Gesamtes Protokol
Guten
Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist
eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur
Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgever-
mögens.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,
Walter Riester.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Der Präsident hat es schon gesagt: Das Kabinett hat heute
die Reform der Alterssicherung und damit das größte Ver-
mögensbildungsprogramm für den Aufbau von Alterssi-
cherung beschlossen, das jemals in Angriff genommen
worden ist.
Ich darf Ihnen einführend die vier wichtigsten Punkte
darstellen, die wir in die Diskussion eingebracht haben
und die sich konsequenterweise im Gesetz wiederfinden:
Erstens. Wir zielen darauf ab, dass die Altersvorsorge
unserer Bürgerinnen und Bürger insgesamt langfristig ge-
sichert wird.
Zweitens. Wir stellen sicher, dass die Beiträge weiter
sinken, danach stabilisiert werden und auch langfristig be-
zahlbar sind.
Drittens. Wir stellen sicher, dass sich die Unterbre-
chungen im Arbeitsleben, die insbesondere mit der Be-
treuung und Erziehung von Kindern zusammenhängen
und zu geringeren Entgelten führen, sich im Rentenrecht
besser darstellen als bisher. Damit gehen wir einen weite-
ren Schritt auf dem Weg zu einer eigenständigen Renten-
sicherung von Frauen.
Viertens. Wir stellen sicher, dass zukünftig niemand
mehr aus Scham, seine Bedürftigkeit zeigen zu müssen,
aus Unwissenheit oder aus Angst, dass der Rückgriff auf
die Kinder erfolgt, zur Altersarmut gezwungen wird.
Das sind die vier großen Ziele, die wir mit dem Gesetz
sicherstellen wollen.
– Ich kann diese drei Minuten ganz einfach füllen, weil
dieser Gesetzentwurf sehr viele spannende Elemente ent-
hält. Aber ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre
Fragen zu stellen.
Als Erster
hat sich der Kollege Laumann gemeldet.
Herr Minister,
Sie haben, wenn wir das richtig verstanden haben, bei der
Rentenreform vor, erstens den Einstieg in die private För-
derung auf das Jahr 2002 festzulegen und zweitens die
Förderung in Zwei-Jahres-Schritten zu jeweils 1 Prozent
erfolgen zu lassen. Sie wollen aber bei Ihrer modifizierten
Rentenanpassung mit einem Abschlag von 0,5 Prozent
bleiben.
Wie beurteilt die Bundesregierung die Logik, auf der
einen Seite bei der privaten Förderung 1-Prozent-Schritte
zu tun und auf der anderen Seite die modifizierte Anpas-
sung nach dem alten Konzept mit Abschlägen von
0,5 Prozent vorzunehmen?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Abgeordneter Laumann, es ist zunächst
völlig richtig: Die Bundesregierung fasst die Förderung in
vier Schritten von jeweils 1 Prozent im zweijährigen Ab-
stand zusammen. Die Förderung beginnt im Jahr 2002
und endet im Jahr 2008. Das Volumen bleibt gleich. Die
Berücksichtigung dieser privaten Förderung bei den Ren-
tenanpassungen wird im gleichen Volumen von 4 Prozent
erfolgen. Aber wir wollen sicherstellen, dass es bei der
Rentenanpassung kein Auf und Ab gibt, sondern dass man
12705
132. Sitzung
Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Beginn: 13.00 Uhr
sich auf sie einstellen kann. Deswegen nehmen wir, weil
die Rentenanpassung jährlich erfolgt, jeweils Schritte von
0,5 Prozent vor.
Das hat einen zweiten wichtigen Vorteil, nämlich dass
wir bereits mit 1 Prozent Förderung einsteigen und damit
die Eigenvorsorge von Anfang an deutlich attraktiver ma-
chen. Die Tatsache, dass wir dies bei der ersten Renten-
anpassung nur mit 0,5 Prozent berücksichtigen, ist ein
weiteres Entgegenkommen gegenüber dem Argument,
dass die Anpassung der Renten erst nach Vollzug einer
Förderung erfolgen sollte.
Herr Kol-
lege Singhammer.
Herr Minister,
trifft es zu, dass die Koalition bei einem der Herzstücke
dieser Rentenreform – nämlich bei dem so genannten
Ausgleichsfaktor – schon jetzt, zum Zeitpunkt der Vorlage
Ihres Gesetzentwurfs, Veränderungs- und Nachbesse-
rungsbedarf sieht? Das hat dann natürlich erhebliche Aus-
wirkungen auf die Statik der gesamten Konstruktion Ihrer
Rentenreform. Können Sie mir sagen, wo dieser Nach-
besserungsbedarf schon jetzt gesehen wird?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich kann Ihnen zuerst einmal sagen: Es gibt
keinen Nachbesserungsbedarf. Als Zweites kann ich Ih-
nen sagen: Die Eckpunkte – unser Ziel ist die Beitrags-
stabilisierung; Sie kennen die Aussagen, die wir dazu ge-
macht haben: Wir werden den Beitrag möglichst über das
Jahr 2020 hinaus unter 20 Prozent halten – werden nicht
verändert. Der Beitrag bleibt absolut stabil. Den Aus-
gleichsfaktor, den wir eingeführt haben und mit dem wir
gerade diese Justierung vornehmen, haben wir in der be-
kannten Form eingebracht.
Wir führen gern weitere Diskussionen. Leider sind uns
bisher jedoch keine positiven, besseren Vorschläge ge-
macht worden. Wir warten ja noch immer auf Vorschläge
der Opposition.
Herr Kol-
lege Dreßen von der SPD-Fraktion.
Herr Minister, können Sie ein-mal die Voraussetzungen schildern, die gegeben waren,als Sie mit dieser Rentenreform begannen? War es nichtso, dass sich der Arbeitsmarkt immer mehr aufgespaltenhat? Welche gesetzlichen Maßnahmen hat die Regierungergriffen, um zu erreichen, dass es mehr Beitragszahlerfür die Rentenversicherung gibt?Das Zweite: Ist es – im Gegensatz zur alten Reform –nicht so, dass diese Regierung nun alles unternimmt, umwieder ein Niveau von 70 Prozent zu erreichen,
während es die alte Regierung bei 64 Prozent belassenund sich überhaupt nicht darum bemüht hätte, wie manwieder 70 Prozent erreichen könnte?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Das kann ich Ihnen gerne beantworten. Eswar nicht schön, was wir vorfanden: eine Rentenversi-cherung, die gezwungen war, die Beiträge jährlich zu stei-gern. Wir haben einen Beitragssatz von 20,3 Prozent vor-gefunden, der – natürlich in gleichem Maße – dieArbeitnehmer und Arbeitgeber sowie den Arbeitsmarktbelastet hat. Wir haben eine Rentenversicherung vorge-funden, die im Jahr 1998 gerade noch Rücklagen von21 Tagen bilden konnte. Wir haben einen Arbeitsmarktvorgefunden – Sie haben darauf hingewiesen –, bei dem5,5 Millionen geringfügig Beschäftigte keinerlei Zahlun-gen in die Sozialversicherungssysteme leisteten. Es hattesich in zunehmendem Maße eine Grauzone zwischenSelbstständigen und abhängig Beschäftigten entwickelt,die rechtlich nicht geklärt war.Wir haben diese Situation, die natürlich in hohemMaße unbefriedigend war und auch zur Verunsicherungbeigetragen hat, in ersten Schritten bereinigt. Wir habendafür gesorgt, dass auch für geringfügig BeschäftigteZahlungen in die Rentenversicherung erfolgen. Das sindganz erhebliche Zahlungen; denn insgesamt sind 4 Milli-onen geringfügig Beschäftigte in der Rentenversicherungerfasst. Dieses stabilisiert die Beitragseinnahmen derRentenversicherung.Wir haben als Zweites dafür gesorgt, dass die von demGesetzgeber vorgesehene Mindestschwankungsreservevon einem Monat aufgefüllt wird. Das heißt, wir habenden Rentenversicherungen Rücklagen von 8,4 Milliar-den DM gegeben. Die gesetzliche Rücklage ist damit wie-der vorhanden.Wir haben als Drittes dafür gesorgt, dass wir nichtmehr von versicherungsfremden oder nicht beitragsge-deckten Leistungen sprechen müssen; denn der Bundes-zuschuss, der nun an die Rentenversicherung geht, decktdiese Leistungen jetzt ab, und nicht nur diese.
– Entschuldigung, das habe ich vergessen. Die Situationist folgende: Der so genannte Eckrentner, dessen Rentenach 45 Jahren durchschnittlicher Einzahlung eine statis-tische Größe ist, erhält gegenwärtig eine Rente, die inetwa bei 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkom-mens der Beschäftigten liegt. Von der alten Regierung warvorgesehen, das Rentenniveau durch geringere Rentenan-passungen abzusenken.Je nach demographischer Entwicklung wäre ein Ren-tenniveau in Höhe von 64 Prozent, das vom Gesetz alsniedrigster Wert vorgesehen war, erst im Jahre 2015, 2018erreicht worden. Es hätten dann nur noch zwei Mög-lichkeiten bestanden: entweder die Beiträge weiter zusteigern oder das Rentenniveau unter 64 Prozent zu sen-ken.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Bundesminister Walter Riester12706
Wir haben uns bei der Rentenreform darauf festgelegt,für alle heutigen Rentner und für alle jene, die bis zumJahre 2010 in Rente gehen, das Rentenniveau stabil zuhalten und erst ab dem Jahr 2011 – nach Aufbau und Sta-bilisierung der kapitalgedeckten ergänzenden Altersvor-sorge – leichte, aber notwendige Senkungen im Renten-niveau vorzunehmen. Diese werden aber durch das, wasaufgrund der kapitalgedeckten Vorsorge aufgebaut wird,überkompensiert. Insgesamt kann ich feststellen: Jeder,der sich am Aufbau einer kapitalgedeckten Vorsorge be-teiligt, wird sich hinsichtlich des Volumens seiner Ren-tenleistungen besser stellen als jetzt.
Das Wort
hat die Kollegin Ina Lenke von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Minister, Sie haben gerade
davon gesprochen, dass Sie bei den geringfügig Beschäf-
tigten Änderungen in der Weise vorgenommen haben,
dass nunmehr auch aus diesen Beschäftigungsverhältnis-
sen Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden. Sie ha-
ben aber vergessen zu erwähnen, dass in der Regel von der
normalen Pauschalabgabe keine einzige Mark an die Ren-
tenversicherung der Betroffenen abgeführt wird. Etwas
anderes gilt nur, wenn von den geringfügig Beschäftigten
zusätzliche Beiträge entrichtet werden. Was verstehen Sie
nun unter dem Begriff „bereinigt“, wenn die Maßnahme
für den geringfügig Beschäftigten nichts bringt?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ihre Annahme ist schlicht falsch, da die Pau-
schalabgabe in Höhe von 12 Prozent für den einzelnen ge-
ringfügig Beschäftigten einerseits Rentenansprüche und
andererseits Rentenanwartschaftszeiten zur Folge hat.
Die von Ihnen offensichtlich angesprochene Aufzahlung
auf die 19,3 Prozent – wir raten sehr dazu; es wird leider
dennoch häufig nicht gemacht – würde dem Versicherten
zusätzliche Ansprüche aus der Rentenversicherung, zum
Beispiel auf Reha-Leistungen, geben. Ich darf Sie daher
beruhigen: Die Pauschalabgabe in Höhe von 12 Prozent
kommt voll und ganz den Versicherten in der Rentenver-
sicherung zugute.
Das Wort
hat die Kollegin Knake-Werner von der PDS-Fraktion.
Herr Minister, ich
beziehe mich in meiner Frage auf Ihre Antwort auf die
Frage des Kollegen Laumann. Sie haben gesagt, die För-
derung bei der privaten Altersvorsorge solle in vier Etap-
pen, beginnend mit dem Jahre 2002, umgesetzt werden.
Wenn ich alle Meldungen richtig verstanden habe, soll
aber ab dem Jahr 2002 auch der Abschlagsfaktor wirken.
Sie haben jetzt gesagt, dieser solle in 0,5-Prozent-Schrit-
ten eingeführt werden, da das den Vorteil habe, dass es erst
nach dem ersten Förderschritt einsetzt. Nach meiner
Rechnung wäre das das Jahr 2003. Können Sie Ihre
Aussagen noch etwas präzisieren?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozial-
ordnung: Ich kann das gerne tun. Die erste Förderung wird
für diejenigen, die eine ergänzende Altersvorsorge betrei-
ben, am 1. Januar 2002 gewährt. Die Rentenanpassung des
Jahres 2002 wird zum 1. Juli des Jahres 2002 vorgenom-
men. Wie die Rentenanpassung zum 1. Juli 2002 aussehen
wird, ob sie vom Gesetzentwurf abweicht oder nicht, ent-
scheiden Sie als Parlament.
Das Wort
hat der Kollege Wolfgang Meckelburg von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Minister,
wir haben am Sonntag vor zehn Tagen auf dem ÖTV-Ge-
werkschaftstag das „Basta!“ von Bundeskanzler Schröder
gehört. Wir haben damit den Eindruck bekommen, das sei
das letzte Wort in dieser Sache. Wenn ich Sie richtig ver-
standen habe, sind einige Punkte – zumindest im Ent-
wurf – wohl geändert worden.
Gehen Sie nach dem, was Sie in den letzten zehn Ta-
gen persönlich erlebt haben, davon aus, dass der Entwurf,
so wie Sie ihn mit den entsprechenden Vorschlägen, die
Sie jetzt auf den Tisch legen, einbringen, vom Parlament
wirklich verabschiedet werden wird?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Meckelburg, Sie sind der Parlamenta-
rier. Sie entscheiden über diesen Entwurf mit. Deswegen
erspare ich es mir, Ihre Frage zu beantworten. Abgeord-
nete, Sie sind der Souverän, Sie können natürlich Vor-
schläge einbringen, abändern und dann mit Mehrheit ent-
scheiden. Sie entscheiden, meine Damen und Herren.
Das Wort des Kanzlers, das ich in dem Sinne überset-
zen würde, dass nun einmal ein vorläufiges Ende der Dis-
kussion sein muss, dass nun entschieden werden muss, ist
absolut richtig.
Dahinter stehe ich. Ich kann nur sagen: Sie haben jetzt die
Möglichkeit der Entscheidung. Es liegen Beschlüsse der
Koalitionsfraktionen vor, es liegt ein Kabinettsbeschluss
vor. Morgen werden wir die erste Lesung haben. Sie ha-
ben dann die Möglichkeit, sorgfältig zu beraten und dann
zu entscheiden.
Mir lie-gen jetzt noch 13 weitere Wortmeldungen vor. Ich bitte,davon Abstand zu nehmen, sich weiterhin zu Wort zu mel-den, denn dafür reicht die Zeit nicht aus.Als Nächster hat der Kollege Heinz Schemken von derCDU/CSU-Fraktion das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Bundesminister Walter Riester12707
Herr Minister, da ich
ja, nach dem, was Sie soeben sagten, als Abgeordneter
auch gehalten bin, den Menschen draußen Auskünfte zu
geben, möchte ich von Ihnen doch vorab schon eine Hilfe
haben.
Wie erklären Sie Ihren ersten Satz, demzufolge Leis-
tungen angehoben und langfristig gesichert werden, an-
gesichts der Formel, die von 2011 bis 2030 Abschläge
bringt, die besonders die jungen Menschen trifft, die jetzt
die hohen Beiträge zahlen
– ganz stark dann 2030 – und die dann noch einmal mit
4 Prozent, die sich aus der Verrechnung zwischen Brutto-
und Nettolohn ergeben, getroffen werden, sodass die
Rente letztlich auf 61 Prozent sinkt? Wie kann ich dem
Wähler erklären, dass dann 61 Prozent mehr sind als jetzt
70 Prozent?
Wie kann ich erklären, dass gerade die Generation, die
jetzt die Beiträge zahlt, davon ausgehen muss, dass sie nur
noch 61 Prozent erreicht?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Schemken, so erklären Sie es sicherlich
nicht. So, wie Sie es sagen, trägt dies eher zur Verwirrung
bei. Aber ich will Ihnen gerne helfen, dies zu erklären.
Zunächst einmal gibt es keinen Abschlag, sondern ei-
nen Ausgleichsfaktor, der Folgendes ausgleicht: Die jün-
gere Generation, insbesondere diejenigen, die in den Jah-
ren 2020 bis 2030 in Rente gehen, hat voraussichtlich eine
Lebenserwartung von durchschnittlich mindestens zwei
Jahren mehr. Hieraus ergibt sich eine um mindestens zwei
Jahre längere Rentenbezugsdauer. Dies wiederum heißt,
dass das Volumen der Rentenzahlungen, die diese Men-
schen erhalten, um 10 Prozent bis 15 Prozent höher ist als
das der jetzigen Generation. Dem müssen wir Rechnung
tragen. Das tun wir wie folgt: Ab 2011 setzen wir einen
Faktor von 0,3 Prozent für jeden Rentenzugangsjahrgang
ein. Rechnerisch sind dies im Höchstfall – für den Ren-
tenzugangsjahrgang des Jahres 2030 – 6 Prozent. 6 Pro-
zent für 12 Prozent bis 15 Prozent mehr Volumen.
Dies zeigt auch Ihnen, dass es kein Abschlag, sondern
ein Ausgleich ist.
Gleichzeitig bauen wir, kapitalgedeckt und breit unter-
stützt, eine Eigenvorsorge auf, sodass, wenn sich die
Menschen beteiligen – wir schaffen hierfür die Vorausset-
zungen –, ihre Gesamtversorgung deutlich höher ist als
heute.
Nun bitte ich Sie, in diesem Sinne auch bei Ihren Zuhö-
rern zu werben.
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von der F.D.P.-
Fraktion.
Herr Minister, wie kom-
mentieren Sie Pressemeldungen der letzten Zeit, in denen
führende Sozialdemokraten so zitiert werden, dass Ihre
Reform der Rentenversicherung nur von etwa 10 bis 15
Mitgliedern der SPD-Fraktion begriffen würde?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Koppelin, ich habe mir schon lange ab-
gewöhnt, Pressemeldungen zu kommentieren.
Das Wort
hat der Kollege Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Bun-desminister, die Mehrkosten für die im Rahmen des Ren-tenreformkonzeptes geplanten Änderungen im Bundesso-zialhilfegesetz werden laut Ihrer Gesetzesvorlage auf600 Millionen DM geschätzt. Die kommunalen Spitzen-verbände bezweifeln das und halten die Summe für we-sentlich höher. Hat es mittlerweile Gespräche mit denkommunalen Spitzenverbänden gegeben, in denen mansich hinsichtlich der tatsächlichen Höhe der Mehrkosten,die durch die Neuregelungen entstehen, angenähert hat?Des Weiteren ist geplant, dass auf das Einkommen unddas Vermögen unterhaltspflichtiger Kinder zurückgegrif-fen werden soll, wenn die Eltern ihre Bedürftigkeit durchgrob fahrlässiges Verhalten in den letzten zehn Jahrenselbst herbeigeführt haben. Welchen Sinn macht dieseRegelung? Müsste es nicht logischerweise umgekehrtsein, nämlich dass die Kinder bei grob fahrlässigem Ver-halten der Eltern nicht zum Unterhalt herangezogen wer-den?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Zu Ihrer ersten Frage: Seit der Vorlage desGesetzentwurfes – Sie müssen mir das nachsehen – habenwir noch keine Gespräche mit den kommunalen Spitzen-verbänden geführt; denn der Gesetzentwurf wird erstmorgen eingebracht werden. Aber wir werden dann mitden kommunalen Spitzenverbänden darüber intensiveGespräche führen. Die Gespräche werden möglicher-weise noch intensiver werden, wenn der Gesetzentwurf,der zustimmungspflichtig ist, dann in den Bundesrat ein-gebracht wird.Bei der Regelung hinsichtlich des grob fahrlässigenVerhaltens in den letzten zehn Jahren geht es um Folgen-des: Wir wollen sicherstellen, dass nicht durch Schenkun-gen und Übertragungen eine Situation herbeigeführt wird,in der dann die Berechtigung entsteht, ohne Rückgriffs-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 200012708
möglichkeit, Sozialhilfe zu beanspruchen. Diese Miss-brauchsmöglichkeit wollen wir ausschließen.
Als Nächs-
tem steht dem Kollegen Karl-Josef Laumann das Frage-
recht zu.
Lieber Herr
Staatssekretär Andres, wir schwächeln nicht; wir sind im-
mer am Ball.
Herr Minister, ich habe gehört, dass die SPD-Fraktion
gestern beschlossen hat, prüfen zu lassen, ob nicht noch
weitere Teile der erwerbstätigen Bevölkerung in die ge-
setzliche Rentenversicherung aufgenommen werden kön-
nen.
Können Sie sich vorstellen, welche Gruppen der Erwerbs-
tätigen gemeint sind, und können Sie uns das auch mittei-
len?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Ich glaube, dass breite Bevölkerungsschich-
ten daran interessiert wären, beispielsweise Sie in die
Rentenversicherung aufzunehmen, und nicht nur Sie.
Ich kann mir das vorstellen. Ich greife auf die Praxis
zurück: Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass im letz-
ten Jahr beispielsweise zwei Gruppen – das war ganz er-
heblich – in die Rentenversicherung aufgenommen worden
sind, nämlich die geringfügig Beschäftigten – das ist erle-
digt – und die – treffend oder untreffend so bezeichneten –
Scheinselbstständigen. Sie werden mir vielleicht zustim-
men, dass bei diesen beiden Gruppen Sozialversicherungs-
pflichtigkeit sinnvoll ist.
Wir haben darüber hinaus dafür gesorgt, dass ein wei-
terer Kreis von Selbstständigen der Rentenversicherungs-
pflicht unterworfen wurde. Aber noch immer unterliegt
ein ganz erheblicher Teil der erwerbstätigen Bevölke-
rung – das ist bei uns leider anders als in fast allen ande-
ren europäischen Ländern – nicht der Rentenversiche-
rungspflicht. Wir werden den Prozess, immer mehr
Menschen in die Rentenversicherung aufzunehmen, vo-
rantreiben, allerdings wohl nicht in dieser Legislaturperi-
ode.
Der
nächste Fragesteller ist der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion.
Herr Minister, wir sind uns wahr-
scheinlich darüber einig, dass Ihr heute vorgestellter Ge-
setzentwurf im Zusammenhang mit verschiedenen anderen
Initiativen gesehen werden muss, die Sie auf den Weg ge-
bracht haben bzw. die Sie im Bundestag schon eingebracht
haben. Sie sprachen in der vergangenen Woche unter ande-
rem davon, dass der Rentenversicherungsbeitrag um
0,2 Prozentpunkte gesenkt werden soll. Der eine Punkt, den
Sie mit Ihrer Strategie verfolgen, ist ja, die Beiträge zu sen-
ken. Kann es sein, dass diese 0,2 Prozentpunkte durch Än-
derung der Bestimmungen über Regel- und Ausnahmefälle
in der Erwerbsminderungsrente eingespart werden sollen,
also dadurch, dass zukünftig die Erwerbsminderungsrente
in der Regel als befristete Rente gezahlt werden soll und
demzufolge die Zahlungen erst sechs Monate später begin-
nen werden? Ich würde es nicht gut finden, wenn Sie bei
den Renten für berufsunfähig oder erwerbsunfähig gewor-
dene Menschen sparen wollten, um so die Senkung der
Rentenbeiträge um 0,2 Prozentpunkte zu finanzieren.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Nein, das würde ich auch nicht gut finden,
Herr Abgeordneter Seifert. Das wäre sicherlich nicht im
Sinne dieser Regierung. Aber ich möchte Ihnen Ihre Sor-
gen auch rechnerisch und faktisch nehmen.
Zuerst zum Faktischen: Die Neuregelung der Erwerbs-
unfähigkeitsrente sieht vor, dass in einem höheren Maße
befristete Erwerbsunfähigkeitsrenten genehmigt werden.
Wir wollen nicht, dass Menschen ein Leben lang auf Er-
werbsunfähigkeitsrente angewiesen sind. Wir wollen,
dass bei Erwerbsunfähigen oder befristet Beschäftigten
ein angemessener Schutz vorhanden ist. Es gibt die Rege-
lung, dass bei befristeten Renten sechs Monate länger
Krankengeldleistungen erfolgen. Diese sind in aller Regel
höher als die Leistungen aus der Erwerbsunfähigkeits-
rente. Es geht um den Menschen. Er ist materiell besser
gestellt.
Nun zum Rechnerischen: Wir veranschlagen aus dieser
Regelung Mehrkosten für die Krankenversicherung im
nächsten Jahr in Höhe von 250 Millionen DM. Die Ent-
lastung der Rentenversicherung ist etwas höher, weil nicht
jeder Erwerbsunfähige aus dem Krankengeldbezug
kommt. Ich denke hier an bestimmte Phasen von Arbeits-
losigkeit. Ein um 0,2 Prozentpunkte verminderter Ren-
tenversicherungsbeitrag führt zu einem Einnahmeausfall
von etwa 3,4 Milliarden DM. Wenn Sie die 250 Milli-
onen DM und die 3,4 Milliarden DM vergleichen, so se-
hen Sie, dass schon daher überhaupt kein Zusammenhang
besteht.
Als
nächste Fragestellerin hat die Kollegin Maria Eichhorn
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Minister, abgese-hen davon, dass das neue Konzept der privaten Altersvor-sorge hinsichtlich der Kinderförderung nach wie vor un-zureichend ist, ist festzustellen, dass die Verschiebung derprivaten Altersvorsorge um ein Jahr erhebliche Auswir-kungen auf die Rentenanpassung hat. Bei der alten Rege-lung wäre im Wahljahr 2002 eine Anpassung von1,23 Prozent zu verzeichnen gewesen. Durch die Ver-schiebung um ein Jahr wird nach unseren Berechnungen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Bundesminister Walter Riester12709
die Anpassung im Wahljahr 2002 deutlich höher sein,nämlich bei 1,85 Prozent liegen. Das Erwachen kommtdann im nächsten Jahr doppelt: Dann wird nämlich dieAnpassung umso niedriger ausfallen. Herr Minister, dasist aus meiner Sicht Wählerbetrug. Wie steht die Bun-desregierung dazu?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Ich darf Sie beruhigen. In Ihrer Frage sindeinige falsche Annahmen enthalten.
Erstens. Wie die Anhebung im Jahr 2002 erfolgt – hierwiederhole ich mich –, entscheiden Sie mit Mehrheit. Indieser Frage haben Sie als Opposition sicher mitzureden.Daran bin ich sehr interessiert.Zweitens. Die Annahme ist falsch, dass wir heuteschon sagen können, wie die Rentenanpassung der Jahre2002 und 2003 aussieht. Im Moment haben wir bestimmteAnnahmen in Bezug auf die Lohnentwicklung. Genauwissen wir das aber noch nicht. Wir haben lediglich An-nahmen für unsere Rechnungen zugrunde zu legen.Drittens. Falsch ist, dass die Rentenanhebung des Jah-res 2002 Auswirkungen auf die Rentenanhebung des Jah-res 2003 hat. Unterstellt man eine Rentenanhebung desJahres 2002 – ich sage noch einmal: Auch Sie entscheidendarüber – ohne Berücksichtigung des Kapitalvorsorgebei-trags, dann werden im Jahre 2003 nur 0,5 Prozent ihrenNiederschlag finden. Über all das – hier darf ich Sie undalle Beschäftigen beruhigen – wird im Frühjahr nächstenJahres Klarheit sein, und zwar längst bevor Wahlen anste-hen.
Die Zeit
für diesen Teil der Regierungsbefragung ist abgelaufen.
Ich lasse aber noch drei Fragen zu. Dann gibt es noch zwei
weitere Fragen zu anderen Bereichen. Ich bitte, dies zu
akzeptieren.
Die nächste Fragestellerin ist die Kollegin Ulla
Schmidt.
Herr Minister, die
Frau Kollegin Eichhorn hat gerade darauf hingewiesen,
dass nach Meinung der CDU/CSU die Kinderförderung
völlig unzureichend ist. Können Sie einmal an einem Bei-
spiel erklären, wie die Bundesregierung mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf zum Beispiel eine Familie mit
50 000 DM Einkommen und drei Kindern, wenn sie in der
Endstufe 4 Prozent ansparen soll, fördert? Wie wird sie es
Familien mit geringem Einkommen ermöglichen, eine
zweite Säule aufzubauen, damit sie im Alter über ein Ein-
kommen verfügen, das mehr ist als das heutige?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Das will ich gern machen, Frau Abgeordnete
Schmidt. Ich nehme das von Ihnen skizzierte Beispiel:
eine Familie mit drei Kindern, ein Jahresverdienst in
Höhe von 50 000 DM. Das würde bedeuten, dass insge-
samt ein Sparvolumen von 2 000 DM pro Jahr aufge-
bracht werden muss. Wie setzt sich das Sparvolumen zu-
sammen? Die Familie bekommt zuerst einmal zwei
Zulagen von 300 DM – das sind 600 DM –, dann für je-
des Kind 360 DM. Damit sind wir bei einem Unterstüt-
zungsvolumen von insgesamt 1 680 DM für diese Fami-
lie. Die Familie selbst muss also letztlich noch 320 DM
einbringen. Insofern kann ich die von Ihnen zum Aus-
druck gebrachte Sorge völlig ausräumen.
Die
nächste Frage stellt die Kollegin Erika Lotz von der SPD-
Fraktion.
Herr Minister Riester, es gab ja diebreite Forderung nach einer Verbesserung der Situationder Kinder Erziehenden. Nun hat Frau Schmidt schon dieFrage nach der Förderung gestellt. Aber die Forderungnach einer Besserstellung der Kinder Erziehenden läuftnicht nur auf eine bessere Förderung hinaus, sondern be-trifft beispielsweise auch die Kindererziehungszeiten.Können Sie einmal darstellen, ob es in Ihrem Gesetzent-wurf auch dort zu einer Verbesserung kommt, und gibt esbeispielsweise auch Sonderregelungen für Erziehende mitbehinderten Kindern?Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung: Das mache ich gerne. Der Gesetzentwurfsieht vor – ich hoffe sehr, dass Sie das Gesetz so be-schließen –, dass zukünftig in den ersten zehn Jahren derKindererziehung derjenige, der die Kinder erzieht unddadurch im Regelfall geringere Verdienstmöglichkeitenhat, rentenrechtlich höher bewertet wird, und zwar biszum Durchschnittsverdienst, der im fraglichen Jahr erzieltwird. Das bedeutet eine deutlich höhere Rentenbewer-tung.Nun gibt es natürlich auch Familien, in denen zweioder drei Kinder gleichzeitig erzogen werden. Wenn die-jenige, die die Kindererziehung übernimmt, überhauptnicht erwerbstätig ist, bekommt sie gleichwohl, weil sieeine große Erziehungsleistung erbringt, ein drittel Ent-geltpunkt zugerechnet.Der dritte Punkt, den Sie angesprochen haben: Wennbehinderte Kinder erzogen werden, wird die Zeit der ren-tenrechtlichen Höherbewertung von zehn auf 18 Jahreausgeweitet. Damit entsprechen wir der berechtigten For-derung, dass Unterbrechungen des Erwerbslebens bzw.niedrigere Verdienste, die auf Kindererziehung zurückge-hen, besser ausgeglichen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Maria Eichhorn12710
Die letzte
Frage zu diesem Themenbereich stellt der Kollege
Johannes Singhammer.
Herr Minister,
es ist ja schon die berühmte Basta-Rede des Bundeskanz-
lers angesprochen worden. Während der Bundeskanzler
auf dem Gewerkschaftskongress festgestellt hat, von Re-
gierungsseite sei nun endgültig alles festgezurrt, haben
nach Presseberichten der Finanzminister und der Arbeits-
minister darüber beraten, wie denn die private Vorsorge in
die Jahre 2002 ff. verschoben werden kann. Deshalb
meine Frage, Herr Minister: Welches Basta gilt denn nun,
das des Bundeskanzlers oder das des Arbeitsministers,
und ab wann gilt dieses Basta?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
zialordnung: Herr Abgeordneter Singhammer, als Erstes
kann ich Ihnen sagen, dass die Überlegung der Vereinfa-
chung der ergänzenden Förderung aus dem Parlament he-
raus von den Finanzpolitikern entwickelt worden ist. Ich
bin aber sehr dankbar, dass wir die Schritte von acht auf
vier – doppelt so hohe – Schritte reduzieren. Darüber kön-
nen sicherlich alle froh sein, da es sich auch um eine Ver-
waltungsvereinfachung handelt. Dies haben wir im Rah-
men der Diskussion des Referentenentwurfes entwickelt.
Dahinter steht der Bundeskanzler voll und ganz; da kann
ich Sie absolut beruhigen. Dies werden wir morgen im
Rahmen der ersten Lesung in den Bundestag einbringen.
Ich bin überzeugt, dass wir in dieser Frage auch Ihre Zu-
stimmung bekommen werden; denn seitens der Union ist
gegenüber der jetzigen Regierung immer die massive For-
derung nach einer breiten, kapitalgedeckten ergänzenden
Vorsorge gestellt worden. Sie selbst haben dieses Vorha-
ben nicht realisiert; wir machen es, mit einer Unterstüt-
zung einer solchen ergänzenden Vorsorge von 20 Milliar-
den DM bis zum Jahre 2008. Das ist vom Volumen her
mehr, als Sie überhaupt gefordert haben. Sie können sich
sehr darüber freuen, dass unsere Maßnahmen diesen Um-
fang haben und dass wir so unbürokratisch wie irgend
möglich vorgehen.
Die Zeit
für die Behandlung dieses Themenbereichs der heutigen
Kabinettssitzung ist abgelaufen. Ich bitte die übrigen Fra-
gesteller, auf ihre Fragen zu verzichten.
Mir liegen jedoch noch drei weitere Fragen vor, die
diesen Themenbereich nicht betreffen, die ich noch auf-
rufen will.
Als Erster hat der Kollege Eckart von Klaeden von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Wir haben den Meldungen der Agenturen entnommen,
dass der Fall Klimmt im Kabinett eine Rolle gespielt hat.
Ich frage die Bundesregierung, ob auch die heute bekannt
gewordenen neuen Vorwürfe gegenüber Herrn Klimmt
eine Rolle gespielt haben. Es heißt, dass Spendenquittun-
gen der SPD unter die Lupe genommen würden, da bei ei-
nem privaten Treffen im Hause von Herrn Doerfert 1998
unter den Gästen eine Wette über das Abschneiden des
Sängers Guildo Horn beim Schlager-Grand-Prix abge-
schlossen worden sei, in dessen Folge Herr Doerfert alle
Wetteinsätze bezahlt und Klimmt als Spende für die SPD
ausgehändigt habe. Ist es in der Kabinettssitzung um die-
sen Sachverhalt gegangen?
Sind auch die juristischen Konsequenzen eines solchen
Sachverhalts – seine Wahrheit unterstellt – besprochen
worden, nämlich erstens, dass es sich um eine Beihilfe zur
Steuerhinterziehung handelt, und zweitens, dass dort in
parteienrechtlicher Hinsicht eine Verschleierung der wah-
ren Spender stattgefunden hat, sodass der SPD-Rechen-
schaftsbericht für diesen Zeitraum ungültig ist?
Wer will
diese Frage beantworten? – Bitte schön, Herr Staatsmi-
nister Bury.
H
Herr Kollege von Klaeden, weder hat die Bundesre-
gierung in der heutigen Kabinettssitzung den von Ihnen
zitierten Pressebericht diskutiert noch habe ich die Ab-
sicht, ihn hier zu kommentieren.
Die
nächste Frage stellt der Kollege Jürgen Koppelin von der
F.D.P.-Fraktion.
Hat in der heutigen Kabi-
nettssitzung eine Pressemeldung im „Handelsblatt“ eine
Rolle gespielt, wonach – ich versuche meine Frage sehr
weit zu fassen, damit Sie entsprechend antworten kön-
nen – es beim Bundeswirtschaftsminister eventuell Pla-
nungen, Vorstellungen oder Wünsche gibt, einen weiteren
Parlamentarischen Staatssekretär zu bekommen, vorzugs-
weise aus den Reihen der Grünen?
Herr
Staatsminister Bury.
H
Herr Kollege Koppelin, auch diese Frage ist im Kabi-
nett heute nicht erörtert worden.
Die letzteFrage in diesem Teil der Regierungsbefragung stellt derKollege Norbert Röttgen von der CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12711
Ich frage die Bundes-
regierung, ob im Bundeskabinett heute – über irgendet-
was muss ja gesprochen worden sein – über die Errich-
tung eines UN-Campus in der Bundesstadt Bonn – eine
für die Region Bonn bedeutende Angelegenheit – ent-
schieden worden ist.
Herr
Staatssekretär Großmann, bitte schön.
A
Über
diese Frage ist im Kabinett gesprochen worden.
– Es ist schon korrekt: Das war die Antwort auf die Frage.
–Wenn Sie mir die Zeit geben, die Frage noch genauer zu
beantworten, dann kommt vielleicht noch mehr Freude
auf.
Folgender Beschluss ist gefasst worden: Die Entschei-
dung über eine Unterbringung von Organisationen der
Vereinten Nationen im ehemaligen Parlaments- und Re-
gierungsviertel wird wegen des Sachzusammenhangs mit
dem internationalen Kongress- und Veranstaltungszen-
trum im Bereich des alten Plenarsaals dann getroffen,
wenn die Voraussetzungen für die Errichtung dieses Zen-
trums seitens der Bundesregierung, des Landes Nord-
rhein-Westfalen und der Bundesstadt Bonn geschaffen
sind. Wir rechnen mit dieser Übereinkunft etwa im Früh-
jahr 2001.
Wegen der besonderen Dringlichkeit kann das Bun-
desministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit dem Sekretariat der Klimarahmenkonvention
UNFCCC und dem Wüstensekretariat UNCCD aber eine
Unterbringung in Bonn im Alten Hochhaus zusichern.
Ich be-
ende die Befragung der Bundesregierung. Ich bitte zu ent-
schuldigen, dass ich keine weiteren Fragen mehr zulasse,
aber die Zeit ist schon weit überschritten.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksachen 14/4567, 14/4592 –
Als Erstes rufe ich eine dringliche Frage des Abgeord-
neten Eckart von Klaeden auf:
Wird der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten nunmehr die
Entlassung des Bundesministers für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen, Reinhard Klimmt, vorschlagen, nachdem das Amtsgericht
Trier gegen den Bundesminister Reinhard Klimmt am Montag die-
ser Woche Strafbefehl wegen Beihilfe zur Untreue in Höhe von
den Strafbefehl rechtskräftig werden lassen will (Quelle: „Süd-
deutsche Zeitung“, 14. November 2000), eine Strafe in Höhe von
27 000 DM zahlen muss und vorbestraft sein wird?
Zur Beantwortung steht der Staatsminister im Kanzler-
amt, Herr Bury, zur Verfügung.
H
Herr Kollege von Klaeden, der Bundesminister für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Reinhard Klimmt,
hat heute seine Anwälte angewiesen, gegen den Strafbe-
fehl des Amtsgerichts Trier Einspruch einzulegen.
Reinhard Klimmt geht davon aus, dass sich in der Haupt-
verhandlung herausstellen wird, dass er sich nichts hat zu-
schulden kommen lassen. Die Bundesregierung äußert
sich grundsätzlich nicht zu laufenden Verfahren. Aus-
drücklich möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass
auch für Bundesminister die Unschuldsvermutung gilt. Es
gibt also keinen aktuellen Entscheidungsbedarf.
Zusatz-
frage, Herr von Klaeden?
Herr Staatsminis-
ter, ist der Bundesregierung bekannt, dass nach §§ 407 ff.
der Strafprozessordnung Voraussetzungen für die Rechts-
kraft eines Strafbefehls die Geklärtheit des Sachverhaltes
und das Schuldeingeständnis des Täters sind? Inwieweit
können Sie aus politischen Gründen die Unschuldsver-
mutung für Herrn Klimmt noch gelten lassen, wenn er be-
reits durch die Bereitschaft zur Annahme seine Tat ge-
standen hat?
Dies ist ja Voraussetzung für die Rechtskraft eines Straf-
befehls.
– Schauen Sie ins Gesetz.
Zur Be-
antwortung steht der Staatsminister Bury zur Verfügung.
H
Herr Kollege von Klaeden, ich habe Sie eben darauf
hingewiesen, dass Reinhard Klimmt seine Anwälte ange-
wiesen hat, gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen,
weil er davon überzeugt ist, dass er sich nichts hat zu-
schulden kommen lassen und sich dieses in der Haupt-
verhandlung erweisen wird.
ZweiteZusatzfrage, Herr von Klaeden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 200012712
Ist der Bundesre-
gierung ein Präzedenzfall bekannt, in dem ein Bundesmi-
nister gezwungen war, die Einschränkung der Leistungs-
fähigkeit bei der Erledigung seiner Amtsgeschäfte
hinzunehmen, weil er sich in einem aktuellen Strafver-
fahren hat verteidigen müssen?
H
Ich vermag nicht zu erkennen, wo Bundesminister
Reinhard Klimmt in seiner Leistungsfähigkeit einge-
schränkt wäre.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Koppelin.
Herr Staatsminister, gelten
für die Bundesregierung und den Bundeskanzler noch die
gleichen moralischen Maßstäbe wie 1983, als die dama-
lige SPD-Bundestagsfraktion den Rücktritt des Bundes-
wirtschaftsministers, ohne dass der betroffene Bundesmi-
nister eine Anklageschrift in der Hand hatte, gefordert und
zu einer Debatte im Plenum aufgefordert hat? Ich will Ih-
nen im Detail gar nicht sagen, was die SPD damals alles
verlangt hat.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? Gilt die glei-
che Messlatte auch heute noch?
Da Sie eben das Verhalten von Bundesminister Klimmt
angesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie uns er-
klären können, wie der Sinneswandel bei Bundesminister
Klimmt zustande gekommen ist. Er hat ja noch in einer
Sendung von n-tv am 13. November wörtlich Folgendes
auf die Frage: „Warum legen Sie gegen eine Ungerech-
tigkeit keinen Einspruch ein?“,
gesagt: Ich möchte jetzt meine Arbeit weitermachen kön-
nen und möchte mich nicht fragen lassen: Wann ist denn
nun der Prozess? Wann wird neu entschieden? Wer tritt als
Zeuge auf? Das ist etwas, dem ich mich nicht aussetzen
möchte. Aus dem Grunde sage ich: Wir machen jetzt den
Deckel zu. – Welche Gründe gibt es nun für einen Sin-
neswandel?
H
Zum ersten Teil Ihrer Frage, Herr Kollege Koppelin:
Es gilt die Unschuldsvermutung, das heißt früher wie
heute, dass es keine Vorverurteilung in Fällen gibt, in de-
nen sich der Betroffene selbst für nicht schuldig hält.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Reinhard Klimmt hatte
in der Tat am 13. November dieses Jahres erklärt, er sei
bereit, den vom Amtsgericht Trier erlassenen Strafbefehl
rechtskräftig werden zu lassen, obwohl er davon über-
zeugt sei, dass er sich nichts habe zuschulden kommen
lassen.
Damit entsprach Reinhard Klimmt einer Empfehlung sei-
ner Anwälte.
Weil diese Ankündigung jedoch öffentlich als Schuld-
eingeständnis interpretiert wurde, hat Minister Klimmt
heute seine Anwälte angewiesen, gegen den Strafbefehl
Einspruch einzulegen. Er ist überzeugt, dass sich in der
Hauptverhandlung herausstellen wird, dass er sich nichts
hat zuschulden kommen lassen.
Weitere
Fragen des Kollegen Axel Fischer.
Axel E. Fischer (CDU/CSU): Herr
Staatsminister, ist dem Bundeskanzler bekannt, dass laut
einer „Spiegel“-Umfrage die Mehrheit der Deutschen für
einen „Abpfiff“ von Klimmt ist und dass auch 55 Prozent
der SPD-Anhänger diese Einschätzung teilen?
H
Ich kann, Herr Kollege, nicht ausschließen, dass der
Bundeskanzler den „Spiegel“ gelesen hat.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Dirk Fischer.
Herr Staatsmi-nister Bury, ich möchte nachfragen: Wenn nach demWortlaut des Gesetzes die Vorbedingung für den Antrag,einen Strafbefehl zu erlassen, ist, dass der Sachverhalteindeutig geklärt
und der Täter geständig ist
– dies war bis zu der Erklärung von Minister Klimmt dieBasis –, müssen das Parlament und die deutsche Öffent-lichkeit dann davon ausgehen, dass Minister Klimmt da-mit sein Geständnis zurückgenommen hat, was ja seingutes Recht ist, oder würden Sie bestreiten, dass er in die-sem Verfahren bisher geständig war?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12713
H
Da ich nicht Jurist bin, Herr Abgeordneter, würde ich
bitten, dass der Parlamentarische Staatssekretär im Bun-
desministerium der Justiz den rechtlichen Teil Ihrer Frage
beantwortet.
Herr
Staatssekretär, bitte schön.
D
Herr Fischer, Sie wissen, dass Straf-
befehle unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen
zustande kommen können. Solange die Einspruchsfrist
besteht, kann er natürlich jederzeit angefochten werden.
Insofern ist die Rechtsfolge, dass es zu einer Hauptver-
handlung kommt.
– Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Beweggründe da-
mals entscheidend waren, und ich glaube, Sie werden von
mir auch nicht erwarten, dass ich darüber sinniere, aus
welchen Gründen die Aussage von Herrn Klimmt erfolgt
ist. Ich nehme an, er hatte seinen guten Grund, und er hat
auch einen entsprechend guten Grund, nun zu sagen: Ich
fechte den Strafbefehl an.
Eine wei-
tere Frage der Kollegin Sylvia Bonitz.
Herr Staatsminister, darf
ich in diesem Zusammenhang fragen, was Herrn Klimmt
bewogen hat, den Strafbefehl zunächst anzunehmen und
ihn jetzt, einige Tage danach – letztendlich auf anwaltli-
chen Beistand hin – doch anzufechten?
H
Frau Kollegin, wenn Ihnen meine Antwort auf die
gleiche Frage vorher entgangen ist, bin ich gerne bereit,
sie zu wiederholen.
Reinhard Klimmt hatte am 13. November in der Tat er-
klärt, er sei bereit, den vom Amtsgericht Trier erlassenen
Strafbefehl rechtskräftig werden zu lassen, obwohl er da-
von überzeugt sei, dass er sich nichts habe zuschulden
kommen lassen. Damit hatte Reinhard Klimmt einer
Empfehlung seiner Anwälte entsprochen.
Diese Ankündigung – darauf hatte ich vorhin hinge-
wiesen – ist jedoch öffentlich als Schuldeingeständnis in-
terpretiert worden, und deshalb hat Reinhard Klimmt
heute seine Anwälte angewiesen, gegen den Strafbefehl
Einspruch einzulegen, weil er überzeugt ist, dass er sich
nichts hat zuschulden kommen lassen und dass dieses in
der Hauptverhandlung auch so festgestellt werden wird.
Eine wei-
tere Frage des Abgeordneten Koschyk.
Herr Staatsminister,
der Kollege von Klaeden hat vorhin auf einen Fernsehbe-
richt im ARD-Magazin „Report“ verwiesen, in dem über
diesen Wettvorgang unter Beteiligung des Herrn Bundes-
ministers Klimmt berichtet wurde. Kann man davon aus-
gehen, Herr Staatsminister, dass dieser Vorgang von
Herrn Klimmt in der Öffentlichkeit entsprechend zurecht-
gerückt wird, falls diese Vorwürfe in diesem Magazin
nicht zutreffen?
Kann man ferner davon ausgehen, dass der Herr Bun-
deskanzler den Herrn Bundesminister darüber befragen
wird, ob diese ungeheuerlichen Vorwürfe im Zusammen-
hang mit einer von Herrn Bundesminister Klimmt im
Hause von Herrn Doerfert initiierten Wettrunde zutreffen:
Scheinbare Wetteinsätze sollen nicht beglichen worden
sein, sondern als Spende an die SPD geflossen sein, indem
der angeklagte Herr Doerfert Herrn Klimmt pauschal ei-
nen Scheck übergeben hat; die Beteiligten haben jetzt
Selbstanzeige erstattet, weil sie befürchten, in den Strudel
der Spendenaffäre Klimmt hineingezogen zu werden?
Kann man also davon ausgehen, dass diesen in einem
Fernsehmagazin erhobenen Vorwürfen von der Bundesre-
gierung, von Herrn Klimmt in irgendeiner Weise entge-
gengetreten wird?
Herr
Staatsminister.
H
Herr Kollege, ich habe weniger Zeit zum Fernsehen
als der Abgeordnete von Klaeden.
Ich kann daher den von Ihnen zitierten Fernsehbericht
nicht kommentieren.
Ich rufejetzt die Fragen auf, die mit der eben gestellten dringli-chen Frage im Zusammenhang stehen. Zur Beantwortungsteht weiterhin der Staatsminister Hans Martin Bury zurVerfügung.Die Frage 37 des Abgeordneten Eckart von Klaeden istzurückgezogen worden.Ich rufe die Frage 38 des Abgeordneten Eckart vonKlaeden auf:Wie bewertet der Bundeskanzler, dass BundesministerReinhard Klimmt ihn bislang nicht von sich aus ersucht hat, demBundespräsidenten seine Entlassung vorzuschlagen, obwohl dieKonsequenz der Ermittlungen der beantragte Strafbefehl ist?Bitte schön, Herr Staatsminister.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 200012714
H
Herr Abgeordneter von Klaeden, Bundesminister
Klimmt ist davon überzeugt, dass er sich nichts hat zu-
schulden kommen lassen. Er setzt darauf, dass seine Un-
schuld in der Hauptverhandlung festgestellt wird. Es gilt
die Unschuldsvermutung.
Zusatz-
frage, Herr von Klaeden.
Herr Staatsminis-
ter, ich möchte nach der Motivation von Herrn Klimmt
fragen, den Strafbefehl zunächst anzunehmen und hinter-
her doch Einspruch einzulegen. Hatte Minister Klimmt
Anlass, davon auszugehen, dass der Bundeskanzler ihn
im Falle der Annahme des Strafbefehls – wie es die Me-
dien berichtet haben – im Kabinett belassen würde, oder
hat es eine derartige Vereinbarung nicht gegeben?
H
Herr Kollege von Klaeden, ich habe Sie bereits zwei-
mal darauf hingewiesen, warum Reinhard Klimmt
zunächst erklärt hat, er werde den Strafbefehl akzeptieren,
dann aber – wegen der Missinterpretation als Schuldein-
geständnis – heute zu einer anderen Entscheidung ge-
kommen ist.
Der Bundeskanzler hat heute im Kabinett deutlich ge-
macht, dass es in dieser Frage aktuell nichts zu entschei-
den gibt. Er geht davon aus, dass sich in der Hauptver-
handlung die Unschuld von Reinhard Klimmt erweisen
wird.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Kollege von Klaeden.
Herr Staatsminis-
ter, da Sie meine Frage nicht beantwortet haben, muss ich
meine zweite Zusatzfrage dafür opfern, Sie noch einmal
zu fragen, ob Bundesminister Klimmt Anlass hatte, davon
ausgehen zu können, dass er im Kabinett verbleiben
würde, falls er den Strafbefehl annimmt.
H
Herr Kollege von Klaeden, ich antworte nicht auf hy-
pothetische Fragen.
Zusatz-
frage des Kollegen Dirk Fischer.
Herr Staatsmi-
nister Bury, hat die Bundesregierung Erkenntnisse da-
rüber, ob das widersprüchliche Verhalten des Bundesmi-
nisters Klimmt aufgrund eigener freier Entscheidung oder
auf Drängen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck
zustande gekommen ist?
H
Selbstverständlich ist es die eigene Entscheidung von
Reinhard Klimmt, wie er sich in diesem Verfahren verhält.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Norbert Geis.
Herr Staatsminister, stim-
men Sie mit mir darin überein, dass nicht der von Ihnen
genannte Grund für den Einspruch gegen den Strafbefehl
zutrifft, sondern dass ein ganz anderer Grund wahrschein-
lich ist? Denn jeder, der bereit ist, einen Strafbefehl anzu-
nehmen, bekundet damit für die Öffentlichkeit klar, dass
er sich für schuldig hält; sonst würde er ja den Strafbefehl
nicht annehmen.
H
Nein, Herr Kollege, ich stimme darin ausdrücklich
nicht mit Ihnen überein.
Zusatz-
frage der Kollegin Bonitz.
Herr Staatsminister, hat
es in dieser Angelegenheit eine Einflussnahme des Herrn
Bundeskanzlers auf den Bundesminister Klimmt vor dem
Hintergrund gegeben, dass – was wir zumindest in den
Medien nachlesen können – der Bundeskanzler beabsich-
tigt, ein Verbleiben des Bundesministers Klimmt im Amt
davon abhängig zu machen, wie das Medienecho bzw. der
Druck der Öffentlichkeit auf Herrn Klimmt ausfällt?
H
Nein, die Entscheidungen sind – offenkundig im Übri-
gen – nicht vom Medienecho abhängig gemacht worden.
Wir kom-
men dann zur Frage 39 des Kollegen Erwin Marschewski:
Ist der Bundeskanzler der Ansicht, der Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen, Reinhard Klimmt, könne bei ei-
nem Strafbefehl im Amt bleiben, wie dies zum Beispiel vom Vor-
sitzenden der Fraktion der SPD vertreten wird, und ist damit zu
rechnen, dass Bundesminister Reinhard Klimmt bei einer Ankla-
geerhebung in jedem Fall entlassen würde?
H
Nein, Herr Kollege Marschewski, wie bereits in der
Antwort auf die Frage des Kollegen von Klaeden ausge-
führt, gilt auch für Bundesminister in laufenden Verfahren
die Unschuldsvermutung.
Zusatz-frage? – Herr Marschewski, bitte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12715
Herr Staatsminister, teilt der Herr Bundeskanzler die Auf-
fassung zum Beispiel des Untersuchungsausschussvorsit-
zenden Neumann und großer Teile der Bevölkerung, dass
ein Rücktritt allein wegen dieses ungeheuren Schummel-
vorgangs, dieses unseligen Geschäftes zwischen Caritas
und FC Saarbrücken, nötig sei, oder teilt er die Auffas-
sung, Klimmt sei ein anständiger Mensch und müsse
schon allein deswegen im Kabinett verbleiben?
H
Herr Abgeordneter Marschewski, der Bundeskanzler
teilt die von Ihnen hier vorgetragene erste Auffassung nicht.
Mit Interesse habe ich im Übrigen einer ddp-Meldung von
heute Mittag entnommen, dass auch der designierte CDU-
Generalsekretär, Herr Laurenz Meyer, einen sofortigen
Rücktritt von Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt
nicht für notwendig erachtet.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Wilhelm Schmidt von der SPD-
Fraktion.
Herr Staatsmi-
nister, teilen Sie meine Auffassung, dass die Art und
Weise von Kesseltreiben und Vorverurteilung gegenüber
Bundesminister Klimmt offensichtlich ein Licht auf große
Teile der CDU/CSU und ihre Art, die Leitkultur zu ver-
stehen, wirft?
H
Herr Kollege Schmidt, es fiele mir schwer, Ihrer Ein-
schätzung an dieser Stelle zu widersprechen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen von Klaeden.
Herr Staatsminis-
ter, Bundesminister Klimmt hat sich in der Öffentlichkeit
zu seiner Verteidigung in der Form eingelassen, dass er
den hier in Rede stehenden Vertrag, bei dem es immerhin
um über 600 000 DM gegangen ist, ohne Vorsatz unter-
schrieben habe; er habe einfach das unterzeichnet, was
ihm die Juristen vorgelegt hätten. Ist zu befürchten, dass
er dieselbe Sorgfalt auch bei seinen Amtsgeschäften als
Bundesminister an den Tag legt?
H
Was den ersten Teil Ihrer Frage angeht, Herr Abge-
ordneter von Klaeden, habe ich schon vorhin darauf hin-
gewiesen, dass ich mich zu dem laufenden Verfahren
grundsätzlich nicht äußere. Was den zweiten Teil betrifft:
Ich habe keinen Anlass, an der Sorgfalt der Amtsführung
des Kollegen Klimmt zu zweifeln.
Frau
Bonitz, bitte schön.
Herr Staatsminister, wenn
Herr Klimmt sagt – so ist es seinen Ausführungen in den
Medien zu entnehmen –, dass er selbstverständlich davon
ausgegangen sei, dass alles seine Ordnung habe, bezieht
sich das dann auch darauf, dass es heutzutage anscheinend
eine Selbstverständlichkeit ist, wenn knappe Mittel der
Caritas dazu verwandt werden, einen Fußballklub vor der
Pleite zu bewahren?
H
Wir haben hier denselben Fall wie eben, Frau Abge-
ordnete: Ich darf auf meine vorhergehende Antwort ver-
weisen, dass ich mich zu einem laufenden Verfahren
grundsätzlich nicht äußere.
Wir
kommen nun zur Frage 40 des Abgeordneten Erwin
Marschewski:
Macht der Bundeskanzler Bundesminister Reinhard Klimmts
politisches Schicksal vom politischen Echo auf das Ergebnis der
staatsanwaltlichen Ermittlungen bzw. Vernehmung von Bundes-
minister Reinhard Klimmt abhängig und trifft insofern die Ein-
schätzung zu, dass der Bundeskanzler für den Verbleib in einem
herausragenden Amt wie dem eines Bundesministers weniger die
Schwere der Vorwürfe strafbarer Handlungen ins Kalkül zieht als
vielmehr vor allem die damit verbundene öffentliche Resonanz
ausschlaggebend sein lässt?
H
Die Antwort auf die Frage lautet: Nein.
Keine Zu-
satzfrage, Herr Marschewski? – Herr von Klaeden, Ihre
Zusatzfrage.
Herr Staatsminis-
ter, glauben Sie eigentlich, dass nach diesen Vorfällen
Bundesminister Klimmt noch der in Sonntagsreden im-
mer wieder beschworenen Vorbildfunktion von amtieren-
den Ministern nachkommen kann?
H
Ich darf Sie noch einmal auf Folgendes hinweisen: DaSie Rechtsanwalt sind,
dachte ich eigentlich, dass Ihnen geläufig ist, dass in ei-nem laufenden, nicht abgeschlossenen Verfahren auch fürBundesminister die Unschuldsvermutung gilt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 200012716
Eine wei-
tere Zusatzfrage der Kollegin Bonitz. Bitte schön.
Herr Staatsminister, da
die Vorgänge, die dem Strafbefehl gegen Herrn Klimmt
zugrunde liegen, bislang unbestritten sind, frage ich, in
welcher Weise Bundesminister Klimmt, falls er während
dieses Verfahrens im Amt bleibt, seine politische Vorbild-
funktion beeinträchtigt sieht.
H
Frau Kollegin, noch einmal: Bundesminister
Reinhard Klimmt geht davon aus, dass er sich nichts hat
zuschulden kommen lassen und dass dies in einer ent-
sprechenden Hauptverhandlung bestätigt wird.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Dirk Fischer.
Herr Staatsmi-
nister Bury, hat es Überlegungen dahin gehend gegeben,
Klimmt solle besser gleich zurücktreten, als durch sein
Verbleiben im Amt die Landtagswahlen in Rheinland-
Pfalz und Baden-Württemberg zu belasten?
H
Nein.
Wir kom-
men dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Gesundheit.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit. Zur Beantwortung steht Frau Staatssekretärin
Simone Probst zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Konrad Kunick
auf:
Welche Folgen hat nach Auffassung der Bundesregierung die
globale Erwärmung für den vorausschauenden Küstenschutz?
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
S
Herr Kollege, neben der Zunahme der Zahl an Stürmen,
Überschwemmungen und Naturkatastrophen, mit denen
wir in der vergangenen Zeit in diesem Zusammenhang
konfrontiert worden sind, wird auch ein weiterer Anstieg
des Meeresspiegels als unmittelbare Folge weltweiter
Klimaveränderungen prognostiziert.
Der Anstieg des Meeresspiegels wird sich zweifels-
ohne regional sehr unterschiedlich auswirken. Wenn wir
über vorsorgenden Küstenschutz sprechen, sind ganz be-
sonders sehr dicht besiedelte Gegenden, die unmittelbar
unterhalb des Meeresspiegels liegen, zu beachten. Dies
sind vor allem kleine Inselstaaten, die sich während der
Klimaverhandlungen zu einer Interessengruppe konstitu-
iert haben.
Der vorausschauende Küstenschutz als Reaktion auf
den Klimawandel ist für uns allerdings nur die zweitbeste
Lösung. Es ist hier vielmehr notwendig, eine wirklich
wirksame Verminderung der Emission der für den Treib-
hauseffekt verantwortlichen Spurengase zu erreichen.
Das Kioto-Protokoll bietet hierfür eine Grundlage, einen
ersten Schritt; es ist aber sicherlich nicht ausreichend.
Falls wir aber in die Situation geraten, dass sowohl
durch die aktuellen Verhandlungen als auch durch die Ver-
ringerung der Emission von Spurengasen nicht verhindert
werden kann, dass der Meeresspiegel ansteigt, sind
vorausschauende Küstenschutzmaßnahmen erforderlich.
Eine Erhöhung der Deiche sowie der Bau neuer Sperr-
werke und die Verstärkung von bestehenden Sperrwerken
können tiefer liegende Gebiete vor Überflutung schützen.
Aufgrund der unterschiedlichen Betroffenheit wird aller-
dings ein vorsorgender Küstenschutz vordringlich in den
Entwicklungsstaaten erforderlich werden. Als Beispiel
nenne ich Bangladesch. Von den westlichen Industrie-
staaten sind hier besonders die Niederlande zu nennen.
Auch wenn es diese besondere Betroffenheit gibt, sind
wir natürlich ebenso in unserer nationalen Politik gefragt.
Sie wissen, dass in Deutschland die Länder für den Küs-
tenschutz zuständig sind. Der Bund finanziert auf der
Grundlage der im Planungsausschuss der Gemeinschafts-
aufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-
tenschutzes“ festgelegten Fördergrundsätze bis zu
70 Prozent der Maßnahmen der Länder. Der Umfang der
Bundesmittel beträgt hier jährlich 150 bis 170 Millionen
DM.
In der Planung für den Küstenschutz ist schon seit lan-
gem ein Anstieg des Meeresspiegels um 25 bis 30 Zenti-
meter berücksichtigt. Falls der Meeresspiegel um 50 Zen-
timeter ansteigen sollte, wäre in den nächsten Jahren
hinreichende Sicherheit gegeben. Um allerdings auch bei
alten Deichen und entsprechenden Bauwerken auf diesen
Stand zu kommen, sind noch eine Reihe von Maßnahmen
notwendig. Wir rechnen mit einem Kostenaufwand für die
nächsten zehn Jahre in Höhe von circa 2 Milliarden DM.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Kunick.
Ist die Bundesregierung be-
reit, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über einen nicht
mehr abzubremsenden Klimaschub bezüglich des Deich-
schutzes im deutschen Küstengebiet vertiefen zu lassen,
sodass wir rechtzeitig weitere Deicherhöhungen veranlas-
sen können?
Si
Selbstverständlich, Herr Kollege. Wissenschaftlichsind die Möglichkeiten eines Meeresspiegelanstiegsuntersucht. Die Enquete-Kommission des DeutschenBundestages und das IPCC gehen davon aus, dass der
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12717
Klimawandel solche Folgen haben wird. Da wir seit lan-gem vorausschauend sind, hat die Bundesregierung eineErhöhung des Meeresspiegels um 25 Zentimeter bis30 Zentimeter einbezogen. Falls der Meeresspiegel um50 Zentimeter ansteigen würde, wären wir noch auf dersicheren Seite. Selbstverständlich aber müssen wir allewissenschaftlichen Erkenntnisse und Untersuchungen zuRate ziehen, um hier vorausschauend tätig werden zu kön-nen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Herr Kunick.
Ist die Bundesregierung be-
reit, gegebenenfalls ein Programm zur weiteren Erhöhung
der Deichsicherheit und zur Verkürzung von Deichlinien
mit den Küstenländern zu erörtern?
S
Sie wissen, dass wir mit den Ländern im Rahmen der Ge-
meinschaftsaufgabe immer im Gespräch sind. Die
Gesamtinvestitionen von Bund und Ländern für den Küs-
tenschutz innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe „Küsten-
schutz“ betragen jährlich circa 200 Millionen DM. Seit
der Sturmflut 1962 sind 9 Milliarden DM investiert wor-
den. Diese Beratungen gehen natürlich auch aufgrund der
wissenschaftlichen Erkenntnisse weiter. Wir halten es für
richtig, dass wir uns mit 70 Prozent an diesen Maßnahmen
beteiligen, und werden mit den Ländern ausloten, wo zu-
sätzliche Maßnahmen nötig sind.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Walter Hirche.
Frau Staatssekretärin, ist es
richtig, dass heute, rund 40 Jahre später, noch nicht alle
Küstenschutzmaßnahmen abgeschlossen sind, die nach
der Sturmflut von 1962 als notwendig erachtet wurden?
Welches Volumen haben die noch ausstehenden Maßnah-
men und welches Volumen haben die von Ihnen genann-
ten Maßnahmen, wenn man um 20 bis 30 Zentimeter er-
höhte Deiche berücksichtigt?
S
Ein Anstieg des Meeresspiegels um 20 bis 30 Zentimeter
ist in den Planungen bereits berücksichtigt worden. Es
wird jetzt im Nachgang zu den Sturmfluten noch notwen-
dig sein, die See- und Stromdeiche auf einer Länge von
280Kilometern auszubauen. Ich habe vorhin die Höhe der
notwendigen Investitionen genannt. Zwischen Bund und
Ländern wird die Finanzierung geklärt. Das ist eine Auf-
gabe, die wir nur gemeinsam bewältigen können.
Sie können aber versichert sein, dass uns der Ausbau
der 280 Kilometer Länge sehr am Herzen liegt und wir ihn
aufgrund der neuen Erkenntnisse und der Situation, mit
der wir konfrontiert sind, schnell vorantreiben werden.
Wir sind mit Überflutungen, Sturmfluten und Wettersi-
tuationen konfrontiert, die immer deutlicher werden las-
sen, dass ein Klimawandel voranschreitet. Deshalb müs-
sen diese Schutzmaßnahmen getroffen werden.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin Probst.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amts. Zur Beantwortung der Fragen steht Staatsminister
Dr. Christoph Zöpel zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Hartmut
Koschyk auf:
Über welche Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung hin-
sichtlich der Gesetzgebung zum Schutze nationaler und ethni-
scher Minderheiten in der Tschechischen Republik und wie be-
wertet die Bundesregierung die hierzu bislang von der
Tschechischen Republik bekannt gewordenen Positionen?
D
Herr Präsident! Herr Kollege, Sie fragen nach der
Gesetzgebung zum Schutz nationaler und ethnischer Min-
derheiten in der Tschechischen Republik. Dazu ist auf gel-
tendes Recht zu verweisen. Im tschechischen Verfas-
sungsrecht gibt es eine Charta der Grundrechte und
Grundfreiheiten, die in ihren Artikeln 3 sowie 24 und 25
entsprechende Regelungen vorsieht. Über Artikel 3 der
tschechischen Verfassung ist diese Charta ihr integraler
Bestandteil.
Die Frage kann sich aber auch auf laufende Gesetzge-
bungsverfahren beziehen. Im tschechischen Parlament
befindet sich ein Gesetzentwurf hinsichtlich eines spezi-
fischen Minderheitengesetzes, bei dessen Ausarbeitung
auch Vertreter nationaler und ethnischer Minderheiten so-
wie der Minderheitenbeauftragte der Regierung Gelegen-
heit hatten, Stellungnahmen abzugeben. Es wurde im Ok-
tober im Kabinett verabschiedet und befindet sich derzeit
im parlamentarischen Verfahren. Es orientiert sich an den
einschlägigen Rechtsnormen des Europarates, in Sonder-
heit an der Europäischen Charta der Regional- und Min-
derheitensprachen vom 5. November 1992, der die Tsche-
chische Republik am 9. November 2000 beigetreten ist.
Schließlich haben wir Informationen, dass es ergän-
zend zu diesem bereits im Parlament befindlichen Ge-
setzentwurf in der tschechischen Regierung Überlegun-
gen gibt, Gesetzesnovellen für Einzelbereiche des
Minderheitenschutzes zu erarbeiten, mit denen die Rechte
von Minderheiten namentlich im Bereich der Medien und
der Justiz gestärkt werden sollen.
Zusatz-
frage, Herr Koschyk? – Bitte.
Herr Staatsminister,ist denn der Bundesregierung bekannt, dass es in derTschechischen Republik gegenüber dem aktuell im Parla-ment zu beratenden Gesetzentwurf der Regierung dochVorbehalte sowohl seitens der nationalen und ethnischenMinderheiten in der Tschechischen Republik als auch sei-tens des vom Menschenrechtsbeauftragten Uhl gibt unddass die Vorschläge des Menschenrechtsbeauftragten weit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Parl. Staatssekretärin Simone Probst12718
über die Regelungen des Gesetzentwurfes hinausgegan-gen sind, der jetzt dem tschechischen Parlament zur Dis-kussion vorliegt?D
In der Art und Weise, wie wir miteinander in solchen
Angelegenheiten umgehen, bedanke ich mich für Ihren
Hinweis. Ich gehe ihm nach. Ich bin vorher nicht darauf
aufmerksam gemacht worden.
Herr
Koschyk zu einer weiteren Zusatzfrage.
Ich habe noch eine
Frage: Wie äußert sich die Kommission in ihrem aktuel-
len Fortschrittsbericht im Hinblick auf das Beitrittsver-
fahren der Tschechischen Republik zur Europäischen
Union zu dem Menschenrechts- und Minderheitenschutz-
standard in der Tschechischen Republik, der nach den Ko-
penhagener Beitrittskriterien ein sehr wichtiger Gesichts-
punkt ist?
D
Soweit ich es der Zusammenfassung des Berichts
entnommen habe, enthält er diesbezüglich keine beitritts-
hinderlichen Hinweise.
Ich rufe
die Frage 4 des Abgeordneten Hartmut Koschyk auf:
Über welche Erkenntnisse verfügt die Bundesregierung hin-sichtlich der Berücksichtigung von Gewahrsamszeiten in tsche-choslowakischen Internierungs- und Arbeitslagern nach demZweiten Weltkrieg in der tschechischen Rentenversicherung fürdie Angehörigen der deutschen Minderheit in der TschechischenRepublik, und sieht die Bundesregierung in den diesbezüglichenBestimmungen eine Diskriminierung gegenüber den Angehörigender tschechischen Mehrheitsbevölkerung, für deren Beseitigungsich die Bundesregierung gegenüber der tschechischen Seite ein-setzen will?
D
Herr Präsident! Herr Kollege, die Bundesregierung
verfügt zurzeit für die Beantwortung Ihrer Frage hinsicht-
lich der Berücksichtigung von Gewahrsamszeiten in
tschechoslowakischen Internierungs- und Arbeitslagern
nach dem Zweiten Weltkrieg in der tschechischen Ren-
tenversicherung für die Angehörigen der deutschen Min-
derheit in der Tschechischen Republik nicht über ausrei-
chende Erkenntnisse. Die deutsche Botschaft in Prag
wurde von uns um Prüfung des tschechischen Rentenver-
sicherungsrechts in Bezug auf diese Frage gebeten. Das
geht nicht von einem Tag auf den anderen, wie Sie dan-
kenswerterweise akzeptieren wollen. Wir werden Ihnen
dazu ausführlich schriftlich berichten.
Zusatz-
frage.
Sollte sich ergeben,
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wird sich die Bundesregierung dann gegenüber
der tschechischen Seite für eine entsprechende Anrech-
nung dieser Gewahrsamszeiten in der Rentenversiche-
rung einsetzen?
D
Ohne ausweichen zu wollen: Dass es sich hierbei
um einen Tatbestand handelt, der im Interesse der Betrof-
fenen mit aller Sorgfalt durch die Bundesregierung ge-
prüft werden muss, ist klar. Angesichts der Tatsache, dass
vermutlich weder Sie noch ich im Augenblick ganz genau
wissen, was in den entsprchenden Gesetzen steht bzw.
was in ihnen fehlt, möchte ich auch keine abstrakte Ant-
wort auf Ihre Frage geben. Wenn aber die Recherche er-
gibt, dass Ihre Befürchtungen richtig sind, werden wir
dies sorgfältig prüfen.
Ich möchte Ihnen persönlich zusagen, vor einer Ent-
scheidung darüber mit Ihnen in Kontakt zu treten.
Vielen
Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Par-
lamentarische Staatssekretär Professor Dr. Eckhart Pick
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Wolfgang
Dehnel auf:
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die Sicherheit der
Bevölkerung vor besonders gefährlichen Sexualstraftätern zu ver-
bessern?
D
Herr Kollege Dehnel, ich darfzunächst darauf verweisen, dass vor kurzem das Gesetzzur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefähr-lichen Straftaten vom 26. Januar 1998 den Schutz der Be-völkerung vor gefährlichen Sexualstraftätern umfassendverbessert hat. So ist gerade gegenüber dieser Gruppe vonStraftätern die Verhängung der Sicherungsverwahrungdeutlich erleichtert worden. Seitdem schreibt das Gesetzausdrücklich vor, dass die Gerichte bei der Entscheidungüber eine mögliche vorzeitige Entlassung aus der Straf-haft prüfen müssen, ob – ich zitiere aus § 57 Abs. 1 Nr. 2des Strafgesetzbuches – „dies unter Berücksichtigungdes Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortetwerden kann“.Mit diesem Gesetz wurde zudem der umfassend beleg-ten Erkenntnis Rechnung getragen, dass eine angemes-sene therapeutische Behandlung von Sexualstraftäterndurchaus erfolgreich sein kann und dass gerade eine er-folgreiche Therapie den Sicherheitsinteressen der Allge-meinheit dient, da sie den Tätern die Gefährlichkeitnimmt. Deswegen wurde § 9 des Strafvollzugsgesetzes,der übrigens erst zum 1. Januar 2003 in Kraft treten wird,neu gefasst. Damit wird eine Verlegung von behand-lungsbedürftigen und behandlungsfähigen Sexualstraftä-tern, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahrenverurteilt wurden, in eine sozialtherapeutische Anstalt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Hartmut Koschyk12719
zwingend vorgeschrieben, wenn diese Verlegung auf-grund einer Untersuchung der Persönlichkeit und der Le-bensverhältnisse des Gefangenen angezeigt ist. Das spä-tere In-Kraft-Treten wurde im Übrigen beschlossen, umden Ländern entsprechende Maßnahmen zu ermöglichen.Weiterhin verpflichtet das Gesetz die Vollzugsbehör-den schon jetzt, bereits in der zu Beginn des Vollzugesdurchzuführenden Behandlungsuntersuchung zu prüfen,ob die Verlegung unter Behandlungsgesichtspunkten an-gezeigt ist, und eine Entscheidung zu treffen. Für den Fall,dass das Erfordernis der Verlegung verneint wird, ist dieEntscheidung unter Berücksichtigung der Entwicklungdes Gefangenen im Vollzug in regelmäßigen Abständenzu wiederholen.Nun ist, wie Sie wissen, der Vollzug dieser Gesetze Sa-che der Länder. Ungeachtet dessen überprüft die Bundes-regierung ständig die bestehenden Gesetze auf Ände-rungsbedarf. Deshalb und zur Unterstützung der Ländervergibt sie beispielsweise Forschungsaufträge, die sichmit dieser Thematik befassen. So wird die Kriminologi-sche Zentralstelle in Wiesbaden, eine Forschungs- undDokumentationseinrichtung der Justizministerien desBundes und der Länder, in Kürze ihr Forschungsvorhabenzur Rückfälligkeit von Sexualstraftätern abschließen. Ausdiesem Vorhaben erhofft sich die Bundesregierung wei-tere Erkenntnisse für die Bekämpfung und Prävention vorallem von wiederholt begangenen Sexualstraftaten.Ferner hat die Kriminologische Zentralstelle in denletzten zwei Jahren zwei Fachtagungen zu dieser Thema-tik durchgeführt und die Ergebnisse im Übrigen auch ver-öffentlicht. Außerdem steht die Kriminologische Zentral-stelle hinsichtlich der Anwendung der geändertenStrafvorschriften in engem Kontakt mit den Landesjustiz-verwaltungen und dokumentiert zum Beispiel auch dieEntwicklungen bei den sozialtherapeutischen Einrichtun-gen.
Zusatz-
frage des Kollegen Dehnel.
Ich bedanke mich
ausdrücklich für die ausführliche Antwort. Es bleibt noch
eine Frage offen. Sie haben die Therapie angesprochen.
Zur Therapie gehört unseres Wissens auch der Freigang
und gerade dabei kam es immer wieder zu Verbrechen.
Freigänger sind geflohen und mussten mit einem Millio-
nenaufwand wieder eingefangen werden. Sie haben zwar
darauf verwiesen, dass dies Ländersache sei. Aber mich
interessiert Folgendes: Vonseiten speziell der sächsischen
Landtagsfraktion kam der Vorschlag, Freigängern eine
elektronische Fußfessel anzulegen. Würden Sie diesen
Vorschlag unterstützen? Wird die Bundesregierung in die-
ser Richtung aktiv werden?
D
Man muss natürlich berücksichti-
gen, dass immer von Fall zu Fall entschieden wird, ob ein
Strafgefangener in den offenen Strafvollzug kommt und
damit Freigang erhält. Insofern müssen die entsprechen-
den Gesetze, die vorhanden sind, von den zuständigen
Behörden angewandt werden.
Die elektronische Fußfessel ist eine Möglichkeit, um
beim Freigang, der dem Strafgefangenen den Wechsel in
die Freiheit erleichtern soll, die entsprechende Sicherheit
zu gewährleisten. Insofern ist dies ein interessanter Vor-
schlag. Insbesondere in den nordischen Staaten Europas
wird es bereits praktiziert. Die Bundesregierung wird prü-
fen – sie macht sich die dortigen Erfahrungen zu Eigen –,
ob dies eine Möglichkeit ist, die Wiedereingliederung von
Strafgefangenen zu erleichtern.
Ich rufe
die Frage 6 des Abgeordneten Wolfgang Dehnel auf:
Wie viele Opfer gab es nach Kenntnis der Bundesregierung in
den vergangenen zehn Jahren aufgrund von erneuten Straftaten
flüchtiger Sexualstraftäter?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Hierzu liegen der Bundesregierung
keine Erkenntnisse vor. Entsprechende Angaben werden
in den Statistiken für die Strafrechtspflege nicht erhoben.
Zusatz-
frage, Kollege Dehnel.
Herr Staatssekretär,
Sie haben bei der letzten Regierungsbefragung vor einer
Woche angekündigt, dass eine Verbrechenspräventions-
kommission der Bundesregierung eingesetzt wird, die
Vorschläge erarbeiten soll, wie die Verbrechensbekämp-
fung weiter vorangetrieben werden kann. Meine Frage ist:
Wie können Sie eine Analyse durchführen, wenn Sie
keine genauen Zahlen, keine Statistiken haben? Und
warum haben Sie keine Werte und Statistiken über diese
Verbrechen, die die Bevölkerung sehr verunsichern, ob-
wohl es ein Bundesministerium des Innern, ein Bundes-
ministerium der Justiz und ein Bundeskriminalamt gibt?
D
Ich darf es wiederholen: Es gibt
hierzu bisher keine Statistiken. Die Länder reagieren auch
ausgesprochen allergisch darauf, wenn sie vonseiten des
Bundes bedrängt werden, neue Statistiken vorzulegen. Ich
gehe aber davon aus, dass dies ein Thema in dem von Ih-
nen angesprochenen Präventionsrat sein wird, in dem
auch die Länder hochrangig vertreten sein werden. Inso-
fern besteht die Möglichkeit, dass wir genauere Erkennt-
nisse gewinnen.
Weitere
Zusatzfrage, Kollege Dehnel.
Stimmen Sie mit mirdarin überein, dass man die Erstellung einer solchen Sta-tistik nicht allein den wirklich gut arbeitenden Journalis-ten der verschiedenen Medien überlassen darf?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick12720
D
Ich habe erhebliche Zweifel, ob die
Statistiken, die von privater Seite angefertigt werden,
überhaupt den Tatsachen entsprechen; denn es gibt in den
Ländern keine Quelle, die dies in einer entsprechenden
Form vermitteln könnte. Insofern glaube ich, dass das
Ganze sehr viel mit Spekulation zu tun hat. Das schließt
aber nicht aus, dass im Einzelfall entsprechende Informa-
tionen an die Presse gegeben werden. Bundesweit aber
haben wir – darauf möchte ich mich beziehen – keine Sta-
tistik, die uns in die Lage versetzt, Ihre Frage so deutlich
zu beantworten, wie sie es wert wäre, beantwortet zu wer-
den.
Eine wei-
tere Zusatzfrage der Kollegin Sylvia Bonitz.
Herr Staatssekretär, ich
bin – gelinde gesagt – entsetzt, dass wir zu diesem wich-
tigen und für unsere Sicherheit relevanten Thema keine
vernünftigen Zahlen vorliegen haben. Meinen Sie nicht,
dass es gerechtfertigt wäre, in diesem hochsensiblen Be-
reich von Sexualstraftaten Erhebungen vorzunehmen –
nicht nur aufgrund der jüngsten Vorfälle, sondern auch
aufgrund der immer wieder von den Medien dargebotenen
und uns alle entsetzenden Vorfälle, bei denen Straftätern
die Flucht und erneute Straftaten gelingen? Zu jedem an-
deren Pipifax erlegen wir es der Wirtschaft auf, statisti-
sche Erhebungen durchzuführen, aber in diesem für un-
sere Sicherheit so relevanten Bereich haben wir keine
fundierten Zahlen zur Verfügung.
D
Frau Kollegin, ich glaube, dass es
nicht damit getan wäre, nur Zahlen zu registrieren. Um
überhaupt Konsequenzen ziehen zu können, muss bei je-
dem Einzelfall betrachtet werden, unter welchen Umstän-
den die Betroffenen die Möglichkeit hatten, zu Wiederho-
lungstätern zu werden. Insofern ist es nicht damit getan,
die Statistik zu pflegen. Es muss vielmehr ermittelt wer-
den, unter welchen Voraussetzungen die Taten begangen
worden sind. Erst daraus kann man die entsprechenden
Schlüsse ziehen und Verallgemeinerungen ableiten.
Ich rufe
die Frage 7 des Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Allgemein-
heit vor Straftätern wie dem Sexualstraftäter und mutmaßlichen
Mörder Frank Schmökel zu schützen und einen erneuten Freigang
D
Herr Kollege Dr. Uhl, mit dem Ge-
setz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen ge-
fährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 wurde der
Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Sexualstraftä-
tern umfassend verbessert.
Ich wiederhole, was ich bereits auf die vorige Frage ge-
antwortet habe: Unabhängig von diesen Verbesserungen
überprüft die Bundesregierung die bestehenden Gesetze
ständig daraufhin, ob sie zeitgerecht sind. In diesem Zu-
sammenhang sind auch entsprechende Forschungsauf-
träge ergangen.
Nach den Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes
dürfen Vollzugslockerungen nur für solche Strafgefan-
gene angeordnet werden, die dazu geeignet sind. Das
heißt, es darf nicht zu befürchten sein, dass sich die Ge-
fangenen dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder
die Lockerungen des Strafvollzuges zur Begehung von
Straftaten missbrauchen. Die Frage, inwieweit Straf-
tätern, die in einem psychiatrischen Krankenhaus unter-
gebracht sind, Vollzugslockerungen gewährt werden kön-
nen, bestimmt sich nach Landesrecht.
Auch der Vollzug des Strafvollzugsgesetzes ist – eben-
so wie die Durchführung des Maßregelvollzuges – Ange-
legenheit der Länder. Diese unterstehen dabei nicht – Sie
wissen das – der Dienst- oder Fachaufsicht des Bundes.
Die Entscheidung über die Eignung einzelner Straftäter
für Vollzugslockerungen entzieht sich daher der Beurtei-
lung durch die Bundesregierung.
Herr Kol-
lege Uhl, Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
ich glaube, die aktuellen Vorkommnisse haben uns allen
gezeigt, dass das Thema nicht geeignet ist, eine Zustän-
digkeitsdebatte zu führen und sich mit Blick auf die Län-
der auf eine mangelnde Zuständigkeit des Bundes zu be-
rufen.
Teilen Sie angesichts dieses Umstandes die etwas son-
derbare Aussage des brandenburgischen Gesundheitsmi-
nisters Alwin Ziel, der – bisher unwidersprochen – gesagt
hat, ein erneuter Freigang Schmökels sei im Rahmen sei-
ner Therapie auch in Zukunft möglich und dürfe nicht
ausgeschlossen werden?
D
Herr Kollege, ich glaube, Sie haben
Verständnis dafür, dass sich das Bundesministerium der
Justiz bzw. die Bundesregierung nicht zu einem laufenden
Verfahren äußert. Ich will der Frage aber nicht auswei-
chen: Es muss in der Tat hinterfragt werden, ob die Behör-
den damals richtig entschieden haben.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Uhl.
Es muss in der Tatgefragt werden, ob richtig entschieden wurde. Im konkre-ten Fall war es so, dass Gutachten von Fachleuten dieGrundlage für die Entscheidung waren. Auch in Zukunftwird in gleicher Weise verfahren werden. Ist die Bundes-regierung bereit, in Zusammenarbeit mit den Ländern die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12721
Rechtsfrage zu erörtern, ob ein gesetzlicher Haftungstat-bestand für Gutachter eingeführt werden kann, mit derFolge, dass Sachverständige wenigstens für einen Teil derSchäden aufzukommen haben, die als Folge eines erwie-senen Falschgutachtens entstanden sind?Bei dem aktuellen Ereignis ist aufgrund einer falschenEinschätzung des Täters nicht nur ein Mensch ums Lebengekommen, sondern es ist auch dem Steuerzahler einSchaden in Millionenhöhe zugefügt worden. Auch dieserUmstand darf nicht vergessen werden und sollte für dieBundesregierung und die Landesregierungen Anlass sein,über die Möglichkeit eines gesetzlichen Haftungstatbe-standes nachzudenken.D
Herr Kollege Uhl, ich gehe davon
aus, dass jede Sachverständige bzw. jeder Sachverstän-
dige ein Gutachten nach bestem fachlichen Können er-
stellt. Die Frage, ob sich an ein falsches Gutachten Haf-
tungsfolgen knüpfen können, stellt sich uns in vielen
Bereichen. Teilweise kann dies bejaht werden. Ob dies al-
lerdings in dem genannten Bereich zielführend ist, müsste
in Zusammenarbeit mit den Bundesländern erörtert wer-
den. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die nächste Jus-
tizministerkonferenz auch mit diesem Thema beschäfti-
gen wird.
Eine wei-
tere Zusatzfrage der Kollegin Sylvia Bonitz.
Herr Staatssekretär, wel-
che weiteren Konsequenzen – außer der Erteilung neuer
Forschungsaufträge und der Erstellung neuer Gutachten –
ziehen Sie aus dem Fall Schmökel und ähnlichen Fällen?
Es ist doch so, dass frühere Opfer bei einem solchen Vor-
kommnis unter Polizeischutz gestellt werden müssen, ob-
wohl sie ihr ganzes Leben lang unter den Spätfolgen einer
Sexualstraftat leiden. Können wir nicht gemeinsam zu
sinnvollen Lösungen kommen, um durch konsequentes
gesetzgeberisches Handeln solche Fälle für die Zukunft
unmöglich oder zumindest unwahrscheinlicher zu ma-
chen, anstatt ständig neue Gutachten in Auftrag zu geben
und uns dahinter ein wenig zu verstecken?
D
Frau Kollegin, die gesetzlichen
Grundlagen sind vorhanden und verpflichten ja auch die
Behörden, im Einzelfall sehr sorgfältig zu überprüfen, ob
eine Vollzugslockerung angezeigt ist oder nicht. Wir kön-
nen natürlich nicht in jedem einzelnen Fall sagen, ob rich-
tig gehandelt worden ist oder nicht. Die Behörden werden
– das gebe ich Ihnen zu – durch diese schlimmen Fälle si-
cherlich dazu veranlasst werden, diese Fragen noch sorg-
fältiger als bisher zu prüfen. Ich glaube, es ist auch not-
wendig, dass man im Zweifel noch einmal überprüft, ob
tatsächlich ein Gutachten ausreicht oder ob man sich ei-
nes weiteren Gutachtens bedienen sollte. Alles in allem
denke ich, dass die Verantwortung, die hier bei den zu-
ständigen Behörden liegt, normalerweise sehr sorgfältig
wahrgenommen wird.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Martin Hohmann.
Ich darf eine Frage in
die gleiche Richtung stellen. Ich glaube, dass die Perso-
nenidentität zwischen dem Therapeuten und dem Gutach-
ter in der Regel dazu führt, dass die betreffende Person
ihre eigene therapeutische Arbeit bewerten muss. Sowohl
als Therapeut als auch als Gutachter wird sie ihr jeweili-
ges Arbeitsergebnis nicht herunterreden wollen. Allein
durch diesen – ich möchte einmal sagen – Systemfehler
ist eine Möglichkeit gegeben, dass es immer wieder zu
solch schlimmen Vorfällen kommt. Wären Sie gegebe-
nenfalls bereit, darauf hinzuwirken, dass insoweit eine
Trennung vorgenommen wird?
D
Herr Kollege, Sie haben sicherlich
Recht, dass die Nähe des Gutachters, der ja bisher schon
mit dem Strafgefangenen „gearbeitet“ hat, natürlich auch
die Gefahr in sich bergen kann, dass dieser zu subjektiv an
die Beurteilung des Sachverhalts herangeht. Insofern ist
es Ausdruck der Sorgfaltspflicht der Behörden, gerade
wenn es im Vorfeld um besonders schwere Taten gegan-
gen ist, zu prüfen, ob man nicht ein weiteres, „neutrale-
res“ Gutachten heranziehen sollte. Erforderlich ist mehr
Fingerspitzengefühl. In manchen Fällen kommt es dann
möglicherweise zu einer weiteren Absicherung der Ent-
scheidung.
Wir kom-
men zur Frage 8 des Kollegen Uhl:
Ist es zutreffend, dass es mittlerweile Erkenntnisse gibt, wo-
nach sich die bisherige Vermutung nicht bestätigt, dass deutsche
Rechtsextremisten hinter dem Anschlag auf die Düsseldorfer Sy-
nagoge in der Nacht zum 3. Oktober 2000 stehen?
D
Die Antwort lautet: Nein. Das Ver-
fahren wurde am 4. Oktober 2000 gemäß § 120 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom Gene-
ralbundesanwalt übernommen. Das Polizeipräsidium
Düsseldorf ist mit den Ermittlungen beauftragt. Diese Er-
mittlungen dauern noch an.
Zusatz-
frage, Herr Kollege Uhl.
Herr Staatssekretär,hält es die Bundesregierung für denkbar, dass Gerüchtezutreffen, wonach die ermittelnden Beamten der Polizeiin Düsseldorf angehalten werden, in einer bestimmtenRichtung nicht weiterzuermitteln, damit nicht ein„falsches“ Ermittlungsergebnis herauskommt? Ich meinedamit: Halten Sie es für denkbar, dass man den Grund-verdacht aufrecht erhalten will, dass Rechtsextreme ausDeutschland tätig waren, obwohl es bereits Vermutungen,Hinweise und Erkenntnisse gibt, dass es so nicht gewesenist, sondern dass es möglicherweise ein Anschlag der Rus-sen-Mafia gewesen sein könnte?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Dr. Hans-Peter Uhl12722
D
Herr Kollege, ich kann mich an die-
sen Spekulationen nicht beteiligen. Ich weiß nur, dass
zwei Jugendliche, die gefasst wurden und zunächst als Tä-
ter infrage kamen, aus der Haft entlassen werden mussten,
weil sie mit der Tat offenbar nichts zu tun hatten. Mehr ist
mir in diesem Zusammenhang nicht bekannt.
Eine Zu-
satzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär,
halten Sie es nicht für merkwürdig, dass noch immer
keine Ermittlungszwischenergebnisse vorliegen, obwohl
nach diesem spektakulären und bundesweit Aufsehen er-
regenden Fall eine Sonderkommission in Düsseldorf
durch den Innenminister Behrens mit erheblichem Perso-
nalaufwand eingesetzt wurde?
D
Ich kann mir das nur so erklären,
dass die Ermittlungen ausgesprochen schwierig sind und
die zuständigen Behörden, wie sich das gehört, in alle
Richtungen ermitteln müssen.
Eine Zu-
satzfrage des Kollegen Dehnel.
Vor diesem Hinter-
grund frage ich: Ist der Bundesregierung bekannt, dass ge-
rade in Frankreich Anschläge von muslimischen Extre-
misten auf Synagogen verübt worden sind und, wenn ja,
ist die Bundesregierung dann nicht der Meinung, dass
man sich angesichts der Medienberichterstattung über
diese Anschläge mit Äußerungen über die Anschläge in
Düsseldorf zurückhalten sollte?
D
Herr Kollege, das spricht dafür, dass
die Justizbehörden in alle denkbaren Richtungen ermit-
teln müssen.
Eine Zu-
satzfrage der Kollegin Sylvia Bonitz.
Herr Staatssekretär, vor
dem Hintergrund, dass der Anschlag auf die Synagoge auf
ein überdurchschnittliches Interesse gestoßen ist, was
dazu geführt hat, dass sich der Bundeskanzler höchst-
persönlich vor Ort ein Bild gemacht hat, möchte ich fra-
gen, ob sich der Herr Bundeskanzler laufend über die Er-
mittlungsergebnisse, auch wenn es möglicherweise nur
Zwischenergebnisse sind, unterrichten lässt und ob wir
davon ausgehen können, dass auch das Parlament über
Zwischenergebnisse der Ermittlungen informiert werden
wird.
D
Frau Kollegin, da der Generalbun-
desanwalt das Verfahren an sich gezogen hat und er, wie
Sie wissen, dem Bundesjustizminister zugeordnet ist und
damit auch der Bundesregierung, ist die Bundesregierung
über den aktuellen Stand der Ermittlungen informiert.
Ich rufe
nun die Frage 9 des Kollegen Detlef Parr auf:
Welche Auswirkungen hat nach Auffassung der Bundesregie-rung der Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention,der das Selbstbestimmungsrecht, die Entscheidungs- und Willen-sautonomie des Individuums als zentrales Menschenrecht unter-streicht, auf die Autonomie des Menschen am Lebensende und diein Deutschland geltende Rechtslage?
D
Herr Kollege Parr, Artikel 8 Abs. 1der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK,lautet:Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat-und Familienlebens, seiner Wohnung und seinesBriefverkehrs.Artikel 8 Abs. 2 regelt die Befugnisse der öffentlichenBehörden bei einem Eingriff in diese Rechte.Die Achtung der Privatautonomie am Lebensende ist inDeutschland gesichert. Nach nationalem Recht ist eineärztliche Behandlung nur mit Einwilligung des Betroffe-nen zulässig. Kann die Einwilligung nicht erteilt werden,weil der Betroffene zum Beispiel wegen Bewusstlosigkeitnicht einwilligungsfähig ist, so ist der mutmaßliche Willedes Betroffenen zu ermitteln und danach vorzugehen. Beider Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Betroffe-nen sind insbesondere auch Patienten- oder Betreuungs-verfügungen zu berücksichtigen, die der Betroffene zu ei-ner Zeit getroffen hat, als er noch entscheidungsfähig war.Bei einwilligungsunfähigen Volljährigen kann nur ein Be-treuer in eine Behandlung einwilligen.Ein Betreuer darf nur bestellt werden, wenn ein Voll-jähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder auf-grund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Be-hinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweisenicht besorgen kann. Der Betreuer hat den Wünschen desBetreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl ent-spricht und dem Betreuer zuzumuten ist. Damit trägt dasgeltende Recht zum einen dem Selbstbestimmungsrechtdes Betroffenen Rechnung, das als Teil des allgemeinenPersönlichkeitsrechts den Schutz unserer Verfassung ge-nießt und deshalb insbesondere auch vom Gesetzgeber zubeachten ist.Es stellt zum anderen sicher, dass auch diejenigen, dieihr Selbstbestimmungsrecht aufgrund einer psychischenKrankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinde-rung nicht hinreichend auszuüben vermögen, behandeltwerden, wenn das Unterbleiben der Behandlung nichtverantwortet werden kann.Der in der Bestellung eines Betreuers liegende Eingriffist auch nach Artikel 8 Abs. 2 EMRK zulässig, weil er ge-setzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, diezum Schutze des Betreuten selbst notwendig ist. DieRechtslage in Deutschland entspricht damit jener der Eu-ropäischen Menschenrechtskonvention.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12723
Zusatz-
frage, Herr Kollege Parr.
Herr Staatssekretär, der Deutsche
Juristentag hat sich kürzlich mit dieser Frage beschäftigt. Er
hat eindeutig die Notwendigkeit gesetzgeberischer Maß-
nahmen gefordert, auch im Hinblick auf die Verhaltens-
weisen der Ärzteschaft. Wie erklären Sie, dass Sie in Ihrer
Antwort deutlich gemacht haben, dass es keine Notwen-
digkeit gibt, gesetzgeberische Maßnahmen anzugehen?
D
In der schriftlich beantworteten
Frage aus der letzten Woche habe ich Ihnen dargelegt,
dass die Bundesregierung der Meinung ist, dass die Frage,
wie man mit der Würde eines sterbenden Menschen um-
geht, durchaus zu regeln ist. Wir respektieren, dass sich
auch die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der mo-
dernen Medizin“ mit dieser Thematik befasst und warten
auf die Ergebnisse ihrer Beratungen. Wir halten eine Dis-
kussion quer durch unsere Gesellschaft für notwendig.
Der Deutsche Juristentag hat hierzu sicher wertvolle Hin-
weise gegeben, insbesondere was Patiententestamente
und Ähnliches angeht. Hier wurde sehr kontrovers disku-
tiert. Dies muss mit einbezogen werden. Am Ende müs-
sen wir alle entscheiden, ob wir zu einer Form der Ster-
behilfe raten können oder nicht. Dies ist heute im
Wesentlichen durch das Standesrecht der Ärzte geregelt.
Insofern ist ein langer und sorgfältiger Diskussionspro-
zess notwendig.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Herr Kollege Parr.
Herr Staatssekretär, wir werden
immer älter. Die Fragen, die wir gerade besprechen, wer-
den in den Familien immer mehr zum Gegenstand von
Überlegungen. Wenn Sie sagen, Sie möchten prüfen, er-
örtern und eine breite Beteiligung herbeiführen, so ist das
richtig. Es ist aber nur eine Seite. Auf der anderen Seite
brauchen wir dringend Antworten auf diese Fragen. Des-
wegen möchte ich gerne von Ihnen wissen, ob Sie Vor-
stellungen haben, wie Sie Ihre weiteren Überlegungen in-
haltlich und zeitlich strukturieren wollen.
D
Der erste Teil meiner Antwort bezog
sich auf die eingesetzte Enquete-Kommission, deren Er-
gebnisse für uns ganz wichtig sind. Ich halte es nicht für
gut, auch aus Respekt vor dem Parlament, wenn die Bun-
desregierung mit einem Gesetzentwurf vorprellen würde.
Wir sind aufgerufen, diese Fragen in der Enquete-Kom-
mission des Bundestages zusammen mit allen Interessier-
ten zu erörtern. Am Ende sollten Vorschläge stehen, die
dann den Gesetzgeber betreffen können. Bis dahin sollten
wir die Diskussion abwarten.
Eine
Frage des Kollegen Hirche.
Herr Staatssekretär, ist die
Auffassung der Bundesregierung über die Verbindlichkeit
von Patientenverfügungen rechtlich einwandfrei und ab-
schließend geregelt? Welche Bedeutung messen Sie der
Patientenverfügung zu?
D
Ich denke, dass die Patientenverfü-
gung in dem Kontext, den ich genannt habe, wenn der Be-
treffende oder die Betreffende, der oder die das Testament
errichtet hat, nicht mehr in der Lage ist, diesen Willen zu
formulieren, Anhaltspunkt für den mutmaßlichen Willen
sein kann. Es kann im Einzelfall natürlich sein, dass sich
der Patient eines anderen besinnt. Wenn das der Fall ist,
muss man diesem geänderten Willen Rechnung tragen.
Insofern ist es sicher hilfreich, wenn wir alle vorsorglich
festlegen, wie wir nicht nur in diesem Fall, sondern auch
im Betreuungsfall die Dinge geregelt haben wollen. Es ist
dann der in erster Linie zum Ausdruck kommende mut-
maßliche Wille, von dem wir unterstellen, dass er noch
fortbesteht.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär Pick. Die Fragen 10 und 11 sol-
len schriftlich beantwortet werden. Die Fragen 12 und 13
sind zurückgezogen.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Be-
antwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staats-
sekretärin Ulrike Mascher zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 14 des Abgeordneten Helmut
Heiderich:
Welche Einsparungen für den Bundeshaushalt wird die Bun-desregierung 2001 durch den teilweisen Rückzug des Bundes ausder Finanzierung des Unterhaltsvorschusses sowie der Abschaf-fung der originären Arbeitslosenhilfe gegenüber der früherenRechtslage erzielen und wie wird sich dies als Belastung auf dieLandkreise und kreisfreien Städte im Bundesland Hessen 2001 ge-genüber der früheren Rechtslage auswirken?
U
Herr KollegeHeiderich, zunächst möchte ich zur Finanzierung des Un-terhaltsvorschusses Stellung beziehen. Durch die Ände-rung des § 8 des Unterhaltsvorschussgesetzes zum 1. Ja-nuar 2000 werden die Geldleistungen nunmehr zu einemDrittel vom Bund und im Übrigen von den Ländern ge-tragen. Bisher galt eine hälftige Finanzierung.Würden die Unterhaltsvorschussleistungen auch wei-terhin zu 50 Prozent vom Bund getragen, so entfielenvom Ausgabesoll in Höhe von 1,695 Milliarden DM847,5 Millionen DM auf den Bund. Von den Einnahmenerhielte er 190,5 Millionen DM, sodass sich eine Gesamt-belastung des Bundeshaushalts in Höhe von 657 Milli-onen DM ergäbe. Unter Zugrundelegung des Haushalts-plans 2001 errechnet sich durch die Gesetzesänderungfolglich eine Gesamtentlastung des Bundeshaushalts inHöhe von 219 Millionen DM.Bezogen auf das Land Hessen – danach fragen Sie ja –ergibt sich folgender Sachstand: Im noch nicht bestätigten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 200012724
Haushaltsplan des Landes Hessen für das Haushaltsjahr2001 wird von Gesamtausgaben nach dem Unterhaltsvor-schussgesetz in Höhe von 111Millionen DM ausge-gangen. Die Einnahmen werden mit 16,5 Millionen DMangegeben. Bei einer weiterhin 50-prozentigen Finan-zierung des Unterhaltsvorschusses durch den Bund belie-fen sich die Bundesausgaben auf 55,5 Millionen DM, dieEinnahmen auf 8,25 Millionen DM und die Gesamtbelas-tung somit auf 47,25 Millionen DM. Unter Zugrundele-gung des Haushaltsplanes 2001 ergäbe sich somit für denBund, bezogen auf das Bundesland Hessen, eine Gesamt-entlastung in Höhe von 15,75 Millionen DM. In selbigerHöhe wird das Bundesland Hessen gemäß Haushaltsplan2001 mehr belastet.Nun zum Bereich der originären Arbeitslosenhilfe: Indem Gesetzentwurf zur Sanierung des Bundeshaushaltswurde die Haushaltsentlastung des Bundes durch denWegfall der originären Arbeitslosenhilfe für das Jahr 2001auf 1,3 Milliarden DM geschätzt. Die Belastung der Ge-meinden durch gegebenenfalls zu zahlende Leistungennach dem Bundessozialhilfegesetz an die betroffenen Per-sonen wird in dem Gesetzentwurf auf circa 45 Prozent derEntlastung des Bundes – das sind 585Millionen DM – ge-schätzt. Eine konkrete Aufteilung der Belastung derKommunen auf die einzelnen 16 Bundesländer ist nichtmöglich, da nicht bekannt ist, in welchem Umfang ar-beitslose Arbeitnehmer im Jahr 2001 Leistungen nachdem Bundessozialhilfegesetz beziehen werden, die an-sonsten Anspruch auf originäre Arbeitslosenhilfe gehabthätten.
Eine Zu-
satzfrage, Herr Kollege Heiderich? – Bitte schön.
Schönen Dank, Frau
Staatssekretärin, für die ausführliche Darstellung des
Zahlenmaterials. Ich möchte zum zweiten Teil meiner
Frage, der Arbeitslosenhilfe, nachfragen, ob die Bundes-
regierung Vorausberechnungen oder Hochrechnungen
dazu angestellt hat, in welcher Weise die einzelnen Bun-
desländer betroffen sein könnten und ob solche Berech-
nungen auch dem Bundesrat vorgelegt worden sind.
U
Wir haben keine
Daten über die Verteilung der Bezieher von originärer Ar-
beitslosenhilfe auf einzelne Landkreise oder Bundeslän-
der. Deswegen kann ich Ihnen eine so detaillierte Ant-
wort, wie Sie sie gerne hätten, leider nicht geben. Solche
Zahlen liegen bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht vor.
Eine wei-
tere Zwischenfrage? – Bitte schön.
Frau Staatssekretä-
rin, ich möchte noch ganz allgemein fragen, was eigentlich
die Bundesregierung bewogen hat, die originäre Arbeits-
losenhilfe jetzt in die Verantwortung der Länder und Kom-
munen zu stellen, und inwieweit dabei die Berücksichti-
gung des Konnexitätsprinzips eine Rolle gespielt hat.
U
Die Überlegungen
zur Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe basier-
ten darauf, dass es sich bei den Beziehern der originären
Arbeitslosenhilfe bekanntlich um Personen handelt, die
zuvor entweder überhaupt nicht oder nur kurze Zeit als
Arbeitnehmer tätig waren. Es erschien uns nicht mehr ver-
tretbar, Arbeitslosen, die vorher keinen oder nur einen
kurzzeitigen Bezug zur Arbeitslosenversicherung hatten,
also auch nur kurzzeitig oder überhaupt keine Beiträge
gezahlt hatten, Arbeitslosenhilfe und damit den vollen Zu-
gang zu den beitragsfinanzierten Leistungen der aktiven
Arbeitsförderung zu gewähren.
Die Fra-
gen 15 bis 18 sollen schriftlich beantwortet werden. – Vie-
len Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung der
Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Walter
Kolbow zur Verfügung.
Die Fragen 19 bis 22 sollen ebenfalls schriftlich beant-
wortet werden.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Werner
Siemann auf:
Warum liegen dem Bundesministerium der Verteidigung keine
Erkenntnisse über die Anzahl der Frauen vor, die im Rahmen der
Öffnung aller Laufbahnen und Laufbahngruppen für Frauen in der
Bundeswehr eine vorläufige Einplanung erhalten haben, jedoch
aufgrund der unklaren rechtlichen Grundlage von einem Dienst-
bzw. durch eine Abfrage bei den fünf Zentren für Nachwuchsge-
winnung sowie bei der Offiziersprüfzentrale leicht zu ermitteln
sind?
W
Herr Kollege Siemann, bis EndeOktober 2000 haben sich annähernd 1 500 junge Frauenfür einen freiwilligen Dienst in den Laufbahnen der Un-teroffiziere und der Mannschaften beworben. Nacherfolgreicher Eignungsfeststellung hatten bis zu diesemZeitpunkt etwa 200 Frauen – vorbehaltlich der zu schaf-fenden gesetzlichen Regelungen – einen vorläufigenEinplanungsbescheid, der zum Diensteintrittstermin 2. Ja-nuar 2001 führen wird, erhalten.Nach Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zuden einfachgesetzlichen Änderungen am 10. Novem-ber 2000 wurden alle betroffenen Bewerberinnen ver-bindlich zum Dienstantritt 2. Januar 2001 aufgefordert.Abfragen bei den Zentren für Nachwuchsgewinnung undbei der Offizierbewerberprüfzentrale – Sie sprechen diesin Ihrer Frage an – haben bestätigt, dass bis zu diesemZeitpunkt keine der Bewerberinnen aufgrund der unkla-ren rechtlichen Situation von ihrem DiensteintrittswunschAbstand genommen hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Parl. Staatssekretärin Ulrike Mascher12725
Eine Zu-
satzfrage? – Nein.
Wir kommen zur Frage 24 des Abgeordneten Siemann:
Plant die Bundesregierung im Rahmen der Vorbereitungen für
ein neues Personalanpassungsgesetz zur Einsparung von Perso-
nalkosten sowie zur Lösung des Beförderungs- und Verwen-
dungsstaus, Soldaten auch gegen ihren Willen in den vorzeitigen
Ruhestand zu versetzen, und wie wird mit solchen Soldaten ver-
fahren, die ihren Dienst auf Antrag entgegen dem Willen des
Dienstherren vorzeitig beenden möchten?
W
Herr Kollege Siemann, Maßnah-
men gegen den Willen der Betroffenen sind nicht geplant.
Anträge von Soldaten, die ihren Dienst vorzeitig beenden
möchten, an deren vorzeitiger Zur-Ruhe-Setzung aber
kein dienstliches Interesse besteht, werden von der für
Personalfragen zuständigen Stelle abzulehnen sein.
Eine Zu-
satzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär,
ab welchem Zeitpunkt sollen die personalreduzierenden
Maßnahmen erstmals greifen? Bis zu welchem Zeitpunkt
sollen diese Maßnahmen anhalten?
W
Der Bundesminister der Ver-
teidigung hat jüngst in seiner Rede auf der Kommandeurs-
tagung darauf hingewiesen, dass es ein Personalan-
passungsgesetz geben wird, aber nicht nach den alten
Regeln goldener Handschläge. Wir werden diese Dinge im
Zusammenhang mit der Aufhebung des Staus bei Beför-
derungen und Verwendungen in den Jahren 2001 und 2002
zeitgerecht vorbereiten.
Ich möchte Folgendes ergänzen – möglicherweise er-
übrigt das eine Zusatzfrage –: Wir sind im Ministerium
dabei, entsprechende Zahlen für ein angemessenes Ver-
hältnis zwischen dem Abbau von Überhängen und dem
Aufbau neuer Besoldungs- und Laufbahnstrukturen zu
entwickeln. Die Ergebnisse werden wir in den entspre-
chenden Ausschüssen, gerade im Verteidigungsaus-
schuss, vortragen. Wir bleiben in dieser Sache am Ball.
Eine wei-
tere Zusatzfrage des Kollegen Siemann.
Herr Staatssekretär,
wollen Sie mit dieser Antwort sagen, dass durch das Per-
sonalanpassungsgesetz der Personalüberhang Ende 2002
beseitigt sein wird?
W
Das streben wir an. Sie wissen,
dass darüber nicht nur mit dem Bundesminister der Fi-
nanzen, sondern natürlich auch mit dem Parlament zu
beraten ist; schließlich kostet dieses Vorhaben Geld. Die
Ergebnisse der Beratungen werden in die entsprechenden
Abläufe einzubringen sein.
Eine wei-
tere Frage des Kollegen Nolting.
Herr Staats-
sekretär, in welchem Umfang soll pro Jahr Personal abge-
baut werden?
W
Dies wird im Moment erarbeitet,
Herr Kollege. Die Gesamtzahl von etwa 8 500 steht dabei
im Zusammenhang mit den zeitlichen Abläufen.
Wir kom-
men zur Frage 25 des Kollegen Nolting:
Verletzte die von der Wehrbereichsverwaltung III zum 31. De-
zember 2000 verfügte Entlassung des im Kosovo schwer verletz-
der Aufhebung dieser Verfügung durch den Bundesminister der
Verteidigung?
W
Herr Kollege Nolting, eine Ent-
lassung des Stabsunteroffiziers Jens Ruths aus der Bun-
deswehr ist durch die Wehrbereichsverwaltung III nicht
verfügt worden. Eine solche Entscheidung liegt außerhalb
der Zuständigkeit der territorialen Wehrverwaltung.
Aufgrund des Minenunfalls am 22. September 1999
und der nachfolgenden Unterschenkelamputation erhält
der Betroffene über die Wehrbereichsverwaltung III Aus-
gleich für die Folgen einer Wehrdienstbeschädigung nach
dem Soldatenversorgungsgesetz. Durch die für Personal
zuständige Stelle bei der Luftlandebrigade 31 wurde im
Juli 2000 die Dienstzeit des Herrn Ruths auf acht Jahre
verlängert, wobei jedoch bedauerlicherweise – wir haben
an anderer Stelle auch darüber gesprochen – versäumt
wurde, der Wehrbereichsverwaltung III rechtzeitig eine
Änderungsmeldung zuzuleiten. Infolgedessen ging die
Wehrbereichsverwaltung III gemäß den ihr vorliegenden
Unterlagen noch von einem Ende der Dienstzeit am
31. Dezember 2000 aus und sandte Herrn Ruths im Sep-
tember aus Fürsorgegründen ein Informationsschreiben
zu, mit dem er über die erforderlichen Maßnahmen zur Si-
cherstellung der Versorgung nach dem Wehrdienstende in
Kenntnis gesetzt wurde.
Zusatz-
frage?
Herr Staatsse-
kretär, ich möchte schon wissen, welche rechtliche
Grundlage es für die Aufhebung der Verfügung durch den
Bundesminister der Verteidigung gibt.
W
Es wäre sinnvoll, gleich Ihre
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 200012726
zweite Frage – wenn Sie erlauben –, in der Sie auf eineÄußerung des Herrn Bundesministers der Verteidigungabstellen, in die Beantwortung der Zusatzfrage mit einzu-beziehen.
Möglicherweise ergibt das die von Ihnen gewünschte not-wendige Klarheit.
Dann rufe
ich auch die Frage 26 des Abgeordneten Günther Nolting
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage des Bundesmi-
nisters der Verteidigung, Rudolf Scharping, er habe „schon 1999
unter sehr weiter Auslegung der gesetzlichen Möglichkeiten dem
Zeitsoldaten J. R. die Zusage gemacht, bei der Bundeswehr blei-
gesetzlichen Möglichkeiten in Zukunft durch die Herbeiführung
einer grundlegenden Änderung der betreffenden Gesetze im Sinne
der verwundeten Soldaten überflüssig zu machen?
W
Der Bundesminister der Verteidi-
gung möchte in diesem Zusammenhang seine Aussage als
einen Akt selbstverständlicher Fürsorge des Dienstherren
für einen im Einsatz verwundeten Soldaten verstanden
wissen. Es besteht keine konkrete Absicht, die bestehen-
den Gesetze und Vorschriften zu ändern. Es wird jedoch
geprüft, ob die derzeitigen rechtlichen Grundlagen allen
denkbaren Fallkonstellationen gerecht werden. Das heißt,
dass ein normales Ende der Dienstzeit bevorstand, aber
durch den Unfall Ereignisse eintraten, die aus Fürsorge-
gründen eine Verlängerung der Dienstzeit erforderlich
machten. Die eigentliche Rechtsgrundlage „Ende der
Dienstzeit“ wurde also durch die Aktion des Herrn Bun-
desministers der Verteidigung überholt.
Zusatz-
frage, Kollege Nolting.
Herr Staatsse-
kretär, ich möchte trotzdem noch einmal einen Schritt
zurückgehen: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass
wir gerade im Bereich des Soldatengesetzes Vorsorge
treffen und eine rechtliche Grundlage schaffen müssen,
nach der verfahren wird und auf die auch der Minister
zurückgreifen kann und muss?
W
Herr Abgeordneter Nolting,
ich bin ausdrücklich Ihrer Auffassung. Deswegen hat
auch der Bundesminister der Verteidigung eine interne
Arbeitsgruppe im Bundesministerium der Verteidigung
eingesetzt, die alle Gegebenheiten in die Untersuchungen
einbeziehen soll, insbesondere auch die Frage, wie dieje-
nigen Soldaten, die bei Einsätzen körperliche Schäden er-
leiden, statusrechtlich behandelt werden können.
Wir sind selbstverständlich nach Abschluss dieser Un-
tersuchungen nicht nur bereit, sondern sogar verpflichtet,
Ihnen darüber Auskunft zu geben. Sie können damit rech-
nen, dass wir das Ergebnis dieser Querschnittsunter-
suchungen aller Vorschriften, die bestehen, unverzüglich
vortragen.
Eine wei-
tere Zusatzfrage, Herr Kollege Nolting.
Herr Staats-
sekretär, wird durch diese Arbeitsgruppe auch geklärt, ob
es in Zukunft einen Ansprechpartner oder eine Ansprech-
partnerin im Ministerium geben sollte, an den bzw. an die
sich der Betroffene direkt wenden kann, sodass es nicht
zu solchen Überschneidungen und Missverständnissen
kommt, wie wir sie jetzt erlebt haben?
W
Ich denke, dass auch das in die
Prüfung einbezogen wird. Im Übrigen stehen gerade bei
den Fällen, in denen Soldatinnen oder Soldaten im Aus-
land ein solches Schicksal erleiden, alle Mitglieder der
politischen Leitung, aber auch der militärischen Führung
jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär Kolbow.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zur Be-
antwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 27 des Abgeordneten Helmut
Heiderich auf:
Welche Einsparungen hatte die Bundesregierung aus dem vonihr geplanten Rückzug aus der Finanzierung des pauschaliertenWohngelds im Rahmen des Haushaltssanierungsgesetzes errech-net und wie hätte sich dies 2001 auf die Landkreise und kreisfreienStädte Hessens ausgewirkt, wäre diese Absicht der Bundesregie-rung nicht durch den Bundesrat verhindert worden?
A
Sehr ge-
ehrter Herr Kollege Heiderich, bei Übernahme der vollen
Finanzierung des pauschalierten Wohngeldes durch die
Länder im Rahmen des Haushaltssanierungsgesetzes
wurden für das Jahr 2001 Einsparungen des Bundes in
Höhe von rund 2,37Milliarden DM errechnet. Davon ent-
fallen auf das Land Hessen schätzungsweise 226 Milli-
onen DM.
Im Rahmen des Sparpaketes zum Bundeshaushalt für
das Jahr 2000 und für die mittelfristige Finanzplanung
waren umfangreiche gesetzliche Änderungen vorgesehen,
die per saldo eine erhebliche Entlastung von Ländern und
Gemeinden bewirken sollten.
Eine Zu-
satzfrage. Kollege Heiderich.
Herr Staatssekretär,darf ich nachfragen, was die Bundesregierung in diesem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Parl. StaatssekretärWalter Kolbow12727
speziellen Fall bewogen hat, das pauschalierte Wohngeldauf die Kommunen, also auf die Gemeinden, Städte undLandkreise, abzuwälzen, obwohl doch sonst immer sehrbetont wird, dass die finanzielle Lage der Kommunen sehrangespannt sei?A
Wir ha-
ben damals im Gesetzgebungsverfahren, Herr Kollege
Heiderich, sehr intensiv mit vielen Beteiligten gespro-
chen, und uns ist immer wieder bestätigt worden, dass es
ordnungspolitisch Sinn macht, die Erstattung von Kosten
dorthin zu verlagern, wo sie entstehen. In diesem Zu-
sammenhang erinnere ich an ähnliche Überlegungen der
alten Bundesregierung. Das heißt, wenn innerhalb der So-
zialhilfe solche Aufwendungen geleistet werden, ist es
ordnungspolitisch durchaus sinnvoll, darüber nachzu-
denken, das vor Ort finanziell zu regeln. Da wir in dem
Maßnahmenpaket auf der anderen Seite gleichzeitig für
Entlastungen der Städte und Gemeinden gesorgt hätten,
wäre das unter dem Strich sicherlich eine durchaus denk-
bare Alternative gewesen.
Weitere
Zusatzfrage, Herr Heiderich, bitte.
Welche konkreten
Entlastungen hatten Sie nach den von Ihnen eben ge-
nannten Gesichtspunkten für die Länder und Gemeinden
eingeplant?
A
Es waren
eine ganze Reihe, vom Schließen von Steuerschlupflöchern
angefangen bis hin zu anderen Kompensationslösungen.
Wir haben das seinerzeit mehrfach aufgeschrieben. Ich bin
gerne bereit, Ihnen diesen Katalog zuzusenden.
Wir machen auf diesem Weg auch weiter, jetzt gerade
bei der Entlastung der stark gestiegenen Heizkosten. Wir
zahlen Heizkostenpauschalen an etwa 4,8 Millionen
Haushalte. Ganz viele der betroffenen Haushalte beziehen
Sozialhilfe. Auch dieser aktuelle Schritt, der – so hoffe
ich – morgen im Bundestag beschlossen wird, wird zu ei-
ner Entlastung der Kommunen in mindestens zweistelli-
ger Millionenhöhe führen.
Da alle
übrigen Fragen schriftlich beantwortet werden sollen,
sind wir vorzeitig am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche deshalb die Sitzung bis 15.30 Uhr. Um
15.30 Uhr wird die Aktuelle Stunde aufgerufen werden.
Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wie-
der eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur Rücknahme
von deutschem Atommüll aus derWiederaufar-
beitungsanlage La Hague nach dem deutsch-
französchen Gipfel in Vittel
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Wort
der Kollegin Birgit Homburger für die F.D.P. als antrag-
stellende Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir haben diese AktuelleStunde aus Anlass des deutsch-französischen Gipfels amletzten Freitag beantragt. Dort wurde über die Zurück-nahme des deutschen Atommülls gesprochen, der zurWiederaufarbeitung nach Frankreich gebracht wurde.Die Transporte von deutschem Atommüll zur Wieder-aufarbeitung nach Frankreich sind gestoppt. Bevor derdeutsche Atommüll aus der WiederaufarbeitungsanlageLa Hague nicht nach Deutschland zurückgeführt wird,nimmt Frankreich keinen deutschen Atommüll mehr zurWiederaufarbeitung an. Unsere französischen Nachbarnwarten bereits seit drei Jahren darauf, dass der in der Wie-deraufarbeitungsanlage gelagerte deutsche Atommüllzurücktransportiert wird.Man könnte auf den Gedanken kommen, die alte Bun-desregierung trage Schuld an dieser Situation. Ich willaber gleich vorweg sagen, dass dies nicht der Fall ist. Da-mals wurden die Transporte aus gutem Grund gestoppt. Eswurden nämlich überhöhte Strahlungswerte bei denTransportbehältern festgestellt. Allerdings könnten spä-testens seit September dieses Jahres, als das Bundesamtfür Strahlenschutz die Genehmigung für Transporte erteilthat, Transporte wieder durchgeführt werden.
Trotz bestehender Verträge zwischen Cogema und denKernkraftwerksbetreibern, abgedeckt durch einen Noten-wechsel zwischen den Ländern, ist nichts passiert.Deutschland betreibt weiterhin faktisch Zwischenlage-rung von Atommüll im Ausland.
Mich wundert, dass der Bundesumweltminister in die-ser Debatte sprechen wird, obwohl die Verhandlungenzwischen den Ländern mittlerweile zur Chefsache erklärtworden sind.
Es wäre daher besser gewesen, wenn ein Vertreter desKanzleramts heute Rede und Antwort gestanden hätte.Herr Steinmeier ist schließlich derjenige, der mit diesenVerhandlungen beauftragt ist. Das zeigt allerdings, dassSie, Herr Minister Trittin, infolge des Streits um Atom-ausstieg und Castortransporte international nicht mehr alsvertrauenswürdig angesehen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Helmut Heiderich12728
Bemerkenswert ist weiter, dass laut Presseberichtender französische Premierminister Jospin bei einem per-sönlichen Treffen mit Bundeskanzler Schröder auf einerschriftlichen Garantie zur Rückführung des Atommüllsnach Deutschland in den ersten Monaten des nächstenJahres bestanden hat, obwohl Herr Schröder ihm diesmündlich zugesichert hat. Frankreich will also Atom-mülltransporte nach La Hague nur genehmigen, wenn dieRücknahme durch Deutschland eindeutig geregelt ist undwenn dies schriftlich zugesagt wird. Das heißt, das Worteines deutschen Regierungschefs ist bei unseren französi-schen Partnern nichts wert. Das ist ein verheerender Zu-stand für die Bundesrepublik Deutschland.
Obwohl die Sache eilt, konnte – das musste nun auchder Bundeskanzler zugeben – beim deutsch-französischenGipfel in Vittel am letzten Freitag noch immer keine Ei-nigung über die Rückführung des Atommülls erzielt wer-den. Stattdessen wurde – das finde ich bemerkenswert –eine bilaterale Arbeitsgruppe eingerichtet, frei nach demMotto: Fällt der Regierung nichts mehr ein, setzt sie eineArbeitsgruppe ein.Diese Arbeitsgruppe soll jetzt zu einem Ergebnis kom-men, nach Möglichkeit bis Weihnachten. Ziemlich hartfinde ich allerdings, dass der Bundeskanzler gleich sagt,wenn sie das bis Weihnachten nicht schaffe, wäre es nichtschlimm; wenn sich die Arbeit bis Anfang Januar hinzie-hen würde, wäre das noch akzeptabel. Das muss man vordem Hintergrund sehen, dass die vom BfS für Transporteerteilten Genehmigungen nur für das Jahr 2000 gelten.Das kann, wie ich finde, nicht sein. Die Bundesregie-rung hat Vereinbarungen getroffen, auch mit den Kern-kraftwerksbetreibern in Deutschland. Nach Angaben derKernkraftwerksbetreiber ist die Situation so, dass, wennbis Frühjahr nächsten Jahres keine Transporte nach LaHague gehen, für das Kraftwerk Biblis Betriebsein-schränkungen unausweichlich wären und für Philipps-burg die Gefahr bestünde, dass Reaktoren abgeschaltetwerden müssen.Das heißt, man betreibt hier eine Verzögerungspolitikund übersieht vollkommen, dass sich die Bundesregie-rung im so genannten Atomkonsens verpflichtet hat, einenungestörten Betrieb der Kernkraftwerke zu gewährleis-ten. Diese Verpflichtung muss sie auch einhalten. Es kannnicht sein, dass deutsche Atomkraftwerke durch die Ver-zögerung der Castortransporte von La Hague nachDeutschland faktisch stillgelegt werden.
Deswegen fordert die F.D.P. die Bundesregierung auf,endlich nationale und internationale Verträge einzuhaltenund zu einer berechenbaren Umweltpolitik und vor allenDingen zu internationaler Verlässlichkeit zurückzukeh-ren.Vielen Dank.
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Monika Griefahn.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die deutsch-französischeArbeitsgruppe ist eingerichtet. Ich habe gestern Abendnoch einmal mit dem französischen Botschafter gespro-chen. Der Kanzleramtschef, Herr Steinmeier, wird sichmit dem Industriestaatsminister, Herrn Pierret, treffen,und zwar noch vor Weihnachten.
Es soll eine Lösung gefunden werden. Auch die Geneh-migungen für die Transporte liegen seit dem 10. Novem-ber vor, das heißt, insofern sind die Rücktransporte sicher.Der Punkt ist nur – das ist doch ganz klar –: Zum Teilsorgen die Kernkraftwerksbetreiber selber für Engpässe;
denn sie können natürlich eine Zwischenlagerung amKraftwerksstandort vornehmen. Der Druck, unter dem siestehen, soll besonders auf die jetzige Bundesregierungund die sie tragenden Koalitionsfraktionen wirken, dadiese den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen ha-ben und grundsätzlich auch das Ende der Wiederaufarbei-tung wollen. Denn durch die Wiederaufarbeitung fällt ers-tens zusätzlicher Atommüll an und zweitens tragen dieWiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield und in La Ha-gue nicht gerade dazu bei, dass die radioaktive Verseu-chung der Nordsee, des Atlantiks und der Irischen Seevermindert wird. Im Gegenteil: 80 Prozent der Verseu-chung der Irischen See stammen aus den beiden Wieder-aufarbeitungsanlagen in La Hague und Sellafield.Insofern haben wir ein Interesse daran, dass die fran-zösische Regierung – ich arbeite seit 1973 regelmäßig mitFrankreich zusammen und die einzigen Konflikte, die wirje hatten, betrafen immer Atomfragen – dieses Themaproblematisiert und Sicherheitsmaßnahmen verstärkt an-geht, was sie mit ihrer grünen Umweltministerin seit eini-gen Jahren auch macht.Die Wiederaufarbeitung ist grundsätzlich ein proble-matisches Unterfangen. Die Aufarbeitungsanlagen sindgebaut worden, weil die Länder Frankreich und Großbri-tannien damit auch andere Interessen befriedigt haben.Sie erhalten auf diese Weise zum Beispiel Plutonium, dassie für den Bau der Atombombe nutzen können. Heutebesteht durch die Zusammenarbeit auf internationalerEbene, durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheits-politik, die wir gerade mit Frankreich und Großbritannienhaben, die wir auch aufseiten der Regierungsfraktionenvoranzutreiben versuchen, ein ganz anderes Interesse.Insofern sind die Atomtransporte ein Bereich, der sichnoch aus der Vergangenheit ergibt und in dem wir Lösun-gen finden müssen, den wir aber nur nicht gerne angehen.Natürlich haben wir die Verpflichtung, die 4 000 Tonnendeutschen Atommüll, die sich in Frankreich bislang ange-sammelt haben, zurückzunehmen. Wir haben aber kein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Birgit Homburger12729
Interesse daran, dass das alles in Plutonium umgewandeltwird. Insofern ist es dringend erforderlich, entsprechendeRegelungen zu finden, die ohne Wiederaufarbeitung aus-kommen.Der Bau der für den Transport notwendigen Brücke imBereich Lüchow-Dannenberg wird Anfang nächsten Jah-res abgeschlossen sein. Die Atomtransporte können in ei-nem Fenster von 14 Tagen ab Ende März erfolgen. Einediesbezügliche Genehmigung liegt vor.Aber ganz klar ist zu sagen – hier spreche ich als Nie-dersächsin –: Beim letzten Mal hatten wir in Niedersach-sen keine Unterstützung vonseiten der anderen Länder.Da mussten zusätzlich 100 Millionen DM für den Poli-zeischutz eingesetzt werden. Besonders die Länder, dieein Interesse an der Atomkraft haben, sprich: Baden-Württemberg und Bayern, waren nicht besonders hilf-reich. Sie sagten: Macht ihr das einmal! Lagert ihr beieuch den Atommüll; wir machen weiter mit der Atom-kraft. – Das kann nicht Sinn der Sache sein.
Insofern rufe ich Sie auf, Ihre Positionen nicht los-gelöst zu vertreten, sondern dafür zu sorgen, dass dasKonzept des Ausstiegs aus der Atomenergie schnell um-gesetzt wird und dass es nicht mehr zu unnötigen Trans-porten kommt. Denn jeder Transport ist mit einem Risikoverbunden. Auf der einen Seite müssen wir also unserenVerpflichtungen nachkommen, und auf der anderen Seitemüssen wir dafür sorgen, dass nicht weiterhin Transportevon Atommüll aus deutschen Kraftwerken in Wiederauf-arbeitungsanlagen notwendig werden, dass vor Ort Zwi-schenlager eingerichtet werden und dass der Ausstieg ausder Atomenergie so umgesetzt wird, dass wir sehr schnelldie Möglichkeit haben, unsere Energiepolitik durch alter-native Energien und durch Energieeinsparung vorbildlichzu gestalten.
Ich gebe das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Kurt-
Dieter Grill.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Frau Griefahn, Sie ha-ben zu vielen Dingen gesprochen, nur nicht zu demThema, das Gegenstand dieser Aktuellen Stunde ist. DasStichwort „Atombombe“ und Ähnliches durften natürlichim Zusammenhang mit Plutonium und Wiederaufarbei-tung nicht fehlen. Nur, das ist nicht Gegenstand der heu-tigen Erörterung.
Ich will am Anfang meiner Rede erstens darauf hinwei-sen, dass wir hier über Konsequenzen aus den Verträgensprechen, die noch zu Zeiten der Regierung Schmidt, zuZeiten der sozial-liberalen Koalition, Ende der 70er-/An-fang der 80er-Jahre abgeschlossen worden sind und dasses beileibe nicht um ein Problem geht, das ein Erbe derletzten Regierung ist.
Zweitens. Der Termin, den die Bundesregierung vor-geschlagen hat, nämlich 14 Tage ab Ende März, ist sehrfatal, weil der niedersächsische Innenminister Ihnen mit-teilen wird, dass er zu Zeiten der CeBIT keinen Transportwird organisieren können. So seriös sind Ihre Angebote!Drittens. Sie sprechen von Transportkosten in Höhevon 100Millionen DM. Wenn Sie den Polizeibeamten dieGehälter zahlen, die in die Berechnung dieser 100 Milli-onen DM eingeflossen sind, werden die Polizisten „Krö-susse“. Werden sie aber nicht: Dass in diesen Berechnun-gen ein Gehalt von 120 DM pro Stunde angesetzt wird, istschlicht und einfach eine Täuschung der Öffentlichkeit imHinblick auf die Kosten der Transporte.
Beim ersten Transport haben wir über Kosten in Höhe von40 Millionen DM gesprochen. Im niedersächsischenHaushalt waren ganze 7 Millionen DM eingestellt. WennSie dies auf 100 Millionen DM hochrechnen, dann kom-men wir vielleicht auf 14 oder 15 Millionen DM, und nurdann, wenn die Hamburger Polizei einen Wasserwerferkaputtfährt, muss der Schaden durch den nieder-sächsischen Haushalt ersetzt werden. – Kein Polizist be-kommt also das Gehalt, das in diese Berechnungen einge-flossen ist.Aber das ist gar nicht der Gegenstand dieses Themas.
– Ich habe nur das abgearbeitet, was Frau Griefahn meinte,in diesem Zusammenhang sagen zu müssen. Wir führen jaeine Debatte und spulen nicht vorgefertigte Texte ab.
In Wahrheit geht es doch darum, dass Sie sich selber ineine Entsorgungsfalle manövriert haben. Sie haben dochunterschrieben, dass bis 2005 wiederaufgearbeitet werdenkann. Was nützen also die Grundsatzerklärungen, die Siehier geben? Sie haben nicht erst letzte Woche, sondern be-reits im November 1998 der französischen Regierung imRahmen der ersten deutsch-französischen Konsultationennach dem Regierungswechsel, die in Potsdam stattgefun-den haben, Zusagen gemacht. Mir liegt auch der entspre-chende Schriftwechsel des Außenministers vor.Es ist doch nicht so, dass Sie erst jetzt anfangen, mit derfranzösischen Regierung zu diskutieren. Dies geschiehtdoch seit zwei Jahren. Sie haben immer den Eindruck er-weckt, als gingen die Transporte demnächst los. Sie habenGenehmigungen, Atommülltransporte nach Frankreichdurchzuführen, ausgestellt, wohl wissend, dass die fran-zösische Regierung das nicht akzeptieren wird, wennnicht der in Frankreich aufgearbeitete deutsche Abfall ausFrankreich abtransportiert wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Monika Griefahn12730
Dann kommen Sie bis hin zu Herrn Sailer mit geradezuabenteuerlichen Lösungen. Frau Griefahn, Sie waren esdoch, die Gorleben als Leichtbauhalle hingestellt hat. IhreKoalition sagt jetzt: Man kann Castorbehälter auf diegrüne Wiese ohne Halle stellen. Ist das Ihre Sicherheit?Schämen Sie sich!
Das ist die Zwischenlösung, die Sie vorlegen. Das ist IhreSicherheit.Sie haben den Ausbau der Infrastruktur verschlafen.Die Brücke in Dannenberg wird doch nicht repariert, weilSie das Geld in die Hand nehmen, sondern Sie lassen essich bezahlen. Sie haben lange zugewartet, dabei hättenSie es regeln können.Das, was hier stattfindet – ich habe in diesem Jahr Ge-spräche in Paris geführt –, ist Folgendes: Die Präsidentinvon Cogema steht unter dem Druck eines Untersuchungs-richters, weil – gegen französisches Recht – die Bundes-regierung dafür sorgt, dass deutscher Abfall in Frankreichzwischengelagert wird. Das heißt, Sie verlangen von derCogema einen Rechtsbruch. Damit haben Sie ja Erfah-rung. Herr Schröder, Herr Trittin, Frau Griefahn und HerrFischer haben im Zusammenhang mit der Kernenergiegroße Erfahrungen mit Rechtsbrüchen. Sie erwarten, dassdie französische Regierung einen Rechtsbruch begeht,weil Sie unfähig sind, Ihren Aufgaben bei der nuklearenSicherheit nachzukommen.
– Frau Griefahn, das können wir hier gern austragen. Ichkann es Ihnen nachweisen: Sie haben genügend Gerichts-prozesse wegen Rechtsbruches verloren.
– Sie haben einen Vertrag mit der GNS zur Vermeidungeiner Amtspflichtverletzung geschlossen. Das können wirgern ausdiskutieren.Das eigentliche Problem besteht darin, dass Sie be-hauptet haben, das Entsorgungskonzept sei nicht trag-fähig. Sie haben aber in zwei Jahren keinen Weg aufge-zeigt, der Ihre Alternative in der Entsorgung darstellenwürde. Sie haben sich selber in diese Falle getrieben, Siehaben konzeptionell versagt. Sie versagen bei der Entsor-gung und bei der nuklearen Sicherheit und gefährden dasinternationale Vertrauen in die Bundesrepublik Deutsch-land. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich gebenunmehr dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin, das Wort.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Als ich den geehrten Kollegen Grill re-den hörte, fiel mir F. K. Waechter ein: Die größten Kriti-ker der Elche waren früher selber welche.
Wer hat es jahrelang zugelassen, dass deutscher Atom-müll ins Ausland verschoben wurde?
Die bloße Ablieferung bei den Wiederaufarbeitungsanla-gen in La Hague und Sellafield galt bei Ihnen als Entsor-gungsnachweis.
– Dass Sie unruhig werden, verstehe ich. – Das galt alsVerwertungsnachweis, obwohl die Wiederaufarbeitungüberhaupt keine Entsorgung ist. Die Wiederaufarbeitungführt nämlich zu zusätzlichem Abfall an Plutonium. DerAbfall wird mehr und er wird giftiger, dennoch hat IhreKoalition 4 500 Tonnen hoch radioaktiven Müll nach LaHague und Sellafield verschoben.
– Sie in Ihrer Amtszeit, reden Sie sich da nicht raus.
Heute warten 2 500 Tonnen des von Ihnen verschobe-nen Atommülls in Frankreich auf den Rücktransport. DieVerantwortung für diese Atommüllverschiebungen, ver-ehrter Herr Hirche, tragen die Energiewirtschaft, tragenCDU/CSU und F.D.P.
Die Verantwortlichen heißen Merkel und Kohl, Kinkelund Töpfer. Das sind die Verantwortlichen für die Atom-müllverschiebereien.
Sie erzählen hier etwas von Rechtsbruch. Das, was Siegemacht haben, war der größte Rechtsbruch überhaupt.Es war nämlich der Bruch des geltenden deutschenAtomsrechts, weil Sie auf einen Verwertungsnachweisverzichtet haben, Punkt. Wir haben uns jetzt mit Ihren Alt-lasten herumzuschlagen.
Deswegen sage ich Ihnen: Die französische Regierungdrängt zu Recht auf einen schnellen Rücktransport. Siewill so lange keinen Müll von uns mehr hereinlassen, biswir den Rücktransport – hier haben Sie uns ein Problem
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Kurt-Dieter Grill12731
hinterlassen – sichergestellt haben. Dazu und natürlichzur Klärung der Fragen, die dann noch hinsichtlich desHintransports gelöst werden müssen, gibt es die erwähnteArbeitsgruppe.Aber ich will Ihnen in aller Ruhe und Sachlichkeit auchsagen: Die französische Regierung wahrt das legitime In-teresse ihrer Bevölkerung. Sie haben zu Recht darauf ver-wiesen, dass das, was Sie praktiziert haben – Herr Grillhat das auch noch zugegeben; so schlau war er dann janicht, darauf zu verzichten –, nach französischem Rechtnicht legal ist.
Deswegen erklären wir hier mit allem Nachdruck: Diesechs Castorbehälter, die übrigens schon unter FrauMerkel zum Abtransport bereitgestellt wurden, müssenzurückgeführt werden. Wir haben Verständnis dafür, dassdie französische Regierung hierauf drängt. Wir betonenan dieser Stelle mit allem Nachdruck: Wir haben nicht nurdie völkerrechtliche Pflicht, diesen Rücktransport so baldwie möglich zu organisieren, wir haben auch die politi-sche und die moralische Pflicht, die von Ihnen betriebeneVerschiebung von Atommüll ins Ausland zu beenden. Dasist so.
Dafür haben wir die Voraussetzungen geschaffen. Wirhaben am 10. November die Genehmigung für die Rück-transporte zu den Zeitpunkten, die der BundeskanzlerHerrn Jospin brieflich zugesagt hat, also für die 13. und14. Kalenderwoche 2001, erteilt. Das bezieht sich aufexakt diese sechs Behälter mit verglastem Atommüll.Wir haben allerdings, liebe Frau Kollegin, den erstenAntrag der NCS, den Transport über Arendsee durchzu-führen, ablehnen müssen. Wir haben ihn ablehnen müs-sen, weil die Vorstellung bestand, nach dem Transport derBehälter auf der Schiene bis Arendsee diese weiter überStraßen anzuliefern. Dazu haben uns dann die Innen-behörden von Niedersachsen und Sachsen-Anhalt gesagt:Das können wir nicht sicherstellen. – Wenn dieses poli-zeilich nicht sicherzustellen ist, dann können wir diesenTransport nicht genehmigen.Sie sollten sich hier nicht hinstellen und so tun, alswenn die Bundesregierung da nun auf eine besonders per-fide Machenschaft gekommen wäre, wenn sie den Rat-schlägen und den klaren Hinweisen der Polizeibehörden,die das umzusetzen haben, Folge leistet. Glauben Siedenn, sie tun das aus Daffke? Oder glauben Sie nicht wieich, dass die Verantwortlichen bei den Innenministerien inNiedersachsen und Sachsen-Anhalt dieses aus Sorge umdie Sicherheit auf den Straßen und aus Sorge auch und ge-rade um die Kolleginnen und Kollegen von der Polizei,die diese Einsätze zu bewältigen haben, tun? Glauben Sieernsthaft, dass sie leichtfertig solche Stellungnahmen he-rausgeben?
Meine Damen und Herren, wir haben diese Genehmi-gung erteilt, wir haben den Weg an dieser Stelle frei ge-macht, und wir werden das umsetzen. Daran kann nie-mand zweifeln.Ich füge nur eines hinzu: Solange die französische Re-gierung ihre Haltung beibehält, nützt es auch gar nichts,bei dieser Bundesregierung über die bestehenden Trans-portgenehmigungen Richtung Frankreich hinaus weitereGenehmigungen einzuklagen. Denn was sollen die Be-treiber mit diesen Genehmigungen anfangen, wenn sie sienicht nutzen können?Deswegen werden wir auch sicherzustellen haben, lie-ber Herr Hirche, dass es zu keinen Stillständen an denKraftwerken kommt, wenn die französische Regierungbei ihrer Haltung bleibt. Aber auch das sage ich in allerDeutlichkeit: Die Sicherheit und die Fortdauer des Be-triebes hängen nicht allein von den Transporten nach LaHague ab,
sondern sie hängen auch davon ab, dass beispielsweise inPhilippsburg das gelingt, was in Neckarwestheim undBiblis ohne Probleme möglich war, nämlich einen Deckelauf den Castor zu tun, um eine Transportbereitstellung zuerreichen.Meine Damen und Herren, Atomtransporte sind immerein Risiko. Die Bundesregierung hat durch den Konsensmit der Energiewirtschaft die Voraussetzungen dafür ge-schaffen, diese Transporte auf ein Drittel zu minimieren.Aber wir stehen auch zu unserer Verantwortung: Die Alt-lasten, die Sie, die Vorgängerregierung, uns in Tausendenvon Tonnen hochgiftigen Atommülls hinterlassen haben,werden wir zurückholen müssen. Wir müssen die Lage-rung von deutschem giftigem Atommüll im Ausland be-enden. Wir werden deshalb die radioaktiven Glaskokillenbei uns, im Verursacherland, geordnet zwischenlagern,bis sie mit dem anderen Atommüll in einem Endlager hierendgelagert werden können.Das heißt verantwortungsvolle Energiepolitik, und dasheißt, verantwortlich mit den Problemen umzugehen, dieSie uns leider hinterlassen haben.
Kollegin
Eva Bulling-Schröter spricht nunmehr für die Fraktion
der P.D.S.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir das Thema derAktuellen Stunde und die Beiträge dazu vor Augen führe,dann kann ich nur sagen: Die AKW-Lobby hat es wiedereinmal geschafft, im Parlament ihren Einfluss geltend zumachen. So wird es wohl tatsächlich sein. Sie mahnen denstörungsfreien Betrieb an, der in den Konsensgesprächensanktioniert wurde. Ich denke, ich kann Sie beruhigen:Auch diese Bundesregierung wird für die nächste Zeit denstörungsfreien Betrieb garantieren; denn der Atomaus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Bundesminister Jürgen Trittin12732
stieg ist nicht unmittelbar beschlossen worden. Es gibteine Ausstiegsfrist von 10 oder 20 Jahren.
So lange werden die AKWs weiterlaufen. Mit den entspre-chenden Problemen wird diese Regierung leben müssen.Frau Homburger hat zu Recht angesprochen, dass FrauMerkel vor einigen Jahren die Castortransporte – es wa-ren zwei – aus guten Gründen gestoppt hat. Damals wurdeder Zehn-Punkte-Katalog beschlossen. Meine Frage dazuist: Ist er wirklich schon umgesetzt?
Ich möchte aus einem Greenpeace-Brief vom 26. Ok-tober dieses Jahres zitieren. Darin steht:Über zwei Jahre nach dem so genannten Castor-Skandal hat das Bundesamt für Strahlenschutz imSeptember 2000 acht Transporte in die Wiederaufar-beitung genehmigt.In der Presseerklärung zur Genehmigungserteilungvom 22. Oktober 2000 sagte der BfS-Präsident WolframKönig:Durch Auflagen habe ich sichergestellt, dass künftigdie international festgelegten Grenzwerte für radio-aktive Verunreinigungen auch bei den französischenStachelbehältern eingehalten werden.Aber ein von Greenpeace am Montag veröffentlichterBericht des Eisenbahn-Bundesamtes zeigt: Bereits beimersten Probelauf einer Stachelbehälterbeladung im Atom-kraftwerk Philippsburg ist es zu schwerwiegenden Pan-nen und zu einer Kontamination gekommen. Das heißt,die Probleme sind nach wie vor nicht gelöst. Ich meine,sie müssten jetzt endlich gelöst werden. Dazu gehört auchdie Umsetzung des Zehn-Punkte-Programms.Wie denken Sie die Akzeptanz der Bevölkerung fürdiese Transporte zu bekommen? In diesem Fall ist es egal,ob sie von Schwarz-Gelb oder Rot-Grün durchgeführtwerden. Es gibt eine ganze Menge Menschen, die wissen,dass diese Castortransporte gefährlich sind, egal, welcheFraktionen die Regierung stellen. Die Menschen werdenerst dann Castortransporte akzeptieren, wenn tatsächlichein Ausstieg erfolgt. Er erfolgt aber nicht, sondern durchdie Konsensgespräche – das habe ich schon vorher ge-sagt – wird es noch sehr lange Laufzeiten geben, insge-samt 32 Jahre. Das ist aber meiner Meinung nach viel zulange. Eine vernünftige Antwort kann nur der sofortigeAusstieg aus der Atomenergie sein.Zum Schluss will ich noch vier grundsätzliche Argu-mente gegen die Technologie der Wiederaufbereitung inErinnerung rufen. Ich will in diesem Zusammenhang auchin Erinnerung rufen, dass einmal von Herrn Trittin dasEnde der Wiederaufarbeitung zum 1. Januar 2000 ver-sprochen wurde. Das war wohl nichts! Eine reine Luft-blase! Ich fürchte: Wenn wir von der PDS die Argumentenicht noch einmal nennen, dann wird sie in diesem Hausekeiner mehr erwähnen. Jedes Argument für sich kann einsofortiges entschädigungsfreies Verbot der Wiederaufar-beitung hinreichend begründen.Erstens. Anlagen, wie sie in Frankreich und Großbri-tannien betrieben werden, müssten in Deutschland binnen24 Stunden aufgrund der radioaktiven Emissionen dicht-gemacht werden.Zweitens. Das gewonnene Plutonium birgt auf kurzeund lange Sicht die Gefahr, in Atombomben verarbeitet zuwerden; sei es als Folge eines Diebstahls oder aufgrundpolitischer Fehlentwicklungen.Drittens. Die Menge der Abfälle wird durch Wieder-aufarbeitung nicht geringer, sondern quantitativ größerund qualitativ vielschichtiger. Das kann die Chance, inDeutschland ein geeignetes Endlager zu finden, wesent-lich mindern. Das ist klar.Viertens. Über 90 Prozent der gesamten radioaktivenBelastung des nördlichen Atlantiks stammen aus den ato-maren Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague, Sella-field und Dounreay. Die Nuklide lassen sich auch in derOstsee und in der Barentssee zwischen Sibirien und derArktis nachweisen. 1995 entdeckten Meeresforscher strah-lendes Jod 129 aus Sellafield sogar in KüstengewässernNordkanadas.Was soll man dazu noch viel sagen? Die Gefährlichkeitist vorhanden. Sie müsste in diesem Hause eigentlich be-kannt sein. Nach wie vor wird von vielen Seiten die Wie-deraufarbeitung gefordert. Ich fordere Herrn MinisterTrittin auf, die Glaskokillen abzuholen und endlich dieWiederaufarbeitung zu stoppen, so, wie er es damals ver-sprochen hat.Danke.
Ich gebe
dem Kollegen Arne Fuhrmann für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich in allerSchärfe auch im Namen meiner Fraktion zurückweisen,was Kollege Grill vorhin im Zusammenhang mit Rechts-bruchbeschuldigungen von sich gegeben hat.
Ich finde es unerhört und unglaublich, dass solche Vor-würfe immer wieder von diesem Mann in diesem Parla-ment zu hören sind. Ich wünsche mir, dass irgendwanneinmal Konsequenzen gezogen werden.Aber jetzt zum Thema. Es fällt mir unglaublich schwer,heute hier zu stehen und begründen zu müssen, warumdiese Bundesregierung, die meine Bundesregierung ist,Glaskokillen aus La Hague zurück nach Gorleben, in mei-nen Wahlkreis, bringen wird. Ich bin zutiefst davon über-zeugt, dass jegliche Art von Nukleartourismus inDeutschland und in der ganzen Welt zu den schlimmsten,menschenverachtendsten und damit auch zu den verant-wortungslosesten Dingen gehört, zu denen wir Politikerimmer wieder – gezwungen oder auch weniger gezwun-gen – Ja sagen müssen oder glauben Ja sagen zu müssen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Eva Bulling-Schröter12733
Diese Bundesregierung befindet sich in der misslichenLage – das hat Minister Trittin vorhin ganz exzellent for-muliert –, die Suppe auslöffeln zu müssen, die andere– weder die Grünen noch die Sozialdemokraten – zu ver-antworten haben.
– Hören Sie doch endlich mit Ihrer 78er-Philosophie auf!Wer hat denn 16 Jahre lang regiert, den Schotter irgend-wohin gebracht und den Menschen dabei versprochen, ihnauch wieder hierher zu holen, obwohl es keine Endlager-möglichkeiten gab?
Es ist schlimm genug, dass wir Atommüll aus den be-stehenden AKWs in Deutschland haben.
Gott sei Dank hat sich ja in der Zwischenzeit die Philoso-phie durchgesetzt, dass die AKWs in der Lage sind, Atom-müll zumindest für eine bestimmte Dauer zwischenzula-gern. Aber wir suchen im Moment dringlicher denn vordrei Jahren in dieser Republik eine Endlagermöglichkeit.Politisch spitzt sich im Prinzip immer noch alles aufGorleben zu – egal, wie auch immer es formuliert wird.Ich kann es weder durch die Tatsache ändern, dass ich einGegner dieser Transporte bin, noch durch die Tatsache,dass ich einer Fraktion angehöre, die diese Transporteauch nicht will. Ich befinde mich vielmehr genau wie alleanderen in der misslichen Lage, völkerrechtsverbindlicheVerträge auf dem Tisch liegen zu haben und meinemMinister nicht sagen zu können: Lass die Finger davon.
In der Kürze der Zeit will ich aber über einen anderenTeilbereich reden, und zwar über die Befindlichkeit derMenschen in der Region Lüchow-Dannenberg. Vor knappvier Jahren wurde beim letzten Transport in dieser Regionvon weiß der Kuckuck was gesprochen. Führend warenArgumente des damaligen amtierenden deutschen Bun-desinnenministers, Herrn Kanther. Ich mag das alles garnicht wiederholen; Sie können es alle im Protokoll nach-lesen.Ich habe mehrfach versucht, in den Diskussionen da-rauf hinzuweisen, dass friedlicher Widerstand – –
– Herr Uldall, lassen Sie mich ausreden. Das, was Sie jetztmachen, kenne ich aus den letzten Debatten bestens. IhreÄußerungen waren immer gespickt mit einer verbalen Zu-schusterung von Gewalt. Verbale Unterstellung von Ge-walt zieht automatisch eine Gewaltkette nach sich.
Es war die Fähigkeit Ihres damaligen Innenministers,durch seine verbalen Gewaltaktionen die Gewalt in derRegion auf die Spitze zu treiben, und zwar auf beiden Sei-ten:
bei denen, die in der Absicht demonstriert haben, friedlichzu bleiben, und bei der Polizei. Durch die Äußerung vonverantwortungslosen Politikern wurden diese in eine Es-kalationsposition geschoben, aus der sie kaum wieder he-rauskamen.
Ich hoffe nicht nur, Herr Trittin, sondern ich erwartevon meiner Regierung, dass sie mit den Gefühlen derMenschen sensibler umgeht, dass sie akzeptiert, dassÄngste und Sorgen Bestandteil von menschlichem Mitei-nander und von Verantwortung sind. Es muss uns gelin-gen, an das Verständnis der Politiker zu appellieren: Men-schen, die aus ihren Sorgen heraus demonstrieren gehen,dürfen von uns nicht verdammt werden. Vielmehr müssenwir sie verstehen und ernst nehmen. Es ist ihr Recht, indiesem Lande zu demonstrieren.Das Gewaltmonopol ist Sache des Staates und stehtsonst niemandem zu. Ich verurteile jede Form von Ge-walt, auch Gewalt gegen Sachen. Ich verurteile auch die-jenigen, die versuchen, einen vom Staat angeordnetenTransport – auch einen Castortransport – zu stoppen.Mein Verständnis und meine Fürsorge gilt denen, die ihreÄngste um ihrer Familie und ihres Landes willen äußern.Das müssen sie auch dürfen.Vielen Dank.
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Dr. Peter
Paziorek.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Es ist schon ein Stück aus demTollhaus: Der alte Rechtsgrundsatz „Verträge müssen ein-gehalten werden“ ist nach der Einlassung von Bundesum-weltminister Trittin zu einem Problem dieser rot-grünenBundesregierung geworden.
Dass er ein schlechtes Gefühl dabei hat, weil er weiß,dass solche Rechtsgrundsätze beachtet werden müssen,kann man daran erkennen, wie polemisch er in seinerRede aufgetreten ist.
Er hat mehrfach davon gesprochen, es sei etwas „ver-schoben” worden. Ein Bundesumweltminister, der in sei-nem Ressort verantwortungsbewusst arbeitet, weiß, dassaufgrund von Vertragsvereinbarungen, die bereits 1978unter einer sozialdemokratischen Regierung getroffenwurden, völkerrechtlich sauber ausgehandelt und ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Arne Fuhrmann12734
bindlich und gestützt von der Rechtsprechung des Bun-desverwaltungsgerichts ein Verfahren in Gang gesetztworden ist, das unter keinem Gesichtspunkt verdient, voneinem Bundesumweltminister, der mit Polemik zurück-haltend sein müsste, mit Verdächtigungen hinsichtlich ei-ner Zuweisung von Verschulden in Verbindung gebrachtzu werden. Was Sie gerade gemacht haben, war unverant-wortlich.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-richts und, so glaube ich, auch wenn ich das eben nichtmehr verifizieren konnte, des Bundesverfassungsgerichtssind diese Transporte auch deshalb rechtlich zulässig,weil in Gorleben die Erkundung des Endlagers läuft. Washaben Sie mit Ihren Hilfstruppen gemacht? Sie haben ver-sucht, die Erkundung von Gorleben zu verhindern, weilSie genau wussten, dass es eigentlich ein rechtlich saube-rer Weg ist. Ihnen war klar, durch eine Behinderung vonGorleben die Entsorgungswege verstopfen zu können.Aus diesem Grunde haben Sie versucht, die Erkundungvon Gorleben zu verhindern. Jetzt gehen Sie hin und stel-len eine solche Rechtsprechung auf den Kopf. Ich kanndazu nur sagen: Herr Bundesumweltminister, auch IhrePolemik wird Ihnen nicht helfen. Wir werden der Öffent-lichkeit deutlich sagen, an welchen Stellen Sie unsauberund unredlich argumentiert haben.
Die französische Regierung besteht auf den vertraglichvereinbarten Rücktransporten. Der Rücktransport vonAbfällen aus La Hague ist die Voraussetzung dafür, dassFrankreich wieder Atommüll aus Deutschland aufnimmt.Die rot-grüne Regierungskoalition ist damit in eine selbstkonstruierte Entsorgungsfalle geraten und weiß nun nichtmehr, wie sie aus ihr herauskommen soll. Es zeigt sich,wie wenig durchdacht die bisherige Atomausstiegspolitikder Bundesregierung ist.Der Bundeskanzler sah sich auf der deutsch-französi-schen Regierungskonferenz nicht imstande, einen kon-kreten Transporttermin zu benennen. Er hat sich auf denalten sozialistischen Grundsatz zurückgezogen „Wenn dunicht weiter weißt, richte einen Arbeitskreis ein, dieserwird wahrscheinlich schon helfen“. Man muss sich dieSache einmal auf der Zunge zergehen lassen – deshalb hatBundesumweltminister Trittin das auch so laut gespro-chen –: Dieser Arbeitskreis soll nun prüfen, was durchbestehende Verträge längst geklärt ist, nämlich den Trans-port deutschen Atommülls von Frankreich nach Deutsch-land.
Herr Bundeskanzler, was hat es zu bedeuten, dass Sietrotz einer klaren Rechtslage die Frage einem Arbeitskreisstellen, der diese in einem bestimmten Sinne beantwortensoll. Das ist absolut nicht tolerierbar. Das einzig Gute, wasfür Sie, Herr Bundesumweltminister, spricht, ist, dass dieZuständigkeit auf diese Weise auf das Kanzleramt über-tragen wurde, unter dem Gesichtspunkt, dass der Bundes-umweltminister diese schwierige Problematik nicht wirdbewältigen können. Der Fraktionsvorsitzende der SPD,Herr Struck, hat an anderer Stelle einmal gesagt: Das istein richtiger Fall für Gerhard Schröder. Man muss hier sa-gen: Das ist wirklich ein echter Schröder. Die Rechtslageist klar, dennoch wird geeiert und das halten wir für un-verantwortlich.
Ich will nur in Erinnerung rufen, was die rot-grüneBundesregierung mit den Energieversorgungsunterneh-men verabredet hat. In der Vereinbarung heißt es:Andererseits soll unter Beibehaltung der atomrecht-lichen Anforderungen für die verbleibende Nut-zungsdauer der ungestörte Betrieb der Kernkraft-werke wie auch deren Entsorgung gewährleistetwerden.An anderer Stelle der Vereinbarung heißt es:Die Energieversorgungsunternehmen können abge-brannte Brennelemente bei Vorliegen der gesetzli-chen Voraussetzung bis zur Inbetriebnahme der je-weiligen standortnahen Zwischenlager in regionaleZwischenlager bzw. bis zur Beendigung der Wieder-aufarbeitung ins Ausland transportieren.Sie werfen uns vor, wir hätten etwas verschoben undunter Ihrer Verantwortung – ich glaube, Herr Trittin, Siehaben das sogar unterschrieben – vereinbaren Sie, dass biszur Beendigung der Wiederaufarbeitung Transporte insAusland gehen können. Woher nehmen Sie eigentlich dieFrechheit, bei einem Verfahren, das wir sauber verant-wortet haben, von „Verschieben“ zu sprechen, wenn Sieselbst ein Verfahren unterschreiben, bei dem Transportezur Wiederaufarbeitung aus Deutschland nach Frankreichgehen können und damit das Gleiche machen, was andereRegierungen in Deutschland zuvor getan haben?
Das ist zweierlei Maß, das ist unredlich und zeigt, dassSie nur mit Polemik über die eigene Klippe der Schwie-rigkeiten Ihrer Atomausstiegspolitik hinwegkommenwollten. Das werden wir Ihnen natürlich nicht durchgehenlassen.Ich kann deshalb zusammenfassend für uns sagen: DieBundesregierung hat kein Entsorgungskonzept. Ihre Ent-sorgungspolitik ist Tagesopportunismus, ihre Politik istbeliebig und unredlich. Diese Regierung versagt in einerwichtigen energiepolitischen Frage.Vielen Dank.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin
Michaele Hustedt.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich kanndie französische grüne Umweltministerin gut verstehen,wenn sie sagt, Frankreich sei nicht dazu bestimmt, dieAtommüllkippe Europas zu werden. Es gibt – Herr Grill
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Dr. Peter Paziorek12735
hat ja Recht – seit 1991 ein Gesetz in Frankreich, das be-sagt, dass aus dem Ausland stammender radioaktiver Müllnicht über die für die Wiederaufbereitung notwendigenFristen – in der Regel fünf bis acht Jahre – in Frankreichverbleiben darf. Es ist verständlich, dass die Franzosen sohandeln. Denn es handelt sich hierbei nicht um Coladosenoder um Plastiktüten, sondern um Müll, der Zehntausendevon Jahren strahlen wird. Generation um Generation wirdnoch damit zu tun haben, dass wir unsere Stromversor-gung mit Atomenergie sicherstellen.Deswegen – Herr Trittin hat das sehr gut gesagt – ist esin der Tat eine Sache der Ehre und unsere Verpflichtung,dass Deutschland den Atommüll zurücknimmt.
Jetzt frage ich Sie: Wie kommen wir eigentlich in diesehr unschöne Situation, dass wir diese Verpflichtungnicht einlösen können? Ungefähr 4 500 Tonnen Atommüllsind nach La Hague gegangen. Seit wir regieren, war eskeine einzige Tonne. Die knapp 4 000 Tonnen, die inFrankreich verblieben sind, wurden seit 1976 dorthintransportiert, also in Ihrer Regierungszeit.
– Seit 1976.
– Das war zum Großteil Ihre Regierungszeit.
– Der F.D.P. allemal. – Seit dieser Zeit sammelt sich dasan. Seit Rot-Grün regiert, ist keine einzige Tonne nach LaHague gegangen.Jetzt werfe ich einmal die Frage auf: Warum sind Sie inIhrer Regierungszeit nicht der Verpflichtung nachgekom-men, diesen Atommüll nach Deutschland zurückzutrans-portieren? Könnte es vielleicht sein, dass Sie sich ge-meinsam mit der Atomindustrie nicht getraut haben, denAtommüll durch Deutschland nach Gorleben zu bringen?
– Frau Homburger, Sie können ja gleich noch reden. –Liegt die wahre Ursache für dieses Dilemma, in dem wirstecken, vielleicht darin, dass Sie über Jahrzehnte hinwegEnergiepolitik gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölke-rung betrieben haben? Das ist die wahre Ursache, meineDamen und Herren.
Deswegen kann ich nur sagen: Diese Aktuelle Stunde fälltauf Sie persönlich zurück.
Warum das jetzt in Frankreich hochkommt, hat auch ei-nen Grund. Es gibt nämlich in der Tat eine Klage der Be-troffenen vor Ort, die sich auf dieses Gesetz berufen. Des-wegen wird das zurzeit besonders energisch thematisiert.Aber die Ursache liegt, wie gesagt, darin, dass Sie sichnicht trauen, für Ihre Energiepolitik einzustehen, und dassSie deswegen – Jürgen Trittin hat das gesagt –, sozusagenentgegen dem Atomgesetz,
als Entsorgungsnachweis anerkannt haben, dass in Frank-reich eine illegale Zwischenlagerung stattfindet.
Jetzt komme ich auf den sachlichen Kern der Diskus-sion zurück. Herr Paziorek, Sie irren sich leider. Es gibteine Genehmigung.
Der Arbeitskreis, der auf Betreiben des Bundeskanzlersmit den Franzosen eingerichtet wurde, tagt tatsächlich.Das ist richtig. Es ist auch richtig, dass es eine Genehmi-gung für die ersten Rücktransporte gibt.
Aber der Arbeitskreis hat damit überhaupt nichts zu tun.Sie haben also vollständig am Thema vorbeigeredet.Jetzt komme ich auf den Vorwurf von Herrn Grillzu sprechen, die Rücktransporte würden in die Zeit derCeBIT fallen. Auch das ist falsch. Herr Grill irrt sich. Ersollte sich einmal über die Termine informieren. Die Ge-nehmigung tritt am 26. März in Kraft. Die CeBIT findetvom 22. März bis 28. März statt. Die Genehmigung giltzwei Wochen, das heißt, es gibt zwar eine Überschnei-dung von zwei Tagen, aber der Großteil der Zeit, in der dieGenehmigung gilt, hat überhaupt nichts mit der CeBIT zutun. Das Einzige, was Sie tun, ist, mit falschen Vorwürfenund irreführenden Behauptungen von dem tatsächlichenProblem abzulenken.Ich hoffe, dass in der nächsten Aktuellen Stunde, diewir wahrscheinlich noch in dieser Woche zum ThemaMorsleben beantragen werden, deutlich werden wird, wodie wahren Ursachen für unsere heutigen Probleme lie-gen, nämlich in der Tatsache, dass Sie im Prinzip eineAtompolitik auf dem Rücken zukünftiger Generationenbetrieben haben, dafür nicht einstehen und jetzt ver-suchen, den Atomausstieg in Ihrem Sinne zu thematisie-ren. Ich glaube, Sie werden damit in der Bevölkerungnicht durchkommen.
Für dieF.D.P.-Fraktion spricht nun der Kollege Walter Hirche.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Michaele Hustedt12736
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Man kann es drehen, wie man will:
In den Augen der französischen Regierung ist die deut-sche Bundesregierung dabei, Vertragsbruch zu begehenund internationale Verpflichtungen nicht einzuhalten. Dasist der Kern des Themas, über das wir reden.
Wenn die Bundesregierung jetzt, nach dem Gipfel inVittel, eine Arbeitsgruppe einsetzt und dies als Erfolg derdeutsch-französischen Bemühungen feiert, dann möchteich darauf hinweisen – ich tue das, weil die Öffentlichkeitdas offenbar vergessen hat –: Wir haben im Januar 1999,also vor rund zwei Jahren, im Bundestag in Bonn über diegleiche Frage wie heute diskutiert. Damals hat Herr Trittinnach Aussage des Stenographischen Berichts gesagt:Wir haben einvernehmlich– also Deutschland und Frankreich –die Einsetzung von bilateralen Arbeitsgruppen be-schlossen.Ich stelle fest, dass die vor zwei Jahren angeblich odertatsächlich eingesetzten Arbeitsgruppen bis heute kein Er-gebnis vorgelegt haben. Deshalb wird die Öffentlichkeitgetäuscht, wenn heute gesagt wird: „Wir setzen jetzt eineArbeitsgruppe ein“, und dies als neues Ergebnis der bila-teralen Zusammenarbeit zwischen Deutschland undFrankreich präsentiert wird. Tatsächlich ist zwei Jahrelang nichts passiert.
Warum ist nichts passiert? Es ist nichts passiert, weildie Vertreter der Bundesregierung gar nicht wollen. Sosieht deren Mentalität aus.
Ich kann das anhand der Ausführungen, die Herr Trittin indieser Debatte gemacht hat, belegen. Herr Trittin hat inRichtung der Betreiber gesagt: Es hat doch gar keinenZweck, Anträge zu stellen, wenn die französische Regie-rung bei ihrer bisherigen Haltung bleibt.
Aber die eigentliche Frage ist: Warum bleibt die fran-zösische Regierung bei ihrer Haltung? Sie bleibt bei ihrerHaltung, weil sich die deutsche Regierung weigert, ihreVertragsverpflichtungen zu erfüllen.
Deswegen ist die deutsche Regierung der Verursacher derinternationalen Probleme.Warum hat die deutsche Bundesregierung die von mirbeschriebene Mentalität? Die Schwierigkeiten – das ist janicht erst seit Beginn dieser Legislaturperiode so – habendoch damit zu tun, dass alle Versuche, die Lösung des Ent-sorgungsproblems in diesem Land voranzubringen, übermehr als zehn Jahre hinweg blockiert worden sind, undzwar unter anderem von Herrn Trittin und Frau Griefahn.Demonstranten sind ermuntert worden, notfalls „nur einbisschen gewaltfrei“ zu protestieren.
Herr Trittin weiß ganz genau, wovon ich rede. Wir habenuns schon im Niedersächsischen Landtag damit im Ein-zelnen auseinander gesetzt.Dann hat Herr Trittin vorhin scheinheilig gesagt: Wirstehen zu unserer Verantwortung. Das hat er auch schonvor zwei Jahren erklärt. Solche Worte sind Schall undRauch.Die Vokabeln, die Herr Trittin sonst gebraucht hat – essei nämlich „Atommüll verschoben“ worden –, beweisen,dass er sich in eine Sprache flüchtet, von der die Juristensagen würden, dass sie in ganz anderen Milieus gespro-chen wird.
Herr Trittin, Sie greifen heute nicht zum ersten Mal zu sol-chen Sprachmustern. Ich kenne das bereits aus dem Nie-dersächsischen Landtag. Es ist der Versuch, andere zu pro-vozieren. Meine Damen und Herren, in diesem Hausekönnten sich Regierung und Opposition über Sinn und Un-sinn der Kernenergie, Sinn und Unsinn von Wiederaufar-beitung streiten. Das können wir auch tun. Hier geht esaber um internationale Verträge. Herr Fuhrmann hat indiese Debatte inhaltliche Aspekte eingebracht. Wir könn-ten sicher bestimmte Dinge gemeinsam regeln. Wenn diefranzösische Regierung das aber anders sieht, dann hat dieBundesregierung ihre gesetzliche und völkerrechtlichePflicht zu erfüllen und im Lande dafür Sorge zu tragen– nicht durch Verbalerklärungen des Ministers, sonderndurch konkretes Handeln –, dass die Dinge vorangetriebenwerden. Da verschleppen, verzögern und vertagen Sie.Das muss man sagen.
Im Übrigen brauchen wir uns gar nicht so viel über dieVergangenheit zu unterhalten. Es liegt ganz klar auf derHand. Unter Helmut Schmidt ist eine Vereinbarung mitden Ministerpräsidenten der Länder getroffen worden.Diese hat die Regierung Kohl/Genscher fortgesetzt. Esgab immer einen Konsens mit den Ländern.Demokratie bedeutet – das will ich ganz deutlich sa-gen –, dass man zu anderen Meinungen, zu anderenMehrheiten kommen kann. Trotzdem muss man Verträgeachten. Hier geht es um das Erfüllen der Verträge. Des-wegen ist es für mich die einzige Ermutigung in diesemZusammenhang, dass Herr Steinmeier und das Kanzler-amt dafür zuständig sind, weil deutlich ist, dass der Bun-deskanzler wie die Opposition dem Umweltminister zu-tiefst misstraut, dass er die internationalen Verhandlungennicht boykottiert und damit dem Verhältnis zwischenDeutschland und Frankreich schadet. Meine Damen undHerren, wir können nicht hinnehmen, dass das, was über40 Jahre an deutsch-französischem Vertrauen aufgebaut
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000 12737
worden ist, mit einer solchen unverantwortlichen Politikkaputt gemacht wird.
– Das ist nicht so lächerlich, wie Sie meinen!)
Der Kollege
Hans-Peter Kemper spricht nun für die SPD.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Ich will der Versuchung widerstehen,die Rede des Herrn Grill in allen Punkten abzuarbeiten.Zu einem Punkt muss man aber noch etwas sagen. Ichkenne Herrn Grill seit langem. In Fragen der Atomenergiehaben wir uns in den vergangenen Legislaturperiodenoftmals gestritten. Wir waren unterschiedlicher Meinung.Das, was er sich heute an Unterstellungen und Unwahr-heiten geleistet hat, hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt.Ich gehöre eher zu den Stillen im Lande, zu denen, diesich nicht so leicht aufregen. Das, was er sich hier ge-leistet hat, hat mir den Blutdruck hoch getrieben. Ich bindem Kollegen Arne Fuhrmann, aber auch dem Umwelt-minister dankbar, dass sie diese infamen Unterstellungenin gebührender Form zurückgewiesen haben. So etwaskann hier nicht stehen bleiben, denn es ist falsch und er-logen.
Weil Frau Griefahn und Herr Fuhrmann im Wesentli-chen unsere Standpunkte dargelegt haben, will ich dieganze Situation auch aus der Sicht derjenigen betrachten,die ein Lager vor Ort haben. Bei mir ist es das Lager inAhaus. Die Energieversorgung, vor allen Dingen die Ent-sorgung, hat sich in der Vergangenheit immer stärker zueinem Wirtschaftsfaktor, zu einer Umweltschutzfrage undzu einer Frage der inneren Sicherheit entwickelt. Wennich die Umweltschutzfrage sehe, so sehe ich HerrnPaziorek hier sitzen. Vorhin hat er ganz einträchtig nebenHerrn Grill gesessen und mir fielen ihre grasgrünen Kra-watten auf. Sie sind sehr schön, aber es veranlasst mich zuder Bemerkung: Zwei grasgrüne Krawatten machen nochkeinen Umweltpolitiker.
In Ahaus gibt es ein großes Zwischenlager. Ich weiß,dass Ahaus von dem Transport aus La Hague nicht be-troffen ist. In Ahaus haben wir keine Genehmigung fürhoch radioaktive Stoffe, keine Genehmigung für Glasko-killen. Die Stadt Ahaus hat zusätzlich die vertraglicheVereinbarung mit dem Betreiber getroffen, dass kein An-trag auf Zwischenlagerung hoch radioaktiver Stoffe inAhaus gestellt wird.Aber die Glaskokillen sind eine Folge der Wiederauf-arbeitung. Sie ist eine Dinosauriertechnik, denn sie pro-duziert mehr und giftigeren Restmüll. Das haben wir be-reits zu Oppositionszeiten gesagt und das sagen wir auchzu Regierungszeiten; daran hat sich nichts geändert. Wirhaben verbindliche und langfristige Verträge. Sie haben inder Vergangenheit massenhaft Müll nach Frankreich ge-liefert, der dort nicht bleiben kann. Wir müssen ihnzurückholen, denn die Verträge haben Bestand.
Aber wenn ich Herrn Grill hier eben gehört habe, dannhabe ich den Eindruck, als seien wir diejenigen, die dieseganze Angelegenheit zu verantworten haben. Dazu fälltmir aber einiges von dem ein, was Ihre damalige Um-weltministerin, Frau Merkel, vom Stapel gelassen hat. Ichkann mich gut daran erinnern, wie sie auf dem Westfalen-tag der Jungen Union am 9. Mai 1998 in Ahaus eine flam-mende Rede für die Atomenergie gehalten hat. Sie hat sichdort als Atomlobbyistin feiern lassen und die Junge Uniondazu ermutigt, den „Ahauser Appell“ zu verabschieden, indem die Atomenergie ausdrücklich als verantwortbar hin-gestellt wurde. Nur ganz kurze Zeit später aber musste siewegen erwiesener Kontamination und Unsicherheit dieAtomtransporte aussetzen, ob nun Transporte aus La Ha-gue nach Gorleben oder von Neckarwestheim beispiels-weise nach Ahaus.Diese Transporte werden auch in Zukunft tiefe Be-sorgnis bei allen verantwortungsbewussten Menschenauslösen. Aber sie finden erstmals vor einem anderen Hin-tergrund statt: Der Ausstieg aus der Atomenergie ist be-schlossen, der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung auch.Dabei hat die Erkenntnis Pate gestanden, dass die Atom-energie nicht beherrschbar und die Entsorgung nicht gesi-chert ist. Die Menschen wissen erstmals, dass ein Endeabzusehen ist.Dann haben Sie die Themen innere Sicherheit und Po-lizei angesprochen, die mir sehr am Herzen liegen. Ichhabe sehr oft mit Polizeibeamten gesprochen und bin beivielen Castortransporten dabei gewesen. Diese Trans-porte haben immer schlimme Belastungen für die Polizeibedeutet. Bei den vergangenen Transporten, ob nachAhaus oder nach Gorleben, hatten die Polizeibeamten oft-mals den Eindruck, dass sie für die Versäumnisse der Po-litik den Kopf hinhalten müssten und dass die ungeklärteEntsorgungssituation und die ungeklärte Situation in derAtompolitik insgesamt auf dem Rücken der Polizei aus-getragen würden.Dies ist jetzt erstmals nicht mehr der Fall.
Die Polizei weiß, dass diese Transporte vor dem Hinter-grund des Ausstiegs aus der Atomenergie, der Stilllegungvon Atomkraftwerken stattfinden werden.
Sie weiß die Politik hinter sich und fühlt sich nicht mehrallein gelassen. Die Transporte werden auch in Zukunftkeine Freude auslösen; das ist ganz klar. Aber ich bin si-cher, dass die Transporte jetzt, da die Menschen wissen,dass ein Ende abzusehen ist, erträglicher werden. Sie wer-den zwar nicht akzeptiert, in Zukunft aber verstanden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Walter Hirche12738
werden. Das ist ein großer Fortschritt und die Zukunftwird zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Ich erteile
dem Kollegen Gunnar Uldall für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen! Meine Herren! Herr Trittin, für Sie wird es jetztschwierig. Sie kommen in eine schwierige Lage, in der ichan Ihrer Stelle nicht stecken wollte.
Sie können erklären, was Sie wollen: Ihnen als früheremMitorganisator und Anführer der Demos in Gorleben, diealles andere als friedliche Demonstrationen waren – an-derenfalls hätten sie ja nicht 100 Millionen DM gekos-tet –,
wird es sehr schwer fallen, den Menschen, die sich dortversammeln, zu erklären, warum jetzt Transporte durch-geführt werden sollen. Dies wird Ihre Glaubwürdigkeitnicht erhöhen, Herr Trittin.
Deswegen haben Sie auch alles versucht, um dieseTransporte in irgendeiner Form immer wieder hinauszu-schieben.
Darum haben wir in den letzten Monaten eine völlig gro-teske Situation gehabt. Zuerst hieß es, die Behälter seiennicht sicher.
Als dieses Bedenken ausgeräumt war, war es die EXPO,die zunächst abgewartet werden musste. Als dann dieEXPO vorbei war, musste erst einmal eine Brücke repa-riert werden. Jetzt hören wir zu unserer Überraschung,dass erst einmal eine Arbeitsgruppe tagen muss. Wenn dieArbeitsgruppe getagt hat, dann müssen zunächst einmaldie Wahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz abgewartet werden, weil die Transporte erst einenTag nach den Wahlen in diesen beiden Bundesländern be-ginnen. Also, Herr Minister, Sie werden von der Wirk-lichkeit irgendwann einmal eingeholt werden.
Dann wollen wir einmal sehen, wie Sie sich bei den De-monstrationen verhalten werden.Diese Demonstrationen in Gorleben wären dann dieersten, auf denen Sie, Herr Trittin, auf der anderen Seiteder Barrikaden ständen. Es wären die ersten Demonstra-tionen, auf denen Frau Griefahn, die hier eben gesprochenhat, die Demonstranten nicht einpeitschen, sondern ab-wiegeln wird.
Frau Hustedt wird dort keine Brandrede halten, sondernberuhigend auf die Menschen einreden.Die Sicht der Grünen ist offensichtlich ganz einfach:Wenn die Transporte unter einer CDU/CSU-F.D.P.-Re-gierung durchgeführt werden, dann ist das ganz schlimmund das alles ist gar nicht mehr zu verantworten. Wenndiese Transporte unter einer SPD-Grünen-Regierungdurchgeführt werden, dann ist das alles ganz harmlos undlässt sich ohne Probleme über die Bühne bringen. Daszeigt: Es ging Ihnen gar nicht um eine angebliche Ge-fährdung durch Castortransporte;
vielmehr sollten die massiven unfriedlichen Demonstra-tionen die Bevölkerung verunsichern. Das war schlicht-weg nichts anderes als ein Teil Ihrer Wahlkampfstrategie.Jetzt befinden Sie sich in einer Situation, dass Sie ge-nau das Gegenteil von dem erklären müssen, was Sie bis-her erzählt haben. Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß. Eswird die Gegner der Transporte in keiner Weise überzeu-gen. Wie ich schon sagte, Herr Trittin, Sie kommen des-wegen in eine sehr schwierige Lage. Sie stecken in derFalle.
Es gilt der Ausspruch, Herr Minister: Die Geister, die ichrief, werde ich nun nicht wieder los.Ich möchte Ihnen noch einen anderen Punkt vorhalten.In einer dpa-Meldung habe ich gelesen:Verfahren gegen Besetzer eingestellt. Bundesum-weltminister Jürgen Trittin hat das Bundes-amt für Strahlenschutz angewiesen, die Klage gegen14 Demonstranten zurückzunehmen. ... Sie warenauf 100 000 DM Schadenersatz verklagt worden.Schützt man so, indem man das Bundesamt für Strahlen-schutz anweist, eine Klage zurückzuziehen, mit der Scha-denersatz von den Verursachern gefordert werden soll,seine politischen Freunde?Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, dass hieroffenbar überhaupt kein Vertrauen in die deutschen Ge-richte besteht. Offensichtlich versuchen Sie auf diese Artund Weise, irgendwelche Mitdemonstranten von damalsvon irgendwelchen Schadensersatzleistungen zu entlas-ten, für die dann natürlich irgendjemand anders zu bezah-len hat: der Steuerzahler, der Gebührenzahler oder werauch immer, auf jeden Fall nicht die Verursacher. Herr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Hans-Peter Kemper12739
Minister, was Sie sich in diesem Fall erlaubt haben, istschlichtweg ein Skandal.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Horst Kubatschka.
Werter Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich eigent-lich schon erstaunlich, wie bei diesem kleinen Problemdie Emotionen hochkommen.
Wie wird das Haus eigentlich erst kochen, wenn wir überdie Ausstiegsgesetze beraten? Ich muss sagen: Für michwar das ganz erstaunlich.Einiges muss man richtig stellen: Herr Kollege Uldall,Sie bezeichnen die Kollegin Griefahn als Einpeitscherin.Ich weise das zurück. Sie war verantwortliche Ministerindes Landes Niedersachsen und hat die Probleme undÄngste der Menschen ernst genommen. Sie war ebenkeine Einpeitscherin.
Noch etwas, Herr Kollege: Sie sagen, wir hätten keinEntsorgungskonzept. Für micht steht ein Entsorgungs-konzept erst, wenn das notwendige Endlager vorhandenist. Darauf werden wir alle noch eine gewisse Zeit langwarten. Erst dann haben wir das Konzept entwickelt. Wiewar das bisherige Entsorgungskonzept? Der Entsorgungs-nachweis war: Atommüll ab in die Wiederaufbereitungs-anlage! Dieses Konzept werden wir durchbrechen; statt-dessen werden wir ein neues vorlegen.
Die Grundzüge dafür haben wir skizziert. Wir werden imKonsens mit den EVUs vorgehen.Ich bin der F.D.P. eigentlich dankbar für diese AktuelleStunde. Denn in ihr zeigt sich wieder einmal, wie richtigdie Absicht der rot-grünen Koalition ist, im Konsens ausder Kernenergie auszusteigen.
Dieser Konsens löst natürlich nicht das Problem desAtommülls. Denn was wir verharmlosend Atommüll nen-nen, muss Hunderttausende Jahre sicher eingeschlossenwerden. Die belebte Umwelt muss auch nach 100 000 Jah-ren noch vor dem Atommüll geschützt werden. Der Kon-sens löst zwar nicht das Problem, aber er begrenzt dasProblem. Das ist sehr wichtig, denn weltweit gibt es keineLösung für die Endlagerung. Niemand hat eine Lösung:kein Staat, kein Elektrizitätsversorger. Niemand wirdaußerdem ein Endlager haben wollen.Schon der Transport von abgebrannten Brennelemen-ten war ein Problem. Auch der Transport von radioakti-vem Material aus der Wiederaufbereitungsanlage in Glas-kokillen war ein Problem. Dieses Transportproblemwurde nicht von der neuen Bundesregierung geschaffen.Geschaffen haben es die Stromversorger, die jahrelangverstrahlte Transportbehälter verwendet haben und damitdie Öffentlichkeit getäuscht haben. Das ist die Ursachegewesen: ein unglaublicher Vorgang. Die Bundesregie-rung ist hinters Licht geführt worden – und zwar die alteBundesregierung, die so sehr auf Kernenergie gesetzthatte. Die Bundesregierung wurde also von ihren eigenenFreunden und Verbündeten ausgetrickst.
Daraufhin blieb der damaligen BundesumweltministerinMerkel nichts anderes übrig, als die Transporte zu verbie-ten. Die Entsorgungsfalle hat also nicht die neue Bundes-regierung verschuldet, sondern sie geht auf ein Problemzurück, das Sie nicht lösen konnten.
Sie, Herr Hirche, stellen es theatralisch so dar, als seidie deutsch-französische Freundschaft gefährdet. Dazumuss ich sagen: Der Vertragsbruch geschah eigentlichschon viel früher. Seit 1991 gibt es ein französisches Ge-setz, nach dem das Material nicht zwischengelagert wer-den darf. Trotzdem wurde es immer wieder zwischenge-lagert, denn es wurde nicht laufend abtransportiert. Siehaben die entsprechenden Transportstopps ausgespro-chen, dadurch dieses Problem geschaffen und es unsschließlich überlassen.
Klar war und ist, die Transporte werden wieder rollen.Das hat der Herr Umweltminister jetzt gesagt. Wir könnenes noch so oft sagen: Sie, die Kollegen von derCDU/CSU, werden es nicht glauben. Die Transporte wer-den aber nur genehmigt werden, wenn die Grenzwerteeingehalten werden. Es müssen Bedingungen geschaffenwerden, dass es zu keiner Gefährdung der Bevölkerungkommt, dass die Anwohner an den befahrenen Streckennicht gefährdet sind, dass das Transportpersonal nicht ge-fährdet ist und dass die begleitenden Polizistinnen undPolizisten nicht gefährdet sind. Das sind wir den betroffe-nen Menschen schuldig.
Nachdem diese Bedingungen nach Überzeugung des zu-ständigen Bundesamtes für Strahlenschutz jetzt eingehal-ten sind, sind auch wieder Transportgenehmigungen aus-gesprochen worden.Sie haben anscheinend Pressemitteilungen nicht mit-bekommen: Am 10. November, also am vergangenenFreitag, hat das Bundesamt für Strahlenschutz die Rück-führung von sechs Castorbehältern mit verglastem Atom-müll, so genannten Glaskokillen, aus La Hague geneh-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Gunnar Uldall12740
migt. Bitte nehmen Sie das doch zur Kenntnis! Sie habenvorher also an der Wahrheit vorbei argumentiert.
Der Transport kann frühestens in der letzten Märzwoche2001 stattfinden.Wir von der SPD haben uns mit dem Problem ausführ-lich auseinander gesetzt. Auch der Umweltausschuss hatAnhörungen zu diesem Thema durchgeführt. Es war auchklar: Es besteht ein Rechtsanspruch auf Genehmigung derTransporte, auch wenn Sie es leugnen.Obwohl meine Redezeit abläuft, möchte ich noch et-was sagen: Wir haben hier ein ganz kleines Problem, aberwir hinterlassen unseren Kindern das Megaproblem derEndlagerung. Vor den Vorwürfen, die mir meine Enkel-kinder deswegen machen werden, habe ich Angst. Hiermuss eine Lösung des Problems ansetzen. Wir verschie-ben etwas in die Zukunft und unsere Enkel müssen dasProblem lösen. Wir leben damit auf Kosten unserer Enkel.
Bevor ich
das Wort dem letzten Redner gebe, rüge ich einen Zwi-
schenruf des Kollegen Grill in dieser Debatte als unparla-
mentarisch.
Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Christian
Ruck für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Auch ich bin der F.D.P. fürdiese Aktuelle Stunde dankbar, der nicht das Bedürfnisnach Theatralik, Herr Kubatschka, zugrunde liegt, son-dern in der es um ein hohes Gut geht. Ich meine deutsch-französische Freundschaft.Wahr ist doch wirklich, dass das Gipfeltreffen in Vittelzwischen Bundeskanzler Schröder und Präsident Chiracvorüber ist, ohne dass dieser schwelende Konflikt um dieAtommülltransporte auch nur annähernd gelöst werdenkonnte. Der Rechtsbruch bleibt bestehen, und die Be-schädigungen sind eingetreten, Beschädigungen auch fürdie deutsche Außenpolitik und für unser Ansehen. Ichglaube auch, dass unsere französischen Partner durch dieEntscheidungsunfähigkeit der rot-grünen Regierung mitRecht verärgert sind und politischer Flurschaden entstan-den ist.Das ist nicht das erste Mal. In der EU gelten Sie, HerrTrittin, seit Ihren Nukleareskapaden gegen Frankreich oh-nehin als äußerst unsicherer und unzuverlässiger Kanto-nist. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, warumIhnen das Problem inzwischen entzogen und zur Chefsa-che gemacht wurde.Ich möchte noch einmal auf die Verschiebung zurück-kommen, die auch, glaube ich, wirklich von einemschlechten außenpolitischen Stil zeugt. Es ist ein außen-politisches Armutszeugnis,
wenn Sie das Nichteinhalten internationaler Vereinbarun-gen und international gültiger Verträge mit Frankreich– und es ist ja nicht nur Frankreich beteiligt, sondern auchandere Länder in Europa – als Verschieben bezeichnen.
Man kann es nicht oft genug wiederholen.
Ich glaube, dass die derzeitige Weigerung Frankreichs,aus Deutschland weiterhin Brennelemente anzunehmen,sehr verständlich ist. Man muss sich einmal vorstellen:Der letzte Rücktransport aus La Hague liegt bereits dreiJahre zurück, und das, obwohl Deutschland sich mit derUnterzeichnung der Wiederaufbereitungsverträge zu ei-ner unbehinderten Rücknahme des produzierten Atom-mülls verpflichtet hat.
Deswegen sagt zum Beispiel die zitierte französischeUmweltministerin, Dominique Voynet, dass sie wirklichgenug davon hat, dass Frankreich zum Endlager nicht füreuropäischen, sondern vor allem für deutschen Atommüllwird. Ich halte es schon für ein starkes Stück, wenn hierso getan wird, als seien das alles Peanuts und als sei dasdeutsch-französische Verhältnis auch etwas, was manganz schnell ruinieren könnte.Die eigentliche Ursache des Problems ist jedoch, dassRot-Grün sich daran festgebissen hat, ein eigenes neuesnationales Entsorgungskonzept aufzustellen, und zwarauch hier mit den falschen Schwerpunkten. Wir brauchenkeinen neuen Entsorgungsplan.
– Das bisherige Entsorgungskonzept, Herr Kubatschka– Sie haben es angesprochen –, mit den Zwischenlagernin Ahaus und Gorleben – –
– Schreien Sie nicht so, Ihre fünf Minuten sind vorbei. So-lange Sie schreien, können Sie nicht zuhören. Das tut Ih-nen nicht gut, Herr Kubatschka.Mit den Endlagerprojekten Konrad und Gorleben stehtdas Entsorgungskonzept, und die grundlegenden Pro-bleme sind, auch nach Ansicht renommierter Fachleute,längst gelöst. Es bedürfte also nur einer konsequentenUmsetzung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 132. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. November 2000
Horst Kubatschka12741
Was Sie diesem über lange Jahre bewährten und da-mals auch mit der SPD vereinbarten, von ihr mit gestalte-ten und mit initiierten Konzept bisher entgegensetzen, istunausgereift, in der Sache ungeeignet und nur aus Sichtvon Atomgegnern verstehbar.Das Endlager Konrad wurde kurz vor der Planfeststel-lung nochmals bewusst verzögert, und die weitere Erkun-dung des Salzstockes in Gorleben ist seit 1. Oktober 2000gestoppt. Trotz der bislang nicht infrage gestellten Eig-nung von Gorleben wird in der ganzen Republik wildnach Standorten gesucht. Dass Sie dabei natürlich auchBayern ins Auge fassen, ist ein ganz durchsichtiges poli-tisches Manöver und sonst nichts.Die bestehenden Zwischenlager in Ahaus und Gorle-ben sind aufnahmefähig. Sie sind fast leer. Sie zwingentrotzdem den Kernkraftbetreibern 13 zusätzliche dezen-trale Zwischenlager auf und nehmen dabei auch noch inKauf,
dass vor Fertigstellung der Zwischenlager diese Dingeacht Jahre lang in Garagen herumgammeln,
anstatt einen 24-Stunden-Transport zu vorhandenen de-zentralen Zwischenlagern durchzuführen. – Ja, in Gara-gen vergammeln, das ist genau der Punkt, den man hieransprechen muss.
– Sie haben doch von Physik keine Ahnung, HerrKubatschka.
Auch national beweisen Sie durch die Blockade vonTransporten aus Frankreich ein weiteres Mal Ihre Unzu-verlässigkeit. Sollte Frankreich – im Übrigen: völlig zuRecht – keine weiteren Brennelemente aus Deutschlandmehr annehmen, Herr Schmidt, dann droht spätestens imFrühjahr die Abschaltung von mindestens drei Atom-kraftwerken in Deutschland, und zwar aufgrund diesesvon der Bundesregierung zu verantwortenden Vertrags-bruchs.
– Herr Schmidt, Sie haben doch angeblich eine Vereinba-rung zwischen den EVUs und der Bundesregierung, aufdie Sie so stolz sind. Meines Erachtens haben Sie aber an-gesichts des auf dem Gipfel erzielten Ergebnisses gegen-über den EVUs einen Rechtsbruch begangen oder zumin-dest im Sinn.
Wer wie Sie internationale Verträge bricht und sichnicht an nationale Vereinbarungen hält, gefährdet auchdas Vertrauen in unseren Rechtsstaat.
Sie stellen Ideologie über getroffene Absprachen. Sie un-tergraben damit die Glaubwürdigkeit deutscher Politikund verschleudern das große Kapital, das Sie von der vor-herigen Regierung geerbt haben.
Herr Kol-
lege Ruck, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das wird die Spiel-
räume deutscher Politik nachhaltig einengen, was Sie zu
verantworten haben. Diese verfehlte Energiepolitik
– siehe Klimagipfel – betreiben Sie auf dem Rücken der
zukünftigen Generationen.
Ich denke,
Herr Kollege Ruck, das war ein guter Schlusssatz. Ich
muss Sie bitten, Ihre Rede zu beenden.
Ich bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Aktuelle
Stunde ist beendet. Damit sind wir am Schluss unserer
heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages ein auf morgen, Donnerstag, den 16. November
2000, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.