehen davon dass mich dieses Antwortschreibennicht am 11. Februar erreicht hat, sondern dann erst abge-
2088
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2089
sandt wurde – es erreichte mich am 14. Februar –, also ab-gesehen davon, dass Sie zu spät geantwortet haben, findeich es noch viel unbefriedigender, dass Sie falsche, zu-mindest nicht mehr aktuelle Behauptungen in der Antwortaufgestellt haben. Der als Begründung für den fachlichenZusammenhang genannte mehrwöchige Einsatz in der In-standsetzungseinrichtung des Fluglehrzentrums F-4F inRheine erfolgt seit zwölf Jahren nicht mehr und ist damitgar nicht mehr aktuell. Da Sie für Ihre Antwort schon solange brauchten, interessiert es mich, warum Sie nicht aufaktuelle Tatsachen eingehen.H
Sie verlangen zu Recht eine Antwort auf Ihre Frage.
Ich kann Ihnen jetzt nicht antworten, weil ich diesbezüg-
lich nicht Bescheid weiß. Ich lasse das prüfen. Wir werden
selbstverständlich die Antwort schriftlich nachreichen.
Nachdem die Fragen des Kollegen Spahn nach dem
Grund der Fristüberschreitung bei der Beantwortung sei-
ner schriftlichen Fragen beantwortet worden sind, kom-
men wir nun zu den Fragen auf Drucksache 15/438.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Aus-
wärtigen Amts. Abweichend von der Reihenfolge der Fra-
gen auf der Drucksache werden die Fragen 1 und 2 des
Abgeordneten Dr. Klaus Rose später durch einen Vertre-
ter des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit be-
antwortet.
Die Fragen 3 und 4 des Kollegen Bindig werden schrift-
lich beantwortet. Ebenso werden die Fragen 40 und 41 des
Kollegen Dr. Luther schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-
tung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christoph
Matschie zur Verfügung. Die Fragen 5 und 6 der Kollegin
Dr. Lötzsch werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Lensing auf:
Welche konkreten Änderungen des Berufsbildungsgesetzes,
BBiG, plant die Bundesregierung, um die Ankündigung aus dem
Koalitionsvertrag von 2002 umzusetzen, das BBiG zu novellieren
sowie dessen Geltungsbereich zu erweitern, und welchen genauen
Zeitplan gedenkt sie für die Novellierung vorzusehen und einzu-
halten?
C
Herr Kollege Lensing, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Die Bundesregierung hat bereits in einem ersten
Schritt im Zusammenhang mit dem Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die Berufsausbildungs-
vorbereitung als eigenständigen Teil der Berufsbildung
in das Berufsbildungsgesetz eingefügt. Das ist seit dem
1. Januar dieses Jahres in Kraft.
Das Berufsbildungsgesetz soll darüber hinaus mit dem
Ziel novelliert werden, die duale Ausbildung zu stärken,
mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen zu
schaffen, die berufliche Bildung weiter zu internationali-
sieren, das Prüfungswesen zu modernisieren und den Gel-
tungsbereich des Gesetzes zu erweitern. Zur Vorbereitung
der Reform befindet sich die Bundesregierung in einem
intensiven Dialog mit Experten und Sozialpartnern. Im
Anschluss wird sie einen Gesetzentwurf erarbeiten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lensing.
Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie glauben, dass
all das, was Sie gerade ausgeführt haben, lediglich durch
die Novellierung oder totale Änderung des Berufsbil-
dungsgesetzes denkbar ist? Glauben Sie, dass hierdurch
verhindert wird, dass wir ein weiteres Maß an Regulie-
rungssucht und Bürokratie zu ertragen haben?
C
In der Diskussion im Zusammenhang mit der Novelle
des Berufsbildungsgesetzes geht es vor allem darum, das
Berufsbildungsgesetz den aktuellen Anforderungen anzu-
passen. Ich verweise nochmals darauf, dass wir beispiels-
weise Maßnahmen zur stärkeren Internationalisierung der
Berufsbildung einarbeiten müssen. Darüber werden Ge-
spräche auf internationaler Ebene geführt.
Weitere Zusatzfrage?
Ich warte die Antwort auf meine nächste Frage ab und
werde dann eine Zusatzfrage stellen.
Dann rufe ich die Frage 8 des Kollegen Lensing auf:
Welche Position vertritt die Bundesregierung gegenüber ge-
werkschaftlichen Forderungen nach einer Umlagefinanzierung,
einem Rechtsanspruch auf berufliche Ausbildung sowie einer
Übertragung der Aufgaben der für die Berufsbildung zuständigen
Stellen auf eine „neutrale Institution“?
C
Herr Kollege Lensing, Ihre Frage beantworte ich wiefolgt: Die Bundesregierung sieht die Entwicklung aufdem Arbeitsmarkt mit Sorge. Sie befindet sich mit denSozialpartnern in einem Dialog über die notwendigenMaßnahmen. Wir halten nach wie vor am Ausbildungs-konsens fest und werden die Wirtschaft verstärkt in diePflicht nehmen, ein ausreichendes betriebliches Ausbil-dungsplatzangebot sicherzustellen. Das Hauptziel musssein, bisher noch nicht ausbildende Betriebe – auch imwohlverstandenen Eigeninteresse – für die Berufsausbil-dung zu gewinnen. Wir wollen eine Allianz für Ausbil-dung, in der alle Verantwortlichen ihre AnstrengungenJens Spahn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretär Christoph Matschiebündeln und neue Initiativen für mehr betriebliche Aus-bildungsplätze verabreden und starten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lensing.
Nicht zuletzt die Gewerkschaften haben sich mit der
Frage der Umlagefinanzierung, einem Rechtsanspruch
auf berufliche Ausbildung sowie einer Übertragung von
Aufgaben auf eine neutrale Institution befasst und ent-
sprechende Forderungen gestellt. Vor diesem Hintergrund
möchte ich wissen, ob Sie den Gewerkschaften Hoffnung
machen, dass ihre Forderungen durch die Novellierung
des Gesetzes erfüllt werden. Wie hat man sich eine „neu-
trale Institution“ vorzustellen?
C
Herr Kollege Lensing, ich will zunächst noch einmal
betonen, dass wir uns auf der Grundlage des Ausbil-
dungskonsenses bewegen wollen. Die von Ihnen abge-
fragten Punkte sind nicht Teil des Konsenses und werden
deshalb im Moment auch nicht verfolgt.
– Welche Institution? Jetzt muss ich zurückfragen.
Wir haben den Eindruck, dass Sie nach der Verabschie-
dung des Berufsbildungsgesetzes eine Institution schaffen
wollen, die das im Einzelnen zu überwachen, zu überprü-
fen und zu kontrollieren hat.
C
Von einer solchen Absicht ist mir bisher nichts bekannt.
Wir befinden uns in der Anfangsphase der Diskussion mit
den Sozialpartnern über eine Novellierung des Berufsbil-
dungsgesetzes. Sie kennen diese Diskussion. Vor dem
Hintergrund dieser Diskussion werden die notwendigen
Änderungen verabredet und dann natürlich auch im zu-
ständigen Ausschuss diskutiert werden.
Gut. Vielen Dank.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Hohmann.
Herr Staatssekretär, wir sprechen hier über die Ausbil-
dung von jungen Menschen. Dafür ist von allen gesell-
schaftlich verantwortlichen Gruppen alles zu tun. Frage:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Ausbildungs-
stellen durch die desolate wirtschaftliche Entwicklung der
letzten vier Jahre weggefallen sind?
C
Herr Kollege, in den letzten vier Jahren hat es auf dem
Ausbildungsstellenmarkt eine Entwicklung gegeben, die
zu einer zunehmenden Anzahl von Ausbildungsplätzen
geführt hat. Im Jahr 2001 beispielsweise standen mehr
Ausbildungsplätze zur Verfügung, als es Ausbildungs-
platzsuchende gab. Es gibt im abgeschlossenen Ausbil-
dungsjahr 2002 noch einen ganz kleinen Bestand an un-
vermittelten Bewerbern. Diesen Personen – es handelt
sich um etwa 0,5 Prozent der Bewerber – werden weitere
Angebote gemacht werden.
Was das neue Ausbildungsjahr angeht, so kann man im
Moment noch keine konkreten Aussagen machen. Aller-
dings – deshalb habe ich gesagt: Wir beobachten die Ent-
wicklung mit Sorge – ist im Vergleich zum Vorjahr im
Moment eine geringere Anzahl betrieblicher Ausbil-
dungsplätze gemeldet. Deshalb wollen wir alles daranset-
zen, dass mehr betriebliche Ausbildungsplätze gemeldet
und zur Verfügung gestellt werden.
Wir sind am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht die Par-
lamentarische Staatssekretärin Frau Vogt zur Verfügung.
Die Fragen 9 und 10 des Kollegen Fromme sollen
schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 11 der Kollegin Petra Pau auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, dass jährlich Hunderte
Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen umkommen, und welche
Schritte gedenkt sie zu unternehmen, die insoweit fatalen Wir-
kungen dieser EU-Außengrenzen zu prüfen?
U
Sehr geehrte Frau Kollegin Pau, der Bundesregierung
sind statistische Erhebungen zu Ihrer Fragestellung nicht
bekannt. Ich verweise zudem auf die Antwort, die wir Ih-
nen im Rahmen der Fragestunde im Deutschen Bundestag
am 12. Februar 2003 auf Ihre Frage – das war die Fra-
ge 40 – gegeben haben.
Zusatzfrage, Frau Pau.
Selbst wenn Ihnen die Zahlen nicht bekannt sind, sogibt es ja öffentlich zugängliche Presseberichte. Geradeerst haben wir wieder von der Festnahme von Schleppernan der deutsch-polnischen Grenze gehört. Insofern inte-
2090
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2091
ressiert mich, welche Anstrengungen die Bundesregie-rung auch im Rahmen der Europäischen Union unter-nimmt, um diese Zustände an den EU-Außengrenzen an-ders und erträglicher zu gestalten.U
Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, sind für uns die
Daten zu Todesfällen zum Beispiel an der deutsch-polni-
schen Grenze und an der deutsch-tschechischen Grenze er-
fassbar. Es handelt sich um vier Fälle an der deutsch-polni-
schen und einen Fall an der deutsch-tschechischen Grenze.
Wir sind insgesamt bemüht, im Rahmen der Krimina-
litätsbekämpfung auf internationaler und auf europäischer
Ebene das Schleuserunwesen zu bekämpfen und die ille-
gale Migration einzugrenzen, möglichst zu verhindern. In
diesem Sinne sind wir tätig. Aber es gibt keine statistisch
erfassten Daten. Unsere Bemühungen auf internationaler
und europäischer Ebene richten sich darauf, solche ille-
galen Wanderungen zu verhindern.
Weitere Zusatzfrage?
Danke.
Dann haben wir auch diesen Geschäftsbereich abge-
handelt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Wirtschaft und Arbeit. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Rezzo Schlauch zur
Verfügung.
Ich rufe zunächst die beiden Fragen des Kollegen Rose
zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts auf, die
– darüber besteht Einvernehmen – durch das Wirtschafts-
ministerium beantwortet werden sollen.
Frage 1 des Kollegen Rose:
Ist der Bundesregierung bekannt, inwieweit nach wie vor deut-
sche Firmen mit irakischen Geschäftspartnern Dual-use-Ge-
schäfte betreiben, also mit Gütern, die auch militärischen Zwecken
dienen können?
Frage 2 des Kollegen Rose:
Falls ja, beabsichtigt die Bundesregierung eine stärkere Kon-
trolle von wirtschaftlichen, politischen oder anderen deutsch-ara-
bischen Gesellschaften, soweit in deren Reihen Firmenvertreter
Kontakte auch mit irakischen Unternehmen unterhalten?
R
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Rose, mit Ihrer Zu-
stimmung beantworte ich beide Fragen zusammen.
Zu Frage 1: Seit dem Irakembargo von 1990 finden ge-
nehmigte Exporte in den Irak nur noch in der Form von
humanitären Lieferungen in begrenztem Umfang sowie
von Gütern statt, die im Rahmen des seit 1996 bestehen-
den „Oil for Food“-Programms geliefert werden. Der Ex-
port solcher Güter setzt im Regelfall sowohl eine Geneh-
migung der zuständigen VN-Gremien als auch des
Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA,
voraus.
Die Vereinten Nationen haben eine Goods Review List
erstellt, auf der die von Ihnen angesprochenen Dual-use-
Güter im Einzelnen gelistet sind. Ausfuhren der von die-
ser Liste erfassten Güter bedürfen der Zustimmung des
Sanktionsausschusses der Vereinten Nationen. Dem BAFA
liegen keine Anträge deutscher Firmen vor, die Güter ent-
halten, die unter diese Goods Review List fallen. Im Übri-
gen würde es der deutschen Genehmigungspolitik zu Aus-
fuhren an den Irak entsprechen, bei Zweifeln über die
erforderliche zivile Verwendung der Ware die im Rahmen
des Totalembargos nur ausnahmsweise mögliche Geneh-
migung nicht zu erteilen.
Zu Frage 2: Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen
zum Irak unterhalten, ist das umfassende Handelsem-
bargo bekannt. Auch wirtschaftliche, politische oder an-
dere deutsch-arabische Gesellschaften kennen diese Em-
bargobestimmungen, die auch alle Tätigkeiten zur
Förderung verbotener Ausfuhren, Einfuhren und Dienst-
leistungen untersagen. Verstöße gegen die Embargobe-
stimmungen werden von den zuständigen Strafverfol-
gungsbehörden verfolgt und können mit Freiheitsstrafen
bis zu 15 Jahren geahndet werden. Sie sind mit Sicherheit
darüber informiert, dass vor kurzem ein solches Verfahren
vor dem Landgericht Mannheim stattgefunden hat. So-
weit die Embargovorschriften eingehalten werden, sind
Geschäftskontakte mit irakischen Unternehmen, zum
Beispiel zur Erlangung von Aufträgen für genehmigungs-
fähige Ausfuhren im Rahmen des Oil-for-Food-Programms
zulässig.
Vor dem Hintergrund der umfassenden Embargorege-
lungen erscheinen der Bundesregierung weitere Vor-
schriften zur Beschränkung derartiger Geschäftskontakte
nicht erforderlich.
Zusatzfrage, Herr Kollege Rose?
Trügt mich der Eindruck, Herr Staatssekretär, dass Sie
zwar die offizielle Linie ordnungsgemäß vorgetragen ha-
ben, aber, wenn nicht der „Spiegel“ und Sendungen wie
„Report“ die Unwahrheit berichten, Verschiedenes ge-
schieht, an dem auch Organe der Bundesregierung betei-
ligt sind, und solche Geschäftskontakte stattfinden?
R
Nach meiner Kenntnis trügt dieser Eindruck, und zwardeshalb, weil die Gesetzeslage so eindeutig ist, dass ei-gentlich keine Grauzonen möglich sind. Denken Sie ins-besondere daran, dass hier in erster Linie UN-GremienPetra Pau
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauchzuständig sind und es dann, wenn etwas gegen diese Ge-setzeslage geschieht, Sache der Strafverfolgungsbehör-den ist. Vonseiten der Bundesregierung jedenfalls werdenGenehmigungen, die nicht der gesetzlichen Regelung ent-sprechen, nicht erteilt.
Zweite Zusatzfrage.
Teilt dann die Bundesregierung die Erkenntnisse des
Kölner Zollkriminalamtes, wonach auf Reisen von deut-
schen Geschäftsleuten, die von der deutschen Regierung
ja stark unterstützt werden, illegale Kontakte, so möchte
ich das einmal nennen, mit Geschäftspartnern im Irak an-
gebahnt werden, bei denen durchaus auch illegale Rüs-
tungsexporte angestrebt werden? Das ist, wie gesagt, an
vielen Stellen nachzulesen.
R
Mir ist nicht bekannt, dass die Bundesregierung Reisen
von Geschäftsleuten in den Irak unterstützt; schon gar
nicht Reisen, auf denen illegale Geschäfte angebahnt wer-
den sollen. Diesbezüglich gibt es vonseiten der Bundes-
regierung keine Aktivitäten.
Weitere Zusatzfrage.
Ich möchte noch nachhaken. Natürlich kann man, wie
es in diesem Umfeld üblich ist, nicht von Hause aus je-
mandem unterstellen, dass er, wenn er ein Visum erhält
und bei Pass- und Zollformalitäten sowie bei der Bagdad-
Messe die Unterstützung der Botschaft bekommt, etwas
Illegales treibt. Das ist schon klar.
Trotzdem stehen wir gerade gegenüber dem Irak in ei-
ner engen Front in Bezug auf das Waffen- und Handels-
embargo, sodass ich mich als Mitglied einer Bundes-
regierung noch nicht einmal dem Verdacht aussetzen
würde, Kontakte zu unterstützen, die man hinterher auf-
grund anderer Quellen feststellen kann.
Ich frage Sie deshalb konkret – obwohl ich das lieber
das Auswärtige Amt gefragt hätte –: Warum unterstützt
man dann solche Kontakte oder Institutionen – die vom
Auswärtigen Amt Mittel erhalten –, in denen die Bedeu-
tung des irakischen Diktators ganz offiziell herunterge-
spielt wird – völlig anders als im Fall des Chefs des Aus-
wärtigen Amtes, der ihn als Diktator bezeichnet – und die
Leute beschäftigen, die diesen Diktator als eigentlich fast
liebenswerten Menschen bezeichnen?
R
Herr Kollege Dr. Rose, Sie benutzen den Ausdruck
„unterstützen“. Unterstützen bedeutet juristisch, wenn
mich meine juristischen Kenntnisse nicht im Stich lassen,
Beihilfe, sozusagen tätige Hilfe.
Ich vermag nicht zu erkennen, warum die Erteilung eines
Visums, auf die möglicherweise Anspruch besteht, eine
Unterstützungshandlung sein soll. Eine Form der Unter-
stützung ist auch in dem Fall, auf den Sie sich beziehen,
mit Sicherheit keinesfalls gegeben.
Deshalb kann ich Ihnen deutlich sagen – in dieser Be-
ziehung bin ich mit Ihrer Analyse vollkommen einver-
standen und einig –: Selbstverständlich stehen wir dem
System von Saddam Hussein als Diktator in einer klar ab-
lehnenden Haltung gegenüber. Deshalb gibt es seitens der
Bundesregierung jedenfalls keine Unterstützung für Men-
schen, die illegale Geschäfte anbahnen.
Herr Kollege Rose, Sie haben eine weitere Zusatz-
frage.
Ich möchte meine vierte Zusatzfrage dazu nutzen, Sie
zu fragen, ob Sie als Wirtschaftsministerium, vielleicht in
Zusammenarbeit mit anderen Stellen, wenigstens bereit
sind, den in der Sendung „Report“ von Montagabend
doch ziemlich massiv vorgetragenen Vorwürfen nachzu-
gehen. Wenn es anonyme Anzeigen gibt, muss man sie
verfolgen. Hier sind in einem großen öffentlichen Bericht
Unterstellungen oder vielleicht sogar Fakten aufgetaucht,
denen man nachgehen muss. Können Sie mir zusagen,
dass Sie als Bundesregierung das tun?
R
Mir persönlich ist dieser Bericht von „Report“ nicht
bekannt. Ich kenne einen Bericht des „Spiegel“, auf den
Sie sich möglicherweise ebenfalls beziehen. Wenn es sich
in beiden Fällen um denselben Akteur handelt, dann bin
ich selbstverständlich gerne bereit, Ihrer Anregung nach-
zukommen und Ihnen unsere Erkenntnisse und unsere
Haltung bezüglich der Aktivitäten dieser Person darzule-
gen und zu dem Stellung zu nehmen, was sowohl im
„Spiegel“-Bericht wie auch in der Sendung „Report“ vor-
getragen worden ist.
Nächste Nachfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich möchte an die letzte Zusatz-frage anknüpfen. Können Sie mit Ihrem heutigen Wis-sensstand denn ausschließen, dass es stimmt, was in denMedienberichten offen diskutiert wird, nämlich dass vondeutschen Firmen in der Vergangenheit acht mobile La-bors, die auch zur Herstellung von Pockenviren genutzt
2092
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2093
werden können – ich zitiere aus dem Medienbericht –, anden Irak geliefert wurden?R
Herr Kollege, ich kann überhaupt nichts ausschließen.
Ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass das – das war so-
zusagen die ursprüngliche Fragestellung – in jedem Fall
illegal und damit Sache der Strafverfolgungsbehörden
wäre und dass dafür selbstverständlich keine Genehmi-
gung der Bundesregierung vorliegen würde.
Aber ich bin gerne bereit – diese Zusage wiederhole
ich –, diese Vorwürfe zu prüfen und die diesbezüglichen
Erkenntnisse der Bundesregierung den Fragestellern zu-
kommen zu lassen.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage, und zwar des Kolle-
gen Schröder.
Kann ich davon ausgehen, dass Sie nicht ausschließen
können, dass diese acht Labors, von denen in dem „Re-
port“-Bericht von Montagabend konkret berichtet wurde,
noch genutzt werden?
R
Man muss zunächst einmal recherchieren, ob dieser
Bericht zutreffend ist. Wenn er zutreffend ist, dann muss
man klären, auf welchem Weg und von welcher Quelle
diese Labors geliefert worden sind. Wenn man diese Er-
kenntnisse hat, dann ist es – ich sage dies noch einmal –
eine Angelegenheit der Strafverfolgungsbehörde und
nicht der Bundesregierung.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Schockenhoff.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Erkennt-
nisse, dass diese Labors auf der vom Irak an Chefinspek-
teur Blix übermittelten Liste stehen?
R
Ich habe diese Erkenntnisse nicht.
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Die übrigen Fra-
gen zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Arbeit werden nun in der vorgesehenen
Reihenfolge aufgerufen.
Wir kommen zunächst zur Frage 12 des Abgeordneten
Uwe Schummer:
Hat die Bundesregierung Pläne, die Bundesanstalt für Arbeit
von sachfremden Aufgaben, wie zum Beispiel „Bekämpfung ille-
galer Beschäftigung“ und der „Kindergeldkasse“, zu entbinden, so
wie sie es in der 14. Wahlperiode vorgesehen hat, und gibt es Be-
strebungen, die bisherige Aufgabe „Bekämpfung illegaler Be-
schäftigung“ auf den deutschen Zoll zu übertragen?
R
Lieber Herr Kollege Schummer, die Bundesregierung
prüft derzeit in enger Abstimmung mit allen Beteiligten,
welche gesetzlichen Änderungen im Bereich der Organi-
sation der Bundesanstalt erforderlich sind, um die Dienst-
leistungsqualität nachhaltig zu verbessern. Sie wissen si-
cherlich, dass die Struktur der Bundesanstalt für Arbeit
von Grund auf überprüft wird und reformiert werden soll,
was eine ziemliche Herkulesarbeit darstellt. Bei dieser
Prüfung wird natürlich auch der von Ihnen genannte
Aspekt berücksichtigt.
Die Prüfung, ob die Bundesanstalt für Arbeit von den
genannten Aufgaben entlastet werden soll, ist noch nicht
abgeschlossen. Die Kommission „Moderne Dienstleis-
tungen am Arbeitsmarkt“ hat sich grundsätzlich für eine
Entlastung der Bundesanstalt für Arbeit von sachfremden
Aufgaben ausgesprochen. Hinsichtlich der Bekämpfung
der illegalen Beschäftigung hat sie jedoch vorgeschlagen,
die Aufgabe zumindest vorübergehend bei der Bundesan-
stalt für Arbeit zu belassen. Hinsichtlich der Auszahlung
des Kindergeldes durch die Familienkassen der Ar-
beitsämter hat die Kommission ausdrücklich eine wirt-
schaftliche Arbeitsweise festgestellt und dargelegt, dass
gegenwärtig dazu keine sinnvolle Alternative gegeben ist.
Herr Staatssekretär Schlauch, wie viele Beschäftigte
hat die Bundesanstalt für Arbeit aktuell und wie viele da-
von sind in der Vermittlung tätig? Hat sich die Relation
zugunsten der Vermittlungstätigkeit in den Arbeitsämtern
im letzten Jahr verändert?
R
Herr Kollege, entschuldigen Sie vielmals, dass ich keinwandelndes Statistisches Bundesamt bin. Deshalb kannich Ihnen nicht die konkreten Beschäftigtenzahlen darle-gen. Ich kann Ihnen auch nicht das genaue Verhältnis derZahl der Mitarbeiter, die in der Vermittlung tätig sind, zuder Zahl der Mitarbeiter, die andere Aufgaben wahrneh-men, nennen. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen die konkre-ten Zahlen nachzureichen.Klar ist jedoch – insofern sind Sie auf der richtigenFährte –, dass auch nach unserer Ansicht die Zahl der Be-schäftigten, die in der Vermittlung tätig sind, unzurei-chend ist und dass es Gegenstand der Reform sein muss,die Vermittlungstätigkeit in erheblichem Umfang auszu-bauen. Die Vermittlung war zwar schon bisher eine Kern-aufgabe; aber ihr muss eine noch sehr viel größere Be-deutung zukommen.Ich bin, wie gesagt, gerne bereit, Ihnen die konkretenZahlen nachzureichen.Clemens Binninger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Unterstützt die Bundesregierung die Möglichkeit, Job-
center zu schaffen, die in enger Zusammenarbeit mit den
Arbeitsämtern, aber in kommunaler oder privater Träger-
schaft stehen?
R
Diese Frage wird ebenfalls geprüft. Wir sind der Auf-
fassung, dass es wahrscheinlich gar keine andere Mög-
lichkeit gibt, als die Institutionen, die derzeit auf kommu-
naler Ebene bei der Vermittlung von besonders schwer zu
vermittelnden Arbeitskräften teilweise sehr erfolgreich
arbeiten, mit ihrer Erfahrung und ihrem Know-how in die
Jobcenter zu integrieren. Deshalb werden die bereits be-
stehenden Projekte mit Sicherheit in diese Jobcenter inte-
griert werden.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Martin
Hohmann auf:
Wie hoch sind die geschätzten Einnahmen des Bundes durch
die vom Bundeskartellamt gegen die Unternehmen der Zement-
industrie für möglich gehaltenen Bußgelder – „Frankfurter Allge-
meine Zeitung“ vom 3. Februar 2003 – und in welche Haushalts-
titel werden diese gegebenenfalls eingestellt?
R
Herr Kollege Hohmann, darf ich auch Ihre beiden Fra-
gen zusammen beantworten?
Dann rufe ich auch die Frage 14 des Abgeordneten
Martin Hohmann auf:
In welcher Höhe sind in den letzten zwei Jahren Bußgelder
durch das Bundeskartellamt verhängt worden und in welche
Haushaltstitel wurden diese Einnahmen eingestellt?
R
Zur Frage 13: Das Bundeskartellamt hat bereits drei
großen Unternehmen der Zementindustrie die voraus-
sichtlich zu verhängenden Geldbußen mitgeteilt. Sie
belaufen sich insgesamt auf 200 Millionen Euro. Die Ver-
fahren sind jedoch noch nicht abgeschlossen. Bußgeldbe-
scheide wurden noch nicht verschickt. Über die Höhe der
gegen die übrigen Zementhersteller zu verhängenden
Geldbußen kann zurzeit noch keine abschließende Aus-
sage getroffen werden.
Ob gezahlte Bußgelder im Bundeshaushalt ver-
einnahmt werden, hängt insbesondere davon ab, ob die
betroffenen Unternehmen Rechtsmittel gegen die Buß-
geldbescheide einlegen. Akzeptieren sie die Bußgeldbe-
scheide und legen sie keine Rechtsmittel ein, fließt dem
Bund das gezahlte Bußgeld als Einnahme direkt zu.
Kommt es jedoch zu einem Verfahren vor dem zuständi-
gen Oberlandesgericht in Düsseldorf und wird der Buß-
geldbescheid von diesem Gericht rechtskräftig bestätigt,
so fließt das Geld dem Landeshaushalt zu.
Fließen gezahlte Bußgelder dem Bundeshaushalt zu, so
werden die Einnahmen bei Kap. 0908 Tit. 112 01 – Geld-
strafen, Geldbußen und Gerichtskosten – vereinnahmt.
Zu Ihrer zweiten Frage, zur Frage 14: Die Bußgeldein-
nahmen betrugen im Jahre 2001 37,554 Millionen Euro
und im Jahre 2002 8,052Millionen Euro. Die Einnahmen
wurden, wie ich bereits erwähnte, bei Kap. 0908
Tit. 112 01 vereinnahmt.
Herr Kollege Hohmann, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, dann muss es das Interesse des
Bundes sein, dass die betroffenen Unternehmen mög-
lichst keine Rechtsmittel einlegen, sondern zahlen. Er-
leichtern Sie die Entscheidung, an die Bundeskasse zu
zahlen, vielleicht dadurch, dass Sie Ratenzahlungen an-
bieten? Denn es geht ja zum Teil um recht hohe Summen,
um insgesamt 200 Millionen Euro; das ist ja kein Pap-
penstiel.
R
Das kann ich so ohne weiteres nicht sagen. Ich weiß
aus meiner Praxis als Rechtsanwalt, dass einer Ratenzah-
lung, sofern solche Anträge gestellt und entsprechend be-
gründet werden, nichts entgegensteht. Ich teile Ihre Auf-
fassung: Der Bund wäre selbstverständlich gut beraten,
solche Ratenzahlungen zu akzeptieren, wenn das Geld in
seine Kasse fließt.
Herr Staatssekretär, mir sind auf der einen Seite sogar
Einnahmen aus solchen Bußgeldern in Höhe von 700Mil-
lionen Euro – ich darf Sie auch bitten, diese Zahl zu be-
stätigen – genannt worden. Auf der anderen Seite heißt es,
nur 150Millionen Euro seien verbucht worden. Sie haben
jetzt eine Zahl von 200 Millionen Euro angegeben. Zwi-
schen diesen 700 und den 150 Millionen Euro besteht ja
eine erhebliche Differenz. Man könnte daran denken, dass
für den Herrn Finanzminister eine Art schwarze Kasse
entsteht.
R
Wenn das Wirtschaftsministerium schwarze Kassenhätte, dann, so glaube ich, hätten wir ein Problem. Einesolche schwarze Kasse gibt es nicht.Die Diskrepanz, die Sie benennen, kann ich mirschlecht vorstellen. Denn, wie gesagt, die 200 MillionenEuro, die ich Ihnen im Hinblick auf die laufenden Verfah-ren genannt habe, sind eine klare Zahl. Ob möglicher-
2094
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2095
weise darüber hinaus etwas verhängt wird, kann ich nichtsagen. Jedenfalls ist mir eine Zahl von insgesamt 700Mil-lionen Euro nicht geläufig.
Herr Kollege Hohmann, Sie hätten noch zwei Zusatz-
fragen. – Sie verzichten darauf.
Vielen Dank. Dann sind wir am Ende des Geschäftsbe-
reichs des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Verteidigung auf. Zur Beantwortung steht der Herr
Parlamentarische Staatssekretär Hans Georg Wagner zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 15 des Abgeordneten Wolfgang
Börnsen auf:
Gibt es bereits eine Vorschlagliste für die Veränderung bzw.
Aufgabe von Bundeswehrstandorten und könnten das Marineflie-
gergeschwader 2 in Tarp/Eggebek und die Minensuchflottille in
Kappeln/Olpenitz kurz- oder mittelfristig dazugehören?
H
Herr Kollege Börnsen, Bundesminister Dr. Struck hat
am 5. Dezember 2002 erklärt, dass die Bundeswehrre-
form weiterentwickelt wird und hierzu einen konzeptio-
nellen Rahmen in Form neuer Verteidigungspolitischer
Richtlinien erhält. Diese werden bis zum Frühjahr 2003
erarbeitet. Parallel dazu sollen bestimmte Handlungsop-
tionen weiterverfolgt und ausgeplant werden. Ergebnisse
sollen dem Bundesminister zum Frühjahr 2003 zur Ent-
scheidung vorgelegt werden.
Die sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf die
Strukturen der Bundeswehr und auf die Stationierung sind
dann vorbehaltlos und besonders sorgfältig zu prüfen. Da-
bei ist es nicht das primäre Ziel, die Stationierung nur un-
ter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu optimie-
ren. Vielmehr wird ein umfassender Kriterienkatalog zur
Vorbereitung und Bewertung von Stationierungsentschei-
dungen angewandt werden, der seit dem Jahre 2000 für
alle Stationierungsentscheidungen herangezogen wird.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen noch keine Er-
kenntnisse vor, inwieweit sich Anpassungen der Statio-
nierung für die Standorte Tarp/Eggebek und Kappeln/Ol-
penitz ergeben.
Bitte schön, Herr Kollege Börnsen.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, bedeu-
tet Ihre Erklärung, dass Sie in Ihren Verteidigungspoliti-
schen Richtlinien weggehen von den bisherigen Konzep-
tionen, die auch die Weizsäcker-Kommission am 25. Mai
2000 vorgelegt hat, nach denen bestimmte Teilstreit-
kräfte, zum Beispiel die Marine, aufgestockt und nicht ab-
gebaut werden sollen?
H
Sie wissen ja, dass die Verteidigungspolitischen Richt-
linien, die seit 1992 gelten, fortgeschrieben werden, und
dabei werden diese Fragen natürlich mit berücksichtigt
werden. Ich kenne den Entwurf der Richtlinien, die dem
Minister zur Entscheidung vorgelegt werden, noch nicht,
kann also Ihre Frage in diesem Punkt nicht beantworten.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär, wann
rechnen Sie damit, dass der Verteidigungsminister die
neue Konzeption, die ja auch die Standorte direkt betref-
fen wird, vorlegen wird?
H
Es ist vorgesehen, dass die Verteidigungspolitischen
Richtlinien bis Ende Februar/Anfang März vorliegen. Die
daraus zu ziehenden Konsequenzen wird der Generalin-
spekteur vornehmen; das wird sich bis Mitte März hin-
ziehen. Ob Standorte überhaupt betroffen sind, vermag
ich nicht zu sagen, weil ich den Entwurf dieser Richtlinie
nicht kenne.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Dr. Ole
Schröder auf:
Mit welchen Sparmaßnahmen sieht sich das Bundesministe-
rium der Verteidigung, BMVg, in den nächsten Jahren konfron-
tiert und plant das BMVg zur Einhaltung der Sparpläne auch die
Aufgabe von Standorten in Schleswig-Holstein?
H
Herr Kollege Schröder, wie eben schon gesagt, hatBundesminister Dr. Struck am 5. Dezember 2002 erklärt,dass die Bundeswehrreform weiterentwickelt wird undhierzu einen konzeptionellen Rahmen in Form neuer Ver-teidigungspolitischer Richtlinien erhält. Diese sollen biszum Frühjahr 2003 – auch das habe ich eben ausgeführt –erarbeitet werden. Parallel dazu sollen bestimmte Hand-lungsoptionen weiterverfolgt und ausgeplant werden.Die laufenden Untersuchungen hierzu sind von folgen-den Leitgedanken bestimmt:Erstens. Altes und im Betrieb besonders aufwendigesund teures Material ist so frühzeitig wie möglich und ver-antwortbar aus der Nutzung zu nehmen.Zweitens. Beim Betrieb und bei der Beschaffung isteine Konzentration auf dasjenige Material erforderlich,das für die wahrscheinlichsten Einsätze gebraucht wird.Drittens. Wo immer möglich und sinnvoll, sind multi-nationale Kooperationslösungen zu verfolgen.Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Parl. Staatssekretär Hans Georg WagnerViertens. Redundanzen sind grundsätzlich zu vermei-den und der Betrieb ist effizienter zu gestalten.Die Ergebnisse sollen, wie eben ausgeführt, dem HerrnBundesminister bis zum Frühjahr zur Entscheidung vor-gelegt werden. Die sich daraus ergebenden Auswirkungenauf die Strukturen der Bundeswehr und auf die Stationie-rung sind dann vorbehaltlos und besonders sorgfältig zuprüfen. Dabei ist es, wie eben schon gesagt, nicht dasprimäre Ziel, die Stationierung nur unter betriebswirt-schaftlichen Gesichtspunkten zu optimieren. Vielmehrwird der umfassende Kriterienkatalog zur Vorbereitungund Bewertung von Stationierungsentscheidungen ange-wandt werden, der seit dem Jahre 2000 für alle Stationie-rungsentscheidungen heranzogen wird und der den Kol-leginnen und Kollegen ja auch bekannt ist. Zumgegenwärtigen Zeitpunkt liegen noch keine Erkenntnissevor, inwieweit sich Anpassungen der Stationierung auchfür die Standorte in Schleswig-Holstein ergeben.
Herr Kollege, Sie hätten noch Zusatzfragen.
– Sie verzichten also darauf.
Die Fragen Nr. 17 und 18 des Abgeordneten Jürgen
Koppelin werden schriftlich beantwortet.
Damit verlassen wir den Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Gesundheit und Soziale Sicherung auf. Zur Beant-
wortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 19 der Abgeordneten Petra Pau auf:
Wie viele Anträge auf Gewährung von Grundsicherungsleis-
tungen wurden bisher gestellt?
F
Frau Kollegin Pau, Ihre Frage beantworte ich wie folgt:
Über die Zahl der bei den zuständigen Trägern der Grund-
sicherung eingegangenen Anträge liegen der Bundesre-
gierung bisher keine Angaben vor.
Das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsiche-
rung im Alter und bei Erwerbsminderung ist erst seit 1. Ja-
nuar dieses Jahres in Kraft. Es gewährleistet für Personen
ab 65 Jahren sowie für medizinisch bedingt dauerhaft voll
erwerbsgeminderte Personen ab 18 Jahren eine Absiche-
rung ihres notwendigen Lebensunterhaltsbedarfs. Für die
Durchführung des Gesetzes sind nach § 4 Abs. 1 Grund-
sicherungsgesetz die Kreise oder kreisfreien Städte als
Träger vorgesehen und auch zuständig. Nach § 8 Abs. 1
Grundsicherungsgesetz werden Erhebungen über die
Empfänger sowie die Ausgaben und die Einnahmen der
bedarfsorientierten Grundsicherung als Bundesstatistik
durchgeführt. Die Erhebung erfolgt jährlich zum 31. De-
zember als Bestandserhebung.
Ihre Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Ich habe eine Nachfrage. Liegen der Bundesregierung
Erkenntnisse vor, dass Anspruchsberechtigte diesen An-
trag nicht stellen, da sie durch die Bürokratie bzw. auch
die Antragsformulare, welche zum Beispiel über die Ver-
mögensverhältnisse der nächsten Angehörigen sehr genau
Auskunft verlangen, hiervon abgehalten werden?
F
Nein, derartige Erkenntnisse liegen uns bislang nicht
vor. Wir hatten seitens des Hauses vorweg eine intensive
Beratungstätigkeit veranlasst. Es hat Formulare, Broschü-
ren und Schulungen gegeben, auch für diejenigen, die vor
Ort arbeiten. Es ist klar, dass vor dem Hintergrund eines
neuen Gesetzes und der Formulare viele Fragen auftreten.
Aber wir gehen davon aus, dass dies mit den engagierten
Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern vor Ort in den
Grundsicherungsämtern oder in den Sozialämtern schnell
und zügig behandelt werden kann. Im Übrigen stehen
auch die Rentenversicherungsträger für Beratung und
Hilfen zur Verfügung.
Keine weitere Zusatzfrage.
Der Geschäftsbereich für Gesundheit wird beantwortet
von der Frau Parlamentarischen Staatssekretärin Marion
Caspers-Merk.
Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Dr.Wolf Bauer
auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Aus-
wirkungen des zum 1. Januar 2003 mit dem Beitragssatzsiche-
rungsgesetz in Kraft getretenen Rabatteinzugsverfahrens insbe-
sondere auf die wirtschaftliche Situation der Apotheken?
M
Herr Kollege, die Entlastung der gesetzlichen Kranken-versicherung durch das Beitragssatzsicherungsgesetzwird durch folgende Regelungen erreicht – Sie haben sichja insbesondere nach der Situation der Apotheken und derRabattsituation erkundigt –: erstens einen Herstellerrabattbei den Arzneimitteln in der Größenordnung von 420Mil-lionen Euro pro Jahr, zweitens einen Großhandelsab-schlag in der Größenordnung von 600 Millionen Euro proJahr und drittens eine Erhöhung des so genannten Apo-thekenrabatts in der Größenordnung von 350 MillionenEuro pro Jahr.Die Einzelheiten der Umsetzung der Abschlagsrege-lungen werden von den beteiligten Verbänden im Rahmenvon Verträgen geregelt. Bisher ist nicht bekannt, ob diese
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Abschläge bereits in den Abrechnungen für den Monat Ja-nuar vollständig berücksichtigt worden sind. Die Vertrags-parteien können vereinbaren, dass die endgültige Höheder Abschläge in den folgenden Abrechnungen nachträg-lich ermittelt wird. Der Herstellerabschlag soll von denApothekenrechenzentren direkt mit Herstellern einerseitsund Krankenkassen andererseits abgerechnet werden.Nach einem Bericht der „Deutschen Apotheker Zeitung“vom 23. Januar 2003 ist davon auszugehen,dass im Februar eine weit gehend reibungslose Ab-wicklung der Rabattverrechnungen nach den neuengesetzlichen Regelungen sowohl mit den Kranken-kassen als auch den Herstellern erfolgen kann.Der Herstellerabschlag bezieht sich auf den Hersteller-abgabepreis und nicht auf den Apothekenabgabepreis. Ervermindert damit nicht die Handelsspanne der Apotheken.Den Großhandelsabschlag erhalten die Krankenkassenim Rahmen der Apothekenabrechnungen über die Apothe-kenrechenzentren. Der Großhandel ist vom Gesetzgeberverpflichtet worden, den Abschlag bereits bei Lieferung derArzneimittel an die Apotheken zu gewähren. Damit wird si-chergestellt, dass die Apotheken den gesetzlich vorge-schriebenen Abschlag auch tatsächlich erhalten. Sollte derGroßhandel den Apotheken diesen Abschlag bei den Ab-rechnungen nicht gewähren, ist die Apotheke befugt, dieRechnung des Großhändlers um diesen Betrag zu kürzen.Der Herstellerabschlag und der Großhandelsabschlagsind gesetzliche Vorgaben. Die Beteiligten haben zuge-sagt, die entsprechenden Angaben in die Preislisten derApotheken für die Arzneimittel aufzunehmen. Hierfürsind allein die Bundesvereinigung Deutscher Apotheker-verbände und die Verbände der pharmazeutischen Indus-trie verantwortlich. Die Eintragungen in die Preisliste unddie Gestaltung dieser werden von ihnen in Selbstverwal-tung eigenverantwortlich und eigenständig auf privatwirt-schaftlicher Grundlage vorgenommen.Der Apothekenrabatt wird bei der Abrechnung von denApothekenrechenzentren ermittelt und mit den Kranken-kassen verrechnet. Diesen Rabatt haben die Apothekenselbst zu tragen. Zusätzlich belastet werden nur die höher-preisigen Arzneimittel in der Größenordnung von über52,46 Euro.
Herr Kollege Bauer, Ihre Zusatzfragen, bitte.
Frau Staatssekretärin, zu dieser Abwicklung ist ein ge-
waltiger bürokratischer Apparat erforderlich. Dieser büro-
kratische Apparat zieht natürlich auch Kosten nach sich.
Sind diese Kosten in Ihrem Hause überhaupt schon einmal
ermittelt worden und wer soll diese Kosten übernehmen?
M
Herr Kollege, die Apothekenrechenzentren existieren
bereits. Ich glaube, mittlerweile sind alle Apotheken in
Deutschland an die Apothekenrechenzentren angeschlos-
sen. Bereits jetzt gibt es Rabattierungen und Abschläge,
die über die Apothekenrechenzentren ermittelt werden.
Insoweit entsteht kein neuer Aufwand, sondern es ist le-
diglich eine neue Rabattregelung vereinbart worden, die
über die bewährten Strukturen der Apothekenrechenzen-
tren abgewickelt werden.
Frau Staatssekretärin, Sie sehen mir bitte nach, dass ich
das nicht nachvollziehen kann. Es sind für die Apothe-
kenrechenzentren viele neue Aufgaben hinzugekommen.
Bisher waren die Rechenzentren nur für die Abrechnung
im Innenverhältnis zwischen Krankenkasse und Apotheke
verantwortlich. Nun erstreckt sich dies vom Hersteller
über den Großhandel bis hin zur Apotheke. Diese zusätz-
lichen Aufgaben verursachen hohe zusätzliche Kosten.
Über die Höhe dieser Kosten und darüber, wer diese Kos-
ten tragen soll, muss man sich Gedanken machen.
M
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die neuen
Preislisten, auf denen die unterschiedlichen Preise, also
der Apothekenabgabepreis, der Verkaufspreis, der Her-
stellerpreis und der Großhandelspreis, basieren, bisher
schon von den Beteiligten in eigener Verantwortung er-
stellt worden sind. Für preisliche Änderungen gilt der-
selbe Mechanismus. Alles andere erfolgt maschinell über
die Apothekenrechenzentren.
Auch bisher wurde den gesetzlichen Krankenkassen
vonseiten der Apotheken ein Rabatt gewährt. Dieser Ra-
batt ist nochmals angehoben worden, insbesondere für die
hochpreisigen Arzneimittel. Insofern wurden keine neuen
Tatbestände geschaffen, sondern es wurde praktisch auf
bestehende Rabattierungs- und Abschlagsstrukturen auf-
gesattelt. Natürlich ist jede Umstellung mit einem Auf-
wand verbunden. Das will ich nicht bestreiten. Ich kann
aber nicht erkennen, dass völlig neue Tatbestände ge-
schaffen worden wären.
Probleme gibt es in der Tat bei den Großhandelsrabat-
ten. Sie wissen, dass der Großhandel versucht, keinen ei-
genständigen Beitrag zu leisten. Aus diesem Grunde ha-
ben wir mit PHAGRO Gespräche geführt. Es geht nicht,
dass man vereinbarte Rabatte mit dem gesetzlichen Ra-
batt, den der Großhandel zu leisten hat, verrechnet. Ich bin
froh, dass in die Gespräche zwischen Apotheken und
Großhandel wieder Bewegung gekommen ist.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Lanzinger.
Es gibt einen internern Vermerk mit der Aussage, dassdie Apotheken durch diese Umstellung mit 50 000 Eurojährlich belastet würden. Äußerungen der Bundessozial-ministerin stehen dagegen, die lauten, die Apotheken wür-den mit nur 16 000 Euro jährlich belastet. Wie sieht nachAuffassung der Bundesregierung die tatsächliche Belas-tung der Apotheken durch diese Umstellung aus?Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
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M
Es handelt sich hierbei um Durchschnittszahlen. Diese
Zahlen besagen, dass der Durchschnittsumsatz der deut-
schen Apotheke bei 1,3 bis 1,4 Millionen Euro liegt. Da-
raus errechnet sich – auch das geschieht nach bestimmten
Listen – ein durchschnittlicher Gewinn. Anhand dessen
haben wir ausgerechnet, wie hoch die finanziellen Aus-
wirkungen im Durchschnitt für die Apotheken sind, und
sind auf die Größenordnung von 16 000 Euro gekommen,
die Sie eben genannt haben.
Das sagt aber nichts darüber aus, wie hoch die Auswir-
kung für die Apotheke vor Ort ist, weil der Anteil von Me-
dikamenten, die über die GKV abgerechnet werden, von
Apotheke zu Apotheke sehr unterschiedlich ist. Eine
Größenordnung von 50 000 Euro ist allerdings nicht kor-
rekt. Sie würde nur dann zutreffen, wenn am Ende die
Apotheken alle Rabattierungsvorgänge zu tragen hätten.
Damit das nicht geschieht, wurde dafür gesorgt, dass jede
Stufe ihre Rabattstrukturen selber tragen muss.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Spahn.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich die große
Diskrepanz zwischen dem internen Vermerk im Gesund-
heitsministerium, der im Rahmen des Gesetzgebungsver-
fahrens erstellt wurde und in dem offensichtlich schon da-
von ausgegangen wird, dass die Belastung aus den
Rabatten vom Großhandel an die Apotheker durchgege-
ben wird – es werden 50 000 Euro genannt –, und den
Äußerungen der Frau Ministerin gegenüber der Öffent-
lichkeit und der Presse, aber auch gegenüber dem Parla-
ment und den Abgeordneten ihrer Partei, die ganz offen-
sichtlich – das zeigen 59 Erklärungen von Abgeordneten
der SPD – zu anderen Entscheidungen geführt haben?
Ma
Ich kenne diesen internen Vermerk. Er wurde nicht zu-
treffend wiedergegeben. In diesem Vermerk wird von dem
Worst-Case-Szenario ausgegangen, dass alle Rabatte am
Ende von den Apotheken zu tragen sind. Dem ist durch
Veränderungen, die wir während des Gesetzgebungsver-
fahrens vorgenommen haben, und durch Absprache mit
den Beteiligten begegnet worden. Dieses Szenario wird
also nicht zutreffen. Insofern ist die Durchschnittszahl,
die ich eingangs genannt habe und die die Ministerin öf-
fentlich genannt hat, korrekt.
Durchschnittszahlen spiegeln – das sage ich nochmals –
nicht die Situation der einzelnen Apotheken wider. Es
gibt, wie Sie wissen, Apotheken mit einem GKV-Anteil
von 70 bis 80 Prozent und Apotheken mit einem GKV-
Anteil von 50 Prozent. Je nach Größe dieses Anteils fällt
die Auswirkung der Rabattstrukturen, wodurch sich der
Gewinn schmälert, sehr unterschiedlich aus.
Im Übrigen liegen uns erste Briefe von Apothekern
vor, die sich bei uns ausdrücklich bedanken, dass wir mit
dem Großhandel gesprochen haben. Seither ist Bewegung
in die Front zwischen Großhandel und Apotheken ge-
kommen, weil der Großhandel in der Tat versucht hat, sei-
nen Beitrag über andere Rabattierungsvorgänge abzuwäl-
zen.
Wir kommen zu Frage 21 des Abgeordneten Dr. Wolf
Bauer:
Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um
eine Abwälzung des Großhandelsrabatts auf die Apotheken zu un-
terbinden?
M
Herr Kollege, der Großhandel ist durch Gesetz ver-
pflichtet worden, den Großhandelsabschlag in Höhe von
3 Prozent auf die Apothekenabgabepreise zu gewähren.
Der Abschlag hat insgesamt ein Volumen von 600 Milli-
onen Euro. Damit wird der erkennbar weit überhöhte
Großhandelszuschlag der Arzneimittelpreisverordnung
korrigiert, durch den der Großhandel bisher nachweislich
eine Handelsspanne von rund 1,1 Milliarden Euro pro
Jahr mehr zulasten der Endverbraucher erhalten hat, als er
tatsächlich für die Erfüllung seiner Aufgaben benötigt.
Die Bundesregierung erwartet vom Großhandel, dass
dieser seinen Einsparbetrag erbringt. Der Großhandel hat
erklärt, dass er einen spürbaren eigenen Einsparbeitrag er-
bringen werde. Die pauschale Verweigerung eines eigenen
Konsolidierungsbeitrags seitens des pharmazeutischen
Großhandels gebe es nicht. Die Schreiben des pharma-
zeutischen Großhandels vom Dezember 2002 an die Apo-
theken hinsichtlich der Lieferkonditionen seien nur eine
erste kurzfristige Reaktion auf das Beitragssatzsicherungs-
gesetz gewesen. Eine Verweigerung von Verhandlungen
über Lieferkonditionen sei nicht beabsichtigt. Diese Ver-
handlungen würden nunmehr mit den Apotheken geführt.
Die Verhandlungen sind offenbar noch nicht abge-
schlossen, sie sind aber bereits im Januar aufgenommen
worden.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich die letzten
Äußerungen des Großhandels, wonach er das Einsparvo-
lumen aus eigener Kraft nicht erbringen könne, sodass das
an die Apotheken weitergegeben werden müsse?
M
Zunächst einmal war es für uns interessant, dass in denGesprächen die eigenen Gewinnspannen korrigiert wur-den; die früheren Aussagen wurden also relativiert. Ich
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kenne keinen am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten, derdem Gesetzgeber, der von ihm einen Rabatt erwartet, frei-willig sagen würde, dass er ihn gerne zahlt und dass erdies ohne Probleme kann.
Frau Staatssekretärin, wir haben uns über Einsparvolu-
mina unterhalten. Können Sie uns in diesem Zusammen-
hang Auskunft darüber geben, welche Einsparvolumen
Sie bei der Einführung eines Versandhandels erwarten?
M
Diese Frage hat mit Ihrer Ausgangsfrage eigentlich
nichts mehr zu tun.
Zum Thema Versandhandel können wir keine sicheren
Abschätzungen geben. Sie wissen, dass die Arzneimittel-
ausgaben in den letzten vier Jahren – von 1998 bis 2002 –
um über 25 Prozent gestiegen sind. Das heißt, in diesem
Bereich gab es deutliche Zuwächse bei den Ausgaben.
Deswegen greifen unsere Maßnahmen insbesondere bei
den Arzneimitteln. Durch die drei Rabattstrukturen ver-
sprechen wir uns bei den Arzneimitteln – so habe ich es
eben auch vorgetragen – ein Einsparvolumen in der
Größenordnung von insgesamt 1,3 Milliarden Euro.
Sie wissen, dass der zustimmungspflichtige Teil des
Beitragssatzsicherungsgesetzes derzeit noch im Bundes-
rat liegt. Ich appelliere an Sie, mit den Ländern zu reden,
sodass wenigstens die Nullrunde bei den Verwaltungskos-
ten der Kassen und die Erweiterung der Optionsmodelle
für die Kliniken durchkommen. In diesem Bereich gibt es
aber auch noch die Festbeträge. Dies wäre eine weiteres
Einsparvolumen bei den Arzneimitteln.
Eine sichere Zahl bezüglich des Versandhandels kann
ich Ihnen nicht nennen. Das hängt von vielen anderen
Konditionen ab. Ich könnte mir vorstellen, dass auch die
Apotheken – zum Beispiel durch die so genannten Haus-
apothekenmodelle, wie sie in Niedersachsen praktiziert
werden – die Chance erhalten können, sich an modernen
Marketingstrukturen zu beteiligen. Dies könnte für die
Apotheken vielleicht die Eröffnung einer neuen Struktur
bedeuten.
Es gibt eine weitere Zusatzfrage, und zwar des Kolle-
gen Storm.
Frau Staatssekretärin, sind die Berichte, wonach das
Bundesgesundheitsministerium die Aufhebung des Fremd-
und Mehrbesitzverbotes von Apotheken beabsichtigt, zu-
treffend?
M
Lieber Herr Kollege Storm, in der letzten Sitzung des
Gesundheitsausschusses haben wir ein Papier mit den
Eckpunkten der Gesundheitsstrukturreform verteilt und
die Diskussion darüber angeboten. Dort gab es auch Aus-
führungen zum Thema Mehrbesitzverbot. Als dieser Ta-
gesordnungspunkt in der letzten Woche aufgerufen wurde,
waren Sie leider nicht mehr anwesend.
Wir hätten die Diskussion damals gerne vertiefen können.
Zum Mehrbesitzverbot haben wir erste Überlegungen
vorgestellt. Sie wissen auch, dass sich das Gesundheits-
strukturgesetz noch in der Diskussion befindet. Wir haben
acht Eckpunkte vorgestellt. Dazu gehören auch die Libe-
ralisierungen im Bereich des Arzneimittelmarktes. Eine
mögliche Maßnahme wäre das Mehrbesitzverbot. Ob man
einen „Deckel“ einführen wird, wo er gegebenenfalls lie-
gen wird und inwieweit man moderne Hausapotheken-
modelle einbeziehen wird, wird das weitere Gesetzge-
bungsverfahren zeigen.
Bevor wir zum Schluss der Fragestunde kommen, lasse
ich noch die Zusatzfrage des Kollegen Spahn zu.
Können
Sie uns – das hatte ich vorhin ja zugerufen – die Schrei-
ben der Apotheker, die sich bedanken, übersenden? Ich er-
halte täglich ganz andere Schreiben. Es wäre schön, auch
diese vorliegen zu haben.
M
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich räume ein, dass diejenigen, die sich bedanken, we-
niger sind als die anderen. Die Schreiben schicke ich Ih-
nen aber gerne zu.
Ich komme jetzt zu meiner Frage – Sie haben gerade
selbst die Festbeträge und andere Dinge angesprochen –:
Wird die Arzneimittelpreisverordnung geändert und wenn
ja: in welche Richtung?
M
Sie wissen, dass innerhalb der Gesundheitsstruktur-reformen auch die Arzneimittelpreisverordnung ein The-ma sein wird. Es gibt verschiedene Modelle. Auch dieVorstellungen beteiligter Wirtschaftskreise wollen wirprüfen. Sie wissen, dass insbesondere die ABDA für eineVeränderung eintritt. Aber auch andere am Wirtschafts-geschehen Beteiligte im Bereich Arzneimittel wünschenÄnderungen.Wir werden diese Wünsche im Gesetzgebungsverfah-ren prüfen und im Fachausschuss über die einzelnenPunkte reden. Wir können uns sehr wohl vorstellen, dassParl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk
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Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merkdiese Verordnung in Zukunft auch die Beratungsleistungdes Apothekers abbildet und damit Schluss macht, dassbesonders viel im oberen Preissegment verdient wird.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Alle Fragen,
die jetzt noch nicht zur Beantwortung gekommen sind, wer-
den nach unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet.
Die Fraktion der CDU/CSU hat zur Antwort der Bun-
desregierung auf die eingebrachte Dringlichkeitsfrage
eine Aktuelle Stunde verlangt. Das entspricht Nr. 1 b der
Richtlinien für die Aktuelle Stunde. Die Aussprache wird
im Anschluss an die Fragestunde durchgeführt. Ich rufe
nun den neuen Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der CDU/CSU
Pockenviren
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
lege Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der auf offener Bühne ausgetragene Streit innerhalb derBundesregierung über das Ausmaß der Gefahr von Mas-senvernichtungswaffen in Händen von Terroristen für un-ser Land und unsere Bürger und eine in diesem Zusam-menhang miserable Informationspolitik haben zu einergroßen Verunsicherung unserer Bevölkerung geführt.
Hierfür trägt allein die Bundesregierung die Verantwor-tung, nicht etwa die Medien, die über dieses Kompetenz-und Auskunftswirrwarr innerhalb der Bundesregierungberichten.
Die Bundesgesundheitsministerin hat bereits im Maides Jahres 2002 bei der Jahrestagung der Weltgesund-heitsorganisation WHO in Genf öffentlich von Vermutun-gen gesprochen, dass auch im Irak Pockenviren gelagertwürden, weshalb vorsorglich Impfdosen für alle Men-schen in Deutschland angeschafft würden.
Gegenüber ihrer nordrhein-westfälischen Amtskolleginschreibt die Gesundheitsministerin am 17. Mai 2002, dasses „dokumentierte Erkenntnisse“ gebe, die eine grundsätz-liche Bedrohungslage weltweit durch bioterroristische At-tentate begründen. In dem am Wochenende durch die„Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ bekannt ge-wordenen Vermerk des Gesundheitsministeriums vom9. August 2002 heißt es:Den deutschen Sicherheitsdiensten liegen dokumen-tierte Erkenntnisse vor, dass Pockenerreger außer-halb der offiziellen Labore in Atlanta und Koitsovoillegal, z. B. in Russland, Irak und Nordkorea gela-gert werden. Ebenso gibt es Hinweise darauf, dasssich Terrorgruppen um die Herstellung biologischerKampfstoffe bemühen.Auch wird die Befürchtung geäußert, dass der Irak imFalle einer militärischen Auseinandersetzung mit denUSA„mit den ihm zur Verfügung stehenden biologischenKampfstoffen, also auch Pockenviren, reagiert.“ So weitder Vermerk des Bundesgesundheitsministeriums.Diese Gefahreneinschätzung haben Sie, Frau Ministe-rin Schmidt, im Haushaltsausschuss des Deutschen Bun-destages am 13. November des vergangenen Jahres wie-derholt. Dieses Lagebild deckt sich mit einer Analyse desBundesnachrichtendienstes BND, worüber die Tageszei-tung „Die Welt“ am 19. November 2002 berichtet hat. Da-nach besteht laut BND der Verdacht, dass der Irak nochimmer einen Teil seiner in Munition abgefüllten biologi-schen Kampfstoffe besitze. Auch habe der Irak, so derBND, die Verfügbarkeit über Anthrax, Botulinustoxin undAflatoxin in munitionierter Form zugegeben.Des Weiteren zitiert „Die Welt“ aus der ihr vorliegen-den BND-Analyse, dass der Irak auch an Forschung undEntwicklung von Mykotoxinen und Rotaviren gearbeitethabe und „ebenso an Pocken, getarnt als Kamelpocken-Projekt“. Der BND schlussfolgerte damals:Die verwendeten Produktionsmethoden und hohenAusbeuten deuten auf eine fortgeschrittene Techno-logie hin.Es müsse befürchtet werden, dass der Irak „innerhalb vonmehreren Monaten sein B-Waffen-Programm wieder auf-leben lassen könnte“.In seinem Bericht vor dem UN-Sicherheitsrat am27. Januar dieses Jahres hat UN-Chefinspekteur HansBlix ebenfalls über nachhaltige Hinweise gesprochen,nach denen der Irak über Anthrax verfüge und auch dasNervengas VX in Waffen eingebaut habe. US-Außenmi-nister Powell hat vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Fe-bruar dieses Jahres ausgeführt:Saddam Hussein hat Dutzende von biologischenStoffen untersucht, die Krankheiten hervorrufen,zum Beispiel Gasbrand, Pest, Typhus, Wundstarr-krampf, Cholera, Kamelpocken und hämorrhagi-sches Fieber, und– so der amerikanische Außenminister weiter –er verfügt auch über die Ausrüstung, um Pockenvirenzu entwickeln.In diesem Zusammenhang frage ich mich, Herr Bun-desminister Schily, warum Sie im Hinblick auf den Haus-haltsvermerk vom 9. August des vergangenen Jahres voneinem Dokument sprechen, aus dem Geschichten gezim-mert werden, die mit dem wahren Sachverhalt nichts zutun haben, da doch Ihr Haus, das seinerzeit bei diesem Haus-haltsvermerk des Gesundheitsministeriums mitbefasst war,der Gefahreneinschätzung nicht widersprochen hat.Die deutsche Öffentlichkeit fragt sich, ob die Bundes-gesundheitsministerin über Monate hinweg die Bedro-
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hungslage überdramatisiert hat, um an die notwendigenHaushaltsmittel heranzukommen – was ein Skandal wä-re –, oder ob jetzt die Gefahr, die von biologischen undchemischen Massenvernichtungswaffen ausgeht, die sichin den Händen des Iraks befinden, bagatellisiert wird.
Herr Bundesminister Schily, Sie verweisen immer wie-der auf Ihre guten Kontakte zum amerikanischen Justiz-minister Ashcroft,
zum neuen Minister für Homeland Security Tom Rice
– Entschuldigen Sie, Herr Minister, dass mir der Namenicht parat war, aber Sie verkehren ja ständig mit TomRidge. – Wenn Sie ständig mit amerikanischen Fachleu-ten wie dem Minister für Homeland Security und dem Jus-tizminister verkehren und auch Gespräche mit dem FBI-Chef und dem CIA-Chef geführt haben, dann sollten Siedem deutschen Parlament und auch der deutschen Öffent-lichkeit mitteilen, über welche Erkenntnisse die Amerikanerverfügen und ob sich die Erkenntnisse Ihrer Gesprächspart-ner mit denen decken, die Außenminister Powell vor demSicherheitsrat der Vereinten Nationen dargelegt hat.
Jedenfalls hilft es nicht, Herr Minister – –
Herr Kollege Koschyk, schauen bitte einmal auf die
Uhr vor Ihnen!
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Jedenfalls hilft es nicht, jetzt plötzlich ein anderes Lage-
bild zu entwickeln.
Die Bevölkerung in Deutschland hat Anspruch auf um-
fassende Auskunft der Bundesregierung über die beste-
hende Gefährdungslage.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Bundesministerin Frau UllaSchmidt.Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit undSoziale Sicherung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was die Opposition hier heute veranstaltet, ist ein Stückaus dem Tollhaus,
das mit der nationalen Verantwortung für die Sicherheitder Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande nichts zu tunhat, auch wenn Sie das anders darstellen wollen.
Es sagt vielleicht mehr über den Zustand Ihrer eigenenPartei und über die Art und Weise aus, in der dort dieKommunikation stattfindet. Denn Tatsache ist das, wasder Herr Kollege Koschyk vorgetragen hat. Um welcheInformationen darüber hinaus geht es Ihnen denn?
Wann gab es in der Zeit seit dem 11. September 2001eine Situation, Herr Kollege Luther, in der wir nicht imHaushaltsausschuss und im Gesundheitsausschuss sehrintensiv beraten haben? Mein Ministerium hat direkt nachdem 11. September 2001 gemeinsam mit dem Innenmi-nisterium und dem Bundeskanzleramt eine Bund-Länder-Koordinierung eingerichtet und gemeinsam mit den Ver-tretern auch Ihrer Partei in den Landesregierungendarüber geredet, wie wir mit potenziellen Gefährdungenin diesem Lande umgehen.Unabhängig davon, ob Ihnen Erkenntnisse vorliegenoder nicht, kann ich Ihnen versichern: In Bezug auf dieGefährdung mit Pockenviren hilft nur eines, nämlich dieBeschaffung von Impfstoff. Das ist das Entscheidende.
Wenn Sie in den Protokollen nachlesen, was in den ein-zelnen Ausschüssen gesagt wurde, werden sie feststellen,dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass eineallgemeine Bedrohungslage besteht. Weil wir nicht wis-sen, ob irgendwo auf dieser Welt außerhalb der offiziellenStellen Pockenviren vorhanden sind und gelagert werden,ist eine allgemeine Bedrohung gegeben. So wie für denErhalt der Gesundheit generell gilt: „Vorbeugen ist besserals heilen“, gilt für den Fall einer Bedrohung mit Pocken-viren: Impfen ist notwendig, weil es nach dem heutigenKenntnisstand der Medizin keine Heilungsmöglichkeitengibt. Danach haben wir gehandelt.Ich bedauere die jetzt entstandene Diskussion; dennwir haben seit anderthalb Jahren in den entsprechendenAusschüssen darüber diskutiert – ich spreche jetzt auchdie Kollegin an –, dass wir handeln müssen, weil diePocken zwar ausgerottet waren und weil – mit Ausnahmeder offiziellen Labore in den USA und der Sowjetunion –jedes Land seine Virusstämme vernichten sollte. WirHartmut Koschyk
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Bundesministerin Ulla Schmidtwissen aber nicht – darüber gibt es weltweit keine Er-kenntnisse –, ob es außer den Kamelpockenviren – diesesind nicht so gefährlich; denn man kann zwar sich, aberkeine anderen Menschen anstecken – noch anderePockenvirenstämme gibt. Wir haben jetzt gehandelt.Ich kann Ihnen gerne die ganze Liste an Maßnahmenvorlesen, die wir gemeinsam mit den Ministern und Mi-nisterinnen der von Ihnen geführten Länder sowie mit denvon SPD und Grünen geführten Ländern aufgestellt ha-ben. Wir haben in den letzten anderthalb Jahren versucht,sowohl Zugriff auf vorhandenen Pockenimpfstoff zu be-kommen, der qualitativ hochwertig ist, als auch mit demHaushaltsausschuss eine Regelung zu finden, die es unsermöglicht, Pockenimpfstoff dort, wo wir Zugriff auf ihnhaben, aufzukaufen. Zu dem Vorwurf, wenn es keine kon-krete Gefährdung gebe, dann dürfe man das Geld auchnicht ausgeben, sage ich Ihnen: Wenn es konkret gewordenwäre und wir hätten vorher kein Geld für Impfstoffe ausge-geben, dann wäre es zu spät gewesen. Das wäre verantwor-tungslos! Wollen Sie das etwa sein? Das ist jedenfalls nichtdie Politik, die die Bundesregierung in dieser Frage macht.
Wenn wir hier tatsächlich Geld für Impfstoffe ausgegebenhätten, ohne sie zu brauchen, dann wäre die Bundesregie-rung sehr glücklich darüber; denn das wäre die beste Fehl-investition, die je getätigt wurde. Schließlich würde dasbedeuten, dass die Bürger und Bürgerinnen nicht nur inunserem Land, sondern weltweit sicher und geschützt da-vor sind, sich mit Pockenviren zu infizieren, also vor ei-ner Krankheit, die nicht heilbar ist. Das ist unser Ziel.
Wenn Sie in dieser Frage nur ein bisschen nationales Ver-antwortungsbewusstsein hätten,
dann würden Sie ein solches Thema, über das wir seit an-derthalb Jahren gemeinsam diskutieren
und bei dem es zwischen uns keine unbeantworteten Fra-gen gibt,
zum jetzigen Zeitpunkt – man muss sich fragen, warum Siedas gerade jetzt tun – nicht hochziehen. Sie wollen damitnur von Ihren innerparteilichen Schwierigkeiten ablenken
sowie die Menschen in diesem Land verunsichern und ih-nen Angst und Bange machen, um eine Diskussion anzu-zetteln.
Als hätte es irgendwem in diesem Land genutzt, wennHerr Luther, Frau Schmidt, Herr Küster – oder wer auchimmer – etwas mehr wüssten.
Wir haben internationale Kontakte und tun das, was auchandere Länder tun:
Wir tun alles, um unsere Bevölkerung zu schützen. Das istdas Entscheidende. Deshalb war es richtig, dass wir denImpfstoff geordert haben. Wir setzen alles daran, dass imFalle eines Falles – wir hoffen, dass er niemals eintretenwird – die Menschen in diesem Land durch entsprechendeImpfungen geschützt sind und dass keine Gefahren ent-stehen. Daran sollten Sie mitarbeiten und dafür sollten Sieuns dankbar sein.
In dem Vermerk für den Haushaltsausschuss, der öf-fentlich bekannt geworden ist, als es also um die Bewilli-gung von Haushaltsmitteln ging, war von einer akutenVerschärfung der Gefährdungslage, von der Befürchtung,dass der Irak „mit den ihm zur Verfügung stehenden bio-logischen Kampfstoffen, also auch Pockenviren“ reagie-ren werde, die Rede. Heute wird dies deutlich relativiert.
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Das passt nicht zusammen. Entweder ist einmal übertrie-ben worden oder die Gefahr wird jetzt untertrieben.
Wir haben vorhin in der Fragestunde erlebt, dass dieStaatssekretärin Caspers-Merk angekündigt hat, künftigwerde das Parlament nur noch restriktiver und zurückhal-tender informiert. Das ist natürlich genau der falsche Weg.
Nur, wie von Guido Westerwelle gefordert, die Offenle-gung aller Fakten, auch der Erkenntnisse des Bundes-nachrichtendienstes, ist der einzig richtige Weg.
Nur wenn Sie die Bevölkerung offensiv informieren, wer-den Sie auch Ängsten vorbeugen. Deshalb hat die „Frank-furter Rundschau“ der Bundesregierung in ihrem gestri-gen Kommentar, in dem – das räume ich ein – durchausauch die Opposition mit Kritik bedacht worden ist,
zutreffend vorgehalten:Mit ihrem Informationsdesaster hat sie aber einengroßen Anteil an der unangebrachten Hysterie zuverantworten.
Über den konkreten Einzelfall hinaus wirft dieser Vor-gang in Wahrheit eine zentrale Frage einer Demokratieauf: Wie und in welchem Umfang muss eine Regierung inKrisenzeiten Parlament und Bevölkerung informieren?Auch uns ist klar: Es darf keine unnötige Panik erzeugtwerden. Selbstverständlich gibt es Erkenntnisse, die ausmilitärischen, geheimdienstlichen oder polizeilichen Er-wägungen geheim bleiben müssen.Aber die Demokratie lebt vom öffentlichen Diskursüber die maßgeblichen politischen Themen. Ein solcherDiskurs setzt, um ein berühmtes Buch von Karl Steinbuchzu zitieren, „Die informierte Gesellschaft“ voraus. Des-wegen gilt: So viel Information wie möglich, sowohl fürdas Parlament als auch für die Öffentlichkeit.Im konkreten Fall Irak ist seit langem bekannt, dassdieser Staat Kamelpockenviren hatte, die für Menschenungefährlich sind. Denkbar ist aber, dass sie als Modellfür die Produktion von Pockenviren dienen, die auch alsbiologische Waffen gegen Menschen eingesetzt werdenkönnen. Deswegen ist es für die öffentliche Meinungsbil-dung von zentraler Bedeutung, das konkrete Ausmaß derBedrohung genau zu kennen.
Daher reichen auch vertrauliche Unterrichtungen von ein-zelnen Parlamentariern oder von Parlamentsausschüssennicht aus.Übrigens war es gerade ein Versprechen der rot-grünenRegierung und der rot-grünen Koalition, für größtmögli-che Transparenz einzutreten.
In der Koalitionsvereinbarung wird zum Beispiel ein In-formationsfreiheitsgesetz versprochen, das – ich zitierewörtlich – „dem Grundsatz des freien Zugangs zu öffent-lichen Daten und Akten Geltung verschafft“.
Insbesondere die Grünen haben die Forderung nach ei-nem Informationsfreiheitsgesetz in ihr Grundsatzpro-gramm vom 17. März 2002 aufgenommen. Als dieses Ge-setz in der letzten Legislaturperiode an der SPDgescheitert war, wurde dies von den Grünen als ein – ichzitiere eine Pressemitteilung der Grünen – „Rückschlagfür Demokratie und Transparenz“ bewertet.
Akteneinsichtsrechte seien mittlerweile Standard in derdemokratischen Gesellschaft. Das muss dann aber auch inKrisensituationen gelten.
Nach dem angeführten Gesetzentwurf soll das Rechtauf Informationszugang freilich nicht bestehen, wenn derAkteninhalt dem Wohle des Staates schwerwiegendeNachteile bereitet. Ich behaupte: In Bezug auf den Fall,um den es heute geht, liegt der schwerwiegende Nachteilnicht in der Information der Bevölkerung, sondern imVerschweigen dieser Information.
Meine letzte Bemerkung ist losgelöst von diesem kon-kreten Fall und – ich betone dies ausdrücklich – gilt allge-mein. In Zeiten wie diesen wird oft ein berühmtes Wort ausder Antike zitiert, nämlich der Satz Aischylos’: Das ersteOpfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit. In Kurzform:Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst. Über eines sollten wiruns alle in diesem Haus einig sein: Es darf nie die Situationeintreten, dass schon vor dem Krieg die Wahrheit stirbt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Selg, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Im Gegensatz zu Ihnen wissen wir, was Informa-tionspolitik ist.
Bei uns besteht sie aus Sachpolitik und nicht aus irgend-welchen demagogischen Phrasen.Die von der Opposition jetzt losgetretene Diskussion umdas von Pockenviren ausgehende Gefahrenpotenzial ist einAkt größtmöglicher politischer Verantwortungslosigkeit.
Dr. Max Stadler
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Petra SelgOhne jegliche Not wird von der Opposition medienwirk-sam ein Schmierentheater initiiert.
Das wird letztlich nur dazu führen, dass die Bürgerinnenund Bürger unseres Landes grundlos verunsichert undüberflüssige Ängste geschürt werden.
Was soll diese Spekulation über angebliches Geheim-wissen der Regierung über geplante terroristische An-schläge mit Pockenviren? Dafür fehlt jegliche Grundlage.Wir führen hier eine absolute Geisterdiskussion.
Das Argument der Opposition lautet ungefähr so: Einer-seits sagt die Regierung, es gebe keine Gefahr, anderer-seits bestellt sie größtmögliche Mengen Pockenimpfstoff;also muss es ja eine Gefahr geben. Bei allem Respekt, wasist denn das für eine Logik? Verzichten Sie bei IhremHaus etwa auf eine Brandschutzversicherung, nur weilgerade niemand mit Streichhölzern am Vorhang zündelt?Anders gefragt: Folgt aus der Tatsache, dass Sie heute IhrHaus versichern, dass Ihnen morgen die Bude abbrennt?Natürlich nicht. Die Gefahr, dass Ihnen das Haus nieder-brennt, ist zwar prinzipiell gegeben, tritt aber nur mit ge-ringer Wahrscheinlichkeit ein. Nichts anderes tut die Bun-desregierung im Moment: Sie versichert die Bevölkerungder Bundesrepublik gegen die abstrakte Gefahr eines An-schlages mit Pockenviren. Sie hat den Impfstoff beschafft,um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.Dies geschah übrigens in völligem Einklang mit denLändern. Bereits nach dem 11. September haben gerade derbayerische Gesundheitsminister Eberhard Sinner und vorallem Ihr geschätzter Herr Koch die Auffassung vertreten,es wäre fahrlässig und gefährlich, jetzt nicht zu reagieren.
Heute weiß man angeblich nichts mehr davon.Momentan kann niemand völlig ausschließen, dass es ir-gendwo auf der Welt Pockenviren gibt und dass sie infalsche Hände geraten könnten. Es könnte durchaus mög-lich sein, dass auch Staaten wie der Irak oder Nordkorea imBesitz solcher Viren sind. Das sind aber nur Möglichkeiten.Das heißt noch lange nicht, dass dies auch wirklich so ist.Um es noch einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen: Wirhaben keine Kenntnis von einer akuten Bedrohungssitua-tion. Nichts anderes hat Frau Ministerin Schmidt schon inder Sitzung des Haushaltsausschusses am 13. Novemberklipp und klar gesagt.
– Der Vermerk – das wurde in dieser Sitzung des Haus-haltsausschusses auch gesagt – –
– Fragen Sie sich das einmal selber. Die Meldung der„FAZ“ wird heute von der Opposition als Beweis fürdas angebliche Geheimwissen der Regierung miss-braucht.
Vorgestern wurde genau die Bewertung, welche dieMinisterin im Haushaltsausschuss vorgenommen hat, voneiner Sprecherin des Ministeriums erneut vorgetragen.Die Rede war auch hier nur von einer abstrakten Gefah-renlage. Es wurde unmissverständlich klargestellt, dass eskeine Erkenntnisse über biologische Kampfstoffe im Irakoder Hinweise für eine konkrete Bedrohung durchPockenviren gibt. Ich frage mich: Was will die Oppositioneigentlich?
Die Aussagen der Ministerin und von Vertretern desMinisteriums sind eindeutig: Es gibt keinen konkretenAnlass zur Beunruhigung. Nach Einschätzung der Sicher-heitsbehörden war und ist ein Anschlag mit Pockenvirenweiterhin eher unwahrscheinlich.
Diese klaren Aussagen sollte die Opposition endlich ak-zeptieren.
Hören Sie auf mit Ihren kleinkarierten Wortklaubereien!Alles andere wirkt zunehmend lächerlich.Auf einer Ministerpräsidentenkonferenz, die kurz vorWeihnachten gemeinsam mit dem Bundeskanzler statt-fand, wurde über das Problem der Beschaffung ausrei-chender Mengen Impfstoffes und dessen Finanzierung er-neut geredet. Man vereinbarte einvernehmlich – auch IhreMinisterpräsidenten waren dabei –,
dass von der Bundesregierung unverzüglich 100 Milli-onen Chargen beschafft werden, um im Ernstfall den bis-lang nicht gewährleisteten Vollschutz der Bevölkerung si-cherstellen zu können.Deshalb appelliere ich an Sie: Hören Sie endlich auf,mit billiger Effekthascherei Stimmung machen zu wollen!Hören Sie auf, bei der Bevölkerung unnötigerweise Angstzu schüren!Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Bosbach,CDU/CSU-Fraktion.
2104
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2105
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Frau Ministerin, Max Stadler hat Recht: Das wareine fulminant vorgetragene Rede. Sie hatte nur den ent-scheidenden Nachteil, mit dem Thema des Nachmittagsnichts zu tun zu haben.
Es geht nicht um die Frage: War es richtig oder war esfalsch, Impfdosen anzuschaffen?
Die Frage ist vielmehr, ob diese Bundesregierung das tut,was sie tun müsste, nämlich die Bevölkerung zeitnah, um-fassend und wahrhaftig über die Bedrohung durch den in-ternationalen Terrorismus zu informieren. Wir haben be-gründete und erhebliche Zweifel daran, dass dieseRegierung das tut.
Der Vorwurf der Panikmache
ist geradezu absurd. Er ist aber nicht nur absurd, er ist pa-radox; denn Sie fallen in Ohnmacht und werfen uns Pa-nikmache vor, wenn wir wortwörtlich aus regierungsamt-lichen Dokumenten zitieren. Sie warnen ja vor Ihrereigenen Regierung!
Möglicherweise haben Sie damit sogar Recht. Möglicher-weise ist diese Warnung vor Ihrer Regierung sogar richtig.
Wir sprechen hier nicht über Mutmaßungen und Ein-schätzungen, sondern wir sprechen über Tatsachenbe-hauptungen.
Hartmut Koschyk hat das richtig zitiert. In einem regie-rungsamtlichen Dokument vom 9. August heißt es: „Dendeutschen Sicherheitsdiensten liegen dokumentierte Er-kenntnisse vor, dass Pockenerreger außerhalb der offi-ziellen Labore ... gelagert werden. Als möglicher Standortwird der Irak genannt.“ Gibt es diese dokumentierten Er-gebnisse oder gibt es sie nicht?
Entweder es gibt sie oder es gibt sie nicht. Nur eines vonbeiden ist möglich. Diese Regierung verweigert standhaftdie Beantwortung der Frage, ob diese Behauptung richtigist oder falsch ist.
Ich zitiere wieder aus dem Schreiben vom 9. August:„Ebenso gibt es Hinweise darauf, dass sich Terrorgruppenum die Herstellung biologischer Kampfstoffe bemühen.“Gibt es diese Hinweise oder gibt es sie nicht?
Es kann nicht beides gleichzeitig richtig sein.Ist die Darstellung der Gefahrenlage durch die Bun-desgesundheitsministerin richtig oder ist sie falsch? SagtFrau Schmidt die Wahrheit oder sagt Herr Schily dieWahrheit?
Jedenfalls können nicht beide gleichzeitig Recht haben.
Herr Schily sagt: Wir haben keine Erkenntnisse darüber,dass der Irak über Lager mit Pockenviren verfügt. Das istziemlich präzise das Gegenteil von dem, was die Bundes-gesundheitsministerin zumindest in der Vergangenheitbehauptet hat.Das Entscheidende ist doch wohl eine einheitliche Be-drohungsanalyse durch die Bundesregierung. Es kannnicht sein, dass verschiedene Ministerien unterschiedli-che Bedrohungsanalysen vornehmen und die Bundesre-gierung insgesamt die Bevölkerung im Hinblick auf dieFrage: Wie groß ist eigentlich die Gefahr durch den inter-nationalen Terrorismus?, ratlos lässt.Diese einheitliche Bedrohungsanalyse wurde für micherkennbar erstmals gestern in der „Bild“-Zeitung unterder Überschrift „Jetzt reden die Minister“ vorgenommen.Dass die einheitliche Bedrohungsanalyse in der „Bild“-Zeitung vorgenommen wird, und zwar zur Vorbereitungauf diese Aktuelle Stunde,
ist eher besorgniserregend als beruhigend.
Wir haben in dieser Debatte, insbesondere bei dem,was Max Stadler Ihnen völlig zutreffend vorgehalten hat,auf die eigentlich entscheidenden Fragen bis jetzt über-haupt keine Antwort bekommen.Frau Caspers-Merk, es hat mir gefallen, dass Sie dieSprachbilder „abstrakte Gefahr“ und „konkrete Gefahr“benutzt haben und ein Beispiel aus dem Bereich Feuer-schutz angeführt haben. Sie haben sinngemäß – nichtwortwörtlich – gesagt: Bei der abstrakten Gefahr gilt: Wirwissen nicht, ob es brennt. Wir hoffen, dass es nicht
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Wolfgang Bosbachbrennt. Wir gehen davon aus, dass es nicht brennt, aberwir kaufen uns mal einen Feuerlöscher. – Richtig so! Zurkonkreten Gefahr haben Sie gesagt: Es ist ein Brandstif-ter unterwegs.Den eigentlich entscheidenden Punkt haben Sie dabeiunterschlagen. Einmal Folgendes unterstellt: Es gibt ei-nen Brandstifter, der schon Hundertausende auf dem Ge-wissen hat. Wir wissen, dass er Feuerzeuge hat. Wir wis-sen, dass er Brandbeschleuniger hat. Wir wissen, dass dieWeltgemeinschaft ihn aufgefordert hat, den Nachweisdafür zu erbringen, dass er diese Mittel vernichtet hat.
Wir wissen auch, dass dieser Nachweis bis heute nicht ge-führt worden ist. Die Frage ist dann: Ist das eine abstrakteGefahr oder ist das eine konkrete Gefahr? Auf die Beant-wortung dieser Frage bin ich gespannt.
Kommen Sie jetzt nicht auf die Idee, zu sagen, dass derVermerk vom 9. August das Werk übermotivierter Mit-arbeiter im Bundesgesundheitsministerium gewesen ist.Diese Ausrede kennen wir aus dem Verfahren zum Verbotder NPD. Sie war damals nicht tauglich und sie ist esheute nicht. Die politische Verantwortung tragen die bei-den Minister und sie werden ihr erkennbar nicht gerecht.
Nächster Redner ist der Kollege Karsten Schönfeld,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist das Recht der Opposition, in Fragestunden die Bundes-
regierung über bestimmte Sachverhalte zu befragen, wie
es eben auch zu dem Problem der Pockenviren geschehen
ist. Aber, meine Damen und Herren, es ist durchsichtig
und scheinheilig, was Sie hier veranstalten und welchen
Popanz Sie aufführen. Nichts anderes geschieht auch in
dieser Aktuellen Stunde; wir haben es jetzt wieder bei den
drei Oppositionsrednern, die bisher gesprochen haben, er-
lebt.
Herr Kollege Bosbach, Sie haben uns gerade gesagt,
dass Sie Ihre Erkenntnisse offensichtlich aus der „Bild“-
Zeitung beziehen.
Sie sollten sich auf Dinge konzentrieren, die den Tatsa-
chen entsprechen, und nicht auf diese Art und Weise vor-
gehen. Sie entlarven sich ja selbst. Es ist absurd, was hier
immer wieder behauptet wird.
In der „Süddeutschen“ von heute lesen wir:
Erst die Pockenviren, jetzt Langstrecken-Raketen,
morgen vielleicht ein ganzes Atomwaffenarsenal …
Was Sie hier veranstalten, ist Panik- und Angstmache. Das
widert einen wirklich an. Anders kann ich das nicht be-
zeichnen.
Die entscheidende Frage ist doch: Können die Men-
schen in Deutschland sicher sein, dass alles getan wird,
um sie vor einem möglichen Pockenvirenangriff zu schüt-
zen? Hier lautet die klare Antwort: Es wird von der Bun-
desregierung alles getan. Hier hilft kein Reden, hier hilft
nur, entsprechende Impfdosen anzuschaffen. Das passiert.
Es wäre gut, wenn Sie sich hier nicht nur darauf zu-
rückziehen würden, uns zu kritisieren, sondern vielleicht
auch einmal Ihre Stimme in Richtung der Länder erheben
würden, die nur die kleinkarierte Diskussion darüber
führen, wer das am Ende alles bezahlen soll. So heißt es
dort: Der Ernstfall hat etwas mit Krieg zu tun, das ist Zivil-
schutz und damit Bundessache. Wir sind dagegen der
Meinung, Pockenschutz ist auch Katastrophenschutz.
Hier sind also die Länder mit im Boot. Ich richte die herz-
liche Bitte in Richtung Opposition: Sprechen Sie mit den
von Ihnen regierten Ländern und fordern Sie sie auf, sich
an der Finanzierung zu beteiligen. Bis heute ist alles vom
Bund bezahlt worden.
Es ist erstaunlich: Erst wollen Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, wissen, warum die für den
Katastrophenschutz zuständigen Länder angeblich zu spät
informiert wurden. Wenn es dann aber konkret wird und
um die Finanzen geht, möchten die Ländervertreter am
liebsten gar nichts mehr von einer Bedrohung hören. Da
ist dann zu hören: Ist überhaupt so schnell so viel nötig?
Hier besteht doch, wie ich denke, ein großer Widerspruch.
In Sachen Pockenviren gibt es keinen Grund, eine sol-
che Panik zu schüren, wie Sie sie in den letzten Tagen zu
schüren versucht haben. Wir laden Sie ein: Kommen Sie
mit, unterstützen Sie uns bei der Information der Öffent-
lichkeit!
Hören Sie endlich mit der Verunsicherungskampagne auf,
die Sie betreiben! Es wäre schön, wenn auch Sie zu die-
ser Einsicht kämen und endlich auf den Boden der Tatsa-
chen zurückkehrten.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Friedbert Pflüger,CDU/CSU-Fraktion.
2106
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2107
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Erlauben Sie mir aus gegebenem Anlass einekurze Vorbemerkung. Wir hatten am vergangenen Montageinen EU-Gipfel, auf dem eine eindrucksvolle Erklärungabgegeben wurde, der wir in allen Teilen zustimmen.
In dieser Erklärung wird für den Frieden geworben. Dortsteht, man wolle versuchen, den Irak friedlich zu entwaff-nen. Dort steht allerdings auch, dass vom Irak und seinenMassenvernichtungswaffen die eigentliche Bedrohungausgehe.
In diesem Papier der Europäischen Union steht, dass derIrak besser kooperieren müsse und dass er jetzt eine letzteChance habe, sofort und vollständig abzurüsten. Dannheißt es dort: Krieg als ein letztes Mittel zur Durchsetzungder Entwaffnung wird nicht ausgeschlossen.Meine Damen und Herren, all dies steht im Zusam-menhang: der Versuch, den Frieden zu erreichen mit allenmöglichen Mitteln, aber, um die Arbeit der Inspektorendurchführen zu können, auch die Drohung mit militäri-scher Gewalt. Wenn die Bundesregierung das bereits imSommer gesagt hätte, dann hätten wir nie eine Störung desGrundkonsenses in außenpolitischen Fragen in unseremLand gehabt.
Bedauerlich ist nur, dass, wie man heute Morgen in denNachrichtenagenturen liest, der Herr Bundeskanzler dieAndrohung der Gewalt als letztes Mittel in dieser Erklärungnur als eine generelle und abstrakte Erklärung bezeichnet.
Wie europafähig ist eigentlich eine Bundesregierung,die zu einem Sondergipfel fährt, über Stunden mit alleneuropäischen Staats- und Regierungschefs eine Erklärungvereinbart, nach Hause fährt und sagt, dass dieser Teilaber nur abstrakt gemeint sei? So kann man in Europanicht Politik machen.
Aus solchen Äußerungen ergibt sich für die EuropäischeUnion schwerer Schaden.
Meine Damen und Herren, hier ist mehrfach angespro-chen worden, dass nur Angst- und Panikmache erfolge.
Ich kann nur sagen: Die Papiere, die wir zitiert haben, sindkeine Papiere von George Bush, auch nicht von derCDU/CSU-Opposition, sondern Papiere aus Ihrem Haus.Wenn Panikmache erfolgt ist,
dann aus dem Gesundheitsministerium und von IhrerMinisterin; von niemandem anders.
Es geht nicht um Panikmache und Hysterie.
Man darf in der Tat nicht mit solchen schrecklichen Din-gen wie Pockenviren und Massenvernichtungswaffen Pa-nik und Hysterie erzeugen.
Aber man darf ebenfalls nicht – darum geht es uns – ver-harmlosen und vernebeln. Sie vernebeln und verharmlo-sen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen.
Zum Thema der Pocken ist von den Kollegen Koschykund Bosbach bereits das meiste gesagt worden.
Der amerikanische Außenminister Powell hat vor derWeltöffentlichkeit einen sehr eindrucksvollen Vortrag ge-halten – jedenfalls habe ich ihn als eindrucksvoll emp-funden – und mitgeteilt, wie sich die Bedrohungslagewirklich darstellt. Der Herr Bundesaußenminister Fischerhat das mit den Worten kommentiert: Das ist doch nichtsNeues, das wissen wir schon aus eigenen Erkenntnissen.
Wir hätten gerne, dass die Bundesregierung einmal nichtverharmlost, nicht mit einem Nebensatz, wie in der letztenRegierungserklärung des Bundeskanzlers, das Thema Mas-senvernichtungswaffen behandelt, sondern dass sie das,was Herr Powell sagt, in groben Zügen unter Berufung aufdas, was deutsche Quellen erforscht und erarbeitet haben,der deutschen Öffentlichkeit übermittelt. Darauf hat diedeutsche Öffentlichkeit ein Recht. Sie hat ein Recht darauf,zu erfahren, wie die Bundesregierung diese Bedrohung ein-schätzt. Die Bundesregierung sollte nicht so tun, als ob dieFrage der Massenvernichtungswaffen ein Hirngespinst vonGeorge Bush sei. Das ist nämlich nicht der Fall.
Es ist Hans Blix und nicht George Bush, der am 27. Ja-nuar vor dem UNO-Sicherheitsrat gesagt hat, dass esnachhaltige Hinweise darauf gebe, dass der Irak mehrAnthrax produziert habe, als er gegenüber den UN-In-spektoren angegeben habe. Einiges davon habe er ver-steckt. Zudem habe der Irak 650 Kilogramm Nährmittelzur Herstellung von Milzbrandbakterien nicht deklariert.Blix sagte dann wörtlich:
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Dr. Friedbert PflügerIch stelle fest, dass die Menge der fraglichen Nährmit-tel ausreichend wäre, um beispielsweise circa 5000 Li-ter konzentriertes Anthrax herzustellen.
Das ist keine kleine Menge. Mit dieser Menge kann manMillionen von Menschen umbringen.
Ich sage Ihnen: Die große Bedrohung der Zukunft istdie Verbindung von Terrorismus und Massenvernich-tungswaffen. Meine Fraktion will sich später nicht vor-werfen lassen – wir wollen alle hoffen und beten, dass esniemals zu solchen Anschlägen kommt –: Ihr habt dochalles gewusst, ihr habt den Zugang zu den Dokumentengehabt und seid gebrieft worden.
Herr Kollege Pflüger, Sie müssen zum Ende kom-
men.
Aber ihr habt es vorgezogen, einfach nur Bekenntnisse
zum Frieden in die Welt zu setzen und nichts konkret ge-
gen diese fundamentale Bedrohung und Herausforderung
zu unternehmen.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar vonNeuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei derRede von Herrn Pflüger ist mir deutlich geworden, dassdas Thema dieser Aktuellen Stunde zwar ein ernstes An-liegen der CDU/CSU ist, dass sie aber offensichtlich nachwie vor ein großes Problem damit hat. Es geht hier näm-lich nicht um Vermerke aus Ministerien.
Es geht hier auch nicht um Informationspolitik.
Mir ist jetzt sehr deutlich geworden – dafür bin ich HerrnPflüger dankbar –, dass Sie seit Tagen versuchen, denBeweis zu führen, dass eine akute Gefahr vom Irak aus-geht.
Ihre Spitze hat bis heute keine Antwort auf die erfolg-reichen Friedensbemühungen der rot-grünen Bundes-regierung gefunden.
Sie haben auch noch keine Antwort auf die gemeinsameErklärung der EU-Staaten gefunden.
Es geht Ihnen hier weder um Innenpolitik noch um Ge-sundheitspolitik, sondern es geht Ihnen darum, mit deramerikanischen Regierung gegen den Irak Krieg zu führen.
Sie trauen sich aber nicht, dies zu sagen. An den unter-schiedlichen Redebeiträgen wird deutlich, dass Sie sichuneins sind.
Sie trauen sich nach wie vor nicht, die Position, die HerrPflüger dargelegt hat, offen zu vertreten.
Sie suchen verzweifelt nach einem Rechtfertigungs-grund für einen Militärschlag gegen den Irak.
Der friedlichen Stimmung in unserer Bevölkerung setzenSie eine Angstkampagne mit Pockenviren entgegen.
Ich nenne dies psychologische Kriegsführung.
Ich bin sehr froh, dass diese rot-grüne Bundesregie-rung am 22. September gerade in diesen schwierigen in-nen- und außenpolitischen Zeiten das Vertrauen der Be-völkerung erneut bekommen hat. Sie hat dieses Vertrauenbekommen, weil die Bevölkerung nicht möchte, dass In-nenpolitik mit Hysterie gemacht wird und dass mit Fik-tionen gearbeitet wird.Wenn man den Pressespiegel gelesen hat, dann kannman es nur für absurd halten, wie innerhalb weniger Tageeinzelne Politiker aus Ihren Reihen, insbesondere HerrWesterwelle, zu selbst ernannten Pockenvirenspezialistengeworden sind, die meinen, dass sie mehr wissen als dieExperten des Robert-Koch-Instituts und der neu einge-richteten Akademie für Krisenmanagement.
2108
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2109
Dort gibt es den Sachverstand, auf den sich die rot-grüneBundesregierung stützt. Sie aber ignorieren diesen Sach-verstand, weil Sie eine andere Stimmung in der Bevölke-rung produzieren wollen. Sie wollen den großen Frie-densdemonstrationen etwas entgegensetzen. Sie braucheneine Gesellschaft in Angst, damit Sie sich als Problem-löser anbieten können. Ihre Motivation ist mir hier deut-lich geworden.
Sie alle hätten schon vor dem 11. September die Mög-lichkeit gehabt, das zur Kenntnis zu nehmen.
Auf einer Innenministerkonferenz wurde einstimmig, un-ter Zustimmung aller Länder – auch der CDU- und derCSU-regierten Länder, also auch Bayerns –, eine neueStrategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschlandentwickelt. Wir haben im Bereich des Zivil- und Kata-strophenschutzes einmütig Entscheidungen getroffen.Nun tun Sie hier so, als seien Sie daran nicht beteiligtgewesen und als seien Sie nicht darüber informiert wor-den.Ich glaube, dass die Bevölkerung am 22. September2002 ein richtiges Gefühl hatte. Es war richtig, dieserBundesregierung das Vertrauen auszusprechen.
Wir stehen für zwei Dinge: für eine Friedenspolitik inEuropa und für eine Innenpolitik mit Augenmaß,
bei der wir das zum Schutz der Bevölkerung Notwendigeund Erforderliche tun, es aber ablehnen, mit Panik Stim-mung zu machen.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt, Siehaben vorhin von einem Tollhaus gesprochen. Das trifftmit Blick auf die Informationspolitik auf Ihr Bundesmi-nisterium und, wenn ich an die letzte Rede denke, einStück weit auf die grüne Bundestagsfraktion zu.
Bei dieser Debatte geht es einzig und allein um die In-formationspolitik oder, besser gesagt, um die Desinformati-onspolitik der Bundesregierung in diesem Zusammenhang.
Kein vernünftig denkender Mensch wird die Notwen-digkeit von Pockenschutzmaßnahmen leugnen. Der Aus-gangspunkt dieser Debatte ist der Vermerk des Gesund-heitsministeriums vom 9.August des vergangenen Jahres.Der Kollege Bosbach und der Kollege Koschyk haben auseiner Stelle, die die Überschrift „Wahrscheinlichkeit einesAngriffs“ trägt, zitiert. Dort, wo es um dokumentierte Er-kenntnisse geht, heißt es weiter – ich zitiere wörtlich –:Die Anzeichen für einen möglicherweise kurzfristigbevorstehenden Angriff der USA auf den Irak ver-dichten sich. Es steht zu befürchten, daß der Irak ineinem solchen Falle mit den ihm zur Verfügung ste-henden biologischen Kampfstoffen, also auch Pocken-viren, reagiert.Das ist nicht von irgendeiner nicht amtlichen Organisa-tion, sondern steht in einem Vermerk des Bundesgesund-heitsministeriums.Es heißt dort weiter, dass im Falle eines solchen An-griffs und wenn kein zusätzlicher Impfstoff angeschafftwerde, mit 30 bis 40 Prozent Todesfällen, also mit etwa25 Millionen Toten, zu rechnen sei.Nun hat der Sprecher des Gesundheitsministeriums zudiesen Opferzahlen wörtlich erklärt: Das war etwas zuge-spitzt; ich bedauere das.
Uns haben alle Fachleute gesagt: Ohne einen umfassen-den Impfschutz ist diese Beschreibung ein realistischesSzenario. Genau deswegen dringen alle Gesundheitspoli-tiker darauf, diesen Impfstoff so schnell wie möglich zubeschaffen.
Meine Damen und Herren, dieser Vermerk war nicht ir-gendein interner Vermerk. Denn das Bundesinnenmi-nisterium hat diese Einschätzung im August 2002 geteiltund unverändert an das Bundesfinanzministerium weiter-geleitet.
Frau Ministerin, Sie selbst haben bereits im Mai des ver-gangenen Jahres auf der Jahrestagung der WHO in Genferklärt, es müssten vorsorglich Impfstoffe für alle Men-schen in Deutschland angeschafft werden. Auch da hatdas Stichwort Irak eine Rolle gespielt.Es ist die Frage, welche Bedrohungslage die Regierungdenn nun wirklich sieht. Vorhin in der Fragestunde hat derKollege Schmidbauer aus einem Bericht des Bundes-wehrbeschaffungsamtes in Köln vom 6. September zitiert.Ich beziehe mich darauf noch einmal auszugsweise. Daheißt es, es lägen geheime Informationen vor, wonach diesofortige Beschaffung des Impfstoffes ohne Rücksicht aufSilke Stokar von Neuforn
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Andreas Stormdie Rechtslage zu fordern sei. Weitere Einzelheiten könnedie betreffende Stelle aufgrund der Geheimhaltungsver-pflichtung nicht mitteilen.
Auch das zitiere ich aus einer Vorlage, die sowohl demBundesinnenministerium als auch dem Bundesgesund-heitsministerium vorgelegen hat.Wenn das, was darin steht, richtig ist, dann wollen wirwissen, was Sache ist. Die Desinformationspolitik desGesundheitsministeriums ist das große Problem. Wenndiese Dinge so brisant sind, wie es in diesem Dokumentdargestellt wird, müsste man sich fragen, weshalb nichtunverzüglich der Fachausschuss damit konfrontiertwurde, vielleicht sogar noch vor der Wahl am 22. Sep-tember. Das hat nicht stattgefunden. Nun könnte man er-warten, dass dieses Thema in einer der ersten Sitzungendes neuen Gesundheitsausschusses auf die Tagesordnunggekommen wäre. Das war aber weder im Oktober noch imNovember noch im Dezember der Fall, sondern es hat bisJanuar gedauert, bis wir im Gesundheitsausschuss erst-mals umfassend über dieses Thema diskutiert haben, fünfMonate, nachdem dieser Vermerk im Gesundheitsminis-terium angefertigt worden ist.Meine Damen und Herren, diese Art der Informations-politik ist völlig inakzeptabel.
Deswegen muss man feststellen: Frau Ministerin Schmidt,Sie haben die Bedrohung durch Pockenviren im Zuge derHaushaltsberatungen bewusst sehr offensiv dargestellt. Nunwollen Sie gemeinsam mit Ihrem Kollegen, dem Innenmi-nister, davon nichts mehr wissen und sprechen von einer ab-strakten Gefahr, als sei da realistisch überhaupt nichts zu er-warten. Kein Mensch geht davon aus oder würde auch nurim Traum daran denken, dass wir unmittelbar vor einer sol-chen Gefährdung stehen. Aber wir als Parlamentarier wür-den unserer Verantwortung nicht gerecht, wenn wir nicht indieser Hinsicht Vorsorge träfen. Deswegen muss die Ge-fährdungslage deutlich gemacht werden.
Darauf haben das Parlament und die Öffentlichkeit einAnrecht.
Dieser Verpflichtung sind Sie nicht nachgekommen. Ichrate Ihnen sehr dringend, Frau Ministerin: Ändern Sie IhreInformationspolitik, und zwar umgehend!
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Diese Debatte erscheint mir nach der langen Be-fassung in der Fragestunde mit diesem Thema, in der wirvon der Bundesregierung bereits viele Antworten gehörthaben, überflüssig wie ein Kropf.
Das, was wir hier gehört haben, hat nichts mit dem zu tun,wofür wir hier sitzen. Wir sitzen hier, um die Bevölkerungzu schützen. Wir sitzen hier, um die richtigen Maßnahmeneinzuleiten. Ich stelle fest: Diese Bundesregierung hatrechtzeitig eine gute Analyse des Risikos vorgenommen,hat die Schwerpunkte notwendiger Maßnahmen identifi-ziert,
hat sofort gehandelt und wir sind mit dem, was die Bun-desregierung zum Schutze der Bevölkerung gemacht hat,einverstanden.
Es gibt keinen Dissens in diesem Hause über die Maß-nahmen. Ich halte diese Feststellung für wichtig. DerDeutsche Bundestag ist einig mit den von der Bundes-regierung getroffenen Maßnahmen und er will und mussder Bevölkerung gemeinsam mit der Regierung klar ma-chen, dass sie sich zu Recht so sicher fühlen kann, wieman es in der Situation, in der wir uns befinden, nur seinkann.
Diese Aussage droht in diesem Hause fast verloren zu ge-hen, aber das ist es, was die Leute von uns wissen wollen.Jetzt kommen wir zu unseren Interna. Wir haben hierdarüber gestritten, wer wann welches Papier vorgelegt hat,
ob die Bundesregierung rechtzeitig gleiche oder wider-sprüchliche Formulierungen gewählt hat. Das hört sich al-les ganz interessant an, und wir verbringen damit jetztschon zwei Stunden. Sie sagen, das sei für Sie wichtig,und beantragen eine Aktuelle Stunde. Ich kann nur sagen:Ich finde es schade, dass wir auf diese Weise unser Ver-trauen verspielen, das wir benötigen und das wir in die-sem Fall zu Recht haben.
Das hat damit zu tun, dass Sie dieses Thema für andereZwecke missbrauchen wollen. Meine Vorrednerin vonden Grünen hat sehr schön dargestellt,
dass Ihre Aktion etwas mit einem anderen Politikfeld zutun hat, nämlich mit der Außenpolitik und mit der Haltungder Bundesregierung in Bezug auf einen möglichen Kriegim Irak. Sie haben offenbar Schwierigkeiten, in dieser Sa-che der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen.
2110
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003 2111
Ich glaube, wir müssen uns vorsehen, wir müssen auf-passen, dass wir, wenn wir etwas für die Gesundheit derMenschen tun wollen, nicht in die Rolle von Ärzten kom-men, die sich im Angesicht des Patienten über das Datumund die Modalitäten ihrer Abrechnungen streiten. Wir er-leben solche Aktionen von Ihnen auch in der Gesund-heitspolitik: Patienten werden zu Geiseln gemacht. Ichdenke, das dürfen Sie nicht schon wieder tun, schon garnicht, wenn es um ein so ernstes Thema geht wie das, wel-ches wir hier heute behandeln.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Luther,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Bundesministerin Schmidt, Sie ha-ben mich in Ihrer Rede mehrmals auf den Verlauf derHaushaltsberatungen angesprochen. Deshalb möchte icheiniges dazu sagen. Ich beginne mit einem Zitat aus der„FAZ“:Das Gesundheitsministerium bestätigte die Existenzder Vorlage,– also der Vorlage vom 9. August 2002 –wies aber darauf hin, dass man eine drastische Spra-che gewählt habe, um im Haushaltsausschuss „zügigGelder für Impfstoffe freizubekommen“.
Ich habe noch nie aus Sprechzetteln zitiert, FrauCaspers-Merk, aber hier geht es darum: Was hat denn ei-gentlich der Haushaltsausschuss gewusst und was ist imHaushaltsausschuss behandelt worden? Deshalb möchteich aus dem Sprechzettel, der mir als Berichterstatter vor-lag, zitieren.
– Das ist nicht vertraulich. – In der Begründung des Pa-piers für die Sitzung des Haushaltsausschusses am13. November 2002 steht:Neue Erkenntnisse der Nachrichtendienste über dieWahrscheinlichkeit eines bioterroristischen Angriffsmit Pockenviren zwangen angesichts des hohen Ge-fährdungspotenzials für die Bevölkerung zu soforti-gem Handeln.
Ich möchte daran erinnern: Bei den Beratungen für denHaushalt 2002, also im November 2001, ist beschlossenworden, 6 Millionen Dosen Pockenimpfstoff zu bestellen.Das geschah unter dem Eindruck der Geschehnisse am11. September 2001. Da konnte man tatsächlich davonsprechen, dass es eine allgemeine, abstrakte Gefahrensi-tuation gab, die zum Handeln anregte.Der Genehmigung einer außerplanmäßigen Ausgabeim August 2002 lagen dann – so die Information des Haus-haltsausschusses – neue Erkenntnisse von Nachrichten-diensten über eine besondere Gefahrenlage zugrunde. DasPapier, das heute mehrfach zitiert wurde und auf das sichdas gründet, was der Haushaltsausschuss dann vorgelegtbekommen hat, weist nicht nur auf eine allgemeine, son-dern auf eine sehr konkrete Gefahr hin. Den Nachrichten-diensten liegen also dokumentierte Erkenntnisse vor, dassPockenerreger zum Beispiel im Irak existieren. Das heißt,der Irak verfügt über biologische Massenvernichtungs-mittel.Ich will es noch einmal festhalten: Diese Vorlage lagdem Haushaltsausschuss nicht vor. Wenn es nun vonsei-ten des Gesundheitsministeriums heißt, man habe diesedrastische Sprache gewählt, um im Haushaltsausschusszügig Gelder für Impfstoffe freizubekommen, dann mussman noch einmal den Zeitablauf darstellen: Am 16. Au-gust 2002 wurde dem Bundesgesundheitsministerium dieaußerplanmäßige Ausgabe durch das Bundesfinanzminis-terium genehmigt. Der Haushaltsausschuss wurde am13. November 2002 damit befasst, also einige Monatespäter. Es war daher nicht notwendig, für den Haushalts-ausschuss diese drastische Sprache zu verwenden. DerSachverhalt ist anders: Das Gesundheitsministeriummusste sich gegenüber dem Finanzminister durchsetzen.Aber bedarf es dafür einer drastischen Sprache? Bislangging ich davon aus, dass man sich im Kabinett unter Zu-stimmung des Bundeskanzlers gemeinsam mit dem Bundes-innenministerium letztendlich entschlossen hat, Pocken-impfstoffe zu bestellen. Also gehe ich davon aus, dassdieses Papier vom 9. August 2002 richtig ist, nicht über-treibt und der Wahrheit, der tatsächlichen Situation, ent-spricht.
Wenn man entsprechend dem, was auch die WTO nachdem 11. September 2001 empfohlen hatte, eine Vollver-sorgung der Bevölkerung mit Pockenimpfstoffen hättevornehmen wollen, dann hätte man nicht drei Mal denHaushaltsausschuss damit befassen müssen, nämlich imNovember 2001, im November 2002 und im Januar 2003.Immer wieder kam scheibchenweise noch etwas dazu undimmer wieder wurde es damit begründet, dass es jetzt so-fort unbedingt notwendig sei aufgrund neuer Erkennt-nisse und was auch immer. Das macht die ganze Sache fürmich sehr unglaubwürdig.Ich will noch einmal festhalten:
Ich bin der Meinung, dass die Bundesgesundheitsministe-rin richtig gehandelt hat. Angesichts der vorliegenden In-formationen musste sie auch so handeln. Der Haushalts-ausschuss hat diesem außergewöhnlichen Verfahrenrichtigerweise zugestimmt, nämlich die Entscheidungohne Ausschreibung und ohne vorher den Haushaltsaus-schuss damit zu befassen, zu treffen. Die Bevölkerungmuss geschützt werden. Deswegen ist die AnschaffungDr. Wolfgang Wodarg
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Dr. Michael Luthervon Pockenimpfstoffen richtig. Das stellt auch niemand indiesem Hause infrage.Warum aber gibt es diesen Kurswechsel der Bundesge-sundheitsministerin, die plötzlich die Gefahr herunterspielt?Ich kann es Ihnen sagen: Im August 2002, kurz vor der Bun-destagswahl, wäre es nicht opportun gewesen, wenn dieseTatsachen an die Öffentlichkeit gelangt wären. Damalswurde mit einem von den USA inszenierten Krieg gegenden Irak gedroht, um die Wahl zu gewinnen. So kann mannicht Politik machen. So zerstört man das Verhältnis zurUNO, zur EU und zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich fordere Sie auf: Ändern Sie Ihre Politik an dieserStelle und informieren Sie die Bevölkerung zukünftig or-dentlich!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktions-
los.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die PDS im Bundestag hält die heute angezettelte Debatte
für höchst verlogen und die Position der CDU/CSU oben-
drein für kreuzgefährlich.
Die Frage des Schutzes vor terroristischen Verbrechen
diskutieren wir seit dem 11. September 2001 sehr inten-
siv, auch die nach biologischen Angriffen im Allgemeinen
und die nach Pockengefahren im Besonderen. Ich habe
mich damals für meine Fraktion im Robert-Koch-Institut
über deren Einschätzung und über Vorsorgemöglichkeiten
informiert. Deshalb halte ich es für richtig, wenn nun vor-
sorglich Impfstoffe in diesem Umfang bereitstehen. Ich
kann mich erinnern, dass mir der Präsident des Robert-
Koch-Instituts die Prognose gab, dass man bis zum Be-
ginn des Jahres 2003 so weit sein könnte, diesen Gefah-
ren prophylaktisch zu begegnen.
Allerdings sollten wir uns daran erinnern: Damals war
von Bin Laden und seinem Netzwerk die Rede. Heute dra-
matisieren CDU/CSU und leider auch die FDP die
Pockenfrage, und zwar im Kontext mit dem Irak, und das,
obwohl es dafür keinerlei Belege gibt.
Deshalb sage ich Ihnen: Sie instrumentalisieren das
Pockenthema für Ihre Außenpolitik und versuchen, sich
durch Ihre Zustimmung zum Kriegskurs aus der gesell-
schaftlichen Isolation zu holen. Das ist schäbig und wird
Ihnen auch nicht gelingen.
Ich möchte an das Kurzzeitgedächtnis der Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU appellieren. Sie haben im
Sommer Zeter und Mordio geschrieen, als im Bundes-
tagswahlkampf das Thema Krieg und Frieden eine Rolle
spielte. Frau Merkel empörte sich damals und sagte, man
dürfe nicht mit den Ängsten der Menschen spielen. Rich-
tig, aber genau das machen heute CDU/CSU in der aktu-
ellen Pockendebatte. Dasselbe tun Sie übrigens auch bei
anderen brisanten innenpolitischen Themen, zum Beispiel,
wenn es um oder besser gegen Ausländer geht. Es fehlt nur
noch, dass Sie den Papst verteufeln, weil der nicht auf
CDU/CSU-Linie, sondern auf dem Friedenspfad ist.
Nun noch ein Wort zu Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Rot-Grün. Seit vorgestern gibt es eine ge-
meinsame Erklärung der EU zum drohenden Irakkrieg.
Die Opposition zur Rechten spricht von einem Kurs-
wechsel, Kanzler und Außenminister sprechen von einem
guten Kompromiss,
Diplomaten sprechen vom kleinsten gemeinsamen Nenner.
Das mag sein, aber selbst dieser kleinste gemeinsame
Nenner liegt neben dem Friedensgebot des Grundgeset-
zes. Er widerspricht der EU-Charta und auch dem Völker-
recht, denn er stellt Krieg in Aussicht. Der Kompromiss
ist folglich nicht gut, sondern faul. Millionen Menschen
haben am vergangenen Wochenende europaweit für etwas
anderes demonstriert. Das möchte ich namens der PDS
klarstellen.
Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lassen Sie mich vorweg eine persönliche Be-merkung machen. Ich selbst bin Mitglied eines Katastro-phenstabes.
Die Art und Weise, wie die Opposition in diesem Hause– Ihr Zwischenruf spricht für sich –
mit den Vorbereitungen und der Analyse, die von verant-wortlichen Stellen zu verschiedenen Bedrohungsszenarienvorgenommen wird, und mit der Planung der Gefahrenab-wehr umgeht, ist schlicht und einfach steinerweichend.Wenn ich in meinem Stab wäre, würde ich ein anderesWort benutzen, nämlich eines, das mit „K“ anfängt.Sie betreiben eine systematische Verunsicherung derBevölkerung. Nicht die Bundesregierung verunsichert,sondern Sie. Sie behaupten, es würden Bedrohungsszena-rien verschwiegen. Dazu möchte ich mit Genehmigung
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der Präsidentin einige Zeitungsausschnitte aus dem ver-gangenen Jahr zitieren. Die „Frankfurter Allgemeine Zei-tung“ schreibt: „Pocken als Waffe“. Die „Welt am Sonn-tag“ titelte am 13. Oktober 2002: „Deutschland kauftPockenimpfstoff“. Die „Frankfurter Rundschau“ schriebam 5. November 2002: „Rückkehr zur Pockenschutzimp-fung“. Dieses Thema ist also schon fast ein Jahr alt. Nichtdie Lesart des Bedrohungsszenarios in den Ministerienhat sich geändert, sondern Ihre Interpretation, weil es Ih-nen politisch zupass kommt, dies hochzuspielen.
Sie behaupten, es gebe in dieser Frage keine Zusam-menarbeit zwischen Bund und Ländern.
Sie haben vorhin die unterschiedlichsten Haushalts-ansätze genannt. Seit Sommer dieses Jahres wird unter an-derem darüber verhandelt, wer die Kosten zu tragen hat.
– Ja, die gibt es. Aber wir haben die betreffende Behaup-tung doch nicht aufgestellt, Herr Bosbach. Sie, Herr Kol-lege Koschyk, haben das vorhin in der Fragestunde alsAnlass Ihrer Frage genommen.Das Ziel ist erreicht. Es kommt in den Medien so an,als wäre die Gefahr durch den Einsatz von Pockenvirenoder durch andere Terroranschläge neu. Sie wird hochge-spielt. Horrorszenarien können kolportiert werden. Aberdas ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, kein verantwort-licher Bevölkerungsschutz. Bevölkerungsschutz ist einenationale Aufgabe, die von allen getragen werden muss.Dieses Thema ist denkbar ungeeignet, um damit partei-politische Spielchen zu machen.
Seit dem Terroranschlag vom 11. September arbeitetdie Bundesregierung systematisch die Aufgaben ab, diesich aus dieser neuen Bedrohungslage ergeben haben. Dasgilt zum Beispiel für die Bedrohung mit Biowaffen – bei-spielsweise mit Milzbrand-, Pocken- oder anderen Erre-gern –, die für einen Terroranschlag verwendet werdenkönnten. So haben wir seit September 2001 insgesamt367 moderne ABC-Erkundungsfahrzeuge – dies sind Fahr-zeuge, die zur Erkundung von atomaren, biologischenund chemischen Gefahrenlagen eingesetzt werden kön-nen und diese beseitigen können – an die Länder ausge-liefert. Insgesamt wurden damit 852 Fahrzeuge für denKatastrophenschutz zusätzlich zur Verfügung gestellt.
Das gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Bundund Ländern wurde mit den Ländern zusammen aufge-baut. Auch in diesem Bereich gab es eine Abstimmung.
Das deutsche Notfallinformationssystem ist auf den Weggebracht worden. Die Bevorratung mit Pockenimpfstof-fen – das wurde schon genannt – läuft bereits seit demJahr 2001. Dies ist in Kooperation mit den Bundesländerngeschehen. Auch sie waren über Ihre Landesregierung vonAnfang an an diesen Sicherheitsentscheidungen beteiligt.
In die Bedrohungsanalyse wurde natürlich auch dieMöglichkeit einbezogen, dass Biowaffen in die Händevon Terroristen fallen könnten oder dass Länder wie Irakoder Nordkorea, von dem heute bezeichnenderweise nie-mand spricht, darüber verfügen könnten. Das Thema istallerdings nicht neu. Darüber wird seit Sommer letztenJahres diskutiert. Damals ist, aufbauend auf dem, was wirim Jahr 2001 veranlasst haben, auch die grundsätzlicheEntscheidung gefallen, im Ernstfall Seren für den Impf-schutz der gesamten Bevölkerung bereitzuhalten.
Das Thema wird von der Union allerdings aufgehübschtund aufgebauscht; denn sie möchte etwas ganz andereserreichen. Das scheint mir durchsichtig zu sein. Seit Wo-chen versuchen Sie, die Thematik Massenvernichtungs-waffen hochzuziehen. Es wird darüber geredet, der BNDhabe mögliche Erkenntnisse. Gerade deshalb möchtenwir, dass die Erkenntnisse, die an die UNO-Inspektorenweitergegeben wurden, weiter überprüft werden und dassdie Inspektoren weiterarbeiten können. Die Union lässt al-lerdings nichts unversucht, um die Friedenspolitik der Bun-desregierung mit Panikmache in Misskredit zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo liegt Ihr Problem?Liegt es darin, dass sich die Bundesregierung seit dem11. September systematisch auf mögliche Bedrohungs-lagen einrichtet? Liegt es darin, dass die Bundesregierungdie Überprüfung der Arsenale und die EntwaffnungSaddam Husseins durch die UNO-Inspektoren anstrebtund vorantreiben will? Die Rede von Herrn Pflüger vor-hin war verräterisch. Ihr Problem liegt darin, dass Sie inder deutschen Bevölkerung mit Ihrer positiven Haltungzum Irakkrieg völlig isoliert sind.
80 Prozent der Bevölkerung sind auf einer Linie mit derBundesregierung.
Herr Kollege, schauen Sie bitte ein wenig auf die Uhr.
Sie wollen eine Entwaffnung mit friedlichen Mitteln.Die Vermutung liegt nahe, dass die Union versucht, aufdiese Weise aus der Defensive beim Thema IrakkriegGerold Reichenbach
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Gerold Reichenbachherauszukommen. Wir haben bisher alles getan, umDeutschland sicher zu machen, und wir werden dies auchin Zukunft tun. Dort, wo es um den Schutz der Bevölke-rung geht, hat Parteitaktik nichts zu suchen. Wir nehmenunsere Verantwortung wahr.
Herr Kollege Reichenbach, ich gratuliere Ihnen sehr
herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und
wünsche Ihnen alles Gute.
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Peter
Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die heutige Fragestunde und auch diese Debatte
sind deutliche Belege dafür, dass innerhalb der Bundesre-
gierung eine ziemliche Konfusion darüber herrscht,
wie die Bedrohungsanalyse aussieht und – viel schlimmer
und wichtiger – welche Schlüsse man daraus zu ziehen hat.
Falls wir in der Debatte den Eindruck erweckt haben
sollten, es ginge hier vornehmlich um eine Kritik an der
Bundesgesundheitsministerin,
dann möchte ich das klarstellen:
Wir sind der Meinung, dass die Bundesgesundheitsmi-
nisterin richtig handelt, wenn sie angesichts kritischer Er-
kenntnisse sagt, dass sie zum Schutz der Bevölkerung vor
gefährlichen Massenvernichtungswaffen Vorsorge trifft.
Ich glaube auch nicht, dass Otto Schily die richtige
Adresse für die zentrale Kritik des heutigen Nachmittags
ist – er spricht leider erst am Schluss dieser Debatte –;
denn man kann dem Bundesinnenminister nichts vorwer-
fen, wenn er eine solche Bedrohung erkennt und durch
sein Haus darauf hinweist. Wir kritisieren ein wichtiges
Mitglied der Bundesregierung, das heute leider nicht hier
ist, nämlich den Herrn Bundeskanzler; denn er zieht aus
den Erkenntnissen des Bundesinnenministers, der Bun-
desgesundheitsministerin und seiner Nachrichtendienste
nicht die notwendigen sicherheitspolitischen Konsequen-
zen zum Schutz der eigenen Bevölkerung.
Kollege Bosbach hat hier sehr schön dargelegt,
dass aus einer abstrakten Bedrohung sehr rasch eine kon-
krete Bedrohung werden kann.
D
Wenn man von einem Brandstifter weiß,muss man Feuerlöscher beschaffen. Ich fände es wesent-lich sinnvoller, den Brandstifter präventiv festzusetzenund sicherzustellen, dass er nichts anzünden kann, wasman hinterher mühsam löschen muss.
Das ist es doch, was wir in diesen Tagen und Wochenerleben: Wir erleben einen Bundeskanzler, der diese Er-kenntnisse ignoriert, wir erleben Bundesminister, die de-monstrieren. Demonstrieren ist das Recht eines jedenMenschen und auch eines jeden Ministers. Aber ich fragemich: Ist es Fahrlässigkeit oder Naivität? Massenvernich-tungswaffen lassen sich nicht durch eine pazifistischeOhne-mich-Haltung oder durch Demonstrationen besei-tigen. Nur durch die Entschlossenheit der freien Weltkönnen sie vernichtet werden. Das ist eine wichtige Er-kenntnis unserer Geschichte.
Der Kollege Pflüger ist gerade dafür kritisiert worden,dass er den europäischen Gipfel angesprochen hat. DassSie sich darüber aufgeregt haben, zeigt Ihre Engstirnig-keit. Wir müssen doch die Zusammenhänge sehen. SolcheGefahren, seien sie nun potenziell oder konkret– wir alle hoffen, dass sie nicht konkret werden –, mussman gemeinsam bannen. Sie lassen sich aber nicht durchgute Worte, sondern nur durch entschiedene Taten bannen.
Wie ist denn Afghanistan, wo Frauen unterdrückt undMenschen gefoltert und ermordet wurden, befreit wor-den? Wie ist denn dem Balkan die Freiheit gebracht wor-den? – Nicht durch Demonstrationen oder durch Kritik ander Opposition, sondern durch die Bereitschaft der Ver-einigten Staaten und anderer Völker, ihr Leben dafür ein-zusetzen, dass Freiheit und Recht in dieser Welt einendauerhaften Platz haben!
Aus diesem Grunde ist es bedauerlich, dass heute Nach-mittag der entscheidende Stuhl in diesem Hohen Hausenicht besetzt ist. Es ist gut – Herr Pflüger hat darauf hin-
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gewiesen und auch ich möchte das unterstreichen –, dasssich der Bundeskanzler dazu durchgerungen hat, die Er-klärung von Brüssel zu unterschreiben. Ich hoffe nur, dasses nicht eine seiner Finten war, sondern dass dies auch fürdie deutsche Haltung im Sicherheitsrat gilt. Wenn wiraber erkennen müssen, dass Saddam Hussein nicht nach-gibt – um in Ihrem Bild zu bleiben: Der Brandstifter plant,ein Feuer zu legen –, dann stellt sich für uns die Frage:Was machen wir?
Kaufen wir einen weiteren Feuerlöscher oder gehen wir,solange wir noch die Kraft dazu haben, gegen diesenMenschen vor?
Deshalb sage ich zum Schluss: Es ist richtig, dass dieRegierung Vorsorge gegen einen möglichen Pocken-angriff auf Deutschland trifft. Ich werde mich in fünf oderzehn Jahren nicht darüber beklagen, dass diese Maß-nahme 200 Millionen Euro gekostet hat, wenn der Ernst-fall glücklicherweise nicht eingetreten ist. Diese Ent-scheidungen sind richtig; denn sie entsprechen demSchutzauftrag einer Bundesregierung. Das will ich einmalklar sagen. Wir aber kritisieren die Widersprüche. DenKopf in den Sand stecken und sich dann Schnorchel be-sorgen, damit man atmen kann, ist keine geeignete Politik.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Wenn es noch eines Nachweises bedurft hätte, dass Sieheute eine ganz andere Debatte als die führen wollen, dieSie als Thema der Aktuellen Stunde angemeldet haben,dann war das der Beitrag des Kollegen Hintze.
Sie wollen eine außenpolitische Debatte führen. Ich emp-fehle Ihnen, dafür den richtigen Zeitpunkt zu wählen, undschlage die Kernzeit am Donnerstag vor. Dann werdenwir sehen, wie gewichtig Ihre Argumente sind.Sie haben eine Aktuelle Stunde zur möglichen Bedro-hung durch Pockenviren angemeldet. Nur zu diesem The-ma werde ich mich äußern.Ich will einen Beitrag zur Versachlichung der Debatteleisten, indem ich zunächst einmal mit Zufriedenheit fest-stelle, dass eine Bevorratung mit Impfstoffen von allen Sei-ten des Hauses für sinnvoll gehalten wird. Das ist ein er-freulicher Sachverhalt. Die Bundesregierung hat bereits imOktober 2001 mit diesen Maßnahmen begonnen; darauf hatFrau Kollegin Schmidt mit Recht hingewiesen. Sie wissen,dass die Irakkrise zu diesem Zeitpunkt noch nicht das heu-tige Ausmaß hatte. Dieser Erkenntnis sind wir wohl alle.
Sie aber argumentieren, dass dies nicht das Thema sei.Es gehe vielmehr um die Informationspolitik; das hatauch der Kollege Bosbach angesprochen. Ich will Ihnennun ganz offen etwas zum Thema Irak sagen: Der Ver-merk, auf den Sie sich berufen, ist unglücklich formuliert;das ist gar keine Frage.
Er ist übrigens nicht zur Information der Öffentlichkeitverfasst worden.
– Das ist die Frage, die Sie zu Recht stellen. Wenn Siemich dafür haftbar machen wollen, dann müssten Sie vor-bringen: Das ist eine Leitungsvorlage gewesen. – Dannwürde ich die Haftung dafür übernehmen. Es handelt sichaber um eine interne Vorlage.Zu dem Zeitpunkt, als über eine mögliche Gefährdungdiskutiert wurde, hat unser Ministerium klar zum Aus-druck gebracht, dass nur eine abstrakte Gefährdung be-steht. Das ist auch dem Bundesgesundheitsministeriummitgeteilt worden. Frau Kollegin Schmidt hat alles, wasdazu zu sagen ist, richtig vorgetragen.Ich will Ihnen eine Passage – anderes ist bereits in derFragestunde angesprochen worden; das kann ich mir er-sparen – vortragen. Wir sollten uns besser darauf stützenstatt auf irgendwelche Sprechzettel. Ich muss wohl dem-nächst meine Sprechzettel anketten, wenn ich in den Aus-schuss gehe, damit sie nicht in fremde Hände gelangen.
– Lassen Sie mich doch fortfahren! Ich zitiere:Frau Schmidt erklärt, es gebe grundlegend keineneuen Erkenntnisse, die sich auf den Irak oder ande-res bezögen und die bisherige Vorgehensweise erfor-derlich gemacht hätten.Sie sehen, dass der Sachverhalt von Frau KolleginSchmidt an dieser Stelle völlig klar dargestellt wurde.Ich möchte Folgendes ausführen – hören Sie von derOpposition jetzt einmal gut zu! –:
Wie wir bereits dargestellt haben, ist uns bekannt, dass derIrak mit Kamelpocken experimentiert hat. Daraus könnendurchaus Schlussfolgerungen gezogen und es kann ge-fragt werden, warum diese Experimente durchgeführtwerden. Die Erkenntnisse hinsichtlich der Pockenvirensind den Nachrichtendiensten und damit auch Ihrer altenRegierung seit Mitte der 90er-Jahre zugänglich gewesen.Wenn Sie daraus eine abstrakte Gefährdung herleiten,dann frage ich Sie: Wann hat die alte Bundesregierung mitder Bevorratung von Impfstoffen begonnen? Diese Fragemuss ich Ihnen dann stellen.
Peter Hintze
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Bundesminister Otto SchilySeien Sie deshalb vorsichtig mit einem solchen Vorwurf!Ich kann dann auch die Frage stellen, was Sie der Öffent-lichkeit dazu mitgeteilt haben.
Ich will Sie aber gleich wieder entlasten, damit Sienicht in Unruhe geraten. Dieses Thema ist damals öffent-lich diskutiert worden, weil es auch Gegenstand der In-spektionen war. Auch der Kollege Pflüger hat die Zusam-menhänge völlig durcheinandergebracht.
Es tut mir Leid, das sagen zu müssen. Ich habe seinerzeitdie Rede des Secretary of State Colin Powell bei meinemBesuch in den Vereinigten Staaten von Amerika am Fern-sehschirm verfolgt. Lesen Sie das einmal nach! Auchdarin ist nur von Versuchen mit Kamelpocken die Rede,aber nicht etwa von Vorratslagern an biologischenKampfstoffen in Form von Pockenviren.Sie können ganz sicher sein: Unsere amerikanischenFreunde sind bei der Informationsgewinnung so gut, dasssie sich, wenn solche Erkenntnisse vorlägen, nicht einenVermerk – entschuldige bitte, Ulla – –
– In der Aktuellen Stunde gibt es keine Zwischenfragen,Herr Kollege Koschyk. Das sollte Ihnen bekannt sein.
– Ja, ich kenne das. Da ist aber nicht von Lagern die Rede.Ich will jetzt nicht in eine solche Debatte eintreten. Daswäre eine außenpolitische Debatte, die wir an andererStelle führen sollten.
Ich will nur Folgendes anmerken, Herr Koschyk, weil Sieauch in dieser Frage die Dinge durcheinander gebrachthaben.
– Hören Sie doch einen Moment zu! Ich habe Ihnendoch auch geduldig zugehört. Ich kann Sie auf die Aus-sagen der beiden Inspektoren Blix und el Baradei hin-weisen, die wörtlich festgestellt haben – das können Sienachlesen –: Es gibt keine belastenden Hinweise auf dieFortführung von nuklearen, biologischen oder chemi-schen Waffenprogrammen. Was die beiden Inspektorenin der Tat festgestellt haben – das hat Herr Pflüger rich-tig erwähnt – ist, dass ein Nachweis fehlt, was aus be-stimmten Anthrax- und anderen Beständen gewordenist. Dabei handelt es sich aber um ein völlig anderesThema.
Das hat mit dem Thema, über das Sie heute mit uns spre-chen wollten, wahrlich nichts zu tun. Bringen Sie dieDinge nicht durcheinander!
Ich habe in irgendeiner Pressemeldung gelesen – in derjemand Milzbranderreger mit Pockenerregern verwech-selt hat –,
dass man sich aber mit Antibiotika gegen Milzbrand-erreger schützt. Bitte bringen Sie die Dinge nicht durch-einander.Ich habe den Eindruck, dass Sie – das ist Ihnen von denKolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionenzu Recht vorgeworfen worden – etwas anzetteln wollen.Sie wollen in der Öffentlichkeit Unruhe stiften und auf-wiegeln.
– Nein, das wollen Sie. Das zeigt der ganze Debattenver-lauf am heutigen Tag.
– Was schwach oder was nicht schwach ist, beurteilennoch immer andere, Herr Koschyk. Das, was Sie heutevorgetragen haben, war in meinen Augen sehr schwach.
– Nein, ich glaube, ich habe ihn richtig zitiert. Auch Sieselber haben ihn zitiert. Es gibt jedenfalls keine Hinweise– ich stütze mich dabei auf die Aussagen von Herrn Blixund Herrn el Baradei – auf die Fortführung von Waffen-programmen. Im Übrigen, wenn wir über Herrn Powellreden wollten, dann müssten wir natürlich auch die Fragestellen, ob alle Erkenntnisse wirklich übereinstimmen.Das ist aber ein anderes Thema. Lassen Sie uns bei ande-rer Gelegenheit darüber diskutieren.Das, was Sie heute gemacht haben, ist der untauglicheVersuch, wider besseres Wissen durch den Umgang mitdiesem Thema wieder einmal Unruhe in der Bevölkerungzu stiften. Das ist schändlich.
Es ist nicht schändlich, für Frieden und gegen Krieg zudemonstrieren. Es ist aber schändlich, auf diese WeiseUnruhe in der Bevölkerung zu stiften.
Ich habe heute gelesen – das ist eine gute Nachricht –,dass der bayerische Ministerpräsident jetzt – er hat langedafür gebraucht – seine Kandidatur offiziell für beendeterklärt hat. Nun sollten auch Sie – dann hätten Sie eben-
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falls lange gebraucht – endlich mit dem Wahlkampf auf-hören. Dann kämen wir wieder zu einer guten sachlichenDiskussion über die Probleme unseres Landes. Das wäresinnvoll.
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Michael
Bürsch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Das Ende der Debatte gibt die Möglichkeit,rhetorisch abzurüsten, Aufregungen aus der Diskussionherauszunehmen und auf die Kernfrage zurückzukom-men, die Herr Stadler am Anfang gestellt hat. Es geht ei-nerseits um das Recht auf Information und andererseitsum Panikmache und Hysterie, die wir vermeiden wollen.Ich stelle am Ende der Debatte fest, dass wir uns in zwei-erlei Hinsicht einig sind:Erstens. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen An-spruch darauf, über drohende Gefahren für ihre Gesund-heit seriös informiert zu werden. Das gilt natürlich insbe-sondere für schwerwiegende Gefahren wie drohendeSeuchen.Zweitens. Panikmache und Hysterie dürfen keine Mit-tel der Politik werden. Sie dürfen nicht eingesetzt werden,um Stimmung zu machen oder um auf billige Weise fürdie eigenen Ziele zu werben. Das schadet insbesonderebei dem Thema der Gesundheitsvorsorge sowohl der Vor-sorge selbst als auch der Vermeidung von Gefahren.
Wie schwierig die Gratwanderung zwischen seriöserInformation einerseits sowie Panikmache und Hysterieandererseits – einen gewissen Anflug gibt es ja schon – ist,hat sich meiner Ansicht nach an der Berichterstattung derMedien in den letzten Tagen und an dem gezeigt, was sie,insbesondere die Zeitungen, aus der Veröffentlichung ei-nes Haushaltsvermerks vom letzten August gemacht ha-ben. Ich möchte nur einen kleinen Überblick über dieSchlagzeilen geben, die deutlich machen, was daraus inden Zeitungen gemacht worden ist: „Bioterror“, „Pocken-warnung“, „Der Tag X“, „Pockenviren, Selbstmordter-roristen, Sabotageakte – Deutschlands Sicherheitsstäbebereiten sich auf einen Irakkrieg vor“, „Pockenalarm –Experten rechnen mit Millionen Toten“ – das ist die Über-schrift der Zeitung mit den großen Buchstaben gewesen –,„Tödliche Pocken – So groß ist die Gefahr wirklich“. HerrGrindel, das sind Ihre ehemaligen Kollegen aus den Me-dien, die so etwas daraus machen. Ich frage Sie: Muss dasso sein? Ist es gottgegeben, dass man durch das Heraus-filtern bestimmter Sätze aus einem internen Haushalts-vermerk, der als solcher auch deutlich gekennzeichnet istund der nie im Leben von Sicherheitsexperten zum Bei-spiel des BND, die etwas über Gefährdungslagen sagenkönnen, quer geschrieben wurde, einen solchen Inhaltkonstruiert?Für mich ist das ein Lehrstück dafür, welche Verant-wortung wir Politiker, und zwar sowohl Vertreter der Op-position als auch der Koalition, aber auch die Mediendafür haben, wie Informationen vermittelt werden. WirPolitiker, aber auch die Medien haben die Verantwortung,Panik und Hysterie zu vermeiden. Insofern gebe ich demAutor Recht, der vor zwei Tagen in der „SüddeutschenZeitung“ zu diesem Thema geschrieben hat – das war aus-drücklich ein Kommentar; die Trennung zwischen Nach-richt und Kommentar wird nicht in allen Zeitungen ein-gehalten; diese Trennung ist eine alte Tugend, dievielleicht mehr Zeitungen wieder entdecken sollten –:Im Journalismus gilt mittlerweile die Regel, dassjede Woche eine neue Sau durchs Dorf getriebenwerden muss.
– Ich zitiere einen Autor der „Süddeutschen Zeitung“.Die Herde der Schweine wird dabei immer größer.An diesem Wochenende wurde wieder mal nachKräften getrommelt: Anschläge mit Pockenvirendrohten, die Bundesregierung verharmlose die Ge-fahr, geheimste gesicherte Erkenntnisse des Bundes-nachrichtendienstes würden ignoriert. Der normalehysterische Katastrophismus also.Jetzt kommt ein wunderbarer Schlenker zu HerrnWesterwelle – er wird sich erinnern –:Erfahrene Trittbrettfahrer wie der FDP-Bundesvor-sitzende Guido Westerwelle erklärten, die Darstel-lung der Lage durch die Bundesregierung sei ver-harmlosend und daher „unverantwortlich“.Der Vorsitzende einer kleinen Partei, also keiner Volks-partei, hat sich auf dieses Trittbrett hinaufbegeben unddafür gesorgt, dass diese Panik verstärkt wurde.Ich plädiere dafür, dass wir uns das zu Eigen machen,was auch im Journalismus im Wege der freiwilligenSelbstverpflichtung im Kodex des Presserates geschrie-ben steht. Wir Politiker können uns das wirklich zu Eigenmachen, wir könnten das verinnerlichen. Im Kodex desPresserates heißt es zum Beispiel zu den Grundsätzen:Zur Veröffentlichung bestimmte Nachrichten und In-formationen in Wort und Bild sind mit der nach denUmständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheits-gehalt zu prüfen.Diesen Maßstab legen die Medien an ihre Arbeit an, auchwenn sie ihm nicht immer gerecht werden. Wir Politikersollten ihn mindestens genauso beherzigen wie die Medien.Ich füge ausdrücklich hinzu: Das ist keine Medien-schelte, sondern es soll ein Appell an die Verantwortungvon uns allen, aber auch der Journalisten sein. Die Jour-nalisten mögen das, worüber sie berichten, mit dem nöti-gen Verantwortungsgefühl vermitteln; denn sonst kommtgenau das zustande, was wir hier erlebt haben: eine PanikBundesminister Otto Schily
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. Februar 2003
Dr. Michael Bürschund Hysterie erzeugende Berichterstattung. Das soll nichtmehr passieren.Ich bin der Meinung, wir sollten es mit George BernardShaw halten. Er hat einmal sinngemäß gesagt: Viele Men-schen fürchten die Freiheit; denn sie bedeutet Verantwor-tung. – Verantwortung müssen wir tragen. Wenn wir dastun, dann brauchen wir die Freiheit, vor allem die Presse-freiheit, nicht zu fürchten.Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 20. Februar 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.