Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Guten Tag, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermor-
deten Juden Europas“ heute im Anschluß an die Frage-
stunde erfolgen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Außerdem mache ich Sie darauf aufmerksam, daß
morgen um 9 Uhr eine Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers zu den Ergebnissen des Europäischen Rates
in Helsinki mit einer anschließenden 90minütigen Aus-
sprache stattfinden wird.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen
Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht der Bundesregie-
rung an den Deutschen Bundestag über die Beschäfti-
gung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst des
Bundes sowie Erfahrungsbericht der Bundesregierung
zu den Auswirkungen des im Jahre 1996 in Kraft getre-
tenen Änderungsgesetzes zum Ladenschlußgesetz.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Sozialordnung, Gerd Andres.
G
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundes-
kabinett hat sich heute – erstens – mit der Beschäfti-
gung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst des
Bundes und darüber hinaus im gesamten öffentlichen
Dienst sowie in der Privatwirtschaft befaßt. Zuerst die
gute Nachricht: Die Beschäftigungsquote in bezug auf
Schwerbehinderte im öffentlichen Dienst des Bundes lag
Ende Oktober 1998 bei 6,6 Prozent. Damit ist im
Bereich des Bundes auch 1998 die Beschäftigungs-
pflicht erfüllt worden. Das BMA – ich sage das nicht
ohne Stolz – hat einschließlich des nachgeordneten
Bereichs mit 9,6 Prozent und ohne diesen Bereich sogar
mit 9,8 Prozent wieder das beste Ergebnis erzielt. Eine
Beschäftigungsquote von 6,6 Prozent im öffentlichen
Dienst des Bundes bedeutet im Vergleich zum Vorjahr
– Oktober 1997 – einen Rückgang um 0,1 Prozentpunkte.
Diese Entwicklung, die sich auf den Zeitraum von No-
vember 1997 bis Oktober 1998 bezieht, haben wir zwar
nicht zu verantworten. Aber sie ist für uns Veranlassung,
uns intensiver mit diesem Thema zu befassen, als dies
unter der Verantwortung der alten Regierung geschehen
ist.
Die erreichte Beschäftigungsquote muß nicht nur
langfristig gesichert, sondern auch wieder erhöht wer-
den. Dazu bedarf es verstärkter Anstrengungen aller
Ressorts. Jedes einzelne Ressort muß mit allen Mitteln
darauf hinwirken, daß in seinem Bereich, insbesondere
auch in seinem nachgeordneten Bereich, die heute er-
reichte Beschäftigungsquote gesteigert wird, und zwar
auch über die Mindestquote von 6 Prozent hinaus. Feh-
lende Beschäftigungsmöglichkeiten in einigen Berei-
chen müssen durch verstärkte Bemühungen in anderen
Bereichen ausgeglichen werden. Nur so läßt sich
gewährleisten, daß die einzelnen Bundesressorts ihrer
gesetzlichen Verpflichtung nachkommen und daß der
Bund insgesamt auch weiterhin einen Schwerbehinder-
tenanteil von deutlich über 6 Prozent erreicht.
Die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen
Dienst des Bundes ist nur ein Teil der Gesamtproblema-
tik. Die in der Vergangenheit – bis zum Jahre 1998 –
angewachsene, überdurchschnittlich hohe Arbeitslosig-
keit schwerbehinderter Menschen ist besorgniserre-
gend.
Überhaupt nicht zufriedenstellend ist der Beschäfti-
gungsanteil Schwerbehinderter bei den privaten Arbeit-
gebern. Er hat mit 3,4 Prozent im Jahre 1997 seinen tief-
sten Stand seit Jahren erreicht. Der Anteil der Arbeitge-
ber, die beschäftigungspflichtig sind und trotzdem kei-
nen einzigen Schwerbehinderten beschäftigen, liegt in-
zwischen bei 37,5 Prozent. Das kann nicht so bleiben.
Die Verpflichtung, im Rahmen solidarischer Verant-
wortung einen bestimmten Teil der Arbeits- und Ausbil-
dungsplätze für schwerbehinderte Menschen bereitzu-
stellen, muß wieder ernst genommen werden.
7122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Das Problem der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
erscheint durchaus lösbar. Wenn jeder der 71 200
beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber, der heute keinen
Schwerbehinderten beschäftigt, nur einen Schwerbehin-
derten einstellen würde, dann wäre das Problem schon
entschärft. Wenn jeder der 189 300 beschäftigungs-
pflichtigen Arbeitgeber nur einen Schwerbehinderten
zusätzlich einstellen würde, dann hätte sich das Problem
der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter erledigt.
Um die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter zu be-
kämpfen und die Beschäftigungssituation schwerbehin-
derter Menschen nachhaltig zu verbessern, haben wir in
der Koalitionsvereinbarung festgelegt, daß die spezifi-
schen beschäftigungsfördernden Instrumente zur Ein-
gliederung Schwerbehinderter verbessert und weiter-
entwickelt werden sollen. Dabei geht es um eine ganze
Reihe von Punkten, von denen ich einige herausgreifen
will: die Erhöhung der Wirksamkeit des Systems von
Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe, die Ver-
besserung der Einstellungschancen von Schwerbehin-
derten durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen den
Personalverantwortlichen und den Betriebs- und Perso-
nalräten, eine Stärkung der Rechte der Schwerbehinder-
ten und ihrer Vertretungen, die Intensivierung der
Dienstleistungen der Bundesanstalt für Arbeit und der
Hauptfürsorgestellen mit Unterstützung durch soge-
nannte Integrationsfachdienste, um zum Beispiel durch
möglichst frühzeitige präventive Maßnahmen zur Er-
haltung von Arbeitsplätzen und zur Vermeidung von
Kündigungen beizutragen.
Wir wollen deshalb unverzüglich eine Gesetzesinitia-
tive zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf den Weg
bringen. Die Gespräche hierzu mit allen Beteiligten sind
auf einem guten Weg. Ich bin zuversichtlich, daß wir
mit allen Beteiligten ein hohes Maß an Gemeinsamkei-
ten erzielen.
Das Kabinett hat sich – zweitens – mit dem Erfah-
rungsbericht der Bundesregierung zum Ladenschluß
beschäftigt. Der Bericht behandelt die Auswirkungen
der im Jahre 1996 in Kraft getretenen Änderungen des
Ladenschlußgesetzes. Wichtige Grundlagen für den Be-
richt sind die empirischen Befunde der beiden in Auf-
trag gegebenen Gutachten zum Ladenschluß. Das Gut-
achten der Sozialforschungsstelle Dortmund hat unter-
sucht, wie sich die verlängerten Öffnungszeiten auf
Beschäftigung und Arbeitsbedingungen im Einzelhandel
ausgewirkt haben. Das Ifo-Institut behandelt in seinem
Gutachten die Auswirkungen für den Einzelhandel und
für das Verbraucherverhalten.
Die empirischen Ergebnisse der beiden Gutachten
zeigen keinen unmittelbaren Handlungsbedarf für den
Gesetzgeber auf. Die große Mehrheit der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher ist mit den seit 1996 geltenden
Ladenöffnungszeiten sowohl während der Woche als
auch am Samstag zufrieden. Das gilt auch für die Ver-
kaufsstellen im Einzelhandel. Nahezu alle Beschäftigten
des Einzelhandels sind gegen eine weitere Verlängerung
der Öffnungszeiten.
Mit der Einführung der neuen Ladenöffnungszeiten
im Jahre 1996 wurde die Erwartung verbunden, durch
die Erweiterung würden zahlreiche neue Arbeitsplätze
entstehen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Im
Gegenteil: Die Beschäftigtenzahlen im Einzelhandel
sind insgesamt zurückgegangen. Zugenommen hat nur
die Anzahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnis-
se. Außerdem sind die Arbeitsbedingungen der
Beschäftigten nach den Ergebnissen der Untersuchung
der Sozialforschungsstelle Dortmund schlechter gewor-
den. Die Arbeitszeiten sind ungünstiger; die Arbeit hat
sich verdichtet.
Der Erfahrungsbericht enthält keinen Vorschlag zur
Änderung des Ladenschlußgesetzes. Vor der Erstellung
des Berichtes hat die Bundesregierung mit den Ländern,
den beteiligten Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen
gesprochen. Dabei ist die große Vielfalt von Meinungen
und Interessen zum Ladenschluß deutlich geworden. Die
große Mehrheit der Beteiligten hat vorgeschlagen, die
begonnenen Gespräche fortzuführen. Diesem Wunsch
wird die Bundesregierung nachkommen. Vielleicht
können weitere Gemeinsamkeiten ausgelotet werden.
Ladenschluß ist ein Symbolthema. Die Bundesregierung
ist der Überzeugung, daß dieses Thema nur auf einer
breiten Grundlage behandelt werden kann.
Zur Sonn- und Feiertagsöffnung haben die Gespräche
eine bereits weitgehende Übereinstimmung ergeben. Die
Öffnungsmöglichkeiten an diesen Tagen sollen sehr re-
striktiv gehandhabt werden. Die Bundesregierung steht
zur Sonn- und Feiertagsruhe. Eine Kommerzialisierung
der Sonn- und Feiertage wird es mit der Bundesregie-
rung nicht geben.
Herzlichen Dank.
Frau Präsidentin, ich habe eine Bitte: Da es zwei sehr
komplizierte Themen sind, bitte ich darum, daß die Fra-
gen nicht zwischen den Themen hin- und herspringen.
Vielmehr sollten die Fragen nur einem bestimmten
Block gelten, um immer nur ein Thema zu diskutieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte, zunächst Fragen zum ersten
Themenbereich zu stellen. Die erste Wortmeldung
kommt von der Kollegin Claudia Nolte.
Herr Staatssekretär, Sie
haben eine Gesetzesinitiative angekündigt, um, wie Sie
sagten, die Effizienz der bestehenden Instrumente zu
verbessern. Welche Bereiche sollten Ihrer Meinung nach
gesetzlich geändert werden? Wann sollen diese Ände-
rungen in Kraft treten? Sieht die Bundesregierung bei-
spielsweise vor, Integrationsfachdienste künftig gesetz-
lich abzusichern? Soll durch das vorgesehene Gesetz die
Ausgleichsabgabe angehoben werden? Oder soll viel-
leicht der prozentuale Ansatz für die Beschäftigungs-
quote verändert werden?
G
Frau Nolte, Sie
wissen aus der Debatte vom 3. Dezember 1999 in die-
sem Hause, daß wir sehr nachdrücklich an diesen Fragen
arbeiten. Wir sind der Meinung, daß wir nicht nur ein
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7123
(C)
(D)
SGB IX schaffen müssen, sondern daß auch hinsichtlich
der beschäftigungspolitischen Situation Behinderter
dringender Handlungsbedarf besteht. Dazu laufen auch
schon eine Reihe von Gesprächen, die allerdings noch
nicht abgeschlossen sind. Ich bin gegenwärtig nicht in
der Lage, auf alle Ihre Fragen zu den jeweiligen Einzel-
themen eine abschließende Antwort zu geben. Ich kann
Ihnen aber sagen, in welche Richtung unsere prinzipiel-
len Überlegungen gehen.
Ich habe eben schon darauf hingewiesen, daß in der
Koalitionsvereinbarung festgelegt worden ist, daß die
spezifischen beschäftigungsfördernden Elemente zur
Eingliederung von Schwerbehinderten verbessert und
weiterentwickelt werden müssen. Ich halte eine unver-
zügliche Gesetzesinitiative zur Bekämpfung der Ar-
beitslosigkeit von Schwerbehinderten für geboten und
für vordringlich. Dabei muß eine Reihe von Punkten be-
rücksichtigt werden, die ich ganz kurz benennen möch-
te: Es geht erstens um die Erhöhung der Wirksamkeit
des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichs-
abgabe – bezüglich der Erhöhung kann ich Ihnen jetzt
keine konkreten Zahlen nennen –, zweitens um die
Schaffung von Anreizen zur Beschäftigung Schwerbe-
hinderter, drittens um die Stärkung der Rechte von
Schwerbehinderten und ihren Vertretungen, viertens um
eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Personal-
verantwortlichen in den Betrieben und Verwaltungen
und den Betriebs- und Personalräten, fünftens um die
Intensivierung der Dienstleistungen der Bundesanstalt
für Arbeit und der Hauptfürsorgestellen, die durch soge-
nannte Integrationsfachdienste unterstützt werden sollen,
und sechstens um möglichst frühzeitige präventive
Maßnahmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen und zur
Vermeidung von Kündigungen.
Ich will noch einmal darauf hinweisen – ich sage das
hiermit ausdrücklich –, daß wir gegenwärtig noch mit
allen beteiligten Verbänden und Organisationen entspre-
chende Gespräche führen, so daß ich die beabsichtigten
Änderungen nicht im einzelnen nennen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Nachfrage, bit-
te, Frau Kollegin Nolte.
Herr Staatssekretär,
durch Wiederholung wird eine Antwort nicht konkreter.
– Ich bedanke mich, daß Sie mir in diesem Punkt recht
geben.
Im Bereich der Neueinstellungen gibt es ja im öffent-
lichen Dienst bezüglich unseres Anliegens erhebliche
Schwierigkeiten. Die Schwerbehindertenquote liegt dort
nämlich bei zirka 3 Prozent. Sie sprachen nun von An-
reizen, um die Einstellungsquote zu erhöhen. Welche
Anreize kann der öffentliche Dienst schaffen? Haben Sie
eine Vorstellung davon, wie der öffentliche Dienst es
schaffen könnte, auf Bundesebene die Schwerbehinder-
tenquote bei den Neueinstellungen einzuhalten?
G
Ich habe ja darge-
stellt, daß wir die Quote auf Bundesebene erfüllen und
teilweise sogar übererfüllen. Es gibt da sicherlich Diffe-
renzen in den einzelnen Bereichen. Um die Quote aber
auf Dauer zu halten, müssen wir uns nachdrücklich da-
für einsetzen, daß Schwerbehinderte bei Neueinstellun-
gen entsprechend berücksichtigt werden. Wenn kaum
Neueinstellungen stattfinden, ergibt sich hier schon ein
großes Problem. Man muß also im einzelnen genau hin-
schauen. Für die Bundesregierung kann ich sagen, daß
wir die Absicht haben, Initiativen, die Erfolg zeigen,
auch in den nächsten Jahren verstärkt fortzusetzen. Im
übrigen verweise ich auf meine Antwort zu Ihrer ersten
Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Fragesteller
ist der Kollege Heinrich Kolb.
Herr Staatssekretär,
Sie haben vorgetragen, daß insbesondere Unternehmen
der Privatwirtschaft ihre Pflicht zur Beschäftigung
Schwerbehinderter eher zögerlich und zurückhaltend er-
füllen. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse dar-
über vor, welche Gründe es für diese Zurückhaltung
gibt, bzw. planen Sie, vor einer gesetzgeberischen In-
itiative durch entsprechende Datenerhebungen die Moti-
ve der Unternehmen zu erfassen, die zu dieser Zurück-
haltung führen?
G
Wir führen ja re-
gelmäßig sehr umfangreiche und umfassende statistische
Erhebungen und Untersuchungen durch und können es
daher durchdeklinieren, wie die Beschäftigungssituation
in einzelnen Branchen und Bereichen aussieht. Man
wird zugestehen müssen, daß durch eine schwierige La-
ge auf dem Arbeitsmarkt die Beschäftigungssituation
Schwerbehinderter zusätzlich erschwert wird. Wenn Sie
einzelne Bereiche unter dem Gesichtspunkt von Mehr-
fach-Handicaps – also Alter, geringe Qualifikation usw.
– untersuchen, stellen Sie fest, daß die Beschäftigungs-
situation um so schwieriger wird, je mehr dieser Positio-
nen zutreffen.
Nichtsdestotrotz sind wir der Auffassung – ich habe
es vorgetragen –, daß wir es nicht hinnehmen können,
daß ein Großteil der beschäftigungspflichtigen Unter-
nehmen überhaupt keinen Schwerbehinderten beschäf-
tigt. In anderen Bereichen könnte man nach unserer
Vorstellung die Quote ebenfalls entsprechend anheben.
Ich verweise darauf, daß wir hinsichtlich der Abgabe
und der Instrumentarien, die damit zusammenhängen,
Überlegungen anstellen, wie eine einvernehmliche Re-
gelung zustande zu bekommen ist. Die Gespräche, die
wir in diesem Zusammenhang bisher geführt haben, ge-
ben uns zu großer Hoffnung Anlaß, mehr Beschäftigung
zu erreichen.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
7124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Kolb, Ihre
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär,
Sie haben gesagt, daß Sie regelmäßig Untersuchungen
durchführen. Liegen Ihnen auf Grund dieser Untersu-
chungen Erkenntnisse vor, daß gerade kleinere Unter-
nehmen bei der Einstellung Behinderter sehr zögerlich
sind,
weil es im Falle rückläufiger Beschäftigung sehr schwer
ist, ein Beschäftigungsverhältnis, das man mit einem
Schwerbehinderten eingegangen ist, wieder aufzulösen?
G
Hinsichtlich kleiner
Unternehmen liegt uns dazu kein Befund vor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Fragesteller
ist der Kollege Peter Dreßen.
Herr Staatssekretär, aus Ihrem
Bericht ging hervor, daß die Schwerbehindertenquote
bei der Gesamtzahl der Arbeitslosen sehr hoch ist, auch
wenn der öffentliche Dienst erfreulicherweise auf die-
sem Gebiet einiges tut. Uns ist aber bekannt, daß sich
die privaten Arbeitgeber von der Erfüllung der Pflicht-
quote weit entfernt haben. Aus den Berichten, die die
Bundesregierung in den letzten Jahren vorgelegt hat,
geht zum Beispiel hervor, daß – das ist mir aufgefallen –
die Sparkassen und die Volksbanken beinahe das
Schlußlicht darstellen, wenn es darum geht, die Pficht-
quote zu erfüllen. Was tut die Bundesregierung bzw.
was hat sie sich vorgenommen, um die Arbeitslosigkeit
bei den Schwerbehinderten zu bekämpfen?
G
Herr Abgeordneter
Dreßen, Ihre Frage geht ein Stück weit in die Richtung,
die Herr Kolb bereits angesprochen hat. Ich weise darauf
hin, daß wir keine gesonderten Befunde haben, aus de-
nen etwa hervorginge, warum es bei Banken und Spar-
kassen so ist, wie es ist. Dazu werden keine Erhebungen
durchgeführt. Wir kennen die Quote und können mög-
licherweise das eine oder andere Motiv vermuten, das
einem hinter vorgehaltener Hand gelegentlich auch ge-
nannt wird. Als Beispiel nenne ich das Argument Publi-
kumsverkehr. Diese Motivationen müssen aber nach
meiner Auffassung nicht weiter erforscht werden.
Umgekehrt müssen wir Anstrengungen unternehmen,
die dazu führen, daß mehr Schwerbehinderte auch in
diesen Bereichen beschäftigt werden. Ich habe bereits
darauf hingewiesen, daß es sehr viele unterstützende und
fördernde Maßnahmen gibt. Wir haben die Ausgleichs-
abgabe, und wir müssen uns anschauen, wie diese Aus-
gleichsabgabe sowie die Integrationshilfen – Bera-
tungsinstrumente, Fachinformationsdienste u. ä. – in
einer bestimmten Art und Weise effektiver gestalten
kann. Dazu wollen wir im nächsten Jahr gesetzgeberi-
sche Schritte einleiten. Dabei kommt es darauf an, zu
unterstützen, daß mehr Schwerbehinderte beschäftigt
werden, und nicht so sehr darauf, Motivsuche zu betrei-
ben, warum in bestimmten Bereichen die Quote nicht
erfüllt wird. Entsprechende Befunde für den Banken-
bereich liegen uns, wie gesagt, nicht vor.
Ich weise auch noch darauf hin – das hätte ich schon
in meiner Antwort auf die Frage von Herrn Kolb tun
können –, daß es viele mittelständische und kleine Un-
ternehmen gibt, die Behinderte beschäftigen und mit
diesen Mitarbeitern sehr zufrieden sind. Sie grämen sich
überhaupt nicht hinsichtlich der Frage, ob sie einen Be-
hinderten, den sie einstellen, wieder loswerden. Es
scheint also auch umgekehrt zu gehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Fragesteller
ist der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Herr Staatssekretär, ich emp-
finde es als außerordentlich erfreulich, daß sich die
Bundesregierung jetzt im Rhythmus von vier bis sechs
Wochen mit Behindertenfragen befaßt. Ich hoffe, daß
dies so bleibt und daß es zum Nutzen der Menschen ist.
Allerdings kann ich mich des Eindrucks nicht erweh-
ren, daß Sie seit einem Jahr formelhaft immer dieselben
Worte benutzen. Was Sie heute gesagt haben, hat wieder
einen verhältnismäßig geringen Neuigkeitswert. Ich
nehme an, daß das auch den Kolleginnen und Kollegen
im Kabinett nicht verborgen geblieben sein wird. Aber
es nützt nichts, immer wieder zu sagen, man wolle die
bestehenden Instrumente, also die Ausgleichsabgabe
und die Beschäftigungspflichtquote, optimieren. Sagen
Sie uns doch bitte, welche Überlegungen es in Ihrem
Hause gibt, auf andere Methoden, hinsichtlich derer es
durchaus positive Erfahrungen gibt, zurückzugreifen?
Ich denke hier zum Beispiel an geschützte Betriebs-
abteilungen, die Menschen mit geringerer Qualifikation
eine sehr gute Möglichkeit böten, ebenfalls in einem
Segment des ersten Arbeitsmarktes arbeiten zu können.
Man könnte damit auch höherqualifizierten Menschen
mit Behinderung mehr Möglichkeiten bieten, erwerbstä-
tig zu werden. Beispielsweise könnte man die Selbst-
hilfegruppen, die Beratungen durch Betroffene durch-
führen wollen, so ausstatten, daß sie dies leisten können,
ohne jedes Jahr vor der Aufgabe zu stehen, sich neue
Projekte ausdenken zu müssen, die dann vielleicht auf
sehr wackeligen Füßen stehen. Gibt es in Ihrem Hause
irgendwelche Überlegungen in diese Richtung? Wenn
ja, wie weit sind sie gediehen?
G
Herr Abgeordneter
Seifert, zunächst einmal will ich Ihren Eindruck, den Sie
hier vermittelt haben und den ich Ihnen nicht nehmen
kann, ganz entschieden zurückweisen. Die neue Bundes-
regierung ist ein Jahr im Amt. Wir arbeiten mit Hoch-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7125
(C)
(D)
druck an Eckpunkten zur Schaffung eines neuen SGB
IX, die das Kabinett schon zur Kenntnis genommen hat.
Ich habe eben vorgetragen, daß wir Maßnahmen vorbe-
reiten, um insbesondere im Hinblick auf die Beschäfti-
gungssituation von Behinderten unmittelbar gesetzgebe-
risch zu handeln, weil wir das für notwendig halten.
Sie wissen auf Grund Ihrer Tätigkeit auf den entspre-
chenden Verbandsebenen, daß wir uns mit den Betroffe-
nenverbänden, den Gewerkschaften und den Arbeitge-
bern in sehr konkreten Gesprächen darüber befinden,
wie wir das Instrumentarium so weiterentwickeln kön-
nen und zwar einvernehmlich –, daß es zu einer deutli-
chen Zunahme der Beschäftigung von Behinderten
kommt.
Es hat am vergangenen Freitag bei uns im Hause eine
Gesprächsrunde des Beirates für die Rehabilitation der
Behinderten gegeben, an der faktisch alle Behinderten-
verbände, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber be-
teiligt waren. Dort haben wir im einzelnen folgende Fra-
gen erörtert: Wie gehen wir mit der Ausgleichsabgabe
um? Welche integrationsfördernden Instrumente können
wir uns zusätzlich vorstellen? Wie können beispielswei-
se Pools gebildet werden, mit deren Hilfe man Behin-
derten einen erleichterten Zugang zur Beschäftigung
gewähren kann?
Ich bitte einfach um Verständnis dafür, daß ich jetzt
nicht in der Lage bin, einzelne konkrete Positionen zu
benennen. Ich kann Ihnen aber zusagen, daß wir unmit-
telbar zu Beginn des neuen Jahres handeln und entspre-
chende Maßnahmen auf den Weg bringen werden.
Wenn Sie der Meinung sind, Sie würden immer nur die
gleichen Formulierungen hören, dann kann ich Ihnen
diese Einschätzung zwar nicht nehmen. Ich will Ihnen
aber sagen, daß sie nicht zutreffend ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dr. Seifert, bitte Ihre
Nachfrage.
Herr Staatssekretär, natürlich
lese ich Ihre Dokumente sehr aufmerksam. Sie sagten
selbst, daß ich an den Gesprächen zum Teil beteiligt bin.
Aber das ist hier nicht die Frage.
G
Deshalb müßten
Sie es aber besser wissen, Herr Abgeordneter.
Dennoch kann ich mich des
Eindrucks nicht erwehren, daß immer nur gesagt wird,
es müsse etwas verändert werden, daß eine Richtung
aber nicht erkennbar ist. Das ist schon ein wenig pro-
blematisch.
Sie haben leider auch meine Frage nach den ge-
schützten Betriebsabteilungen und nach der Unterstüt-
zung von Selbsthilfegruppen nicht beantwortet. Ich
möchte deswegen eine weitere Frage anschließen, weil
ich davon ausgehe, daß Sie im Kabinett darüber geredet
haben.
Ich möchte gerne wissen, ob Sie in diesem Zusam-
menhang Ihre Kabinettskolleginnen und -kollegen auch
darüber informiert haben, welche Möglichkeiten und
Probleme es bezüglich der Arbeitsassistenz gibt. Es ist ja
erwiesenermaßen so, daß viele Menschen mit Behinde-
rung auch der Assistenz am Arbeitsplatz bedürfen. Wie
könnte diese Assistenz geregelt werden?
G
Herr Seifert, über
das Thema Arbeitsassistenz ist im Kabinett nicht ge-
sprochen worden.
Zu Ihren anderen Fragen möchte ich Ihnen folgendes
sagen – ich hoffe, Sie können diese Aussage auf Grund
Ihrer politischen Erfahrung richtig einschätzen –: Wenn
die Bundesregierung sagt, sie habe ein großes Interesse
daran, Maßnahmen im Konsens mit allen Beteiligten auf
den Weg zu bringen – nur so könne es funktionieren –,
dann schließt das bestimmte Konstruktionen aus. Ich
kann mir schlicht und einfach nicht vorstellen, daß wir
beispielsweise auf gesetzgeberischem Wege zur Ein-
richtung von geschützten Betriebsabteilungen kommen.
Aber ich kann mir vorstellen, daß wir in gemeinsamen
Gesprächen zu ganz anderen Maßnahmen kommen kön-
nen, die darauf hinauslaufen, eine deutlich bessere Be-
schäftigungsquote Behinderter zu erreichen.
Hinsichtlich Ihrer Äußerung zu den Selbsthilfegrup-
pen will ich nur darauf hinweisen, daß wir im Rahmen
der Gesundheitsstrukturreform entsprechende Maßnah-
men vorgesehen haben, um die Förderung von Selbsthil-
fegruppen zu verstärken und diese Gruppen zu unter-
stützen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Fragestelle-
rin ist die Kollegin Silvia Schmidt.
Herr Staatssekre-
tär, Sie wissen, daß die Arbeitslosenquote in Ost-
deutschland besonders hoch ist. Ich hätte gerne ein paar
Angaben: Wie sieht es mit den schwerbehinderten
Arbeitslosen in Ost und West aus? Wo sieht die Bundes-
regierung Handlungsbedarf?
G
Zunächst will ich
folgendes sagen: Die privaten Arbeitgeber haben im
Bundesdurchschnitt eine Beschäftigungsquote von nur
noch 3,4 Prozent, die öffentlichen Arbeitgeber eine
Quote von 5,2 Prozent.
– Ich bedanke mich bei den Damen für den Hinweis. –
Der Bund ist mit einer Beschäftigungsquote von
6,6 Prozent vorbildlich. Bei den Ländern waren 1997
nur das Saarland mit 7,3 Prozent und Hessen mit
6,3 Prozent vorbildlich. Es gibt insofern – damit komme
ich auf Ihre Frage zurück – deutliche Unterschiede zwi-
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
7126 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
schen Ost und West; das ist schon klar. Im Westen ist
Bayern mit 4,8 Prozent Schlußlicht; im Osten – in den
neuen Ländern ist es durchaus verständlich, daß das
alles mit sehr viel größeren Schwierigkeiten verbunden
ist – haben wir durchgängig niedrigere Quoten. 1997
war Sachsen mit 3,8 Prozent das Schlußlicht.
Die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter hat insgesamt
einen überdurchschnittlich hohen Stand erreicht. 1998
waren im Jahresdurchschnitt im Westen 17 Prozent ar-
beitslos; die allgemeine Arbeitslosenquote lag bei
9,3 Prozent. Im Osten betrug die Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter 24,5 Prozent; die allgemeine Quote
lag bei 18,1 Prozent. Es gibt also eine deutliche Diffe-
renz zwischen Ost und West, die auch am allgemeinen
Arbeitsmarkt festzustellen ist, sich bei den Schwer-
behinderten aber noch sehr viel deutlicher auswirkt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine zweite Frage,
bitte, Frau Kollegin.
Herr Staatssekre-
tär, die Beschäftigungspflichtquote im Bund ist ja er-
füllt; aber wir merken, daß der Anteil behinderter Be-
schäftigter sinkt. Müssen wir erwarten, daß er in den
nächsten Jahren noch weiter zurückgeht und daß die Be-
schäftigungspflichtquote nicht mehr erfüllt wird?
G
Ich habe ja schon
deutlich gemacht, daß wir im Vergleich der letzten Jahre
feststellen können, daß die Quote im Bund leicht ab-
sinkt. Ich habe zugesagt, daß die Bundesregierung alle
Maßnahmen ergreifen wird, um ein weiteres Absinken
dieser Quote zu verhindern. Das ist kompliziert und
schwierig, aber wir erklären das ausdrücklich zu unserer
Zielsetzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Birgit
Schnieber-Jastram, Ihre Frage bitte.
Herr
Staatssekretär, nachdem Sie über spezielle Maßnahmen,
über spezielle Initiativen in diesem Bereich nichts sagen
konnten oder wollten, möchte ich zunächst die Frage
stellen, ob Sie an einen grundsätzlichen Wechsel den-
ken, also den Vorschlag diskutieren und auch in die
Richtung gehen, den behinderten Mitmenschen ein Bud-
get zur Verfügung zu stellen, anstatt sie auf bestimmte
Leistungen zu verweisen.
G
Entschuldigung,
das habe ich nicht ganz verstanden.
Denken
Sie darüber nach, den behinderten Mitmenschen ein
Budget zur Verfügung zu stellen, damit sie sich aus die-
sem Budget eigenständig die Beschäftigungsmaßnah-
men heraussuchen können, die sie für adäquat und sinn-
voll halten?
Meine nächste Frage betrifft die Gespräche, die Sie
führen. Sind das interne Überlegungen? Gibt es – außer
den Eckpunkten zum SGB IX – schon Gesetzesinitiati-
ven, zu denen Sie bereits Verbände anhören? Was ist der
Charakter der Gespräche, von denen Sie immer reden?
G
Zunächst zum
zweiten Teil Ihrer Frage. Charakter der Gespräche ist,
mit den Beteiligten Konsens herzustellen.
Denn unserer Erfahrung nach ermöglichen im Konsens
gefundene Lösungen nicht nur, zu einer raschen gesetz-
geberischen Umsetzung zu kommen. Vielmehr setzt sich
das, was im Konsens gefunden wurde, auch in der Praxis
besonders gut durch. Wir haben noch nicht über Geset-
zesformulierungen geredet. Wie denn auch? Wir haben
über bestimmte Vorstellungen geredet – das habe ich
schon dreimal gesagt, und konkreter kann ich beim be-
sten Willen nicht werden –, wie wir bestimmte Instru-
mente in der Art und Weise umgestalten, daß wir zu ei-
ner deutlich besseren Beschäftigungsquote bei Schwer-
behinderten kommen.
Zum ersten Teil Ihrer Frage möchte ich sagen: Wir
sind nicht der Meinung, ihnen eigenständige Budgets
zur Verfügung stellen zu sollen, damit sie losgehen und
suchen können oder etwas anderes machen können. Das
werden wir nicht tun.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Schnieber-Jastram, bitte.
Ich möchte Sie alle daran erinnern, daß es noch ein
paar Fragen zum Thema Ladenschluß gibt.
Herr Staats-
sekretär, ich habe noch eine Nachfrage. Nachdem Sie
weder über den Inhalt noch über den Charakter der Ge-
spräche etwas Konkretes sagen können, sondern nur et-
was Verschwommenes über das Ziel sagen, möchte ich
gern wissen, ob Sie in zwei anderen Punkten konkret
werden können, nämlich in der Frage: Wann sollen diese
Gespräche abgeschlossen sein? und in der Frage: Stehen
auch diese Maßnahmen unter einem Finanzierungsvor-
behalt wie das SGB IX?
G
Ich will noch ein-
mal darauf hinweisen: Ich habe hier schon eine ganze
Menge gesagt.
Weil ich weder etwas über den Inhalt noch über den
Charakter der Gespräche sagen kann, will ich Ihnen
noch einmal darstellen: Am vergangenen Freitag hat in
unserem Hause eine Runde getagt, und zwar der Beirat
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7127
(C)
(D)
für die Rehabilitation der Behinderten unter Beteiligung
der Behindertenverbände, der Gewerkschaften und der
Arbeitgeber. Es ist das Ziel, zu rechtlichen Regelungen
zu kommen – weil Sie sagen, ich würde nie etwas über
das Ziel sagen –, mit denen die Beschäftigung Behin-
derter nachhaltig und deutlich gesteigert werden kann.
Das ist das eine.
Das zweite ist: Sie haben gefragt, ob über konkrete
Gesetzesformulierungen gesprochen worden ist. Nein, es
ist nicht über konkrete Gesetzesformulierungen gespro-
chen worden, sondern wir haben darüber gesprochen,
welche Möglichkeiten es gibt, beispielsweise die Aus-
gleichsabgabe so umzugestalten, daß sie als Instrument
genutzt werden kann, um zu mehr Beschäftigung von
Behinderten zu kommen.
Ich habe weiter gesagt, daß wir die Absicht haben,
unmittelbar gesetzgeberisch tätig zu werden. Wenn die
Bundesregierung dazu eine Position hat, wird sie das
dem Hause durch entsprechende Formulierungen selbst-
verständlich mitteilen. Man wird dann in der Lage sein,
sich im einzelnen mit den Positionen zu befassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Fragesteller
ist der Kollege Kurt Bodewig.
Herr Staatssekretär, Sie haben
eben von den Quoten gesprochen. Jetzt sind Quoten das
eine, aber absolute Zahlen das andere. Mich würde in-
teressieren, wieviel Schwerbehinderte wir haben und
wieviel davon in Erwerbsarbeit sind. Mich würde weiter
interessieren, ob es hier regionale Unterschiede gibt. Ich
möchte die Frage stellen: Gibt es einen direkten Zu-
sammenhang zwischen der Form von Produktion und
industriellen Strukturen und der Anzahl der Schwer-
behinderten in Beschäftigung?
G
Ich habe gerade
nachgefragt, ob es eine Tabelle gibt, weil es hier um
größere Zahlenwerke geht. Ich will zunächst einmal sa-
gen: Wir haben die Situation, daß rund 8 Prozent der
Bevölkerung Schwerbehinderte sind. Das sind rund
6,6 Millionen Menschen, von denen nach unseren Er-
kenntnissen rund 1,1 Millionen dem Arbeitsmarkt zur
Verfügung stehen. Bundesweit haben wir 188 652
Schwerbehinderte, die im November 1999 arbeitslos wa-
ren. Das entspricht einer Quote von 17,6 Prozent.
Ich bitte um Verständnis, daß ich Ihnen ihre Frage
bezüglich regionaler oder industrieller Unterschiede so
nicht beantworten kann. Diese Informationen kann man
sehr gut dem Zahlenkonvolut, das mit dem Behinderten-
bericht vorgelegt wird, im einzelnen entnehmen.
Über die Zahlen der Arbeitgeber, die sich nicht an
dem Ganzen beteiligen, habe ich etwas gesagt. Auch
über unsere Zielsetzung habe ich etwas gesagt. Ich bitte
Sie um Verständnis, daß ich hier die ganzen Zahlen
nicht darstellen kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, es verbleiben uns jetzt noch fünf Minuten
Regierungsbefragung. Ich möchte jetzt das Thema La-
denschluß aufrufen.
Der Kollege Günter Rexrodt hat sich schon eine gan-
ze Weile gemeldet.
Herr Staatssekretär
Andres, Sie haben eben den wegweisenden Satz gesagt:
Die Bundesregierung sehe beim Ladenschluß keinen
Handlungsbedarf.
Meine Frage ist: Haben Sie, bevor Sie diesen weg-
weisenden Satz gefunden haben, zur Kenntnis genom-
men, daß die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherver-
bände, daß 80 Prozent der befragten Verbraucher und
daß die mittelständisch strukturierte Hauptgemeinschaft
des Einzelhandels, die immer eine andere Position hatte,
jetzt dafür eintreten, daß es weitere Liberalisierungs-
schritte gibt? Haben Sie, bevor Sie diesen wegweisen-
den Satz gefunden haben, denn auch zur Kenntnis ge-
nommen, daß eine Aufhebung des Ladenschlußgesetzes
dazu führen könnte, daß Länder und Kommunen ganz
individuelle, auf die Gemeinde zugeschnittene Regelun-
gen für die Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen fin-
den könnten? Und haben Sie im übrigen bei Ihrer Aus-
sage, die bisherige Liberalisierung habe keinen Be-
schäftigungseffekt gehabt, zur Kenntnis genommen, daß
im Einzelhandel insgesamt ein Abbau der Beschäftigung
stattfindet und daß eine verläßliche, wissenschaftlich
fundierte Aussage, ob die Liberalisierung tendenziell
mehr Beschäftigung und Umsatz geschaffen habe oder
nicht, gar nicht möglich ist? Sind Sie bereit,
vor dem Hintergrund dieser Fakten sobald wie möglich
in eine Prüfung der zusätzlichen Liberalisierung des La-
denschlusses einzutreten?
G
Herr Abgeordneter
Rexrodt, ich bemühe mich immer, wegweisende Sätze
zu formulieren.
Wenn Sie wahrgenommen haben, daß ich einen solchen
formuliert habe, bin ich darüber sehr froh. Ich hoffe, das
gelingt mir häufiger.
Ich fange mit dem letzten Punkt an. Wenn Sie genau
zugehört haben, haben Sie gemerkt, daß ich dargestellt
habe, daß die Bundesregierung vor dem Hintergrund des
Ergebnisses der beiden Untersuchungen keinen unmit-
telbaren Handlungsbedarf sieht. Ich habe zweitens deut-
lich gemacht, daß die Bundesregierung mit den Betei-
ligten gesprochen hat. Dazu gehören auch die Verbände,
die Sie genannt haben, ebenso die Länder, Gewerk-
schaften und Verbraucherschutzorganisationen. Ich habe
deutlich gemacht, daß die Bundesregierung die Absicht
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
7128 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
hat, mit diesen Beteiligten weitere Gespräche zu führen,
um möglicherweise zu Regelungen zu kommen. Ich ha-
be übrigens auch gesagt, daß die Bundesregierung der
Auffassung ist, daß insbesondere der Sonn- und Feier-
tagsschutz für sie einen sehr hohen Wert darstellt.
Es gab hier eben den Zwischenruf: „Der kommt nicht
aus Berlin!“ Ich habe natürlich registriert, was in Berlin
stattgefunden hat, und muß Ihnen sagen, daß es eine
Reihe von Entwicklungen gegeben hat, die schlicht
einen Rechtsbruch bedeuten.
Von daher ist die Bundesregierung nicht der Meinung,
daß man in diesem Bereich tätig werden muß.
Nun haben Sie Zahlen genannt. Sie kennen als ehe-
maliger Bundesminister natürlich auch die Gepflogen-
heit, daß die Häuser einen wunderbar präparieren. Ich
kann die Zahlen, die Sie hinsichtlich der Verbraucher,
die eine Änderung wünschen, genannt haben, nicht be-
stätigen. Mir sind dazu ganz andere Zahlen aufgeschrie-
ben worden.
Wenn Sie in die beiden Gutachten schauen, werden Sie
meine Zahlen dort finden. Die große Mehrheit der Ver-
braucher wünscht keine weitere Verlängerung der
Ladenöffnungszeiten. 74 Prozent wünschen keine Ver-
längerung der Ladenöffnungszeiten an den Werktagen
Montag bis Freitag, 66 Prozent wollen keine längeren
Öffnungszeiten an Samstagen.
Da Sie den Handel angesprochen haben, will ich
Ihnen sagen, daß sich eine überwiegende Mehrheit der
Verkaufsstellen gegen eine weitere Verlängerung der
Ladenöffnungszeiten an Werktagen ausspricht. Hin-
sichtlich der Werktage Montag bis Freitag sind dies rund
71 Prozent und hinsichtlich der Samstage 65 Prozent der
Verkaufsstellen.
Nun zu Ihrer ersten Frage, die ich selbstverständlich
außerordentlich ernst nehme. Ich habe noch den damali-
gen Bundeswirtschaftsminister, Herrn Rexrodt, im Ohr,
der bei der seinerzeitigen Gesetzesänderung glorreiche
Zahlen an die Wand gemalt hat, wie sehr das der
Beschäftigung im Einzelhandel dienen werde. Ich muß
Ihnen leider sagen: Es sind die Gutachten, die Ihre
Bundesregierung noch in Auftrag gegeben hat, die das
Ergebnis gebracht haben, daß die Liberalisierung selbst
keinerlei Beschäftigungseffekte zeige.
Nun muß man zugestehen, Herr Rexrodt – ich geste-
he das sehr wohl zu –, daß die Liberalisierung in einem
Zeitraum stattgefunden hat, in dem sich der Einzelhan-
del in großen Strukturveränderungen befand. Diese
Strukturveränderungen müssen natürlich auch in Relati-
on zur Beschäftigungsentwicklung gesehen werden.
Aber eines stimmt: Das große Ziel, mit dem Sie diese
Liberalisierung angekündigt haben, daß sie nämlich zu
deutlich mehr Beschäftigung führen würde, ist genau
nicht erreicht worden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eigentlich sind wir
nun am Schluß der Regierungsbefragung. Angesichts
der Tatsache, daß ich eine Unmenge von Wortmeldun-
gen vorliegen habe, lasse ich jedoch jetzt noch die ersten
zwei Fragen zu, und zwar der Kolleginnen Kopp und
Nolte. Dann brechen wir die Regierungsbefragung ab,
denn sonst steigert sie sich wirklich ins Unermeßliche.
Ich bitte um kurze Fragen und auch um kurze Antwor-
ten, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Kopp.
Danke schön, Frau Präsi-
dentin. – Herr Staatssekretär, können wir uns darauf
einigen, daß das Ifo-Gutachten im Ergebnis dem Bun-
destag die Aufhebung der bestehenden Ladenschlußzei-
ten an Werktagen empfiehlt? Sind Sie nicht auch der
Meinung, daß die Bundesregierung im Rahmen der Glo-
balisierungsdebatte – wir werden darüber im Plenum
heute noch sprechen – dem Image einer modernen,
weltoffenen Gesellschaft gerecht werden muß?
Dazu gehört eben auch die freie Entscheidung über
Ladenöffnungszeiten.
Ist es richtig, daß Bundeskanzler Schröder, wie es vor
kurzem in der Presse dargestellt worden ist, derzeit kei-
nen Handlungsbedarf sehe und über diese Frage im
nächsten Frühjahr entscheiden wolle, bzw. wie sieht der
Zeitplan der Bundesregierung im Hinblick auf die Lö-
sung dieser gesamten Problematik aus?
G
Ich kann Ihnen zum
einen bestätigen, daß im Ifo-Gutachten Empfehlungen
gegeben werden, die jedoch unserer Auffassung nach
durch die empirischen Befunde, die das Ifo-Gutachten
liefert, in keiner Weise begründet und belegt sind.
Ich kann Ihnen zum anderen sagen – das trage ich
hier als Vertreter der Bundesregierung vor –, daß die
Bundesregierung gegenwärtig unter Zugrundelegung der
beiden vorliegenden Gutachten keinen unmittelbaren
Handlungsbedarf für den Gesetzgeber sieht. Was Sie an-
sonsten im Hinblick auf den Bundeskanzler gefragt ha-
ben, kann ich nicht beantworten. Ich gebe hier Erklä-
rungen für die gesamte Bundesregierung ab. – Frau Prä-
sidentin, ich hoffe, meine Antwort ist damit ausreichend
kurz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine letzte Frage von
der Kollegin Claudia Nolte.
Herr Staatssekretär,
können Sie uns hier darstellen, welche Auffassung das
Wirtschaftsministerium zu dem Thema Ladenöffnungs-
zeiten an Werktagen in Wirklichkeit hat?
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7129
(C)
(D)
G
Ich kann Ihnen hier
erklären, was die abgestimmte Position der Bundesregie-
rung ist. Die habe ich soeben vorgetragen. Auf der Basis
dieser Position hat die Bundesregierung die beiden Be-
richte zur Kenntnis genommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Regierungsbe-
fragung ist beendet.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 14/2325 –
Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Dr. Martin
Mayer zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Gesundheit werden schriftlich beantwortet.
Ebenso schriftlich beantwortet werden die Fragen 3
und 4 des Kollegen Hans-Joachim Otto zum Geschäfts-
bereich des Bundeskanzleramtes.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeri-
ums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf. Zur
Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Lothar Ibrügger zur Verfügung.
Die Frage 5 des Kollegen Börnsen wird schriftlich
beantwortet.
Ich rufe die Frage 6 der Abgeordneten Anke Hartna-
gel, SPD, auf:
Inwieweit ist die Bundesregierung tätig geworden, um auchvor der Veröffentlichung des Abschlußberichtes zum „Pallas“-Unglück bereits Maßnahmen zu ergreifen, die die Sicherheit inNord- und Ostsee erhöhen?
L
Frau
Kollegin Hartnagel, die Bundesregierung hat nach dem
Unfall der „Pallas“ Maßnahmen ergriffen, um die Si-
cherheit in Nord- und Ostsee zu erhöhen. Von den im
Bericht des BMVBW „Havarie des Frachters ,Pallas‘ in
der Nordsee – Bergung, Schadensbegrenzung und Be-
kämpfung der Ölverschmutzung“ vom 8. März 1999
enthaltenen Schlußfolgerungen wurden einige umgesetzt
bzw. wurde deren Umsetzung eingeleitet:
Erstens. Der Chartervertrag des Hochseeschleppers
„Oceanic“ wurde bis zum Frühjahr 2000 verlängert.
Zweitens. Die Einsatz- und Alarmpläne wurden von
der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung des Bundes
überarbeitet.
Drittens. Der Abstimmungsprozeß hinsichtlich des
verbesserten Zusammenwirkens der Küstenländer und
des Bundes beim Unfallmanagement in der Küstenregi-
on steht vor dem Abschluß.
Viertens. Technische und organisatorische Maßnah-
men: Der Notschleppeinsatz und die Dienstanweisung
der Ortsinstanzen der Wasser- und Schiffahrtsverwal-
tung wurden entsprechend ergänzt. Zur Zeit steht eine
mit den Niederlanden abzuschließende Verwaltungsver-
einbarung über die gegenseitige Unterstützung auf dem
Gebiet der Notschleppkapazität vor dem Abschluß.
Schleppgeschirr: Im Frühjahr 1999 wurden die Mehr-
zweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“ der Wasser-
und Schiffahrtsverwaltung mit leicht handhabbaren,
schwimmfähigen und hochfesten Schleppleinen ausge-
rüstet.
Allwettertaugliche Hubschrauber: Ein Vertrag mit
einer Privatfirma über den Einsatz von Hubschraubern
wird zur Zeit vorbereitet.
Zusätzliche Mannschaften: Der Chartervertrag für
den Hochseeschlepper „Oceanic“ ist um die Bereitstel-
lung zusätzlichen Personals als Bergemannschaft an
Bord ergänzt worden.
Wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin, möchte ich die
zweite Frage gleich mit beantworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann rufe ich auch
Frage 7 auf:
Zu welchen Ergebnissen ist die vom Bundesminister fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen eingerichtete Experten-kommission zur Untersuchung der „Pallas“-Havarie bisher ge-kommen, und bis zu welchem Zeitpunkt ist mit einem Ab-schlußbericht zu rechnen?
L
Über
den Inhalt des Abschlußberichtes der unabhängigen Ex-
pertenkommission über die Havarie der „Pallas“ sowie
über die Art der zu erwartenden Empfehlungen ist noch
nichts bekannt. Der Abschlußbericht mit den Empfeh-
lungen wird dem Bundesministerium für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen Ende Februar 2000 vorgelegt wer-
den, Frau Kollegin Hartnagel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur ersten Zusatzfra-
ge, Frau Kollegin Hartnagel, bitte.
Herr Staatssekretär, vielen
Dank für die Beantwortung meiner beiden Fragen.
Sie haben eben vieles dargestellt. Ich habe eine Zu-
satzfrage. Die Kommandostrukturen und die Kompe-
tenzaufteilung haben sicherlich zum Teil zu Problemen
geführt. Inwieweit ist die Bundesregierung der Meinung,
daß eine bundesdeutsche oder sogar eine europäische
Küstenwache sinnvoll wäre?
L
Frau
Kollegin, die Bundesregierung will im Lichte der Emp-
fehlungen der unabhängigen Kommission auch schluß-
folgern, wie die Zusammenarbeit noch besser organisiert
werden kann.
Der Kern Ihrer Frage berührt allerdings ein ganzes
Bündel unterschiedlichster Bereiche: verfassungs-,
staats- und völkerrechtliche Fragestellungen, aber auch
Fragestellungen zum Verhältnis zwischen den Ressorts
– allein bei der Bundesregierung sind fünf Ressorts be-
7130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
teiligt – sowie zum Verhältnis zu den Ländern und deren
Ressorts. Darauf kann ich Ihnen heute auf Anhieb keine
Antwort geben. Dies wird im Lichte der Empfehlungen
der Kommission von Parlament und Regierung zu erör-
tern sein.
Im Grundsatz zielen wir darauf ab – das habe ich ge-
rade schon am Beispiel Niederlande beschrieben –, mit
Dänemark und den Niederlanden, gleichzeitig aber auch
mit dem gesamten Ostseeraum zu ähnlichen Vereinba-
rungen bzw. Verbesserungen zu kommen, wie wir es im
Westen eigentlich schon gewohnt waren. Hier gilt es
aber, noch Ergänzungen vorzunehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Haben Sie eine
zweite Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall.
Es gibt aber noch eine Zusatzfrage des Kollegen
Hans-Michael Goldmann. Bitte.
Herr Staatsse-
kretär, Sie haben zu Recht gesagt, daß man für viele
Antworten zunächst den Abschlußbericht abwarten muß.
Sie sagten auch, daß dieser Ende Februar vorliegen wird.
Bis man aber Schlüsse aus diesem Bericht ziehen kann,
wird sicherlich noch ein bißchen Zeit ins Land gehen. Ist
sichergestellt, daß der Hochseeschlepper „Oceanic“ über
den von Ihnen genannten Zeitraum hinaus zur Verfü-
gung steht, um eine gewisse Sicherheit in diesem See-
raum zu gewährleisten?
L
Kolle-
ge Goldmann, es wird sichergestellt, daß die Not-
schleppkapazität in der Deutschen Bucht vorgehalten
wird. Wir sind gegenwärtig dabei – Sie kennen ja den
Charterzeitraum für die „Oceanic“; die Charter läuft im
April aus –, europaweite Ausschreibungen vorzuberei-
ten, um eine Anschlußregelung zu gewährleisten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da die Fragen 8 und 9
des Kollegen Dehnel schriftlich beantwortet werden,
rufe ich jetzt die Frage 10 des Kollegen Klaus Hofbauer
auf:
Warum hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau- undWohnungswesen untersagt, die Haushaltsansätze beim Bundes-fernstraßenbau bei Hauptbautiteln für den Straßenbau aus denAnsätzen für nicht einzeln im Bundeshaushalt veranschlagteKleinmaßnahmen zu verstärken?
L
Herr
Kollege Hofbauer, es gibt keine Vorgabe seitens des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen an die Bundesländer, nach der die Haushaltsan-
sätze der Hauptbautitel „Bedarfsplanmaßnahmen“ im
Rahmen der haushaltsmäßigen Deckungsfähigkeit des
Bundesfernstraßenhaushaltes – Kapitel 1210 – nicht ver-
stärkt werden dürfen. Die Möglichkeiten hierzu sind je-
doch auf Grund des zunehmenden Mittelbedarfs für die
Erneuerung und Instandsetzung des vorhandenen Bun-
desfernstraßennetzes eingeschränkt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Hof-
bauer, haben Sie eine Zusatzfrage? – Nein.
Die Frage 11 des Kollegen Hollerith wird ebenfalls
schriftlich beantwortet.
Wir kommen jetzt zur Frage 12 des Kollegen Gehb:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß möglicheLandesbürgschaften für den Transrapid als EU-rechtlich unzuläs-sige Beihilfen anzusehen sind ,und wenn nicht, wie begründet sie dies?
L
Herr
Kollege Gehb, der Bund hat mehrfach erklärt, daß er zu
seiner Zusage, für den Bau der Transrapidtrasse einen
Betrag von 6,1 Milliarden DM bereitzustellen, steht. An-
gesichts der zu erwartenden höheren Kosten haben eini-
ge Bundesländer ihr Interesse bekundet, die Finanzie-
rung durch eigenes Engagement sicherzustellen.
Das Konzept für die Beteiligung einiger Bundesländer
an der Gesamtfinanzierung des Mangnetschnellbahn-
projektes Berlin–Hamburg ist der Bundesregierung noch
nicht bekannt. Sollte es sich dabei um Länderbürgschaf-
ten handeln, wird möglicherweise der EU-rechtliche
Beihilfetatbestand erfüllt. Durch ein Notifizierungsver-
fahren bei der EU-Kommission wäre dann eventuell
festzustellen, ob die Beihilfe auf Grund eines entspre-
chenden Ausnahmetatbestandes mit dem EU-Recht ver-
einbar ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Gehb, bitte,
zur Zusatzfrage.
Ich habe in einer
Presseerklärung gelesen, daß der Verkehrsminister
Klimmt den Vorstoß der Länder begrüße. Die Grünen
halten diesen Vorstoß für unglaublich, der Minister be-
grüßt ihn aber gleichzeitig. Wie wollen Sie vor diesem
Hintergrund eigentlich den von Ihnen eben wieder be-
kundeten Willen, das Projekt Transrapid nicht sterben zu
lassen, mit einem Partner realisieren, der geradezu der
Totengräber dieses Projektes ist?
L
Herr
Kollege Gehb, das bleibt jetzt der weiteren Erörterung
dieses Projekts vorbehalten. Sie wissen, daß Bundesmi-
nister Klimmt die Partner zu einem Gespräch eingeladen
hat und daß man sich darauf verständigt hat, daß im
Frühjahr alle Beteiligten, nämlich Betreiber, Industrie
und Bundesregierung, erneut ihre Schlüsse ziehen, ob
dieses Projekt zu verwirklichen ist. Aber an unserer Ab-
sicht halten wir fest. Es sind drei Partner beteiligt, die je-
der für sich in eigener Verantwortung ihre Entscheidung
zu treffen haben. Die Bundesregierung hat sich erklärt.
Es ist jetzt an den anderen Partnern, sich gleichfalls zu
erklären.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Gehb, die
zweite Zusatzfrage, bitte.
Parl. Staatssekretär Lothar Ibrügger
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7131
(C)
(D)
Herr Staatssekretär,
vor dem Hintergrund der Hilfe für Holzmann frage ich
Sie: Wie sehen Sie die Einschätzung der Grünen in ihrer
Presseerklärung, daß sie das Ganze für einen unglaubli-
chen Vorgang hielten, daß private Projekte öffentlich auf
diese Art und Weise gefördert werden sollten?
L
Herr
Kollege Gehb, zu Pressemitteilungen von Kolleginnen
und Kollegen der Grünen gebe ich für die Bundesregie-
rung keine Erklärung ab.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatz-
frage, Kollege Goldmann, bitte.
Herr Staatsse-
kretär, zu dem angestrebten Koordinierungsgespräch,
das Sie im Hinblick auf die Transrapidfinanzierung an-
sprachen: Sind dabei auch die bürgschaftgebenden Län-
der beteiligt, zum Beispiel Hessen, um die Bürgschaft
Realität werden zu lassen, wenn sie sich als notwendig
erweist?
L
Herr
Kollege Goldmann, angesichts der von Ihnen angespro-
chenen Länder, die mit diesem Projekt seit vielen Jahren
sehr vertraut sind, bin ich sicher, daß sie sich in den di-
rekten Gesprächen mit dem Betreiber, also dem Konsor-
tium, der Industrie, aber auch der Deutschen Bahn AG
informiert haben. Sie sind nicht unmittelbar beteiligt.
Wir warten ab, welches Konzept die Bundesländer, die
ja ein Sondierungsverfahren begonnen haben, ob und in
welcher Weise sie sich beteiligen könnten, ausarbeiten.
Diese Frage zu beantworten ist aber jetzt verfrüht, weil
wir dieses Konzept bisher nicht kennen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Goldmann,
es ist immer nur eine einzige Zusatzfrage für den mög-
lich, der nicht die ursprüngliche Frage gestellt hat.
Die Fragen 13 und 14 des Kollegen Koschyk sowie
die Fragen 15 und 16 des Kollegen Hohmann zum Ge-
schäftsbereich des Auswärtigen Amtes werden schrift-
lich beantwortet.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht der
Herr Parlamentarische Staatssekretär, Fritz Rudolf Kör-
per, zur Verfügung.
Die Frage 17 des Abgeordneten Uhl und die Frage 18
des Kollegen Gerald Weiß werden schriftlich beantwor-
tet.
Ich rufe jetzt die Frage 19 des Kollegen Norbert Hau-
ser auf.
Wie hoch wäre die finanzielle Mehrbelastung des Bundes, diesich aus der vollständigen Angleichung der Besoldung und derGehälter für die Beamten und Arbeitnehmer des öffentlichenDienstes des Bundes mit Dienstsitz in Berlin an das Besoldungs-
und Vergütungsniveau in den alten Bundesländern ergeben wür-de, und sind der Bundesregierung Zahlen für das BundeslandBerlin bekannt, aus denen sich ein unterschiedlicher Preisstan-dard für den West- und Ostteil der Stadt ergibt, der eine unter-schiedliche Bezahlung der Beamten und Angestellten des öffent-lichen Dienstes des Bundes in Berlin rechtfertigt?
F
Herr Kollege Hauser, ich ant-
worte wie folgt: Die finanzielle Gesamtbelastung der
vollen Anpassung des Tarifgebietes Ost, nach der Sie
fragen, würde nach unseren Schätzungen rund 9 Milliar-
den DM betragen. Davon entfielen ungefähr 700 Millio-
nen DM auf den Bund. Allein für Berlin würden sich für
den Bund zusätzliche Kosten in Höhe von zirka 100
Millionen DM ergeben.
Das Preisniveau ist für die weitere Anpassung der Be-
zahlung in Ostdeutschland nach unserer Auffassung
nicht der ausschlaggebende Faktor. Entscheidend ist die
gesamtwirtschaftliche Entwicklung im gesamten Tarif-
gebiet Ost. Nur in diesem Rahmen kann innerhalb und
außerhalb des öffentlichen Dienstes eine weitere Anpas-
sung der Gehälter und Löhne erfolgen. Bekanntlich liegt
das Niveau der Effektivlöhne im Osten im gewerblichen
Bereich bei zirka 75 Prozent der Westbezahlung.
Es darf auch nicht übersehen werden, daß Arbeitneh-
mern des öffentlichen Dienstes im Osten derzeit netto
– darauf dürfte es ankommen – durchschnittlich 95 Pro-
zent ihres Gehaltes verbleiben. Wenn man also einen
Vergleich herstellt, muß man immer die Differenz zwi-
schen Brutto- und Nettolohn beachten. Das liegt an den
geringeren Abzügen insbesondere durch die Zusatzver-
sorgung. In Einzelfällen werden heute bereits 100 Pro-
zent überschritten. Bei Beamtinnen und Beamten lie-
gen die Nettobeträge steuerlich bedingt ebenfalls über
86,5 Prozent, nämlich bei durchschnittlich rund 90 Pro-
zent.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hauser, eine
Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsse-
kretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bun-
desregierung nicht beabsichtigt – weder im gesamten
Gebiet der neuen Bundesländer noch in Berlin –, eine
Angleichung vorzunehmen? Daran möchte ich die Frage
anknüpfen: Hat die Bundesregierung Erkenntnisse dar-
über, daß die Unterschiede in der Bezahlung in Berlin
– denen die Mitarbeiter des Bundestages dadurch ent-
gangen sind, daß wir eine Westadresse haben –, in den-
selben Büros, am selben Schreibtisch, zu Reibungsverlu-
sten, also zu negativen Auswirkungen auf das Arbeits-
klima, geführt haben?
F
Herr Kollege Hauser, zu Ihrer
letzten Frage kann ich sagen: Es liegen keine Erkennt-
nisse darüber vor, daß dies zu „Reibereien“ geführt hätte.
Daß dies im Einzelfall eine unbefriedigende Situation
sein kann, brauche ich Ihnen nicht näher zu erläutern. Da
sprechen die Tatsachen eine deutliche Sprache.
7132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Ich glaube, es ist wichtig, in dem Zusammenhang Ih-
rer ersten Frage darauf hinzuweisen, daß das nicht nur
und nicht in erster Linie eine Frage des Bundes und der
Bundesregierung ist. Deswegen haben Sie ja auch nach
den Fakten gefragt, und ich habe Ihnen diese genannt: Es
würde sich um eine Größenordnung von 9 Milliarden
DM handeln, wobei 8,3 Milliarden DM auf die Bundes-
länder und die Gemeinden entfallen würden. Von diesem
Aspekt her ist dies für den Bund das kleinere Problem.
Ich wäre ganz dankbar, wenn Sie Ihre Kolleginnen und
Kollegen ermuntern könnten, beispielsweise im Landtag
von Sachsen eine ähnliche mündliche Anfrage zu stellen.
Denn Sie kennen die Stellungnahmen aus diesen Län-
dern. Sie machen die Schwierigkeit deutlich. Letztend-
lich wird diese Frage bei den Tarifverhandlungen eine
Rolle spielen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Peter Dreßen.
Herr Staatssekretär, welche
Möglichkeiten hätte denn die alte Bundesregierung ge-
habt, diese Angleichung vorzunehmen? Können Sie mir
sagen, warum die alte Regierung das nicht verwirklicht
hat, jetzt aber nach 13 Monaten diese Forderung stellt?
Gibt es dafür irgendwelche Beweggründe?
F
Lieber Herr Kollege Dreßen, ich
habe den Eindruck, daß manche Forderung ganz wesent-
lich dadurch beeinflußt ist, welche Rolle man nun ein-
nimmt. Sie haben völlig recht: Es gäbe dieses Problem
nicht, wenn die alte Bundesregierung es beseitigt hätte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt kommen wir zur
Frage 20 des Kollegen Norbert Hauser:
Hält es die Bundesregierung für politisch sinnvoll, für dieBeamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes in Berlineine unterschiedliche Bezahlung vorzunehmen, obwohl das LandBerlin bereits 1995 auf diese Trennung verzichtet hat?
F
Herr Kollege Hauser, es ist un-
zutreffend, daß das Land Berlin seinen Beamten und Ar-
beitnehmern jeweils 100 Prozent Westbezüge zahlt.
Vielmehr gilt auch für das Land Berlin die 2. Besol-
dungs-Übergangsverordnung, wonach den 13 000 Beam-
tinnen und Beamten im Ostteil Berlins 86,5 Prozent ge-
zahlt werden. Berlin zahlt seinen Arbeitnehmern im
Osten seit Oktober 1996 100 Prozent. Berlin wurde we-
gen dieser Entscheidung – ich weiß nicht, ob Ihnen das
bekannt ist – aus den Arbeitgeberverbänden ausge-
schlossen.
– Es ist so, wie ich es gesagt habe, Kollege Niebel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Nachfrage des
Kollegen Hauser, bitte.
Herr Staatsse-
kretär, könnte die Tatsache, auf die der Kollege Dreßen
hingewiesen hat – daß die alte Bundesregierung eine ent-
sprechende gesetzliche Regelung nicht vorgelegt hat –,
auch damit zusammenhängen, daß sich der Umzug von
Bonn nach Berlin erst im Laufe dieses Jahres vollzogen
hat und daß sich die Probleme am Arbeitsplatz Berlin
erst in diesem Jahr gestellt haben?
F
Das kann ich verneinen; denn
das Problem, das sich durch den Umzug stellt, war be-
kannt.
Ich weise noch einmal mit Ernst darauf hin, daß das
Ganze nicht nur eine Frage der Bundesregierung ist,
sondern ganz wesentlich auch der anderen Beteiligten,
insbesondere der betroffenen Bundesländer und Ge-
meinden.
Einen solchen Beschluß, wie den des Landes Berlin
1996, zu fassen ist relativ einfach, vor allem, wenn man
andere heranziehen will, um diese Entscheidungen und
Beschlüsse zu finanzieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hauser, bitte
noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatsse-
kretär, müssen wir davon ausgehen, daß die Bundesre-
gierung – abgesehen von dem Hinweis, wir möchten in
gewissen Landtagen ähnliche Anfragen stellen – ihrer-
seits keine Versuche unternimmt, um dieses Problems
Herr zu werden, und auch nicht darüber nachdenkt, aus-
zuloten, ob es möglicherweise Sonderregelungen auf
diesem Sektor speziell für Berlin geben könnte, da dieses
Problem speziell bei den Mitarbeitern des Bundes in
Berlin auftaucht?
F
Herr Hauser, wenn ich mich
richtig erinnere, gibt es eine Frage zu der besonderen
Situation Berlins. Ich denke, eine isolierte Entscheidung
in dieser Frage ausschließlich für Berlin wäre ein fal-
scher Weg. Wir müssen vielmehr die Entwicklung in
dem gesamten Bereich beobachten. Ich bin mir sicher
– das werden Sie genausogut wissen wie ich –, daß dies
bei den anstehenden Tarifverhandlungen eine Rolle
spielen wird.
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Wir spielen hier
nur eine Rolle im Zusammenhang mit der finanziellen
Belastung insgesamt. Die Fakten und Zahlen sprechen
hier eine klare Sprache.
Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Köper
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7133
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir kommen jetzt zu
den Fragen 21 und 22 des Kollegen Siegfried Helias. –
Der Kollege ist nicht im Saal.
Ich rufe die Frage 23 der Abgeordneten Edeltraut
Töpfer auf:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, dass bereitsProbleme in den Bundesministerien und -behörden aufgrund derunterschiedlichen Bezahlung zwischen den Kollegen aus denneuen und alten Bundesländern auftreten?
F
Diese Frage habe ich im Grunde
genommen schon vorhin im Dialog mit dem Kollegen
Hauser beantwortet. Ich will es hier aber noch einmal
deutlich sagen: Probleme bei der fachlichen und persön-
lichen Zusammenarbeit zwischen Kolleginnen und Kol-
legen aus den alten und den neuen Ländern auf Grund
der derzeit unterschiedlichen Gehälter sind der Bundes-
regierung nicht bekannt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Zusatzfrage der
Kollegin Töpfer, bitte sehr.
Ist geplant, hinsicht-
lich der Bundeswehr im Verteidigungshaushalt Ände-
rungen in Richtung einer Angleichung vorzunehmen?
Dort sind die Unterschiede ganz massiv. Teilweise be-
kommen die gleichen Bundeswehrsoldaten von heute auf
morgen unterschiedliche Gehälter, je nachdem, wo sie
stationiert sind. Wie sieht das in diesem Bereich aus?
F
Hinsichtlich der Auslandseinsät-
ze im Bereich der Bundeswehr haben wir eine Klärung
herbeigeführt.
– Nein. Herr Hauser, ich habe gesagt, was geregelt ist.
Im übrigen verweise ich darauf, Frau Kollegin Töpfer,
daß alle Regelungen ausschließlich für diesen Bereich
im Grunde genommen in eine Sackgasse führen müssen.
Wir müssen das Problem in Gänze beobachten. Wir
müssen es mit den Tarifpartnern besprechen. Wir müs-
sen auch eines deutlich machen, nämlich daß wir gerade
im öffentlichen Dienst nicht auf einer Insel der Glückse-
ligen leben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rufe die Frage 24
des Kollegen Norbert Geis auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung hinsichtlichdes Verdachtes auf Verstoß gegen Geheimhaltungsvorschriftenim Zusammenhang mit Entscheidungen des Bundessicherheits-rates seit der Behandlung in der Fragestunde vom 3. November1999 ergriffen?
F
Herr Kollege Geis, Sie haben zu
diesem Themenkomplex mehrere Fragen gestellt. Ich bin
leider nur für eine Frage zuständig, die ich Ihnen ganz
kurz beantworten möchte: Im Rahmen einer vertrauli-
chen Sitzung haben sich die Beteiligten erneut über es-
sentielle Grundsätze der Verschlußsachenanordnung,
abgekürzt VSA, verständigt. Wegen der Vertraulichkeit
der Sitzung sind mir Angaben zu weiteren Maßnahmen
nicht möglich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann rufe ich den
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf.
Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staats-
sekretär Professor Dr. Eckhart Pick zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Norbert Geis
auf:
Ist mit dem Verdacht des Geheimnisverrats im Zusammen-hang mit Entscheidungen des Bundessicherheitsrates wegenKriegswaffenexporten inzwischen eine Staatsanwaltschaft be-faßt?
D
Herr Kollege Geis, ich darf Ihre
Frage wie folgt beantworten: Der Bundesregierung ist
nicht bekannt, daß eine Staatsanwaltschaft bereits damit
befaßt ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann rufe ich die
Frage 26 des Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten auf:
Welches ist im Hinblick auf den Verdacht auf Verstoß gegenGeheimhaltungsvorschriften im Zusammenhang mit Entschei-dungen des Bundessicherheitsrates der für eine etwaige Erteilungder Verfolgungsermächtigung gemäß § 353b Strafgesetzbuch(StGB – Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonde-ren Geheimhaltungspflicht) zuständige bzw. federführende Bun-desminister?
D
Herr Kollege von Stetten, ich
darf folgendermaßen antworten: Zuständig für die Er-
mächtigung zur Strafverfolgung nach § 353 b Abs. 4 des
Strafgesetzbuches ist die oberste Bundesbehörde, in de-
ren Bereich der Täter bei Erlangung des Geheimnisses
tätig war.
Auf die Herkunft des Geheimnisses oder die Dienst-
herreneigenschaft zur Zeit der Tat kommt es nicht an.
Vielmehr wird darauf abgestellt, welcher Behörde ge-
genüber die Verpflichtung zur Geheimhaltung besteht.
Diese Zuständigkeit für die Erteilung der Ermächtigung
bleibt auch bestehen, wenn der Täter aus dem Dienst
ausscheidet oder in einen anderen Dienstbereich wech-
selt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rufe die Frage 27
des Kollegen von Stetten auf:
Sieht die Bundesregierung im Falle des Verdachtes einesVerstoßes gegen § 353 b StGB in diesem Zusammenhang dieVerpflichtung, dem Verdacht einer Straftat nachzugehen bzw.nachgehen zu lassen?
7134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
D
Herr Kollege von Stetten, zu-
ständige Verfolgungsbehörde im Falle des Verdachts
einer Straftat ist die Staatsanwaltschaft, die dem Legali-
tätsprinzip verpflichtet ist. Die Einleitung eines staats-
anwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ist von Amts
wegen möglich. Ist der Täter unbekannt, kann die Staats-
anwaltschaft die Ermittlungen zunächst ohne die Verfol-
gungsermächtigung nach § 353b Abs. 4 StGB aufneh-
men.
Gerät eine bestimmte Person in Verdacht, ist die Er-
mächtigung von Amts wegen bei der zuständigen ober-
sten Bundesbehörde einzuholen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Zusatzfrage
bitte, Herr Kollege von Stetten.
Herr Kollege, hat die Bundesregierung irgend etwas un-
ternommen, daß Ermittlungen eingeleitet wurden, viel-
leicht eine Anzeige gegen Unbekannt oder ähnliches?
D
Mir ist nicht bekannt, daß die
zuständige oberste Bundesbehörde in dieser Angelegen-
heit in der von Ihnen angesprochenen Weise tätig ge-
worden ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite Zusatzfrage,
bitte, Herr Kollege.
Ich habe nicht nach der obersten Bundesbehörde gefragt,
sondern ob die Bundesregierung als solche irgendwelche
Maßnahmen ergriffen hat.
D
Ich darf Sie noch einmal auf
den Wortlaut des § 353b Abs. 4 des Strafgesetzbuches
hinweisen. Dort ist von der obersten Bundesbehörde die
Rede. Diese ist zuständig, nicht die Bundesregierung als
solche.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir kommen zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen.
Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatsse-
kretärin Dr. Barabara Hendricks zur Verfügung.
Die Fragen 28 und 29 des Kollegen Hinsken werden
schriftlich beantwortet.
Deshalb rufe ich jetzt die Frage 30 des Kollegen Hof-
bauer auf:
Ist der Vertrag zwischen der Republik Tschechien und derBundesrepublik Deutschland über den Bau einer zweiten Stra-ßenbrücke am Grenzübergang Furth i. W. abgeschlossen und,wenn ja, wann ist mit dem Beginn der Baumaßnahme zu rech-nen?
D
Herr Kollege Hofbauer,
der Vertrag ist noch nicht unterzeichnet. Der deutsche
Gegenentwurf, der im wesentlichen mit dem tschechi-
schen Vorentwurf identisch ist, wurde dem tschechi-
schen Ministerium für Verkehr und Fernmeldewesen
Anfang November dieses Jahres übermittelt.
Im Interesse eines frühestmöglichen Baubeginns der
Grenzbrücke sollen die Bestimmungen des Vertrags be-
reits ab dem Tag seiner Unterzeichnung und damit noch
vor seinem Inkrafttreten nach Maßgabe des jeweiligen
innerstaatlichen Rechts vorläufig angewandt werden.
Soweit die tschechische Seite dem deutschen Vor-
schlag zustimmt, eine etwa noch erforderliche Experten-
besprechung auf den Sprachenvergleich zu beschränken,
wäre die Vertragsunterzeichnung kurzfristig möglich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Hofbauer,
bitte, Ihre Zusatzfragen.
Frau Staatssekretärin,
Sie stimmen mir, glaube ich, zu, daß es hier ganz erheb-
liche Verzögerungen gibt, die unverständlich sind. Kön-
nen Sie mir die Verzögerungen sagen und die Hinter-
gründe aufzeigen, warum es so lange dauert, diesen
Vertragsabschluß zu vollziehen?
D
Zunächst, Herr Kollege
Hofbauer, kann ich Ihnen sagen, daß wir davon ausge-
hen, daß das Bauvorhaben noch im Jahre 2000 fertigge-
stellt wird. Es gab aber Probleme mit dem Arbeitsrecht
der tschechischen und der deutschen Seite. Es hat Ab-
stimmungsnotwendigkeiten zwischen der tschechischen
und der deutschen Seite gegeben, welches Arbeitsrecht
auf welcher Seite wie angewandt werden sollte. Das hat
zu diesen Verzögerungen geführt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rufe die Frage 31
der Kollegin Gudrun Kopp auf:
Auf welche Artikel des EG-Vertrages hat sich dieBundesregierung in ihrem Schreiben an die EU-Kommission imZusammenhang mit der Sanierung der Philipp Holzmann AG be-rufen?
D
Frau Kollegin Kopp, die
Bundesregierung hat eine Genehmigung der für die
Philipp Holzmann AG vorgesehenen Beihilfen auf der
Grundlage des Art. 87 Abs. 3c des EG-Vertrages in Ver-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7135
(C)
(D)
bindung mit den Leitlinien der Gemeinschaft für staatli-
che Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung von
Unternehmen in Schwierigkeiten beantragt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollegin Kopp, Ihre
Zusatzfragen, bitte.
Frau Staatssekretärin, gibt es
bestimmte Auflagen – Sie zitierten eben einen Artikel –,
die mit einer solchen Genehmigung verbunden sind, und,
wenn ja, würden Sie uns diese bitte nennen?
D
Ja, in dem Artikel heißt es
folgendermaßen:
Als mit dem gemeinsamen Markt vereinbar können
angesehen werden Beihilfen zur Förderung der
Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder
Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedin-
gungen nicht in einer Weise verändern, die dem
gemeinsamen Interesse zuwiderläuft.
Das ist die Grundsatzbedingung, die beachtet werden
muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zweite Zusatzfrage,
Kollegin Kopp, bitte.
Beurteile ich es richtig, daß
dieser Artikel, auslegungsfähig ist: Was ist zur Unter-
stützung nötig oder was nicht? Ist das also, wie man sa-
lopp sagen könnte, ein Gummiparagraph?
D
Es ist natürlich kein
Gummiparagraph, aber wie jeder Rechtsgegenstand ist er
natürlich auslegungsfähig.
Die Notifizierung, die die Bundesrepublik Deutsch-
land über ihre Ständige Vertretung am 10. Dezember der
EU-Kommission zugeleitet hat, ist als Umstrukturie-
rungsbeihilfe angemeldet worden, was im Rahmen des
von mir eben genannten Artikels des EG-Vertrages
möglich ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Solms, eine
weitere Zusatzfrage, bitte.
Frau Kollegin,
wie wird die Bundesregierung darauf reagieren, wenn
– was nicht ganz unerwartet wäre – die Europäische
Kommission Einwendungen gegen diese Art der Sub-
ventionierung eines Einzelbetriebes hat?
D
Herr Kollege Solms, zu-
nächst gibt es dieses Instrument der Umstrukturierungs-
beihilfe ja ausdrücklich, und die Bundesregierung ist da-
von überzeugt, daß es sich in diesem Zusammenhang
eben um eine solche handelt und daß es deswegen auch
genehmigungsfähig ist.
Selbstverständlich ist nicht vollständig auszuschlie-
ßen, daß die EU-Kommission zu einer anderen Auffas-
sung kommt. Die Notifizierung läuft ja, wie Sie wissen,
immer so, daß zunächst angemeldet wird und die EU-
Kommission natürlich noch Rückfragen stellen und auch
weitere Bedingungen formulieren kann, so daß die Bun-
desregierung in diesem Fall dann dazu veranlaßt wäre,
die weiteren Rückfragen der EU wohl hoffentlich zur
vollständigen Zufriedenheit zu beantworten. Deswegen
sind wir zuversichtlich, daß die Genehmigung am Ab-
schluß dieses Verfahrens stehen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt eine weitere
Zusatzfrage des Kollegen Goldmann.
Frau Staatsse-
kretärin, können Sie vielleicht einmal an einem Beispiel
aus Vergleichsfällen im europäischen Raum darlegen,
welcher Art solche Auflagen sein könnten?
D
Herr Kollege Goldmann,
es tut mir leid, ich kann aus dem Kopf Vergleichsfälle
aus dem europäischen Raum nicht zitieren. Ich bin aber
gerne bereit, jedenfalls zu versuchen, dies beizutragen,
sofern uns solche Vergleichsfälle zugänglich sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir kommen zur
Frage 32 der Kollegin Gudrun Kopp.
Liegt mittlerweile eine Genehmigung der EU für die Sub-ventionen der Bundesregierung an die Philipp Holzmann AGvor, und wann ist mit einer Zustimmung der EU zu rechnen?
D
Frau Kollegin Kopp, eine
Genehmigung der Europäischen Kommission hinsicht-
lich der in Aussicht gestellten Hilfen des Bundes liegt
bis jetzt nicht vor. Die Bundesregierung hat die nach
europäischem Recht erforderliche Anmeldung der Bei-
hilfen in der letzten Woche – ich sagte es eben schon –,
am 10. Dezember, bei der Europäischen Kommission
eingereicht. Die Bundesregierung wird alle Anstrengun-
gen unternehmen, um der Europäischen Kommission
eine möglichst rasche Entscheidung zu ermöglichen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Zusatzfrage,
bitte, Frau Kollegin.
Stimmen Sie der Beurtei-
lung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank zu,
der gesagt hat, daß diese Unterstützung der Philipp
Holzmann AG eine Belastung für den Euro darstellen
könnte?
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
7136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
D
Ich will die Aussagen des
Präsidenten der Europäischen Zentralbank in diesem öf-
fentlichen Raum nicht werten. Es ist, glaube ich, eine
gute Übung, wenn sich Politiker mit Wertungen der
Äußerungen von Vertretern entweder der Nationalban-
ken oder jetzt der Europäischen Zentralbank zurückhal-
ten, aber umgekehrt wäre es sicher genausogut.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollegin Kopp,
zweite Zusatzfrage.
Eine zweite Frage, die Sie
sicher aus Ihren eigenen Reihen beantworten können: Ist
die Bundesregierung auch im nachhinein der Ansicht,
daß diese zugesagte Beihilfe erforderlich war, oder se-
hen Sie nicht im Rückblick auch, daß es die Möglichkeit
gegeben hätte, die jetzt in Rede stehenden Gelder im
Rahmen des Sanierungsplans von Banken oder anderen
Geldgebern aufzubringen?
D
Ich will, Frau Kollegin
Kopp, nicht vollständig ausschließen, daß dies hätte
möglich sein können – wir reden da sehr im Konjunk-
tiv –, aber die Bundesregierung ist auch zum jetzigen
Zeitpunkt davon überzeugt, daß die von ihr ergriffenen
Maßnahmen richtig und zielführend sind. Sie hat gerade
durch ihre Bereitschaft signalisiert, daß sie den Banken
nicht zuviel zumuten will. Es ist überhaupt nicht von der
Hand zu weisen, daß die Banken in großem Umfang zur
Sanierung des Konzerns beitragen. Die Bundesregierung
wollte ihrerseits das notwendige Signal nicht verwei-
gern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Solms, eine
Zusatzfrage, bitte.
Hinsichtlich
Ihrer Bewertung bzw. Nichtbewertung der Aussagen des
Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Wim Dui-
senberg, möchte ich Sie fragen, ob Sie es für einen rei-
nen Zufall halten, daß im Zusammenhang mit der Inter-
vention des Bundeskanzlers zugunsten der Sanierung
eines einzelnen Unternehmens, die möglich oder nicht
möglich sein kann, der Euro auf einen historischen
Tiefstand gefallen ist. Das ist ja nun einmal eine Tatsa-
che.
D
Herr Kollege Solms, diese
zeitliche Koinzidenz vermag ich nicht zu bewerten. Es
handelt sich in der Tat um eine zeitliche Koinzidenz. Es
steht uns nicht zu, die Kausalität zu bewerten. Ich denke,
hier ist Zurückhaltung geboten. Aber prinzipiell sollte
man von einem ausgehen: Die reine marktwirtschaftli-
che Lehre gibt es in dem Wirtschaftssystem, in dem wir
arbeiten, nicht. Wenn es tatsächlich immer nur nach der
reinen marktwirtschaftlichen Lehre ginge, dann dürften
alle diejenigen, die jetzt die Fahne dieser Lehre hoch-
halten, zum Beispiel auch nicht für öffentliche Bürg-
schaften im Rahmen des Auslandsgeschäfts eintreten.
Dies müßte dann auch nach den Regeln der reinen
marktwirtschaftlichen Lehre ablaufen. Seltsamerweise
haben sich alle Unternehmen, die sich jetzt in dieser
Weise äußern, noch nie dagegen gewehrt, Hermes-
verbürgte Geschäfte im Ausland zu machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Funke,
eine Zusatzfrage.
Frau Kollegin, Sie haben
den Antrag an die Europäische Kommission auf der
Grundlage des alten Konzeptes für die Sanierung der
Philipp Holzmann AG gestellt. Inzwischen ist evident,
daß dieses Sanierungskonzept nicht mehr gültig ist und
daß es sogar in wesentlichen Teilen verändert werden
muß. Wird Ihr Antrag auf Beihilfe an die Europäische
Kommission geändert werden müssen und – wenn ja –
wie?
D
Darf ich Sie zunächst fra-
gen, worin Sie diese Evidenz begründet sehen, Herr
Kollege?
Ich sehe die Evidenz in der
Aussage des Vorstandsvorsitzenden der Commerzbank
AG, die maßgeblich an der Philipp Holzmann AG betei-
ligt ist, begründet, daß das jetzige Sanierungskonzept
nicht mehr schlüssig sei.
D
Wenn der Vorstandsvor-
sitzende der Commerzbank AG dies so gesagt hat, mag
man bitte nicht vergessen, daß die Commerzbank in we-
sentlichem Maße an einem Konkurrenten der Philipp
Holzmann AG beteiligt ist, nämlich an Hochtief. Es mag
dies also eine interessengeleitete Aussage sein. Ich
möchte nicht behaupten, daß es so ist. Aber ich kann
nicht völlig ausschließen, daß es so ist.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß das vorlie-
gende Sanierungskonzept von mehreren Unternehmens-
beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften te-
stiert worden ist. Sollte tatsächlich die Notwendigkeit
bestehen, Wesentliches zu ändern, dann sind wir natür-
lich bereit, dies der EU-Kommission zu melden. Bis
jetzt gibt es keinen Anlaß dazu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Zusatz-
frage stellt der Kollege Konrad Gilges.
Ich frage die Bundesregie-
rung, ob sie meine Meinung teilt, daß an Hand der Zu-
satzfragen der F.D.P.-Abgeordneten deutlich wird, daß
es ihnen eigentlich lieber gewesen wäre, wenn 60 000
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesre-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7137
(C)
(D)
publik arbeitslos geworden wären und wenn es eine
Katastrophe für viele Menschen gegeben hätte, als die
Rettung des Konzerns durch die Mithilfe der Bundesre-
gierung und insbesondere des Bundeskanzlers, was
wahrlich sehr schwierig war, weil dieser Konzern vor
einer selbstverschuldeten Beinahepleite stand. Aber
manchmal gehen die Interessen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer denen des Kapitals vor.
D
Herr Kollege Gilges, die
Ihrer Frage zugrundegelegte Analyse teile ich. Welche
Zielrichtung die F.D.P. verfolgt, vermag ich für die
Bundesregierung nicht zu beurteilen. Allerdings ist dar-
auf hinzuweisen, daß die Bundesregierung zum über-
wiegenden Teil zugunsten mittelständischer Unterneh-
men eingegriffen hat. Deswegen war es sicherlich ge-
rechtfertigt, so zu handeln.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Doris
Barnett, Ihre Zusatzfrage, bitte.
Ich frage die Frau Staatsse-
kretärin: Gewährt nur die Bundesregierung in Bedräng-
nis geratenen Unternehmen Beihilfen? Oder können Sie
sich vorstellen, daß auch das Land Hessen eine Beihilfe
hätte gewähren können? Hätten dann nicht auch die
Kriterien der EU-Kommission gegolten?
D
Solche Beihilfen können
selbstverständlich auch Bundesländer gewähren. Ich
kann nicht beurteilen, ob das Land Hessen Beihilfen in
der Größenordnung hätte gewähren können, wie es der
Bund getan hat. Aber alle Beihilfen – auch die der Bun-
desländer – müssen von der EU genehmigt werden. Eine
ganze Reihe von vergleichbaren Aktionen der Länder
gehen weit über das hinaus, was die Bundesregierung
jetzt getan hat. Ich erinnere an den Fall Maxhütte, in
dem das Land Bayern die Hütte kurzerhand gekauft hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Frage
vom Kollegen Dirk Niebel.
Frau Staatssekretärin, die Aus-
gangsfrage war, inwieweit das Sanierungskonzept von
der Europäischen Union genehmigungsfähig ist. Da nun
absehbar ist, daß das Sanierungskonzept nicht haltbar
sein wird und daß auch die Zahl der Arbeitskräfte nicht
gehalten werden kann – wir hören heute von 5 000 Ar-
beitsplätzen, die wegfallen; bisher waren 3 000 im Ge-
spräch –, und da am Freitag die Industriegewerkschaft
Bau-Steine-Erden – so heißt sie, glaube ich, mittler-
weile –
von Herrn Wiesehügel entscheiden wird, ob dieses Sa-
nierungskonzept mit dem Eigenanteil der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer nach ihrem Dafürhalten über-
haupt rechtmäßig ist – sie entscheidet darüber, obwohl
Herr Wiesehügel bei dem Kanzlerspektakel dabei gewe-
sen ist –, möchte ich gern von Ihnen wissen, inwieweit
die Bundesregierung ihren Eigenanteil am Sanierungs-
konzept eventuell noch verändern wird, wenn diese Zahl
der Arbeitskräfte und wenn der Eigenanteil der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr möglich
sind.
D
Herr Kollege Niebel, zu-
nächst möchte ich einige in Ihrer Frage enthaltenen Un-
terstellungen zurückweisen. Wie ich auf die Frage des
Kollegen vorhin schon ausgeführt habe, ist es nicht so,
daß das Sanierungskonzept nicht mehr tragfähig sei.
Wenn sich Änderungen ergeben sollten, so würde das
natürlich gegenüber der EU-Kommission gemeldet wer-
den. Aber daß das Sanierungskonzept nicht mehr tragfä-
hig sei, weise ich zurück. Dies ist nicht der Fall. Herr
Kollege, es ist nicht gut, wenn dies im öffentlichen
Raum dieses Parlamentes so behauptet wird; denn – wie
der alte Hermann Abs immer gesagt hat – Geld ist ein
scheues Reh. Man sollte als Parlamentarier nicht dazu
beitragen, daß es in die falsche Richtung läuft.
Darüber hinaus ist die Behauptung, daß 5 000 Ar-
beitsplätze wegfallen würden, durch eine Sprecherin der
Philipp Holzmann AG zurückgewiesen worden. Diese
Sprecherin hat heute ausdrücklich erklärt, daß es sich,
wie bisher immer angegeben, um 3 000 Arbeitsplätze
handelt und daß weitere 1 800 oder 1 900 Arbeitsplätze
durch den Verkauf von Tochtergesellschaften in andere
Hände gehen, also aus dem Konzern ausscheiden, ohne
als Arbeitsplätze wegzufallen.
Wenn Sie im übrigen auf einen Bericht meines Kol-
legen Karl Diller an den Haushalt- und an den Wirt-
schaftsausschuß dieses Hauses Bezug nehmen, dann darf
ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dieser mit
„vertraulich – nur für den Dienstgebrauch“ gekenn-
zeichnet worden ist. Ich möchte Sie bitten, in Ihrem
eigenen Interesse, darauf keinen Bezug zu nehmen. Ich
könnte sowieso nicht darauf antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Fragesteller
ist der Kollege Uwe Jens.
Frau Staatssekretärin, die
Vermutung, daß der Wechselkurs zwischen Euro und
Dollar durch die Sanierungsbemühungen der Bundesre-
gierung negativ tangiert wurde, wurde nicht nur vom
Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Herrn Dui-
senberg, sondern auch vom Präsidenten des Bundesver-
bandes deutscher Banken, Herrn Kohlhaussen, geäußert.
Ich darf hinzufügen: Ich halte das wirklich für eine
etwas gewagte Vermutung und für höchst zweifelhaft.
Konrad Gilges
7138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Ich wollte Sie fragen: Können Sie sich vorstellen, wie
der Wechselkurs tangiert worden wäre, wenn der Kon-
kurs eingetreten wäre und 60 000 Arbeitnehmer zusätz-
lich auf die Straße gekommen wären? Hätte das mögli-
cherweise auch Auswirkungen auf den Wechselkurs
zwischen Euro und Dollar gehabt? Wenn ja, welche
hätte es gehabt?
D
Herr Kollege Jens, es ist
jedenfalls nicht auszuschließen, daß ein solch großer
Konkurs auch Einfluß auf die Wechselkursparität aus-
geübt hätte. Wie und in welcher Art und Weise dies ge-
schehen wäre, vermag ich nicht einzuschätzen. Aber
keinesfalls hätte es zu einem Anstieg des Euro geführt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Frage, Kol-
lege Weiermann, bitte.
Frau Staatssekretärin,
Sie wissen, daß es schon in den letzten Jahren unter der
Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. vielfach Insolven-
zen gegeben hat, deren volkswirtschaftlicher Schaden
jährlich mehr als 60 Milliarden DM betragen hat. Ist es
angesichts dieser Realität der vergangenen Jahre nicht
zwingend notwendig, daß sich der Staat, wie durch die
jetzige Bundesregierung geschehen, stärker, als es in der
Vergangenheit geschehen ist, für die Gesundung der
wirtschaftlichen Abläufe engagiert?
D
Herr Kollege Weiermann,
es ist selbstverständlich richtig, daß die Bundesregierung
bei der Philipp Holzmann AG eingegriffen hat. Das steht
nicht in Frage. Ich darf in dem Zusammenhang aber dar-
auf hinweisen, daß wir auf den normalen Instrumenten-
kasten der Wirtschafts- und Finanzpolitik des Bundes
zurückgegriffen haben: einen Kredit der Kreditanstalt
für Wiederaufbau, die, wie wir alle wissen, eine bundes-
eigene Bank ist, und die Verbürgung eines Kredites. Das
sind völlig selbstverständliche Instrumentarien. Darauf
muß in diesem Zusammenhang hingewiesen werden,
weil die Bürgerinnen und Bürger durch die Fragen der
F.D.P. so verunsichert sind, daß sie dieses vielleicht
nicht mehr wissen. Es handelt sich jedenfalls nicht um
Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, die für diesen ver-
loren sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Gold-
mann, Ihre Frage bitte.
Geschätzte Frau
Staatssekretärin, können Sie mir erklären, wie es kommt
– Sie äußerten in diesem Zusammenhang ja einen Vor-
wurf gegen meinen Kollegen Niebel –, daß
– skandalöser Einwurf – der Bericht an den zuständigen
Ausschuß des Bundestages von Ihrem Kollegen, Herrn
Finanzstaatssekretär Karl Diller, in dem von einem „Ka-
pazitätsabbau in Deutschland durch Verminderung der
Allgemeinen Zeitung“ nach einer ADN-Meldung vor-
liegt?
Die Sperrfrist war 5 Uhr, es war aber eine Arbeitslei-
stung von Dienstag, und nicht mehr vom heutigen Tag.
Somit müßte das auch Ihrem Hause bekannt sein.
D
Herr Kollege, der Bericht
– ich habe ihn dabei, auch wenn ich nicht aus ihm zitie-
ren darf, weil er ja vertraulich ist –
ist mit Datum vom 7. Dezember – also vor 8 Tagen –
den zuständigen Ausschüssen, nämlich dem Haus-
haltsausschuß und dem Wirtschaftsausschuß, mit der
Kennzeichnung „VS – vertraulich“ zugegangen. Wenn
man die Mitglieder des Haushalts- und Wirtschaftsaus-
schusses summiert, kommt man nach meiner Kenntnis
auf zirka 75 Personen. Hier mag es irgendwo eine un-
dichte Stelle geben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kolb,
Ihre Frage bitte.
Frau Staatssekretärin,
Sie haben davon gesprochen, daß man bei der Hilfe auf
den ganz normalen Instrumentenkasten zurückgegriffen
habe. Da Sie den KfW-Kredit angesprochen haben,
möchte ich Sie fragen, ob dieser auch ganz normal durch
Sicherheiten gedeckt ist. Wenn ja, in welchem Umfang
und wie ist das geschehen?
D
Herr Kollege, ich bin da
überfragt. Ich weiß nicht, ob diese Frage mein Kollege
Mosdorf beantworten könnte. Ich gehe aber davon aus,
daß dieses auf die übliche Weise geschehen ist. Ich wer-
de dem aber nachgehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rufe jetzt den Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Technologie auf. Zur Beantwortung steht Herr Par-
lamentarischer Staatssekretär Siegmar Mosdorf zur Ver-
fügung.
Wir kommen zur Frage 33 der Kollegin Marita Sehn:
Worin bestehen nach Ansicht der Bundesregierung dieGründe für die wirtschaftliche Schieflage bei der Philipp Holz-mann AG, und ergeben sich aus dem Engagement der Bundes-regierung für die Philipp Holzmann AG Risiken für den Bun-deshaushalt?
S
Frau Kol-
Dr. Uwe Jens
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7139
(C)
(D)
legin Sehn, zu den Ursachen der wirtschaftlichen
Schieflage und der notwendigen Verbesserungen der Ri-
sikovorsorge liegen externe Analysen renommierter
Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer vor, die Eingang in
das Restrukturierungskonzept der Philipp Holzmann AG
gefunden haben. Demnach sind insbesondere mangel-
hafte Analysen und fehlende Vorsorge für Drohverluste
als Ursachen der Krise zu benennen. Hinzu kamen ein
Kapazitätsüberhang im Inland, wenig auskömmliche
Wettbewerbspreise bei erheblichem Angebotsdruck
durch ausländische Niedriglohnanbieter und unzurei-
chende Führungsstrukturen im Unternehmen selber.
Zum Risiko für den Bundeshaushalt – das haben Sie
auch angesprochen – ist mitzuteilen: Das Engagement
der Banken, das sich jetzt insgesamt auf 3,1 Milliarden
DM addiert hat, belegt die Realisierbarkeit des Re-
strukturierungskonzeptes. Das Engagement der Bundes-
regierung besteht in einem nachrangigen Darlehen der
KfW in Höhe von 150 Millionen DM und einer Bürg-
schaft von 100 Millionen DM „on top“ zu dem vorge-
nannten Engagement der Banken. Ich betone das aus-
drücklich, weil es darüber Diskussionen gegeben hat. Es
kommt also oben drauf.
Ich möchte nun, wenn ich es darf, Ihre zweite Frage
gleich mit beantworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich rufe dann auch
Frage 34 der Kollegin Marita Sehn auf:
Mit welchem Beitrag hat sich die Bundesregierung an derSanierung der Philipp Holzmann AG beteiligt, und in welchemHaushalt wird dieser Beitrag berücksichtigt?
S
Es geht in
Ihrer Frage darum, welchen Beitrag die Bundesregie-
rung an der Sanierung der Philipp Holzmann AG leisten
will und wie dieser im einzelnen aussieht. Dazu sagte
ich eben schon, daß wir mit dem KfW-Kredit in Höhe
von 150 Millionen DM und einer Bürgschaft in Höhe
von 100 Millionen DM „on top“ agieren werden. Die
Initiative der Bundesregierung war ausschlaggebend da-
für, daß die Banken selbst das Restrukturierungskonzept
auf privatwirtschaftlicher Grundlage überhaupt zustande
bekommen haben. Sie wissen, daß man sich bei
2,43 Milliarden DM geeinigt hatte und daß dann noch
eine Lücke bestand. Durch die Initiative der Bundesre-
gierung ist es gelungen, das Restrukturierungskonzept
auf der privatwirtschaftlichen Grundlage umzusetzen.
Das nachrangige Darlehen ist ein KfW-Darlehen, aus
dem keine unmittelbaren haushaltsmäßigen Belastungen
resultieren werden. Die Übernahme der Bundesbürg-
schaft erfolgt innerhalb des Gewährleistungsermächti-
gungsrahmens des § 12 Nr. 1 Haushaltsgesetz 1999 bzw.
2000. Eventuelle Zahlungen aus der Bundesbürgschaft,
mit denen bei der Bürgschaftsübernahme aber nicht ge-
rechnet wird, würden im Einzelplan 32 des BMF abge-
deckt werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollegin Sehn, Ihre
erste Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, hat die
Bundesregierung ihr finanzielles Engagement an Bedin-
gungen geknüpft und, wenn ja, an welche?
S
Die Bun-
desregierung hat die Zusage auf der Grundlage erster
Entwürfe eines Sanierungskonzepts gemacht. Das Team
von Roland Berger hat, wie Sie wissen, schon am 5. No-
vember gemeinsam mit Wirtschaftsprüfungsgesellschaf-
ten begonnen, die Altrisiken und die neuen Risiken des
Geschäftsjahres 1999 zu überprüfen. Auf der Grundlage
dieser Untersuchungen ist Roland Berger zu dem Ergeb-
nis gekommen, daß das Unternehmen sanierungsfähig
sei. Das war eine wichtige Voraussetzung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine weitere Zusatz-
frage, Frau Sehn, bitte.
Wie rechtfertigt es die Bun-
desregierung, daß offensichtliche Managementfehler
durch Steuergelder geheilt werden?
S
Die offen-
sichtlichen Managementfehler, die Sie sehen, und auch
die offensichtlichen Aufsichtsfehler, die gemacht wor-
den sind, sieht die Bundesregierung ebenfalls. Es ging
um die Frage, ob die Selbstblockade der Banken aufge-
löst werden kann, die dazu geführt hätte, daß dieses
Unternehmen, das 125 Jahre alt ist und über viele Jahr-
zehnte einen guten Ruf hatte, gescheitert wäre, indem
wegen einer Finanzierungslücke von 200 bis 250 Mil-
lionen DM ein Insolvenzverfahren ausgelöst worden wä-
re. Das war der Grund, warum wir uns veranlaßt gese-
hen haben, dort initiativ zu werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Goldmann
zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsse-
kretär, Sie sprachen in Ihrer ersten Antwort auch die
Überkapazitäten an, die in diesem Markt vorhanden
sind. Teilen Sie die Sorge vieler mittelständischer und
auch kleinerer Unternehmen, daß die Hilfe des Bundes
bei dem Großunternehmen Philipp Holzmann im Grun-
de genommen dazu führt, daß zukünftig eine große Zahl
kleiner und mittlerer Unternehmen wegen des Ar-
beitsplatzverdrängers Philipp Holzmann – so bezeichne
ich ihn einmal; er wird sich ja weiter auf dem Markt
ausbreiten – in existentielle Not geraten wird?
S
Herr Kol-
lege, diese Auffassung kann ich so nicht teilen. Auch Sie
wissen, daß allein 500 ostdeutsche Unternehmen mit
2 000 Geschäftsbeziehungen an den Philipp-Holzmann-
Aktivitäten direkt beteiligt waren. Viele ostdeutsche
mittelständische Unternehmen – ich rede hier von Un-
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
7140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
ternehmen, die weniger als 20 Beschäftigte haben – wä-
ren mit dem Großunternehmen untergegangen. Das war
von uns ebenfalls abzuwägen. Insofern muß man sehr
differenziert anschauen, wie die Wirkungen im einzel-
nen aussehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Solms, Ihre
Frage, bitte.
Herr Staatsse-
kretär, wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hin-
tergrund, daß in diesem Jahr bereits einige tausend mit-
telständische Bauunternehmen in Konkurs gegangen
sind, das Verhalten der Philipp Holzmann AG, die be-
kanntlich durch besonders aggressives Preisverhalten
viele Mittelständler aus dem Markt herausgedrückt und
Angebotspreise zweifelsfrei unter Kosten gebildet hat?
Anderenfalls wäre die Firma ja nicht in die schwierige
Lage gekommen, in der sie sich befindet. Ist das nach
Ihrer Einschätzung ein Verhalten, das die Unterstützung
des Steuerzahlers verdient?
S
Es ist über-
haupt keine Frage, daß die Philipp Holzmann AG
schwere Managementfehler begangen hat. Diese führten
übrigens dazu, daß bei den ersten Sanierungsentwürfen
– Roland Berger hat sie Grobkonzepte genannt – die
Frage im Mittelpunkt steht, was man tun kann, damit
dieses große Unternehmen von lokalen Bauvorhaben so-
zusagen abläßt, so daß mittelständische Unternehmen
wieder ins Spiel gebracht werden können.
Dies hat auch etwas mit dem Verkauf von Tochterge-
sellschaften zu tun. Das ist eben schon erwähnt worden.
Man möchte nämlich – die Sanierer sind jetzt dabei, dies
dem Management klar zu machen –, daß die Philipp
Holzmann AG ihren Schwerpunkt nicht in lokalen Bau-
vorhaben sehen darf, weil sie viel zu hohe Overhead-
Kosten hat. Sie wissen ja, daß Philipp Holzmann zum
Beispiel in Amerika bei großen Infrastrukturprojekten
sehr erfolgreich ist. Es ist aber ein großes Problem – Sie
haben es bereits angesprochen –, daß dem Mittelstand
durch die Beauftragung von Subunternehmen im Rah-
men von kleinen Bauvorhaben Konkurrenz gemacht
werden kann. Aus dem Sanierungskonzept muß hervor-
gehen, daß das nicht passiert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine zweite Zusatz-
frage, Herr Kollege Solms.
Herr Staatsse-
kretär, ich habe eben Ihre Aussage mit Interesse gehört,
daß es unter anderem ein Mangel gewesen sei, daß die
Gesellschaft nicht genügend Drohverlustrückstellungen
gebildet habe. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis
möchte ich fragen: Ist die Bundesregierung vielleicht
dazu bereit, die Einschränkung der steuerlichen Berück-
sichtigung der Drohverlustrückstellungen im Rahmen
des sogenannten Steuerentlastungsgesetzes 1999 zu
überdenken und gegebenenfalls zurückzunehmen?
S
Herr
Solms, ich kann Ihnen versichern, daß wir wegen der
Philipp Holzmann AG unser aktives Konzept zur Steuer-
reform und zur Steuerentlastung nicht verändern wer-
den. Ich bitte Sie um Verständnis.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Jens,
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, stimmen
Sie mir zu, daß auf Grund der politischen Zwänge die
jetzige Opposition, wenn sie an der Regierung gewesen
wäre, mit höchster Wahrscheinlichkeit genauso wie die
Regierung gehandelt hätte? Können Sie mir bestätigen,
daß es zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen
und dem Unternehmen Holzmann zweifellos einen Un-
terschied dergestalt gibt, daß kleine und mittlere Unter-
nehmen auf dem heimischen Markt tätig sind – ich muß
betonen, daß dies ein schrumpfender Markt ist –, wäh-
rend Holzmann, wie Sie es bereits angedeutet haben,
sehr stark im internationalen Geschäft mit vielen Bau-
vorhaben engagiert ist?
S
Herr Pro-
fessor Jens, ich kann dem zweiten Teil Ihrer Frage, daß
die Philipp Holzmann AG international erfolgreich tätig
ist, nur zustimmen. Was aber den ersten Teil Ihrer Frage
angeht, daß die alte Regierung genauso gehandelt hätte,
bin ich mir nicht so sicher. Ich habe nämlich nicht den
Eindruck, daß die alte Regierung die Situation in glei-
cher Weise mit Sorge beurteilt hätte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Funke,
bitte.
Herr Staatssekretär, auf
Grund des Sanierungsplanes ist deutlich geworden, daß
bei Philipp Holzmann ein Defizit in Höhe von 1,1 Mil-
liarden DM entstanden ist, weil Mietgarantien für ge-
schlossene und offene Immobilienfonds gegeben worden
sind. Im Falle der Insolvenz wäre Philipp Holzmann von
den Mietgarantien befreit gewesen, und damit hätte es
für die Anleger Ausfälle bei den Mieteinnahmen gege-
ben. Beabsichtigt die Bundesregierung in Zukunft einen
ähnlichen Anlegerschutz bei größeren Pleiten auf dem
Kapitalmarkt oder im Immobilienbereich?
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7141
(C)
(D)
S
Nein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Türk, Ihre
Frage bitte.
Herr Staatssekretär, es ist ja
bekannt, daß auf dem Bau kein Wettbewerb besteht.
Vielmehr herrscht ein unsäglicher Preiskrieg der Großen
zu Lasten der Kleinen. Wird die Bundesregierung die
Holzmann-Affäre zum Anlaß nehmen, insbesondere auf
dem Bau wieder faire Wettbewerbsbedingungen herzu-
stellen bzw. ihren Beitrag dazu zu leisten?
S
Herr Kol-
lege Türk, ich möchte Sie an einen berühmten Satz eines
berühmten Wirtschaftsministers erinnern: „Wirtschaft
findet in der Wirtschaft statt“. Die Bundesregierung
sieht es nicht als ihre Aufgabe an, die Praktiken, die Sie
vorgeschlagen haben, umzusetzen.
Ihre Analyse ist aber richtig: In der Baubranche gibt
es einen sehr heftigen Wettbewerb, der stark durch
Großunternehmen dominiert wird. Die mittelständischen
Unternehmen leiden unter diesen Verfahren oftmals
sehr. Ich glaube übrigens – ich will das nicht vertiefen,
weil wir insofern auch im Wirtschaftsausschuß schon
intensiv im Gespräch sind –, daß die Frage, wie man
Vergaberegeln formuliert und inwieweit man Luft für
die lokalen Märkte läßt, in Zukunft sehr wohl überlegt
werden muß.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Weiermann
ist der nächste Fragesteller.
Herr Staatssekretär,
Sie wissen sicherlich, daß in den letzten Jahren der ehe-
maligen Regierung eine Vielzahl von Insolvenzen fest-
zustellen waren. Sie wissen sicherlich auch, daß die da-
malige Bundesregierung nichts getan hat, um insbeson-
dere auf dem Bausektor der Verletzung der Tarifver-
tragstreue und – was noch schwerer wiegt – der Verlet-
zung der Gesetzestreue Einhalt zu gebieten, und daß sie
damit an einer Entwicklung in dieser Branche schuld ist,
wegen der man fast mafiaähnliche Strukturen beklagen
muß. Ich sage das mit allem Bedacht, aber auch knall-
hart. Darf ich davon ausgehen, daß Sie wissen, daß in
den letzten Jahren der alten Regierung in der Spitze rund
500 000 Arbeitsplätze im Jahr verlorengegangen sind,
was unweigerlich mit dem Abstieg der ehemals Be-
schäftigten nicht nur in die Arbeitslosigkeit, sondern
auch in die Sozialhilfe zu tun hat?
S
Verehrter
Kollege Weiermann, es ist richtig, daß es in den letzten
Jahren Mißstände in großem Umfang gegeben hat. Ich
möchte aber den Eindruck vermeiden, daß Management
und Aufsichtsgremien selber keine Fehler gemacht ha-
ben. Es gab ein erhebliches Managementversagen, was,
addiert mit den Mißständen, die Sie genannt haben, zu
dieser dramatischen Situation bei Philipp Holzmann ge-
führt hat.
Im übrigen ist mir ein Satz von Ferry Porsche in
nachhaltiger Erinnerung, der ja nun wirklich unverdäch-
tig ist, was seine Einschätzung der marktwirtschaftlichen
Verhältnisse angeht. Er hat gesagt: „Banken sind immer
Regenschirmverleiher, die die Schirme wieder einsam-
meln, wenn es regnet.“ Die Bundesregierung hat es für
notwendig angesehen, zu vermeiden, daß die Selbst-
blockade der Banken dazu führt, daß nicht geholfen
wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Kolb, Ihre
Frage bitte.
Herr Staatssekretär,
Sie haben einen berühmten Satz eines berühmten Wirt-
schaftsministers zitiert. Ich möchte Sie fragen, ob die
Bundesregierung sich die Auffassung „Wirtschaft findet
in der Wirtschaft statt“ zu eigen macht oder ob sie gege-
benenfalls auch in Zukunft in Not geratenen Bauunter-
nehmen helfen will. Ab welchem Schwellenwert – ab
wieviel Beschäftigten, ab welcher Bilanzsumme – soll
das in Zukunft geschehen?
S
Herr Kolb,
die Bundesregierung knüpft an die Wirtschaftspolitik
von Ludwig Erhard und Karl Schiller an und ist der Auf-
fassung, daß wir soviel Markt wie möglich und soviel
Staat wie nötig haben müssen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Michelbach
zu einer weiteren Frage, bitte.
Herr Staatssekretär
Mosdorf, welche Erkenntnis hat die Bundesregierung in
dem Fall Philipp Holzmann, daß das KonTraG mißach-
tet wurde? Welche Erkenntnisse zieht sie aus der Tatsa-
che, daß die Deutsche Bank als Hauptgesellschafter bei
Mißachtung des KonTraG schon frühzeitig versucht hat,
sich zu entschulden? Ist diese Entschuldungsmaßnahme
nicht erst dadurch gelungen, daß der Steuerzahler durch
den Staat – in diesem Fall durch den Bundeskanzler –
erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt hat?
S
Herr Kol-
lege, ich darf Sie daran erinnern, daß die Wirtschaft und
die Banken am Sanierungskonzept mit 3,1 Milliar-
den DM beteiligt sind und die Bundesregierung ein
Darlehen von 150 Millionen DM sowie eine Bürgschaft
in Höhe von 100 Millionen DM vorgesehen hat.
7142 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege van Es-
sen, bitte.
Herr Staatssekretär, wie
steht die Bundesregierung zu der Feststellung, daß das
neue Insolvenzverfahrensrecht eigentlich eine Sanierung
und eine Rettung der Arbeitsplätze ermöglicht hätte, oh-
ne daß es des Eingreifens der Bundesregierung und des
Einsatzes von Steuergeldern bedurft hätte?
S
Das neue
Insolvenzverfahrensrecht ist seit dem 1. Januar 1999 in
Kraft. Wir halten es für ein Konzept, das in die richtige
Richtung geht. Ich würde aber nicht so kühn sein und
behaupten, wir hätten bei Holzmann alle Probleme ge-
löst.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Rauen, Ihre
Frage bitte.
Herr Staatssekretär, es
wurde in einer Frage von mafiaähnlichen Zuständen am
Bau gesprochen. Können Sie bestätigen, daß die alte
Bundesregierung überhaupt keinen Einfluß darauf neh-
men konnte, daß die großen deutschen Baukonzerne im
wesentlichen gewerbliche Arbeitnehmer entlassen und
die Subunternehmer gezwungen haben, zu Subunter-
nehmerpreisen zu arbeiten, die es überhaupt nicht er-
laubt haben, mit deutschen Arbeitnehmern zu kalkulie-
ren?
S
Herr Kol-
lege, ich habe, wahrscheinlich ähnlich wie Sie, mit einer
gewissen Sorge in den letzten Jahren beobachtet, wie
sich die Baubranche, was den Arbeitnehmerbereich an-
geht, entwickelt hat. Darauf hat der Kollege Weiermann
mit seiner Feststellung gezielt, daß es hier eine be-
stimmte Form der Fehlentwicklung gegeben hat.
– Nicht nur bei den Großen, aber überwiegend bei den
Großen. Lassen Sie mich sagen: Wir haben in der Bau-
branche vier große Unternehmen – Hochtief, Philipp
Holzmann, Walter, Bilfinger + Berger –, die in aller Re-
gel, wenn ich einmal von den aktuellen Problemen bei
Philipp Holzmann absehe, einen guten Ruf haben und
auch gut geführt sind. In der Baubranche bilden diese
vier Unternehmen zusammen, anders als in anderen
Branchen, keine Mehrheiten, sondern sie steuern bis in
die mittelständischen Unternehmen mit Subunterneh-
merstrukturen hinein. Das ist das Problem, das bestan-
den hat, nämlich daß sich die mittelständische Struktur
erst gar nicht behaupten konnte. Das ist angesprochen
worden. Dort wurde mit Generalunternehmern, mit Sub-
unternehmern und auch mit ausländischen Unternehmen
operiert.
Dann kommt der Punkt hinzu, der gerade angespro-
chen worden ist, nämlich die Frage der Mietgarantien.
Das ist der eigentliche Kern in der Holzmann-Bilanz
1999 gewesen. Die Altprobleme waren vorhanden, wa-
ren bekannt. Dafür hat man vor zwei Jahren einen neuen
Vorstandsvorsitzenden angeheuert. Das, was jetzt bren-
nend ist, die 2,4 Milliarden DM, sind die Mietgarantien,
wo offensichtlich leichtfertig Verträge gemacht worden
sind und die jetzt nicht realisiert werden. Das ist bei
Holzmann eine ganz dramatische Entwicklung in den
letzten Monaten gewesen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, zu diesem Themenkomplex gibt es nicht
nur eine Fülle von Nachfragen, sondern auch den Antrag
der F.D.P.-Fraktion auf eine Aktuelle Stunde. Diesem
Antrag wird stattgegeben. Die Aktuelle Stunde findet im
Anschluß an die Fragestunde statt.
Ich rufe jetzt die Fragen 35 und 36 des Kollegen
Dr. Hermann Otto Solms auf:
Stimmt die Bundesregierung der Auffassung des Zentralver-bandes des Deutschen Baugewerbes zu, daß die Philipp Holz-mann AG durch den teilweisen Lohn- und Gehaltsverzicht derBeschäftigten, das zur Abwendung der Überschuldung gewährteDarlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Höhe von 150Mio. DM und die vom Bund übernommene Ausfallbürgschaft inHöhe von 100 Mio. DM einen Wettbewerbsvorteil gegenüberanderen, auch mittelständischen Wettbewerbern in der Baubran-che erhält?
Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerungen des Vor-standsvorsitzenden der Philipp Holzmann AG, wonach dersechsprozentige Lohnverzicht und die Überstundenzusage derBelegschaft nicht für Dumpingpreise bei zukünftigen Aufträgengenutzt werden sollen und welche Möglichkeiten der Überprü-fung sieht die Bundesregierung hierbei, so daß Wettbewerbsver-zerrungen zulasten mittelständischer Unternehmen zukünftigvermieden werden können?
S
Ich beant-
worte die Frage gern noch einmal, obwohl ich dachte,
wir hätten die Frage schon mitbehandelt. Die Philipp
Holzmann AG steht in wesentlichen Geschäftsfeldern
mit kleinen und mittelständischen Unternehmen in di-
rekter Verbindung. Daher gibt es auch die Struktur der
Nachunternehmen, die von diesen Aufträgen betroffen
sind. Deshalb muß man sich ein differenziertes Bild ma-
chen, wie die Wirkung auf den Mittelstand ist. Ich habe
eben auf die 500 ostdeutschen Unternehmen hingewie-
sen, die mit 2 000 Geschäftsbeziehungen auch unmittel-
bar von einer Insolvenz betroffen wären. Man muß sich
das sehr differenziert anschauen.
Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Bürg-
schafts- und Kreditzusage der Bundesregierung nicht zur
Ausfüllung einer Finanzlücke gewährt wird. Das betone
ich ausdrücklich noch einmal. Wir haben das übrigens
gestern noch einmal dem Aufsichtsratsvorsitzenden
schriftlich mitgeteilt. Gestern hat das Kanzleramt
wunschgemäß bestätigt, daß „das KfW-Darlehen und die
Bundesbürgschaft auf ein zuvor von den Banken be-
schlossenes Finanzierungskonzept aufsetzen“. Dies wird
auch in den Berichten an den Haushaltsausschuß und
den Wirtschaftsausschuß, die ich heute morgen gegeben
habe, ausdrücklich begründet. Als Hauptargument für
diese Haltung der Bundesregierung wird der volkswirt-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7143
(C)
(D)
schaftliche und mittelstandspolitische Gedanke heraus-
gestellt.
Zur Frage 36, Herr Kollege Solms. Die Bundesregie-
rung geht davon aus, daß die Mittel, die im Rahmen der
Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite zugesagt wor-
den sind, zur Sanierung beitragen. Dies wird auch von
Roland Berger in einem bestimmten Volumen ange-
nommen. Aber Sie wissen ebenso wie ich, daß erstens
die Gewerkschaft IG Bauen – Agrar – Umwelt gegen-
wärtig dabei ist, mit Hilfe von Arbeitsrechtlern dieses
gemeinsam verabredete Paket zu überprüfen. Zweitens
ist der Bundesregierung bekannt, daß es sich um eine
zeitlich limitierte Reduzierung handelt. Es gibt, soweit
wir wissen, auch eine Verabredung, daß nach dieser
zeitlichen Limitierung bei entsprechenden Gewinnent-
wicklungen eine Refinanzierung vorgesehen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die erste Zusatzfra-
ge. Bitte, Herr Kollege Solms.
Herr Staats-
sekretär, ich hatte in meiner Frage darauf abgehoben,
daß der mittlerweile abgesetzte Vorstandsvorsitzende
der Philipp Holzmann AG, Herr Binder, zugesagt hatte,
daß die Betriebsvereinbarung, die mit den Inhalten einer
sechsprozentigen Lohnkürzung und Mehrarbeitsver-
pflichtung für die Arbeitnehmer zustande gekommen ist,
nicht dazu führen wird, daß die Philipp Holzmann AG
den Preis anderer Wettbewerber unterbietet.
Deswegen will ich nachfragen: Erstens. Welchen
Grad von Glaubwürdigkeit hat die Aussage von Herrn
Binder, der nicht mehr im Amt ist? Zweitens. Wie wol-
len Sie überprüfen, daß dies nicht geschieht?
S
Ich will
nicht bewerten, wie diese Meinung des früheren Vor-
standsvorsitzenden einzuordnen ist. Ich weise aber noch
einmal darauf hin, daß es in der Verabredung sowohl
eine zeitliche Limitierung als auch eine beabsichtigte
Umstellung und Refinanzierung für den Fall gibt, daß
nach dieser zeitlichen Befristung das Unternehmen Ge-
winne macht. Sollte dies der Fall sein, gäbe es auch kei-
ne Wettbewerbsverzerrung. Das muß man allerdings in
diesem Kontext sehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Solms,
zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsse-
kretär, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die
folgende Aussage von Thomas Schleicher – das ist der
Vorsitzende des Verbandes der Bauindustrie Nordbaden
– in einem direkten Brief an den Herrn Bundeskanzler:
Der „Verzicht“ der Holzmann-Belegschaft auf Ent-
lohnung nach dem Tarifvertrag führt darüber hinaus
zu einer Reduzierung der Arbeitskosten um bis zu
15%. So ist bereits in einem konkreten Fall von
Philipp Holzmann eine Preiskorrektur eines bereits
abgegebenen Angebots in Höhe der Einsparungen
am Lohn erfolgt. Leidtragende sind auch hier die
übrigen Wettbewerber, die eine solche Kostensen-
kung nicht weitergeben können und damit nicht
mehr konkurrenzfähig sind.
Wie beurteilen Sie in dem Zusammenhang mit dem,
was wir gerade besprochen haben, diese Aussage?
S
Wir gehen
davon aus, daß die Verabredung der Belegschaft mit
dem Vorstand erstens auf die akute Situation des Unter-
nehmens zurückgeht, das heißt auf die bestehende defi-
zitäre Situation, und zweitens darauf, daß sie zeitlich
limitiert ist und Refinanzierungen vorgesehen sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dritte Zusatzfrage,
bitte, Herr Kollege Solms.
Herr Staatsse-
kretär, ich nehme Ihnen gerne Ihr Mitgefühl mit den Ar-
beitnehmern von Philipp Holzmann, die vor einer mög-
lichen Arbeitslosigkeit gestanden haben, ab. Alle emp-
finden dieses Mitgefühl. Haben Sie auf der anderen
Seite auch Verständnis für die Arbeitnehmer und Unter-
nehmer im Mittelstand, die auf Grund der Machen-
schaften von Philipp Holzmann in den Konkurs getrie-
ben worden sind oder davorstehen?
S
Ich maße
mir nicht an, zu beurteilen, ob Unternehmen wegen der
Vorgänge bei Philipp Holzmann in Konkurs geraten
sind. Über das Verhalten in der Vergangenheit haben
wir gesprochen. Aber ich gebe Ihnen recht, daß es un-
gewöhnlich ist, daß sich Bauunternehmen darüber be-
klagen, daß bei einem anderen Bauunternehmen die Ko-
sten gesenkt werden. Das ist ein ungewöhnliches Unter-
nehmerverhalten.
– Ja, ich weiß das. Ich habe ja darauf geantwortet. – In
diesem speziellen Fall sind Kostensenkungen deshalb in
Angriff genommen worden, weil man das Unternehmen
retten möchte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Zusatzfrage,
Kollege Türk, bitte.
Herr Staatssekretär, ich muß
noch einmal nachfragen: Es wird ja immer darauf abge-
hoben, daß es bei der Holzmann-Aktion hauptsächlich
um die Rettung von Arbeitsplätzen ging. Hätten Sie sich
als Alternative vorstellen können, den wettbewerbsunfä-
higen Holzmann-Konzern durch eine Gruppe von Mit-
telständlern abzulösen, wie das zum Beispiel bei
Schneider erfolgt ist?
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
7144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
S
Sanie-
rungskonzepte, über die gegenwärtig nachgedacht wird,
wobei es – das wissen Sie wahrscheinlich – verschiede-
ne Szenarien gibt, die sich nicht nur auf die bekannten
konzentrieren, müssen dazu beitragen, daß sich dieses
Unternehmen in Zukunft auf dem Markt behaupten
kann. Wenn dies mit solch einer Konzeption möglich
gewesen wäre, hätten wir kein Problem damit gehabt.
Die Banken, die Eigentümer und die Aufsichtsgremien
haben sich für einen anderen Weg entschieden – zumin-
dest bis jetzt; denn das endgültige Sanierungskonzept
von Roland Berger wird ja erst im Februar nächsten Jah-
res vorliegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Bau-
meister, Ihre Frage bitte.
Herr Staatssekre-
tär, wo zieht die Bundesregierung die Grenze im Hinblick
auf eine mögliche Unterstützung von in Schwierigkeiten
geratenen Unternehmen, und könnten Sie sich vorstellen,
daß die Stella AG, die sich ja auch in Schwierigkeiten be-
findet, ebenfalls auf eine Unterstützung der Bundesregie-
rung hoffen kann?
S
Frau Kol-
legin, ich kenne eine Reihe von Stuttgarter Unterneh-
men, die im Moment Probleme haben. Bei einem kon-
kreten Projekt sind Sie selber betroffen. Ich kann jetzt
nicht anbieten, daß die Bundesregierung auch in diesen
Fällen hilft. Ich will aber ausdrücklich feststellen, daß
es eine Phase gegeben hat – dies weiß ich von Heinz
Dürr –, in der die damalige Bundesregierung aus
CDU/CSU und F.D.P. – ich glaube, Graf Lambsdorff,
den ich sehr schätze, war damals Wirtschaftsminister –
der AEG mit einer Bürgschaft in Höhe von 1 Milliarde
DM geholfen hat. Diese Bürgschaft ist nicht ausgezahlt
worden. Aber sie hat dazu beigetragen, daß damals die
Umsetzung eines Sanierungskonzeptes gelungen ist.
Vielleicht gelingt es uns jetzt auch in diesem Fall, die
Auszahlung der Bürgschaft zu vermeiden und eine Sa-
nierung zustande zu bringen, die sonst gescheitert wäre.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Kopp,
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, als eine
der wenigen Mittelständlerinnen hier in diesem Parla-
ment gestatten Sie mir folgende Frage: Sie stellten gera-
de die von der Bundesregierung geleistete Hilfe an die
kleinen und mittelständischen Betriebe heraus, und zwar
an 500 Unternehmen allein in den neuen Bundesländern.
Wie wäre es gewesen, wenn Sie sich im Rahmen der
von der Bundesregierung vorgesehenen Sanierungshil-
fen auf diese Betriebe konzentriert hätten und nicht auf
einen Großkonzern?
S
Frau Kol-
legin Kopp, ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß
die Banken mit 3,1 Milliarden DM am Sanierungskon-
zept beteiligt sind und die Bundesregierung mit einer
Bürgschaft von 100 Millionen DM und einem KfW-
Kredit von 150 Millionen DM. Sie können sicher sein,
daß im Hinblick auf das Restrukturierungskonzept die
Beantwortung der Frage, inwiefern die Holzmann AG
lokale Märkte im Sinne des Schaffens von Luft für mit-
telständische Unternehmen freigibt, eine wichtige Rolle
spielen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Zusatz-
frage kommt vom Kollegen Hans Michelbach.
Herr Staatssekretär,
wie will die Bundesregierung die durch die Subventio-
nierung von Philipp Holzmann entstandenen Wettbe-
werbsverzerrungen gegenüber der Wettbewerbskommis-
sion der EU eigentlich begründen? Wann erwarten Sie
hierzu eine Notifizierung? Wie wollen Sie dagegen vor-
gehen, daß diese Subventionierung in Zukunft nicht zu
weiteren Angeboten bei Philipp Holzmann führt, die
unter den Einstandspreisen liegen?
S
Herr Kol-
lege Michelbach, ich habe volles Verständnis für jede
Frage. Aber diese Frage hat vorhin schon meine Kolle-
gin beantwortet. Deshalb möchte ich Sie auf das Proto-
koll verweisen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Frage-
steller ist der Kollege Peter Rauen.
Herr Staatssekretär, ich
habe volles Verständnis für jede Kostensenkung, die
man den Betrieben erlauben kann. Ich möchte nur wis-
sen, wie die Regierung oder die Gewerkschaft sicher-
stellen kann, daß zum Beispiel auch in einem Hand-
werksbetrieb mit zehn Mitarbeitern, der um das Überle-
ben kämpft, die Mitarbeiter vier Stunden pro Woche
mehr arbeiten, und zwar bei einem um 6 Prozent verrin-
gerten Lohn.
S
Herr Kol-
lege, ich sage es noch einmal: Es handelt sich hier um
ein Notprogramm, das die Belegschaft mit dem Vor-
stand angesichts dieser speziellen Krisensituation verab-
redet hat. Die Verabredung ist auf die dramatische Defi-
zitsituation des Unternehmens in diesem Jahr und in den
letzten Jahren zurückzuführen. Die Gewerkschaft ist ge-
rade dabei, dies arbeits- und tarifrechtlich zu überprüfen.
Damit es aber völlig klar ist und Ihre Frage von mir
richtig beantwortet wird: Dies ist eine absolute Ausnah-
me- und Notsituation und kann nicht als Normallfall an-
gesehen werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der nächste Frage-
steller ist der Kollege Konrad Gilges.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7145
(C)
(D)
Herr Staatssekretär, kann die
Bundesregierung die Beträge beziffern, die jährlich
durch die Länder, die Gemeinden und den Bund in Form
von zum Beispiel Bürgschaften und Krediten an mittel-
ständische Unternehmen gezahlt werden? Nach meinem
Kenntnisstand müssen es einige Milliarden Mark sein,
die die mittelständische Wirtschaft darüber bekommt.
Können Sie das hier darstellen und vielleicht mit einigen
Zahlen belegen?
S
Herr Kol-
lege, es ist richtig, daß es vielfältige Formen der Unter-
stützung des Mittelstands gibt; darauf ist vorhin schon
hingewiesen worden. Die jetzige Bundesregierung hat
die Anstrengungen noch erhöht, den Mittelstand zu för-
dern.
Wir haben gemeinsam mit dem Handwerk und dem
Mittelstand – unterhalten Sie sich einmal mit Herrn
Schleyer – ein Technologietransferprogramm und viele
andere Programme aufgelegt.
Im übrigen, Frau Baumeister: Die Stella AG ist durch
die Landesregierung mit einer Bürgschaft in Höhe von
50 Millionen DM unterstützt worden.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Funke.
Herr Staatssekretär, die
Bundesregierung hilft der Philipp Holzmann AG mit
einem eigenkapitalersetzenden Darlehen und einer
Bürgschaft; das sind immerhin 250 Millionen DM. Be-
absichtigt die Bundesregierung, Einfluß auf die Beset-
zung des Aufsichtsrats und des Vorstands zu nehmen,
und wie sichert sie personell, daß das Geld, das sie in die
Philipp Holzmann AG steckt, auch richtig verwandt
wird?
S
Die Bun-
desregierung wird keinen Einfluß auf die Besetzung des
Aufsichtsrats und des Vorstands nehmen. Ich glaube,
das ist in Ihrem Sinne, Herr Funke.
Im übrigen versuchen wir, alles zu tun, damit die
Mittel gar nicht erst abgerufen werden – ähnlich wie im
Fall Graf Lambsdorff.
Ich rufe Frage 37
des Kollegen Hans-Michael Goldmann auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Weigerung der IGBAU, den Arbeitnehmeranteil des Sanierungskonzeptes zurRettung der Philipp Holzmann AG nicht mitzutragen, und wel-che Folgen hat diese Weigerung für die Bundesbürgschaft?
S
Herr Kol-
lege Goldmann, die Bundesregierung geht davon aus,
daß der durch die Betriebsvereinbarung geregelte Bei-
trag der Holzmann-Mitarbeiter in einer Form zustande
gekommen ist, die auch für die Tarifvertragsparteien ak-
zeptabel ist. Das wird, wie gesagt, gegenwärtig über-
prüft.
Der Beitrag der Holzmann-Arbeitnehmer ist Inhalt
des Restrukturierungskonzeptes insgesamt. Dieses ist
auch Grundlage der Vereinbarung mit der Bundesregie-
rung über die Bürgschafts- und Kreditgewährung durch
die KfW nach Genehmigung durch die EU-Kommission.
Ich würde gerne Frage 38 mit beantworten, Herr Prä-
sident.
Der Fragesteller ist
einverstanden. – Dann rufe ich auch Frage 38 auf:
Welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tä-tigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern, die von den Banken undvon den Gewerkschaften in den Aufsichtsrat entsandt wordensind?
S
Diese Fra-
ge beantwortet die Bundesregierung wie folgt: Auf-
sichtsratsmitglieder der Anteilseignerseite werden nur in
Ausnahmefällen auf Grund satzungsrechtlichen Entsen-
derechts in den Aufsichtsrat entsandt. In der Regel wer-
den sie von der Hauptversammlung gewählt. Die dem
Aufsichtsrat angehörenden Gewerkschaftsvertreter wer-
den nach § 16 des Mitbestimmungsgesetzes von den
Unternehmensangehörigen entweder direkt oder von
ihren Delegierten gewählt.
Mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im
Unternehmensbereich – das ist eben schon von mehreren
Kollegen angesprochen worden – sind vielfältige Ver-
besserungen der Kontrolltätigkeit und Effizienz des
Aufsichtsrates eingeführt worden. Das im Jahre 1998 in
Kraft getretene Gesetz kam allerdings für ein Unterneh-
men – es handelt sich um einen in der jüngsten Zeit auf-
getretenen Fall – zu spät. Das gilt auch für die anderen
Novellierungen.
Die Bundesregierung wird in der kommenden Zeit
sorgfältig prüfen, ob aus der jüngsten Unternehmenskri-
se weitere gesetzliche Schlußfolgerungen zu ziehen sind.
Denn eines ist klar: Es gibt hier ganz eindeutig auch ein
Versagen im Aufsichtsbereich.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Goldmann.
Herr Staatsse-
kretär, kann ich aus Ihrer Antwort schließen, daß Sie die
Wirtschaftsprüfverordnung verschärfen wollen?
S
Sie können
7146 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
daraus keine konkreten Schlüsse ziehen. Sie können nur
davon ausgehen, daß die Bundesregierung die Frage,
wie Aufsichtsformen verbessert werden können, weiter-
hin prüfen wird, weil solche Fälle ja häufiger auftreten.
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Aufsichts-
verfahren verbessern können.
Herr Kollege Kolb,
eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
ist sich die Bundesregierung sicher, daß der Arbeitneh-
meranteil, der in der Frage des Kollegen Goldmann an-
gesprochen ist, im Rahmen der geltenden Regelungen
des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes er-
bracht werden kann, oder plant die Bundesregierung ge-
gebenenfalls eine Änderung der entsprechenden Vor-
schrift?
S
Nein, wir
planen keine Änderung der Vorschrift und werden uns
in dieses Verfahren, das Unternehmen und Betriebsrat
ausgehandelt haben, auch nicht einmischen.
Die Fragen 39 und
40 des Abgeordneten van Essen werden schriftlich be-
antwortet, ebenso die Frage 41 des Kollegen Klaus-
Jürgen Hedrich.
Ich rufe dann die Frage 42 des Kollegen Günther
Friedrich Nolting auf.
Beabsichtigt die Bundesregierung der Türkei mitzuteilen,daß trotz der Teilnahme des Kampfpanzers Leopard 2 am Aus-wahlwettbewerb einem eventuell folgenden Wunsch auf Liefe-rung von 1 000 Panzern nicht entsprochen werden kann, da dieBeschlußlage beider Koalitionsparteien dieses verbietet, odersieht sich die Bundesregierung nicht an die Beschlußlage derParteitage der Koalitionsparteien gebunden?
S
Herr Kol-
lege Nolting, die Frage einer möglichen Lieferung von
Kampfpanzern Leopard 2 an die Türkei stellt sich erst
nach Abschluß der Vergleichstests mit Panzern anderer
Länder und der dann von der türkischen Regierung ge-
troffenen Auswahlentscheidung. Dies wird voraussicht-
lich nicht vor dem Jahr 2001 geschehen.
Die zu diesem Zeitpunkt in der Türkei bestehenden
politischen Verhältnisse, vor allem die Menschen-
rechtslage, und die neugefaßten politischen Grundsätze
der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern werden diese Entschei-
dung maßgeblich beeinflussen. Diese Haltung ist der
türkischen Seite auch hinlänglich bekannt.
Die weitere Frage, die Sie gestellt haben, beantwortet
die Bundesregierung wie folgt: In diesem Fall wird die
Bundesregierung der türkischen Seite mitteilen, daß die
Entscheidung von den dann bestehenden politischen
Verhältnissen in der Türkei abhängig sein wird.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Nolting.
Herr Staatsse-
kretär, es gibt nun einen Parteitagsbeschluß der SPD, der
größten Regierungsfraktion, die dem absolut wider-
spricht. Sind Sie bereit, der türkischen Regierung auch
mitzuteilen, daß die Partei, die diese Regierung stellt,
einer solchen Lieferung nicht zustimmen wird, gleich-
gültig, wie der Test ausgehen wird?
S
Herr Kol-
lege, erstens ist es nicht nur die größte Regierungsfrak-
tion, sondern die größte Fraktion im Deutschen Bun-
destag überhaupt, die einen Parteitag hinter sich ge-
bracht hat. Zweitens war es ein sehr erfolgreicher Par-
teitag. Drittens gehe ich davon aus, daß die türkische
Regierung auch deutsche Tageszeitungen liest.
Eine weitere Zu-
satzfrage.
Herr Staatsse-
kretär, trotzdem frage ich noch einmal. Ich meine die
Frage sehr ernst, und Sie sollten sie auch ernst nehmen
und genauso beantworten. Ich denke, es ist das Recht
des Parlamentes, solche Fragen hier zu stellen, die dann
auch beantwortet werden sollten.
Ich frage Sie deshalb noch einmal:
Teilt die Bundesregierung der Regierung in der Türkei
offiziell mit,
wie die Beschlußlage der SPD aussieht, nach der es
vollkommen ausgeschlossen ist, daß Panzer in die Tür-
kei geliefert werden?
S
Herr Kol-
lege Nolting, damit das klar ist: Die Bundesregierung
teilt immer den Standpunkt der Bundesregierung mit.
Eine weitere Zu-
satzfrage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, würden Sie
uns dann bitte darüber informieren, inwieweit sich der
Standpunkt der Bundesregierung mit dem Parteitagsbe-
schluß der SPD deckt oder diesem widerspricht?
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7147
(C)
(D)
S
Ich habe
dazu schon eben – auf die Frage von Herrn Nolting –
Stellung genommen, indem ich mitgeteilt habe, daß es
dazu ein Verfahren gibt und sich an der Haltung der
Bundesregierung zu diesem Verfahren nichts geändert
hat.
Wir sind damit am
Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Mosdorf, ich danke Ihnen.
Bevor ich den nächsten Geschäftsbereich aufrufe,
will ich darauf hinweisen, daß nur noch wenige Fragen
mündlich zu beantworten sind. Wir haben zwei Mög-
lichkeiten: Entweder unterbrechen wir bis 15.35 Uhr,
oder die Fraktionen verständigen sich darauf, daß wir im
Anschluß an die Fragestunde unmittelbar in die Aktuelle
Stunde eintreten. Ich wäre also dankbar, wenn man mir
ein entsprechendes Signal geben würde.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Be-
antwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres zur Verfügung.
Die Frage 43 des Abgeordneten Dr. Hans-Peter Uhl
wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 44 der
Kollegin Cornelia Pieper auf:
Ist es wahr, daß die Zahl der Jugendlichen, die durch das So-fortprogramm der Bundesregierung gegen Jugendarbeitslosig-keit tatsächlich gefördert worden sind, nur 133 000 beträgt, wiein der Ausgabe 48/1999 des Magazins „Der Spiegel“ behauptetwird?
G
Ich beantworte die
Frage 44 wie folgt: Nein. Nach Angaben der Bundesan-
stalt für Arbeit sind bis Ende November 1999 209 543
Eintritte von Jugendlichen in Maßnahmen des Sofort-
programms der Bundesregierung zu verzeichnen gewe-
sen.
Ein Teil der Jugendlichen hat im Laufe des Jahres an
mehr als an einer Maßnahme teilgenommen und wurde
bei jedem Eintritt in eine Maßnahme gezählt. Das Insti-
tut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundes-
anstalt für Arbeit hat im Rahmen seiner Begleitfor-
schung zum Sofortprogramm festgestellt, daß die bis
Ende Oktober 1999 registrierten 199 000 Eintritte auf
rund 163 000 unterschiedliche Jugendliche entfallen.
Diese beträchtliche Förderleistung hat zum Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit und zur Entspannung auf dem
Ausbildungsmarkt erheblich beigetragen.
Die von Ihnen zitierte Zahl von 133 000 Jugendlichen
ist nach den Feststellungen der Begleitforschung die
Zahl der verschiedenen Jugendlichen, die bis Ende
August 1999 durch das Sofortprogramm gefördert wur-
den. Daß ein Teil der Jugendlichen an mehr als einer
Maßnahme des Sofortprogramms teilnimmt, entspricht
dem Konzept des Sofortprogramms. So dienen die Trai-
ningsmaßnahmen sowohl der Vorbereitung auf eine be-
triebliche Ausbildung oder die Aufnahme einer Arbeit
als auch der Vorbereitung auf eine außerbetriebliche
Ausbildung im Rahmen des Sofortprogramms.
Im Einzelfall kann es auch vorkommen, daß ein Ju-
gendlicher in drei Maßnahmen eintritt. Dies macht auch
Sinn, wenn es zum Beispiel über Art. 11 der Richtlinien
zur Durchführung des Sofortprogramms gelingt, einen
Jugendlichen, der abgetaucht war, durch Mitarbeiter von
Bildungsträgern mit Erfolg für eine Maßnahme zu moti-
vieren – das wäre der erste Eintritt –, der Jugendliche
dann an einer Trainingsmaßnahme teilnimmt – das wäre
der zweite Eintritt –, um eine paßgenaue Vermittlung
auf dem Arbeitsmarkt oder die Einweisung in eine pas-
sende Qualifizierungsmaßnahme – das wäre der dritte
Eintritt – zu ermöglichen.
Eine Zusatzfrage,
Frau Pieper.
Ist der Bundesregierung
bekannt – wie es meines Wissens der Fall ist –, daß
mehr als 30 000 Jugendliche, die ein Jahr lang im Rah-
men des Sonderprogramms gefördert worden sind, be-
reits wieder arbeitslos sind?
G
Der Bundesregie-
rung sind dazu Zahlen bekannt. Ob es sich dabei um
30 000 handelt, kann ich so nicht bestätigen, weil – das
ist das Problem – das Programm ja noch läuft. Es kön-
nen zum Ende des Programms auch mehr sein. Ich weiß
nicht, auf welche Zahl Sie sich berufen. Ich habe Ihnen
ja schon in meiner Antwort auf Ihre Frage gesagt, daß
sich die Zahl, die Sie in der Frage genannt haben, auf
Ende August bezogen hat.
Es ist ganz schwierig – das sage ich ganz offen –,
zwischendurch Bilanzierungen vorzunehmen. Die Bun-
desregierung empfiehlt dringend abzuwarten, bis das
Programm abgeschlossen ist und die endgültige Evaluie-
rung stattgefunden hat.
Eine weitere Zu-
satzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie
haben eben erwähnt, daß das Programm weiterläuft. Es
ist um ein weiteres Jahr verlängert worden.
Ist Ihnen bekannt, daß die Träger, die dieses Programm
umzusetzen haben, zum Teil noch nicht wissen, wie sie
dies im einzelnen tun sollen? Das Programm hatte im er-
sten Jahr Anlaufschwierigkeiten. Wie werden Sie als
Bundesregierung dazu beitragen, daß es diese Anlauf-
schwierigkeiten nicht mehr gibt bzw. daß die Steuergel-
der in der Tat effizient eingesetzt werden?
7148 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
G
Ich weiß nicht, auf
welche Anlaufschwierigkeiten Sie sich beziehen. Ich
kann nur festhalten, daß dieses Programm, nachdem die
Bundesregierung es im Dezember des vergangenen Jah-
res auf den Weg gebracht hat, außerordentlich erfolg-
reich war. Wir haben schon im Juni Zahlen erreicht, von
denen wir gedacht haben, daß sie erst im Verlauf des
Jahres überhaupt zu erreichen sind.
Die neuen Richtlinien sind vom Bundeskabinett ver-
abschiedet worden. Es gibt einige Veränderungen. Bei
einem ganzen Teil des Maßnahmenpakets bleibt es bei
dem, was bisher Praxis ist. Ich gehe davon aus, daß die
Träger in der Lage sind, die Veränderungen, die wir
vorgenommen haben, relativ schnell umzusetzen.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Peter Rauen.
Herr Staatssekretär, bei
der Handwerkskammer Trier, in deren Vorstand ich
Mitglied bin, gibt es eindeutige Hinweise darauf, daß in
diesem Jahr die Zahl der Auszubildenden zurückgegan-
gen ist, weil mehrere Jugendliche es vorgezogen haben,
die staatlichen Programme in Anspruch zu nehmen. Gibt
es Kenntnisse über bundesweite Entwicklungen dieser
Art?
G
Ich kann Ihnen ge-
genwärtig nichts zum Stand in Trier sagen. Dafür bitte
ich um Verständnis.
– Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich kann im Namen der
Bundesregierung nicht dazu Stellung beziehen.
Im übrigen will ich Sie darauf hinweisen, daß wir im
Rahmen des Bündnisses für Arbeit im Zusammenhang
mit den Umsetzungspositionen darüber diskutiert haben,
daß es bei Einzelpositionen mögliche Effekte gibt, die
wir nicht wollen. Diese sind mit den Bündnispartnern,
also mit dem DIHT, mit dem Handwerk und anderen,
auch in den Bündnisrunden am letzten Freitag und am
letzten Sonntag besprochen worden. Wir wollen durch
eine Veränderung der Maßnahmen möglichen Fehlent-
wicklungen, die es in einzelnen Bereichen geben könnte,
gegensteuern.
Ich will ein konkretes Beispiel nennen – dabei kann
ich auch ruhig Roß und Reiter nennen, weil dies auch
öffentlich diskutiert wurde –: Wir waren uns schon zu
Beginn dieses Jahres beispielsweise mit Herrn Schoser
völlig einig darüber, daß man aufpassen muß, daß die
Wirtschaft nicht durch Angebote, die im Programm ge-
macht werden, in ihren Bemühungen nachläßt, zusätzli-
che Ausbildungsplätze zu schaffen. Dieses Programm
darf keine Konkurrenz zu dem Ausbildungskonsens
sein, den wir im Bündnis erreicht haben. Deswegen ha-
ben wir in bestimmten Bereichen gegengesteuert. Wir
beobachten auch sehr genau, was dort abläuft.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Goldmann.
Herr Staatsse-
kretär, Sie sprachen gegenüber meiner Kollegin Frau
Pieper von der Schwierigkeit der Bilanzierung, sagten
aber einen Satz später, daß das Programm besonders er-
folgreich sei. Können Sie vielleicht den von mir emp-
fundenen Widerspruch ein wenig auflösen?
– Bei dem Thema höre ich schon sehr genau zu. Ich war
in diesem Bereich sehr lange tätig.
Können Sie mir vielleicht auch aufzeigen, welche
Mittelbereitstellung erforderlich ist, um den von Ihnen
vorhin genannten Dreiereinstieg finanziell zu begleiten,
und was ein ganz normal in dualer Ausbildung befindli-
cher Auszubildender – zum Beispiel eine Bäckereiver-
käuferin – an Ausbildungsvergütung in der gleichen
Zeitphase monatlich zu erwarten hat?
G
Erstens, Herr Ab-
geordneter Goldmann, bin ich jetzt nicht in der Lage,
Ihnen eine Mittelbilanzierung für die drei Maßnahmen
zu geben. Das geht aus dem Stand einfach nicht.
– Darf ich weiter antworten, Herr Präsident? – Danke.
Ich bin nicht in der Lage – das war Ihr konkretes An-
sinnen –, eine Bilanzierung dahingehend zu machen,
was es kostet, wenn ein junger Mensch an den von mir
geschilderten drei Maßnahmen teilnimmt. Ich bin aber
in der Lage, Ihnen etwas zur Gesamtbilanzierung zu sa-
gen: Wir haben in diesem Jahr für das Programm 2 Mil-
liarden DM zur Verfügung gestellt. Bis Ende November
– der ganze Dezember kommt noch hinzu – haben an
diesem Programm schon über 200 000 junge Menschen
teilgenommen. Wenn Sie nun eine einfache Division
vornehmen, können Sie die Größenordnung des Betra-
ges für jeden einzelnen jungen Menschen errechnen.
Wenn ich in diesem Zusammenhang die Effekte be-
trachte, die wir mit diesem Programm erzielt haben,
dann denke ich, daß das eine stolze und gute Bilanz ist,
die man auch vorzeigen kann.
Die Antwort, die ich eben Ihrer Kollegin gegeben ha-
be, bezog sich auf die Zahl der Abbrecher im Programm.
Dazu kann man noch keine endgültige Aussage treffen.
Man kann sagen, wieviel in das Programm eingetreten
sind, wieviel in welchen Maßnahmen gewesen sind. An-
sonsten habe ich empfohlen, abzuwarten, bis die Be-
gleitforschung vorliegt. Dann können wir das genauer
sehen. Es gibt schon einzelne Zwischenberichte, bei-
spielsweise von Ende Oktober, in denen man das ein
bißchen verfolgen kann. Mehr kann ich Ihnen gegen-
wärtig hier nicht sagen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7149
(C)
(D)
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, Sie haben
gerade angeraten, eine einfache Division vorzunehmen.
Ich habe mich bemüht, das schnell nachzuvollziehen. Bei
2 Milliarden DM Einsatz und ungefähr 200 000 geför-
derten Fällen komme ich auf rund 9 000 bis 10 000 DM –
je nachdem, wie viele Jugendliche über 200 000 hinaus
gefördert werden. In dem hier geschilderten Fall von drei
Maßnahmeeintritten bedeutet das 30 000 DM pro Person.
Der „Stern“ der vorletzten Woche schreibt von bis zu sie-
ben Maßnahmeeintritten von Einzelpersonen. Sind Sie
mit mir der Ansicht, daß man dieses Geld eventuell
effektiver hätte einsetzen können?
G
Ich will Ihnen zu-
nächst auf Ihren „Stern“-Hinweis antworten: Auch wir
haben zur Kenntnis genommen, daß einzelne Jugendli-
che bis zu siebenmal in das Sofortprogramm eingetreten
sein sollen. Ich sage Ihnen, daß das schlicht Unsinn und
nicht möglich ist.
Die Zahl sieben beruht darauf, daß das IAB beim Auf-
bau seiner Datenbank bis zu sieben Datensätze pro Ju-
gendlichen vorfand, zum Beispiel durch Korrekturmel-
dungen, durch Adressenänderungen und ähnliches.
Ich habe, weil so etwas schon mehrfach vorgekom-
men ist, die herzliche Bitte, nicht immer alles zu glau-
ben, was in den Zeitungen steht. Wir haben diese Frage
schon mehrfach auf unterschiedlichen Veranstaltungen
beantwortet, zum Beispiel im Ausschuß für Arbeit und
Sozialordnung, im Haushaltsausschuß oder jetzt auch
hier. Durch Wiederholung wird das nicht wahrer; sie
macht nur eine bestimmte Absicht deutlich. –
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär Andres.
G
Ich bedanke mich
herzlich.
Ich will noch einmal sagen, daß wir davon ausgehen,
daß dieses Programm auf Grund der Effekte, die wir er-
zielt haben, außerordentlich sinnvoll ist.
In einem solchen Fall, den ich hier aufgezeigt habe
– junge Leute, die abgetaucht sind, sind in bestimmte
Motivierungsprogramme gegangen, wobei möglicher-
weise erreicht wurde, daß sie eine Beschäftigung oder
einen Ausbildungsplatz haben –, die Frage zu stellen, ob
man das Geld nicht besser oder effektiver ausgeben
könnte,
das halte ich schlicht für zynisch.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Peter Dreßen.
Herr Staatssekretär, sehe ich es
richtig, daß sich dieses Programm nur an Jugendliche
gewandt hat, die sonst bei der Eingliederung in Ausbil-
dungsberufe oder in sonstige Maßnahmen Probleme ge-
habt hätten?
Ich will nur noch einmal klarstellen, –
weil Sie das einfach nicht zur Kenntnis nehmen –, daß
dieses Programm für Jugendliche aufgelegt worden ist,
die sonst Probleme gehabt hätten, Beschäftigung auf
dem Arbeitsmarkt zu finden.
Herr Staatssekretär, mich würde interessieren, was
die damalige Bundesregierung unternommen hat, um
den Jugendlichen, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
hatten, in irgendeiner Art und Weise entgegenzukom-
men und zu helfen, damit ihnen überhaupt der Start ins
Berufsleben ermöglicht wurde.
G
Ich will zunächst
einmal festhalten – das haben wir schon häufiger in
öffentlichen Debatten, in Aktuellen Stunden, im Aus-
schuß und sonstwo dargelegt –: Dieses Programm ist
ausdrücklich kein Benachteiligtenprogramm.
Dieses Programm hatte vielmehr einerseits das Ziel, die
in den letzten Jahren Jahr für Jahr angestiegene Ar-
beitslosigkeit bei jungen Menschen unter 25 Jahren ent-
schiedener zu bekämpfen. Es hatte andererseits das Ziel,
den im vergangenen Jahr zu einem bestimmten Stichtag
noch nicht versorgten jungen Menschen, die einen Aus-
bildungsplatz suchten, eine Chance zu eröffnen.
Wer sich die Richtlinien zur Durchführung des Pro-
gramms mit seinen unterschiedlichen Artikeln genauer
anschaut, wird feststellen, daß wir eine ganze Bandbreite
von Maßnahmen in diesem Jugendsofortprogramm vor-
gesehen haben. Das reicht von der Beratung über
Trainingsmaßnahmen und Lohnkostenzuschüsse, über
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit Sonderqualifizie-
rungsanteilen bis hin zu den Positionen, daß wir über
7150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
dieses Programm ganz reguläre zusätzliche Ausbil-
dungsplätze finanziert und unterstützt haben oder daß
wir über dieses Programm auch ermöglicht haben, daß
junge Menschen den Hauptschulabschluß nachholen
konnten.
Man sieht daran, daß es ein sehr differenziertes An-
gebot ist, das sich an ganz unterschiedliche Zielgruppen
wendet und auch die zwei entscheidenden Schwellen
beachtet. Zum einen eröffnet es jungen Leuten, die aus
dem allgemeinbildenden Schulsystem kommen, eine
Chance, und zum anderen unterbreitet es den jungen
Menschen, die aus einer Ausbildung oder Beschäftigung
kommen und dann arbeitslos geworden sind, die sozusa-
gen vor der zweiten Schwelle stehen, ein entsprechendes
Angebot.
Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Wir sind der
Auffassung, daß dieses Jugendsofortprogramm außeror-
dentlich erfolgreich war. Deswegen hat die Bundesregie-
rung auch beschlossen, es für das nächste Jahr fortzuset-
zen. Deswegen haben wir die entsprechenden Richt-
linien in einzelnen Positionen korrigiert. Wir beobachten
das genau, legen Rechenschaft darüber ab und lassen das
Programm begleiten und evaluieren. Wir beobachten
genau die Auswirkungen und wollen möglicherweise
auftretenden Fehlentwicklungen entgegensteuern.
Im Kern ist das ein außerordentlich erfolgreiches
Programm. Es führt dazu, daß die Jugendarbeitslosgikeit
– ich wiederhole: seit 1993 ist die Zahl arbeitsloser
Menschen unter 25 Jahren Jahr für Jahr angestiegen –
geringer wird. Wir haben jetzt einen deutlichen Rück-
gang der registrierten Jugendarbeitslosigkeit, und das ist
ein toller Erfolg.
Ich rufe die Frage
45 der Kollegin Cornelia Pieper auf.
Ist es wahr, daß die Anzahl der Jugendlichen, die den Sprungaus diesem Programm in ein reguläres Beschäftigungsverhältnisgeschafft haben, nicht einmal 25 000 beträgt?
G
Bei der Beantwor-
tung dieser Frage ist sowohl die Zahl der Jugendlichen,
die aus Maßnahmen des Sofortprogramms ausgeschie-
den und in ein Beschäftigungsverhältnis gewechselt
sind, als auch die Zahl der Jugendlichen, die zur Zeit mit
Lohnkostenzuschüssen in den ersten Arbeitsmarkt ein-
gegliedert werden, zu berücksichtigen.
Die zuletzt genannte Gruppe zählt so lange zu den
Teilnehmern des Sofortprogramms, wie Lohnkostenzu-
schüsse gewährt werden. Ende November 1999 waren
dies 22 182 Jugendliche, deren Beschäftigung auf dem
ersten Arbeitsmarkt mit Lohnkostenzuschüssen geför-
dert wurde. Insgesamt wurden bislang für 26 500 Ju-
gendliche Lohnkostenzuschüsse gewährt.
Frau Pieper, Sie merken schon, es geht nur um eine
einzige Maßnahmensparte in diesem Zusammenhang.
Wenn ich mir Ihre Frage noch einmal anschaue, so wird
allein schon durch diese eine Maßnahme die von Ihnen
genannte Zahl von 25 000 Jugendlichen deutlich über-
troffen.
Nach Hochrechnungen, die das Institut für Arbeits-
markt- und Berufungsforschung der Bundesanstalt für
Arbeit im Rahmen seiner Begleitforschung zum Sofort-
programm durchgeführt hat, waren im Oktober 1999
von den Teilnehmern, die das Sofortprogramm wieder
verlassen haben, 22 000 erwerbstätig, 20 000 haben eine
berufliche Ausbildung aufgenommen,
ein Teil davon auch eine außerbetriebliche Ausbildung
im Rahmen des Sofortprogramms.
Wenn Sie allein diese drei Zahlen addieren, Frau Pie-
per, liegen Sie schon ganz deutlich und drastisch über
den von Ihnen genannten 25 000 Jugendlichen.
Außerdem möchte ich erwähnen, daß durch nach
Art. 2 der Richtlinien zur Durchführung des Sofortpro-
gramms geförderte Projekte 8 110 zusätzliche betrieb-
liche Ausbildungsplätze gewonnen werden konnten.
Wenn Sie also allein diese Bilanz nehmen, dann liegt
diese Zahl deutlich höher als das, was in Ihrer Frage
enthalten ist.
Eine Zusatzfrage,
Frau Pieper.
Herr Staatssekretär, wie
erklären Sie sich dann die Kritik des Zentralverbandes
des Deutschen Handwerks,
der ganz andere Zahlen vorgelegt und deutlich gesagt
hat, daß die Anzahl der Ausbildungsplätze gerade im
Handwerk in diesem Jahr zurückgegangen ist und auch
die Kostenbelastung gerade für das Handwerk und die
kleinen und mittleren Unternehmen so hoch geworden
ist, daß sie zum Teil keine Ausbildungsplätze mehr
schaffen können? Wie erklären Sie sich diese Diskre-
panz in den Aussagen?
G
Ich habe schon bei
der Beantwortung einer anderen Zusatzfrage darauf hin-
gewiesen, daß es darüber ausführliche Diskussionen
gibt. Ich möchte ausdrücklich sagen: Man muß nicht je-
de Zahl glauben, die in der Zeitung steht. Man muß auch
nicht jede Zahl glauben, die von den Verbänden in die
Welt gesetzt wird.
Ich kann Ihnen Monat für Monat die Bilanz der Bundes-
anstalt für Arbeit vorlegen. Jede einzelne Maßnahme-
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7151
(C)
(D)
position wird überprüft. Zu dieser Bilanz stehen wir in
der Fragestunde und im Ausschuß für Arbeit und Sozi-
alordnung Rede und Antwort. Ich hatte das große Ver-
gnügen, das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig-
keit schon dreimal im Haushaltsausschuß erläutern zu
dürfen. Ich gehe dort auch jederzeit wieder hin, weil ich
der Überzeugung bin, daß das, was wir machen, sehr er-
folgreich ist.
Ich habe Ihnen gerade erklärt, daß die Zahl, die Sie
genannt haben, schon deswegen nicht stimmen kann,
weil bereits durch eine einzige Maßnahme, nämlich
Lohnkostenzuschüsse, die Zahl der Beschäftigten im er-
sten Arbeitsmarkt deutlich stärker gestiegen ist, als Sie
gemeint haben. Es tut mir leid, ich weiß nicht, wie ich
dann andere Zahlen bewerten soll. Ich weiß natürlich
auch, daß es im politischen Geschäft bestimmte Interes-
sen gibt und daß die auch ausgetragen werden. Ich kann
Ihnen keine anderen Zahlen nennen als die, die ich vor-
getragen habe. Diese Zahlen wiederhole ich bei jeder
Zusatzfrage immer wieder gerne.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Herr Staatssekretär, woll-
ten Sie damit zum Ausdruck bringen, daß die Bundes-
anstalt für Arbeit die Unternehmens- und Geschäftsbi-
lanzen besser kennt als die Handwerks- und mittelstän-
dischen Betriebe selbst?
G
Ich habe Ihre Frage
nicht verstanden. Vielleicht können Sie sie mir erklären.
Weil Sie die Zahlen und
Aussagen des Zentralverbands des Deutschen Hand-
werks in Frage gestellt haben, habe ich Sie gefragt, ob
Ihrer Meinung nach das Handwerk selbst über die
Situation in den eigenen Firmen schlechter Bescheid
weiß als die Bundesanstalt für Arbeit. Das haben Sie
behauptet.
G
Das hat nichts mit
Geschäftsbilanzen zu tun; vielmehr wird im Handwerk
und in den IHKs nach bestimmten Regeln das gezählt,
was man selbst zählen kann. Es geht um Ausbildungs-
ordnungen und ähnliches mehr.
Sie haben danach gefragt, wie viele junge Menschen
einen Arbeitsplatz im ersten Beschäftigungssektor er-
halten haben.
Ich habe Ihnen die Zahlen, die die Bundesanstalt für Ar-
beit hieb- und stichfest vorlegen kann, genannt.
Woher Sie irgendwelche anderen Zahlen, mit denen Sie
Vergleiche anstellen, hernehmen, entzieht sich meiner
Kenntnis. Ich kann Ihnen nur das vorlegen, was die
Bundesanstalt für Arbeit – abgestimmt Arbeitsamtsbe-
zirk für Arbeitsamtsbezirk – jeden Monat bilanziert. Ich
werde Ihnen hier auch nichts anderes vorlegen.
Ich rufe die Frage
46 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Hauptver-bände der Deutschen Holz- und Möbelindustrie, dass die ge-planten Lohnkürzungen bei gleichzeitiger Mehrarbeit der Be-schäftigten der Philipp Holzmann AG zu einer Flucht aus derTarifbindung führen könnten, und wenn ja, welche Folgerungenzieht sie daraus?
G
Es gibt bisher keine
Erkenntnisse darüber, daß Bauunternehmen aus den Ar-
beitgeberverbänden austreten. Davon abgesehen, steht es
den Tarifvertragsparteien frei, auf Verbands- oder Un-
ternehmensebene flexible Regelungen zu treffen. Ar-
beitsrechtliche Hemmnisse stehen dem nicht entgegen.
Eine Zusatzfrage.
Auf Grund des Sanierungskon-
zeptes hat die Firma Holzmann – zumindest bis zum
Zeitpunkt der letzten Tickermeldung – die Gelegenheit
bekommen, mit dem Betriebsrat eine Vereinbarung über
weniger Lohn, mehr Arbeit und geringeres Urlaubsgeld
einzugehen. Das führt dazu, daß andere Betriebe das Ge-
fühl haben, im Wettbewerb schlechter gestellt zu wer-
den, weil sie diese Möglichkeit nicht haben. Beabsich-
tigt die Bundesregierung generell eine Lockerung des
Flächentarifvertrags?
G
Ich habe auf Ihre
eingereichte Frage schon geantwortet, daß arbeitsrecht-
liche Hemmnisse dem nicht entgegenstehen. Wir beab-
sichtigen dies nicht.
Eine zweite Zusatz-
frage.
Kann ich Ihre Antwort so ver-
stehen, daß das Günstigkeitsprinzip nach Auffassung der
Bundesregierung auch dahin gehend zu interpretieren
ist, daß Lohnverzicht für den Erhalt des eigenen Ar-
beitsplatzes für den Arbeitnehmer günstiger sein kann
als der Verlust desselbigen?
G
Herr Abgeordneter,
Sie können meine Antwort verstehen, wie Sie wollen.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
7152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Sie können meiner Antwort nur das entnehmen, was ich
gesagt habe. Wir sind der Auffassung, daß es keine ar-
beitsrechtlichen Hemmnisse gibt. Ansonsten schreiben
das Tarifvertragsgesetz und andere Gesetze bestimmte
Bedingungen vor. Nach denen haben Sie nicht gefragt.
Ich kann Ihnen nur sagen, daß einer solchen Entwick-
lung gegenwärtig keine rechtlichen Hemmnisse entge-
genstehen. Wir haben nicht die Absicht, das Günstig-
keitsprinzip zu ändern.
Ich rufe die Frage 47
des Abgeordneten Niebel auf:
Eröffnet die geplante Vereinbarung über Lohn- und Gehalts-kürzungen und längere Arbeitszeiten der Mitarbeiter der PhilippHolzmann AG die Chance zur Flexibilisierung der Tarifverträgeauch im Westen, und ist die Bundesregierung bereit, gegebenen-falls gesetzliche Rahmenbedingungen dafür herbeizuführen?
G
Welche Schluß-
folgerungen die Tarifvertragsparteien aus dem Fall
Holzmann ziehen, bleibt ihnen überlassen. Gesetzliche
Hemmnisse zur Umsetzung von Flexibilisierung gibt es
nicht.
Eine Zusatzfrage
des Kollegen Göhner.
Herr Staats-
sekretär, da Sie in Ihren beiden letzten Antworten sehr
pauschal und ohne auf die wirklichen Fragen einzugehen
geantwortet haben, möchte ich Sie fragen, ob es nicht
doch, wie am Beispiel Holzmann ersichtlich, ein massi-
ves Hemmnis ist, daß in einer Situation, in der sich Be-
triebsrat, Arbeitnehmer und Arbeitgeber darüber einig
sind, daß eine bestimmte Abweichung vom Tarifvertrag
für sie günstiger ist, weil das ihren Arbeitsplatz erhalten
kann, gleichwohl das Arbeitsrecht trotz dieser überein-
stimmenden Auffassungen von Arbeitnehmern, Arbeit-
geber und Betriebsrat dies nicht als günstiger zuläßt. Ist
dies nicht doch ein Hemmnis?
G
Herr Abgeordneter
Göhner, Ihre Bewertung meiner Antworten als pauschal
teile ich natürlich nicht. Ich bin der Meinung, daß ich
knapp und präzise geantwortet habe. Wenn man sich an-
schaut, was der Abgeordnete Niebel gefragt hat, dann
stellt man fest, daß er diejenigen Antworten erhalten hat,
die seinen Fragen angemessen sind.
Ob man Hemmnisse sieht oder nicht, hängt davon ab,
wie man bestimmte Tatbestände – Günstigkeitsprinzip
und andere Dinge – bewertet. Dazu habe ich hier sehr
präzise geantwortet.
– Doch, lesen Sie es nach.
Herr Kollege Göh-
ner, Sie haben leider keine weitere Zusatzfrage mehr.
Eine andere Zusatzfrage möchte Herr Kolb stellen, bitte
schön.
Herr Staatssekretär,
Sie wollen konkret gefragt werden, damit Sie konkret
antworten können. Sind Sie der Auffassung, daß § 77
Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes einer Vereinba-
rung auf Betriebsebene über die Lohnhöhe nicht entge-
gensteht? Gehen Sie davon aus, daß der jetzige § 77
Abs. 3 es zuläßt, daß eine Betriebsvereinbarung bei
Holzmann über nach unten abweichende Löhne getrof-
fen werden kann? Ja oder nein?
G
Nein.
– Nein.
Der Staatssekretär
hat auf die Frage geantwortet. Weitere Zusatzfragen sind
nicht zulässig. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer
Staatssekretär. Wir sind am Ende dieses Geschäftsbe-
reichs.
Ich hätte jetzt gern noch der Parlamentarischen
Staatssekretärin Frau Brigitte Schulte das Wort gegeben;
aber nachdem bereits der Abgeordnete Werner Siemann
um schriftliche Beantwortung der Fragen 50 und 51 ge-
beten hat, hat sich dem auch der Kollege Roland Claus –
von ihm stammen die Fragen 48 und 49 – angeschlos-
sen. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, daß Sie den-
noch hier waren.
Damit ist die Fragestunde beendet.
Zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fra-
gen 31 bis 40 zur Sanierung der Philipp Holzmann AG
hat die Fraktion der F.D.P. eine Aktuelle Stunde ver-
langt.
Ich rufe also auf:
Aktuelle Stunde
Sanierung Holzmann AG
Als erster Redner hat der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die teilweise
unbefriedigenden und unklaren Antworten in der Frage-
stunde haben erwiesen, daß die Intervention des Bun-
deskanzlers bei der Sanierung des Konzerns Philipp
Holzmann einer genauen Betrachtung bedarf. Die Inter-
vention des Bundeskanzlers Gerhard Schröder bei die-
sem Sanierungsversuch wird nämlich täglich – jetzt muß
man schon sagen: stündlich bzw. minütlich – fragwürdi-
ger.
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7153
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(D)
Heute morgen ist die Meldung bekanntgeworden, daß
nicht 3 000 Arbeitnehmer bei Philipp Holzmann aus-
scheiden müssen, sondern 5 000. Es sind also 2 000
mehr; die Zahl hat sich nahezu verdoppelt.
Mit Ticker-Meldung von 14.42 Uhr, also vor etwa einer
Stunde – schauen Sie einmal auf die Uhr –, kommt die
Nachricht, daß der Präsident des Verbandes der Bauin-
dustrie, Herr Walter, sagt, daß ihm keine anderen Mög-
lichkeiten blieben, als gegen die Betriebsvereinbarungen
bei Philipp Holzmann – die bis heute ein wesentlicher
Baustein dieses Sanierungskonzeptes sind – zu klagen.
Um 15.13 Uhr, also vor etwa einer halben Stunde,
kommt die Ticker-Meldung, daß der Vorsitzende der
Bauarbeitergewerkschaft, unser Bundestagskollege Wie-
sehügel,
ankündigt, daß er ebenfalls beabsichtige, gegen den Be-
triebsrat und die Geschäftsführung von Philipp Holz-
mann zu klagen.
Nun höre ich – das ist auch eine Ticker-Meldung –,
daß der Bundeskanzler persönlich telefonisch versucht
hat, Herrn Walter zu überreden, von der Klage Abstand
zu nehmen.
Das ist nun Vergangenheit. Er wollte wohl versuchen,
seine mißlungenen Sanierungsbemühungen am Leben zu
erhalten.
Zu dieser Intervention des Bundeskanzlers gibt es Fra-
gen über Fragen.
Grundsätzlich ist es immer so, daß dann, wenn sich
der Staat in den Wettbewerb einmischt, Wettbewerbs-
verzerrungen entstehen,
und zwar in aller Regel zu Lasten der kleinen und mitt-
leren und zugunsten von großen Unternehmen.
Wenn 20 000 Arbeitnehmer entlassen werden sollen,
kommen der Bundeskanzler, der Ministerpräsident, die
Oberbürgermeisterin und noch einige Pastoren. Wenn
bei 100 mittelständischen Unternehmen mit jeweils
200 Mitarbeitern die Not groß ist und die Insolvenz be-
vorsteht, dann kommt keiner.
Die läßt man ohne Rührung über die Klinge springen.
Was hat denn nun den Bundeskanzler veranlaßt, ge-
rade im Fall Philipp Holzmann zu intervenieren?
Philipp Holzmann war doch bekannt dafür – hören Sie
sich das bitte an –, am Bau- und Wohnungsmarkt wie
der Hecht im Karpfenteich zu agieren. Dieses Unter-
nehmen hat in besonderer Weise die kleinen und mittle-
ren Unternehmen aus dem Markt gedrückt, indem es mit
Dumpingpreisen den Wettbewerb verzerrte.
Es wurden Bilanzmanipulationen begangen und falsche
Darstellungen gemacht. Das Unternehmen hat unter
Preis angeboten und dadurch Defizite eingefahren. Nun
kommt der Bundeskanzler und will mit dem Geld der
Steuerzahler diese Defizite ausgleichen, die ja in Kauf
genommen wurden, um Mittelständler vom Markt zu
drängen. So darf der Staat nicht mit dem Geld der Steu-
erzahler umgehen.
Hier wird Mißmanagement belohnt, mangelnde Aufsicht
im Aufsichtsrat sanktioniert und die Wirtschaftsprü-
fungsgesellschaft, die ebenfalls ihre Aufgaben nicht er-
füllt hat, in Schutz genommen. Das geht so nicht, meine
Damen und Herren. Der Staat hat nicht die Aufgabe, fal-
sche Unternehmenspolitik zu korrigieren.
Es müssen vielmehr die Beteiligten die Suppe auslöf-
feln, die sie sich selbst eingebrockt haben.
Ich frage die Bundesregierung: Was tut sie, wenn die
Betriebsvereinbarung nicht zustande kommt und das ge-
samte Sanierungskonzept platzt,
mit Ihrer Zusage in Höhe von 250 Millionen DM? Im
übrigen möchte ich wissen, was eigentlich passiert,
wenn die Europäische Union die Beihilfe nicht geneh-
migt. Was gilt dann die Zusage des Bundeskanzlers?
Steht er dann blamiert da? Schließlich stellt sich die
Frage, wie sich diese Intervention auf das allgemeine
Ansehen der deutschen Wirtschaftspolitik auswirkt. Ist
es denn ein Zufall – dazu habe ich ja auch eine Frage
gestellt –, daß der Euro-Kurs gerade im Zusammenhang
mit dieser Intervention auf ein historisches Tief gefallen
ist? Der Präsident der Europäischen Zentralbank hat ja
Gleiches gesagt.
Meine Damen und Herren, die ganze Sache stinkt. So
geht es nicht.
Es bleibt der wirklich traurige Eindruck, daß der Bun-
deskanzler, indem er sich die Sorgen der Bauarbeiter
von Philipp Holzmann zunutze gemacht hat,
Dr. Hermann Otto Solms
7154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
das Schauspiel der Zustimmung vieler Bauarbeiter vor
den Fernsehkameras nutzen wollte, um seinen Parteitag
gut vorzubereiten und dort eine Mehrheit zu erzielen,
anstatt seiner Verantwortung als Chef der deutschen
Bundesregierung gerecht zu werden, indem er sich
an die Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft
gehalten, den Wettbewerb nicht verfälscht und Holz-
mann dem Insolvenzverfahren überlassen hätte.
Herr Kollege
Solms, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Das Kapitel ist
heute noch nicht beendet. Es wird auch so nicht durch-
gehen. Es kann nicht angehen, daß ein Großunterneh-
men, in dem Mißwirtschaft betrieben wurde, auf Kosten
der Steuerzahler saniert wird, während viele Mittel-
ständler und die Arbeitnehmer bei vielen mittelständi-
schen Unternehmen sang- und klanglos untergehen müs-
sen. So kann in Deutschland keine Wirtschaftspolitik
betrieben werden.
Das Wort für die
SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Dr. Ditmar Staf-
felt.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Solms, es hätte
eigentlich nur noch gefehlt, daß Sie Ihre Rede um die
These ergänzt hätten, zunächst habe die rotgrüne Koali-
tion den Zusammenbruch des Holzmann-Konzerns her-
beigeführt, um im Anschluß daran einen ordentlichen
Showauftritt für den Herrn Bundeskanzler zu inszenie-
ren.
Ich muß ehrlich sagen, daß ich Ihnen – Sie behaupten ja
immer, etwas von Wirtschaft zu verstehen – zugetraut
hätte, sich ein wenig stärker an den Tatsachen zu orien-
tieren
und sich mit dem auseinanderzusetzen, worum es hier
eigentlich geht.
Niemand in diesem Hause verteidigt die Praktiken
des Vorstandes des Holzmann-Konzerns.
Es konnte auch nicht der Eindruck entstehen – das gilt
ebenso für die Fragestunde –, der Parlamentarische
Staatssekretär sei der heimliche Vorstand der Holzmann
AG.
Nein, wir sind diejenigen, die den Vorgang, um den es
hier geht, zu analysieren haben.
Wegen der Haltung der Banken und der Nichtzurver-
fügungstellung ausreichender finanzieller Mittel ist ein
Stück Hilfe von seiten der öffentlichen Hand gegeben
worden. Ich erinnere mich an die allererste Debatte zu
Holzmann in diesem Hause. Man konnte gar nicht so
schnell schauen, wie die CDU/CSU und die F.D.P. dar-
auf hinwiesen, nicht nur der Kanzler, sondern auch Mi-
nisterpräsident Koch und Oberbürgermeisterin Roth
hätten an der Rettung des Konzerns mitgewirkt, was
nicht in Vergessenheit geraten dürfe.
Heute erklären Sie, der Weg sei völlig falsch und der
Kanzler habe wegen des bevorstehenden SPD-Partei-
tages nur eine Show abziehen wollen.
Dies ist allein schon gegenüber den Zehntausenden be-
troffener Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schofe-
lig.
Sie machen es sich hier viel zu einfach, zumal dieser
Vorgang nichts Neues ist. Es ist der Zwischenruf
„Lambsdorff und AEG“ gemacht worden. Herr Rexrodt
war damals als Senator in Berlin an der AEG-Sanierung
beteiligt.
Die F.D.P. hat in dieser Frage also auch eine sehr kon-
krete Geschichte. Das kritisieren wir gar nicht.
Worum geht es? Die Zielsetzung war, daß wir wenig-
stens den Versuch unternehmen, eine Grundlage für eine
Sanierung zu schaffen. Dieser Sanierungsversuch sollte
in allererster Linie Arbeitsplätze retten helfen.
Genau diesen Ansatz haben Sie auch bei den Fällen
Maxhütte und Bremer Vulkan verfolgt, die in Ihre Re-
gierungszeit fielen.
Ich glaube, auch bei Leuna war es so.
Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7155
(C)
(D)
Bei Leuna konnte nur nicht direkt subventioniert wer-
den; da ist es dann über die Treuhand gelaufen. Die Fra-
ge nach den Details kann wahrscheinlich nur die
CDU/CSU-Fraktion beantworten.
Wir tun recht daran, uns mit den Fakten sehr ruhig
und sachlich auseinanderzusetzen. Dazu gehört, Herr
Solms, daß wir festhalten, daß es offensichtlich erhebli-
che Managementfehler gegeben hat. Dazu gehört auch,
daß es offensichtlich Versäumnisse bei der Wahrneh-
mung der Aufsichtspflichten gegeben hat. In diesem Zu-
sammenhang erinnere ich daran, daß in der letzten Le-
gislaturperiode ein Gesetzesvorschlag der SPD-Fraktion,
mit dem Änderungen der Aufgaben der Aufsichtsräte
herbeigeführt werden sollten, von Ihnen nicht hätte ab-
gelehnt, sondern angenommen werden sollen. Dann wä-
ren wir heute ein ganzes Stück weiter.
Wir werden uns dieser Frage erneut annehmen.
Ich gebe auch zu, daß es ein großes Problem ist, wenn
der Vertreter einer Bank, die zweitgrößter Anteilseigner
an einem solchen Unternehmen ist, gleichzeitig Auf-
sichtsratsvorsitzender ist, weil er dadurch möglicher-
weise zwei Loyalitäten hat, in so kritischen Situationen
aber natürlich nur zugunsten einer Loyalität entscheiden
kann.
Auch darf man – hier müßten Sie etwas differenzier-
ter argumentieren – die mittelständische Wirtschaft nicht
in der Weise, wie Sie es getan haben, als Opfer in die
Diskussion einführen.
Für einen erheblichen Teil kleiner und mittlerer Unter-
nehmen ist es die Rettung gewesen, weil sie jetzt für ihre
Leistungen bezahlt werden können.
– Sie können so laut grölen, wie Sie wollen. Mit dem
Mikrophon kann ich lauter sprechen.
Ich sage Ihnen eines: Vergessen Sie bitte nicht – und
erzählen Sie in diesem Zusammenhang keine Märchen –,
daß wir gerade für die kleinen und mittelständischen
Unternehmen eine Vielzahl von Instrumenten haben: die
Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Deutsche Aus-
gleichsbank und viele landeseigene Institute. Diese In-
stitutionen stärken das Eigenkapital und können Liqui-
ditätsengpässe ausgleichen. Tun Sie doch nicht so, als
würden wir nur etwas für die großen Unternehmen tun
und die kleinen Unternehmen einfach hängen lassen!
Das ist unwahr und entspricht nicht den politischen
Zielen unserer Koalition.
Ich will zum Schluß um eines bitten: Tun Sie uns
selbst den Gefallen – uns selbst, weil es um das Ansehen
der Politik geht und weil es darum geht, daß wir die Zu-
sage einhalten, die wir alle gemeinsam gegeben haben –,
alles daran zu setzen, daß ein Versuch der Sanierung
dieses Unternehmens möglich wird und daß dieser Ver-
such nicht durch waghalsige und durch gegenüber der
Arbeitnehmerschaft zum Teil ziemlich miese Behaup-
tungen kaputt geredet wird! Das würde der Sache und
insbesondere den Menschen nicht helfen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Gunnar Uldall.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Fragestunde, die wir heute er-
lebt haben, und die Rede unseres Kollegen Staffelt, die
wir gerade gehört haben, zeigen doch, daß das Thema
Holzmann für die SPD kein Jubelthema, so wie sie es
vor 14 Tagen präsentiert hat, mehr ist.
Jubel hätte es drei Tage vor dem Parteitag der SPD
bei dem wohlinszenierten Fernsehauftritt von Gerhard
Schröder in Frankfurt nicht gegeben, wenn er von vorn-
herein die Wahrheit gesagt hätte.
Wenn Schröder gesagt hätte, es tue ihm fürchterlich leid,
aber es müßten 5 000 Arbeitnehmer von Holzmann ent-
lassen werden,
dann hätte es keinen Jubel, sondern angesichts dieser
Ehrlichkeit Pfiffe gegeben.
Diese Situation liegt aber jetzt vor. – Frau Staatsse-
kretärin, es handelt sich doch nicht um geheime Infor-
mationen, die hier aus Verschlußsachen zitiert werden
müßten. Wenn Sie so reden, dann machen Sie alles nur
noch viel dramatischer. – Herr Staatssekretär Mosdorf
hat heute morgen im Ausschuß berichtet – er läßt sich ja
gerne zitieren –, daß 5 000 Arbeitnehmer von Holzmann
in den nächsten zwei Jahren das Unternehmen verlassen
müssen.
Dr. Ditmar Staffelt
7156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
5 000 Arbeitnehmer heißt 30 Prozent der inländischen
Arbeitnehmer von Holzmann. Es ist daher absolut
falsch, eine große Jubelveranstaltung abzuhalten.
Gerhard Schröder hatte sich selbst unter Erfolgsdruck
gesetzt. Am Mittwochmorgen stand in allen Zeitungen
Deutschlands als Aufmacher: Schröder erklärt Holz-
mann zur Chefsache. – Wenn der Kanzler etwas zur
Chefsache erklärt, dann weiß man, daß er zum Erfolg
kommen muß.
Dieser Erfolgsdruck ist ausgenutzt worden. Der Steuer-
zahler muß das erreichte Ergebnis mit 250 Millionen
DM sehr teuer bezahlen.
Weil es eine unnötige Hektik und Eile wegen des
selbstgesetzten Erfolgsdrucks gegeben hat, wurde eine
Hauptursache für die Gefährdung von Holzmann nicht
beseitigt.
Die Mietgarantien existieren nämlich auch in der Zu-
kunft. Das Fortbestehen der Mietgarantien bedeutet, daß
Holzmann an die Bauträger hohe Summen zahlen muß.
Wenn man aber ein ordentliches Insolvenzverfahren
eingeleitet hätte, hätten diese Mietgarantien nicht fortbe-
standen. Jetzt müssen wir aber leider feststellen, daß
durch diese Mietgarantien für die Bauträgergesellschaf-
ten ein großer Teil der aus Steuermitteln aufgewendeten
250 Millionen DM verzehrt werden. Dieses Geld hätten
wir zum Wohle des Steuerzahlers einsparen können.
Wir konnten in den vergangenen Wochen den Stati-
stiken entnehmen, daß im letzten Jahr 8 000 Baubetriebe
durch Insolvenz gefährdet worden sind. Von diesen
8 000 Baubetrieben wurde 7 999 nicht geholfen. Einem
einzelnen Baubetrieb wurde geholfen. Da fragt man
sich, nach welchen Auswahlkriterien die Bundesregie-
rung in einem solchen Fall vorgeht.
Der kleine Mittelständler zählt nicht. Der große Fall, der
sich in den Medien gut vermarkten läßt, löst die entspre-
chende Unterstützung durch den Bund aus. Deswegen
frage ich Sie: Nach welchem Kriterienkatalog wird die
Bundesregierung denn vorgehen, Herr Staatssekretär,
wenn in den nächsten Tagen – was Gott verhüten möge
– ein ähnlicher Fall auftauchen würde? Sie können dann
nicht nein sagen, denn Sie haben jetzt einen Präzedenz-
fall geschaffen. Deswegen müssen Sie dann erneut mit
viel Geld aus der Staatskasse helfen.
Dabei hat doch Philipp Holzmann durch seine Nied-
rigstpreise andere in Schwierigkeiten, andere an den
Rand des Insolvenzverfahrens gebracht.
Nun werden die vorhandenen Überkapazitäten nicht
durch ein Insolvenzverfahren von Philipp Holzmann ab-
gebaut, sondern durch den Ruin einer Vielzahl kleiner
und mittelständischer Betriebe, denen nicht in entspre-
chender Form geholfen wird.
Sie können mit 250 Millionen DM nicht den Struktur-
wandel bei uns in Deutschland aufhalten. Dieses Geld
wird nicht zum Erfolg führen. Die Politik, die von der
Bundesregierung ergriffen wird, ist eine interventionisti-
sche Politik der 70er Jahre.
Sie paßt nicht mehr in das jetzige Zeitalter hinein; sie
darf so nicht laufen.
Ich möchte diesen Fall deswegen abschließend so
bewerten, wie es die „Financial Times“ beschrieben hat:
„Einer der Jobs, die Schröder gerettet hat, war sein eige-
ner.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Margareta
Wolf.
Margareta Wolf (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Nunmehr verfolge ich die Debatte schon
seit ihrem Beginn um 9.30 Uhr im Ausschuß. Ich frage
mich zunehmend, was diese Inszenierung soll. Ich finde
sie unerträglich.
Verehrter Herr Kollege Uldall, Sie haben gerade gesagt,
es handele sich um Interventionismus, und haben das
mit den 70er Jahren verglichen. Vielleicht ist Ihnen ent-
gangen, daß in dieser Republik – und zwar von der
„FAZ“ über das „Handelsblatt“ bis zur „Zeit“ – inzwi-
schen eine Debatte im Anschluß an die WTO-Konferenz
unter der Überschrift läuft, die Leute hätten Angst vor
der Globalisierung, sie hätten Angst vor dem Turboka-
pitalismus und sie befürchteten, daß nationale Politik
keinen Einfluß mehr auf wirtschaftliche Prozesse und
auf den Arbeitsmarkt habe.
– Das hat damit sehr viel zu tun!
Gunnar Uldall
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7157
(C)
(D)
Ich glaube, es ging in diesem Fall darum, das Vertrauen
in die Politik zu stärken.
Das hat die Bundesregierung mit dieser Intervention ge-
macht. Sie hat die Banken in die gesamtgesellschaftliche
Verantwortung gezwungen. Die Banken hätten das sonst
nicht getan. Ich denke, daß es sich bei dieser Geschichte
insofern nicht um einen ordnungspolitischen Sündenfall,
sondern um eine gesellschaftspolitisch, ordnungspolitisch
und strukturpolitisch notwendige Initiative handelt.
Verehrter Herr Kollege Uldall, Sie argumentieren nicht
stringent. Sie sagen dem Kollegen Mosdorf, man habe vor
ein paar Tagen noch davon gesprochen, daß bei Holz-
mann vermutlich 3 000 Arbeitnehmer entlassen werden
müßten. Bei Holzmann handelt es sich nicht um einen
Staatsbetrieb. Die Firma Holzmann wird im Moment von
Roland Berger begutachtet; es wird ein Sanierungskon-
zept erstellt. Sie wissen ganz genau, daß Sie erst nach
Fertigstellung dieses Sanierungskonzeptes relativ definitiv
sagen können, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer des Betriebes entlassen werden müssen.
Meine Damen und Herren, Sie argumentieren heute
schon den ganzen Tag damit, den Großen würde gehol-
fen und die Kleinen müßten in die Röhre schauen.
Das ist eine absolute Volksverdummung. Das wissen Sie
genau!
Der Kollege Mosdorf hatte darauf hingewiesen, daß an
dem Betrieb Holzmann 500 ostdeutsche Kleinstunter-
nehmen hängen, die als leistungsstark gelten, die aber,
wenn Holzmann dichtmachen müßte, auch dichtmachen
müßten.
Zum zweiten, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, möchte ich Ihnen aus einer AP-Meldung vorlesen,
die noch gar nicht so alt ist.
Sie sollten einmal zuhören, das soll manchmal helfen. –
In dieser AP-Meldung zum Thema kleine und mittlere
Unternehmen, Hilfe des Bundes heißt es:
Der Bund, die bundeseigene Kreditanstalt für Wie-
deraufbau und die Deutsche Ausgleichsbank
… stellten zusammen pro Jahr
– 1998, 1999 –
mehr als 30 Milliarden Mark für die Mittelstands-
förderung bereit …
– Es handelt sich bei Holzmann, um daran zu erinnern,
um Bürgschaften in einer Größenordnung von 250 Mil-
lionen DM.
Ferner würden für kleine und mittlere Unternehmen
Bürgschaften bis jeweils 1,5 Millionen Mark ge-
währt. Darüber hinaus gebe es für die neuen Länder
ein Bürgschaftsprogramm der DtA bis zu 20 Mil-
lionen Mark und gemeinsame Bundes- und Lan-
desbürgschaften.
Kredite für den Mittelstand seien in der Größenordnung
von 2,6 Milliarden DM verbürgt worden. Zur Überwin-
dung von Liquiditätsengpässen seien Liquiditätshilfen in
der Größenordnung von 1,1 Milliarden DM zur Verfü-
gung gestellt worden. Das sind vorrangig Programme –
– hören Sie einmal zu! –, die Sie in den letzten Jahren
aufgelegt haben und die wir jetzt für die kleinen und
mittleren Unternehmen aufgestockt haben, meine sehr
geehrten Damen und Herren.
Soviel zu Ihrem populistischen Argument – das nur
Angst verbreitet und sonst gar nichts –, die kleinen
Unternehmen würden hier ständig in die Röhre gucken.
Sie haben jetzt ein Thema gefunden, von dem Sie glau-
ben, daß Sie damit endlich wieder aus Ihrem Loch he-
rauskommen. Nur darum geht es Ihnen doch! Sie lang-
weilen uns mit einer Debatte, der Fragen zugrunde lie-
gen, die der Kollege Mosdorf in der Fragestunde heute
schon zweimal beantwortet hat. Wir führen hier eine
Aktuelle Stunde zu den Fragen 33 bis 40, die bereits
ausführlich beantwortet wurden. Sie machen das hier
alles nur, damit Sie wieder eine positive Performance
haben – die Sie aber nicht haben, Herr Kollege; es ist
nur eine vermeintlich positive Performance.
Trotzdem müssen wir uns – gerade vor dem Hinter-
grund der Pleiten, die wir in der Vergangenheit in Groß-
unternehmen hatten: MG, Balsam, Schneider, AEG; es
wurde schon darüber geredet – Gedanken darüber ma-
chen, ob die Rahmenbedingungen, die wir im Aktien-
recht festgelegt haben, tatsächlich noch tauglich sind: im
Interesse der Betriebe, im Interesse der Aktienkultur in
Deutschland und im Interesse der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Wir sollten uns gerade unter dem
Gesichtspunkt der Aufsichtspflicht darüber Gedanken
machen, ob eine wechselseitige Präsenz der Gläubiger-
banken in den Aufsichtsräten konkurrierender Unter-
nehmen tatsächlich zuträglich ist. Ich glaube, nicht. Wir
sollten – über das KonTraG hinaus – gesetzlich fest-
schreiben, daß die Einführung eines verbindlichen Risi-
komanagements für jede AG gilt. Das haben Sie in der
Vergangenheit versäumt. Man muß die Prüfberichte
allen Aufsichtsratsmitgliedern aushändigen, Herr Solms,
sonst sind sie nicht in der Lage, die Unternehmen wirk-
sam zu kontrollieren. Wir müssen – das sagen uns
Goldman Sachs und ausländische Banken – die Ver-
flechtungen zwischen Banken und Unternehmen entzer-
Margareta Wolf
7158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
ren. Hier muß mehr Transparenz herrschen. Diese Bun-
desregierung wird sich darum kümmern. Hier müssen
wir Versäumtes nachholen, was auf Ihre Untätigkeit in
den letzten Jahren zurückzuführen ist.
Danke schön.
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich sehe keinen Grund, etwas an mei-
ner grundsätzlichen Haltung, die ich am 25. November
1999 zu Holzmann und zur Rettung von Arbeitsplätzen
dort dargelegt habe, zu ändern.
– Herr Tauss, es war eine richtige Entscheidung. Viel-
leicht können Sie hier auch zustimmen. Es war in einer
konkreten Situation, an einem bestimmten Tag im No-
vember die richtige Entscheidung, wobei ich damit aus-
drücklich die wirtschaftliche Situation eines in einer
schwierigen Branche tätigen Unternehmens, die Chance
des Erhalts von konkreten Arbeitsplätzen vor dem Hin-
tergrund der Gefahr kurzfristiger Verwerfungen in
einem ganzen Wirtschaftszweig meine und nicht etwa,
wie es hier zum Ausdruck gebracht worden ist, die poli-
tische Situation des Bundeskanzlers und Parteivorsit-
zenden der SPD. Politik kann und darf nicht beiseite
stehen, wenn es um die Abwehr der beschriebenen aku-
ten Gefahren geht, die eine ganze Volkswirtschaft ge-
troffen hätten. Hier, Herr Kollege Uldall, habe ich eine
andere Einschätzung als Sie. Warum ist Herr Minister-
präsident Koch, warum ist die Oberbürgermeisterin Frau
Roth denn in die Gespräche hineingegangen? Warum
hat Herr Koch, fast resignierend, festgestellt, daß er das
Ziel nicht erreichen konnte?
Was hätten wir heute für eine Diskussion, wenn Herr
Koch und Frau Roth schon in der ersten Runde ohne das
Sich-Einschalten des Bundeskanzlers Erfolg gehabt
hätten? Ich glaube nicht, daß Sie das mit der Vehemenz
beklagt hätten, wie Sie es hier jetzt getan haben.
Ich will auch sagen – Herr Kollege Staffelt hat es an-
gesprochen; manchmal muß man es wiederholen, damit
es deutlich wird –: Holzmann ist kein Einzelfall, kein
„ordnungspolitischer Sündenfall“ nur dieser Bundesre-
gierung. Es hat in der Ära Kohl den Bremer Vulkan ge-
geben. Es hat die bayerische Maxhütte in der Ära Stoi-
ber gegeben, und es hat die AEG in der Ära Lambsdorff
gegeben. Natürlich können Sie nun sagen, jetzt sei eine
andere Zeit; das sei früher gewesen und gehe jetzt nicht
mehr. Aber ich denke, es gibt eine Verantwortung der
Politik, in dieser Situation Einfluß zu nehmen.
Ob und welche Effekte die Viertelmilliarde Steuer-
gelder tatsächlich haben wird, ob sie eine Chance oder
letztlich ein Fluch für viele der Zehntausende von Ar-
beitsplätzen im Holzmann-Konzern und für Hunderttau-
sende von Arbeitsplätzen in der ganzen Baubranche sein
wird, werden wir alle nach dem heutigen Stand der Din-
ge frühestens im Februar 2000, wenn das versprochene
Sanierungskonzept tatsächlich vorliegt, seriös einschät-
zen können. Diese Zeit sollten wir uns dann auch neh-
men.
Was wir aber schon heute beurteilen können, sind
wirtschaftspolitische Konsequenzen aus dem Fall Holz-
mann. Diesen Forderungen muß sich die Regierung
schon heute stellen, weil sie diese schon als Opposition
ernsthaft und lautstark vertreten hat.
Erstens. Holzmann wurde Opfer seines eigenen
Preisdumpings. Holzmann trieb das Subunternehmer-
unwesen auf die Spitze. Konsequenzen für die öffentli-
che Auftragsvergabe müssen endlich gezogen werden,
und zwar nicht nur unter dem Aspekt, daß das billigste
Angebot in den seltensten Fällen das preiswerteste und
wirtschaftlichste Angebot ist, sondern auch dahin ge-
hend, daß endlich mit der bevorzugten Vergabe von
Teil- und Fachlosen Ernst gemacht wird. Auch wenn
sich damit die öffentlichen Investitionen erst einmal
verteuern: Die Kosten für die öffentlichen Hände wer-
den langfristig und dauerhaft geringer.
Zweitens. Egal, was Staatsanwälte, Zivilrichter oder
Journalisten im Fall der mit Holzmann verbundenen
Vorstände, Aufsichtsräte, Banker und Wirtschaftsprüfer
irgendwann abschließend herausgefunden haben wer-
den: Die rechtlichen Regelungen hinsichtlich Konzen-
tration und Transparenz im Unternehmensbereich gehö-
ren auf den Prüfstand. Denn schon jetzt ist klar, daß seit
der letzten Gesetzesänderung im Mai 1998 Dinge nicht
so gelaufen sind und nicht so gelaufen sein können, wie
sie unter ordentlichen Kaufleuten hätten ablaufen müs-
sen.
Drittens. Auch wenn sich die Bundesregierung –
heute früh habe ich das erlebt – hinter der Tarifautono-
mie versteckt, um nicht zu der Lohn- und Arbeitszeit-
vereinbarung zwischen dem Management der Holzmann
AG und dem Betriebsrat Stellung nehmen zu müssen:
Holzmann darf nicht das Einfallstor für die endgültige
Aushebelung von Flächentarifverträgen werden.
Das ist nicht nur eine tarifpolitische, sondern vor al-
lem auch eine wettbewerbspolitische Frage. Schon heute
zahlen 8 Prozent der Baufirmen weniger als die festge-
setzten Mindestlöhne, wie die Arbeitsämter und Haupt-
zollämter bei ihren Kontrollen herausgefunden haben,
ganz zu schweigen von Tariflöhnen. Wenn über Holz-
mann das gesamte Gefüge ausgehebelt wird, konkurriert
sich langfristig die gesamte Baubranche zu Tode. Dieser
Virus wird sich – mit fatalen gesellschaftlichen Folgen –
auf die gesamte Wirtschaft ausbreiten. Wer die Ticker-
meldungen der letzten Tage aufmerksam verfolgt hat –
Margareta Wolf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7159
(C)
(D)
davon bin ich bei allen Kollegen, die sich bisher dazu
geäußert haben, überzeugt –, wird auch gesehen haben,
daß es in dieser Richtung viele Diskussionsbeiträge gibt.
Wir müssen der aufgezeigten Gefahr gemeinsam entge-
gentreten.
Denn sonst wären zu schlechter Letzt alle Unternehmen
„Holzmänner“. In diesem Fall wäre die jetzt gewährte
Hilfe tatsächlich denkbar schlecht angelegt. Gerade
wenn sie es mit der Tarifautonomie ernst meint, muß die
Bundesregierung in dieser Frage ihrer gesellschaftlichen
Verantwortung gerecht werden.
Danke schön.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Konrad Gilges.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die erste Frage, die ich mir angesichts dieser
Aktuellen Stunde stelle,
ist: Wo liegt eigentlich das Interesse der F.D.P.? Herr
Solms, man kann doch nicht aus ideologischen Gründen,
die Sie hier vorgetragen haben, 60 000 Menschen in die
Arbeitslosigkeit und einige tausend Kleinstunternehmer
in den Bankrott schicken.
So weit kann doch keine Ideologie der Welt gehen. Oder
Sie neiden – Sie haben ja den Erfolg des Bundeskanzlers
hier beklagt – dem Bundeskanzler diesen Erfolg. Sie be-
haupten ja immer, wir seien Neidhammel, weil wir et-
was für die Gerechtigkeit tun wollen. Aber da, glaube
ich, sind Sie näher an Ihrem eigenen Spruch, als wir das
je sein können.
Ich glaube, diese Leistung des Bundeskanzlers war
eine gute Leistung. Wir müssen dem Bundeskanzler
danken, daß er erreicht hat, daß 60 000 Menschen ihren
Arbeitsplatz behalten konnten.
Zweiter Punkt: Es ist ganz interessant, was Herr Ul-
dall dazu gesagt hat. – Ich habe gehört, auch Herr Lau-
mann wird dazu nachher noch das Wort ergreifen. –
Herr Uldall ist, wenn ich ihn richtig verstanden habe,
gegen Staatsinterventionismus. Sie wissen doch, daß das
ein wichtiger Eckstein der sozialen Marktwirtschaft ist.
Sie sollten einmal Müller-Armack bzw. Erhard – ich
will nicht alle anderen Vertreter dieser Lehre zitieren –
nachlesen. Dann wüßten Sie, daß sie sich zur Interventi-
on in den Wirtschaftsprozeß bekannt haben, daß sie es
sogar für notwendig erachtet haben, daß Regierung,
Staat und Gesellschaft in den Wirtschaftsprozeß, und
zwar sowohl auf der Kapitalseite als auch auf der Ar-
beitnehmerseite, regulierend eingreifen.
Bei mir ist heute der Eindruck entstanden, daß Sie
seitens der CDU/CSU der sozialen Marktwirtschaft ab-
geschworen haben.
Wenn das so ist, dann sollten Sie auch sagen, daß Sie
mit der sozialen Marktwirtschaft nichts mehr zu tun ha-
ben wollen und daß Sie nur noch für eine freie Markt-
wirtschaft sind. Dann weiß ich, woran ich bin.
– Herr Uldall hat das so gesagt. Das war so zu verstehen.
Die nachfolgenden Redner können das ja korrigieren.
Dagegen habe ich nichts.
– Herr Westerwelle, Sie haben überhaupt keine Ahnung
von diesen schwierigen Fragen. Bleiben Sie bei Ihrer
Juristerei. Vom Bau und von der Wirtschaft verstehen
andere Leute mehr.
Jetzt zu Philipp Holzmann selber: Es geht uns über-
haupt nicht um den Konzern Philipp Holzmann. Viel-
mehr geht es uns um die 17 000 Arbeitnehmer, die in
diesem Konzern arbeiten müssen, und um die zirka
40 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie um
die Masse von Kleinunternehmen, die von dem Gene-
ralunternehmer Holzmann direkt abhängig sind.
– Herr Rauen, Sie wissen das doch viel besser als ich.
Die Firma Holzmann ist kein Bauunternehmen im tradi-
tionellen Sinne, wie Sie das noch sind, also kein kleiner
Baukrauter. Philipp Holzmann ist vielmehr ein General-
unternehmer, der weit über das hinaus, was Bauunter-
nehmer machen, Aufträge annimmt. Er betreibt zum
Beispiel die Köln-Arena. Die Firma Philipp Holzmann
macht in den nächsten 20 Jahren allein hier einen Ver-
lust von 500 Millionen DM. Das ist ja einer der Gründe
dafür, weshalb die Firma in Schwierigkeiten geraten ist.
Mit dem vorgesehenen Sanierungskonzept wird
überwiegend den Arbeitnehmern und Kleinunterneh-
mern, zum Beispiel Elektromeistern, Fliesenlegermei-
stern
Rolf Kutzmutz
7160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
– jetzt hören Sie einmal zu –, Kleinunternehmern in den
Bereichen Straßenbau und Metallbau etc., also all denje-
nigen, die für Philipp Holzmann als Subunternehmer ge-
arbeitet haben, geholfen.
Herr Solms hat angezweifelt, daß der im Rahmen der
Sanierung vorgesehene Beitrag der Arbeitnehmer zu-
stande kommt. Man merkt es Ihnen an, daß Sie sich
schon fast wünschen, daß der von den Arbeitnehmern zu
leistende Beitrag in Höhe von 300 Millionen DM nicht
zustande kommt. Ich gehe jedoch nach wie vor davon
aus, daß eine Lösung gefunden wird, damit die Arbeit-
nehmer ihren Beitrag dazu leisten können, daß diese
Firma saniert werden kann.
Ich sage Ihnen zum Schluß: Aus meinen Erfahrungen
weiß ich, daß die Tatsache, daß Arbeitnehmer dazu bei-
tragen, daß eine Firma über Wasser gehalten wird und
nicht bankrott geht,
heute eine normale Erscheinung ist – manchmal zum
Ärger der Gewerkschaften, manchmal unter Beteiligung
der Gewerkschaften. Es gibt in Köln ein großes Unter-
nehmen, das sich vor fünf Jahren in einer Krise befun-
den hat. Da haben die Arbeitnehmer pro Jahr auf 5 000
bis 10 000 DM Lohn verzichtet, was eine schwierige Sa-
che war. Was bei Philipp Holzmann passiert und was die
Arbeitnehmer dort tun, ist keine Ausnahmesituation,
sondern üblich. Ich bedauere das manchmal. Ich halte
das für nicht sehr glücklich. Aber ich finde es gut, daß
sie es tun. Denn es geht letztlich um ihre Arbeitsplätze.
Wir gehen davon aus, daß ihre Arbeitsplätze durch das,
was zwischen dem Bundeskanzler, den Banken und den
Gewerkschaften vereinbart worden ist, gesichert werden.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Hansjürgen Doss.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Kurz vor
Weihnachten ist es sicher gut, wenn die Arbeitnehmer
bei Holzmann eine Chance haben, daß ihr Unternehmen
saniert wird.
Wenn wir heute darüber reden, dann müssen wir nach-
fragen, ob sie wirklich eine Chance haben oder ob die
Öffentlichkeit getäuscht worden ist.
– Sie sind bekannt für Ihre Zwischenrufe. Es ist fast
schon ein Mangel, wenn Sie nicht dazwischenröhren.
Herr Staffelt, Sie haben gesagt, wir sollten die Sanie-
rung nicht kaputtreden. Ich weise das mit Entschieden-
heit zurück. Wir haben hier die Pflicht, über das zu re-
den, was die Bundesregierung tut, und auch darüber, ob
dies verantwortbar ist.
Insofern lassen wir uns dies von Ihnen nicht ausreden –
da können Sie soviel blöken, wie Sie wollen –: Wir
wollen, daß Holzmann eine Chance hat, daß die Ar-
beitsplätze erhalten bleiben, daß die Subunternehmer
weiter Arbeit haben und die Menschen eine Hoffnung
auf Sanierung.
Diese Hoffnung ist allerdings stark getrübt. – Das ist die
eine Seite.
Zur anderen Seite: Frau Wolf hat hier vom Vertrauen
in politisches Handeln gesprochen. Aber was hier ge-
schieht, löst im Mittelstand Attentismus aus. Die Mittel-
ständler sagen: Du mußt nur groß genug sein, dann wird
dir geholfen. Sie kommen zum Teil zu uns in den Wahl-
kreisen und sagen: Hilf mir, du hast doch die Macht da-
zu! Guck dir doch an, was Schröder gemacht hat. Du
mußt doch auch in der Lage sein, der Bank zu sagen,
daß sie mir helfen soll. – Aber wir können nichts tun.
Die mittelständischen Unternehmen sterben leise.
Durch die Wettbewerbsverzerrungen, die Sie durch
Lohnabschlag und 10 Prozent längere Arbeitszeiten in die
Wege geleitet haben, werden in der Konsequenz eine
ganze Reihe mittelständischer Betriebe vor die Hunde ge-
hen. Dies wird allerdings nicht in der Öffentlichkeit ge-
schehen; denn Mittelständler sterben im Regelfall leise.
Das Schicksal der Mittelständler ist nicht nur ein
quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem.
Der Mittelständler haftet nämlich mit seinem gesamten
Vermögen – mit seiner Lebensversicherung und seinem
Häuschen; nicht selten muß er die Kinder von der
Schule nehmen; das sind richtige Schicksale – , während
bei den großen Unternehmen lediglich Positionen ge-
wechselt werden. Das ist der qualitative Unterschied.
Deswegen ist das, was hier passiert ist, kurz vor dem
Parteitag der Sozialdemokraten, so skandalös.
Meine Damen, meine Herren, der Bau befindet sich
in einer Strukturkrise; das weiß jeder. In die Bereinigung
dieses Wirtschaftszweiges, der ganz wichtig ist, hat der
Bundeskanzler mit geöffneter Geldbörse eingegriffen.
– Herr Gilges, da wir von der Sozialen Marktwirtschaft
sprechen: Dies ist ein Verstoß gegen die Soziale Markt-
wirtschaft, wie er schlimmer nicht sein könnte.
In dem Bericht der Bundesregierung, der nicht ge-
heim ist, steht: Die Vermeidung einer Insolvenz der
Firma Holzmann AG lag dabei im Interesse der Abwen-
dung eines ansonsten nicht mehr beherrschbaren volks-
wirtschaftlichen Schadens.
Konrad Gilges
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch den 15. Dezember 1999 7161
(C)
(D)
Wissen Sie, was das bedeutet? Alle großen Unterneh-
men in Deutschland arbeiten mit Subunternehmern zu-
sammen; und deren Arbeitsplätze sind natürlich gefähr-
det, wenn es den großen Unternehmen nicht gut geht.
Der Aussage der Bundesregierung folgend – ich kann
aus Zeitgründen nicht weiter aus ihrem Bericht zitieren
–, könnte kein großer Betrieb in Deutschland mehr ka-
puttgehen, da sie demnach alle Anspruch auf staatliche
Unterstützung hätten. Nennen wir sie also gleich Kom-
binate! Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind.
In diesem Sinne: Schröders Hilfe war gut für Holz-
mann und für die Banken, insbesondere aber für seine
Wiederwahl.
Sie war schlecht für Tausende von mittelständischen
Betrieben und deren Mitarbeiter,
denen kurz vor Weihnachten ein Stück staatsdirigisti-
sche Realität vor Augen geführt wurde. Das wird sie in
einem hohen Maße verunsichern, den Attentismus in
Deutschland steigern, Arbeitsplätze kosten und für unse-
re gesamte Volkswirtschaft schädlich sein.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht der Kollege Dirk Niebel.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wir haben heute schon
eine ganze Menge über Ordnungspolitik und über staat-
lichen Interventionismus in der Fragestunde und auch in
der Aktuellen Stunde gehört. Keiner, egal aus welcher
Fraktion, hat behauptet, daß Holzmann nicht massive
Managementfehler begangen, durch Dumpinglöhne
kleine und mittlere Betriebe kaputt gemacht und sich
selbst dadurch, daß sie unter Preis am Markt agiert hat,
an den Rand des Grabes gebracht hätte.
Das ist aber gar nicht der Punkt, um den es hier geht.
Hier geht es vielmehr um die Frage: Welches Maß an
Verlogenheit in der Politik müssen wir uns hier eigent-
lich noch bieten lassen?
Ich erinnere mich noch ganz genau, wie der Bundes-
kanzler mit dem Abgeordneten Wiesehügel beim Me-
dienspektakel vor der Firma Holzmann vor die Kameras
getreten ist, kurz vor dem Parteitag der Sozialdemokrati-
schen Partei Deutschlands. Da hatten wir ihn wieder,
unseren Spaßkanzler! Er hatte wieder Spaß am Regie-
ren. Neben ihm stand das Mitglied des Deutschen Bun-
destages, unser Kollege Wiesehügel, der heute leider
nicht hier ist. Wahrscheinlich schreibt er gerade an sei-
ner Klage. Ich erinnere mich noch daran, wie der Spaß-
kanzler dem großen Dicken – so hat er ihn genannt,
nicht ich – auf die Schulter klopfte und sagte: Dem gro-
ßen Dicken müßt ihr danken. Er hat dafür gesorgt, daß
eure Arbeitsplätze sicher sind. Ich frage Sie: Wie verlo-
gen soll Politik denn noch werden? Das kann doch wohl
nicht wahr sein!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Tik-
kermeldung, die Hermann Otto Solms vorhin zitiert hat,
hat Herr Wiesehügel als Vorsitzender der IG BAU an-
gekündigt, daß er gegen die Vereinbarung des Betriebs-
rates mit dem Vorstand von Holzmann rechtliche
Schritte einleiten, daß er dagegen klagen werde. Das ist
in der jetzigen Situation im Grunde ganz okay. Denn
diese Vereinbarung führt dazu, daß der Kleine und
Mittlere nicht die gleichen Chancen bekommt wie der
große Dicke, daß der Kleine und Mittlere nicht die
Möglichkeit hat, wenn der Betrieb kurz vor dem Kon-
kurs steht, durch Absenkung von Lohn, durch Mehr-
arbeit ohne Lohnzuschläge, durch Absenkung von
Urlaubsgeld für den Erhalt der eigenen Arbeitsplätze zu
sorgen.
Genau das ist doch das Problem! Das Problem ist,
daß die Menschen in diesem Land für ihre eigenen Ar-
beitsplätze kämpfen wollen,
daß sie bereit sind, Mindereinnahmen in Kauf zu neh-
men, daß sie bereit sind, Mehrarbeit zu leisten. Das gel-
tende Recht, Herr Gilges, verhindert, daß die Menschen
in die Lage versetzt werden, für ihre eigenen Arbeits-
plätze zu kämpfen.
§ 4 Abs. 5 des Tarifvertragsgesetzes muß geändert wer-
den.
Das Günstigkeitsprinzip im deutschen Arbeitsrecht wird
gerade von seiten der Regierungsfraktionen immer so
dargestellt, als sei es für Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer nur günstig, wenn sie weniger arbeiten, wenn sie
mehr Lohn sehen. Nein, ich sage Ihnen: Es ist günstiger
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einen Ar-
beitsplatz zu haben, als in die Arbeitslosigkeit gejagt zu
werden, weil sie nicht für ihre eigene Beschäftigung
kämpfen dürfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haupt-
verband des Deutschen Baugewerbes geht davon aus,
daß in diesem Umstrukturierungsprozeß noch minde-
stens 40 000 Arbeitsplätze verloren gehen werden. Bei
der Kanzlerveranstaltung war die Rede davon, daß
17 000 „Holzmänner“ gerettet werden könnten. 5 000
Arbeitsplätze, so haben wir heute vernommen – von
Herrn Diller übrigens –, gehen verloren. Es bleiben also
noch 12 000 Arbeitsplätze.
Hansjürgen Doss
7162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Diese angeblich geretteten 12 000 Arbeitsplätze fal-
len jetzt im Zweifelsfall woanders weg. Was bedeutet
das, wenn es ganz dumm läuft? Das bedeutet im Zwei-
felsfall: 240 Betriebe mit jeweils 50 Arbeitnehmern
können ihren Laden zumachen. Da kommt dann kein
Kanzler, da kommt auch kein Wiesehügel. Da kommt
vielleicht noch der F.D.P.-Abgeordnete des Wahlkreises,
aber mit Sicherheit kommt der Gerichtsvollzieher.
Meine Damen und Herren, Sie können mit Ihrer
staatsinterventionistischen Politik keine Sicherheit am
deutschen Arbeitsmarkt schaffen. Sie müssen Flexibili-
tät zulassen. Der Flächentarifvertrag ist eindeutig veral-
tet. Sie müssen dafür sorgen, daß wir als deutscher Ge-
setzgeber – um Arbeitsplätze zu schützen – die Voraus-
setzung dafür schaffen, daß Menschen, die dazu bereit
sind, für ihre Arbeitsplätze selbst kämpfen können.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat sich die Vorgänge
um Holzmann sehr zu Herzen genommen, weil es uns
darum geht, daß sowohl die Beschäftigten am Bau als
auch die der kleinen Zulieferbetriebe nicht in die Ar-
beitslosigkeit entlassen werden. Deswegen werden wir
aus dieser Sache lernen. Wir werden für eine Moderni-
sierung des deutschen Tarifrechts in diesem Hause
streiten.
Vielen Dank.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Wolfgang Weiermann.
Herr Präsident! Mei-
ne Damen! Meine Herren! Das, was wir gerade ver-
nommen haben, war der unverhüllte Angriff der F.D.P.
in diesem Hohen Hause auf Anstand und Sitte im Be-
reich der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes.
Unverblümter hat es hier noch keiner gesagt – auch in
der Vergangenheit in Bonn nicht –, worauf es der F.D.P.
ankommt: Weg mit dem, was wir Schutzrechte nennen,
was in Verordnungen geregelt ist. Nach Ihrem Ver-
ständnis und dem Verständnis gewisser Arbeitgeber sind
das Hemmnisse, die weg müssen – aber nicht mit uns!
Das einzige Hemmnis, dessen Beseitigung aus diesem
Parlament wir begrüßen würden, sind Sie.
Als ich 1987 in den Deutschen Bundestag gewählt
wurde, hätte ich es nicht für möglich gehalten, was man
hier so alles sagen kann. Man kann hier ungestört – das
ist keine Kritik an Sie, Herr Präsident – von „Verlogen-
heit“ und ähnlichem sprechen. Ich finde, das ist hier kei-
ne Aktuelle Stunde, sondern ein beschämendes Beispiel
dafür, wie Parlamentarier untereinander nicht streiten
sollten.
Man hat das Gefühl, meine Damen und Herren von
der Opposition, Sie haben 16 Jahre lang regiert und ha-
ben es gar nicht gemerkt.
Denn all das, was Sie uns gegenwärtig als Fehler an-
kreiden, hätten Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit
– zumindest in den letzten zwölf Monaten – erledigen
können.
Denn es gab Insolvenzen en masse in Deutschland.
Deswegen nützt es nichts, wenn wir in Sonntagsreden
den Mittelstand und das Handwerk loben und darauf
hinweisen: Auf diesen Bereich entfielen immerhin 45
Prozent der Innovationen, 46 Prozent der steuerpflichti-
gen Umsätze und mehr als die Hälfte der Bruttowert-
schöpfung. Das ist wahr – wir als Sozialdemokraten be-
grüßen das auch –, aber genauso wahr ist, daß die Zahl
der Firmenpleiten in Ihrer Regierungszeit massiv zuge-
nommen hat. Trotzdem haben Sie noch im letzten Jahr
Ihrer Regierungsverantwortung, 1998, den entsprechen-
den Einzelplan des Haushalts immer weiter herunterge-
fahren. Wenn wir schon von Lügen und Betrug reden:
Das ist die Wahrheit, die an dieser Stelle festgehalten
werden muß.
Die hohe Zahl der Insolvenzen war auch für die ge-
samtwirtschaftliche Entwicklung gravierend; denn der
volkswirtschaftliche Schaden infolge von Insolvenzen
beträgt jährlich mehr als 60 Milliarden DM. In der Spit-
ze haben deswegen fast eine halbe Millionen Menschen
ihren Arbeitsplatz verloren. Um ebendiese halbe Million
Menschen geht es: daß sie nicht das Schicksal der Ar-
beitslosigkeit erleiden, daß sie nicht durch Mängel der
Politik bis in die Sozialhilfe durchgereicht werden. Das
wollen Sozialdemokraten und Grüne verhindern, und
das werden wir auch verhindern.
Trotz dieses Wissens wagen Sie es – anders kann
man es gar nicht mehr nennen –, dem amtierenden Bun-
deskanzler vorzuwerfen, daß er Arbeitsplätze gerettet
hat. Meine Damen und Herren von der Opposition auf
der rechten Seite dieses Hauses, Sie sollten sich schä-
men für solche Ausführungen.
Der unwiderrufliche Verlust von Arbeitsplätzen trifft
in erster Linie jene, die abhängig beschäftigt sind und
die den Abstieg zu Sozialhilfeempfängern zu verkraften
haben.
Wie weltfremd und arrogant muß man eigentlich sein,
um den Vorwurf zu erheben, es gehöre sich nicht, in die
Dirk Niebel
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch den 15. Dezember 1999 7163
(C)
(D)
Kräfte des freien Marktes einzugreifen, der Markt regle
das alles schon richtig? Ich sage Ihnen mit Unterstrei-
chung jeden Satzes und jeden Wortes: Dies ist der Ein-
bruch der CDU/CSU- und F.D.P.-Opposition, der so-
zialen Marktwirtschaft in unserem Lande endgültig ab-
zuschwören und den Garaus zu machen. So wird es
draußen verstanden.
Der Konzernbetriebsrat hat sich durch den Verzicht
auf einen Teil der Einkommen bereit erklärt, die Summe
von rund 245 Millionen DM einzubringen. Das ist
schmerzlich genug. Es ist unverschämt, in diesem Zu-
sammenhang ausschließlich von Wettbewerbsverzerrung
zu reden. Diese Handlung zeugt vielmehr von der Soli-
darität der Arbeitnehmer und ihrer Verantwortung ge-
genüber 17 000 bzw. 60 000 – wenn man die Handwer-
ker und Zulieferer dazu nimmt – inländischen Arbeits-
plätzen. Das ist eine solidarische Leistung. Diese muß in
diesem Hohen Hause gelobt und nicht beschimpft wer-
den.
Ich hatte ursprünglich ein Konzept, nach dem ich et-
was viel Freundlicheres – zumindest in der Sache – ge-
sagt hätte. Aber Sie, meine Damen und Herren, haben
damit angefangen. Sie bringen das Faß zum Überlaufen.
Ich sage an die Adresse der F.D.P.: Mitbestimmungs-
elemente – Sie sind ja immer die eifrigsten Verfechter
von Deregulierungsmaßnahmen – sind in unserem Land
keine Hemmnisse, sondern ein notwendiges Element des
sozialen Ausgleichs und ein notwendiges Instrument,
damit sich Kapital und Arbeit in Augenhöhe begegnen
können. So soll es auch bleiben.
Herr Kollege Wei-
ermann, Sie haben Ihre Redezeit schon weit überzogen.
Ich möchte Sie bitten, jetzt zum Schluß zu kommen.
Dann darf ich mich
an dieser Stelle recht herzlich für die Aufmerksamkeit
bedanken und hoffe auf Ihre Einsicht, damit wir in Zu-
kunft davor gefeit sind, solche beschämenden Aktuellen
Stunden ertragen zu müssen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Karl-Josef Laumann.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begreife die Ner-
vosität bei der SPD, wenn man über dieses Thema redet,
nicht. Es ist völlig klar – es passiert natürlich auch auf
regionaler Ebene über Wirtschaftsförderungsgesell-
schaften oder Sparkassen –, daß die öffentliche Hand ab
und zu behilflich ist, Engpässe in Unternehmen zu
überwinden, wenn man eine Perspektive für dieses Un-
ternehmen sieht.
Aber daß wir darüber eine Debatte führen, hängt damit
zusammen, daß die Sanierungsgespräche in Sachen
Holzmann von den Medien in übelster Art und Weise
zelebriert worden sind
und daß man die Situation bei Holzmann politisch in-
strumentalisiert hat.
Wenn man das so macht, muß man sich nicht wun-
dern, daß es im ganzen Land eine Diskussion darüber
gibt, die ich auch in meinem Wahlkreis wahrnehme. Du
mußt nur groß genug werden, dann kannst du gar nicht
mehr pleitegehen. Aber was passiert eigentlich bei den
Kleinen? –
Dies hören doch auch Sie in Ihren Wahlkreisen. An
dem, was die Leute sagen, ist auch etwas dran. Wenn
man das so öffentlich zelebriert, ist es normal, daß auch
wir im Parlament darüber reden wollen,
zumal es immer deutlicher wird, daß es sehr fraglich ist,
ob die Sanierung von Holzmann überhaupt auf soliden
Füßen steht. Wir hören, daß Subunternehmer schon seit
November kein Geld mehr bekommen haben. Um es mit
den Worten des Betriebsratsvorsitzenden von Holzmann
zu sagen: Auch deren Arbeiter sollen Weihnachten et-
was auf dem Tisch haben.
Dann gibt es eine Entwicklung, die jedem von uns
Sorgen machen muß: Bei dem Sanierungskonzept von
Holzmann ist eine Seite der Medaille, daß die Beleg-
schaft – soweit ich das aus den Zeitungen entnehmen
konnte – mit 385 Millionen DM an dieser Sanierung
beteiligt ist.
Als ehemaliger Betriebsrat, der von dieser Sache ein
bißchen versteht, frage ich mich natürlich: Wie soll das
ein Betriebsrat, wie soll das die Belegschaft bei Holz-
mann organisieren? Sie kann es doch nur so organisie-
ren, daß Ansprüche, die sie tarifvertraglich zugesichert
bekommen hat, aufgegeben werden und daß man bei
Holzmann bewußt unter Tarifverträge geht.
Wenn die Holzmänner statt 39 Stunden – was bei der
IG BAU Tarif ist – 43 Stunden pro Woche arbeiten,
dann entspricht das einer Reduzierung um 10 Prozent
bei den Lohnkosten. Wenn die Beschäftigten weiterhin
Wolfgang Weiermann
7164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
auf 6 Prozent Lohn verzichten, sind das insgesamt
16 Prozent weniger.
Jetzt sage ich Ihnen, was passiert: Holzmann wird
sich unter diesen Bedingungen am Markt beteiligen,
man wird Aufträge bekommen, und die Konkurrenz von
Holzmann wird in einem halben Jahr den eigenen Be-
triebsräten vortragen: Wir haben hier eine Ausschrei-
bung gegen Holzmann verloren, wir haben dort eine
Ausschreibung gegen Holzmann verloren; bitte, Be-
triebsrat, räume du uns in unserem Unternehmen eben-
falls die Konditionen ein, die der Betriebsrat von Holz-
mann eingeräumt hat.
Herr Kollege Weiermann, so, wie Sie das jetzt ma-
chen, sind Sie dabei, die Allgemeinverbindlichkeit von
Tarifverträgen und Flächentarifverträgen mächtig ins
Gerede zu bringen. Ich bin sehr gespannt, wie das Recht
gebeugt wird, um den § 77 Abs. 3 des Betriebsverfas-
sungsgesetzes einzuhalten. Ich weiß keine Lösung.
Wenn der Betriebsrat so etwas vereinbart, ist das auf je-
den Fall gegen das Betriebsverfassungsgesetz. Gibt es
kollektive Einzelverträge – dazu haben wir ein Gerichts-
urteil –, ist das ebenfalls gegen das Betriebsverfassungs-
gesetz. Ich bin sehr gespannt, wie Herr Wiesehügel, wie
die Gewerkschaften, wie die SPD und wie der Bundes-
kanzler, der Sie in diese Verlegenheit gebracht hat, da
herauskommen.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Sie
mit dem, was Sie jetzt veranstalten, nicht Wasser auf die
Mühlen derjenigen gießen, die glauben – deren Meinung
teile ich nicht –, daß wir tarifliche Öffnungsklauseln
brauchen. Ich will keine, weil ich glaube, daß Tarifver-
träge eine ordnende Funktion haben.
Dazu gibt es auch andere Meinungen; das akzeptiere ich.
Aber wenn Sie in so großen Firmen das Recht in dieser
Art und Weise beugen, werden Sie denjenigen Vorschub
leisten, die die Tarifverträge am liebsten ganz aushebeln
würden. Dafür tragen Sie und Ihr Bundeskanzler die
Verantwortung.
Es spricht der Par-
lamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für
Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
S
Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Herr
Laumann, erlaube ich mir, Ihren letzten Satz, der Bun-
deskanzler habe die Holzmänner in die Verlegenheit ge-
bracht, zurückzuweisen. Nicht der Bundeskanzler, son-
dern ein falsches Management, riesige Managementver-
sagen und riesige Aufsichtsratsversagen haben das Un-
ternehmen in diese Verlegenheit gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich überlege mir die
ganze Zeit: Was wäre eigentlich heute, neun Tage vor
Heiligabend, gewesen, wenn wir das gemacht hätten,
was offensichtlich einige von Ihnen – keineswegs alle –
wollen. Dann hätte man die Situation gehabt, daß sich
ein paar Vorstände, ein paar Darlehensgeber vor einigen
Tagen in einem Glaskasten eines Bankhauses in Frank-
furt getroffen, kühl gerechnet und gesagt hätten: Das
Unternehmen ist nicht mehr zu retten; wir nehmen unser
Geld heraus; wir lassen das Unternehmen fallen. Das
Management wäre abgefunden worden, und die 16 000
Holzmänner hätten auf der Straße gestanden.
Ich stelle mir einmal vor, wie das unter dem Christbaum
bei Kerzenlicht ausgesehen hätte. Sie hätten die Men-
schen allein gelassen. Wir Sozialdemokraten werden die
Menschen nie allein lassen; wir werden immer an ihrer
Seite stehen.
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. Wir je-
denfalls wissen, wie wir uns verhalten müssen, wenn es
darum geht, Menschen zu helfen und die Sorgen der
Menschen ernst zu nehmen. Wir reagieren nicht mit
Kälte, sondern versuchen, auf sie zuzugehen.
Übrigens – das will ich klar sagen, damit wir uns
nicht in irgendeinem Schema verhaspeln – hat es ja auch
viele von Ihnen gegeben, die gesagt haben: Laßt uns
schauen, was man in einer solch verfahrenen Situation
tun kann. Herr Laumann hat das eben zu Beginn seiner
Rede noch einmal gesagt, übrigens auch Herr Doss, wie
ich der Fairneß halber sagen muß. Die Situation ist nicht
durch die Politik verfahren, sondern durch ein Unter-
nehmensmanagement, und zwar seit Jahren. Das ist kein
Ergebnis des Handelns im Jahr 1999. Im Jahr 1999 sind
die 2,4 Milliarden DM Defizit vor allem deshalb ent-
standen, weil man Mietgarantien gegeben hat, die kein
Mensch halten konnte. Aber die alten Krisen, die alten
Belastungen bestanden vorher, weil das Unternehmen
schlecht geführt war.
In einer solchen Situation, aber nur in einer solchen
Situation erinnere ich an einen Satz von Ludwig Erhard,
der einmal gesagt hat:
Ab und zu ist es nicht zu vermeiden, daß man aus
guten Gründen gegen die ordnungspolitischen
Grundsätze verstößt: Man muß nur wissen, daß
man es tut.
Karl-Josef Laumann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7165
(C)
(D)
Ludwig Erhard gehörte zu denjenigen, die wußten, in
welcher Krisensituation man eingreifen muß und daß
soziale Marktwirtschaft etwas anderes ist als Marktradi-
kalismus, daß man in manchen Situationen nicht den
Standpunkt vertreten kann: Uns ist alles egal, der Markt
wird es schon richten. Es gibt Situationen, in denen man
helfen muß.
Aber jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch
einmal zur Sache. Wir haben in der Fragestunde vorhin
auch schon über viele Details geredet. Ich will es nur
noch einmal sagen. Wenn sich ein Mann wie Roland
Berger zusammen mit Wirtschaftsprüfern die Details
und die Bilanzen ansieht und feststellt, das Unternehmen
ist sanierungsfähig, dann ist es doch entscheidend, wel-
che Schlußfolgerungen man daraus zieht. Wenn sich
dann die Banken, wie es passiert ist, nicht einigen kön-
nen – wir alle wissen, daß einige Banken andere Unter-
nehmensinteressen hatten, die mit Holzmann gar nichts
zu tun hatten – und es nach einer Einigungsrunde und
nach vielen Verhandlungen um die Frage geht, was man
tun kann, damit die letzte Lücke von 200 Millionen DM
bei einem Paket geschlossen werden kann, das inzwi-
schen 3,1 Milliarden DM für die Sanierung umfaßt,
dann stellt sich doch die Frage, ob man einfach sagen
kann, man läßt dies laufen, zumal wenn die Menschen
die Politik bitten zu intervenieren.
Herr Protzner erhält nach mir das Wort. Ich habe mir
gerade noch einmal den Fall Maxhütte genau angesehen.
Ich weiß, daß der bayerische Ministerpräsident dort in-
terveniert hat, und zwar auch wegen der Sorgen der
Menschen in der Oberpfalz. Dort gibt es viele Unter-
nehmen, bei denen auch wir unmittelbar eingeschaltet
sind, die massiv betroffen sind. Wissen Sie, da gibt es
dann Situationen, in denen man helfen muß. Das hat der
Bundeskanzler getan.
Ich muß sagen, ich finde es richtig, daß er den Hebel
genutzt hat, um die Banken zu zwingen, eine Lösung zu
finden; denn das ist doch die eigentliche Intervention
gewesen. Das ist ja der Punkt, der gegenwärtig auch bei
den konkreten Diskussionen im Detail eine Rolle spielt.
Wir haben immer gesagt, der KfW-Kredit geht in
Ordnung. Es gibt viele andere Fälle, in denen wir eben-
falls laufend KfW-Kredite und auch DtA-Kredite geben.
Bei der Bürgschaft haben wir festgelegt, daß sie am En-
de hinzukommt. Das heißt, die Banken müssen erst ein-
mal ihr Konzept liefern. Das ist übrigens ein Punkt, der
in den letzten Tagen sehr umstritten war, weil die Ban-
ken meinten, sie bekämen die 100 Millionen DM. Aber
nur dann, wenn sie ihr Geld liefern, dann kommt es on
top oben drauf. Das war der Hebel, den der Bundes-
kanzler genutzt hat. Wenn es gelingt, Holzmann zu sa-
nieren, dann nicht wegen des außerordentlich großen
Engagements der Banken, sondern weil der Bundes-
kanzler das Heft in die Hand genommen und verlangt
hat, sie sollten sich noch einmal zusammensetzen und
versuchen, diese Lücke zu schließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt muß man eines
allerdings ebenfalls klar sagen: Wir machen das nicht
nur mit einem Augenaufschlag, sondern wir haben harte
Bedingungen. Wir haben Erwartungen an die Sanierung.
Es ist eben gesagt worden – die Kollegin Hendricks hat
es vorhin in der Fragestunde dargestellt –, daß auch
Holzmann bei Sanierungsschritten und ganz konkreten
Unternehmensentscheidungen harte Konsequenzen zie-
hen muß. Die Zahl 5 000 ist genannt worden, und das
sind – damit das klar ist – 3 000 Stellen im Holzmann-
Konzern, und 1 900 Personen sind unmittelbar betroffen,
weil man Töchter abgibt.
Ich habe die Erwartung an die Sanierer, daß sie im
Sanierungskonzept klar und eindeutig zum Ausdruck
bringen, daß sie sich aus lokalen Märkten, aus lokalen
Strukturen herausziehen und Mittelstand und Handwerk
vor Ort mehr Luft lassen, weil sie mit ihren großen Bau-
projekten und großen Infrastrukturprojekten möglicher-
weise erfolgreich sind.
– Herr Doss, Sie wissen, daß Holzmann zum Beispiel in
Amerika sehr erfolgreich ist.
Aber der entscheidende Punkt ist: Die Holzmänner müs-
sen jetzt loslassen. Sie müssen – konkret – Handwerk
und Mittelstand, die sie früher unter Druck gesetzt ha-
ben, wieder mehr Luft lassen, und zwar auch auf den re-
gionalen Märkten. Auch dies erwarten wir von einem
Sanierungskonzept. Das muß klar sein. Dies muß auch
jeder von den Holzmännern wissen, wenn die Sanierung
jetzt durchgeführt wird.
Ein anderer Punkt muß genauso deutlich gemacht
werden: Wir werden alles tun, um die Diskussion, die
wir seit vielen Jahren führen und die leider nie zu einer
Entscheidung geführt hat, darüber fortzusetzen, wie die
Aufsicht bei Unternehmen verbessert werden kann.
Ich erinnere daran, daß wir die Frage thematisiert haben:
Kann jemand, der acht, neun oder zehn Aufsichtsrats-
posten hat und noch nebenbei einem ordentlichen Beruf
nachgeht, überhaupt Kontrolle ausüben? Wir sind auf
eine Wand gestoßen.
– Auch Graf Lambsdorff hat dies kritisiert. Dies muß
man der Fairneß halber zugeben. Graf Lambsdorff hat
nämlich so viele Aufsichtsratsmandate, daß er selber
weiß, daß es nicht möglich ist.
Er ist ein Praktiker. Deshalb hat er gesagt: Es geht so
nicht weiter. Aber wir müssen jetzt daraus Schlußfolge-
rungen ziehen; denn eines kann nicht sein: Es kann nicht
sein – das hat der Bundeskanzler immer deutlich ge-
macht –, daß das Management Unternehmen in den
Sand setzt, daß die mit der Aufsicht Betrauten schlafen
und daß die Politik hinterher intervenieren muß. Die In-
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
7166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
tervention der Politik muß eine absolute Ausnahme blei-
ben. Es kann nicht sein, daß sich die Banken in entspre-
chenden Situationen immer der Verantwortung entzie-
hen. Es darf nicht so sein wie in dem Satz von Ferdinand
Porsche, den ich vorhin zitiert habe, nämlich: Banken
sind Regenschirmverleiher, die ihre Regenschirme ein-
sammeln, wenn es zu regnen anfängt.
Wir erwarten von den Vertretern der Banken und von
den Leuten, die im Aufsichtsrat sitzen, daß sie wissen,
wie man Verantwortung buchstabiert, und daß sie Ver-
antwortung tragen. Man kann sich nicht verabschieden,
wenn eine Krise entsteht. So sah die konkrete Situation
in einem Weltunternehmen aus, das jahrzehntelang
einen guten Ruf hatte und von dem wir jetzt einen harten
Sanierungskurs erwarten.
Wir sollten den Arbeitnehmern Respekt dafür erwei-
sen, daß sie selber einen Beitrag zur Sanierung ihres
Unternehmens leisten und daß sie nicht höhnisch oder
kalt darüber hinweggegangen sind.
In diesem Sinne war es richtig, daß die Politik geholfen
hat, damit dieses Unternehmen nicht kaputtgeht und
damit nicht viele Mittelständler von der Krise von
Holzmann mitgerissen werden. Deshalb war der Schritt
richtig.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht der Kollege Bernd Protzner.
Selbstverständlich
stehen wir zu dem, was wir von der CSU getan haben.
Soziale Marktwirtschaft mißt sich an der Zahl der Ar-
beitsplätze. Dies habe ich vor drei Wochen während der
Haushaltsdebatte gesagt. Wir werden auch Sie daran
messen, was Sie für die Schaffung von Arbeitsplätzen
getan haben. Die Rettung und Sicherung von Arbeits-
plätzen ist eine Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft.
Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft.
Allerdings wundert mich schon, was heute geschehen
ist: Als damals Herr Schröder aus den Verhandlungs-
räumen herauskam – so berichten die Zeitungen –, fing
Ihr Fraktionskollege und IG-BAU-Chef Wiesehügel an,
„Gerhard, Gerhard!“ zu rufen. Heute verklagt er ihn we-
gen seines Lösungsversuchs. Das ist die Wahrheit.
Auch die Arbeitnehmer von Holzmann haben einen
Beitrag geleistet. Sie sind endlich bereit, eine andere Ta-
rifpolitik zu machen. Offensichtlich gelten ab sofort Ta-
rifkorridore bezüglich des Entgelts und der Arbeitszeit.
Der Parlamentarische Staatssekretär Andres hat vorhin
in der Fragestunde erklärt, die Lösung des Bundeskanz-
lers widerspreche nicht den Gesetzen. Daher fordere ich:
Passen Sie doch endlich die Gesetze der Praxis der Ge-
werkschaften an, damit nicht nur Holzmann die entspre-
chende Möglichkeit hat,
sondern damit die vielen Tausend kleinen Holzmänner
die gleichen Möglichkeit bekommen!
Damit wir uns nicht mißverstehen –
– hören Sie mir doch erst einmal zu! –: Über Flächenta-
rife habe ich schon lange vor Ihnen diskutiert.
Zu Flächentarifen gibt es Gesetze: das Tarifvertragsge-
setz und das Betriebsverfassungsgesetz. Flächentarife
haben eine Schutzfunktion für Arbeitnehmer – darauf
hat der Kollege Laumann ausdrücklich hingewiesen –
und auch für die Wettbewerber, damit sie unter gleichen
Bedingungen konkurrieren. Nur, wenn diese Schutz-
funktion bei Großunternehmen ständig unterlaufen wird,
dann muß es auch erlaubt sein, für Kleinunternehmen
vernünftige Regelungen zu finden.
Die Alternative ist nicht die Abschaffung, sondern die
Modernisierung von Flächentarifen.
Über moderne Tarifverträge ist sogar auf verschiede-
nen Kongressen der IG Metall sehr breit diskutiert wor-
den. Allerdings ist der Tarifkorridor in den Auseinan-
dersetzungen der letzten Tarifverhandlungen für des
Teufels erklärt worden. Dagegen ist man vorgegangen.
Jetzt, wo Probleme anstehen, sind Sie endlich bereit,
auf Tarifkorridore einzugehen. Dazu muß ich sagen:
Dann machen Sie auch die entsprechenden Gesetze,
Herr Weiermann! Ihr Nachredner – auch er ist ein Ge-
werkschafter – muß erklären, ob endlich die verkomme-
ne Frontstellung in der Bundesrepublik Deutschland
fortbestehen kann: Nach außen werden die kleinen Be-
triebe gezwungen, die Vorschriften einzuhalten – es gibt
die Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, die Überprü-
fungen und die Kontrollen –, und bei Großbetrieben
werden Ausnahmen gemacht.
Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7167
(C)
(D)
Machen Sie eine moderne Politik! Setzen Sie einfach
das um, was die Arbeitnehmer in den Betrieben – nicht
nur die in den Großbetrieben – wollen! Schaffen Sie
vernünftige Tarifrechts- und Arbeitsrechtsregelungen!
Wenn das geschieht, werden wir weiterkommen, mit der
sozialen Marktwirtschaft wird es vorangehen, und es
wird in unserem Land mehr Arbeitsplätze geben.
Für die SPD-
Fraktion spricht der Kollege Hans-Günter Bruckmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Schluß-
redner habe ich das Vergnügen, das wiederholen zu dür-
fen, was in Teilen schon gesagt worden ist. Ich will gern
auf die Fakten zurückkommen. Fakt ist, daß das Bauun-
ternehmen Philipp Holzmann durch das Fehlverhalten
eines früheren Vorstandes, durch mangelnde Wahrneh-
mung der Aufsichtspflicht von Aufsichtsratsgremien und
durch Fehlentscheidungen der Bank in eine existenzge-
fährdende Situation geraten ist. Fakt ist auch, daß dieses
Fehlverhalten Konsequenzen haben muß. Der Parla-
mentarische Staatssekretär Mosdorf ist darauf schon
eingegangen, als er sagte, daß auch Banken und Auf-
sichtsratsgremien in die Verantwortung einbezogen
werden müssen. Diese müssen genauso an den Ergeb-
nissen von Mißmanagement beteiligt werden, wie sie an
Erfolgen beteiligt werden.
Fakt ist ferner, daß ohne die Intervention der Bundes-
regierung die gesamte Firma Holzmann mit all ihren
Subunternehmen – Zulieferern und weiten Kreisen der
deutschen Bauwirtschaft – im negativen Sinne betroffen
gewesen wäre. Das bedeutet ganz konkret: Der Konkurs
des Unternehmens Philipp Holzmann mit 17 000 Be-
schäftigten hätte allein im Inland eine existenzbedro-
hende Situation bedeutet. Darüber hinaus wären weitere
40 000 Menschen in Unternehmen, die unmittelbar oder
mittelbar von Philipp Holzmann abhängen, betroffen
gewesen. Der Bauminister von Sachsen-Anhalt, Jürgen
Heyer, hat erzählt, daß kleinere und mittelständische
Betriebe mit knapper Kapitaldecke gerade in Ost-
deutschland betroffen gewesen wären.
Wir reden über 60 000 Menschen, für die wir eine
Lösung finden mußten. Das politische Ziel war und ist
es, erstens die Arbeitsplätze der Menschen im Unter-
nehmen zu retten, zweitens die eingebundenen mittel-
ständischen Unternehmen nicht in einen Folgekonkurs
zu bringen
und drittens mit den beteiligten Partnern, Banken und
Unternehmen, ein kurz- und mittelfristiges Sanierungs-
konzept für den Konzern und für die anderen Unterneh-
men auf die Reise zu schicken.
Das Verhalten der Frankfurter Oberbürgermei-
sterin und der hessischen Politiker, des hessischen Mi-
nisterpräsidenten und seines F.D.P.-Wirtschaftsmi-
nisters,
ist genauso zu loben wie das Krisenmanagement unter
Gerhard Schröder
und das Verhalten der beteiligten Betriebsräte, die dar-
um bemüht waren, einen Konsens in der Sache zu er-
zielen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich denke, das Ergebnis kann sich sehen las-
sen. Für die betroffenen Familien ist es wie ein Befrei-
ungsschlag, daß eine Perspektive eröffnet worden ist.
Wenn wir in einem solchen Fall politisch agieren, dann
müssen wir den Menschen in den Mittelpunkt unseres
Handelns stellen. Genau das war die Absicht und das
Ergebnis der Intervention der Bundesregierung in dieser
Frage.
Auf die Kritik, die ich hier gerade von seiten der
F.D.P. gehört habe, der Wettbewerb werde verzerrt,
Grenzkostenangebote würden dazu benutzt, um ein Un-
ternehmen nach vorne zu bringen,
und es würden Arbeitsplätze in anderen Bereichen abge-
baut, und zu der Diskussion darüber, ob 3 000 oder 5 000
Menschen von einem Sanierungskonzept betroffen sind,
sage ich: Hier geht es um 60 000 Menschen, um das
große Ganze und nicht um etwas Kleinteiliges.
Erst stand in meiner Rede: Ich glaube, daß Sie bereit
gewesen wären, genauso zu handeln, wie es die Bundes-
regierung getan hat. – Nach dem, was ich hier in der
Aktuellen Stunde mitbekommen habe, habe ich mich
dazu entschlossen, diesen Satz aus meiner Rede zu strei-
chen.
Meine Damen und Herren, wir wissen eines: Es bleibt
nichts so, wie es ist. Wir wissen, daß es um 60 000 Men-
schen geht. Wir wissen auch, daß dieser Kompromiß,
der von den unterschiedlichen Partnern und durch die
Intervention der Bundesregierung auf den Weg gebracht
worden ist, richtig ist, weil so 60 000 Menschen etwas
auf der Habenseite verbuchen können.
Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt des Ganzen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-
sche allen Beteiligten ein gutes Gelingen in dieser Sa-
che.
Dr. Bernd Protzner
7168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-
tung einer „Stiftung Denkmal für die ermor-
deten Juden Europas“
– Drucksache 14/2013 –
Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Hans-Joachim Otto, Dr. Wolfgang Ger-
hardt, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Gründung einer „Stiftung Denkmal für die
ermordeten Juden Europas“
– Drucksache 14/1996 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien
– Drucksache 14/2349 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Griefahn
Dr. Norbert Lammert
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto
Dr. Heinrich Fink
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
SPD-Fraktion zunächst der Kollegin Elke Leonhard.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ernst Bloch sagte einmal:
Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich an
das erinnert, was noch zu tun ist.
In der heute zur Debatte stehenden Frage ist noch viel zu
tun. Einen weiteren Schritt, der auf dem Weg bis zur Er-
richtung des Denkmals für die ermordeten Juden Euro-
pas noch zu gehen ist, legen wir heute mit der Beratung
und Beschlußfassung über die vorliegenden Gesetzent-
würfe zurück. Der Deutsche Bundestag delegiert damit
die Verantwortung, die das Parlament übernommen hat.
Ich bin sicher, daß der Bundestag – das heißt wir, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen – die Tätigkeit der
Stiftung und das Ergebnis ihrer Beratungen mit größter
Aufmerksamkeit verfolgen wird.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist uns am
25. Juni dieses Jahres gelungen, auf breiter Basis – über
Fraktionsgrenzen hinweg – zu einer Entscheidung zu
kommen. Dies war und ist, wenn man diese Entschei-
dung nicht als historisch qualifizieren will, zumindest
ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Kon-
zeption gegen das Vergessen. Dieser Beschluß – das
möchte ich unterstreichen – ist bindend. Wir haben das
in praktische Politik umsetzen können, was Willy
Brandt – sensibel in der Wahrnehmung und treffend in
der Formulierung – einst nicht nur gesagt, sondern viel-
mehr bleibend gültig postuliert hat:
In der Kraft der Erinnerung drückt sich der Le-
benswille der Demokratie aus.
Daß Parlamentarier nie wieder erbärmliche Jasager wer-
den, ist Garant für das „Nie wieder“.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seit jenem
25. Juni ist ein halbes Jahr vergangen. Seither ist – das
muß auch einmal gesagt werden – erst ein halbes Jahr
vergangen. Aber einmal mehr hegen Skeptiker und
Zweifler Befürchtungen unterschiedlichster Art.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositions-
fraktionen, obwohl ich, wie jeder weiß, ein kontrollie-
render und äußerst kritischer Menschen bin, verstehe ich
das offenkundige Fehlen jeglichen Vertrauens in die
Tragfähigkeit unseres eigenen, mit breiter Mehrheit ge-
faßten Beschlusses nicht. Ich habe der unselbständigen
Stiftung von Anfang an das Vertrauen entgegenge-
bracht, das sie verdient. Sie ist gleichsam unser „Netz
und doppelter Boden“ und gibt uns die Möglichkeit, un-
sere Zielsetzung vor allem mit Blick auf den 27. Januar,
den Tag der geplanten Grundsteinlegung des Denkmals
bzw. einer anderen symbolischen Handlung, unter kei-
nen Umständen zu gefährden, um auch hier unsere Ver-
antwortung für das Einhalten selbstgesetzter Fristen
wahrzunehmen. Diese Verantwortung wahrzunehmen ist
wesentlich, um zerstörtes Vertrauen in die Politik wieder
aufzubauen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es war und ist
der Sinn der unselbständigen Stiftung, jeglichen Zeitver-
zug zu vermeiden oder ihn wenigstens aufzufangen –
nicht mehr und nicht weniger.
Daß diese Entscheidung weise war, ist keine Frage. Ich
denke nur, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Op-
position, an den Zeitablauf bis zu Ihrer Unterzeichnung
der Beschlußempfehlung. Ich drücke es einmal platt aus:
Gestern mußte ich – in Person meines Ausschußsekre-
tärs – den ganzen Tag hinter Ihnen herlaufen, und wir
hätten beinahe die Abgabefrist verpaßt. So sehr scheint
es Ihnen nicht gedrängt zu haben. Insofern war es wich-
tig, daß wir dieses „Netz“ und diesen „doppelten Boden“
eingebaut haben.
Sollten Sie jedoch mit Blick auf die Umsetzung unse-
res Beschlusses Zweifel an der Lauterkeit der Bundes-
re
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Fürchtet euch nicht.“ Das be-
deutet in moderner Sprache: Vertrauen. Nur wer ver-
traut, kann auch delegieren. Darauf kommt es an. Ich bin
sicher, daß Differenzen sachlicher Art immer wieder be-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7169
(C)
(D)
stehen werden. Daß wir sie aber ausräumen werden,
daran habe ich keinen Zweifel.
Vieles bleibt zu tun: zum Beispiel die kognitive Er-
fassung der autoritären Charakterstruktur; die Fähigkeit
zu trauern, die Übernahme der Verantwortung für die
Gegenwart und die Verantwortung für das „Nie wieder“,
die nicht enden darf. Die Stiftung wird zunächst das be-
schlossene Denkmal auf der Grundlage des Entwurfs
Peter Eisenman II realisieren. Sie wird sich im Rahmen
der Konzeption gegen das Vergessen intensiv auch mit
der Erinnerung an die nichtjüdischen Opfer der national-
sozialistischen Gewaltherrschaft befassen. Ihren Gre-
mien werden die im Beschluß genannten Vertreter der
Verfassungsorgane, Institutionen und Personenkreise
angehören. Wir werden ihre Arbeit intensiv und auf-
merksam verfolgen.
Gestatten Sie mir noch eine Erklärung in eigener
Sache. Viele haben mich gefragt, warum ich dem Kura-
torium der Stiftung nicht angehören möchte. Das möchte
ich schon; aber eine Güterabwägung hat mich bewogen,
nein zu sagen. Wir haben uns im Ausschuß ehrgeizige
Ziele gesetzt. Das eine war zunächst – dies waren wir
uns schuldig – die Konzeption gegen das Vergessen.
Wir haben den Beschluß des Bundestages vorangetrie-
ben; er ist gefaßt worden. Jetzt werden wir uns dem
Stiftungsrecht zuwenden. Es ist wichtig, intelligente
Strategien des Staates zu finden, um mehr als 5 Billio-
nen Mark privaten Geldvermögens zu binden. Auch das
kommt der Kultur zugute. Wir werden uns der auswärti-
gen Kulturpolitik widmen müssen. Und: Wir haben mit
dem Bereich Informations- und Wissensgesellschaft
einen wichtigen Gegenstand. All das lenkte meine Ent-
scheidung. Aber ich sage noch einmal: Ich werde den
Prozeß argumentativ weiter begleiten.
Lassen Sie uns auf der Grundlage des Gesetzes, das
wir heute beschließen, am 27. Januar den Bürgerinnen
und Bürgern zeigen, daß wir fähig sind, Brücken zu
bauen und Verantwortung zu übernehmen!
Ich danke Ihnen.
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Norbert
Lammert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Leon-
hard, wir fürchten uns nicht – falls wir mit dem gutge-
meinten Ratschlag überhaupt gemeint waren –, aber wir
machen uns schon Sorgen. Wir machen uns nämlich be-
gründete Sorgen darüber, was aus einem Projekt wird,
das viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen und von
uns nicht nur mit viel gutem Willen, sondern auch mit
beachtlichem persönlichem Engagement und mit der Be-
reitschaft zu einer im konstruktiven Sinne kritischen
Auseinandersetzung über Wochen und Monate begleitet
haben.
Die heutige abschließende Lesung der Gesetzentwür-
fe ist zugleich die letzte Chance, den breiten politischen
Konsens für ein besonders schwieriges und zugleich be-
sonders wichtiges Anliegen herbeizuführen. Denn die
Absicht zur Errichtung eines Mahnmals für die ermor-
deten Juden Europas und die angemessene Würdigung
anderer Opfergruppen, für die es eine ähnlich verbindli-
che Entscheidung noch nicht gibt, erfordert diesen Kon-
sens noch mehr als irgendein anderer politischer Streit-
gegenstand.
Ich habe für meine Fraktion – auch bei der Einbrin-
gung der Gesetzentwürfe – mehrfach erklärt, daß wir
unbeschadet der ganz unterschiedlichen persönlichen
Überzeugungen und Präferenzen einzelner Mitglieder
der Fraktionen in dem damaligen Entscheidungsprozeß
zu der vom Deutschen Bundestag getroffenen Entschei-
dung vom 25. Juni dieses Jahres stehen. Wir legen aller-
dings großen Wert darauf, daß dieser Beschluß weder
verändert noch erweitert oder verkürzt wird.
Der Gesetzentwurf der Koalition erleichtert die Um-
setzung dieses Beschlusses nicht. Vielmehr erschwert er
sie. Neben der völlig unnötigen Errichtung einer unselb-
ständigen Stiftung, die – wie von uns vorausgesagt –
ihre Arbeit aufnehmen wird, nachdem das Gesetzge-
bungsverfahren im Deutschen Bundestag abgeschlossen
ist, ist insbesondere die Zusammensetzung der Bera-
tungs- und Entscheidungsgremien dieser Stiftung
gründlich mißglückt. Die Zusammensetzung des Ku-
ratoriums, so wie sie von der Koalition vorgesehen ist,
ist – wir glauben: unnötig – weit gefaßt, weil sie vor
allen Dingen ohne jede Not und auch ohne jede für uns
nachvollziehbare Begründung über den Kreis der Stifter
hinaus ausgeweitet worden ist, wobei gleichzeitig eine
nach unserer Beurteilung willkürliche Einbeziehung und
Ausgrenzung unterschiedlicher Opfergruppen stattfin-
det.
Damit wird schon jetzt absehbar, daß das Kuratorium
in der Wahrnehmung der wichtigsten Aufgabe, nämlich
die offenen Fragen abschließend zu entscheiden, nicht
gestärkt, sondern geschwächt wird. Ich würde mir sehr
wünschen, wenn ich mit meiner – zugegebenermaßen
skeptischen – Prognose nicht recht behalten würde. Ich
will das, was ich in diesem Zusammenhang bei den
Ausschußberatungen vorgetragen habe, jetzt in öffent-
licher Rede nicht unbedingt wiederholen.
Dagegen ist die Funktion des Beirats – übrigens
schon in der Formulierung des Gesetzentwurfs der Ko-
alition – bezüglich seiner Aufgaben bis zur Banalität be-
grenzt. Aus dem Gesetzentwurf geht eigentlich nicht
viel mehr hervor, als daß es den Beirat geben soll, daß
ihm Mitglieder angehören sollen und daß das Kurato-
rium Näheres zu regeln hat. Eine originäre und nicht
entziehbare Aufgabe ist dem Beirat in diesem Gesetz-
entwurf nicht zugedacht. Aus der Zusammensetzung des
Kuratoriums und aus der sich daraus spiegelbildlich er-
gebenden Zusammensetzung des Beirates ergibt sich
aber eine faktische Diskriminierung derjenigen Opfer-
gruppen, die im Kuratorium als Entscheidungsorgan der
Stiftung keinen Platz finden sollen, obwohl gerade das
Kuratorium die Entscheidung darüber wird treffen müs-
sen, an welcher Stelle und in welcher Gestaltung der
Dr. Elke Leonhard
7170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
übrigen Opfergruppen gedacht werden soll. Diese Op-
fergruppen sind nach Ihrem Vorschlag allesamt nicht im
Kuratorium vertreten – im Unterschied zu der einzigen
Opfergruppe: über deren Mahnmal wir hinsichtlich
Standort und Gestaltung bereits eine Beschlußfassung
haben. Eine überzeugende Begründung für diese Unter-
scheidung haben wir bis heute auch in den Ausschußbe-
ratungen nicht gehört.
Diese Besetzung taugt zur Konsensbildung weder
nach innen noch nach außen. Sie sichert allerdings – das
ist nicht zu bestreiten – die Mehrheit, die die Koalition
für ihre Gestaltungsabsichten offensichtlich durch nichts
und niemanden gefährden will. Die Beratungen im
Fachausschuß haben den Eindruck bestätigt, den wir be-
reits bei der Einbringung des Gesetzentwurfes vorgetra-
gen haben. Das, was vorgeschlagen wird, ist sicher gut
gemeint, aber es ist nicht gut durchdacht. Zusätzliche
Probleme werden einem Anliegen aufgebürdet, das
schon jetzt nicht unter einem Mangel an Schwierigkeiten
zu leiden hat.
Die CDU/CSU-Fraktion hat in den Ausschußberatun-
gen konkrete Alternativvorschläge gemacht, die wir
heute in zweiter Lesung erneut zur Abstimmung stellen,
die an der Sache orientiert sind und sich um genau das
bemühen, was ich vorhin mit Blick auf die Entscheidung
des Bundestages im Juni dieses Jahres reklamiert habe,
nämlich diesen Beschluß so umzusetzen, wie er gefaßt
wurde – in seinem Wortlaut und in seinem Geist –, ohne
ihn zu erweitern oder ihn gar zu verkürzen. Wir schla-
gen vor, daß das Kuratorium aus dem Präsidenten oder
der Präsidentin des Deutschen Bundestages, vier weite-
ren vom Bundestag zu wählenden Vertretern, je zwei
Vertretern des Landes Berlin, der Bundesregierung und
des Initiativkreises sowie dem von dessen Mitgliedern
gewählten Vorsitzenden des Beirats besteht. Durch eine
solche Besetzung wäre sowohl sichergestellt, daß die
besondere Verantwortung der Stifter bzw. der Initiatoren
zum Ausdruck gebracht wird, als auch, daß die ge-
wünschte Einbeziehung der Vertreter der zu ehrenden
Opfer und der Gedenkstätten in die Entscheidungspro-
zesse gewährleistet ist. Durch die gleichmäßige und fai-
re Berücksichtigung aller im wörtlichen und im übertra-
genen Sinne betroffenen Gruppierungen und Organisa-
tionen im Beirat vermeiden wir die Diskriminierung, die
im Koalitionsgesetzentwurf leider in der unterschiedli-
chen Berücksichtigung und Ausgrenzung einzelner
Gruppierungen festgeschrieben wird.
Wir bedauern sehr, daß die Koalition von der ersten
offiziellen gemeinsamen Beratung an bis zum heutigen
Tag zu keinem Zeitpunkt die Bereitschaft oder gar die
Absicht hat erkennen lassen, über eine solche Alternati-
ve mit dem Ziel einer gemeinsamen Lösung nachzuden-
ken. Es ist uns – was ich formal nicht kritisiere – gleich
bei der ersten Sitzung erklärt worden, dazu gebe es kei-
nen gemeinsamen Weg.
Bei dieser glasklaren Position ist die Koalition bis zum
Ende geblieben. Ich bestreite keinen Augenblick die Le-
gitimation dafür, lege aber für meine Fraktion großen
Wert auf die Feststellung, daß dies ein Thema ist, das
man besser nicht mit Koalitionsmehrheiten beschließt.
Wir werden, meine Damen und Herren, uns dennoch
nicht der Mitwirkung in der Stiftung verweigern. Aber
wir können und wir wollen nicht die politische Verant-
wortung für eine gründlich mißlungene gesetzliche
Stiftungskonstruktion übernehmen, mit der ein Projekt,
das wir alle gemeinsam für dringend notwendig halten,
von dem wir aber auch alle miteinander wissen, daß es
in hohem Maße umstritten ist, leider nicht gefördert,
sondern zusätzlich erschwert wird.
Das
Wort hat nun die Kollegin Dr. Antje Vollmer vom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte um Form, Gestalt und Bedeutung des Mahnmals
für die ermordeten Juden Europas hat vier Phasen
durchlaufen. Ich finde, daß man in dem, was wir in der
Stiftung an konkreter Gestalt haben, die vier Phasen
auch gut sehen kann.
Die erste Phase war die eines unglaublichen bürger-
schaftlichen Engagements ganz besonderer Art. Als
vor zehn Jahren Lea Rosh mit nur wenigen Mitstreitern
begann, für diese Idee zu werben, gab es dafür in der
bundesrepublikanischen Gesellschaft noch keine Mehr-
heit. Es ist der besonderen Intensität gerade dieser klei-
nen Gruppe von Bürgern, ihres besonderen Bürgerbe-
wußtseins und den vielen Unterstützern, die sie gefun-
den haben, zu verdanken, daß wir am Ende davon reden
können, daß es eine Mehrheit für diese Idee gegeben hat.
Deswegen ist diese Initiative nach unserem Vorschlag
mit drei Plätzen im Kuratorium berücksichtigt, was die
Opposition anders sieht. Ich denke, daß in der Bedeu-
tung dieser Gruppe für diese erste Phase eine Berechti-
gung für unseren Vorschlag liegt.
Die zweite Phase ist die der parlamentarischen De-
batte. Hier war die Diskussion an einen Punkt gekom-
men – viele von uns erinnern sich sehr gut –, wo wir
gewußt haben, es muß nach über zehn Jahren endlich
entschieden werden, weil die Gefahr bestand, zu keiner
Entscheidung zu kommen. In dieser Situation hat der
Deutsche Bundestag mit der Unterstützung vieler Perso-
nen aus allen Fraktionen diese Entscheidung vorange-
trieben. Deswegen ist der Deutsche Bundestag im Ku-
ratorium mit so vielen Plätzen vertreten. Ich finde, auch
das hat seine Berechtigung. Denn wir wissen alle, die
Entscheidung mußte fallen.
Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7171
(C)
(D)
Es gab natürlich Diskussionen über die Frage, ob es
zunächst zu einer unselbständigen oder gleich zu einer
selbständigen Stiftung kommen sollte. Es ist schon ge-
sagt worden: Es gab Mißtrauen von seiten der Opposi-
tion. Ich denke, die Tatsache, daß wir heute bereits über
die selbständige Stiftung entscheiden, ist ein Beleg da-
für, daß unser Weg nicht ganz verkehrt war. Wir sind
davon ausgegangen, daß wir in der parlamentarischen
Phase keine zusätzliche Verlängerung des Debattenpro-
zesses brauchen können. Es wird in der dritten Phase,
nämlich wenn das Kuratorium arbeitet, neue Debatten in
Form und Gestalt sowie um den Zusammenhang des
Mahnmals mit dem Ort des Erinnerns geben. Dies ist
auch sinnvoll. Aber jetzt die parlamentarische Debatte
zu verlängern, das hätte – glaube ich – niemand verstan-
den. Deswegen sollte die Opposition zugeben, daß unser
Wille, sehr schnell zu einer selbständigen Stiftung zu
kommen, ernst war, daß er realisiert worden ist. Das
Vorgehen, das wir gewählt haben, erst eine unselbstän-
dige Stiftung zu schaffen, hat die Beschleunigung be-
wirkt. Deswegen stehe ich auch dazu.
Dritte Phase: die Realisierung des Mahnmals für die
ermordeten europäischen Juden. Das Kuratorium der
Stiftung wird sich morgen zum erstenmal treffen. Es
wird, wie ich wohl ahne und alle Beteiligten wissen, die
sehr schwierige Debatte geben, wie wir das richtige
Verhältnis finden. Jetzt ist wieder gefragt worden:
Mußten nicht gerade in der dritten Phase die anderen
Opfergruppen beteiligt werden? Rita Süssmuth zum
Beispiel hat dies gefragt. Ich möchte noch einmal beto-
nen – und deswegen spiegelt die Zusammensetzung des
Kuratoriums auch die dritte Phase richtig wieder –, daß
wir gemeinsam entschieden haben: Wir wollen ein
Mahnmal für die europäischen Juden. Wir haben uns aus
guten und wichtigen Gründen für diesen besonderen
Charakter des Mahnmals entschieden. Deswegen gehö-
ren auch die Vertreter der jüdischen Organisationen in
dieses Kuratorium hinein.
Denn wir haben die politische Entscheidung gefällt, daß
es ein Mahnmal für die ermordeten europäischen Juden
sein soll. Das heißt nicht, daß diese Stiftung insgesamt
nicht die Frage vorantreiben sollte, wie wir in würdiger
Form der anderen Opfer gedenken. Aber die Entschei-
dung beinhaltet die besondere Bedeutung der Beteili-
gung der Vertreter der jüdischen Organisationen im Ku-
ratorium, über die wir uns ungeheuer freuen. Ich halte es
für einen Riesenfortschritt der Debatte, daß diese Bereit-
schaft uns gegenüber signalisiert wird.
Frau
Vollmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lammert?
Bitte.
Frau Vollmer,
wenn Sie, wie Sie gerade ausgeführt haben, auf die Be-
teiligung der anderen Opfergruppen am Entscheidungs-
prozeß großen Wert legen – woran ich nicht zweifeln
will –, warum haben Sie dann bei den Ausschußberatun-
gen unseren Antrag abgelehnt, die Opfergruppen minde-
stens in dem Fall mit Stimmrechten im Kuratorium zu
beteiligen, wenn über deren Anliegen und die Gestal-
tung von deren Mahnmalen oder welcher Art von Erin-
nerungsstätten auch immer entschieden werden soll?
Weil wir nicht eine Hierarchisierung der verschiedenen
Gremien der Stiftung wollen.
– Diese Stiftung hat nur eine Zielgruppe: Das Mahnmal
soll den ermordeten Juden Europas gewidmet werden.
Mit dieser Entscheidung konnte eine Einladung an
die Vertreter der jüdischen Organisationen, an diesem
Kuratorium teilzunehmen, verbunden sein, wobei wir
nicht wissen konnten, ob sie sie annehmen würden. In-
dem sie sie angenommen haben, haben wir den besten
Berater für die ausschließliche Aufgabe dieser Stiftung.
Daß diese Stiftung, und zwar auch auf Beschluß des
Deutschen Bundestages vom Sommer, darüber hinaus
überlegt, wie wir der anderen Opfer würdevoll gedenken
können, ist eine zusätzliche Aufgabe. Deswegen gibt es
den Beirat, in dem auch die Vertreter anderer Opfer-
gruppen sitzen. Sie wissen genau: Wenn wir die Vertre-
ter all der anderen Gruppen mit in das Kuratorium ge-
nommen hätten, hätten wir ein Kuratorium von 40 oder
50 Leuten. Das geht in dieser Form nicht. Aber die Be-
gründung liegt in dem Bundestagsbeschluß.
Ich weiß, daß gerade an diesem Bundestagsbeschluß
Vertreter Ihrer Fraktion ganz entschieden und ent-
schlossen beteiligt waren, und zwar mit der ausdrückli-
chen Widmung für die ermordeten Juden Europas. Rita
Süssmuth zum Beispiel war eine von denen, die dafür
sehr gestritten haben. Ich meine, wenn man das eine ent-
scheidet, muß man auch die formalen Konsequenzen
dieser Entscheidung mit umsetzen. Das haben wir ver-
sucht.
Frau
Kollegin Vollmer, erlauben Sie auch eine Zwischenfrage
der Kollegin Frau Professor Süssmuth? – Bitte schön.
Ich glaube, es
macht keinen Sinn, daß wir unseren Streit immer wie-
derholen. Wir sind in diesem Punkt unterschiedlicher
Dr. Antje Vollmer
7172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Auffassung. Mir geht es nur um eine Klarstellung. Das
ist zugleich eine Frage, zu der ich Ihre Bestätigung ha-
ben möchte.
Der Beschluß des Deutschen Bundestages lautet, wie
Sie, Frau Vollmer, gerade noch einmal gesagt haben, ein
Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zu errich-
ten. Da haben wir als Fraktion der CDU/CSU eine an-
dere Auffassung hinsichtlich der Besetzung der Gre-
mien. Aber eines möchte ich so, wie Sie es dargestellt
haben, nicht stehenlassen: Wenn man sagt, es gebe noch
einen zweiten Teil des Beschlusses, nämlich daß diese
Stiftung auch das Konzept für die anderen Opfergruppen
erarbeitet, dann darf man diese anderen Opfergruppen
nicht schlechter stellen als die Opfergruppe, um die es
beim ersten Mahnmal geht. Das betrifft auch den Ände-
rungsantrag, den wir im Ausschuß gestellt haben.
Wir sollten, ob in den Kolloquien in Berlin oder wäh-
rend unserer Beratungen, darauf achten – das ist meine
persönliche Überzeugung –, keine Hierarchisierung der
Opfergruppen vorzunehmen. Das müßte dann auch Kon-
sequenzen im Hinblick auf das Stiftungsgesetz und die
Besetzung der Gremien haben. Deswegen meine Frage:
Stimmen Sie mir zu, daß eine solche Hierarchisierung
der Opfer problematisch ist?
Liebe Frau Kollegin Süssmuth, ich stimme Ihnen erstens
zu, daß eine Hierarchisierung der Opfer problematisch
ist. Ich stimme Ihnen zweitens zu, daß es problematisch
ist, im Zusammenhang mit dem vorliegenden Beschluß
überhaupt von möglicher Hierarchisierung zu sprechen.
Denn jeder weiß, daß niemand mit diesem Beschluß et-
was Ähnliches intendiert hat.
Aber angesichts einer so ernsten Sache sollten wir
nach vorne schauen und über die Phase diskutieren, die
ich die dritte Phase genannt habe und die schwierig ge-
nug umzusetzen sein wird, nämlich darüber, wie man
gemeinsam zu formalen Entscheidungen kommt. Jeder
weiß, daß das Kuratorium vor allen Dingen ein Ziel hat,
nämlich die konkrete Form des Mahnmals für die
ermordeten Juden Europas umzusetzen. Danach wird die
nächste Phase kommen, nämlich die, in welcher Form
man der anderen Opfer würdevoll gedenkt.
Ich finde es sinnvoll – in diesem Sinne möchte ich
Ihre Anregung positiv aufgreifen –, daß man darüber in
möglichst großer Gemeinsamkeit und auf eventuell ge-
meinsamen Sitzungen von Beirat und Kuratorium ent-
scheidet. Denn selbstverständlich ist die Meinung der
anderen Opfergruppen zu diesem Bereich für die Arbeit
von Kuratorium und der gesamten Stiftung wichtig. So
wird es, wenn Vernunft in den Gremien herrscht, auch in
Zukunft sein. Wir sollten unseren gemeinsamen Willen
ausdrücken, daß dies so sein soll.
Es bleibt mir jetzt nur noch wenig Zeit, über die
vierte Phase zu sprechen; ich gehe nur kurz auf sie ein.
Keiner von uns weiß nach dem, was wir hier in teilweise
sehr quälenden Debatten beschlossen haben, welche
Wirkungsgeschichte dieses Mahnmal im Hinblick auf
zukünftige Generationen hat. Darüber können wir nur
begrenzt entscheiden. Den Ernst der Verantwortung, daß
man ein Mahnmal so bauen muß, daß zukünftige Gene-
rationen dessen Sinn verstehen können, spürt, so glaube
ich, jeder. Was wir wissen, ist, daß wir sie mit diesem
Mahnmal an einen zentralen Gedächtnispunkt unserer
Demokratie heranführen. Wir alle können nur hoffen,
daß das Mahnmal diese Wirkung haben wird. Das gibt
den Debatten im Kuratorium den nötigen Ernst.
Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Joachim Otto von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Prä-
sident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kolle-
gin Dr. Leonhard, verehrte Frau Kollegin Dr. Vollmer,
Sie haben in Ihren Reden den Geist der Gemeinsamkeit
beschworen. Zu Recht! Denn es gibt im Vergleich zu
diesem Holocaust-Mahnmal kaum ein anderes Vorha-
ben, bei dem es so sehr auf eine stilbildende konsensuale
Umsetzung hier im Bundestag ankommt. Um so weniger
verstehe ich es, daß Sie das vielfache Angebot der
Oppositionsfraktionen, bei der Umsetzung des Stif-
tungsgesetzes Gemeinsamkeit walten zu lassen, nicht
aufgegriffen haben, sondern es – ich sage das in aller
Klarheit – schnöde zurückgewiesen haben.
Es wäre doch auch für Sie sehr einfach gewesen,
wenn man die drei Träger, die das gesamte Verfahren
über zehn Jahre betrieben haben, den Förderkreis um
Lea Rosh, den Bund und das Land Berlin, in Form einer
Drittelparität im Stiftungsrat bzw. Kuratorium veran-
kert hätte. Das wäre überzeugend gewesen. Das wäre ei-
ne Lösung gewesen, die in Einklang mit Geist und
Buchstaben des Beschlusses vom Juni dieses Jahres ge-
standen hätte.
Wenn schon die Kollegen von SPD und Grünen über-
raschenderweise die Bürgerinitiative von Lea Rosh nicht
goutieren und sagen, das sei kein Verfassungsorgan und
dürfe nicht gleichbehandelt werden – es ist bedenklich
genug, daß Sie dieses bürgerschaftliche Engagement,
das Sie sonst immer loben und für das Sie sich zu Recht
bedanken, dann, wenn es darum geht, es umzusetzen,
nicht konsequent unterstützen –,
wenn Sie also Mißtrauen gegen Frau Rosh haben, dann
hätten Sie wenigstens den Kompromißvorschlag der
CDU/CSU-Fraktion aufgreifen können. Vieles spricht
Dr. Rita Süssmuth
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7173
(C)
(D)
dafür – Frau Professor Süssmuth hat soeben darauf hin-
gewiesen –, ihn anzunehmen.
Statt dessen präsentieren Sie uns einen Gesetzent-
wurf, der eine Gremienbesetzung vorsieht, die nicht nur
in hohem Maße willkürlich, sondern auch mit dem Geist
und dem Buchstaben des Beschlusses vom Juni dieses
Jahres kaum in Einklang zu bringen ist. Ich will jetzt aus
Zeitgründen nicht auf die Details eingehen, zum Bei-
spiel auf die Übergewichtung des Bundes, die Nichtbe-
teiligung des Abgeordnetenhauses von Berlin und vieles
mehr, sondern mich auf einen Punkt konzentrieren, auf
die Beteiligung jüdischer Organisationen im Stiftungs-
kuratorium.
Ignatz Bubis hatte recht, indem er immer davor
warnte mit dem zutreffenden Hinweis, dieses Denkmal
sei ein Denkmal für die ermordeten Juden und nicht ein
Denkmal der Überlebenden.
Ich räume ohne weiteres ein, daß es auch Gesichts-
punkte gibt, die für eine Beteiligung von Opfergruppen
sprechen können; darüber sind wir uns nicht uneinig.
Nur, verehrte Frau Kollegin Dr. Leonhard und Frau Dr.
Vollmer, die Überlegung der Einbeziehung von Opfer-
gruppen darf nicht auf eine Opfergruppe beschränkt
werden. Ich teile vollständig die Meinung der Kollegen
Lammert und Süssmuth: Das ist in der Tat eine Hierar-
chisierung, und das halte ich für sehr unglücklich. Um
Ihre Argumentation aufzugreifen, Frau Dr. Vollmer: Es
ist ganz klar und unstreitig, daß das Kuratorium auch
über sehr wichtige Fragen zu entscheiden hat, die andere
Opfergruppen betreffen – auch wenn es „Denkmal für
die ermordeten Juden“ heißt.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf eine weite-
re Hierarchisierung oder sogar Diskriminierung hinwei-
sen. Sie haben – und das ist wirklich töricht – von den
zwei jüdischen Gemeinden in Berlin nur eine übernom-
men, nämlich die größere. Die kleinere jüdische Ge-
meinde, Adass Jisroel, die ihre Mitarbeit genauso ange-
boten hat wie der Zentralrat der Juden und die Jüdische
Gemeinde in Berlin, schließen Sie aus. Ihr schlagen Sie
die Tür vor der Nase zu. In aller Vorsicht: Das ist wirk-
lich nicht gut. Sie tun dies ohne Not; denn nach Ihrem
Gesetzentwurf haben Sie für die jüdischen Organisatio-
nen drei Plätze vorgesehen. Sie könnten sie also beteili-
gen; sie ist eine der beiden gleichberechtigten jüdischen
Gemeinden Berlins.
Wir fragen uns alle: Warum gehen Sie diesen steini-
gen Weg? Warum erfolgt die Zusammensetzung so
willkürlich? Herr Dr. Lammert hat zu Recht darauf hin-
gewiesen: Hintergrund ist ganz offensichtlich ein beson-
derer Gestaltungswunsch von Herrn Dr. Naumann.
Herr Dr. Naumann, das Mißtrauen – das wurde vor-
hin angesprochen – wird natürlich dadurch genährt, daß
Sie, bevor sich die Gremien überhaupt konstituiert ha-
ben, bereits in Zeitungsanzeigen für die Personalbeset-
zung dieser Stiftung werben. Das halte ich wirklich für
sehr unglücklich. Sie haben schon eine Vollzeitstelle für
diesen Ort der Information ausgeschrieben; sie ist genau
beschrieben, auch mit Besoldungsgruppe. Ich meine,
man hätte warten können, bis sich morgen die Gremien
konstituieren; man hätte nicht in dieser Weise vorpre-
schen sollen. Diese Zurückhaltung hätte im Zusammen-
hang mit konsensbildend und vertrauensbildend können,
Herr Dr. Lammert hat bereits darauf hingewiesen.
– So kann man das durchaus sehen, Herr Kollege Hir-
che.
Dennoch sage ich Ihnen, Frau Dr. Leonhard, Frau Dr.
Vollmer und Herr Dr. Naumann: Wir werden uns selbst-
verständlich an der Stiftungsarbeit beteiligen. Obwohl
ich über die Ereignisse der letzten Monate etwas sauer
bin, werde ich mich persönlich einbringen, mich enga-
gieren. Das ist mein Beitrag zur Wiedergewinnung des
Vertrauens; denn letztendlich kommt es nicht darauf an,
wenn wir uns hier untereinander streiten; denn es steht
ein großes Ziel im Hintergrund. Ich möchte dazu beitra-
gen, daß wir gegenüber der deutschen Bevölkerung ein
überzeugendes Signal setzen. Ich möchte dazu beitra-
gen, daß wir ein Denkmal schaffen, das von den Bür-
gerinnen und Bürgern unseres Landes angenommen und
von ihnen häufig besucht wird, ein Mahnmal, das seine
Wirkung entfaltet. Deswegen werden wir unter Hintan-
stellung unserer Bedenken in dieser Stiftung mitarbei-
ten.
Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Fink von
der PDS-Fraktion das Wort.
Ich würde gern frei reden,
aber leider habe ich nur drei Minuten Redezeit.
Sie kön-
nen auch in drei Minuten frei reden.
Sehr verehrter Herr Präsi-
dent! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte meine Freude zum Ausdruck geben, daß wir
heute, noch im alten Jahr am Ende dieses blutigen Jahr-
hunderts, zu einem Abschluß der Diskussion über das
Gesetz zur Errichtung einer Stiftung für das Holocaust-
Mahnmal kommen werden. Ich bin nicht überzeugt, daß
die offene Feindschaft beendet ist und die verdeckt ope-
rierenden Verzögerer es aufgegeben haben, das Denk-
mal zu verhindern. Aber die Spitze ist diesen Versuchen
nach dem heutigen Tage wohl abgebrochen.
Hans-Joachim Otto
7174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Das sieht die PDS als Erfolg für alle Menschen in die-
sem Lande, die sich seit Jahrzehnten um eine ehrliche
Erinnerungsarbeit bei einem der finstersten Kapitel der
deutschen Geschichte bemüht haben. Wenn ich sage Er-
folg, so gebührt das Verdienst dafür in ganz besonderem
Maße den Mitgliedern des Förderkreises zur Errichtung
des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, beson-
ders Lea Rosh. Diese haben sich seit über elf Jahren
nicht entmutigen lassen, ihre Idee mit Beharrlichkeit in
die Tat umzusetzen. Dafür herzlichen Dank.
Der symbolischen Grundsteinlegung genau morgen in
sechs Wochen sollte nun nichts mehr entgegenstehen.
Gleichwohl möchte ich nicht so verstanden werden, daß
nun etwa alle Diskussionen, die wir gerade in den letz-
ten Wochen um den Status der Stiftung sowie um die
Zusammensetzung von Kuratorium und Beirat geführt
haben, unnötig gewesen wären. Nach wie vor vertrete
ich den Standpunkt, daß es der Sinnhaftigkeit der Stätte
– nämlich einem Denkmal der Täter, der nichtjüdischen
Deutschen, für die Opfer, die Juden – entsprochen hätte,
die genannten Gremien entsprechend zu besetzen. Das
heißt, es wäre für mich logisch gewesen, das Kuratori-
um ausschließlich aus Vertreterinnen und Vertretern des
Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhauses und des
Förderkreises zu besetzen. Der Zentralrat der Juden und
die Jüdische Gemeinde von Berlin – für mich gehört zur
Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin auch die leider nicht
berücksichtigte Synagogengemeinde Adass Jisroel –
ebenso wie die weiter im Gesetzentwurf aufgeführten
Mitglieder des zu gründenden Kuratoriums, auf deren
Stimme gerade die PDS nicht verzichten will, hätten ihre
Mitwirkung dann im Beirat einbringen können. Doch es
liegt uns fern, daraus nun eine Nagelprobe für das Ge-
samtvorhaben machen zu wollen. Da bei den Genannten
offensichtlich Einverständnis vorliegt, wird die PDS die-
ser Zusammensetzung zustimmen.
Jegliches kleinliche Gezänk um Bebauungsplanung,
sicherheits- und städtebauliche Fragen, das in dieser
Stadt leider alltäglich ist, würde unserem Land ein Ar-
mutszeugnis besonderer Art ausstellen. Das betrifft in
gleicher Weise die Finanzierung des Projektes. Hier
wie in so vielen anderen Fällen nach der jeweiligen Kas-
senlage entscheiden zu wollen – die Formulierung in § 3
Abs. 2 des Gesetzentwurfes rückt diese Gedanken jeden-
falls in den Bereich des Möglichen – hielte die PDS für
einen an politischer Peinlichkeit kaum zu überbietenden
Fauxpas.
In der Hoffnung, daß es dazu niemals kommen wird,
stimmt die PDS dem vorliegenden Gesetzentwurf zu.
Als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das
Wort der Kollege Michael Roth von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es ein ganz
klein wenig schade, daß wir mit dem heutigen Tage die-
se Debatte im Deutschen Bundestag beenden; denn ich
habe sie als einen sehr wichtigen Akt der Selbstverge-
wisserung empfunden. Ich stimme Herrn Lammert auch
ausdrücklich zu: Wir haben uns von Beginn an – ich bin
ja erst seit einem Jahr dabei – über vieles Wichtige ge-
stritten. Es ist auch ein Teil der Geschichte dieses
Mahnmals, daß es die unterschiedlichen Positionen gibt.
Es lag nun am Deutschen Bundestag, die Rolle verant-
wortungsvoll wahrzunehmen. Ich befürchte, wir werden
den Streit im Kuratorium und auch in den anderen Gre-
mien der Stiftung sicherlich nicht zu einem Abschluß
bringen. Aber wir sollten heute zumindest das Verfahren
mit Würde abschließen, so daß wir damit gute Startvor-
aussetzungen für das Kuratorium erbringen; denn die
Arbeit – auf die ich mich freue – mit Herrn Otto, mit
Frau Widmann-Mauz und mit vielen anderen ist ganz,
ganz schwierig, aber auch sehr verantwortungsvoll.
Ich möchte aus dem Beschluß vom 25. Juni einen
einzigen Satz zitieren: „Die Stiftung nimmt noch in die-
sem Jahr ihre Arbeit auf.“ Von diesem Satz haben wir,
die Koalition, uns leiten lassen. Es war uns wichtig, die-
ses Ziel zu erreichen. Das hat uns auch dazu veranlaßt,
das Verfahren möglichst zügig abzuschließen. Daher
findet morgen die erste, die konstituierende Sitzung
des Kuratoriums statt. Denn wenn wir nicht über den
Weg der unselbständigen Stiftung gegangen wären, hät-
ten wir die Sitzung nicht schon auf morgen anberaumen
können. Wir beschließen zwar heute – hoffentlich! –,
aber dann muß das noch dem Bundesrat zugeleitet wer-
den, und es müssen noch weitere Verfahrenspflöcke
eingeschlagen werden, so daß, davon gehe ich aus, die
konstituierende Sitzung wahrscheinlich erst Ende Febru-
ar über die Bühne gegangen wäre.
Herr
Kollege Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Otto?
Selbstverständlich.
Bitte,
Herr Otto.
Herr
Kollege Roth, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß wir in der Obleutebesprechung des Ausschusses für
Kultur und Medien einen ganz detaillierten und präzisen
Zeitplan verabredet hatten, sogar unter Einbeziehung
des Bundesrates, nach dem wir das Gesetz noch dieses
Jahr in volle Rechtskraft hätten setzen können. Nehmen
Sie bitte zur Kenntnis, daß dieses Verfahren jäh unter-
brochen wurde durch die Einschaltung des stellvertre-
tenden Vorsitzenden Ihrer Fraktion, der es uns nicht
möglich gemacht hat, darüber in einer Sitzung im Sep-
tember zu beraten, obwohl dies übereinstimmender Be-
schluß der Obleute war. Das sind nüchterne Fakten. Wir
hätten schon am heutigen Tage eine gesetzlich veran-
Dr. Heinrich Fink
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7175
(C)
(D)
kerte Stiftung. Nehmen Sie das bitte freundlicherweise
zur Kenntnis, Herr Roth?
Ich kann es, Herr
Kollege Otto, nur bedingt zur Kenntnis nehmen, weil ich
den Obleuten nicht angehöre. Ich möchte aber meiner
großen Freude Ausdruck verleihen, daß wir heute so
weit sind und die Arbeit morgen beginnen können. Das
ist Ergebnis der Bemühungen seitens der Koalition.
Ich will noch einen Aspekt ansprechen, der mich sehr
berührt. In den vergangenen Jahren – nicht erst seitdem
ich dem Deutschen Bundestag angehöre – hatte ich ein
erhebliches Problem im Umgang mit Deutschen jüdi-
schen Glaubens, wenn es um die Vergangenheit, wenn
es um den Holocaust geht. Ich glaube nicht, daß es unse-
re Aufgabe ist, Herr Otto, Herrn Bubis recht zu geben.
Ob sich Jüdinnen und Juden an dieser schwierigen Ent-
scheidung beteiligen, das müssen sie selbst klären. Sie
haben es geklärt, und sie haben uns die Hand zum Dia-
log gereicht. Ich finde das ein sehr ermutigendes Zei-
chen auch im Hinblick darauf, wie wir für die Zukunft in
unserem Lande unter Einschluß von Menschen jüdi-
schen Glaubens mit dieser Frage umgehen. Deswegen
finde ich es ein ganz hervorragendes Ergebnis der zahl-
losen Debatten der vergangenen Monate, daß wir zu die-
sem Ergebnis gekommen sind.
Frau Süssmuth, ich kann wirklich nicht verstehen,
warum wir uns darüber nicht gemeinsam freuen. Es geht
auch nicht um eine Hierarchisierung – ich mag dieses
Wort sowieso nicht – verschiedener Opfergruppen;
denn auf den Beirat wartet die ganz entscheidende Auf-
gabe, einen weiteren Teil unseres Beschlusses umzuset-
zen, nämlich wie wir den anderen Opfern würdig geden-
ken. Dafür brauchen wir den Sachverstand. Ich hoffe,
daß wir im Kuratorium eine einvernehmliche Lösung
darüber erzielen werden, wer in diesem Beirat sitzt. Ich
kann an der Zusammensetzung des Beirates – an dem
Beirat insgesamt – nichts Unbedeutendes sehen.
Vielmehr handelt es sich um ein ganz wichtiges Organ
dieser Stiftung. Deshalb sollten wir diesen Beirat nicht
kleinreden. Damit machen wir unsere Arbeit der ver-
gangenen Monate schlecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so kurz vor Weih-
nachten – damit greife ich das auf, was Frau Kollegin
Leonhard gesagt hat – sind wir bestrebt, mit friedvollen
Botschaften in das kommende Jahrtausend zu ziehen.
Ich würde mich deshalb freuen, wenn wir heute mit
möglichst großer Mehrheit einen tragfähigen Beschluß
fassen. Auf uns warten nämlich Entscheidungen, die wir
konstruktiv und mutig auf den Weg bringen müssen. Ich
wünsche uns dafür alles Gute und hoffe, daß wir uns
endlich einmal zusammenreißen und diesen konstrukti-
ven Weg gemeinsam, über Fraktionsgrenzen hinweg,
beschreiten werden. Denn auf uns schauen immer noch
viele Menschen, die sich für dieses Thema seit vielen,
vielen Jahren interessieren und viel Arbeit und Zeit in-
vestiert haben. Enttäuschen wir sie nicht!
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Errichtung einer
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
in der Ausschußfassung, Drucksache 14/2013 und
14/2349 Buchstabe a.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/2357 vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuß-
fassung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der F.D.P. zur Errichtung einer „Stif-
tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ auf
Drucksache 14/1996. Der Ausschuß für Kultur und Me-
dien empfiehlt auf Drucksache 14/2349 unter Buchstabe
b, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der F.D.P. auf
Drucksache 14/1996 abstimmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion
abgelehnt worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Glo-
balisierung der Weltwirtschaft – Herausforde-
rungen und Antworten“
– Drucksache 14/2350 –
Hans-Joachim Otto
7176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Prä-
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast
alle Fraktionen des Hohen Hauses haben diesem Gesetz-
entwurf in der Vorphase ihre Zustimmung gegeben. Es
ist für mich ein Grund zum Feiern, daß es über diese
zentrale Frage „Globalisierung der Weltwirtschaft –
Herausforderungen und Antworten“ fraktionsübergrei-
fende starke Gemeinsamkeiten gibt. Für mich persön-
lich ist es ein Grund, denjenigen zu danken, die sich in
den letzten Monaten mit großem Erfolg um diesen Kon-
sens bemüht haben.
Ich möchte als erstes unseren stellvertretenden Frak-
tionsvorsitzenden Ernst Schwanhold nennen, der in ge-
wissem Sinne als der Architekt des neuen Gebäudes
gelten kann, welches wir als Kommission betreten und
mit Leben füllen wollen. Ich möchte ebenso meinen
großen dankbaren Respekt dem Herrn Kollegen Schau-
erte, Herrn Schwanholds Partner von der CDU, für die
konstruktive Kooperation aussprechen.
Das gleiche gilt für die Kolleginnen Buntenbach, Kopp
und Lötzer sowie nicht zuletzt für meine Fraktionskolle-
gin Sigrid Skarpelis-Sperk, Vorsitzende unserer Ar-
beitsgemeinschaft Weltwirtschaft und jetzt Sprecherin
unserer Fraktion in der neuen Enquete-Kommission. Ich
freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit all den Ge-
nannten und den anderen Mitgliedern des Hohen Hauses
sowie den Experten, die noch zu berufen sind.
Die Globalisierung der Weltwirtschaft war die er-
wünschte Folge des freudigsten Ereignisses der deut-
schen Nachkriegsgeschichte, nämlich der deutschen
Wiedervereinigung.
Indem ich das sage, gebe ich eine zeitliche Terminie-
rung vor, mit welcher ich all denen widerspreche, die die
Globalisierung als ein uraltes Phänomen bezeichnen,
welches schon bei den Seefahrern früherer Jahrhunderte
begonnen hat. Natürlich gab es früher schon internatio-
nalen Handel und vielfältige Verflechtungen, gelegent-
lich auch ruinösen Wettbewerb. Aber die Integrität und
die autonome Handlungsfähigkeit der Staaten standen
nie in Frage, gleichgültig, ob es das Florenz der Medici
war oder das viktorianische England oder die Bundesre-
publik Deutschland unter der Kanzlerschaft von Konrad
Adenauer.
Bei Konrad Adenauer werden jetzt manche von Ih-
nen stutzen und denken: Der hat doch sehr viele auto-
nome Handlungsmöglichkeiten des Staates preisgege-
ben: in der Montanunion, in der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft, in der Westintegration. Und doch
wird dieses dem Phänomen Globalisierung noch nicht
gerecht.
Wir haben durch die Politik der Westintegration zu-
nächst einmal etwas erreicht, was man auf nationalstaat-
licher Ebene gar nicht erreichen konnte, nämlich ein
nicht dagewesenes Gefühl von Sicherheit und Friedens-
entwicklung. Dieses war die Basis unserer 100pro-
zentigen Zustimmung zur Wirtschaftsintegration. Der
Glücksfall Europa, das Erfolgsmodell Europa hat uns
gerade nach dem Fall der Mauer beflügelt, die Wirt-
schaftsintegration zu betreiben und fortzusetzen – und
nunmehr weltweit und ohne ideologische Schranken.
Aber nun erst, wenige Jahre nach dem Fall der
Mauer, nach der großen bejubelten Befreiung, schlich
sich auf einmal vielerorts das Gefühl ein, daß wir unver-
sehens viel mehr Autonomie preisgegeben hatten, als
Konrad Adenauer oder auch Willy Brandt je preis-
zugeben bereit gewesen wären. Diesmal haben wir die
Autonomiebestandteile nicht abgegeben an die immer-
hin noch dingfest zu machende Europäische Union, son-
dern an das internationale Kapital, welches für viele
von uns überhaupt nicht faßbar ist, zum Beispiel auch an
amerikanische Pensionsfonds, von denen vor 1990 kein
Mensch auch nur gehört hat.
So verbindet sich mit dieser Preisgabe von Autono-
mie ein Gefühl der Beklemmung und gleichzeitig eine
Assoziierung von neoliberal, Globalisierung, Preisgabe
von nationaler Sozialpolitik und Umweltpolitik und
vielem anderen.
Es ist meine persönliche Interpretation, daß sich im
Verhältnis zwischen Schwachen und Starken mit dem
Jahr 1990 und mit der dann einsetzenden Globalisierung
Zentrales verändert hat: Bis 1990 mußten die Starken
den Ausgleich mit den Schwachen suchen; denn es be-
stand immer latent die Gefahr, daß ein Land in Richtung
sozialistischer Experimente abdriftet, wenn es einer
breiten Mehrheit zu schlecht ging. Der breite gesell-
schaftliche Grundkonsens war ein erklärter Standort-
vorteil von Ländern wie Schweden, Deutschland,
Schweiz, Japan und anderen.
Nun plötzlich, nach 1990 – in Nord- und Südamerika
übrigens etwa zehn Jahre früher – war der Ausgleich
kein hohes gesellschaftliches Ziel mehr. Sozialistische
Experimente brauchte keiner mehr zu befürchten, und
fast über Nacht verwandelte sich der ehemalige Stand-
ortvorteil in einen Kostennachteil und damit in einen
Standortnachteil, denn der Konsens war natürlich mit
ziemlich viel Geld erkauft worden.
Ich gebe auch zu, daß die Konsensgesellschaft ein
Stück weit behäbig geworden war, und auch Behäbig-
keit ist teuer. Der Konsensgesellschaft wurde der
Standort Deutschland entgegengestellt – ebenfalls ein
Wort, das es vor 1990 nicht gab. Die Stichworte Globa-
lisierung oder Standort Deutschland finden Sie in kei-
nem Brockhaus oder Langenscheidt vor 1990.
Das vor 1990 frohgemut gefeierte Konsensdenken
wurde nun auf einmal von einer Seite der Gesellschaft
als Konsensgesülze diskreditiert. So stieg die Befürch-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7177
(C)
(D)
tung in vielen hoch, daß das internationale Kapital, auf
das man ja für die Schaffung von Arbeitsplätzen ange-
wiesen war, auf einmal viele Regeln selbst bestimmte
und nicht mehr die demokratisch gewählten Parlamente.
Sehr verstärkt wurde das Unbehagen, als sich heraus-
stellte, daß der Abschied von der Konsensgesellschaft
weltweit zu einem dramatischen Aufklaffen der Lücke
zwischen Arm und Reich führt. Seit 1980 hat sich der
Abstand zwischen dem ärmsten Zehntel und dem reich-
sten Zehntel glatt verdoppelt. Die Demokratie kann sich
natürlich nicht einfach damit abfinden, daß sie die Re-
geln nicht mehr setzt und daß der Abstand zwischen
Arm und Reich dauernd zunimmt.
In der Folge wurden die Globalisierung, das neolibe-
rale Denken und die Standort-Deutschland-Kampagne
zunehmend als Gegensatz zur Demokratie wahrgenom-
men. Die Folge dieses Konfliktes war – so sehe ich das
– der breite Linksruck bei fast allen Wahlen in Europa.
Doch mit diesen durch demokratische Wahlen geschaf-
fenen Veränderungen ist natürlich noch keines der vor
uns liegenden Probleme gelöst.
Im übrigen verdeckt jener karikaturhaft genannte
Konflikt die Tatsache, daß die Globalisierung und der
Druck des internationalen Kapitals ja auch sehr segens-
reiche Auswirkungen hat. Viel Ineffizienz und Schlen-
drian ist überwunden worden, und weltweit setzte sich
eine staatliche Ausgabendisziplin durch, die die Infla-
tion auf Werte unter 2 Prozent drückte. Das war vor
zehn Jahren noch kaum vorstellbar, nicht einmal in
Amerika, wo damals ja noch die Republikaner herrsch-
ten.
Wo liegen aber denn nun die Lösungsansätze? – Sie
liegen, ob Sie es glauben oder nicht, in der Wiederher-
stellung eines breiten politischen Konsenses.
Natürlich haben die Rechten recht, wenn sie von der
friedenssichernden Rolle der Wirtschaftsverflechtung
sprechen. Diese kommt auch denen zugute, die zwar in
Armut leben, aber wenigstens nicht im Krieg.
Natürlich haben die Linken recht, daß es nicht angeht,
daß ständig die Reichen reicher und die Armen ärmer
werden.
Natürlich haben die Rechten recht, daß wir uns in
Deutschland ähnlich wie vor uns die Niederländer und
die Skandinavier mit unseren Sozialsystemen und unse-
ren Arbeitszeitmustern in vielen Hinsichten anpassen
müssen.
Aber natürlich haben die Linken recht, daß die Dere-
gulierung auf nationaler Ebene nur dann gutgeht, wenn
sie von einer Regulierung auf internationaler Ebene er-
gänzt wird.
Natürlich haben die Rechten recht, daß der Wettbe-
werb der Standorte bis zu Provinzen und Kommunen
hinunter im marktwirtschaftlichen Entdeckungsverfah-
ren wichtige und lehrreiche Innovationen auslöst.
Aber natürlich haben die Linken recht, daß die ge-
genseitige Solidarität der Regionen dieser Entdek-
kungsschlingerfahrt moralische Grenzen setzen muß.
Schließlich haben natürlich beide Seiten recht, daß
ein exportabhängiges Land wie Deutschland von der
Globalisierung insgesamt profitiert und sich nicht ein-
fach mit einem ärztlichen Attest krank melden kann.
Wenn hier etwas krank ist, dann ist es die Unwilligkeit
der streitenden Parteien, aufeinander zuzugehen, wie das
in den Niederlanden der Fall war. Nach einer Forsa-
Umfrage vom August sind über 70 Prozent der Deut-
schen der Meinung, wir sollen die großen, vor allem
durch die Globalisierung sichtbar gewordenen Probleme
im breiten nationalen Konsens angehen. Nur 10 Prozent
der Bevölkerung meinen, wir sollen im wesentlichen die
Konflikte austragen.
In Seattle, im Westen der USA, hat sich vor zwei
Wochen bezüglich der Globalisierung eine Art Zeiten-
wende vollzogen. Der unaufhaltsam erscheinende Zug in
Richtung einer immer weitergehenden Handelsliberali-
sierung ist überraschend – vorerst – zum Stehen ge-
kommen. Gestoppt haben ihn die Vertreterinnen und
Vertreter des nichtstaatlichen, zivilgesellschaftlichen
Sektors. Die französischen Kulturschaffenden, die ame-
rikanischen Teamsters, die indischen Landfrauen und
die Schildkrötenschützer aller Länder haben in Seattle
höchst überraschende Gemeinsamkeiten entdeckt. Prä-
sident Clinton konnte es sich einfach nicht leisten,
die weitgehend aus seiner Wählerschaft kommenden
Demonstranten zu verprellen. So ließ er seine eigene
Verhandlungsführerin Charlene Barshefsky im Regen
stehen und ließ die Konferenz ohne Ergebnis zu Ende
gehen.
Für unser Land und für die Arbeit der Enquete-
Kommission ist das Signal von Seattle höchst bedeut-
sam. Die zivilgesellschaftlichen Akteure haben nicht nur
lokale Bedeutung, sondern auch starke internationale
Muskeln. Zusammen mit Parlamenten und Regierungen
von Nationalstaaten können sie wesentlich dazu beitra-
gen, daß der Ausgleich zwischen Starken und Schwa-
chen wiederhergestellt wird. Gemeinsames Ziel sind in
erster Linie Regeln der Fairneß für die Weltmärkte,
Regeln der Fairneß gegenüber den Schwächeren, gegen-
über der Vielfalt, gegenüber der Natur und gegenüber
den nach uns kommenden Generationen. Die Starken
und die Märkte sind von sich aus auf diesem Auge blind.
Erst dann, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher, die
ja die eigentlichen Zielpersonen des Marktes sind, Fair-
neß verlangen, wird der Markt dem folgen, und erst
dann – um mit Gräfin Dönhoff zu sprechen – wird der
Markt gezähmt. Aber damit sich die Konsumenten für
die Fairneß entscheiden können, brauchen sie vor allem
verläßliche Informationen.
Transparenz ist das allerwichtigste Stichwort für die
zu entwickelnden Regeln der Weltmärkte. Das muß auch
die Leitvokabel für die internationale Finanzarchitektur
werden, von der so viel geredet wird. Transparenzregeln
für internationale Konzerne zu formulieren könnte eine
schöne Hausaufgabe für uns in der Enquete-Kommission
werden. Verbraucherinnen und Verbraucher weltweit
sollen sich nämlich ein eigenes Urteil bilden und ihre
Kaufentscheidung danach ausrichten können.
Das war jetzt ein Beispiel von vielleicht 20 für
Hausaufgaben der Enquete-Kommission. Viele andere
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
7178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
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wird die Kommission auf der Basis des von Ernst
Schwanhold und seinen Partnern sehr gut formulierten
Mandats noch genauer definieren.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, haben Sie
mit der Enquete-Kommission, die wir heute gründen
wollen, noch ein wenig Geduld. Wir müssen dicke
Bretter bohren. Aber ich bin sehr zuversichtlich, daß wir
in zweieinhalb Jahren dem Bundestag spannende und
weiterführende Vorschläge unterbreiten können.
Ich bedanke mich auch namens unserer Fraktion für
das Mandat, das wir mit dieser Kommission überneh-
men. Ich danke Ihnen für das Vertrauen und für Ihre
Geduld.
Als
nächster Redner hat der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission „Glo-
balisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und
Antworten“ liegt Ihnen vor. Er ist abgestimmt und soll
nun verabschiedet werden. Er ist wie jeder Kompromiß
auch mit Schwächen behaftet. Insbesondere im zweiten
Teil können wir feststellen, daß er der Gefahr unterliegt,
sehr in die Breite zu gehen. Dieses Problem werden wir
in der Kommission vielleicht rein technisch haben: Wir
müssen uns davor hüten, zu sehr in die Einzelheiten zu
gehen und uns darin zu verlieren. Das Thema Globali-
sierung ist so gewaltig und so umfassend, daß man darin
ertrinken kann. Herr Vorsitzender, wir müssen es schaf-
fen – das bedarf bei aller Vielfältigkeit der Problematik
unserer gemeinsamen Anstrengung –, uns auf Kernbe-
reiche zu konzentrieren.
Unser Thema lautet: Globalisierung der Weltwirt-
schaft. Ein zentraler Kernbereich muß sein: Auswirkun-
gen auf Deutschland und Antworten der deutschen Poli-
tik auf diese Auswirkungen.
Diese Antworten können auch international sein; aber
der Kern muß im Fokus bleiben. Wir dürfen uns nicht
verzetteln.
Die Globalisierung wird das zentrale Thema des
21. Jahrhunderts sein, weil Begriffe wie „eine Welt“,
„Die Welt ist ein Dorf“ und „Alles hängt mit allem zu-
sammen“ sehr real geworden sind. Fusionen und Kon-
zentrationen beherrschen die Schlagzeilen der Wirt-
schaftszeitungen. Gleichzeitig werden Tausende von
kleinen Unternehmen neu gegründet. Beides sind Ant-
worten auf dieselbe erstaunliche Veränderung und Ent-
wicklung.
Die unglaublichen Veränderungen auf dem Feld der
Kommunikation in Wort und Bild, aber auch der
Kommunikation bei Technologie, bei Transfer, bei
Transport und bei Wanderung von Menschen sind im
übergeordneten Sinne kommunikativ und verändern das
Antlitz der Erde. Es entwickeln sich neue Größenord-
nungen; es entwickeln sich neue politische Strukturen.
Herr Kollege Weizsäcker, an dieser Stelle bin ich ent-
schieden anderer Auffassung als Sie. Ich will das Datum
1990 nicht kleinreden. Wer hat mehr Glück und Freude
an dieser Entwicklung als wir? Aber nicht die Politik
formt die Strukturen; vielmehr formen die Strukturen die
Politik. Nicht das Kapital hat zu diesen Veränderungen
beigetragen, über die wir reden wollen, sondern die
Technologien haben die Welt verändert. Die Politik ist
in der Teilung der Welt zusammengebrochen, weil die
Kommunikation unaufhaltsam geworden ist. Die Ge-
schehnisse des Jahres 1990 sind eine Konsequenz der
vorangegangenen technologischen Veränderungen.
Die Überbetonung des Kapitals erscheint mir unange-
messen. Wir sollten auf die technologischen Zwänge
achten.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die Menschen
und ihr Wissen die Politik und die Strukturen entschei-
dend prägen – nicht umgekehrt. In der Vergangenheit
waren es immer die konkreten, gestaltbaren und be-
herrschbaren Lebensumstände und Lebensräume, aus
denen politische Handlungsfelder entwickelt wurden.
Die Größenordnung entstehender Königreiche, Staaten
und Staatenbünde bestimmte sich im Prinzip danach,
wie man kommunizieren konnte – in des Wortes über-
geordneter Bedeutung. Es ging nicht nur darum, wie
man Briefe verschicken konnte, sondern auch darum,
wie man Güter, Waren und Menschen miteinander ver-
binden konnte. In dieser Hinsicht haben wir eine ganz
neue Dimension erreicht. Das, was jetzt passiert, ist
schon die Fortsetzung eines anhaltenden Globalisie-
rungsprozesses von Beginn an hin auf einen Weg in
e i n e Welt – nur mit einem viel höheren Tempo.
Wir sind nicht der Auffassung, daß man nach der
Jahrhundertwende zu dem Ergebnis kommen könnte:
Jetzt haben wir den größten Schub hinter uns, ab jetzt
wird es bequemer. Ich glaube, daß das Tempo minde-
stens anhält, wenn nicht sogar noch zunimmt.
Unser Ansatz, um auf diese Veränderungen zu reagie-
ren – ich wäre da gar nicht so bescheiden –, ist einer der
erfolgreichsten Ansätze in der Welt: die richtig verstan-
dene soziale Marktwirtschaft. Sie im Rahmen dieses
Prozesses zu globalisieren und in das Bewußtsein aller
Teilnehmer an diesen Geschehnissen auf der Welt zu
heben wäre eine außerordentlich wichtige und wirklich
richtige Antwort. Wir wollen, daß die großen und klei-
nen Unternehmen dieser Welt nach fairen Spielregeln in
einen möglichst machtfreien Wettbewerb zueinander
treten können. Dieser Wettbewerb spornt sie zu
Höchstleistungen an, schont Ressourcen, begünstigt den
Verbraucher und bringt insgesamt hohen gesellschaftli-
chen Nutzen. Zugleich wissen wir, daß es gesellschaftli-
che Bereiche und einzelne Mitglieder dieser Gesell-
schaft gibt, die durch Wettbewerb und Markt überfordert
werden. Ihnen muß geholfen werden. Wenn wir diese
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7179
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(D)
beiden Pole intelligent miteinander kombinieren, werden
wir die Antworten finden, nach denen wir in dieser
Kommission suchen.
Es bleibt gerade im Prozeß der Globalisierung die
Aufgabe, mit großer Intelligenz daran zu arbeiten, daß
sich die Wirtschaft möglichst klar und eindeutig dem
Wettbewerb unterwirft. Das, was früher in nationale
Zuständigkeiten fiel, spielt sich heute insbesondere bei
Fusionen und Konzentrationen nicht mehr nur nach
nationalen, in einigen Fällen sogar nur noch nach inter-
nationalen Regeln ab. Deswegen müssen die Regeln
miteinander in Einklang gebracht werden, um Verschie-
bungen wegen falscher Regelauslegung zu vermeiden.
Das ist eine unserer größten Aufgaben. In Europa sind
wir da gut vorangekommen, wir müssen aber auch über
Europa hinausgehen. Ich finde es deshalb schade, daß
die WTO-Verhandlungen gescheitert sind. Es klang
bei Ihnen ein wenig so durch, als sei das Scheitern nor-
mal gewesen. Jeder Rückschlag bei der Entwicklung
von Regeln für die gemeinsame weltweite wirtschaft-
liche Tätigkeit ist ein Rückschritt; ich denke dabei an
Seattle, wo dieses durch intelligente Kommunikations-
methoden, nämlich durch das Internet, verhindert wurde,
oder auch an populistische Ansätze. Mir tut es leid,
wenn sich dieser Prozeß verlangsamt. Wir sollten ihn
vielmehr beschleunigen.
Ich darf in dem Zusammenhang noch einmal auf ein
Bild zurückkommen, über das möglicherweise auch in
der Kommission unterschiedliche Ansichten bestehen.
Ich glaube nicht, daß die Politik Herrin des Verfahrens
ist. Ich glaube vielmehr, daß die Gesellschaften ein
Eigenleben haben und die Politik gut beraten ist, diesen
gesellschaftlichen Prozessen zu folgen. Ich möchte das
an Hand eines Bildes verdeutlichen: Man kann die tech-
nologischen Veränderungen und vieles andere eben-
sowenig wie einen großen Fluß anhalten; man kann die-
sen allenfalls einfrieden und Dämme bauen, damit er
nicht über die Ufer tritt, und ihn für Landwirtschaft und
Energiegewinnung nutzbar machen. Wenn man ihn aber
anhält, dann staut er sich so lange auf, bis der Staudamm
bricht, und dann ertrinken Menschen. Ähnlich wie mit
einem Fluß müssen wir mit diesem Prozeß umgehen.
Wir müssen ihn intelligent und mutig begleiten und auf
Lösungen hinweisen, damit es nicht zu bruchhaften
Entwicklungen kommt. Wir sollten aber nicht versu-
chen, ihn anzuhalten.
Die Globalisierung der Wirtschaft – auch das ist mir
sehr wichtig – vollzieht sich in natürlicher Parallele zur
Entwicklung von Freiheit und Freizügigkeit von Men-
schen, Informationen und Kapital. So, wie wir in der
Vergangenheit gelernt haben, daß freie marktwirtschaft-
liche Teilhabe eine wichtige Basis für freie demokrati-
sche Gesellschaften ist, so ist auch bei dem Prozeß der
Globalisierung darauf zu achten, daß wir ihn nicht in
einer solchen Weise diffamieren, einengen und verkür-
zen, daß darunter die Freiheit leidet. Wir müssen bereit
sein, das, was wir bisher staatlich zur Begründung von
Freiheit und Demokratie getan haben, weltweit zu über-
tragen und zur Akzeptanz zu verhelfen.
Es gilt, die freien Ansätze zu schützen und gleichzei-
tig extrem negative Auswirkungen zu vermeiden oder
wenigstens abzumildern. Es gilt – das wird sicherlich
eine Erkennungsmelodie unserer Arbeit in der Enquete-
Kommission sein, Herr von Weizsäcker –, die soziale
Marktwirtschaft weltweit zu implementieren.
Wenn uns das durch wirklich mutiges Vorangehen,
durch Erklären und durch eine vernünftige Außenpolitik
gelingt, dann haben wir einen ganz wesentlichen Beitrag
geleistet. Die globale Durchsetzung der sozialen Markt-
wirtschaft wäre die beste Antwort auf die Globalisie-
rung.
Wir sollten keine Angst vor den Veränderungen ha-
ben, die jetzt vor uns liegen. Es war vor 100 Jahren nicht
gottgegeben, daß 60 Prozent der Menschen in Deutsch-
land Bauern waren. Hätten wir ihnen gesagt, daß es im
Jahr 1980, also nach 80 Jahren, noch 2 Prozent sein
werden, hätte es die Gesellschaft gesprengt; das hätte
niemand akzeptiert. Vor einigen Jahren haben noch
50 Prozent der Menschen Güter produziert. Heute wis-
sen wir, daß es in wenigen Jahren noch 20 Prozent sein
werden.
Immer hat es solche massiven Veränderungen gege-
ben. Es gilt, diese Veränderungen zu erkennen und mu-
tig anzupacken. Nur so können Brüche vermieden wer-
den. Je länger wir notwendige Entwicklungsprozesse
verzögern, desto höher steigt der Fluß, bis die Dämme
brechen. Dann hätte die Politik wirklich versagt. Über
diese notwendigen Zumutungen und Veränderungen, die
keine bequemen, aber wohl unseren Lebensumständen
immanente sind, müssen wir mit den Menschen reden
und sie ihnen erklären. Ich hoffe, wir können dieser
Aufgabe mit der Enquete-Kommission in einem Teilab-
schnitt einigermaßen gerecht werden.
Ich bedanke mich.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
In dieser Woche hat das Kinderhilfswerk der Vereinten
Nationen den Bericht zur Lage der Kinder in der Welt
vorgestellt. Die UN-Organisation schätzt, daß derzeit
600 Millionen Kinder in extremer Armut aufwachsen.
Ihnen steht pro Tag weniger als ein Dollar zum Leben
zur Verfügung. Dieses Beispiel macht eine zentrale Her-
ausforderung deutlich, vor der Politik in Zeiten der Glo-
balisierung steht, nämlich die Bekämpfung der absoluten
Armut in der Welt.
Hartmut Schauerte
7180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Damit ist eine Kernfrage benannt, die aus grüner
Sicht im Mittelpunkt der Arbeit der Enquete-Kommis-
sion stehen muß: Wie wirkt sich die Globalisierung auf
die Lebensverhältnisse der Menschen aus? Wie kann
durch politisches Handeln einer Verschlechterung dieser
Verhältnisse entgegengewirkt werden? Wie kann ver-
hindert werden, daß die Schere zwischen Arm und Reich
weltweit immer weiter auseinanderklafft? Daß die Pro-
duktion materiellen Reichtums in den letzten Jahren in
einem unglaublichen Tempo beschleunigt worden ist
und insofern der materielle Reichtum insgesamt gese-
hen größer geworden ist, stellt um so dringender die
Frage auf die politische Agenda, wer denn an diesem
Reichtum teilhat. Jeremy Rifkin verweist darauf, daß das
zusammengelegte Vermögen der 358 reichsten Men-
schen der Welt dem der ärmsten 40 Prozent der Mensch-
heit auf der Erde entspricht; das sind 2,5 Milliarden
Menschen. Der Wohlstand wächst keineswegs für alle:
nicht im internationalen Maßstab, aber auch nicht in den
einzelnen Ländern.
Ein zweites grünes Kernthema für die Enquete ist die
Umweltpolitik. Auch hier stelle ich heute ganz bewußt
den internationalen Aspekt in den Vordergrund; denn
Auswirkungen für Deutschland sind ja auch Auswirkun-
gen für eines der wichtigsten Industrieländer, für einen
der zentralen Akteure im internationalen Kontext. Gera-
de bei der Umweltpolitik muß man erkennen, daß Glo-
balisierung zu steigenden Transportaktivitäten, zur Ver-
lagerung von Umweltbelastungen in Staaten mit gerin-
geren Umweltstandards und zum Kahlschlag der globa-
len Ressourcen – zum Beispiel zur Abholzung der Re-
genwälder – führt. Dieser Raubbau an der Umwelt ent-
zieht zum einen den Menschen anderer Regionen ihre
Lebensgrundlagen, und zum anderen wirken die ökolo-
gischen und sozialen Folgen über jede Staatsgrenze
hinweg. Die Frage ist doch, wie verhindert werden kann,
daß der Prozeß der Globalisierung weiterhin auf Kosten
der natürlichen Lebensgrundlagen und der endlichen
Ressourcen geht.
Ich spreche einen dritten Punkt an: Wesentlich ist
außerdem die Frage der internationalen Finanzmärkte,
die inzwischen erheblich an Bedeutung gewonnen ha-
ben. Ich will hier nur einige der in diesem Zusammen-
hang drängenden Fragen nennen: Mit welchen institu-
tionellen Änderungen lassen sich größere Transparenz
und bessere Kontrolle der Finanzströme erreichen? Wie
können internationale Arrangements von Finanztransak-
tionen wirksam, dauerhaft und umfassend durchgesetzt
werden? Wie kann dabei die Funktion für internationale
Organisationen wie IWF oder Weltbank aussehen? Mit
diesen Fragen werden wir uns beschäftigen müssen.
Zu Beginn der Arbeit möchte ich einen „Globalisie-
rungsmythos“ aus dem Weg räumen, der da lautet: Glo-
balisierung ist etwas, was quasi schicksalhaft über uns
hereingebrochen ist, was sich der politischen Bearbei-
tung entzieht und in dem mächtige und unsichtbare
Kräfte wirken – eine Art globaler Sachzwang. Ich
möchte dagegenhalten, daß die Art und Weise, wie wir
zusammenleben, von Menschen organisiert ist und daher
auch von Menschen verändert werden kann. Was Glo-
balisierung ausmacht, wie zum Beispiel die explosions-
artige Ausweitung der internationalen Finanzmärkte, ist
politisch gewollt und politisch beeinflußbar.
Die zentrale Herausforderung nationaler wie interna-
tionaler Politik besteht darin, die ungebremsten Handels-
und Finanztransfers durch die Setzung verbindlicher
Regeln in eine soziale und ökologisch verträgliche
Richtung zu beeinflussen. Ich weiß, daß die Einschät-
zungen darüber, ob und wie diese Aufgabe zu bewälti-
gen ist – das hat eben auch der Beitrag von Herrn
Schauerte klargemacht – in diesem Hause und in der
Gesellschaft weit auseinander gehen. Um so wichtiger
ist es, mit der Einrichtung dieser Enquete-Kommission
die Chance zu einer sachlich fundierten Auseinanderset-
zung über dieses Thema zu nutzen.
Das Thema Globalisierung verführt in seiner Viel-
schichtigkeit und Differenziertheit dazu, sich schnell in
Detail- und Spezialfragen zu verlieren und zu einer ad-
ditiven Ansammlung von Fragestellungen zu Themen zu
kommen, die dann unverbunden nebeneinanderher er-
forscht werden. Auch der vorliegende Mandatsentwurf,
über den wir heute zu befinden haben, ist der Spiegel-
strichvielfältigkeit ein wenig erlegen. Deshalb ist es um
so wichtiger, sich zu Beginn der Arbeit Klarheit über die
Leitfragen und Zielsetzungen zu verschaffen, unter de-
nen man das Thema angehen will.
Für Bündnis 90/Die Grünen stehen folgende Leitfra-
gen im Vordergrund:
Erstens: Wohlfahrtsentwicklung. Auf die Tatsache,
daß nicht alle Länder und Regionen in der gleichen Wei-
se an positiven Globalisierungswirkungen partizipieren,
habe ich schon hingewiesen.
Zweitens: Menschenrechte. Politische Antworten
auf die Globalisierung sind dem Prinzip der Einhaltung
der Menschenrechte verpflichtet. Zu diesem Prinzip ge-
hören auch die Verwirklichung und die Gewährleistung
von menschenwürdigen sozialen Mindeststandards.
Drittens: internationale Öffentlichkeit. Hier brau-
chen wir unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legi-
timation einen gemeinsam geteilten Kommunikationszu-
sammenhang. Die wesentliche institutionelle Grundlage
dazu bilden die Netzwerke nationaler, transnationaler
und regionaler Interessenverfolgung.
Viertens: Demokratie. Demokratie darf bei der Ver-
lagerung aus der Sphäre nationaler Politik auf die inter-
nationale Ebene nicht auf der Strecke bleiben. Ein
Aspekt demokratischer Partizipation liegt dabei auch in
der Weiterentwicklung von Beteiligungs- und Informa-
tionsrechten im Rahmen der nationalen und transnatio-
nalen Arbeitsbeziehungen.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen.
Die Auseinandersetzung mit der Globalisierung im Sin-
ne einer Wiedergewinnung bzw. Entwicklung politi-
scher Handlungsspielräume ist ein wichtiger Beitrag ge-
gen die Politikverdrossenheit. Wer das Gefühl nicht los
wird, Unbeeinflußbarem ausgeliefert zu sein, neigt zu
Rückzug oder Forderungen nach autoritärem Durchgrei-
Annelie Buntenbach
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7181
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fen von oben, was immer das sein mag. Wenn Globali-
sierung als Dumpingwettbewerb nationaler Volkswirt-
schaften diskutiert wird, was schon dank dem interna-
tionalen Agieren vieler Konzerne der Grundlage ent-
behrt, besteht die Gefahr der Nationalisierung von
Marktkonflikten, der Konkurrenz nicht nur auf Baustel-
len entlang von Sprache und Herkunft. Das Ergebnis
wäre eine Nationalisierung und Abgrenzung in den Köp-
fen statt einer weltoffenen Haltung.
Ich freue mich auf fruchtbare und sachliche Diskus-
sionen in der Enquete-Kommission.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gudrun Kopp von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Die Vorredner haben eben deutlich
gemacht, daß das, was wir in dieser Enquete-Kom-
mission zu bewältigen haben, kein einfaches Werk sein
wird.
Ich möchte die Sicht in Deutschland voranstellen.
Wir wissen alle: Die Globalisierung ist in aller Munde.
Das heißt: Der Zug rollt im Alltagsgeschehen längst im
dem internationalen Gefüge. Die Frage ist, ob die Men-
schen in Deutschland mithalten können. Ich fand sehr
interessant, was heute in einer „Emnid“-Umfrage über
die Einstellung der Menschen in unserem Land zur Zu-
kunft druckfrisch veröffentlicht wurde. Danach machen
sich 70 Prozent der deutschen Bevölkerung große Sor-
gen um unsere Zukunft. Noch in den 80er Jahren waren
es lediglich 20 Prozent, die Zukunftsängste hatten. Das
beweist: Wir tragen mit dieser Enquete-Kommission ein
großes Stück Verantwortung, weil wir es schaffen müs-
sen, das Thema Globalisierung mit aktivem politischem
Handeln zu begleiten, Orientierungshilfen anzubieten
und bei dem, was zu tun ist, zu agieren anstatt zu reagie-
ren.
„Enquete-Kommission zur Weltwirtschaft“ – das ist
auch hinsichtlich des Kompromißvorschlags, dem wir
als F.D.P.-Fraktion mit Blick auf ganz große Schwierig-
keiten zugestimmt haben, ein Mammutwerk. Es stellt
sich die Frage, ob wir das überhaupt leisten können. Gut
zwei Jahre stehen uns zur Verfügung. Dieses Mammut-
werk umfaßt insgesamt neun Themenbereiche mit fünf
Leitlinien: von der Warenwirtschaft, von der Finanz-
wirtschaft, von Gütermärkten über Landwirtschaft, Er-
nährung, Umwelt, Kultur bis zur Gesellschaft. Das ist
ein sehr weites Feld. Deshalb bin ich der Meinung, daß
uns eine Konzentration auf Schwerpunkte gelingen muß.
Der Titel lautet – ich nenne ihn noch einmal – „En-
quete-Kommission zur Weltwirtschaft“. Ich finde, wir
müssen zunächst Teilbereiche herausgreifen und diese
erfolgreich bearbeiten. Nach liberalem Verständnis gibt
es folgende drei Teilbereiche: Erstens brauchen wir ein
europäisches und internationales Wettbewerbsgefüge;
wir brauchen ein Regelwerk für den Weltwirtschafts-
handel.
Zweitens müssen wir die Entwicklung der interna-
tionalen Finanzmärkte mit entsprechender Arbeit be-
gleiten.
Drittens muß es – das ist mir ein ganz besonders gro-
ßes Anliegen – Ziel sein, national, europäisch und inter-
national die Stärkung des flexiblen, innovativen Mit-
telstandes zu erreichen.
Wenn wir nur diese drei Punkte erfolgreich bearbeiten,
so daß wir am Ende dieser Legislaturperiode ein Ergeb-
nis vorlegen können, haben wir viel erreicht. Es muß uns
gelingen, die Bevölkerung hinsichtlich dieser Entwick-
lung zu motivieren.
Herr von Weizsäcker und Frau Buntenbach sprachen
die gesellschaftspolitischen Fragen und die Umweltfra-
gen an. Das sind wichtige Themen, aber sie alle stehen
im Zusammenhang mit dem internationalen Wirt-
schaftsgefüge; da haben sie ihre große Bedeutung. Wenn
wir insofern Fehler machen und wenn wir es versäumen,
unsere Gesellschaft auf diese neuen und unvermeidbaren
Entwicklungen, die auch viele Chancen bringen – man
darf das nicht zu negativ sehen –, vorzubereiten, dann
werden wir alle Verlierer sein. Dann ist es müßig, über
Umweltstandards und über arbeitsmarktpolitische Stan-
dards zu sprechen. Dann wird das alles nicht zu leisten
sein.
Wir müssen uns auf die wichtigsten Punkte konzen-
trieren, damit die Enquete-Kommission „Globalisie-
rung“ auch wirklich ein Erfolg wird. Ein Erfolg wird sie
dann, wenn wir uns auf zentrale weltwirtschaftspoliti-
sche Punkte einigen können. Ich sehe voraus, daß wir
viel Arbeit vor uns haben, um in diesem Gremium Kon-
sens herzustellen. Ich freue mich sehr auf diese Arbeit
und hoffe, daß es uns gelingen wird, uns zu einigen. Das
wird zum Besten für Finanzmärkte und für wirtschaftli-
che Abläufe sowie zum Wohle der Menschen sein, die
sich von unserem politischen Agieren Arbeit und
Wohlstand erhoffen.
Vielen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Lötzer von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen
und Kollegen! Das Scheitern der WTO-Runde in
Seattle – Sie haben auch darauf hingewiesen – ist ein
Signal, das die Notwendigkeit und Bedeutung einer sol-
chen Enquete-Kommission noch einmal deutlich unter-
strichen hat. Die Hauptverantwortung sei in erster Linie
auf das Fehlen jeglicher Flexibilität der USA zurückzu-
führen, den Interessen der EU, aber auch der Entwick-
Annelie Buntenbach
7182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
lungsländer auf Grund des Wahlkampfes entgegenzu-
kommen, sagt die Bundesregierung in ihrer Einschät-
zung. Das ist sicher ein Teil der Antwort, aber auch nur
ein Teil.
Auch der letzte Tag in Seattle war noch einmal durch
eine Großdemonstration von Gewerkschaften, Kirchen,
Umweltbewegung und NGOs gekennzeichnet. Sie for-
mierten sich auf der Straße eindrucksvoll zum Wort
Demokratie. – Reaktion und Ausgangspunkt einer gan-
zen Woche Auseinandersetzung auf der Straße und im
Verhandlungszentrum. Ausgangspunkt, weil die zivilge-
sellschaftlichen Kräfte und viele Entwicklungsländer
von Beginn an deutlich gemacht hatten, daß eine neue
WTO-Runde unfähig sei, zur Lösung der Probleme der
Globalisierung beizutragen: der sich öffnenden Wohl-
standsschere zwischen armen und reichen Ländern, der
Macht der Finanzmärkte, ganze Länder in die Krise zu
stürzen, der zunehmenden Verteilungsungerechtigkeit in
allen Ländern, der Zerstörung der Umwelt, der Unfähig-
keit zu einer Demokratisierung des Globalisierungspro-
zesses. Reaktion, weil leider auch die WTO-Runde sel-
ber in der letzten Verhandlungswoche genau dies noch
einmal drastisch unter Beweis gestellt hat. Entgegen ge-
genteiliger Beteuerung der Sympathie wurden die De-
monstrationen in einer völlig unangemessenen und
überzogenen Reaktion im Tränengas erstickt, ziviler
Notstand gegen die Anliegen ausgerufen und eine Aus-
gangssperre verhängt.
Die Delegationen der Entwicklungsländer wurden
weitgehend von den entscheidenden Verhandlungen
ausgeschlossen. In ihrem Versuch, die Verhandlungs-
runde zu retten, machte die EU-Kommission weitgehen-
de Zugeständnisse in bezug auf Ökologie und soziale
Fragen, auch gegen den Willen von Delegationen.
Das Scheitern macht auch deutlich: Weder die Ent-
wicklungsländer noch viele Kräfte der Zivilgesellschaft
lassen sich diesen Ausschluß weiter gefallen. Jetzt bei
Verhandlungen in Hinterzimmern in Genf die Probleme
der Globalisierung unter Ausschluß der politischen Öf-
fentlichkeit weiterzuführen und am Ziel einer umfassen-
den Runde festzuhalten, nimmt dies nicht ausreichend
zur Kenntnis.
Wir dagegen sollten das Scheitern als Chance nutzen,
in einer umfassenden gesellschaftlichen Diskussion die
Evaluierung der Auswirkungen hinsichtlich sozialer und
ökologischer Folgen, der Entwicklungsperspektiven der
Länder vorzunehmen und Konsequenzen daraus zu zie-
hen. Die Einrichtung der Enquete-Kommission kann und
sollte für uns ein Schritt dazu werden. Deshalb stimmen
wir ihrer Einrichtung und den benannten Handlungsfel-
dern in vollem Umfang zu. Ich hoffe, sie wird hinsicht-
lich der Ergebnisse und Konsequenzen auch in die fol-
genden WTO-Gespräche einbezogen.
Noch ein Wort zur Demokratie in diesem Hause. Lei-
der zwingen Sie uns trotz inhaltlicher Zustimmung zum
Antrag zu einer Enthaltung, weil die CDU/CSU mit
einem „Die oder wir“ wieder einmal durchgesetzt hat,
daß wir von der Antragseinreichung ausgeschlossen
werden und die SPD sich leider dafür entschieden hat,
diesen Schritt mitzugehen. Ich habe mich ausdrücklich
darüber gefreut, Herr Kollege von Weizsäcker, daß Sie
vorhin in der Aufzählung dieses Bild korrigiert haben
und diesen Schritt nicht mitgegangen sind. Dafür bedan-
ke ich mich. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
Als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich
dem Kollegen Thomas Rachel von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Globa-
lisierung der Weltwirtschaft verändert die Welt und ist
zugleich Teil einer veränderten Welt. Die Globalisie-
rung ist aber nicht die Ursache dieser Veränderungen,
sondern Folge des Übergangs von der Industrie- zur
Wissensgesellschaft.
Manche meinen, Globalisierung sei nichts Neues, es
sei nur Export und Import mit anderen Mitteln. Aber
Globalisierung ist kein Kind von Import und Export,
sondern ein Kind der Kommunikation. Die neue Dimen-
sion dieser Kommunikation und die Offenheit der
Märkte lassen diese Form der internationalen Arbeits-
teilung erst zu. So lösen sich die nationalen Volkswirt-
schaften zunehmend auf.
Die weltwirtschaftliche Integration zu einem „Welt-
binnenmarkt“ mit global operierenden Unternehmen ist
der Kern dessen, was wir als Globalisierung bezeichnen.
Die Folge sind Wettbewerbsintensität und engere Ver-
netzung. Daraus ergeben sich größere Wachstumschan-
cen, aber auch strukturelle Umbrüche.
Welche Wirkung wird das auf unsere Gesellschaft
haben? Globalisierung ist ein weltumspannender Prozeß.
Er entzieht sich bisher weitgehend der politischen Ge-
staltung. Kann das so bleiben? All dies sind Fragen, die
wir in der Enquete-Kommission beraten wollen. Dabei
darf die Politik die Globalisierungsängste nicht als irra-
tional abtun. Die Sorgen vieler Menschen, ohnmächtig
vom Tempo der wirtschaftlichen Veränderung überrollt
zu werden, führt zu Verunsicherung. Die Menschen
haben Angst vor dem Verlust der Arbeitsplätze, vor
Abwanderung von Forschung und Produktion ins Aus-
land.
Es ist allerdings völlig verfehlt, wenn die PDS for-
dert, die weitere Liberalisierung des Welthandels zu
stoppen. Denn der Verzicht auf weiteren Welthandel be-
deutet den Verzicht auf Wohlstandszuwachs für die
Menschen. Das können wir nicht wollen.
Ein Bereich, der schon immer international war, ist
die Wissenschaft. Man könnte sagen: Die Forschung ist
der Vorreiter der Globalisierung. Exzellente Forschung
ist ohne globale Kooperation heute nicht mehr denkbar.
Jeder dritte Beschäftigte eines deutschen Unternehmens
in der Technologiebranche arbeitet heute bereits im
Ausland. Die Wissenschaftsorganisationen arbeiten glo-
Ursula Lötzer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7183
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bal zusammen. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat längst
Außenstellen in Asien und in den USA etabliert. Die
großen Forschungsprojekte der Menschheit sind nur
durch globale Zusammenarbeit zu bewältigen.
Die Forschung zeigt, daß man vor Globalisierung
keine Angst haben muß. Sie ist das beste Beispiel dafür,
daß Globalisierung durch Offenheit angegangen werden
kann. Erst dadurch entsteht Spitzenqualität. Abschottung
gegen Globalisierung würde den Forschungsstandort
Deutschland in Kürze in die Bedeutungslosigkeit kata-
pultieren.
Die Globalisierung und der Weg in die Wissensge-
sellschaft haben in den letzten 30 Jahren in den entwik-
kelten Volkswirtschaften zu einer zunehmenden Be-
schäftigung hochqualifizierter Personen geführt. Auf der
anderen Seite sind allerdings in den Jahren 1991 bis
1995 in Deutschland 1 Million Arbeitsplätze für unqua-
lifizierte Arbeitskräfte verlorengegangen. Damit ist die
Frage nach Gewinnern und Verlierern im Prozeß der
Globalisierung auch die Frage nach Bildung und Quali-
fikation.
Wie kann es also gelingen, die Menschen im Zeitalter
der Globalisierung an der Wissensgesellschaft zu betei-
ligen? Diese Frage wird um so wichtiger, als sich das
Tempo der Wissensvermehrung beschleunigt. Alle fünf
Jahre verdoppelt sich das weltweit vorhandene Wissen.
Dies ist eine Herausforderung für die Bildungspolitik,
die der jungen Generation einen vernünftigen Umgang
mit der Datenflut ermöglichen muß. Bildungspolitik ist
ein Schlüssel dafür, wie wir aus der Herausforderung der
Globalisierung den maximalen Nutzen ziehen können.
Die derzeitige Situation ist in der Menschheitsge-
schichte ohne Beispiel. Im Zeitalter von Wissensgesell-
schaft und Globalisierung werden nicht mehr in erster
Linie Grund und Boden sowie Kapital über die Zu-
kunftschancen unserer Gesellschaft entscheiden, sondern
Individuen mit ihrem Wissen. „Wissen ist Macht.“ Der
englische Philosoph Francis Bacon hat diesen Satz vor
400 Jahren geprägt. Er ist noch nie so wahr gewesen wie
in unserer Zeit.
Die Globalisierung birgt viele Risiken. Diese gilt es
zu bewältigen. Sie birgt auch eine Menge Chancen. Die-
se gilt es zu nutzen. Wir wollen die Menschen in die La-
ge versetzen, auch die positiven Seiten der Globalisie-
rung zu erkennen, anstatt in Angst vor ihr zu verharren.
Hierzu soll die Enquete-Kommission des Bundestages
einen wichtigen Beitrag leisten. Globalisierung erfordert
eine Antwort der Vernunft
statt ideologischer Grabenkriege. Sie ist unsere erste
große Herausforderung im beginnenden 21. Jahrhundert.
Herzlichen Dank.
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag auf Drucksache 14/2350 zur Einsetzung einer
Enquete-Kommission? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. bei
Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Damit ist
die Einsetzung einer Enquete-Kommission beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/
CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zu-
kunft des Bürgerschaftlichen Engagements“
– Drucksache 14/2351 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Michael Bürsch von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn eine Enquete-
Kommission eingesetzt wird, werden vom Bundestag
Antworten erwartet, Antworten auf wichtige, über den
Tag hinausgehende Fragen. Solche Fragen stehen des-
halb am Anfang unserer Arbeit, zum Beispiel Fragen
wie die: Wohin steuert unsere Gesellschaft? Was sorgt
für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem de-
mokratischen Gemeinwesen am Ausgang dieses und zu
Beginn des neuen Jahrhunderts? Mit solchen Fragen
muß sich ein Parlament beschäftigen, wenn es seiner
politischen Verantwortung jenseits der Tagesaktualität
gerecht werden will.
Eine beunruhigende Beschreibung des Zustands unse-
rer Gesellschaft stammt von dem Soziologen Richard
Sennett. Ihm zufolge leben wir in einer globalen Ellen-
bogengesellschaft, die den flexiblen Menschen fordert:
jederzeit bereit, Arbeit und Wohnort zu wechseln, aber
immer weniger in der Lage, verläßliche Bindungen und
Verpflichtungen einzugehen. Nicht mehr eingebunden in
solidarische Gemeinschaften, ist der Alltag des flexiblen
Menschen geprägt durch ein „zielloses Dahintreiben“.
Die Menschen leben heutzutage – so Sennetts Diagnose
– zunehmend unverbunden nebeneinander her. Dies ist
eine Entwicklung, die langsam, aber sicher die Grundla-
gen von Sozialstaat und Demokratie bedroht.
In dieser Beschreibung liegt sicher mehr als nur ein
Funken Wahrheit. Gleichwohl ist sie einseitig und vor
allem unvollständig. Ein Beispiel aus Schleswig-
Holstein und Rheinland-Pfalz mag die übersehene, die
andere Seite der Medaille illustrieren: Seit sieben Jahren
gibt es in Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein die
Initiative „Schüler helfen leben“. Sie ist tätig, um in
Bosnien-Herzegowina und im Kosovo junge Kriegs-
opfer zu unterstützen. Mittlerweile wurden von dieser
Thomas Rachel
7184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Initiative über 7 Millionen DM gesammelt. Dieses
Engagement wird inzwischen nicht mehr nur von eini-
gen wenigen Idealisten getragen, sondern hat viele Mit-
wirkende, viele Mitstreiter gefunden. 1998 wurde ein
„Sozialer Tag“ organisiert, an dem 35 000 Schülerinnen
und Schüler teilgenommen haben. So war es auch 1999.
Für das nächste Jahr ist etwas Ähnliches geplant. Es gibt
also das Engagement junger Leute, und zwar tausend-
fach und unverzichtbar. „Schüler helfen leben“ ist nur
ein herausragendes Beispiel unter vielen.
Das heißt, der flexible Mensch der Moderne lebt ent-
gegen anderslautenden Diagnosen im realen Leben
durchaus nicht bindungslos und allein für sich. Er enga-
giert sich auch für andere und knüpft damit jenseits tra-
ditioneller Bindungen neue zivilgesellschaftliche Bande.
So zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß in Deutsch-
land eine durchaus beeindruckende Vielfalt bürger-
schaftlichen Engagements existiert. Eine im Auftrag des
Bundesfamilienministeriums durchgeführte Erhebung,
die gerade veröffentlicht worden ist, zeichnet ein beein-
druckendes Bild des praktizierten bürgerschaftlichen
Engagements in unserem Lande. Nach dieser Erhebung
ist heute jeder Dritte der über 14jährigen ehrenamtlich
tätig. Es sind also rund 22 Millionen Bundesbürger, die
durch ihre Arbeit die Zivilgesellschaft tragen.
Die Bürgerinnen und Bürger nehmen ihre Verant-
wortung für die Gesellschaft durchaus wahr, und zwar
nicht nur in den klassischen Bereichen wie der Feuer-
wehr, als Jugendtrainer im Sportverein, als Freiwilliger
in der Altenarbeit oder als Leiter eines Kirchenchores.
Allerdings, das Erscheinungsbild des Ehrenamts bzw.
des bürgerschaftlichen Engagements wandelt sich. In
den letzten Jahren wurden viele neue Begriffe wie Frei-
willigenarbeit, neues Ehrenamt, Volunteering, Bürgerar-
beit oder dritter Sektor geprägt. Ihre Bedeutung ist noch
vage. Dies aber wird deutlich: Die Strukturen des ehren-
amtlichen Engagements sind in Bewegung geraten, und
die Übergänge vom freiwilligen, unentgeltlichen Enga-
gement zur Erwerbsarbeit werden fließend.
Die Worte Ehre und Amt – das wird in Gesprächen
mit Ehrenamtlern immer wieder deutlich – haben für
manche Menschen schon einen etwas antiquierten
Klang. Joachim Ringelnatz wußte schon:
Willst du in Ruh und Frieden leben, laß kein Eh-
renamt dir geben.
Diese gutgemeinte Warnung wird immer noch von vie-
len Bundesbürgern in den Wind geschlagen. Die aktu-
ellen Entwicklungen zeigen, daß trotz aller Unkenrufe
die Zivilgesellschaft in Deutschland noch immer höchst
lebendig ist.
Das ist auch gut so; denn angesichts der großen Her-
ausforderungen, vor denen sich die Gesellschaft in
Deutschland, aber auch in Europa befindet, kann der
Staat nicht alles alleine machen. Vielleicht kann er das
sogar weniger als früher. Eine neue Balance zwischen
Staat und Gesellschaft zu finden darf allerdings nicht
bedeuten, der Gesellschaft einfach alle Aufgaben aufzu-
bürden, die der Staat nicht mehr erfüllen kann oder nicht
mehr erfüllen will. Ehrenamtliches Engagement darf
auch nicht in Form billiger Arbeitskraft als Lückenbüßer
für dringende Aufgaben mißbraucht werden. Doch wer-
den an die Stelle fürsorglicher Systeme meiner Ein-
schätzung nach neue Modelle treten, die das Schwer-
gewicht auf Förderung und Befähigung zur Selbstorga-
nisation legen.
Was soll, was kann die Enquete-Kommission, die wir
einsetzen wollen, mit ihrer Arbeit bewirken? Wir ver-
folgen im wesentlichen zwei Hauptziele. Zunächst ein-
mal geht es um eine Bestandsaufnahme: Wie sehen die
Rahmenbedingungen bürgerschaftlichen Engagements
heute eigentlich aus? Was fördert, was behindert ein sol-
ches Engagement? Noch wichtiger jedoch ist der zweite
Teil unserer Aufgabenstellung, nämlich aus diesem Wis-
sen Konsequenzen zu ziehen. Die Kommission soll
praktische Handlungsempfehlungen für die Bundes-,
Landes- und Kommunalebene geben. Wir müssen vor
allem Mittel und Wege finden, wie ein gesellschaftliches
Klima erreicht werden kann, das Engagement fördert
und pflegt, statt immer neue Hemmnisse aufzubauen.
Gerade junge Leute müssen wir motivieren, Verant-
wortung zu übernehmen.
Die Einsetzung der Enquete-Kommission „Zukunft
des bürgerschaftlichen Engagements“ bietet große
Chancen. Jenseits des schnellebigen politischen Tages-
geschäfts und zusammen mit der Wissenschaft und den
Praktikern ehrenamtlichen Engagements können wir die
Vision einer solidarischen Zivilgesellschaft entwerfen
und, darauf aufbauend, Vorschläge erarbeiten, wie wir
dieser Vision Stück für Stück näher kommen können.
Jedes demokratische Gemeinwesen ist auf die Bereit-
schaft der Bürgerinnen und Bürger angewiesen, auch
ohne staatlichen Zwang füreinander einzustehen. Um
Richard Sennett zu zitieren:
Ein Staatswesen, das Menschen keinen tiefen
Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann
seine Legitimität nicht lange aufrechterhalten.
Unsere Demokratie braucht einen Kernbestand an ge-
meinsam geteilten Werten und Überzeugungen. Unsere
Demokratie braucht auch die Bereitschaft jedes einzel-
nen Gesellschaftsmitglieds, diesen gemeinsam geteilten
Werten und Überzeugungen im alltäglichen solidari-
schen Handeln gesellschaftliche Wirklichkeit und Wirk-
samkeit zu verleihen. Ein solches Ethos des Engage-
ments halte ich für eine der entscheidenden Vorausset-
zungen, um die großen gesellschaftlichen Herausforde-
rungen, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vor
uns liegen, erfolgreich bestehen zu können. Dafür brau-
chen wir meiner Einschätzung nach eine Art neuen Ge-
sellschaftsvertrag.
Sicherlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden
wir uns in der Kommission nicht über alles einig sein.
Sicherlich werden wir über manche Fragen heftig disku-
tieren. Aus meiner Sicht muß aber eines klar sein: Das
Thema „bürgerschaftliches Engagement“ eignet sich
nicht für Parteien- oder Fraktionskonflikte. Die uns ge-
stellte Aufgabe, den Zusammenhalt in der Gesellschaft
Dr. Michael Bürsch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7185
(C)
(D)
und die solidarische Zivilgesellschaft voranzubringen,
ist hochpolitisch. Diese Aufgabe ist nur gemeinsam und
überparteilich zu lösen. Dazu sind wir alle aufgefordert.
– Dieser Beifall ist ermunternd.
Nachdem wir uns fraktionsübergreifend relativ rasch
auf den Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission
einigen konnten, bin ich guter Hoffnung, daß wir in der
Kommission in den kommenden zweieinhalb Jahren er-
folgreich und konstruktiv zusammenarbeiten werden. Zu
dieser konstruktiven und erfolgsorientierten Zusammen-
arbeit lade ich alle Fraktionen in diesem Bundestag
herzlich ein.
Für die Unterstützung bei der Vorbereitung der
Kommission bedanke ich mich an dieser Stelle stellver-
tretend bei drei Kolleginnen bzw. Kollegen. Ich bedanke
mich bei der Kollegin Ilse Aigner aus der CDU/CSU-
Fraktion.
Wir haben keine Mühe gehabt, uns auf diesen Antrag zu
einigen. Uns trennte zuletzt nur noch ein Adjektiv, das
wir dann durch ein anderes ersetzt haben.
– Das war das Adjektiv „unentgeltlich“. Wir haben es
durch eine Umschreibung ersetzt.
Auf unserer Seite stand dahinter die Idee, „unentgelt-
lich“ würde vielleicht ausschließen, daß wir genau den
geschilderten Übergängen vom Ehrenamt klassischer
Art zur Erwerbsarbeit nicht auf die Spur kommen. Uns
liegt sehr daran, daß wir all das, was inzwischen im Be-
reich des Erwerbslebens angesiedelt ist, eigentlich aber
der ehrenamtlichen Tätigkeit zuzurechen wäre, in den
Aufgabenkatalog der Enquete-Kommission aufnehmen.
Dank also an Frau Aigner und Ihre Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU.
Ich habe auf der Arbeitsebene auch mit dem Kollegen
von der F.D.P. gesprochen. Ich bedanke mich im übrigen
bei Herrn Christian Simmert von den Grünen. Auch seine
Unterstützung war eine sehr erfolgreiche Vorbereitung,
die Freude auf die Kommissionsarbeit gemacht hat.
– Das war damit gemeint, Herr Kollege.
Ich danke schließlich auch Wilhelm Schmidt aus
meiner Fraktion. Er hat in den letzten fünf Jahren mit
der Arbeitsgruppe „Ehrenamt“ die entscheidenden Wei-
chen für die Arbeit, die wir jetzt beginnen wollen, ge-
stellt. Dafür sage ich ihm und der Arbeitsgruppe in der
SPD-Fraktion einen herzlichen Dank.
Ich blicke mit großer Freude und Erwartung auf die
Arbeit, die vor uns liegt. Ich weiß, daß es viel zu tun
gibt. Ich kann von mir aus sagen: Ich bin bereit. Auch
die Kommissionsmitglieder sind bereit. Wir können be-
ginnen.
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Ilse Aigner von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach
eingehender kritischer, aber auch fruchtbarer Diskussion
mit dem künftigen Ausschußvorsitzenden, Herrn Dr.
Bürsch, haben wir uns dann doch fraktionsübergreifend
auf einen gemeinsamen Antrag zur Enquete-Kommis-
sion „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“
einigen können. Ich glaube, daß es allen Parteien in der
Sache grundsätzlich um das gleiche Ziel geht, nämlich
um die Stärkung und Förderung ehrenamtlicher Tätig-
keit. Die Unterschiede werden wahrscheinlich im Detail
zu finden sein.
Die erste Schwierigkeit kristallisierte sich – wie schon
von Herrn Dr. Bürsch angesprochen – in der Definition
des Begriffes heraus, um den es bei dieser Enquete-
Kommission geht. Die CDU/CSU-Fraktion wollte es ur-
sprünglich eigentlich mit dem alten Begriff Ehrenamt um-
schreiben, weil dieser im Sinn und im Ohr der Bürger ist
und weil er sich auch im Wortgebrauch hier im Hause
schon eingebürgert hat. Wir konnten hier keine Einigung
erzielen. Letztendlich haben wir uns dann auf den Begriff
des bürgerschaftlichen Engagements geeinigt.
Für uns ist nach wie vor wichtig, was sich hinter die-
sem Begriff verbirgt. Das sind nämlich drei Eckpunkte:
Der erste ist die Freiwilligkeit, der zweite ist das gemein-
wohlorientierte Engagement und der dritte ist die heißum-
strittene Formulierung „nicht auf materiellen Gewinn
ausgerichtet“. Dabei werden sich bei uns vielleicht in dem
einen oder anderen Punkt unterschiedliche Ausprägungen
ergeben. Auf diese Begriffsdefinition haben wir uns letzt-
endlich parteiübergreifend geeinigt. Ich begrüße das im
Namen der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich.
Ich möchte deutlich machen, daß es uns um das ge-
samte Spektrum der verschiedenen Formen von ehren-
amtlichen Tätigkeiten und freiwilligen Diensten geht,
die in unserer heutigen Zeit eben auch über das soge-
nannte traditionelle Ehrenamt hinausgehen – wenn es
sich nach den vorher beschriebenen Kriterien dadurch
definieren läßt.
In erfolgreicher Fortsetzung unserer bisherigen Arbeit
in der Arbeitsgruppe „Ehrenamt“ unter Leitung des
Kollegen Riegert von der CDU/CSU-Fraktion begrüßen
wir die Einsetzung dieser Enquete-Kommission, die sich
künftig mit allen Facetten ehrenamtlicher Tätigkeit be-
fassen wird. Neben einer umfangreichen Bestandsauf-
nahme der veränderten gesellschaftlichen und sozialen
Dr. Michael Bürsch
7186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Strukturen – in der Familie, in der Arbeitswelt, aber
auch beim Freizeitverhalten – wird sie helfen, den Wert,
die Bedeutung und die Leistung ehrenamtlich Tätiger für
unsere Gesellschaft festzustellen.
Als Abschluß ihrer Arbeit soll die Enquete-Kommission
Handlungsempfehlungen in Form eines Berichts geben,
wie die Rahmenbedingungen für das Ehrenamt bzw. für
das bürgerschaftliche Engagement verbessert werden
können.
Eines möchte ich ganz deutlich unterstreichen: Unse-
re Gesellschaft ist auf die Leistung ehrenamtlicher Ar-
beit angewiesen. Die Ausübung eines Ehrenamtes ist
praktizierte und gelebte Demokratie und entspricht unse-
rem gesellschaftlichen Grundgedanken, daß sich als er-
stes jeder selbst helfen muß und erst dann nach dem
Staat rufen sollte.
Der Bedarf an ehrenamtlichem Engagement in den
verschiedenen Lebensbereichen zeigt einen kontinuierli-
chen Anstieg. Jedoch sinkt in vielfältiger Hinsicht die
Bereitschaft, etwas für die Allgemeinheit zu tun. Die
Frage „Was habe ich davon?“, aber auch die Feststel-
lung „Außer Spesen nichts gewesen!“ drückt diese am-
bivalente Entwicklung und den gesellschaftlichen Wan-
del aus. Eine zunehmende Individualisierung des Men-
schen, die Reizüberflutung durch Medien, die Verluste
an religiösen Bindungen und der schnelle Ruf nach der
Rundumversorgung durch den Staat – all dies sind Ent-
wicklungen, die unmittelbare Auswirkungen auf die eh-
renamtlichen Tätigkeiten haben.
Es gibt in Deutschland Millionen offiziell bekannter
ehrenamtlich Tätiger und darüber hinaus mit Sicherheit
noch viele, die in der Verborgenheit ehrenamtlich tätig
sind und kein großes Aufheben darum machen. Ihnen
allen gilt an dieser Stelle unser Dank.
Für ihre Arbeit benötigen sie einen gut funktionieren-
den Rahmen, der das freiwillige, gemeinwohlorientierte
und nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtete Enga-
gement erst ermöglicht. Sie sollen durch die staatlichen
Rahmenbedingungen nicht belastet, sondern entlastet
werden. Sie sollen sich mit ihrem ganzen Engagement
ihrem eigentlichen Ziel, nämlich zu helfen und sich in
die Gesellschaft einzubringen, widmen können und nicht
durch bürokratische Regulierungen davon abgehalten
bzw. von ihnen überflutet werden.
Aber auch eine vermehrte Professionalisierung hat
die Bereitschaft zur Ausübung von ehrenamtlichen Tä-
tigkeiten eingeengt, vielleicht sogar schon reduziert.
Wenn immer mehr ursprünglich ehrenamtliche Tätig-
keiten hauptamtlich übernommen werden, wirkt das auf
die verbleibenden Ehrenamtlichen in der Regel eher de-
motivierend. Die ehrenamtlich Tätigen waren und sind
ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Viele
Einrichtungen wären ohne den Einsatz von freiwilligen
Helfern nicht denkbar. Es sind interessante, verantwor-
tungsvolle und anspruchsvolle Tätigkeiten, die in den
unterschiedlichsten Bereichen ehrenamtlich durchge-
führt werden: im Bereich von Kultur und Sport, der Ju-
gend-, Alten- und Behindertenarbeit, bei Erziehung und
Betreuung von Kindern, im Gesundheitswesen und der
Pflege, im Katastrophenschutz und beim Rettungswesen,
in der Politik, in den Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
verbänden und nicht zuletzt gerade auch in den Kirchen.
In einigen dieser Bereiche stellt die Ehrenamtlichkeit
schlicht die tragende Säule dar. Darüber hinaus hilft das
freiwillige ehrenamtliche Engagement vielen Menschen,
sich in das Gemeinwesen einzugliedern bzw. zu inte-
grieren. Leider fehlt es jedoch oft an dem nötigen Re-
spekt und der Anerkennung für das freiwillige Engage-
ment in der Gesellschaft. Denn seien wir ehrlich: Wenn
jemand heutzutage bei der Einstellung in einem Betrieb
sagt, man sei ehrenamtlicher Helfer, wirkt sich das nicht
zwangsläufig für ihn bzw. sie vorteilhaft aus.
Es darf aber nicht sein, daß jemandem Nachteile durch
freiwilliges gesellschaftliches Engagement entstehen.
Denn schließlich ist die ehrenamtliche Tätigkeit der
Mitarbeiter auch ein Vorteil für das Unternehmen selbst,
nämlich ein Gewinn an sozialer Kompetenz. Wer sich
über sein eigenes Wohlergehen hinaus in der Freizeit
engagiert, ist in der Regel auch ein engagierter und mo-
tivierter Mitarbeiter und verfügt über die so oft be-
schworenen Schlüsselqualifikationen wie zum Beispiel
Teamfähigkeit und Zuverlässigkeit.
Ein häufiger Grund für die Ablehnung von ehrenamt-
licher Tätigkeit ist der Zeitfaktor. Vielen erscheint in der
heutigen Zeit der Job oder die individuelle Freizeitge-
staltung wichtiger als das ehrenamtliche Engagement,
als das Sicheinbringen für die Gesellschaft und für ande-
re. Aber letztlich ist eine solche Tätigkeit auch ein Ge-
winn für sich selbst und eine Erweiterung des Horizonts,
die man auf andere Art und Weise vielleicht gar nicht
erhalten kann.
Deshalb gilt: Ehrenamtlich tätige Menschen müssen
bestärkt und ermutigt werden. Aus diesem Grund halte
ich und halten mit mir die Kollegen aus der CDU/CSU-
Fraktion die Einsetzung der Kommission für angebracht,
sinnvoll und notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die einzusetzende
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen
Engagements“ hat sich ein großes und breitgefächertes
Aufgabengebiet gestellt. Lassen Sie es uns gemeinsam
anpacken und unser Anliegen stark und nachhaltig im
öffentlichen Bewußtsein verankern.
Als
nächster Redner hat der Kollege Christian Simmert vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Freiwilliges Engagement ist eine entschei-
Ilse Aigner
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7187
(C)
(D)
dende Säule für das Zusammenleben in unserer Gesell-
schaft. Es spiegelt wichtige gesellschaftliche Entwick-
lungen wider. Es ist daher richtig und notwendig, eine
Bestandsaufnahme als ersten Arbeitsauftrag der En-
quete-Kommission zu benennen. Nur wenn wir einen
Überblick über die Vielfalt freiwilliger Arbeit in unserer
Gesellschaft haben, können wir den staatlichen Rege-
lungsbedarf abschätzen und entsprechende Handlungs-
optionen erarbeiten.
Im Wandel der Zeit hat sich das freiwillige Engage-
ment von der klassischen Ehrenamtsdefinition in die
unterschiedlichsten Richtungen entwickelt. Sie werfen
Fragestellungen auf, denen wir uns zentral stellen müs-
sen: Wie soll das Verhältnis zwischen staatlichem Han-
deln und zivilgesellschaftlicher Aktivität aussehen? Wie
kann eine von dieser Gesellschaft getragene Balance
zwischen den vom Staat zu regelnden sozialen Siche-
rungssystemen und der freiwilligen, von Bürgerinnen
und Bürgern getragenen Arbeit für das Gemeinwohl
aussehen? Wo ist die Grenze zwischen einem Abschie-
ben staatlicher Verantwortung und eventuell sogar einer
Bevormundung von Bürgerinnen und Bürgern?
Für uns Bündnisgrüne gilt: Wir wollen alle freiwilli-
gen, am Gemeinwohl orientierten Aktivitäten unterstüt-
zen und auch gezielt mit rechtlichen Regelungen för-
dern. Wir werden aber nicht die Zivilgesellschaft als
Ausfallbürgen für soziale Aufgaben des Staates in Zei-
ten leerer Kassen akzeptieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere wich-
tige Frage lautet: Wie will unsere Gesellschaft in Zu-
kunft die gesamte anfallende Arbeit bewerkstelligen?
Ich meine hiermit die gesamte Arbeit, die Erwerbsar-
beit wie die gesellschaftlich notwendige und meist lei-
der immer noch unentlohnte Arbeit. Wie soll also die
bezahlte und die unbezahlte Arbeit zwischen den Ge-
schlechtern, aber auch zwischen den Generationen ver-
teilt werden?
Für Bündnis 90/Die Grünen ist klar, daß immer mehr
Menschen – Frauen wie Männer – an den verschiedenen
Aufgaben beteiligt werden wollen. Sie wollen sich gesell-
schaftlich engagieren, sie wollen aber auch die Erwerbs-
arbeit zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Identität ma-
chen. Deshalb sehen wir die Aufgaben der Politik darin,
allen Menschen den Zugang sowohl zur Erwerbsarbeit als
auch zum bürgerschaftlichen Engagement zu ermögli-
chen. So wollen wir erwerbstätige Männer und speziell
Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe für freiwilli-
ge Arbeit gewinnen und motivieren.
Bündnis 90/Die Grünen werden sich in ihrer Arbeit in
der Kommission besonders auf neue Formen der frei-
willigen Arbeit konzentrieren, so zum Beispiel auf
Freiwilligenagenturen, die ganz neue Zielgruppen von
potentiellen Freiwilligen erreichen und vielfältige Auf-
gabenbereiche für Freiwillige erschließen können.
Immer mehr Menschen werden leider auch heute
noch gegen ihren Willen von der Erwerbsarbeit ausge-
schlossen. Waren sie klassischerweise nur Objekte eh-
renamtlicher Tätigkeit, engagieren sie sich heute zum
Teil im Rahmen von freiwilligem Engagement. In
Tauschringen zum Beispiel versuchen einige von ihnen,
Dienstleistungen informell zu tauschen.
Ich sage hier deutlich: Das Prinzip der Freiwillig-
keit ist für uns für jegliche Form bürgerschaftlichen En-
gagements essentiell. Deshalb gilt es, in der Enquete-
Kommission das Verhältnis zwischen klassischer unent-
geltlicher freiwilliger Arbeit und sämtlichen Formen der
entlohnten Arbeit zu klären. Ein Blick über den Teller-
rand in die benachbarten Niederlande, aber auch in die
USA, wird uns sicherlich neue und spannende Perspek-
tiven eröffnen.
Wir haben uns darauf verständigt, in der Enquete-
Kommission Fördermöglichkeiten bürgerschaftlichen En-
gagements zu entwickeln. Hier wird es für meine Fraktion
auch um die Chancen und die Risiken gesellschaftlicher
Aufgaben als freiwilliger Bereiche zum Beispiel für
Langzeitarbeitslose oder für junge Erwerbslose gehen.
Freiwillige Arbeit fördert soziale, kommunikative,
emotionale und – im europäischen Kontext und darüber
hinaus – auch interkulturelle Kompetenzen. Diese sind
besonders wichtig für die junge Generation. Für tenden-
ziell marginalisierte Gruppen bietet das freiwillige En-
gagement auch Integrationshilfe, so zum Beispiel für
Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler. Doch ganz ge-
nerell gilt: Selbst die staatlichen Freiwilligenprogramme
sprechen hauptsächlich nur junge Menschen mit höhe-
rem Schulabschluß an. Das müssen wir ändern, indem
wir die Freiwilligendienste zu einer wichtigen Option
für alle jungen Menschen in der Orientierungsphase
nach ihrem Schulabschluß machen. Der Zugang muß al-
so allen eröffnet werden,
Freiwilligendienste dürfen aber nicht zu Warteschlei-
fen werden, vor allem dann nicht, wenn kein qualifi-
zierter Ausbildungsplatz vorhanden ist. Das kann nicht
Sinn freiwilliger Arbeit sein. Sinn bürgerschaftlichen
Engagements ist es auch nicht, die Grenzen zum dritten
Sektor einzureißen; Freiwilligenarbeit kann keine Alter-
native zur Integration aller Menschen in den ersten Aus-
bildungs- und Arbeitsmarkt sein.
Bürgerschaftliches Engagement kann allerdings
durchaus helfen, Menschen sozial in die Gesellschaft zu
integrieren. Deshalb sehe ich die rein staatlichen
Modellprojekte der Bundesregierung wie beispielsweise
das soziale Trainingsjahr im Rahmen des E- und C-Pro-
gramms des Familienministeriums, das als freiwilliges
Jahr durchaus beschäftigungsfördernde Anteile hat,
durchaus positiv. Allerdings müssen diese dann auch
sorgfältig evaluiert werden.
Doch nicht nur diese Projekte drängen uns, uns
grundsätzlich über den staatlichen Regelungsbedarf in
diesem wichtigen Bereich unserer Gesellschaft zu ver-
ständigen. Die rechtlichen und finanziellen Rahmenbe-
dingungen stehen seit geraumer Zeit in der öffentlichen
Diskussion. Mit dem Stiftungsförderungsgesetz hat die
rotgrüne Bundesregierung bereits einen wichtigen
Schritt getan. Weiterer Regelungsbedarf besteht aus
Christian Simmert
7188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
meiner Sicht und aus der Sicht der Kolleginnen und
Kollegen – so haben wir das im Einsetzungsantrag for-
muliert – im Steuer-, Vereins-, Sozial- und Gemeinnüt-
zigkeitsrecht.
Ich freue mich auf die Arbeit in der Enquete-
Kommission, auf fruchtbare Diskussionen und manch-
mal auch auf Streit. Ich denke, in der Sache werden wir
gut diskutieren und das Thema als solches voranbringen.
Das zeigt allein schon die Einsetzung der Enquete-
Kommission heute im Deutschen Bundestag.
Danke.
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht der Kollege Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! ,,Unser Gemeinwesen lebt von der Mit-
wirkung und Mitgestaltung seiner Bürgerinnen und Bür-
ger“, sagte der damalige Bundespräsident Herzog vor
ziemlich genau zwei Jahren auf dem Internationalen Tag
des Ehrenamtes in Bonn. Viele Millionen Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes sind auf irgendeine Weise
ehrenamtlich tätig. Man muß einmal fragen: Wie sähe es
ohne dieses Engagement in unserem Lande wohl aus?
Soziales, freiwilliges und ehrenamtliches Engagement
muß in unserem Lande sehr viel deutlicher sichtbar wer-
den als bisher. Der ehrenamtliche Einsatz von Menschen
verdient ein weit höheres Maß an Anerkennung durch
die Gesellschaft, als das aktuell der Fall ist.
Zwölf Millionen Bürgerinnen und Bürger sind ehren-
amtlich tätig. Das ist eine beeindruckende Zahl. Den-
noch ist festzustellen, daß in vielen Bereichen die Be-
reitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen,
drastisch abnimmt. Durch einen als Egoismus mißver-
standenen Individualismus wird Bequemlichkeit nach
dem Motto ,,ohne mich“ zu einer leider weithin akzep-
tierten Haltung. Ein sich ständig beschleunigender Wer-
teverfall ist deutlich erkennbar. Ausgeprägtes Besitz-
standsdenken führt dazu, daß man Engagement nur noch
dort findet, wo es um die Verteidigung von Ansprüchen
und von Besitzständen geht. Wir verzeichnen einen
Wertewandel für das individuelle und soziale Handeln
weg von ideellen Gemeinschaftsmotiven hin zu Motiven
des materiellen persönlichen Vorteils.
Wir werden uns auch zu fragen haben, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, inwieweit auch der Staat
selbst für diese Entwicklung Verantwortung trägt. Die
Entmündigung des Bürgers durch den Staat ist nicht
mehr zeitgemäß und schon gar nicht sinnvoll. Der über
Jahre praktizierte Aufbau von bürokratischen Hemmnis-
sen, die die Ausübung bürgerschaftlichen Engagements
behindern, muß beendet und beseitigt werden. Es ist Zeit
für einen Wechsel. Es ist der Staat, der überfordert ist, es
sind nicht die Bürger, die in diesem Staat leben.
Der Staat eignet sich schon lange nicht mehr als Mode-
rator für die kreative Gestaltung des dringend Gebote-
nen. Die Bürger können das durch Engagement vor Ort
und das aktive Leben und Gestalten einer liberalen Bür-
gergesellschaft viel besser, meine Damen und Herren.
Das Verhältnis von staatlicher Aufgabenwahrneh-
mung einerseits und bürgerschaftlichem Engagement
andererseits bedarf einer drastischen Veränderung und
Zuwendung hin zum bürgerschaftlichen Engagement.
Aber Gemeinsinn zu beschwören nutzt wenig. Er muß
auch ermöglicht werden. Freiheit und Recht sind Staats-
ziele, die auf neuen Wegen zu suchen wichtiger sein
muß als eine Klientel zu bedienen oder sich ängstlich an
alte Konzepte zu klammern.
Meine Damen und Herren, eine kultur- und gesell-
schaftspolitische Diskussion um das bürgerschaftliche
Ehrenamt und Engagement, zum Beispiel im Kultur-
und in anderen Bereichen, duldet keinen Aufschub
mehr. Der freiwillige bürgerschaftliche und ehrenamt-
liche Einsatz für unser Gemeinwesen ist der Ausdruck
einer freiheitlichen Gesellschaft. Nur in einem Mitein-
ander und Füreinander kann der einzelne seine Indivi-
dualität und Sozialität entwickeln.
Bürgerschaftliches Engagement wirkt dadurch, daß
Bürgerinnen und Bürger Dinge tun, die sonst der Staat
tut oder tun müßte, staatsentlastend, und die staatsentla-
stende Wirkung ist von einer ungeheuren Dimension.
Eine vermehrte Deregulierung und Privatisierung staat-
licher Aufgabenwahrnehmung eröffnet große Hand-
lungsspielräume und Betätigungsfelder und ist von da-
her dringend geboten.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestags-
fraktion begrüßt die Einsetzung der Enquete-Kommis-
sion ausdrücklich. Auf die Ergebnisse darf man ge-
spannt sein.
Jeder von uns wird Antworten finden, die ihm gefallen,
aber auch solche, die ihm nicht so sehr in das eigene
Konzept passen. Das ist voraussehbar, glaube ich.
Das Ziel aber, bürgerschaftliches Engagement in die
gesellschaftliche Wirklichkeit einzubinden, sollte ein
gemeinsames Ziel des gesamten Hauses sein, und ich
sage mal ganz locker: Machen wir uns an die Arbeit!
Für die Fraktion der
PDS spricht Kollege Dr. Klaus Grehn.
Christian Simmert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7189
(C)
(D)
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Kollege Bürsch, Sie haben hier
festgestellt, daß sich das Thema bürgerschaftliches
Engagement nicht für Parteien- oder politische Konflikte
eignet. Diesen Satz möchte ich dreimal unterstreichen,
aber zugleich auch feststellen, daß angesichts dieser
Aussage die Ausgrenzung der PDS-Fraktion bei Ein-
bringung dieses Antrages unverständlich ist.
Ich habe diesen Umgang nicht in den Spielregeln dieses
Hohen Hauses gefunden, und ich halte es auch für nach-
denkenswert, daß eine solche Verhaltensweise nicht in
erster Linie die PDS-Fraktion brüskiert; vielmehr brüs-
kiert sie Zehntausende von Wählern der PDS, die eben-
falls im Ehrenamt tätig sind.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage von Herrn Bürsch?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Sie haben
zu Recht betont, daß wir – und ich als künftiger Vorsit-
zender der Enquete-Kommission lege großen Wert dar-
auf –, das fraktions- und parteiübergreifend angehen und
daß alle daran mitwirken sollen. Ich habe deshalb schon
vor mindestens sechs Wochen Ihre Kollegin Ulla Jelpke,
mit der ich eine Türkeireise gemacht habe, auf dieses
Thema angesprochen. Haben Sie vielleicht in Ihrer
Fraktion von meinem Bemühen gehört oder nicht? Mir
lag auch daran, etwas von Ihrer Seite zu hören. Aber bis
vor einer Woche habe ich noch nicht einmal den Namen
des Abgeordneten Ihrer Fraktion genannt bekommen,
der in der Enquete-Kommission mitwirken soll.
Herr Kollege Bürsch, Ihre
Bemühungen sind mir nicht bekannt. Sie haben meinen
Hinweisen entnehmen können – ich hoffe, daß Sie es
konnten –, daß wir und ich als Person in Vertretung der
PDS willens sind, in der Enquete-Kommission sachlich
und inhaltlich mitzuarbeiten. Dafür bin ich lange genug
im Ehrenamt tätig.
Trotz des hohen bürgerschaftlichen Engagements gibt
es zahlreiche Hemmnisse, dieses Engagement in unse-
rem Leben auszuüben. Vielleicht war dies die Ursache
für die Feststellung von Hans Tirsch:
Was sind das für Zeiten, in denen das Reden über
bürgerschaftliches Engagement und Selbsthilfe
problematisch ist, weil es das Faktum eines ordinä-
ren Kapitalismus mit seinen Entsozialisierungs-
strategien verdeckt und damit gegenläufige Ten-
denzen überdeckt werden.
Bürgerschaftliches Engagement erscheint als ungeho-
bener Schatz, bei dessen Hebung sich die Enquete-
Kommission Verdienste erwerben kann. Bürgersinn und
bürgerschaftliches Engagement können nicht nur dort
von Interesse sein, wo es um kostengünstige Antworten
auf das zu beobachtende Staats- und Marktversagen
geht. Es reicht auch nicht aus, die engagementbereiten
Bürger angesichts von sozialen Leistungskürzungen als
Ausfallbürgen und quasi als Lückenbüßer zu entdecken.
Bürgerliches Engagement muß in seiner Vielfalt als
sinnstiftende Chance gefördert und gefordert werden.
Es bereichert die politische Kultur und hat eine nicht zu
überschätzende Bedeutung für die demokratische Qua-
lität und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft.
Bürgerschaftliches Engagement wächst vor allem dort,
wo zivile, politische und soziale Bürgerrechte gesichert
sind. Diese Erkenntnis wird im Rahmen der Arbeit der
Enquete-Kommission weitgehend zu beachten sein. Ich
habe dies auch vor dem Hintergrund gesagt, daß es je-
nen, die sozial ausgegrenzt werden, schwerer fällt, bür-
gerliches Engagement an den Tag zu legen.
Es wird genauso zu beachten sein, daß vielfach staat-
liche Programme und gesetzliche Regelungen die ver-
schiedenen Formen bürgerlichen Engagements fördern
oder begrenzen. Ich denke an Renten- und Steuergeset-
ze, an Gemeinnützigkeitsregelungen oder an das Verbot
umfangreicher ehrenamtlicher Arbeit, wie es im § 27
SGB III festgelegt ist.
Bürgerschaftliches Engagement ist aber auch Wider-
spruch und Protest, auch jener, den wir häufig am
Brandenburger Tor erleben. Er bleibt auch dann bürger-
liches Engagement, wenn seine Ursache die Tatsache ist,
daß die da oben nicht mehr so weitermachen können und
daß die da unten nicht mehr so weitermachen wollen.
Viele der mehr als 12 Millionen bürgerlich engagier-
ten Menschen in unserem Land werden Hoffnungen in
die Tätigkeit der Enquete-Kommission setzen. Sie wer-
den sie und ihre Ergebnisse mit großer Aufmerksamkeit
verfolgen.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Karin Kortmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An Besuchern
kann man nur noch einen begrüßen; guten Abend!
Wenn wir heute im Parlament über die Einsetzung
der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftli-
chen Engagements“ entscheiden, dann verbinden damit
vor allem rund 22 Millionen engagierter Bundesbürger
– das ist nämlich die neueste Zahl – sicherlich auch viele
Hoffnungen. Zum einen denken sie, daß sie als Personen
endlich die notwendige gesellschaftspolitische Aner-
kennung erhalten. Gleichzeitig, zum zweiten, halten sie
die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit für verbesse-
rungswürdig. Zum dritten denken sie sicherlich auch
daran, daß neu entstandene Zusammenschlüsse und
7190 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
Aufgabenfelder die gleiche Wertschätzung erhalten, wie
sie die traditionellen Verbände haben, die aber zugleich
darunter leiden, daß sie als traditionell, antiquiert und
damit als wenig flexibel bewertet werden.
Diese Erwartungen zeigen, daß in dem Bereich der
ehrenamtlichen und freiwilligen Tätigkeiten persönli-
ches Engagement und öffentliche Anerkennung längst
noch nicht übereinstimmen. Auch die Kirchen haben vor
zwei Jahren in ihrem Sozial- und Wirtschaftswort ge-
mahnt – ich zitiere –:
Es droht in Vergessenheit zu geraten, daß gesell-
schaftliche Gruppen und Institutionen, die weder
dem Staat noch dem Bereich des Marktes zuzuord-
nen sind, einen eigenständigen Beitrag zur Erhö-
hung der gesellschaftlichen Wohlfahrt leisten.
Recht haben sie, und wir wollen es verändern.
Unser Auftrag für die Enquete-Kommission ist es aber,
den Blick zu weiten; denn bürgerschaftliches Engagement
ist mehr als Ehrenamt. Zunächst werden unter dem Titel
des bürgerschaftlichen Engagements vor allem die frei-
willigen und unentgeltlichen sozialen Leistungen der
Bürgerinnen und Bürger verstanden. Es beinhaltet die
verschiedensten Wege zur Mitwirkung und Übernahme
von Mitverantwortung für das Gemeinwesen.
Dabei ist festzustellen, daß die Übergänge zwischen
verbindlichem, längerfristigem Dienst und informellem,
spontanem Engagement fließend sind. Gemeinsam ist
diesen verschiedenen Formen des Engagements, daß sie
freiwillig und ohne unmittelbare monetäre oder reale
Gegenleistung erbracht werden. Die Übernahme von
Aufgaben durch Personen bedeutet, daß sie sich nicht
nur durch eine vorausgegangene spezielle Ausbildung
qualifizieren mußten. Es darf nicht übersehen werden,
daß das bürgerschaftliche Engagement eng mit dem
Bürgersinn zusammenhängt, der sich dann einstellt,
wenn die Bürgerinnen und Bürger an den politischen
Belangen des Gemeinwesens in gemeinwohlorientierten
Einstellungen teilnehmen.
Die Grundlage der modernen Gesellschaft ist eine
Integration von Freiheitsrechten und Verantwortung.
Vor diesem Hintergrund ist die Debatte um das bürger-
schaftliche Engagement eng mit der Debatte um die
bürgerschaftliche Partizipation verknüpft und muß ein
Fokus der Arbeit der Enquete-Kommission sein. Verein-
seitigt man nämlich die Debatte auf Fragen des sozialen
Ehrenamtes und der Freiwilligenarbeit, so ist man nicht
in der Lage, die gemeinwohlorientierten Motive bürger-
schaftlichen Handelns in der erforderlichen Breite zu
thematisieren. Wie der Name „Bürgerschaftliches Enga-
gement“ schon sagt, fließen Motive der Individuen als
Bürger ein.
Nur wenn Partizipation Sinn macht, dann wird dieser
Sinn gepflegt. Anders ausgedrückt: Gemeinwohlorien-
tierte Einstellungen setzen institutionelle Bedingungen
voraus, die bürgerschaftliches Engagement fördern und
fortentwickeln und insofern als Ermöglichungsbedin-
gungen gelten können. Daher sind von vornherein die
Debatten um die Zivilgesellschaft, die politische Partizi-
pation und eine weitergehende Demokratisierung libe-
raler Demokratien – was die institutionelle Seite ein-
schließt – mit Diskussionen über das neue Ehrenamt und
über Freiwilligenarbeit zusammenzudenken. Eine Ver-
einseitigung ausschließlich auf die soziale Seite wäre der
falsche Ansatz.
So stellt beispielsweise die neuere Zivilgesellschafts-
diskussion den Fokus auf die politische Seite, während in
der Diskussion über den non-profit-orientierten dritten
Sektor die soziale Seite in den Blick genommen wird.
Derartige Engagements werden von Individuen getätigt,
die sich als Bürgerinnen und Bürger mit eigener Gemein-
wohlorientierung ökonomisch oder sozial engagieren.
Im Sinne des sozialen und ökonomischen Handelns
ist da nicht der Gewinn – im Sinne des Profits –, son-
dern der spezifische Sinn der ausgeübten Tätigkeit unter
Gesichtspunkten des Gemeinwohls ausschlaggebend.
Moralische Interessen sind auch nicht mit Nutzenmaxi-
mierung im Sinne des „rational choice“ und der ökono-
mischen Theorie gleichzusetzen. Sowohl „der dritte
Sektor“ als auch „Zivilgesellschaft“ meinen einen Be-
reich jenseits von Markt und Staat. Das heißt aber
nicht, daß von beiden Bereichen nicht entscheidende
Impulse auf die sozialen und politischen Aspekte bür-
gerschaftlichen Engagements einwirken.
Diese Ausführungen machen deutlich, mit welcher
Aufgabenstellung sich die Enquete-Kommission – jen-
seits von allen Spiegelstrichen – zu befassen hat und wie
wichtig es gerade bei der Bestandsaufnahme ist, sich auf
die politischen Bedingungsfaktoren zu beziehen. Mit
aufzunehmen ist aber auch die sogenannte Dritte-Sektor-
Forschung; auch die Zivilgesellschaft und die politische
Bürgerbeteiligung dürfen nicht außer Blick geraten.
Zu berücksichtigen sind auch die Gegenläufigkeiten.
So ist etwa eine Modernisierung von Verwaltungen und
Organisationen am Vorbild der Kunden orientiert, die es
effizient und effektiv zu bedienen gilt, während das bür-
gerschaftliche Engagement am Vorbild der Eigentätig-
keit und den entsprechenden, nicht konsumorientierten
Motiven orientiert ist. Diese Spannung gilt es zu berück-
sichtigen. Letztendlich sind auch die Motive von Orga-
nisationen, ehrenamtliche Arbeit zu nutzen, nicht unbe-
dingt kompatibel mit den Interessen der sich in dieser
Arbeit engagierenden Personen.
Wir können für unsere Arbeit auf breites Datenmate-
rial und auf Ergebnisse zurückgreifen. Ich möchte mich
gerne der Zielsetzung der baden-württembergischen Zu-
kunftskommission „Gesellschaft 2000“ anschließen, die
nach Wegen zur Förderung von Engagement und Mit-
verantwortung sucht.
Dies tue ich deswegen, weil sie sagt: Wir müssen den
Menschen in unserer Gesellschaft nicht als Betroffenen
sehen, sondern als Beteiligten verstehen. Ich denke,
wenn wir es schaffen, diesen Gedanken in unserer En-
quete-Kommission umzusetzen, dann sind wir einen
Schritt weiter.
Karin Kortmann
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999 7191
(C)
(D)
Weil ich noch eine Minute der Redezeit von Michael
Bürsch geschenkt bekommen habe, möchte ich gern mit
einer kleinen Geschichte schließen – ich denke, in diesem
kleinen Rahmen darf ich das heute abend tun –: Vor eini-
gen Jahren hat die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg,
ein katholischer Jugendverband mit 80 000 Mitgliedern,
eine Untersuchung zum ehrenamtlichen Engagement in
Auftrag gegeben. Ein Bereich befaßte sich mit der Frage,
welche Gratifikationen die ehrenamtlich Tätigen für ihre
Arbeit bekommen. Einer der Befragten antwortete, daß
für ihn nicht die Frage von Aufwandsentschädigung und
dergleichen von Wichtigkeit sei, sondern daß für ihn der
größte Dank das Leuchten in den Augen der Kinder sei.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen frohe Fest-
tage, gesegnete Weihnachtstage und das Leuchten in den
Augen Ihrer Wählerinnen und Wähler.
Ja, das wäre schön.
Ich gebe dem Kollegen Klaus Riegert, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion begrüßt nachhaltig – unsere Obfrau
Ilse Aigner hat dies hier nachdrücklich deutlich gemacht
– die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Bürger-
schaftliches Engagement“. Wir haben uns interfraktio-
nell auf diesen Begriff verständigt. Wir verstehen dar-
unter das freiwillige, gemeinwohlorientierte, nicht auf
materiellen Gewinn ausgerichtete bürgerschaftliche En-
gagement. Dies ist wichtig, damit jeder weiß, wovon
und worüber wir sprechen.
Seit Jahren erleben wir in der Öffentlichkeit verstärkt
eine Diskussion über das bürgerschaftliche Engagement.
Diese Diskussion wird durchaus unterschiedlich geführt.
Verbände und Organisationen klagen über ein nachlas-
sendes Engagement. Sie fordern zunehmend Hilfe von
außen, weil sie sich in der Wahrnehmung ihrer Aufga-
ben gefährdet sehen.
Auf der anderen Seite registrieren wir eine zunehmen-
de Bereitschaft von Bürgern, sich in Initiativen unter-
schiedlicher Art zu engagieren. Hier geht es oftmals um
Interessenvertretungen, um die Lösungen und Einforde-
rungen aktueller Bedürfnisse. Diese Widersprüchlichkeit
zwischen nachlassendem und zunehmendem Engagement
ist Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels.
In dieser Widersprüchlichkeit liegt auch Verbinden-
des: Bürgerinnen und Bürger wollen sich engagieren.
Viele verspüren, daß ohne dieses freiwillige Engage-
ment in unserem Staate so gut wie nichts läuft – nicht in
Organisationen, Verbänden, Vereinen, Selbsthilfegrup-
pen, Initiativen und nicht im tagtäglichen Umfeld. Des-
halb gilt unser Dank den Bürgerinnen und Bürgern, die
sich freiwillig und selbstlos für andere einsetzen. Dieser
Dank ist Anerkennung ihres täglichen Einsatzes. Diese
Bürger haben verstanden, daß eine freie demokratische
Gesellschaftsordnung nur Bestand haben kann, wenn sie
sich für diese Ordnung einsetzen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat zu Beginn der
13. Legislaturperiode einen Arbeitskreis „Ehrenamt“ ge-
bildet. Dieser Arbeitskreis hat über 60 Vertreter von Or-
ganisationen, Verbänden, Vereinen und Selbsthilfegrup-
pen angehört. Er hat eine Große Anfrage an die Bundes-
regierung in den Bundestag eingebracht. Die Ergebnisse
der Anhörungen und die Antwort der Bundesregierung
geben einen Überblick über das vielfältige Engagement
unserer Bürger. Dann haben wir am Tag des Ehrenamtes,
am 5. Dezember 1997, zum ersten und einzigen Mal eine
Parlamentsdebatte zum Thema Ehrenamt geführt und
einen Entschließungsantrag verabschiedet.
Dennoch hat eine Enquete-Kommission mehr Mög-
lichkeiten, die Facetten ehrenamtlichen Engagements
auszuleuchten. Es wird Aufgabe sein, zu prüfen, unter
welchen Bedingungen bürgerschaftliches Engagement
stattfindet und welche Veränderungen sich in unserer
Gesellschaft wie auf die Bereitschaft von Bürgerinnen
und Bürgern auswirken. Was bewegt unsere Bürgerin-
nen und Bürger, sich aktiv in die Gesellschaft einzubrin-
gen, was hält sie ab? Wir müssen fragen, wie sich Tätig-
keitsfelder von bürgerschaftlichem Engagement zu ne-
ben- und hauptberuflicher Tätigkeit verschoben haben,
ob die Qualifikationen noch ausreichen, um im haupt-
und nebenberuflichen Gefüge mitzuhalten, und wie es
um die Zusammenarbeit von haupt-/nebenberuf-
lichem und bürgerschaftlichem Engagement aussieht.
Ist es symptomatisch, daß zum Beispiel die Wohlfahrts-
verbände die größten Arbeitgeber sind und daß auf einen
hauptamtlich Tätigen ein bürgerschaftlich Engagierter
kommt? Vor 30 Jahren war dieses Verhältnis 1 : 4. Wie
steht es um die Strukturen der Organisationen und Ver-
bände? Entsprechen sie noch den Bedürfnissen unserer
Zeit? Wie sieht es mit den Rahmenbedingungen für den
ehrenamtlich Tätigen selbst aus?
Wir werden untersuchen müssen, inwieweit staatliche
Reglementierungen dem bürgerschaftlichen Engagement
förderlich sind oder Freiräume bürgerschaftlichen Enga-
gements durch behördliche Regelungen eingeschränkt
werden. Wie sieht es mit der Verantwortung, Haftung
und Versicherung engagierter Bürger aus? Sie müssen
bei ihrer Tätigkeit Sicherheit haben. Wir werden in die-
sem Zusammenhang über die Novellierungen gesetzli-
cher Vorschriften – unter anderem im Vereinsrecht, Ar-
beitsrecht und Sozialrecht – entscheiden müssen und
Fragen von Haftung und Verantwortung klären.
Ein ehrenamtlich tätiger Vereinsvorsitzender muß
heute teils schwierige Entscheidungen treffen. Ich denke
zum Beispiel an die Neuregelung der 630-DM-Jobs. Hier
muß ein Vereinsvorsitzender über den sozialversiche-
rungsrechtlichen Status eines Übungsleiters entscheiden,
worüber selbst bei den Behörden Unsicherheit herrscht.
Er muß 56 Fallbeispiele werten. Dafür setzt er nicht nur
seine freie Zeit ein, er haftet auch dafür, wenn ihm hier
eine Fehleinschätzung unterläuft. Hier ist eine Änderung
umgehend angesagt, hier ist der Gesetzgeber gefordert.
Deshalb sollten wir bei Gesetzesvorhaben fragen, wie
sich die Regelungen auf bürgerschaftliches Engagement
auswirken. Das betrifft rund 15 Millionen Menschen in
Karin Kortmann
7192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Dezember 1999
(C)
unserem Land. Auch dies wäre ein Zeichen der Aner-
kennung ihrer Leistungen.
Meine Damen und Herren, wir werden prüfen müs-
sen, ob es der Funktionsfähigkeit und Lebendigkeit einer
freien demokratischen Gesellschaft guttut, immer mehr
Tätigkeiten der freien Entscheidung von Bürgern zu ent-
ziehen und sie neben- und hauptberuflichen Tätigkeiten
zuzuordnen. Wir müssen nachdenken, welche Werte
bürgerschaftlichen Engagements heute in Familien und
in Schulen gelebt werden. Die Arbeitgeber sind gefor-
dert, mehr Verständnis und Einsicht für dieses Engage-
ment aufzubringen. Es muß gefragt werden, was Medi-
en leisten, um bürgerschaftliches Engagement transpa-
renter zu machen. Hier sehe ich eine große Aufgabe für
alle Medien.
Wir müssen aus den Erkenntnissen Schlußfolgerun-
gen ziehen, um die Attraktivität des bürgerschaftlichen
Engagements zu erhalten und dort, wo es nachläßt,
durch Maßnahmen zu fördern. Dies wird nicht leicht
sein. Steuerliche oder materielle Anreize werden wenig
oder nichts bewirken; sie können es auch nicht. Wir
müssen den Mut aufbringen, Wege aufzuzeigen, Büro-
kratisierung und behördliche Regelungen durch Frei-
räume und Gestaltungsmöglichkeiten zu ersetzen. Bür-
gerschaftliches Engagement ist Teil der Lebensgestal-
tung, gibt Lebenssinn und Lebensinhalt.
Anerkennung ist eine wesentliche Voraussetzung
jeglichen Engagements. Wo Anerkennung fehlt, kommt
es schnell zu Routine, Gewohnheit und Gleichgültigkeit.
Wir müssen sehen, welche Möglichkeiten es gibt, bür-
gerschaftliches Engagement im täglichen Umgang mehr
anzuerkennen. Dies kann nicht verordnet werden.
Umfragen zeigen, daß sich unsere Bürger engagieren
und einsetzen wollen. Es müssen Wege zum Engage-
ment aufgezeigt und erleichtert, Hindernisse abgebaut
und Rahmenbedingungen geschaffen werden, unter de-
nen bürgerschaftliches Engagement unsere Gesell-
schaftsordnung mitgestalten kann.
In diesem Sinne soll die Enquete-Kommission mit-
helfen, ein positives Klima für bürgerschaftliches Enga-
gement zu schaffen. Nur wenn bürgerschaftliches Enga-
gement zum Selbstverständnis und zur Selbstverständ-
lichkeit einer freien Gesellschaft gehört, wird diese auf
Dauer lebensfähig und lebenswert sein. Setzen wir uns
gemeinsam dafür ein!
Danke.
Ich schließe die
Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt
für den Antrag auf Einsetzung der Enquete-Kommission
auf Drucksache 14/2351? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenom-
men. Die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger-
schaftlichen Engagements“ ist damit eingesetzt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines
Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Euro-
paabgeordnetengesetzes
– Drucksache 14/2235 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung(federführend)InnenausschussRechtsausschussHaushaltsausschuss
Ich höre, daß sich die Fraktionen und die Redner dar-
auf verständigt haben, die Redebeiträge zu Protokoll zu
geben.*) Ich möchte ihnen dafür im Namen der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter des Hauses danken, vor al-
len Dingen aber im Namen der Mitarbeiterinnen an den
Garderoben, die gegenwärtig nicht den angenehmsten
Arbeitsplatz haben. Ich glaube, sie werden sich darüber
freuen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/2235 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes
zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
– Drucksachen 14/2292, 14/2355 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
Auch bei diesem Tagesordnungspunkt werden die
Redebeiträge zu Protokoll gegeben.**) Interfraktionell
wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksachen
14/2292 und 14/2355 an den in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschuß sowie an den Ausschuß für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Forsten vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 16. Dezember
1999, 9 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.