Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Dietmar Schlee, der am 31. März seinen 60. Geburtstag feierte, nachträglich die besten Glückwünsche des Hauses aussprechen. Herzlichen Glückwunsch!
Sodann teile ich mit, daß mit Inkrafttreten des Gesetzes über den deutschen Auslandsrundfunk die Gremien des Verwaltungsrats und des Rundfunkrats der Deutschen Welle neu besetzt werden müssen. Nach diesem Gesetz sollen wieder zwei Mitglieder in den Rundfunkrat und ein Mitglied in den Verwaltungsrat vom Bundestag gewählt werden.Für den Rundfunkrat schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Dr. Joseph-Theodor Blank und die Fraktion der SPD den Kollegen Günter Verheugen vor. Für den Verwaltungsrat schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Erwin Marschewski vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Kollegen wie vorgeschlagen bestellt.Weiterhin teile ich zum Beirat beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR mit, daß ein auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion gewähltes Mitglied, Herr Jürgen Fuchs, auf seine Mitgliedschaft im Beirat verzichtet hat. Als Nachfolger wird Professor Dr. Manfred Wilke vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist Herr Professor Dr. Manfred Wilke gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in den Beirat gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung umzustellen und zu erweitern. Der geänderte Ablauf der Tagesordnung dieser Woche und die Ergänzungen liegen Ihnen mit der Zusatzpunktliste vor.Ablauf der Tagesordnung Donnerstag:TOP 3 Europäische Wirtschafts- und WährungsunionTOP 4 Abbau von sozialen LeistungenTOP 19, 20,ZP 2, 3 Beratungen ohne AusspracheTOP 9 SGB XI-ÄnderungsgesetzZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der SPD-Fraktion zum sogenannten Duty-free-HandelTOP 11 BAföG-ÄnderungsgesetzTOP 5,ZP 6 Stiftung zur Aufarbeitung der SED-DiktaturTOP 6 Wohnen im AlterTOP 7 RüstungsexporteTOP 8 IHK-ÄnderungsgesetzTOP 18 Fonds „Deutsche Einheit"TOP 10 SchiffssicherheitsanpassungsgesetzTOP 12 öffentlich geförderter Beschäftigungssektor TOP 13 GefahrguttransporteTOP 20 b) Gesetz über den Deutschen Wetterdienst
TOP 20n) Altschuldenhilfe Freitag:TOP 14 VersorgungsreformgesetzTOP 17 Anpassung steuerlicher Vorschriften der Land- und ForstwirtschaftTOP 16 Betreuungsrechtsänderungsgesetz TOP 15 Handelsrechtsreformgesetz Zusatzpunkte1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.: Aktuelle Äußerungen von Mitgliedern des Bundesrates zu künftigen Steuersätzen
2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung - Drucksache 13/8585 -b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Entscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte - Drucksache 13/10284 -c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Forstabsatzfondsgesetzes - Drucksache 13/10285-3. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ÄnderungPräsidentin Dr. Rita Süssmuthdes Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften - Drucksachen 13/8935, 13/10065b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer , Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts - Drucksachen 13/3594, 13/10333-4. - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 13/8941-- Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Pflege-Versicherungsgesetzes - Drucksachen 13/5002, 13/10330-5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 5. Juni 1997 zur Verlängerung der Ausnahmeregelung für den sogenannten Duty-free-Handel
6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gerald Häfner, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherstellung und Fortführung des gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesses durch Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung- zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit": Teilbericht zu dem Thema „Errichtung einer selbständigen Bundesstiftung des öffentlichen Rechts zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" - Drucksachen 13/4353, 13/8700, 13/10325-7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Kristin Heyne, Ulrike Höfken, Halo Saibold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucherschutz bei Einführung des Euro wahren - frühe Euro-Nutzung ermöglichen - Drucksachen 13/9373, 13/10334-8. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
- zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung über die im Kalenderjahr 1993 erbrachten Versorgungsleistungen im öffentlichen Dienst sowie über die Entwicklung der Versorgungsausgaben in den nächsten 15 Jahren - Versorgungsbericht- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Andrea Fischer , Oswald Metzger, Marina Steindor und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENModernisierung von Beamtenrecht und Beamtenversorgung - Drucksachen 13/5840, 13/6153 Nr. 2, 13/9622, 13/10322-9. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine Versorgungsrücklage des Bundes - Drucksache 13/10282-10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Margot von Renesse, Arne Fuhrmann, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reform des Betreuungsrechts: Von der justizförmigen zur sozialen Betreuung - Drucksache 13/10301-11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Margot von Renesse, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Betreuungsrecht - Drucksachen 13/7176, 13/10331-Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.Außerdem mache ich im Anhang zur Zusatzpunktliste auf Änderungen von Ausschußüberweisungen aufmerksam.Die in der 213. und 219. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen dem Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden.Antrag des Abgeordneten Claus-Peter Grotz und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Ulrich Irmer, Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann und der Fraktion der F.D.P.Neue Herausforderungen für die Auswärtige Kulturpolitik- Drucksache 13/9613 -überwiesen: Auswärtiger Ausschuß InnenausschußAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAntrag der Abgeordneten Freimut Duve, Stephan Hilsberg, Dr. Elke Leonhard, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGefahren abwenden von der Auswärtigen Kulturpolitik- Drucksache 13/9450-überwiesen: Auswärtiger Ausschuß InnenausschußAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAntrag der Abgeordneten Erika Steinbach, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Dr. Rupert Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Uwe Lühr, Cornelia Schmalz-Jacobsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Innerstaatliche Kulturpolitik - Drucksache 13/8625 -überwiesen: Innenausschuß
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschußAntrag der Abgeordneten Albert Schmidt , Dr. Antje Vollmer, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Neuorientierung und Weiterentwicklung der Kulturpolitik des Bundes ist überfällig - Drucksache 13/9796-überwiesen: Innenausschuß
Auswärtiger AusschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschußDie in der 222. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. März 1998 vorgenommene Überweisung an den Innenausschuß soll bei nachfolgendem Antrag rückgängig gemacht werden.Antrag der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Klaus Riegert, Dr. Klaus Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Birgit Homburger und der Fraktion der F.D.P.Sporttourismus, neuartige Sportaktivitäten und Umweltschutz - Drucksache 13/10017 -überwiesen: Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
SportausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1998 20759
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthSind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowie Zusatzpunkt 7 auf:3a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierungzur Festlegung des Teilnehmerkreises an der Europäischen Währungsunionb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBeschluß der Bundesregierung zur Festlegung des Teilnehmerkreises an der Dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und WährungsunionundErsuchen der Bundesregierung- Drucksache 13/10250-Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Auswärtiger AusschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschußc) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungZweiter Bericht des Arbeitsstabes Europäische Wirtschafts- und Währungsunion des Bundesministeriums der Finanzen und der Bundesministerien vom 27. März 1998Die Einführung des Euro in Gesetzgebung und öffentlicher Verwaltung- Drucksache 13/10251 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß
Auswärtiger AusschußRechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschußd) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Euro
- Drucksache 13/9347 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
- Drucksache 13/10334 -Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Gres Dr. Herta Däubler-Gmelin Gerald HäfnerDetlef Kleinert bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung- Drucksache 13/10 335 -Berichterstattung:Abgeordnete Wilfried SeibelDr. Wolfgang Weng Karl DillerOswald MetzgerZP7 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Kristin Heyne, Ulrike Höfken, Halo Saibold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNENVerbraucherschutz bei Einführung des Euro wahren - frühe Euro-Nutzung ermöglichen- Drucksachen 13/9373, 13/10334 -Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Gres Dr. Herta Däubler-Gmelin Gerald HäfnerDetlef Kleinert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratungen vier Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist in ihren Konsequenzen die bedeutendste Entscheidung seit der deutschen Wiedervereinigung. Sie ist die tiefgreifendste Veränderung auf unserem europäischen Kontinent seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums. Und sie ist zugleich der wichtigste Meilenstein im europäischen Einigungsprozeß seit Gründung der Montanunion 1951 und seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957.
Es entspricht der großen Tradition eines demokratischen Parlaments, daß diese für die Zukunft unserer Nation so wesentliche Frage im Deutschen Bundestag, dem frei gewählten Parlament der Deutschen, in diesen Tagen - man muß sagen: in diesen Wochen - so eingehend diskutiert wird.
Der Deutsche Bundestag hat am 2. Dezember 1992 dem Vertrag von Maastricht mit überwältigender Mehrheit zugestimmt. Ein Kernelement dieses Vertrages ist die Schaffung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt kurz vor der Verwirklichung dieses Zieles. Ich denke, wir alle spüren in diesem Augenblick in einer ganz besonderen Weise, was dieser Schritt für Deutschland und Europa bedeutet.
Das 20. Jahrhundert, das in zwei Jahren zu Ende geht, hat zwei Gesichter gezeigt - zwei Gesichter, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. In der ersten Hälfte war dieses Jahrhundert gekennzeich-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
net von schlimmen Kriegen, den schlimmsten, die die Menschheit je erlebt hat, von Terrorherrschaft und totalitären Ideologien. In der zweiten Hälfte stand es zunächst nur in einem Teil unseres Kontinents im Zeichen von Frieden und Freiheit, von Verständigung und Versöhnung. Dann haben wir in Deutschland die deutsche Einheit als Geschenk erfahren.
Diese tiefgreifenden Veränderungen - ich glaube, man kann sagen: vom Schlimmen zum Guten - haben viele Gründe, aber vor allem auch die Einigung Europas.
Die europäische Einigung, meine Damen und Herren, ist ein wirklicher Glücksfall - gerade für uns Deutsche. Ohne diese Politik wäre es nicht möglich gewesen, aus dem freien Teil unseres Kontinents den Krieg dauerhaft zu verbannen. Ohne die Einigung Europas wäre auch die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Gerade wir Deutschen haben das größte Interesse daran, daß diese Einigung in Europa weiter vorankommt. Dafür bietet sich uns heute eine historische Chance. Die wollen wir nutzen.
Vor gerade acht Jahren hatten wir die einmalige Chance zur Wiedervereinigung. Wir haben sie genutzt. Damals waren Bedenkenträger und Miesmacher unterwegs, die uns daran hindern wollten.
Es sind zum großen Teil die gleichen, die heute Stimmung gegen die Europäische Union, gegen die Wirtschafts- und Währungsunion machen.
Genausowenig wie bei der deutschen Einheit werden wir uns heute von solchen Überlegungen leiten lassen.
- Warum Sie in dem Punkt unruhig werden, weiß ich nicht. Ihr Beitrag zur deutschen Einheit war denkbar gering; das wissen Sie so gut wie ich.
Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten Weg, das gemeinsame Haus Europa zu errichten. Aber wir wissen auch: Ein Haus, das nur halb vollendet ist, zerfällt wieder. Es wird dem Wind und den Stürmen eines neuen Jahrhunderts, von dem wir alle noch gar nicht wissen, was es uns bringt, auf Dauer nicht standhalten können. Deshalb müssen wir jetzt den Bau des Hauses Europa fortführen und vollenden.
Meine Damen und Herren, mehr denn je gilt, was Konrad Adenauer am 15. Dezember 1954 vor dem Deutschen Bundestag erklärte - ich zitiere -:
Die Einheit Europas war ein Traum von Wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für Viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.
Wir stehen vor zwei epochalen Aufgaben, die das Gesicht Europas im bald beginnenden neuen Jahrhundert prägen werden. Es geht zum einen darum, durch die Erweiterung der Europäischen Union und des Nordatlantischen Bündnisses endgültig die Gräben des kalten Krieges auf unserem Kontinent zu überwinden.
Dabei haben wir bereits große Fortschritte erreicht. Vor zwei Tagen hat die Europäische Union offiziell die Verhandlungen zum Beitritt Polens, der Tschechischen Republik, Ungarns, Sloweniens, Estlands und Zyperns aufgenommen, und in der vergangenen Woche haben Bundestag und Bundesrat dem Beitritt Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns zur NATO zugestimmt.
Das zweite große Ziel, vor dessen Verwirklichung wir jetzt stehen, ist die gemeinsame europäische Währung. Sie wird der europäischen Einigung eine neue Qualität verleihen.
Beides, die Erweiterung der Union und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, steht in der Kontinuität der Politik der europäischen Einigung von Konrad Adenauer.
In der deutschen Nachkriegsgeschichte, meine Damen und Herren, ist das europäische Einigungswerk von führenden Persönlichkeiten aus allen demokratischen Parteien nachdrücklich unterstützt und gefördert worden. Ich nenne hier neben Konrad Adenauer stellvertretend für viele Carlo Schmid, Kurt Georg Kiesinger, Franz Josef Strauß und Willy Brandt. Und ich erinnere in dieser Stunde auch mit besonderer Dankbarkeit an die großen europapolitischen Debatten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte im Deutschen Bundestag. Ich denke, dies waren Sternstunden des deutschen Parlaments.
Heute - das will ich dankbar erwähnen - ist es Helmut Schmidt, mein Amtsvorgänger, der mit Leidenschaft und mit strategischen Argumenten für die Europäische Währungsunion eintritt.
Die gemeinsame europäische Währung ist ein tragendes Element beim Bau eines stabilen und wetterfesten Hauses Europa. Sie wird - dessen bin ich sicher - das Miteinander, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer stärken. Der Euro wird das Bewußtsein dafür fördern, daß die Völker Europas die großen Aufgaben der Zukunft nur gemeinsam lösen können.
An den Anfängen der Geschichte der europäischen Einigung stand zu Recht die berühmte Erklärung des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman am 9. Mai 1950, die letztendlich zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
und Stahl führte. Robert Schuman sagte - ich darf zitieren -:
Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.
Meine Damen und Herren, über 40 Jahre europäische Erfolgsgeschichte haben bewiesen, daß die europäische Einigung kein „Glasperlenspiel" für verträumte Weltverbesserer ist. Sie ist handfest, sie ist harte Alltagsarbeit, und sie vollzieht sich Schritt für Schritt. Es hat sich einmal mehr erwiesen, daß die Visionäre die wahren Realisten der Geschichte sind. Zukunft für unser Land läßt sich eben nur mit Mut, mit Grundsatztreue und Weitsicht gewinnen. Mit Ängstlichkeit und Opportunismus läßt sich auch in Deutschland keine Zukunft gewinnen.
In der allerjüngsten Zeit sind aus den Reihen der Opposition - ich bedaure dies - Stimmen zu hören, die deutlich machen, daß man die existentielle Bedeutung dieses großen Zukunftsziels für Deutschland und Europa entweder nicht begreift oder, was wahrscheinlicher ist, nicht begreifen will.
Vor einigen Tagen hat Ministerpräsident Schröder über die Einführung des Euro folgendes gesagt - ich zitiere -:
Die überhastete Währungsunion hat zu einer kränkelnden Frühgeburt geführt.
Meine Damen und Herren, für diese Äußerung fehlt mir jegliches Verständnis.
Wer sich um das Amt des deutschen Bundeskanzlers bewirbt und sich aus rein populistischen Gründen zu solchen Formulierungen versteigt, der disqualifiziert sich selbst.
Das ist seine Sache und muß uns nicht aufregen.
Eine andere Sache ist, wie sehr sich damit der Spitzenkandidat der SPD als einer der wesentlichen Sprecher der deutschen Politik im Kreis unserer europäischen Partner und Freunde isoliert;
denn zu den Vätern dieser angeblich „kränkelnden Frühgeburt", wie Herr Schröder dies zu nennen beliebt, gehören unter anderem: Ministerpräsident Wim Kok, Spitzenkandidat der niederländischen Partei der Arbeit für die bevorstehenden Parlamentswahlen und zugleich Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Premierminister Antonio Guterres, Generalsekretär der Sozialistischen Partei Portugals und zugleich Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Ministerpräsident Paavo Lipponen, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Finnlands und zugleich Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Premierminister Lionel Jospin, Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei Frankreichs und zugleich Vizepräsident der Sozialistischen Internationale.
- Sie brauchen das, meine Damen und Herren.
Sie brauchen das dringend als Ermutigung, weil sich eigentlich die meisten von Ihnen für diese Entwicklung schämen.
Ich nenne den Bundeskanzler Viktor Klima, den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Osterreichs. Und ich nenne mit ganz besonderer Freude meinen alten Freund Felipe Gonzalez, ebenfalls Vizepräsident der Sozialistischen Internationale. - Meine Damen und Herren, ich fühle mich sehr wohl in der Reihe dieser Kollegen.
Sie in der SPD müssen mit sich ausmachen, daß Sie immer mehr zu den Outsidern, den Außenseitern in Europa werden.
Wie will man eigentlich mit solchen Vorstellungen von Politik - -
- Warten Sie ab, gnädige Frau, wie der Vormarsch mit solchem Populismus ausfällt. Sie werden sehen, daß Sie mit dieser Art und Weise europäische und deutsche Interessen nicht miteinander verbinden können. Mit billigem Populismus und Angstmacherei läßt sich kein Vertrauen erwerben.
Und um Ihnen das mit auf den Weg zu geben: Mit Poujadismus gewinnt man in Deutschland keine Wahl.
Meine Damen und Herren, die Sozialdemokraten entfernen sich mit solchen Äußerungen - das ist immerhin bemerkenswert - auch vom klaren Votum der deutschen Gewerkschaften.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Der DGB hat am vergangenen Wochenende klar und deutlich festgestellt, die Einführung des Euro am 1. Januar 1999 sei geradezu ideal. Er hat hinzugefügt, die Einführung des Euro eigne sich nicht für einen populistischen Wahlkampf.
Man sollte dem Vorstand des DGB vorschlagen, die geplanten 12 Millionen DM zur Aufklärung bei der Bundestagswahl dazu zu verwenden, das Zitat des Herrn Schröder und den Kommentar des DGB dem deutschen Volk zugänglich zu machen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund zeigt in dieser Frage ein Maß an politischer Einsicht, das ich nur begrüßen kann.
Im übrigen - das will ich nur nachtragen - haben sich nahezu alle Repräsentanten der deutschen Wirtschaft und nicht zuletzt auch die Vertreter der deutschen Landwirtschaft für die gemeinsame europäische Währung ausgesprochen.
Meine Damen und Herren, der Euro ist eine der wichtigsten Antworten auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Damit verbindet sich zugleich die zentrale Frage, ob Europa und damit auch wir in Deutschland den Aufbruch in die Zukunft schaffen. Von dieser Entscheidung hängt ganz wesentlich ab, ob künftige Generationen in Deutschland und Europa dauerhaft in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und sozialer Stabilität leben können.
Die Bedeutung der Europäischen Währungsunion geht weit über das bloß Ökonomische hinaus, so wichtig es ist. Eine Währung - das ist gerade unsere deutsche Erfahrung - ist weit mehr als nur ein Zahlungsmittel. Sie verkörpert immer auch ein Stück nationale Tradition, auch ein Stück kulturelle Identität. Gerade für uns Deutsche ist sie - nach unseren Erfahrungen mit 50 Jahren D-Mark - von einer enormen emotionalen Bedeutung und politischen Symbolik. Für die meisten Deutschen ist die D-Mark, die im Juni 50 Jahre alt wird, Symbol für 50 Jahre Frieden, 50 Jahre Freiheit und 50 Jahre Stabilität und Wohlstand. Die Einführung der D-Mark verbinden wir mit den Erfahrungen des Wiederaufbaus unseres Landes aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Für die Menschen in den neuen Bundesländern steht die DMark auch für den demokratischen Neubeginn nach dem Ende von über 40 Jahren SED-Diktatur und den Weg zur deutschen Einheit.
Vor diesem Hintergrund habe ich großes Verständnis dafür, daß sich viele Bürgerinnen und Bürger mit dem Abschied von der bewährten D-Mark schwertun. Ich bin mir sehr wohl der großen Verantwortung bewußt, die mit der Entscheidung für den Euro nicht nur für die heutige Generation, sondern vor allem auch für künftige Generationen verbunden ist. In diesem Jahr begehen wir den 50. Geburtstag der DMark. Ich hoffe, ja ich bin sicher, die Menschen werden in weiteren 50 Jahren zu dem Urteil kommen können, daß unsere Generation heute die Zeichen der Zeit richtig erkannt und dementsprechend gehandelt hat.
Meine Damen und Herren, wir haben alle Vorkehrungen dafür getroffen, daß der Euro eine dauerhaft stabile Währung wird. Die Bundesregierung und auch ich persönlich haben sich bei unseren Partnern in der Europäischen Union immer wieder nachdrücklich dafür eingesetzt, daß die Stabilitätskriterien des Vertrags von Maastricht nicht zur Disposition gestellt werden. Die Bundesregierung hat im Vertrag von Maastricht durchgesetzt, daß die zukünftige Europäische Zentralbank so unabhängig wie die Deutsche Bundesbank und zuallererst der Stabilität der Währung verpflichtet ist.
Wir haben erreicht - das ist schon fast vergessen -, daß der Sitz der Europäischen Zentralbank nach Frankfurt gekommen ist.
Der Name Frankfurt steht dank der Arbeit der Bundesbank weit über die Grenzen unseres Landes hinaus für Stabilität und Solidität. Ich bin ganz sicher, daß dies auch für die Zukunft gilt.
Meine Damen und Herren, mein ganz besonderer Dank gilt in dieser Stunde Bundesfinanzminister Theo Waigel.
- Herr Abgeordneter Fischer, Ihnen kann ich nicht danken. Ich wüßte nicht, für was.
Auf seinen Vorschlag hin haben wir gemeinsam durchgesetzt, daß die strengen Kriterien des Maastricht-Vertrages durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt dauerhaft eingehalten werden.
Meine Damen und Herren, die Erfolgsgeschichte der D-Mark geht mit dem Wechsel zum Euro auf europäischer Ebene weiter. Mit dem Euro sichern wir die Werte, die die D-Mark zum Inbegriff von Stabilität und Vertrauen gemacht haben.
Europa ist bereits im Vorfeld der Währungsunion zu einer Stabilitätsgemeinschaft zusammengewachsen. Dies ist die übereinstimmende Botschaft der Konvergenzberichte, die die Europäische Kommission und das Europäische Währungsinstitut in der vergangenen Woche vorgelegt haben. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Deutsche Bundesbank in ihrer Stellungnahme zur Konvergenzlage in der Europäischen Union, um die ich gebeten hatte.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Preissteigerungsraten und die Zinsen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union haben mittlerweile historische Tiefstände erreicht. Der durchschnittliche Preisanstieg in der EU liegt heute bei 1,6 Prozent, und die langfristigen Zinsen liegen mittlerweile bei unter 5 Prozent. Dies - man kann es gar nicht genug rühmen - ist das Ergebnis einer auf Preisstabilität ausgerichteten Politik in allen Ländern, die sich auf den Euro vorbereitet haben. Wir haben auf diese Weise eine bisher nie gekannte Stabilitätskultur erreicht.
Eine harte Währung - das ist eine wichtige Erfahrung gerade der Deutschen - ist zugleich die beste Sozialpolitik:
Rentner, Sparer sowie Bürgerinnen und Bürger mit kleinen Einkommen sind ganz besonders darauf angewiesen, daß ihr Geld seinen Wert behält.
Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hat in den vergangenen Jahren substantielle Fortschritte gemacht. Das Haushaltsdefizit 1997 lag in 14 Mitgliedstaaten unter oder bei 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Noch vor vier Jahren waren die Defizitzahlen in der EU im Durchschnitt weit mehr als doppelt so hoch: 1993 waren es 6,1 Prozent, heute sind es 2,4 Prozent. Deutschland hat das schwierige Defizitziel von 3 Prozent mit 2,7 Prozent deutlich unterschritten -
auch und gerade dank der konsequenten Reformpolitik und der Haushaltsdisziplin der von der Koalition getragenen Bundesregierung.
Beim Schuldenstandkriterium lagen wir 1997 mit 61,3 Prozent leicht über dem im Maastricht-Vertrag vorgesehenen Referenzwert von 60 Prozent. Aber die Europäische Kommission und auch das Europäische Währungsinstitut heben zu Recht hervor, daß sich in den Schulden Deutschlands vor allem die Erblast von über 40 Jahren sozialistischer Zwangswirtschaft unter der SED-Diktatur niederschlägt.
Unser Land hat aus guter Überzeugung und mit voller Berechtigung im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung unseres Landes außergewöhnliche Lasten übernommen. Ich begrüße es, daß diese Tatsache erneut auch in den Berichten der Europäischen Kommission und des Europäischen Währungsinstituts anerkannt wird. Es ist wichtig, in dieser Stunde darauf hinzuweisen, daß die Staatsschulden ohne diese zusätzlichen Belastungen heute weit unter dem geforderten Referenzwert lägen, und zwar bei nur 45 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts.
Für mich aber ist es weitaus wichtiger als alles andere, daß der Schuldenstand nicht Ergebnis einer
unsoliden Haushaltspolitik ist, sondern die unvermeidliche Konsequenz der großen Leistungen, die wir für die innere Einheit unseres Volkes erbringen.
Ich denke, Sie stimmen mir zu, wenn ich frage: Könnten wir denn stolz sein auf einen Schuldenstand von 45 Prozent, wenn Deutschland dafür weiterhin geteilt wäre und 17 Millionen Deutschen weiterhin Freiheit, Recht und Menschenwürde verweigert würden?
Es ist Ihnen völlig unbenommen, meine Damen und Herren von der SPD, diese Frage so zu beantworten oder nicht. Vor acht Jahren haben Sie sie auch nicht so beantwortet wie wir. Deswegen können wir gut miteinander darüber diskutieren.
Wir wollen nicht vergessen, daß auf der Habenseite das Geschenk der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit steht. Dies ist und bleibt ein Grund zu Freude und Dankbarkeit. Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes war und ist jede Anstrengung wert.
Trotz des unbestreitbar zu hohen Schuldenstandes in einigen EU-Mitgliedstaaten urteilt die Europäische Kommission insgesamt:
Die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Rückgang der Schuldenquoten in den nächsten Jahren sind gegeben.
Diese Entwicklungen zeigen klar und deutlich: Die Voraussetzung für eine stabile europäische Währung ist gut.
Dies ist das Ergebnis gewaltiger Konvergenzanstrengungen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union.
Für die meisten war es vor wenigen Jahren noch ganz undenkbar, daß heute fast alle EU-Staaten die strikten Kriterien des Maastricht-Vertrages erfüllen würden. Die Daten und Tatsachen in den Berichten der Europäischen Kommission und des Europäischen Währungsinstituts ebenso wie die Stellungnahme der Deutschen Bundesbank sprechen hier eine eindeutige Sprache. Sie widerlegen auch all jene Pessimisten, die den im Maastricht-Vertrag festgelegten Zeitplan für den Euro bis zum Schluß immer wieder in Zweifel gezogen haben.
Heute steht fest: Zeitplan und Konvergenz werden erfüllt. Die Europäische Währungsunion wird pünktlich am 1. Januar 1999 beginnen. Dies liegt im europäischen und vor allem auch in unserem deutschen Interesse.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Die Europäische Kommission schlägt dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs folgende elf Mitgliedstaaten für die Teilnahme am Euro zu diesem Datum vor: Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Finnland. Das Europäische Währungsinstitut und die Deutsche Bundesbank haben in ihren Stellungnahmen bestätigt, daß dies ein stabilitätspolitisch vertretbarer Vorschlag sei. Wir in der Bundesregierung teilen diese Bewertung. Wir beabsichtigen daher, beim Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs am 2. Mai 1998 in Brüssel für den Vorschlag der Europäischen Kommission zu stimmen.
Wir haben in unserem Kabinettsbeschluß am 27. März 1998- vor ein paar Tagen - ausdrücklich beschlossen, „auch weiterhin die vom Maastricht-Vertrag geforderte Nachhaltigkeit der erreichten Konvergenz nachdrücklich zu vertreten und ihr besondere Aufmerksamkeit zu widmen." Dies ist nicht irgendein Text, sondern ein Text, der eine große Bedeutung hat und der auch von unseren Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der Europäischen Union so verstanden worden ist. Insbesondere gehen wir in diesem Zusammenhang davon aus, daß diejenigen Staaten, die noch eine besonders hohe Gesamtverschuldung aufweisen, ihre Strategie einer weiteren Konsolidierung der Staatsfinanzen energisch und vor allem auch nachweisbar fortführen.
Wir wünschen uns, meine Damen und Herren, daß jene Länder in der EU, die jetzt noch nicht in der Eurozone dabeisein können oder wollen, bald zu dem Kreis der Länder mit einer gemeinsamen Währung hinzutreten.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die großen wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit sind nicht mehr im nationalen Alleingang zu lösen.
Die zunehmende Globalisierung der Märkte und ein immer schärferer weltweiter Standortwettbewerb zwischen Ländern und Regionen um Investoren und Arbeitsplätze erfordern dringend ein gemeinsames Handeln der Europäer. Die Einführung des Euro ist eine zwingende Notwendigkeit. Sie liegt im ureigensten deutschen Interesse.
Die neue gemeinsame Währung wird Europa als einen Raum wirtschaftlichen Wohlstands und monetärer wie sozialer Stabilität weiter festigen können. Sie wird unseren Kontinent - das ist ein entscheidendes Argument - im Wettbewerb mit anderen dynamischen Wirtschaftsräumen wie der Nordamerikanischen Freihandelszone, NAFTA, der Südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, Mercosur, oder der
Südostasiatischen Vereinigung, ASEAN, stärken. Die These ist einfach: Wir haben keine Alternative, nur gemeinsam werden wir auf diesem Weg im 21. Jahrhundert erfolgreich sein.
Der Euro trägt nicht zuletzt zur Stabilisierung des internationalen Währungs- und Finanzsystems bei. Dies ist gerade im Blick auf die Erfahrungen mit der Finanzkrise in Südostasien in den letzten Monaten von großer Bedeutung. Der europäische Binnenmarkt ohne Grenzen für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital wird durch die gemeinsame europäische Währung vollendet. In dieser Eurozone wird ein einheitlicher Markt mit rund 300 Millionen Menschen und einem Anteil von 20 Prozent am Welteinkommen entstehen. Diese Zahl ist vergleichbar mit dem Anteil der Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die Verbraucher werden durch eine bessere Vergleichbarkeit der Preise ganz unmittelbar profitieren können.
Meine Damen und Herren, aus der wissenschaftlichen Diskussion wissen wir, daß der Wegfall des Wechselkursrisikos für die Unternehmen in den Euroländern Einsparungen in einer zweistelligen Milliardenhöhe ermöglicht. Denn mit der Einführung des Euro entfällt die teure Absicherung gegen Wechselkursschwankungen. Die gemeinsame europäische Währung wird das Klima für Investitionen und Beschäftigung auch bei uns in Deutschland und in Europa nachhaltig verbessern.
Natürlich weiß ich - wie jeder hier -, daß der Euro kein Patentrezept ist, mit dem sich unsere Arbeitsmarktprobleme mit einem Schlag lösen lassen. Aber ich will doch daran erinnern, daß die Bundesrepublik Deutschland Exportland Nummer zwei in der Welt ist. Jeder fünfte Arbeitsplatz bei uns hängt vom Export ab. Mehr als 40 Prozent unserer Ausfuhren gehen in jene Länder, die jetzt gute Chancen haben, beim Start der Währungsunion dabeizusein. Weil gegenüber diesen Ländern künftig keine Wechselkursrisiken mehr bestehen, gibt es auch weniger Risiken für die exportabhängigen Arbeitsplätze in Deutschland. Das ist eine der ganz wichtigen Auswirkungen, die wir sehen müssen.
Die Europawährung eröffnet die ganz große Chance für eine neue nachhaltige wirtschaftliche Dynamik, für dauerhaftes Wachstum und für zukunftssichere Arbeitsplätze im neuen Jahrhundert. Die Deutsche Bundesbank stellt in ihrer Stellungnahme fest:
Letztlich wird die Währungsunion um so besser gelingen, je flexibler die Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte sind.
Die klare Botschaft lautet: Wir werden die Chancen des Euro zu mehr Beschäftigung nutzen, wenn wir - das ist die Voraussetzung - bei uns in Deutschland unseren Reformkurs beharrlich fortsetzen
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
und wenn alle Beteiligten weiter ihren Beitrag leisten. Das gilt für Wirtschaft, Tarifpartner und Politik.
Wer sich jetzt aus populistischen Gründen bei den notwendigen Reformen verweigert oder gar die bereits beschlossenen Reformen, die die Zukunft sichern, zurücknehmen will, treibt Kosten in die Höhe und verweigert den arbeitsuchenden Menschen die Chance auf eine Beschäftigung.
Darüber hinaus gilt, daß derjenige, der jetzt nicht die notwendigen Reformen vorantreibt, sondern zuerst in eine europaweite Harmonisierung der Standards in der Steuer-, Sozial- und Umweltpolitik flüchtet, in Europa keinen Fortschritt erzielen und das Ziel verfehlen wird.
Eine solche Politik wäre ganz und gar unrealistisch, um nicht zu sagen unehrlich, weil wir genau wissen, daß in Europa niemand bereit wäre, sich jetzt beispielsweise auf unsere hohen Sozial- und Umweltstandards einzulassen. Schließlich würde das für unsere Partner bedeuten, zugunsten Deutschlands auf eigene Wettbewerbsvorteile zu verzichten.
Eine solche Politik ist auch deswegen gefährlich, weil nur eine Harmonisierung auf einem niedrigeren Niveau zustande käme.
- Sie brauchen gar nicht dazwischen zu rufen. - Die Äußerungen des Deutschen Gewerkschaftsbunds sprechen hierzu ja eine klare Sprache.
Eine Harmonisierung auf einem niedrigeren Niveau würde doch heißen, daß in Deutschland genau das verspielt wird, was wir in Deutschland zum Beispiel in der Sozialpolitik erreicht haben. Wer will das eigentlich? Wenn man es nicht will, dann soll man es auch laut und deutlich sagen.
Wir bleiben dabei: Die notwendigen Reformen für die Zukunft müssen jetzt und nicht irgendwann durchgesetzt werden.
Wahr ist auch, daß uns die Erledigung unserer Hausaufgaben niemand abnimmt. Unabhängig davon ist es natürlich hilfreich, innerhalb der EU die nationalen Wirtschafts- und die nationalen Beschäftigungspolitiken besser zu koordinieren. Der EU-Beschäftigungsgipfel in Luxemburg im vergangenen Jahr war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Nach Abschluß der Gespräche mit den Sozialpartnern wird die Bundesregierung den deutschen Aktionsplan in nächster Zeit vorstellen und dann der öffentlichen Diskussion unterbreiten.
Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion leitet einen neuen Abschnitt der europäischen Einigung ein. Zugleich haben wir mit dem Vertrag von Amsterdam die Grundlage für die Erweiterung und auch für die innere Fortentwicklung der Europäischen Union geschaffen. Ich bin dafür dankbar, daß Deutschland auf Grund der überwältigenden Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zu diesem Vertragswerk der erste Mitgliedstaat in der Europäischen Union ist, der das Ratifikationsverfahren abgeschlossen hat.
Zum einen kommt es jetzt darauf an, die Neuerungen von Amsterdam entschlossen in die Tat umzusetzen und so die Handlungsfähigkeit und Effizienz der Europäischen Union ganz konkret zu verbessern. Ich denke dabei an den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik und vor allem auch an die gemeinsame Bekämpfung des international organisierten Verbrechens. Zum anderen haben wir in Amsterdam Fortschritte bei der Reform der europäischen Institutionen erreicht. Auf diesen Fortschritten können wir aufbauen. Als Beispiele hierfür nenne ich die neuen Rechte und Möglichkeiten des Europäischen Parlaments.
Allerdings - das gehört zu diesem Bericht - reichen alle diese institutionellen Fortschritte gerade auch im Hinblick auf die Erweiterung und Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgern noch lange nicht aus. Wir stehen heute vor der Frage, wie eine erweiterte Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit nach innen und außen verbessern und zugleich ihre demokratische Verankerung, ihre Bürgernähe stärken und ausbauen kann.
Nach den Entscheidungen über den Euro halte ich jetzt den Zeitpunkt für gekommen, um innerhalb der EU zu einer Bestandsaufnahme über diese sensiblen, aber ungewöhnlich wichtigen Fragen zu gelangen und diese Entscheidungen zu treffen. Viele Kollegen im Kreis der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union stimmen mit mir darin überein, daß wir beim Europäischen Rat in Cardiff Mitte Juni diese Diskussion beginnen und ein gutes Stück weiterführen.
Eine der zentralen Fragen nicht nur für die Deutschen wird dabei die weitere Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips sein.
Wir sind uns in einer großen Mehrheit im Grundsatz darin einig - das ist unser Verständnis von Subsidiarität -, daß auf der europäischen Ebene nur das geregelt werden soll, was nicht in einem ausreichenden Maße auf der lokalen Ebene, auf der - um es in „Europasprache" zu sagen - regionalen Ebene - bei uns sind das die Bundesländer - oder auf der nationalen Ebene entschieden werden kann und zugleich besser auf der europäischen Ebene zu regeln ist. Eine zentralistische Europäische Gemeinschaft mit einer für alles und jeden zuständigen Hauptstadt Brüssel war niemals unser Ziel und kann niemals unser Ziel sein; das war sie auch bei der Gründung der Europäischen Union nicht.
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Das Europa, das wir uns wünschen - ich sage noch einmal, daß dies die klare Meinung der meisten Kollegen im Rat ist -, muß auch in Zukunft seine Vielfalt bewahren: seine kulturelle Vielfalt, seine landsmannschaftlich-regionalen Besonderheiten und seine von unterschiedlichen Traditionen geprägten Erfahrungen. Nationalstaaten und Europäische Union werden auch künftig unterschiedliche, sich zum Teil gegenseitig ergänzende Aufgaben erfüllen. Im einzelnen gibt es darüber - das ist wahr; aber das ist ganz normal bei einem solch dramatischen Prozeß der Veränderung - in Brüssel und auch in den einzelnen Mitgliedstaaten noch sehr unterschiedliche Vorstellungen. Deswegen müssen wir miteinander diskutieren und prüfen, welchen Weg wir gehen wollen. Wir müssen vor allem die Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen präzisieren.
Wenn ich das so sage, heißt das für mich auch, daß wir nach der Erfahrung der letzten Jahrzehnte durchaus darüber zu reden haben, ob alle Zuständigkeiten, die nach Brüssel gegangen sind, dort bleiben müssen.
Eine solche Diskussion darf auf gar keinen Fall tabuisiert werden. Das hat überhaupt nichts mit einer Renationalisierung zu tun, wie manches Mal behauptet wird. Wir wollen eine bürgernahe, wir wollen eine effektiv arbeitende Europäische Union. Deswegen ist, was ich eben sagte, dringend notwendig.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode, getragen von den Koalitionsparteien, nahezu alle notwendigen Zukunftsreformen bei uns durchgesetzt, die meisten gegen erbitterten Widerstand. Ich nenne als Beispiele die Bahn- und Postreform, die Privatisierung der Telekom und der Lufthansa,
die Abschaffung der arbeitsplatzvernichtenden Substanzsteuern Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer,
die Senkung des Solidaritätszuschlags, die Gesundheitsreform und die Rentenreform.
Die volle Wirkung dieser Reformen für Wachstum und Arbeitsplätze entfaltet sich nach und nach; die ersten Erfolge sind durchaus sichtbar.
- Ich weiß, daß es Ihnen schwerfällt, das zuzugeben.
Sie brauchen ja Ihre alte Verelendungsstrategie, um beim Wähler Eindruck zu machen.
Aber der Wähler weiß, wie das Land wirklich aussieht. Deswegen warten wir ruhig ab.
Deutschland hat seine Position als starker Innovationsstandort in der Welt erfolgreich ausgebaut.
Zum Beispiel nimmt unser Land inzwischen wieder Rang eins in der Welt bei den gerade im Zusammenhang mit der Globalisierung besonders wichtigen Weltmarktpatenten ein. Die deutsche Exportwirtschaft boomt. Gegenüber dem Vorjahr sind unsere Ausfuhren um 10 Prozent gestiegen; wir haben Gott sei Dank wieder Weltmarktanteile zurückgewonnen. Wer vor ein paar Tagen auf der Computermesse CeBIT war, der konnte dort
die Signale der Zuversicht spüren. Der Messeverlauf hat nach Einschätzung der Aussteller alle Erwartungen übertroffen. Das zeigt sich bereits jetzt im Nachmessegeschäft.
Meine Damen und Herren, dies alles zeigt deutlich, daß sich der Modernisierungskurs in Wirtschaft und Gesellschaft auszahlt. Der Standort Deutschland ist international wieder spürbar wettbewerbsfähiger geworden.
Dies wirkt sich positiv aus. In diesem Jahr wird ein Wachstum in der Größenordnung von 2,5 bis 3 Prozent erwartet. Für 1999 zeichnet sich ein vergleichbares Ergebnis ab.
Die wichtigste innenpolitische Aufgabe ist nach wie vor die Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit. Gegenwärtig beobachten wir am Arbeitsmarkt in den alten und neuen Ländern eine unterschiedliche Entwicklung. In Westdeutschland setzt sich die Trendwende am Arbeitsmarkt langsam, aber sicher durch.
Besonders in den exportstarken Branchen wie Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobilbau wird wieder eingestellt. In Ostdeutschland belastet derzeit vor allem noch der Arbeitsplatzabbau in der Bauwirtschaft den Arbeitsmarkt.
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Dagegen ist auch zu vermerken, daß die ostdeutsche Industrie ebenfalls wächst, doch geht das in einem Tempo, das sich nicht so schnell ausreichend in zusätzlichen Arbeitsplätzen niederschlägt.
Meine Damen und Herren, um es klar zu sagen: Der Aufbau Ost hat für die Bundesregierung unverändert Priorität.
Wir werden unsere Unterstützung für den Aufbau Ost auch in Zukunft auf hohem Niveau weiterführen, ungeachtet aller notwendigen Konsolidierungsanstrengungen, die wir in den nächsten Jahren fortsetzen werden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vor allem aber muß Deutschland für inländische und ausländische Investoren wieder attraktiver werden.
Für mich ist es besonders bestürzend, daß ausländische Investoren - wegen der Steuerentwicklung in unserem Land -, in Großbritannien, mit einer kleineren Volkswirtschaft als die Bundesrepublik Deutschland, in den letzten Jahren achtmal soviel investiert haben wie bei uns in Deutschland.
- Warum wohl? Die Antwort kennen Sie. - Deshalb brauchen wir ein international wettbewerbsfähiges Steuersystem.
Wir brauchen - das ist überfällig - eine durchgreifende Steuerreform, die den Weg frei macht für Innovationen und Investitionen nicht abschreckt.
Gerade jetzt - das ist wichtig für unser Handeln - erlebt der Standort Europa eine Renaissance. Das Interesse der Anleger aus dem Dollarbereich richtet sich dabei ganz besonders auf Deutschland. Gerade jetzt wäre eine durchgreifende Steuerreform die große Chance gewesen, mehr Investoren für Deutschland zu gewinnen, vor allem auch für die neuen Länder.
Mit der Blockade der Steuerreform ist für den Augenblick diese Chance vertan worden, aber wir müssen diese Politik konsequent weiter vertreten.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien treten weiter mit aller Entschiedenheit für eine große Steuerreform ein, eine Steuerreform, die diesen Namen wirklich verdient,
eine Steuerreform, die dafür sorgt, daß mehr Investitionen und damit mehr Arbeitsplätze nach Deutschland kommen.
Unser vom Bundestag verabschiedetes, aber von der Bundesratsmehrheit verhindertes Petersberger Konzept
bleibt richtig.
Meine Damen und Herren, wir werden Ende September die Probe machen.
Wir werden bei dieser Bundestagswahl ein Plebiszit zur Steuerreform herbeiführen, und Sie werden dieses Plebiszit verlieren.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, knapp zwei Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts eröffnen sich für unseren alten europäischen Kontinent neue Horizonte. Wir spüren und sehen es: Ein neues Europa entsteht. Es ist ein Europa, in dem wir Deutschen von Partnern und Freunden umgeben sind, die mit uns gemeinsam das Haus Europa bauen wollen. Zu dieser Entwicklung hat die deutsche Außenpolitik wichtige Beiträge geleistet - Beiträge, die weltweit Anerkennung finden. Erstmals in unserer Geschichte haben wir gleichzeitig exzellente Beziehungen zu den Amerikanern, zu Washington, zu den Franzosen, zu Paris, zu den Briten, zu London und zu den Russen, zu Moskau. Dies ist für uns Deutsche ein großes Geschenk der Geschichte am Ende dieses Jahrhunderts.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts war vor allem auch die europäische Staatenwelt von nationaler Machtpolitik und dem Streben nach Einflußsphären geprägt. Für Generationen - ich will daran erinnern - bewahrheitete sich auf grausame Weise der Satz, den der britische Außenminister Edward Grey beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 sagte:
In diesem Augenblick gehen in ganz Europa die Lichter aus. Wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.
Unter uns leben noch viele mit persönlichen Erinnerungen an die dunklen Jahrzehnte, die damals für Millionen Europäer, auch für die Deutschen, begannen. Es war die Zeit der Weltkriege, des Totalitarismus, des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Diese Zeit endete erst vor wenigen Jahren mit dem Zusammenbruch des kommunistischen, des sowjetischen Imperiums.
Am Ende dieses so schlimmen, blutigen 20. Jahrhunderts haben wir Deutsche jetzt die Chance, ge-
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meinsam mit den Freunden und Partnern in Europa an einer besseren, an einer gerechteren Welt zu bauen, an einer Welt, in der das Licht der Freiheit und des Friedens hell leuchtet. Dieses Europa ist unser Auftrag. Es ist unsere Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen.
In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung zur Vorlage der Bundesregierung zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihre Sehnsucht nach dem Kandidaten kann ich ja gut verstehen.
Er wird sie erfüllen.
Vorweg will ich eines sagen: Sie haben eben Ihren Kandidaten gehört. Sehr intensiv geklatscht hat der Wunschkandidat der CDU, Herr Kollege Schäuble. Ich habe immer gehört, ich sei Ihr Wunschkandidat. Was wollen Sie eigentlich? Seien Sie doch froh, daß ich hier rede!
Meine Damen und Herren, die Europäische Währungsunion ist eine historische Chance für unser Land und für Europa. Sie ist eine Chance für die politische Einigung Europas in Frieden und Freiheit. Sie ist eine Chance für neue Arbeit und neuen Wohlstand in Deutschland und in der gesamten Europäischen Union. Sie ist eine Chance für neue politische Gestaltungsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung. Diese Chance wollen wir nutzen. Deshalb sagt die SPD ja zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Unser Ja zur Europäischen Währungsunion steht in der Tradition der Europapolitik der beiden sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt.
Es war Willy Brandt, der schon 1969 eine einheitliche europäische Währung gefordert hat. Es war Helmut Schmidt, der 1979 das Europäische Währungssystem begründet hat und damit der währungspolitischen
Zusammenarbeit in Europa eine neue Qualität gegeben hat.
Ich respektiere es, Herr Bundeskanzler, daß Sie das Eintreten Helmut Schmidts für die Währungsunion gewürdigt haben. Ich möchte aber aus unserer Sicht hinzufügen: Es war schon eine historische Leistung, daß Helmut Schmidt nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods erkannt hat, was diese flexiblen Finanzmärkte für die europäische Wirtschaft bedeutet haben. Er hat daher zusammen mit Giscard d'Estaing bereits Ende der 70er Jahre entscheidende Weichen gestellt - ein wahrhaft historisches Verdienst.
Es ist respektabel, wenn Sie die Verdienste großer Sozialdemokraten um Europa gewürdigt haben: Willy Brandt, Carlo Schmid und Helmut Schmidt. Wir stehen dem nicht nach: Wir würdigen auch die Verdienste von Konrad Adenauer und von anderen Mitgliedern Ihrer Parteien. Ich will gerade am heutigen Tag auch Hans-Dietrich Genscher erwähnen.
Es ist richtig, in diesem Zusammenhang - trotz aller Kontroversen - Franz Josef Strauß zu erwähnen.
Ich will auch, Herr Bundeskanzler, Ihre Verdienste um die europäische Einigung im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands würdigen.
Sie haben stets versucht, die europäische Einigung voranzutreiben, was Ihnen teilweise gelungen ist. Sie haben stets zu dem Projekt der Europäischen Währungsunion gestanden. Dies verdient Respekt und Anerkennung. Ich will schon jetzt klarstellen: Wenn ich nachher einige kritische Bemerkungen zu den weiteren zu lösenden Aufgaben mache, sollen diese Aussagen dadurch nicht im mindesten eingeschränkt werden.
Ich komme jetzt nicht dazu, zu all den Vorgängen Stellung zu nehmen, die der heute zu treffenden Entscheidung zugrunde liegen. Angesichts der knappen Zeit wende ich mich der Frage zu: Was ist zu tun, nachdem diese Entscheidung getroffen worden ist? Zur zukünftigen Gestaltung der europäischen Politik gibt es tatsächlich erhebliche sachliche Differenzen zwischen den Auffassungen der Regierung Kohl und den Auffassungen, die wir Sozialdemokraten vertreten.
Diesen sachlichen Differenzen möchte ich mich gleich zuwenden.
Vorher aber noch eine Bemerkung zur Entscheidung der letzten Tage. Sie haben Carlo Schmid gewürdigt, einen Mann, den ich bereits im Jahre 1990 hier nicht ohne Grund angesprochen habe. Er hat
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
sich immer wieder für die Nation Europa - ich wiederhole: die Nation Europa - eingesetzt. Carlo Schmid wäre der erste, der immer wieder verlangen würde, daß wir unser Staatsbürgerschaftsrecht endlich europäisieren müssen.
Helmut Schmidt hat sicherlich zu vielen zu treffenden ökonomischen Entscheidungen, die jetzt vor uns liegen, andere Auffassungen als die Regierung Kohl. Ich will mich diesen ökonomischen Entscheidungen zuwenden und mit der Frage des Arbeitsmarktes und mit der Kritik, die Sie gegenüber dem Kanzlerkandidaten der sozialdemokratischen Partei, Herrn Ministerpräsidenten Schröder, hier haben deutlich werden lassen, beginnen.
Sie kritisieren, daß er zum Ausdruck gebracht hat, daß die Vorbereitungen zur Europäischen Währungsunion unzureichend waren und daß viele Voraussetzungen, die eigentlich gegeben sein müßten, heute noch nicht da sind und daß diese Tatsache dazu führen kann, daß wir einige Risiken, die daraus erwachsen, nicht meistern können.
Ich halte diese Betrachtungsweise für richtig und möchte Sie deutlich darauf hinweisen, daß dies eine Betrachtungsweise ist, die nicht nur Gerhard Schröder immer wieder vorträgt. Viele Menschen in Deutschland machen sich Gedanken darüber, welche Folgen die Einführung der Einheitswährung für die Arbeitsmärkte haben wird. Das ist die erste Frage.
Meine Damen und Herren, hier gab es schon deshalb erhebliche Kontroversen zwischen Ihnen und uns, weil Sie immer die Auffassung vertreten haben: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause. Das ist ein grundsätzlich falsches Verständnis von europäischer Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Sie haben dieses falsche Verständnis teilweise dadurch anklingen lassen, daß Sie jetzt wiederum gesagt haben: Die wichtigste innenpolitische Aufgabe ist die Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit.
Herr Bundeskanzler, das ist nicht mehr allein die wichtigste innenpolitische Aufgabe in Deutschland, das ist angesichts von 18 Millionen Arbeitslosen in Gesamteuropa mehr und mehr eine gesamteuropäische Aufgabe, die nur noch gesamteuropäisch erfüllt werden kann.
Wer die Unabhängigkeit der Zentralbank ins Feld führt und wer um die Bedeutung der Geldpolitik weiß, der kann sich doch angesichts der Tatsache, daß die Geldpolitik jetzt europäisiert wird, nicht mehr hinstellen und sagen: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause. Nein, ein ganz wichtiger Abschnitt der Beschäftigungspolitik, nämlich. die Geldpolitik, wird in Zukunft europäisch gestaltet werden. Das ist tatsächlich eine gewaltige Veränderung, und deshalb wird die Beschäftigungspolitik mehr und mehr auf europäischer Ebene zu betreiben sein.
An dieser Stelle kritisieren unsere europäischen Nachbarn, die Sie, Herr Bundeskanzler, brav aufgezählt haben, in allen Gesprächen mit uns - auch gestern wieder - unzureichende Weichenstellungen für eine gemeinsame europäische Beschäftigungspolitik. Ich möchte einen wichtigen Punkt aufgreifen: die Steuerharmonisierung. Es ist einfach falsch, in einen Steuersenkungswettlauf zwischen den europäischen Staaten einzutreten. Dies haben mittlerweile Nationalökonomen quer durch die Länder der Europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus erkannt. Sie haben das viel zu spät erkannt. Lösen Sie sich von dem Konzept, das meint, Staaten konkurrierten miteinander wie Betriebe. Erkennen Sie, daß wir eine Harmonisierung des europäischen Steuersystems brauchen. Im Grunde genommen müßte sie längst durchgeführt sein, damit die europäische Währung funktionieren kann.
Wenn wir an dieser Stelle nicht weiterkommen, dann haben wir einen für die Bürgerinnen und Bürger unhaltbaren Zustand in der Europäischen Gemeinschaft. Wir werden dann eher Mißtrauen und Ablehnung hinsichtlich des Projektes der europäischen Einigung als Zustimmung finden, obwohl wir die Zustimmung doch alle wollen. Darüber gibt es überhaupt keinen Streit.
Es kann aber nicht so bleiben, daß sich die Vermögensbesitzer durch Wohnsitzverlagerung - zumindest bis vor einiger Zeit -, sich die Geldbesitzer durch Kontoverlagerung - das geschieht heute noch - und sich die Firmenbesitzer durch Sitzverlagerung der nationalen Besteuerung entziehen, während die Arbeitnehmer in sämtlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit immer höheren Steuern und Abgaben diese Fehlentwicklung in Gesamteuropa bezahlen müssen.
Die Harmonisierung des europäischen Steuerrechts, bei der es durchaus möglich ist, Strukturreformen auch im Wettbewerb auszutragen - ich sage: Strukturreformen im Wettbewerb, aber nicht ein Senkungswettlauf nach unten, weil er alle Staaten irgendwann handlungsunfähig macht -, ist dringend geboten. Sie haben an dieser Stelle in den letzten Jahren viel zuwenig getan.
Sie haben ein weiteres Mißverständnis vorgetragen, das zu erheblichen Fehlentwicklungen führen
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
würde, wenn es tatsächlich weiterhin Grundlage der Politik der Bundesrepublik bliebe. Ich zitiere:
Wer jetzt nicht die notwendigen Reformen vorantreibt, sondern zuerst in eine europaweite Harmonisierung der Standards in der Steuerpolitik,
- dazu habe ich bereits gesprochen -
der Sozial- und Umweltpolitik flüchtet, wird keinen Fortschritt in Europa bewirken und das Ziel nicht erreichen.
Um das irgendwie glaubwürdig zu machen:
Eine solche Politik ist unrealistisch, weil niemand in Europa bereit wäre, sich beispielsweise auf unsere hohen Sozial- und Umweltstandards jetzt einzulassen; denn dies würde für unsere Partner bedeuten, zu unseren Gunsten auf eigene Wettbewerbsvorteile zu verzichten.
Herr Bundeskanzler, dieser Satz offenbart ein grundsätzliches Mißverständnis der ökonomischen und sozialen Zusammenhänge der europäischen Einigung.
Es geht hier wirklich nicht darum, daß sich die europäischen Staaten, um den Kostensenkungswettlauf zu stoppen, darauf verständigen sollen, die höchsten Standards in der Europäischen Gemeinschaft anzustreben.. Welch fundamentales Mißverständnis! Wer hat Ihnen das aufgeschrieben? Es geht darum - da stimmen all die Staatsmänner zu, die Sie vorhin dankenswerterweise vorgelesen haben -, daß Mindeststandards durchgehalten werden müssen und daß wir im Interesse der Menschen nicht unter diese Mindeststandards zurückfallen dürfen. Verstehen Sie das doch bitte, Herr Bundeskanzler!
Wenn Ihr Freund, der luxemburgische Premier Jean Claude Juncker, den ich als Nachbar auch zu meinen Freunden zähle, immer wieder darauf hinweist, daß wir im Interesse der Menschen in Europa nicht zu einem törichten Wettbewerb beim Abbau des Kündigungsschutzes in Europa kommen dürfen, dann hat er recht. Wir müssen das unterbinden.
Die Menschen werden nicht mitmachen, wenn wir solche falschen Ideologien zur Grundlage der Europäischen Gemeinschaft machen.
Entscheidend wird aber sein, wie wir die Weichen stellen, um die Arbeitsmärkte richtig zu steuern und dazu zu kommen, daß sich die Arbeitsmärkte in Europa gleichmäßig entwickeln, und zwar hin zu mehr Beschäftigung und zu weniger Arbeitslosigkeit. Es ist ja richtig, daß auch Ihre Regierung dafür eingetreten ist und Teilerfolge erreicht hat, wenn es darum ging, die Geldwertstabilität in Gesamteuropa zu erreichen. Auch dies möchte ich nicht bestreiten. Aber für die Arbeitslosen in Europa, für die vielen Armen in Europa, ist Geldwertstabilität nicht das alleinige Ziel der Europäischen Gemeinschaft. Das Ziel muß sein, wieder zu Wachstum und Beschäftigung zu kommen, um die Arbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen.
An dieser Stelle wird ein Sachverhalt viel zuwenig diskutiert,
der ein entscheidendes Problem in der Europäischen Gemeinschaft sein wird, wenn es die Wechselkurse nicht mehr gibt. Im Zusammenhang mit den Wechselkursen müssen wir die Bevölkerung auf Probleme hinweisen. Insoweit ist es richtig, daß immer wieder auch die Probleme der Währungsunion dargestellt werden. Wir würden unglaubwürdig werden, wenn wir alles nur schön- und gutreden. Nein, wir müssen die Probleme aufzeigen.
Nachdem die Wechselkurse nicht mehr vorhanden sind, stehen die Volkswirtschaften in Europa vor einem großen Problem. Die Stoßdämpfer der Volkswirtschaften sind nämlich ausgebaut. Die große und viel zuwenig diskutierte Frage heißt: Wer ersetzt in Zukunft die Rolle der Stoßdämpfer der europäischen Volkswirtschaften? Wenn man sich dieser Frage nicht stellt, kann man zu erheblichen Fehlentscheidungen kommen, die wiederum dazu führen würden, daß es zu erheblichen Transferleistungen in der gesamten Europäischen Gemeinschaft kommen muß. Ich muß darauf hinweisen. Deshalb ist hier differenziertes Debattieren geboten. Es hat doch keinen Sinn, den Leuten Sand in die Augen zu streuen und so zu tun, als gäbe es da keine Risiken.
Nun will ich von unserer Seite ein Risiko deutlich machen: Es geht nicht um das Risiko der Lohnentwicklung, meine Damen und Herren - das ist leider ein fundamentales Mißverständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge -, sondern es geht um das Risiko auseinanderdriftender Lohnstückkostenentwicklungen, das wir aus der deutsch-deutschen Vereinigung kennen, das wir in Europa auf Grund der großen Exportüberschüsse der deutschen Volkswirtschaft kennen und das zu einem wirklichen Problem der Europäischen Gemeinschaft werden wird.
Bisher war es möglich, auseinanderdriftende Lohnstückkostenentwicklungen dadurch in den Griff zu bekommen, daß Währungen reagierten. Als im Jahre 1992/93 bestimmte Entwicklungen aus der Sicht der europäischen Nachbarstaaten nicht mehr unter Kontrolle waren, kam es zu den Turbulenzen im Währungssystem und zu den Entscheidungen, einzelne Währungen abzuwerten oder sogar aus diesem System herauszunehmen; mittlerweile sind sie teilweise wieder zurückgekehrt, und das Ganze hat sich wieder beruhigt. Die Frage ist aber: Was machen wir, wenn solche Reaktionen nicht mehr möglich sind? Welche ökonomischen Prozesse liegen diesem Sachverhalt zugrunde, die wir anders steuern müssen?
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Da gibt es etwas, was wir Deutsche wissen müssen: Es ist nicht gut - nun komme ich wieder auf die Themen Standortwettbewerb und Kostensenkungswettlauf zu sprechen -, wenn eine Volkswirtschaft zu Lasten der anderen ständig steigende Exportüberschüsse hat. Der Forderung des Stabilitätsgesetzes, unter anderem auch außenwirtschaftliches Gleichgewicht anzustreben, liegt eine tiefe ökonomische Einsicht zugrunde, die in den letzten Jahren mehr und mehr verlorengegangen ist. Die deutsche Exportwirtschaft hat nach dem Vereinigungsboom und den daraus resultierenden Folgen wiederum an ihre alten Exporterfolge angeknüpft. Sie haben zu Recht gesagt, wir haben Weltmarktanteile zurückgewonnen und haben in Europa wieder mit vielen Handelspartnern Exportüberschüsse. Was passiert, wenn die Lohnstückkostenentwicklung so wie in der Vergangenheit weitergeht und die Wechselkurse nicht mehr zur Verfügung stehen, um diese Entwicklungen zu korrigieren?
Die Deutsche Mark ist in den letzten Jahrzehnten im Schnitt um drei Punkte aufgewertet worden. Korrespondierend sind die Währungen anderer Länder immer abgewertet worden. Dieser Mechanismus konnte das Auseinanderdriften der Lohnstückkostenentwicklungen immer einigermaßen begrenzen und steuern. Aber dieser Mechanismus steht nicht mehr zur Verfügung. Deshalb müssen wir die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik, ja auch die Tarifpolitiken in der Europäischen Gemeinschaft dringend koordinieren, sonst wird es zu Transferleistungen in großem Umfang kommen.
An dieser Stelle ist die Haltung der französischen Regierung, die Haltung der Regierung Jospin, die auf eine europaweite Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitiken sowie der Beschäftigungspolitiken drängt, weitaus klüger und sachgemäßer als Ihre Politik, die sich auf die Formel zurückzieht: Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause. Diese Betrachtungsweise zeugt von großem Mißverständnis ökonomischer Zusammenhänge in Europa.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in diesem Zusammenhang wieder die deutsche Einheit angesprochen. Es klang so durch, als hätten die Sozialdemokraten eine ungleich weniger positive Haltung zur deutschen Einheit als etwa Ihre Partei oder andere Parteien eingenommen.
- Ich komme dazu, beruhigen Sie sich; ich kenne das ja. - Sie haben Willy Brandt zitiert. Sie werden sicherlich zustimmen, daß sich Willy Brandt durch seine Ostpolitik große Verdienste um die deutsche Einheit erworben hat.
In Übereinstimmung mit mir hat der damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Jochen Vogel, einen gemeinsamen runden Tisch angeboten, um die ökonomischen und sozialen Folgen der deutschen Einheit gemeinsam zu diskutieren und zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. Sie haben das Angebot damals ausgeschlagen.
Wenn Sie heute sagen, Populismus sei kein Mittel, Vertrauen im Volk zu gewinnen, dann packen Sie sich bitte an die eigene Nase! Das sage ich Ihnen als Vorsitzender der deutschen Sozialdemokraten und als Kanzlerkandidat im Jahre 1990.
Während ich hier gesagt habe, es werde zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten in Ostdeutschland kommen, und während ich bereits im Juni des Jahres 1990 öffentlich gesagt habe, es bedürfe einer Transfersumme von 100 Milliarden DM - später habe ich gesagt: Es werden mehr -, haben Sie all diesen Einsichten widersprochen, von „blühenden Landschaften" geredet und davon, das ginge alles ohne Steuer- und Abgabenerhöhungen. Sie sind hier völlig unglaubwürdig, Herr Bundeskanzler, und Sie können niemandem Populismus vorwerfen!
Auch vor dem Hintergrund Ihrer politisch richtigen Haltung, die europäische Einigung voranzutreiben, und vor dem Hintergrund der Tatsache, daß Sie unbeirrt zu dem Projekt der Einführung des Euro stehen - dazu zolle ich Ihnen meinen persönlichen Respekt -, sage ich genauso überzeugt in sachlicher Debatte: Das ökonomische Management des Euro möchte ich Ihnen im Interesse der Menschen in Gesamteuropa nicht überlassen.
Dies gilt im übrigen auch für Ihre erneuten Aussagen zur Steuerpolitik. Ich möchte in aller Ruhe sagen: Wenn Sie die Steuerpolitik zum Wahlkampfthema machen, tun Sie mir persönlich einen großen Gefallen.
Wir werden dann wieder über die Besteuerung von Zuschlägen bei Schichtarbeit diskutieren müssen - das ist ja so unglaublich populär -, über den Abbau der Kilometerpauschale; das ist ja unglaublich populär, Herr Kollege Stoiber. Wir müssen über die Besteuerung der Renten diskutieren; das ist ja insbesondere in Ihrer Wählerschaft ungemein populär. Wir müssen über die Besteuerung von Versicherungen diskutieren; das ist ja ungeheuer populär.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Ich lade Sie ein, diese Fragen zu zentralen Themen des Bundestagswahlkampfes zu machen. Nur zu!
Über all diese Dinge könnten wir noch hinwegsehen. Was nicht geht, ist: Daß Sie - wie 1990 und 1994 - die Wahl wiederum mit dem Versprechen von Steuersenkungen in Höhe von 40 bis 50 Milliarden DM bestreiten wollen, ist unglaublich.
Da Sie Helmut Schmidt zitiert haben, will auch ich das tun:
Wer angesichts der großen Aufgabe der deutschen Vereinigung und des Aufbaus Ost den Menschen Steuersenkungen von 40 bis 50 Milliarden DM verspricht, ist ein mieser Patriot.
So Helmut Schmidt in der vorletzten Ausgabe der „Zeit".
Es ist zwar gut, wenn man in Richtung europäischer Einigung in seinen Bemühungen nicht nachläßt, aber die europäische Einigung wird nur dann zum Erfolg, wenn die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik in der Europäischen Gemeinschaft einen neuen Kurs einschlägt und wenn die 18 Millionen Arbeitslosen zum zentralen Thema der europäischen Politik werden. Darin stimmten Lionel Jospin, Gerhard Schröder und ich gestern in Paris überein. Dies sehen im übrigen all die Genannten, die Sie vorhin aufgezählt haben - wir sind mit ihnen auf vielen Konferenzen zusammen -, genauso. Nicht daß ich hier falsch verstanden werde: Es gibt da und dort sicherlich auch immer wieder Diskussionsbedarf, und innerhalb der Europäischen Gemeinschaft besteht sicherlich eine Bandbreite verschiedener Auffassungen. Es wäre töricht, dies in Abrede zu stellen.
Aber in der Beurteilung, daß eine Politik, die allzu einseitig immer wieder auf Senkung sozialer Leistungen, Lohnzurückhaltung und Senkung der Unternehmensteuern setzte, in Gesamteuropa gescheitert ist, sind sich die Genannten mit uns völlig einig. Deshalb muß die Politik an dieser Stelle grundlegend geändert werden.
Es ist auch interessant, daß Sie kurz vor der Wahl ins Schleudern kommen und Investitionen wieder vorziehen wollen,
nachdem Sie in Gesamteuropa lange Jahre hausieren
gingen mit den Worten, so könne man nicht wirtschaften. Als wir gestern in Paris gefragt wurden, ob wir immer noch für Beschäftigungsprogramme seien, mußten wir nur sagen: Auch die Regierung Kohl ist nervös geworden und hat die AB-Mittel wieder aufgestockt, obwohl sie in Gesamteuropa so tut, als seien Beschäftigungsprogramme überhaupt ein Werk des Teufels.
Sie sehen, Sie sind mit Ihrer Politik so widersprüchlich, daß solche Ansätze auch in der Europäischen Gemeinschaft kaum noch akzeptiert werden.
Im übrigen hätte ich mir gewünscht, Herr Bundeskanzler, daß Sie heute auch einer Aufforderung aus der Presse nachkommen, nämlich Farbe zu bekennen. Das heutige „Handelsblatt" erwartet, daß Sie Farbe bekennen: bei den Fragen der Osterweiterung, bei der Frage der Agrarpolitik, bei der Frage der Strukturreform und bei der Frage der zukünftigen Gestaltung der europäischen Finanzen. An dieser Stelle ist Ihre Regierung nach meiner Auffassung handlungsunfähig,
weil Sie sich in all diesen Fragen nicht einigen können.
Es geht nicht an, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Regierung in Person des Außenministers auf der einen Seite für eine schnelle Osterweiterung wirbt, wissend, daß dies die Europäische Gemeinschaft vor neue finanzpolitische Herausforderungen stellt, und daß der Finanzminister auf der anderen Seite in Europa ständig darauf drängt, daß die Deutschen weniger in die gemeinsame Kasse zahlen. Das verträgt sich nicht miteinander. Beides verträgt sich nicht mit der Tatsache, daß Sie die Agrarreform blockieren, und ebensowenig mit der Tatsache, daß die Bayern noch mehr Geld für ihre Landwirte haben wollen. Das alles ist so widersprüchlich, daß wir in allen europäischen Hauptstädten immer wieder auf diese Widersprüchlichkeit der Europapolitik Ihrer Koalition angesprochen werden - auch gestern in Paris.
Der Dreisatz Osterweiterung ja, weniger Geld für die Europäische Gemeinschaft und mehr Geld für die Bauern geht nicht auf. In dem Maße, in dem Ihre Regierung in den letzten Monaten nicht in der Lage war, Entscheidungen zu diesen zentralen Themen der Europäischen Gemeinschaft herbeizuführen, ist auch der Einigungsprozeß ins Stocken geraten. Dies ist die Bilanz, die in allen europäischen Hauptstädten aufgestellt wird.
Wir haben, meine Damen und Herren, zusammen mit den sozialdemokratischen Parteien Europas Antworten gegeben, die sich diesem platten Populismus, jedem nach dem Munde zu reden, versagen. Denn da haben Sie recht: Ein solch platter Populismus, der den Bauern alles verspricht, der denen, die Ressenti-
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ments haben, sagt „Wir nehmen unser Geld wieder zurück", der gleichzeitig die Osterweiterung fordert, ohne zu sagen, wie das alles bewältigt werden soll, schadet der Europäischen Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren, es gehört zur Redlichkeit dazu, daß wir heute in dieser Debatte sagen, daß die fortschreitende europäische Integration und der Vertrag von Maastricht auch eine Antwort auf den Zusammenbruch des Kommunismus, auf den Fall der Mauer und auf die deutsche Vereinigung waren. Gesamteuropa ist daher daran interessiert, daß der Prozeß der europäischen Einigung vorangetrieben wird.
Nicht umsonst hat ein anderer großer Europäer, François Mitterrand, in seiner letzten Rede als Staatspräsident in Berlin darauf hingewiesen, daß die Grundlage der europäischen Einigung der Sieg Europas über sich selbst sei. Was meinte François Mitterrand damit? - François Mitterrand meinte damit, daß wir nationalstaatliche Egoismen überwinden und wirklich zu einer gemeinsamen europäischen Politik finden müssen: in der Außenpolitik, in der Sicherheitspolitik, in der Politik der inneren Sicherheit, in der Politik der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, in der Sozialpolitik und in der Kulturpolitik.
Letztere wollte ich heute noch angesprochen haben. Der ostdeutsche Schriftsteller Erich Loest sprach mich in Leipzig kürzlich an und sagte: Ich höre so viele über Europa reden; aber ich höre allzuwenig von der Kulturpolitik.
Ich glaube, meine Damen und Herren, daß es der Reichtum Europas ist, eine kulturelle Vielfalt zu haben, die in der Welt unvergleichlich ist, und daß wir daher der europäischen Kulturpolitik bei allem Ökonomischen, bei allem Reden über Stabilität und auch über Beschäftigung einen größeren Stellenwert einräumen müssen.
Als jemand, der auf der Grenze geboren ist, denke ich dabei etwa an die Aufgabe, die Zweisprachigkeit zu pflegen, insbesondere an den Grenzen. Der große Europäer Jean Monnet hatte recht. Er sagte einmal:
Wenn ich wieder anzufangen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.
In diesem Sinne werden wir Sozialdemokraten energisch dafür arbeiten, daß die Grenzen überwunden werden und die Völker Europas zusammenwachsen.
In der Debatte spricht jetzt der Vorsitzende der Fraktion der CDU/ CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion stimmt der Vorlage der Bundesregierung zum Kreis der Teilnehmer an der Europäischen Währungsunion zu. Die CDU/CSU-Fraktion dankt dem Bundeskanzler für seine Regierungserklärung.
Die CDU/CSU-Fraktion dankt dem Bundeskanzler, der Bundesregierung, dem Bundesfinanzminister für die großartige Leistung, die es ermöglichte, daß wir auf dem Weg zur Unumkehrbarkeit der wirtschaftlichen Einigung Europas einen historischen Schritt vorangekommen sind.
Der Bundeskanzler, werte Kolleginnen und Kollegen, hat davon gesprochen, daß dies eine Entscheidung ist, die für die Menschen in Deutschland und in Europa von großer Tragweite und Bedeutung ist. Deswegen denke ich, daß wir diese Debatte und auch die parlamentarischen Beratungen in den kommenden Tagen und Wochen bis zur endgültigen Beschlußfassung am 23. April in diesem Hause dazu nutzen sollten, die Argumente, die uns zu dieser Entscheidung veranlassen, in aller Eindringlichkeit, in aller Klarheit, in aller Offenheit darzulegen, auszutauschen, kritische Fragen aufzunehmen und zu beantworten.
Deswegen, Herr Ministerpräsident Lafontaine, ist es auch in Ordnung, daß Sie gesagt haben, es gebe auch Einwände und Bedenken. Mit denen muß man sich auseinandersetzen. Es hat gar keinen Sinn, darüber hinwegzureden. Das hat der Bundeskanzler auch nicht getan.
Aber ich füge hinzu, Herr Ministerpräsident Lafontaine, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen Partei und Fraktion: Man muß nicht nur die Einwände kritisch prüfen, sondern man muß auch ein wenig die Vorzüge und die Gründe, die für diese Entscheidung sprechen, darlegen und für sie sprechen.
Ich möchte also auch ein wenig von den Vorzügen und von den Gründen sprechen, warum die Europäische Währungsunion richtig ist. Da muß man abwägen, und dann muß man sich auch entscheiden, ob man dafür oder dagegen ist. Man sollte aber nicht dafür sein und gleichzeitig dagegen reden.
Entweder, Herr Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ist die Europäische Währungsunion eine „kränkelnde Frühgeburt" - dann können wir nicht verantworten, diese Entscheidung zu treffen -, oder sie ist es nicht - dann sind wir dafür. Es geht nur das eine oder das andere.
Dr. Wolfgang Schäuble
Ich will Ihnen den Unterschied aufzeigen: Die Bayerische Staatsregierung
hat die Einwände ernst genommen und sorgfältig geprüft - wie auch wir, der Bundesfinanzminister, die CDU/CSU und die F.D.P. -, hat aber nach Abwägung aller Argumente pro und kontra und nach Vorliegen der Berichte von Europäischem Währungsinstitut und Bundesbank klar entschieden: Das ist richtig und vertretbar. Wir sind dafür, weil die Abwägung der Argumente ergeben hat, daß es richtig ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sollte man doch einmal an einigen Punkten deutlich machen, was für die Währungsunion spricht. Davon haben Sie, Herr Lafontaine, wenig gesprochen.
- Nein, ich habe sehr genau zugehört. Ich bin ja ganz friedlich, Herr Larcher. Lassen Sie mich doch!
Unsere Mitbürger, zumindest die meisten Menschen in Deutschland, sind davon überzeugt, daß die wirtschaftliche und politische Einigung Europas grundsätzlich der richtige Weg ist. Die meisten Menschen in Deutschland sind auch der Überzeugung, daß man zur Vollendung des europäischen Binnenmarkts eine gemeinsame Währung in Europa braucht. Die meisten Menschen in Deutschland haben aber bei der Vorstellung, daß dies jetzt konkret beginnt, auch Bedenken und Fragen. Deswegen sollten wir doch nicht so tun, als hätten wir dies nicht sorgfältig geprüft und als würden wir uns unsere Entscheidung leichtmachen. Wir sollten vielmehr zwischen den Argumenten abwägen.
Ich sage: Wir werden in dieser zusammenwachsenden Welt, in der die Abhängigkeit unserer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von allen anderen Teilen der Welt viel größer geworden ist - das mag einem bequem erscheinen oder nicht; das ist Globalisierung -, bessere Chancen für wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Sicherheit und Beschäftigung der Menschen in Deutschland und Europa haben, wenn wir die wirtschaftliche Einigung Europas voranbringen. Deswegen ist die Währungsunion richtig.
Wir leben in einer Welt, in der die Abhängigkeit unserer alltäglichen Erfahrungen von Währungskrisen, von den Ausschlägen an den internationalen Finanzmärkten unmittelbar ist: Die mexikanische Währungskrise vor einigen Jahren hat über die Turbulenzen an den Märkten dazu geführt, daß der Milcherzeugerpreis für die Landwirte in Deutschland innerhalb weniger Wochen um fast 10 Pfennige gesunken ist. Auf- und Abwertungen betreffen uns unmittelbar. Die Frage, ob die Finanzkrise in Asien bewältigt werden kann, hat auch Auswirkungen auf unser wirtschaftliches Wachstum und den Arbeitsmarkt in Deutschland.
Weil dies so ist, ist es gut, daß wir eine starke gemeinsame europäische Währung schaffen. Damit wird die Abhängigkeit und das Betroffensein von Entwicklungen in anderen Teilen der Welt gemildert. Dazu kann die Europäische Währungsunion beitragen, und deswegen ist sie richtig. Das ist ein Vorteil der Europäischen Währungsunion.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich vermute, daß wir in den zurückliegenden Wochen und Monaten von den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien stärker betroffen gewesen wären, wenn wir nicht durch den MaastrichtProzeß unsere Immunität gegen solche Entwicklungen schon ein wenig gestärkt hätten.
Die gemeinsame europäische Währung ist für die Deutschen von Vorteil, weil sie beispielsweise sichert, daß unsere Exporte in die anderen Mitgliedsländer der Europäischen Währungsunion nicht mehr von Wechselkursrisiken abhängig sein werden.
Wir liefern doch 60 Prozent oder sogar fast zwei Drittel unserer Exporte in die anderen Mitgliedsländer der Europäischen Union. Das heißt, unsere eigene wirtschaftliche Entwicklung und unsere Lage am Arbeitsmarkt werden durch die Währungsunion stabilisiert und verbessert. Deswegen ist sie richtig und von Vorteil.
Die Europäische Währungsunion - der Bundeskanzler hat es dargelegt; ich will es wiederholen- sichert uns mehr Stabilität, als wenn wir die europäische Währung nicht hätten.
Man muß doch einmal daran erinnern - ich habe mir die Zahlen einmal aufschreiben lassen -, daß wir in den Jahren 1970 bis 1982 in Deutschland eine durchschnittliche Inflationsrate von 5,1 Prozent hatten. Das war die Zeit, in der die Sozialdemokraten Verantwortung für die Regierungspolitik trugen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, daß Inflation die größte soziale Ungerechtigkeit ist. Seit 1982 - das ist die Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl - beträgt die durchschnittliche Preissteigerungsrate in Deutschland 2,1 Prozent. Das sind soziale Gerechtigkeit und soziale Stabilität pur!
Heute beträgt die Preissteigerungsrate in Deutschland weniger als 1,5 Prozent. Das hat niemand nach der deutschen Einheit für möglich gehalten. Viele Sachverständige - das darf man dann auch einmal sagen -, die nach der deutschen Einheit geäußert haben, die D-Mark könne und werde nicht stabil bleiben, haben sich kräftig getäuscht. Es sind übrigens zum Teil dieselben Leute, die jetzt das Bundesverfassungsgericht angerufen haben. Ich begrüße sehr, daß das Bundesverfassungsgericht die gegen die Europäische Währungsunion gerichteten Verfassungsbe-
Dr. Wolfgang Schäuble
schwerden einstimmig als „offensichtlich unbegründet" zurückgewiesen hat.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in früheren Jahren hatten wir in vielen europäischen Ländern immer höhere Inflationsraten als in Deutschland. Das ist einer der Gründe, warum es vielen unserer Mitbürger so schwerfällt, darauf zu vertrauen, daß eine gemeinsame Währung so stabil wie die D-Mark sein wird. Der tiefere Grund ist ja die Erfahrung über Jahrzehnte, daß andere Länder in Europa zeitweilig geringere Stabilitätsraten hatten. Noch beim Abschluß des Maastricht-Vertrags im Jahre 1991 betrug die durchschnittliche Preissteigerungsrate in der Europäischen Union ungefähr 6 Prozent, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.
Heute haben wir wegen des Maastricht-Vertrags, wegen der gemeinsamen Vorbereitung auf die gemeinsame Währung in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union eine durchschnittliche Preissteigerungsrate, die noch bei knapp 2 Prozent liegt. Das zeigt, daß Deutschland nicht mehr eine Insel der Stabilität ist, sondern daß in ganz Europa Stabilität herrscht. Das ist auch für unsere Preisstabilität besser. Auch deswegen ist die Währungsunion richtig.
Das ermöglicht, daß die Zinsen in Deutschland und überall in Europa niedriger sind, als sie es jemals zuvor gewesen sind. Das wiederum ist für Wachstum, Beschäftigung und Arbeitsmarkt günstig. Herr Kollege Lafontaine, Sie plädieren doch immer für niedrige Zinsen. Die Europäische Währungsunion und die Stabilitätserfolge unserer Politik sind die besten Voraussetzungen, daß wir so niedrige Zinsen wie niemals zuvor in Deutschland und überall in Europa haben. Das alles spricht für die Währungsunion.
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rössel?
Bitte sehr.
Herr Dr. Schäuble, Sie haben soeben über die Entwicklung der Preisstabilität gesprochen. Darauf basierend möchte ich eine Frage stellen, die sich auch auf die Konvergenz-Stellungnahme der Deutschen Bundesbank bezieht. Dort heißt es:
Zweifellos wäre es beruhigender, wäre der statistisch gemessene Grad an Preisstabilität bei einem hohen Beschäftigungsstand erreicht worden.
Meine Frage: Sehen Sie nicht, daß mit der Einführung einer einheitlichen Währung - Euro - die Möglichkeiten, die vorher bestanden, nämlich durch Wechselkursveränderungen und unterschiedliche
Zinsniveaus Regulierungsmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt durchzuführen, wegfallen und der ökonomische Ausgleichsmechanismus jetzt fast ausschließlich über den Arbeitsmarkt und im Lohnbereich stattfindet?
Eingedenk der Tatsache, daß wir in Europa keine Sozialstandards und keine Beschäftigungsstandards haben, bestehen für die Bürgerinnen und Bürger bei einer Arbeitslosigkeit, die in den meisten westeuropäischen Ländern über 10 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung betrifft, außerordentliche Risiken, worauf übrigens auch die Deutsche Bundesbank ausdrücklich hinweist.
Herr Kollege, ich habe darüber gesprochen, daß Preisstabilität eine unerläßliche Voraussetzung für soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit ist. Deswegen bin ich froh, daß wir in Deutschland und überall in Europa ein so hohes Maß an Stabilität haben.
Natürlich brauchen wir auch eine bessere Entwicklung am Arbeitsmarkt. Aber das eine hängt weniger unmittelbar mit dem anderen zusammen, als Sie das in Ihrer Frage dargestellt haben. Im übrigen hat Herr Ministerpräsident Lafontaine diese Auffassung in seiner Rede ausführlicher und auch qualitativ ein wenig anspruchsvoller dargelegt. Ich werde mich gleich im Anschluß mit den Argumenten von Herrn Lafontaine auseinandersetzen.
Ich möchte nicht, daß man die Stabilitätserfolge in ihrer sozialen Auswirkung für alle Schichten unserer Bevölkerung unterschätzt oder vernachlässigt. Mir lag gerade auch nach der Rede von Herrn Lafontaine daran, zunächst einmal darzulegen, warum wir uns von der CDU/CSU trotz all der Argumente, die man im Zusammenhang mit der Währungsunion hin und her wenden muß mit großer Überzeugung dafür entscheiden, der Währungsunion zuzustimmen. Wir wissen, daß sie von großem wirtschaftlichen und sozialen Vorteil für alle Menschen in Deutschland ist. Deswegen muten wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern diese Entscheidung zu, die vielen nicht leichtfällt, die aber im Interesse der wirtschaftlichen Zukunft unseres Landes richtig, notwendig und zukunftsweisend ist.
Nun hat Herr Ministerpräsident Lafontaine von den Problemen und den Schwierigkeiten gesprochen, die wir in Deutschland haben. Er hat in der Debatte im Anschluß an die Rede des Bundeskanzlers das aufgegriffen, was der Bundeskanzler - nach meiner Überzeugung zu Recht - gesagt hat, nämlich daß wir die notwendigen Verbesserungen von Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der zu hohen Arbeitslosigkeit gerade unter den Bedingungen der Europäischen Währungsunion verstärken müssen und daß uns die Währungsunion auch helfen wird, die Rahmenbedingungen für bessere Ergebnisse am Arbeitsmarkt zu verbessern.
Hier haben Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine, eine andere Auffassung als wir. Ich will Ihnen den grundsätzlichen Unterschied aufzeigen. Ihre Frage,
Dr. Wolfgang Schäuble
ob man Beschäftigungspolitik zu Hause oder anderswo macht, ist gar nicht so wichtig. Entscheidend ist das Grundverständnis von sozialer Marktwirtschaft und Tarifautonomie und ob man dazu ja oder nein sagt. Sie glauben darin sind Sie wahrscheinlich in den Gesprächen mit Herrn Jospin sogar bestärkt worden -, daß der Staat durch möglichst viel Regulierung möglichst viel erreichen könne. Wir glauben das nicht, sondern wir glauben das Gegenteil. Wir sind vom Gegenteil überzeugt.
Hinter all dem, was Sie sagen - ob national oder europäisch -, steckt der Glaube - leider, bei aller Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland, haben wir hier einen grundsätzlichen Meinungsunterschied mit der derzeitigen französischen Regierung -, daß mehr staatliche Einflüsse am Ende bessere Ergebnisse für den Arbeitsmarkt, für die soziale Sicherheit und für den wirtschaftlichen Wohlstand der Menschen erreichen. Daran glauben wir nicht.
Wir haben Tarifautonomie, und das ist gut so. Also dürfen wir die Verantwortung für den Arbeitsmarkt nicht in erster Linie bei der Politik suchen, weil dann die Tarifpartner aus ihrer Verantwortung entlassen werden und falsche Entscheidungen treffen.
Das ist auf europäischer Ebene so falsch wie auf nationaler. Wir haben hier doch keinen Wettlauf. Wenn man Sie reden hört, meint man, die Menschen in Europa würden kurz davorstehen, überhaupt keine Steuern und Abgaben mehr bezahlen zu müssen. So ist es nicht, in Deutschland nicht und in Europa nicht.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben im Zusammenhang mit der Einkommen- und Körperschaftsteuerreform davor gewarnt, einen Wettlauf dahin gehend zu machen, daß die Menschen immer weniger bezahlen sollen. Unsere Überzeugung ist: Wir haben zu hohe Steuern und Abgaben.
Sie möchten in einer Welt, in der man dem wirtschaftlichen Wettbewerb nicht ausweichen kann, diesen außer Kraft setzen -
- Natürlich!
- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es muß doch möglich sein, unterschiedliche Auffassungen zu ertragen. Ich habe die Auffassung von Herrn Lafontaine auch ruhig ertragen und sage jetzt, warum ich sie nicht teile und anderer Meinung bin. Sie aber fangen sofort an zu schreien, wenn man eine Meinung
vertritt, die Sie nicht teilen. Hören Sie sie doch an und argumentieren Sie dagegen!
Ich bleibe davon überzeugt, daß wir in der globalisierten Welt, in der wir uns befinden und in der der Wettbewerb zum Teil Auswirkungen hat, die man mit Sorge betrachten muß - das ist doch gar keine Frage -, nicht mehr die Möglichkeit haben, durch staatliche Gesetzgebung die Dinge so zu ordnen, wie Ludwig Erhard es in den 50er Jahren noch konnte, der die Möglichkeit hatte, die Rahmenbedingungen für soziale Marktwirtschaft durch staatliche Gesetzgebung und Politik stabil zu halten. Das ist ein Problem, über das man nachdenken muß. Aber man kann das Problem doch nicht dadurch lösen, daß man die Wirklichkeit bestreitet; vielmehr muß man sich in dieser Welt behaupten.
Deswegen ist eines meiner Hauptargumente für die Richtigkeit der wirtschaftlichen Integration und der Schaffung einer Währungsunion in Europa, daß wir auf diese Weise eher Widerstandskräfte gegen Entwicklungen aus der ganzen Welt bilden können, die uns nicht gefallen. Die Volatilität der internationalen Finanzmärkte macht uns Sorgen. Wir befinden uns in einem Wettbewerb um Lohnkosten, im Hinblick auf den wir sagen: Wir wollen unter keinen Umständen auf das Wohlstands- und Sozialniveau ärmerer Länder in Europa bzw. in der Welt absinken, sondern wir wollen, daß andere möglichst schnell auf unser Wohlstands- und Sozialniveau kommen. Das ist auch klar.
Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, was wir tun müssen und können, um unsere Möglichkeiten in der gegebenen Situation so gut und so verantwortlich wie irgend möglich wahrzunehmen. Es hat doch keinen Sinn, die Wirklichkeit zu bestreiten.
Deswegen müssen wir auf folgendes achten: In der globalisierten Welt können die Probleme nicht mit großen zentralistischen Einheiten gelöst werden. Das eigentliche Problem ist, daß sich die Entwicklung beschleunigt hat, daß die Veränderungen immer schneller stattfinden. Deswegen müssen wir unsere Innovationsfähigkeit stärken. Wer glaubt, durch mehr staatlichen Einfluß, mehr Steuern, Abgaben und Bürokratie würde die Innovationsfähigkeit unserer Volkswirtschaft gestärkt, dem stimme ich nicht zu. Wir brauchen kleine Einheiten, Dezentralisierung und mehr Flexibilität.
Deswegen sind wir für eine Steuerreform, die die Kräfte von Dynamik, Wachstum, Phantasie und Innovation stärkt.
Im übrigen hat sich Frau Matthäus-Maier darüber beklagt - ich will Ihnen das sagen, weil Sie sich zweimal so heftig beschwert haben -, wir hätten nicht applaudiert, als Ministerpräsident Lafontaine Helmut Schmidt gelobt hat. Mir fällt es ein wenig schwer, nur
Dr. Wolfgang Schäuble
zu schweigen, wenn ich höre, wie Oskar Lafontaine Helmut Schmidt lobt. Aufrichtig wirkt es nicht.
Ich komme in diesem Zusammenhang auf das zu sprechen, was Helmut Schmidt angeblich - ich kenne das Zitat nicht - gesagt haben soll.
- Ich wollte im Zusammenhang mit der Steuerreform nur auf folgendes hinweisen: Die 30 Milliarden DM Steuerentlastung, von denen Sie sagen, sie seien für die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden nicht verkraftbar, sind genau in dem Jahr, in dem Sie die große Steuerreform blockiert haben, den öffentlichen Händen entgangen; denn die Steuereinnahmen sind um soviel zurückgegangen, weil zu hohe Steuersätze und die damit verbundenen zahlreichen Ausnahmen im Ergebnis zu weniger Steuereinnahmen bei geringer Wettbewerbsfähigkeit geführt haben.
Es bestreitet doch inzwischen niemand mehr, der ernst genommen werden will, daß wir unsere Steuersätze an europäischem Maß ausrichten müssen, wenn uns nicht noch mehr Investitionen und Arbeitsplätze verlorengehen sollen.
Ich habe am letzten Sonntag bei der Meisterfeier der Handwerkskammer Düsseldorf eine Rede gehalten. Vorher hat der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Clement ein Grußwort für die Landesregierung gesprochen. Ich habe in meiner Rede dargelegt, daß wir den Ausschüttungssatz bei der Körperschaftsteuer und den Einkommensteuersatz für Einkünfte aus Gewerbebetrieben auf 35 Prozent begrenzen müssen, um mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. Da hat Herr Clement heftig genickt.
Ich habe dann auch gesagt: Minister Clement nickt; das finde ich erfreulich. Ich habe hinzugefügt: Wenn Sie als Vertreter der nordrhein-westfälischen Landesregierung einmal im Bundesrat genickt hätten, dann hätten wir dies schon erreicht. Aber da haben Sie blockiert.
Ich war aber bei der Frage, wie wir mehr Beschäftigung erreichen. Sie sagen: Europa - Brüssel, die Kommission und die Räte - muß jetzt auch noch Beschäftigungspolitik betreiben. Sie haben dann ein Argument angeführt, angesichts dessen ich zeigen will, warum ich anderer Meinung bin und Ihre Auffassung für falsch halte. Sie sagen: Europa ist doch längst verantwortlich; die Geldpolitik wird doch jetzt auch durch eine unabhängige Europäische Zentralbank gemacht. Das ist schon wahr. Aber genau da sind wir beim ordnungspolitischen Dissens.
Sie möchten alles durch die Politik, den Staat, die Regierung geregelt haben oder zumindest die Regierung verantwortlich machen. Wir sagen: Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen, Flexibilitäten auf dem Arbeitsmarkt, das regeln die Tarifpartner. Das nennt man Tarifautonomie.
Wir sagen: Geldpolitik ist Sache der autonomen Zentralbanken, der Deutschen Bundesbank, der Europäischen Zentralbank, und eben nicht der Politik.
Wir sind doch damit in Deutschland besser gefahren. Sie wollen diese Autonomie aufheben.
Das ist der alte Irrtum des zentralistischen Sozialismus, des Denkens in zentralistischen Bürokratien. Dies ist falsch. Wir sind anderer Meinung. Wir glauben, mit Deregulierung, mit Verteilung von Verantwortung die Kräfte für Wachstum und Beschäftigung stärken zu können. Daher müssen wir auf allen Ebenen unsere politischen Entscheidungen so ausrichten, daß wir möglichst viel Beschäftigung schaffen.
Ich sagte schon: Die Europäische Währungsunion wird nicht über Nacht - das hat auch der Bundeskanzler richtig und ehrlich dargelegt - das Beschäftigungsproblem lösen. Aber sie ist eine Entscheidung dahin gehend - wir sprechen heute über die Europäische Währungsunion und die europäische Politik; wir können nicht in einer Debatte über alles sprechen und damit im Ergebnis über nichts -, die Chancen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu verbessern. Die Europäische Währungsunion wird unsere Exporte sichern. Sie wird den Innovationsdruck zur Verbesserung der Rahmenbedingungen stärken. Deswegen ist sie gut und hilft uns - wenn wir damit nicht eine falsche Politik von noch mehr Abgaben und noch mehr bürokratischen Regulierungen verbinden, wie Sie es fordern -, das Arbeitslosenproblem schneller und besser zu bewältigen.
Also stärkt die Europäische Währungsunion die Innovationen, die wir brauchen. Denn wenn sich das Tempo der Veränderungen erhöht, dann ist die entscheidende Frage, ob wir schnell genug in der Lage sind, auf Veränderungen, die überall in der Welt stattfinden, so zu reagieren, daß wir unsere Chancen für Wohlstand, Arbeitsplätze und soziale Sicherheit auch in der Zukunft wahrnehmen. Das ist die entscheidende Frage.
Dann will ich die wirtschaftliche Integration Europas doch noch ein wenig in das einordnen, was auch dazugehört. Damit es ganz klar ist: Die Europäische Währungsunion ist vor dem Hintergrund der Vorschläge der Europäischen Kommission und der Bun-
Dr. Wolfgang Schäuble
desregierung aus wirtschaftlichen Gründen richtig. Wir brauchen für diese Europäische Währungsunion keine andere Begründung. Sie wird uns eine stabile gemeinsame europäische Währung schaffen. Sie wird die wirtschaftlichen Möglichkeiten aller in Europa, vor allem der Deutschen, verbessern.
Natürlich fügt sich diese Europäische Währungsunion auch in unsere Bemühungen ein, Europa politisch zu einigen und durch die wirtschaftliche und politische Einigung Europas eine gute Zukunft für uns alle, auch für unsere Kinder und Enkelkinder, zu sichern. Darin stimmen wir im grundsätzlichen überein. Es ist an einem solchen Tag doch nicht schlecht, daß wir mit der großen Oppositionspartei jedenfalls insofern eine prinzipielle Übereinstimmung haben.
Zum Thema Integration am Ende dieses Jahrhunderts: Der Bundeskanzler hat von der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gesprochen. Ich habe manchen Freunden gelegentlich schon einmal erzählt, daß mein Vater 1907 geboren ist. Als wir seinen 80. Geburtstag feierten, habe ich an folgendes gedacht: In der ersten Hälfte seines Lebens, von 1907 bis 1947, erlebte er das Kaiserreich, den ersten Weltkrieg, totalen Zusammenbruch, Inflation, Weimar, Hitler, den zweiten Weltkrieg - Katastrophen ohne Ende. In der zweiten Hälfte seines Lebens erlebte er Frieden, Stabilität, allmählich wachsenden Wohlstand und soziale Sicherheit ohnegleichen. Inzwischen haben wir sogar die Einheit in Frieden und Freiheit unseres ganzen deutschen Vaterlands.
Das ist doch eine unglaubliche Geschichte. Wir verdanken sie dem Weg in die europäische Integration.
Diesen Weg müssen wir konsequent fortsetzen, den Weg der Agenda 2000, also der Osterweiterung. Ich sage ganz ohne Schärfe, aber mit aller Klarheit: Wer sich bei der Frage des Beitritts unserer Nachbarn im Osten zur Atlantischen Allianz der Stimme enthält, der ist für die Zukunft unseres Landes nicht geeignet.
Herr Kollege Fischer, wer aus der NATO austritt, der hat die europäische Einigung nicht verstanden.
Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wenn wir die Politik der europäischen Integration, der Einfügung in die Wertegemeinschaft des Westens, wie sie in den 50er Jahren entstanden ist, als die beste Vorsorge für eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Stabilität in einer Welt, die sich ungeheuer verändert und in der ungeheuer viele Fragen auf uns zukommen, begreifen, dann müssen wir fähig sein, uns dazu auch in allen Teilen zu bekennen. Wenn wir darin nicht verläßlich sind, dann machen die Deutschen all die Fehler noch einmal, die die erste Hälfte dieses Jahrhunderts so tragisch geprägt haben.
Deswegen sind wir für die europäische Integration. Eine Vielzahl weiterer Debatten zu diesem Thema wird nötig sein.
Im Zusammenhang mit der Agenda 2000, also Osterweiterung, Reform der Regionalpolitik, Reform der Agrarpolitik, Finanzreform, Stärkung der demokratischen Legitimation europäischer Entscheidungen - ich denke an das Europäische Parlament und die Reform europäischer Institutionen -, Verbesserung der Effizienz der europäischen Entscheidungsprozesse und -strukturen - gerade bei mehr Mitgliedsländern -, werden wir nicht darum herumkommen, in Europa eine ernsthafte Debatte zu führen, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung hier dankenswerterweise angekündigt und angestoßen hat.
Wir müssen in Europa jetzt erst einmal ernsthaft klären, was auf europäischer Ebene gemeinsam sein muß. Wir brauchen einen gemeinsamen wirtschaftlichen Binnenmarkt und auch eine gemeinsame Währung. Ebenfalls brauchen wir eine gemeinsame Sicherheitspolitik nach innen und außen. Aber vieles andere brauchen wir in Europa nicht gemeinsam; vielmehr brauchen wir nach dem Prinzip der Subsidiarität eine Stärkung der Mitgliedstaaten und der Regionen.
Europa muß angesichts seiner unterschiedlichen Traditionen, auch in der Rechtsanwendung und im Rechtsvollzug, geradezu zwangsläufig zu einem bürokratischen Moloch entarten, wenn wir alles europäisch regeln wollten. Das kann nicht funktionieren!
Dies zu verhindern ist gerade jetzt, in der neuen Etappe europäischer Politik, von entscheidender Bedeutung. Herr Bundeskanzler, auch dafür danke ich Ihnen, daß Sie das gesagt haben. Wer könnte in Europa besser durchsetzen als Helmut Kohl, daß wir Europa vom Kopf auf die Füße stellen.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben am Schluß Monnet zitiert - auch ich zitiere ihn gelegentlich -, der gesagt hat: Wenn ich noch einmal anfangen würde, würde ich mit der Kultur beginnen. - Das ist wahr. Aber genau bei diesem Thema möchte ich den Unterschied zeigen.
Natürlich ist die Kultur die wichtigste Grundlage dessen, was uns in Europa verbindet. Aber das war immer eine Kultur der Vielfalt.
- Nein, das haben Sie nicht gefordert. Ich erläutere es einmal am Beispiel der Subsidiarität. Wenn wir Kulturpolitik zu einer Sache europäischer Politik machen wollten, wäre es das Dümmste, was wir tun könnten. Wir würden uns an der europäischen Geschichte versündigen.
Das ist Subsidiarität. Subsidiarität ist ein Wort, das viele als abstrakt empfinden und mit dem sie nichts anfangen können. Gemeint ist, zu fragen: Welche Ebene muß was entscheiden? - Wirtschafts- und
Dr. Wolfgang Schäuble
Währungspolitik können wir heute nur noch europäisch machen. Äußere und innere Sicherheit kann heute nur noch europäisch gewährleistet werden. Aber vieles andere regeln wir viel besser dezentral.
Europa war immer die Kultur der Vielfalt.
Wenn wir uns auf die Kultur zurückbesinnen, dann ist das, was der Bundeskanzler gesagt hat, noch notwendiger: Nur wenn wir Europa vom Kopf auf die Füße stellen, nur wenn die Menschen begreifen, was dort eigentlich geregelt wird, wer aus welchen Gründen entscheidet, nur wenn wir nicht jede Woche im deutschen Parlament eine Richtline umsetzen müssen, die niemand versteht, geht es in die richtige Richtung. Denken Sie nur an die Baustellenrichtlinie, mit der wir uns in dieser Woche befassen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie werden doch nicht im Ernst sagen können, daß das etwas ist, bei dem die Menschen verstehen, daß der Weg der europäischen Integration auf diese Weise in die richtige Richtung geht. So geht er in die falsche Richtung!
Wir haben in Deutschland doch gute Erfahrungen mit dem föderalen System. Wir können das doch anbieten! Wir haben in Deutschland seit fast 50 Jahren unser Grundgesetz. Nach diesem Grundgesetz sind die Länder zum Beispiel für die Regionalpolitik zuständig. Die Tatsache, daß die Bundesländer selber für die Regionalpolitik zuständig sind, hat zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Die kann man übrigens in der ersten Reihe der Bundesratsbank besichtigen, wenn man die Verhältnisse in den einzelnen Bundesländern, je nachdem, wer gerade regiert, kennt.
Herr Stoiber, Sie müssen das ertragen: Wir BadenWürttemberger führen gelegentlich eine Diskussion, ob wir nicht mindestens so gut wie die Bayern sind. Aber die Saarländer brauchen diese Debatte nicht zu führen; die Niedersachsen auch nicht. Die haben schlechtere Ergebnisse.
- „Alles falsch", sagt Herr Lafontaine. Da Sie es auch sonst so mit Statistiken und Zahlen haben, sollten Sie sich einmal ansehen, wie es im Lande Niedersachsen aussieht. Ich will jetzt gar nicht vom Saarland sprechen. Da haben Sie einige besondere Strukturprobleme. Da ist etwas dran, obwohl das nicht alles erklärt.
- Frau Kollegin Fuchs, Sie stammen doch aus Niedersachsen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, man muß wissen, daß Frau Fuchs einmal in Niedersachsen bei einem parteiinternen Wettbewerb gegen Herrn Schröder verloren hat. Damals haben Sie es durch Delegierte entschieden. Dieses Mal haben sie eine Art verdeckte Wahlkampffinanzierung gemacht, indem Sie über eine Landtagswahl eine Personalentscheidung getroffen haben. Aber die Art, in der Sie sich von Niedersachsen distanzieren, ist interessant.
Niedersachsen, das schöne, große Land Niedersachsen, hat unter der deutschen Teilung mehr gelitten als andere Bundesländer, weil es die längste innerdeutsche Grenze hatte. Mich wundert aber, warum Niedersachsen seit Überwindung der deutschen Teilung, seit 1990, im Vergleich zu anderen westdeutschen Ländern seine Position verschlechtert hat, obwohl der strukturelle Nachteil überwunden ist. Dafür hätte ich von Ihnen gern eine Erklärung. Ich wollte aber etwas zum Föderalismus sagen: Die Tatsache, daß die Regionalpolitik in Deutschland nach unserem Grundgesetz Sache der Bundesländer ist, hat nie dazu geführt, daß irgend jemand auf die Idee kam, das sei ein Verstoß gegen das Wettbewerbsgesetz.
Die Tatsache, daß in Deutschland in erster Linie die Länder für die Kultur zuständig sind, hat für die kulturelle Vielfalt in Deutschland gute Ergebnisse gebracht. Wenn die Länder jetzt noch in einen echten Wettbewerb eintreten, wer die besseren Ergebnisse in Schule und Hochschule, wer ein größeres Maß an Innovationsfähigkeit unseres Bildungssystems zustande bringt, dann ist das auch gut.
Wir werden in Europa, in der europäischen Integration, die so schicksalhaft ist, die das Wichtigste und Beste ist, was wir am Ende dieses Jahrhunderts auf dem weiteren Weg zustande bringen können, nur dann erfolgreich sein, wenn wir die Dinge, die Europa nur gemeinsam machen kann, wirklich europäisch integrieren - dazu gehört auch die Währungsunion - und die Dinge, die besser durch Tarifpartner, durch eine autonome Währungsbank, durch Mitgliedstaaten und Regionen geregelt werden, im Sinne von Deregulierung und Dezentralisierung in einem Europa der Vielfalt nicht bürokratisch zentralisieren. Dann wird auch die Reform der europäischen Institutionen - Kommission, Rat, Parlament - möglich sein, so daß die Menschen verstehen, wer was und aus welchen Gründen entscheidet. So gewinnt Europa die Legitimität, die Europa braucht, so daß die Menschen verstehen: Europa, europäische Einigung ist das Beste für unsere Zukunft im kommenden Jahrhundert.
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Matthäus-Maier.
Herr Schäuble, Sie haben mich angesprochen, haben sich wieder zur
Ingrid Matthäus-Maier
Steuerpolitik der SPD geäußert und gesagt, wir seien ja nicht bereit, Steuersätze zu senken. Ich glaube, gerade nach der gestrigen Aktuellen Stunde sollten Sie das wirklich lassen. Wir unterscheiden nämlich, wie Sie wissen, in Deutschland betriebliche, gewerbliche und nicht gewerbliche Steuersätze. In unserem Programm steht - und das haben wir mehrfach bekräftigt -, daß wir die Steuersätze für die Betriebe sowohl bei der Körperschaftsteuer als auch für Mittelstand, Handwerk und Einzelhandel senken wollen, und zwar bis auf 35 Prozent. - Wenn Herr Clement dazu nickt, so hat er recht,
gerade auch deshalb, weil die Steuersätze - nicht die Steuerbelastung, wegen der Abschreibungs- und Rückstellungsmöglichkeiten - in Deutschland im internationalen Vergleich zu hoch sind. Jetzt geht es aber um die nichtgewerblichen Steuersätze. Auch diesen Steuersatz wollen wir senken, unten beim Eingangssteuersatz und oben beim Spitzensteuersatz auf 49 Prozent. Indem Sie das dauernd verschweigen, wollen Sie den Menschen vormachen, wir wollten die Steuern nicht senken.
Der Unterschied zwischen unseren beiden Gruppierungen hier ist: Der Kern Ihrer Entlastung liegt bei hohen und höchsten Einkommen, beim Spitzensteuersatz, der Kern unserer Entlastung liegt beim Durchschnittsverdiener, bei Familien mit Kindern.
Daß Sie das immer so machen und dann den Vorwand Europa und Steuersätze benutzen, um Umverteilung von unten nach oben zu betreiben, das sieht man an der Vermögensteuer. Gemeinsam mit Ihnen haben wir die betriebliche Vermögensteuer abgeschafft,
weil es unsinnig ist, die Betriebe mit Vermögensteuer zu belasten, wenn sie mehr Eigenkapital haben wollen. Es war aber ein schwerer Fehler, daß Sie auch die private Vermögensteuer ohne jede Not abgeschafft haben, meine Damen und Herren.
Und wenn Oskar Lafontaine sagt - was wir immer gesagt haben -, wir wollen Steuerdumping, einen Steuersenkungswettlauf in Europa verhindern, dann haben Sie das verdreht und gesagt, wir wollten die Menschen steuerlich nicht entlasten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Da in Europa ein Steuerdumping stattfindet, werden diejenigen, die sich dem nicht entziehen können, nämlich die Arbeitnehmer, immer mehr belastet. Das wollen wir nicht. Indem Sie das bis heute nicht verhindert haben, sind Sie mit daran schuld, daß in diesem Lande und europaweit Arbeitnehmer die Zeche für Steueroasen und Steuerflüchtlinge bezahlen, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, wir führen jetzt ja nicht eine Steuerdebatte im Detail. Der Unterschied zwischen unseren Positionen ist in Wahrheit: Sie wollen erstens keine Entlastung, sondern Sie wollen eine einkommensneutrale Regelung.
Ein weiterer Punkt: Herr Clement weiß es - er hat es mir ausdrücklich bestätigt; Sie wissen es übrigens auch; deswegen sollten Sie hier nicht das Gegenteil behaupten -: Wenn Sie den Körperschaftsteuersatz bei thesaurierten Gewinnen und den Einkommensteuersatz bei Einkünften aus Gewerbebetrieb auf 35 Prozent senken, können Sie den Einkommensteuersatz für alle anderen Einkunftsarten unter gar keinen Umständen bei 49 Prozent belassen. Sie wissen das.
Warum reden Sie wider besseres Wissen? - Sie beleidigen sich selbst. Ich muß Sie ja vor sich selbst in Schutz nehmen.
- Ja, natürlich. Es macht doch keinen Sinn! Sie verwirren die Menschen.
Ich sage Ihnen jetzt etwas zur Vermögensteuer: Sie haben in dieser Beziehung überhaupt nichts gemacht. Es ist doch nicht wahr, wenn Sie hier sagen, Sie hätten mit uns gemeinsam die betriebliche Vermögensteuer abgeschafft.
- Verzeihen Sie: Überhaupt nichts haben Sie gemacht.
Außerdem will ich auf folgendes verweisen: Sie müßten beim nächsten Mal, wenn Sie das Wort im Deutschen Bundestag haben, einmal erklären, was Sie unter „betrieblicher Vermögensteuer" verstehen. Sie erwecken den Eindruck, die Steuer, die auf Betriebsvermögen entrichtet werden muß, sei die Vermögensteuer, die Sie meinen. Sie wissen genau - wir haben darüber diskutiert; Herr Schleußer, von dem ich hoffe, daß er bald wieder bei unseren gemeinsamen Beratungen - wenn es sie gibt - dabeisein kann, hat damals in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen meine diesbezügliche Frage nicht beantworten können; Sie waren doch dabei -, daß Sie die einzelnen Vermögensarten bei der Vermögensteuer nicht so genau abgrenzen können,
daß Sie sagen könnten: Für Betriebsvermögen erheben wir keine Vermögensteuer; für andere Einkunftsarten aber schon.
- Das haben Sie doch gar nicht gemacht; lesen Sie doch einmal Ihr Programm. Sie wissen es! Deswegen hören Sie auf, im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck zu erwecken.
Dr. Wolfgang Schäuble
Was Sie meinen, ist folgendes: Sie wollen die Vermögensteuer, die Körperschaften entrichten müssen, abschaffen, und die Vermögensteuer, die Einzelpersonen entrichten müssen, wollen Sie nicht abschaffen. Das ist der Inhalt Ihres Vorschlags. Das nennen Sie „Betriebsvermögensteuer" . Das ist aber eine große Täuschung, weil die Menschen etwas anderes darunter verstehen.
Daraus ergibt sich folgendes Problem: Im Gegensatz zu Frankreich und anderen europäischen Ländern sind bei uns in Deutschland 80 Prozent aller Unternehmen nicht körperschaftsteuerpflichtig, weil sie nämlich keine juristischen Personen, keine Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung sind. Solche Unternehmen entrichten Körperschaftsteuer. Für die - und nur für die - wollen Sie die Vermögensteuer abschaffen. Bei uns sind aber 80 Prozent aller Unternehmen Einzelunternehmen und Personengesellschaften, die einkommensteuerpflichtig sind. Für die wollen Sie die Steuersätze nicht senken, für die wollen Sie die Vermögensteuer wieder einführen. Damit zerschlagen Sie die mittelständische Struktur unserer Wirtschaft. Deswegen sind wir anderer Meinung.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schäuble, ich habe es jetzt endlich, nach vielen, vielen Monaten, verstanden: Die Abschaffung der Vermögensteuer war die Rettung des deutschen Mittelstandes im letzten Augenblick. Das ist Ihr Argument. Ein dämlicheres Argument habe ich, ehrlich gesagt, in diesem Zusammenhang noch nicht gehört.
Gestatten Sie mir im Wahlkampfteil dieser Debatte noch eine zweite Vorbemerkung:
Hier wird so getan, als ob sich in der Steuerpolitik grundsätzliche Alternativen - vor allen Dingen, was die beiden großen Parteien betrifft - gegenüberständen. Wenn ich die Informationen, die ich aus den Sitzungen des Vermittlungsausschusses und auch aus den verschiedenen Gesprächen und Debatten hier bekommen habe, bilanziere, dann muß ich sagen: Es verhielt sich so, daß man sich fast einig war in bezug auf eine Senkung des Spitzensteuersatzes in Richtung 45 Prozent, auf einen Eingangssteuersatz von 18,5 bis 19 Prozent, einen linear-progressiven Tarifverlauf und darüber, daß dieses durch das Streichen
von Steuerumgehungstatbeständen und Steuersubventionen gegenfinanziert werden könnte und daß es zu einem Verzicht auf eine Nettoentlastung kommen müßte, weil Theo Waigel das Geld dafür schlicht und einfach nicht hat. Wäre es vorhanden, wären wir alle für eine entsprechende Nettoentlastung. Wir sind aber gegen eine entsprechend höhere Neuverschuldung, die zu Lasten der abhängig Beschäftigten und der sozial Schwachen durch das Streichen von sozialen Transferleistungen finanziert werden müßte. Gescheitert, Herr Kollege Schäuble, ist eine vernünftige Steuerreform allein an der F.D.P. Sie hat dafür gesorgt, daß der ausgehandelte Kompromiß des Vermittlungsausschusses in der Koalition nicht durchsetzbar war.
Ich frage mich, ob wir uns einen Gefallen tun - die wir alle miteinander im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion dafür sind, daß die Funktion der D-Mark auf den Euro übertragen wird -, wenn wir diese Debatte mit einer durchsichtigen Wahlkampfdebatte verknüpfen. Wir sollten uns nämlich nichts vormachen: Das Mißtrauen in allen politischen Lagern innerhalb der Bevölkerung ist groß. Dieses Mißtrauen werden wir auch nicht durch Wahlkampfgetöse überdecken können. Ich sage dieses als ein entschiedener Befürworter der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Lassen Sie mich in dieser Debatte die aus unserer Sicht entscheidenden Gründe, die historischen und die aktuellen Gründe, für die Schaffung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kurz bilanzieren:
Die gemeinsame europäische Währung ist zuerst und vor allem ein politisches Projekt. Dieser Gesichtspunkt kommt in dieser Debatte meines Erachtens zu kurz. Alle Redner haben die historische Bedeutung angesprochen, die der europäische Integrationsprozeß besitzt. Alle Vorredner haben angesprochen, daß der Euro ein entscheidender Schritt zur Überwindung der Ära der Konfrontation in Europa sein wird. Der Nationalstaat im Europa des 19. Jahrhunderts hat sehr viel Gutes bewirkt. Er hat den europäischen Völkern ein Zuhause gegeben. Er hat Demokratie und soziale Gerechtigkeit organisiert und durchgesetzt. Er hat die Grundwerte der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit -, auf denen die europäischen Demokratien fußen, dort durchgesetzt, wo er sich demokratisch organisiert hat.
Aber der europäische Nationalstaat war zugleich die Geburtsstätte der schlimmsten Pest unseres Kontinents, nämlich des Nationalismus und des Rassismus. Gerade Deutschland mit seiner verunglückten Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert - und demnach auch seiner brutalen, seiner katastrophalen Geschichte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts - muß wissen, was wir dem europäischen Einigungsprozeß als Volk, als Nation verdanken.
Joseph Fischer
Ich sehe zu einer vollen europäischen Integration im Hinblick auf die Interessen unseres Landes keine Alternative. Ich warne vor jeder anderen Politik. Das sage ich gerade für meine und für die jüngere Generation, denn die ältere Generation, die noch Kriegserfahrung sammeln konnte - und sei es nur als junge Soldaten oder als Heranwachsende in der Funktion von Flakhelfern -, wird sich jetzt aus der politischen Verantwortung zurückziehen.
Herr Stoiber, ich erinnere mich an Ihr „SZ"-Interview. Ich sage aber auch in Richtung Gerhard Schröder: Ich warne vor jeder Lockerung der europäischen Bindungen unseres Landes. Das würde im Ausland mit sehr großem Mißtrauen betrachtet werden. Ich sage das auch in Richtung jener in meiner Fraktion, die in diesen Fragen anderer Meinung sind als ich. Wegen der Bedeutung der CSU und des Freistaates Bayern, aber auch wegen des Einflusses des Kanzlerkandidaten betone ich: Wenn Gerhard Schröder sagt, er wolle Europäer sein, er müsse es aber nicht sein, dann halte ich ihm entgegen: Aus deutschem Interesse und vor dem Hintergrund unserer Geschichte, aber auch unserer gemeinsamen Zukunftsgestaltung müssen wir Europäer sein.
Mit der Entscheidung heute macht der Deutsche Bundestag - gemeinsam mit den anderen Parlamenten, die der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zustimmen werden - einen historischen Schritt in der europäischen Geschichte. Es ist der wichtigste Schritt seit dem Ende des kalten Krieges und der deutschen Einheit. Denn zum erstenmal - das ist ein historisches Gründungsprojekt eines neuen Völkerrechtssubjekts, eines politischen Subjekts Europa - wird aus den Kernbereichen nationalstaatlicher Souveränität - Sicherheit, Verfassung, Demokratie und Geld - einer dieser Kernbereiche auf eine europäische Institution übertragen. Das ist ein Schritt von historischer Dimension, den man in dieser Debatte nicht unterbewerten sollte und der vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte meines Erachtens eine doppelte Bedeutung hat. Ich habe es vorhin schon angesprochen.
Aber auch unter dem Gesichtspunkt der Zukunftsgestaltung wird Europa nur eine reine Wirtschaftsunion mit einem gemeinsamen Markt bleiben, wenn wir nicht noch zur aktiven Zeit unserer Generation den Schritt zu einer europäischen Demokratie, zu einem politischen Subjekt Europa hinbekommen und wenn wir nicht unter den Bedingungen einer sich globalisierenden Welt Objekt anstatt Subjekt werden.
Vor dem Hintergrund unserer Geschichte sehe ich zu der notwendigen Sozialstaatsintegration keine Alternative; denn anders als in den USA oder in der angelsächsischen Tradition werden, wenn sich Millionen von Menschen in globalisierten Märkten unbehaust fühlen, Nationalismus und Rassismus zur großen Verführung werden. Das ist keine Lösungsperspektive, sondern nur eine Chaosperspektive, und unsere Länder hätten erneut einen furchtbaren Preis dafür zu bezahlen.
Diese Betrachtungsweise gebietet es, daß wir den Einigungsprozeß beschleunigt voranbringen. Gerade deswegen, weil wir ein klares eindeutiges Ja zum Vorschlag der EU-Kommission auf der Grundlage der Elf und damit zum Vorschlag der Bundesregierung sagen, halten wir es für dringend geboten, Herr Bundeskanzler, daß wir hier nicht nur in Sonntagsreden Vorteile herausstellen, sondern als Befürworter dieses historischen Prozesses endlich in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Kritikerinnen und Kritikern eintreten.
Hier machen Sie es sich etwas zu einfach. Ich hätte mir gewünscht - aber das scheint vor allen Dingen in Wahlkampfzeiten in der CDU/CSU nicht üblich zu sein, vielleicht macht das aber noch Herr Stoiber -, daß die Debatte - hier gibt es viel Bedenkenswertes -, die in der CSU zu einer echten Zerreißprobe geführt hat und vermutlich im Zusammenhang mit der Agenda 2000 - -
- Ja, wir sind am Zerreißen, Herr Glos.
Herr Schäuble, Sie haben vorhin zu Recht - ich würde das an Ihrer Stelle auch machen - auf uns draufgehauen. Sie kennen meine Position und mein Abstimmungsverhalten, aber Sie kennen auch die Geschichte der CDU und der CSU. Angesichts Ihrer Abstimmungsprobleme - ich erhebe mich nicht darüber, sondern das ist ein demokratischer politischer Prozeß - im Zusammenhang mit den Ostverträgen - ich bin alt genug, mich daran erinnern zu können -,
mit der Ratifizierung der KSZE-Schlußakte und all diesen Dingen sind Sie der letzte, der sich über eine Fraktion, die es sich weiß Gott nicht leichtmacht, erheben sollte.
1983 war bei Ihnen die Deutschlandpolitik alles andere als geklärt. Ich hatte gerade wieder das Vergnügen, das detailliert nachzulesen. Sie haben zwar den Währungsprozeß herbeigeführt. Aber die Anerkennung der polnischen Westgrenze war bei Ihnen bis zum Vorabend der deutschen Einheit umstritten. Das wollen wir nicht vergessen.
Zurück zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, zum Euro: Herr Stoiber, mich interessiert jetzt nicht Ihre Position zur Agenda 2000; ich behaupte, das ist eine vorgeschobene Debatte. Ebenso
Joseph Fischer
ist die Frage des Kohäsionsfonds eine vorgeschobene Debatte. Aber dahinter steckt die Osterweiterung der Europäischen Union, und die Osterweiterung der Europäischen Union fürchten Sie. Die Reform des Agrarmarktes wird eine der ganz entscheidenden Bedingungen für die Osterweiterung sein.
Sie müssen im Klartext sagen, wie Sie es mit der Osterweiterung der Europäischen Union halten. Sich hinstellen und sagen, ja, wir sind für die Erweiterung der Europäischen Union, aber die materiellen Bedingungen, die dafür zu schaffen sind, lehnen wir ab, bedeutet faktisch ein verklausuliertes Nein. Das wissen Sie genausogut wie ich.
Hier erwarte ich von Ihnen Klartext darüber, wie Sie es mit der Osterweiterung der Europäischen Union tatsächlich halten; denn das wird ein sehr schwieriges Problem. Ich rede gar nicht darum herum: Im Zusammenhang mit der Osterweiterung wird es ein Problem des Ausgleichs geben; Stichwort: Kohäsionsfonds. Das wird eine sehr schwierige innenpolitische Frage wegen der zusätzlichen Belastungen unserer Bevölkerung angesichts der strukturellen Probleme, die Sie uns hinterlassen werden. All diese Probleme spielen eine große Rolle. Deshalb sollten Sie sich nicht hinter einer agrarpolitischen Debatte verstecken, sondern im Klartext sagen, wie Sie es mit der Osterweiterung der Europäischen Union halten.
Ich möchte hier noch auf einen anderen Kritiker aus der Union eingehen, der, wie ich finde, ein sehr bedenkenswertes Positionspapier geschrieben hat, in dem er für eine Verschiebung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion plädiert: Kurt Biedenkopf. Ich gehe deswegen auf ihn ein, weil ich die Argumente, die er in sechs Punkten zusammenfaßt - ich komme zu völlig anderen Konsequenzen -, für sehr bedenkenswert halte.
Hier ist der entscheidende Punkt, daß er sagt: Das Hauptproblem - ich weiß, das ist nicht die Schuld der Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers in Maastricht gewesen - ist der Verzicht auf eine gesicherte Verbindung der Währungsunion mit der Politischen Union. Bei allem, was Sie, Herr Bundeskanzler, heute dargestellt haben und was Herr Schäuble noch präzisiert hat: Das wird einen gewaltigen Druck auf das Schaffen des demokratischen, des politischen, aber auch des sozialen Europa geben. Eine Währungsunion, die sich nur als eine Deregulierungsveranstaltung darstellen wird, die die Menschen als eine Bedrohung erfahren, fährt krachend gegen die Wand.
Deswegen geht es nicht darum, daß wir eine neue Ebene von Sozialbürokratie, daß wir eine neue Ebene von staatlichen Transferleistungen in Brüssel schaffen; aber wir müssen doch eine gemeinsame politische Anstrengung machen, um endlich von diesen 18 Millionen Arbeitslosen in Europa herunterzukommen.
Wenn sich die Währungsunion für die Menschen nur als eine kalte Veranstaltung der Märkte, als eine kalte geldpolitische Veranstaltung darstellen wird, für die die Mehrheit die Zeche in Form von Drohung von Arbeitslosigkeit oder realer Arbeitslosigkeit zahlen muß, dann wird dieses Projekt scheitern; und es darf nicht scheitern.
Meine Damen und Herren, ich teile Ihre Bedenken: keine Politisierung der Geldpolitik.
Umgekehrt wissen Sie aber, daß wir als Konsequenz Währungs-, Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik vergemeinschaften müssen. Ich finde, das Vorgehen Frankreichs ist alles andere als von Weisheit geprägt, was die Besetzung des ersten Präsidenten der Europäischen Zentralbank betrifft. Selbstverständlich kann niemand der Französischen Republik sagen, sie dürfe das nicht. Selbstverständlich darf jedes Mitglied einen Vorschlag machen. Aber ob das von politischer Weisheit geprägt ist, das wage ich sehr zu bezweifeln.
Nur, ich sage Ihnen an diesem Punkt klipp und klar: Nicht kommen darf eine Politisierung der Geldpolitik im Sinne der Kontrolle und im Sinne des Durchgriffs auf die Zinsgestaltung bei der Europäischen Zentralbank. Aber eine koordinierte Abstimmung der Wirtschafts-, der Finanz- und der Haushaltspolitik ist eine notwendige Konsequenz des Schrittes, den wir heute beschließen. Ansonsten wird dieses Parlament abdanken.
Deswegen wundere ich mich. Ich rege an, daß das Haus eine Initiative übernimmt, um die Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik in einem gemeinsamen Ausschuß mit den anderen beteiligten Nationalparlamenten zu koordinieren. Denn wir werden mit diesem Schritt zum gemeinsamen Geld einen wesentlichen Teil von Souveränität, der auch in diesem Parlament liegt, faktisch über die Nachhaltigkeit der Kriterien auf eine europäische Institution übertragen. Im Sinne der Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Parlamentarismus rege ich an, ernsthaft fraktionsübergreifend darüber nachzudenken, daß wir eine solche Initiative gemeinsam ergreifen sollten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Herr Kol-
Joseph Fischer
lege Schäuble, Sie haben die Arbeitslosigkeit angesprochen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist das drängendste Problem. Sie haben die nationale Verantwortung angesprochen. Nun habe ich mir dieser Tage in Vorbereitung auf diese Debatte eine interessante Pressemeldung vom 10. Februar 1998 zum Thema EU-Arbeitslosigkeit herausgesucht, in der es um einen Bericht von Eurostat, dem europäischen statistischen Zentralamt, geht. Dort steht:
Während die Zahl der Menschen ohne Beschäftigung in Deutschland stetig steigt, sinkt die Arbeitslosenquote im europäischen Durchschnitt. ... Deutschland ist nach Eurostat-Zahlen das einzige EU-Land, das in 1997 einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verzeichnete.
- Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Da wird die Verantwortung der Tarifpartner eingeklagt. Das Statistische Bundesamt hat dieser Tage Zahlen veröffentlicht, nach denen wir jetzt zum erstenmal eine Negativentwicklung bei den durchschnittlichen Nettoeinkommen haben. Wenn Sie sich die Entwicklung der Massenkaufkraft anschauen, dann werden Sie feststellen, daß wir gegenwärtig auf Grund politischer Fehlsteuerungen, die diese Regierung zu verantworten hat, in einer doppelten Falle sitzen, die die Arbeitslosigkeit nach oben treibt. Die Bruttolöhne steigen nämlich nach wie vor, während gleichzeitig das verfügbare Einkommen, das die Menschen in der Tasche haben, weiter abnimmt. Das heißt im Klartext: Die Nachfrage bricht weiter weg, kommt nicht richtig auf die Beine. Gleichzeitig bleibt der Rationalisierungsdruck auf Grund hoher Bruttolöhne bei den Unternehmen erhalten. Sie können nicht einstellen, sondern entlassen weiterhin. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik.
Gestern war der 1. April. Es war kein Aprilscherz: Gestern wurde die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht. Warum wurde sie erhöht? Sie wurde um einen Prozentpunkt erhöht, damit sich die Rentenversicherungsbeiträge nicht von 20,3 Prozent auf 21 Prozent - eine historisch einmalige Größenordnung - erhöhen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, weil Sie keine Strukturreformen durchgeführt haben, solange noch Geld in den öffentlichen Haushalten war.
Nehmen wir die Position, die der Bundeskanzler auf dem letzten G-7-Gipfel in Denver gemeinsam mit den anderen Staats- und Ministerpräsidenten aus der EU gegenüber dem US-Präsidenten vertreten hat. Wenn ich mir gleichzeitig unsere Umweltbilanz anschaue, dann sage ich Ihnen: Der Weg über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ist der falscheste, den
Sie gehen können. Wenn Sie die Arbeitslosigkeit in diesem Land beseitigen wollen, dann müssen Sie den Menschen sagen, wie Sie die hohen Bruttolohnkosten senken wollen. Sie werden es nicht über ein Absenken der Nettolöhne erreichen, wie es Herr Schäuble mit seiner Forderung, weitere Lohnzurückhaltung bei den Tarifrunden zu üben, gegenwärtig predigt. Sie werden es entweder durch eine Senkung der Renten hinbekommen, aber da trauen Sie sich zu Recht nicht ran, denn das wäre eine soziale Sauerei und würde Sie endgültig die Mehrheitsfähigkeit kosten, oder aber durch Gegenfinanzieren und Umfinanzieren. Da bleiben Ihnen zwei Möglichkeiten: Entweder erhöhen Sie die Mehrwertsteuer weiter - es wird nicht bei diesem einen Prozentpunkt bleiben -, oder Sie haben endlich den Mut, eine ökologische Steuerreform in die Einkommensteuerreform zu integrieren,
um zu einer Gegenfinanzierung zu kommen.
Meine Damen und Herren, wir müssen ernst machen mit einer aktiven Politik gegen die Arbeitslosigkeit - ich sage noch einmal: Das zentrale Problem für ein Europa mit 18 Millionen Arbeitslosen wird der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sein - und dürfen sie nicht dauernd nur bejammern, wie es der Bundeskanzler tut. Wir müssen endlich von den hohen Lohnnebenkosten herunterkommen, wenn wir die Arbeitslosigkeit reduzieren wollen. Das geht nicht durch Rentenkürzungen und auch nicht durch weitere Mehrwertsteuererhöhungen, sondern wir müssen endlich die Arbeit verbilligen und die Umweltkosten entsprechend verteuern.
Eine andere Alternative sehe ich nicht.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland wird seine Rolle - das hat der Kollege Fischer mit Recht vorgetragen - international nur stabil halten, wenn es in Europa eingebettet ist und bleibt. Das ist unstreitig. Nur, Herr Kollege Fischer, die durch Ihre Rede entstandenen Nebel möchte ich hier doch lichten.
Sie haben geschildert, wie sich der Nationalstaat zu einem gewohnten Gehäuse für die Menschen entwickelt hat, und sehen in dem qualitativen Sprung nach Europa eine Herausforderung für die Politik, der den Menschen vermittelt werden muß, weil sich für sie alle Lebensumstände ändern. So kann jemand wie Sie hier aber nicht auftreten, nachdem er sich bei
Dr. Wolfgang Gerhardt
der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages zur Osterweiterung der EU enthalten hat,
zum Maastricht Vertrag nein gesagt hat, in bezug auf den IFOR-Einsatz in Bosnien sprachlos war und den SFOR-Einsatz abgelehnt hat. Sie geben keine europäische Antwort zu den Themen der Zeit!
Ich wiederhole es: Es geht hier in der Debatte nicht darum, ob Sie als Joseph Fischer eine Tapferkeitsauszeichnung für Ihre Realo-Positionen in der GrünenFraktion bekommen,
sondern hier müssen die zentralen Fragen deutscher Politik aus gemeinsamer Verantwortung beantwortet werden,
und die will ich für meine Fraktion eindeutig beantworten.
Die F.D.P. stimmt, Herr Bundeskanzler, der von der Bundesregierung eingebrachten Vorlage zur Wirtschafts- und Währungsunion zu. Für uns ist der Euro die Visitenkarte Europas auf den Märkten der Welt.
Die Europäische Zentralbank ist für uns eine ordnungspolitische Revolution in Europa, über die wir uns freuen sollten, weil sie die Konstruktion unserer Geldpolitik übernimmt.
Reformpolitik in allen Gesellschaften ist Voraussetzung für die Stabilität dieser Währung. Ihre Chancen sind weitaus größer als die Risiken. Deshalb ist jetzt politische Führung und Überzeugung gefragt. Wer jetzt zaudert, wer jetzt zögert, wer sich jetzt herumdrückt, wer verschiebt, der verpaßt die Zukunft Deutschlands. Dem wollen wir entgegentreten.
Es ist ganz eindeutig: Die Wirtschafts- und Währungsunion liegt im Interesse der deutschen Wirtschaft und aller Beteiligten. Der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen nutzt auf Grund unserer geographischen Lage keiner Nation soviel wie uns. Die Europäische Union - das weiß doch jeder, ist ein riesengroßer Markt.
Die Stabilitätsanstrengungen haben schon jetzt zu einer neuen Kultur in Europa geführt. Wer hätte es denn für möglich gehalten, von einer zweistelligen Inflationsrate auf heute 2 Prozent zu kommen?
Das soll man doch nicht herunterreden. Da soll man doch Menschen keine Angst machen. Die einzigartigen Chancen, die in diesem Prozeß stecken, sollten wir jetzt nutzen.
Der Euro wird eine weltweit beachtete Währung sein. Er wird uns auf den Märkten der Welt nicht schaden, sondern zieren. Er ist mehr als nur ein monetärer Ausdruck. Jede Währung - im übrigen auch die D-Mark - war nur so stark wie die Gesellschaften, die hinter der Währung standen.
Eine Bundesbank allein, eine Europäische Zentralbank allein macht Geld nicht stabil. Wenn die europäischen Gesellschaften, die hinter der Währung stehen, nicht innovativ sind, wenn sie nicht modernisierungsbereit sind, wenn sie Angst vor der Zukunft haben und wenn sie nicht die Courage haben, Reformen anzugehen und auch unbequeme Entscheidungen zu tragen, dann wird die Europäische Zentralbank die Stabilität des Euro nicht retten, dann werden ihn die Gesellschaften instabil machen. Deshalb ist der nationale Beitrag Deutschlands nicht nur der Beschluß, den wir fassen, sondern die Fortsetzung der Reformpolitik. Die macht den Euro stabil; darauf kommt es an.
Die Europäische Zentralbank, deren Kritiker nach Karlsruhe gegangen sind - überall verbreiten sie Angst, wohin das führt -, wird herausgefordert sein, besonderen Wert auf Stabilität zu legen. Gerade die erste Amtszeit dieser Europäischen Zentralbank fordert heraus, und zwar mehr als die vierte Amtszeit eines Bundesbankpräsidenten. Deshalb sage ich als freier Abgeordneter hier ganz deutlich: Wir haben die Amtszeit des Präsidenten bewußt auf acht Jahre festgelegt und die Möglichkeit einer Wiederwahl ausgeschlossen, um den Präsidenten unabhängig zu machen. Deshalb kann es nicht zwei Präsidenten, nicht zwei Amtszeiten geben, sondern nur eine Amtszeit und einen Präsidenten. Ich spreche mich für die Liberalen für Wim Duisenberg aus.
Das ist kein Affront gegenüber unseren französischen Nachbarn; aber eine Stabilitätskultur prägt sich auch in symbolhaften Entscheidungen aus. Diese ist verbunden mit einer Amtsperiode und einem Präsidenten. Da darf es kein Hin und Her geben.
Wir sind aufgefordert, die Haushalte weiter zu konsolidieren, die Finanzpolitik so fortzusetzen, wie sie begonnen worden ist, strukturelle Defizite zu beseitigen. Deshalb ist die Alternative der Sozialdemokratischen Partei nicht tragfähig, alles wieder zurückzunehmen, „Vorwärts Genossen, es geht zurück!" zu propagieren. Das hilft einer stabilen europäischen Währung nicht.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Der Modernisierungswille einer Gesellschaft, ihre Kraft, die Menschen in die Zukunft zu bringen - das ist die Voraussetzung für Stabilität der Währung,
nicht die Beschwichtigung jedes denkbaren Einwandes.
Wenn es eine deutliche, klare Kritik an dem Kanzlerkandidaten der SPD geben muß, dann diese: Er plakatiert „Ich bin bereit!", zeigt aber keine politische Führungskraft.
Über eine „Frühgeburt" jammern kann doch nur der, der beim Zeugungsakt wohl nicht zugegen gewesen ist.
Die Sozialdemokratische Partei aber hat diesen Zeugungsakt mit veranstaltet. Sie kannte die Termine auf dem Weg zu einer europäischen Währung genausogut wie wir. Sie kannte im übrigen auch die Widerstände. Sie hat damals bei der baden-württembergischen Landtagswahl erste Versuche gestartet, den Euro etwas zur Disposition zu stellen.
Sie hat im Wahlergebnis gemerkt, daß dies ganz anderen nutzt als ihr selbst.
Ich kann den Kanzlerkandidaten nur auffordern, sich europäisch zu verhalten, wenn er europäische Politik machen will.
Unsere ältere Generation hat zwei Hyperinflationen erlebt. Sie hat die Entwertung sämtlicher Werte in diesem Jahrhundert als persönliches Schicksal empfunden. Wir verstehen, daß eine solche Generation überzeugt werden muß, daß sie Schwierigkeiten hat mit dieser Situation. Auf der anderen Seite hat die junge Generation, Herr Fischer, die stalinistische Diktatur nicht erlebt. Auch das, was die Nationalsozialisten angerichtet haben, liest sie nur aus dem Geschichtsbuch. Sie fragt sich heute, da Europa militärisch nicht mehr bedroht ist, ob wir das alles machen müssen, und ärgert sich über manche Brüsseler Bürokratie, die auch uns unerträglich erscheint. Aber diese Generation wird ihre Zukunft nur durch die europäische Einbindung Deutschlands erfahren. Sie wird nur dann ihre Lebenschancen nutzen können.
Deshalb wäre es der größte politische Fehler -Ängste aufnehmen muß man immer -, Ängsten nachzugehen, nachzulaufen und sie zu schüren.
Es ist doch einfach wahr, daß wir alle nicht nur an diesem Tag, sondern schon einige Male das große Glück hatten, uns in diesem Plenum über europäische Erfolge zu freuen. Ernst Jünger, der vor kurzem verstorben ist, ist einmal gefragt worden, was er der
jungen Generation Deutschlands heute sagen würde. Man stellt sich da auf eine komplizierte Antwort ein, wie man sie von unsereinem so gewohnt ist. Aber er hat mir gesagt: Sie kann Hoffnung haben. - Das ist das Allergrößte, was man in Deutschland gegenwärtig sagen kann.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, der Bundeskanzler, der Kollege Schäuble haben darauf hingewiesen - und auch ich will das tun -: Es ist wirklich notwendig, das Subsidiaritätsprinzip konsequent anzuwenden. In Vorgängen des täglichen Lebens kommt wirklich erst die Gemeinde, dann das Land, dann der Bund, dann Europa.
Es ist richtig, daß wir Europa nicht nur als Geld-und Krediteuropa verstehen dürfen. Die kulturelle Dimension darf nicht beiseite treten. Aber die kulturelle Dimension wird in Brüssel auch nicht künstlich kreiert. Der gute europäische Film ist der gute ungarische Film; der gute europäische Film ist der gute polnische Film; der gute europäische Film ist der gute französische Film. Er ist kein Kunstprodukt eines Förderprogramms in Brüssel!
- Ich komme dazu. Deshalb müssen die Nationen im Bereich der Kulturpolitik wieder mehr Möglichkeiten für Förderprogramme haben. Sie dürfen durch Brüssel nicht wegreguliert werden.
Das gleiche gilt im übrigen für die Landwirtschaft. Meine Damen und Herren, eines wird uns nicht gelingen: die EU zu erweitern, alles so zu lassen, wie es ist, etwas mehr zurückbekommen zu wollen, und das alles zum Nulltarif. Das ist nicht möglich.
Aber es ist richtig, Frau Wieczorek-Zeul - wenn man die Agenda 2000 als Diskussionsgrundlage nimmt -, daß man den Landwirten in Deutschland sagen muß, daß sie auch im Wandel der Landwirtschaft eine faire Chance haben sollen.
Die Landwirte bewirtschaften ihren Betrieb mit ihren Familien. Sie machen einen Wandel mit; aber sie möchten von uns die Antwort auf die Frage haben, wo sie in Zukunft beruflich stehen können.
Das beantworte ich ganz eindeutig. Ich habe aus menschlichen, gesellschaftlichen und aus Gründen der Pflege der Kulturlandschaft ein massives Interesse daran, daß der Beruf des Landwirts nicht in die deutsche Geschichte verschwindet. Ich möchte in Deutschland Bauernhöfe haben.
Wenn wir in der Agenda 2000 von der preisgestützten Regulierung weggehen, dann müssen wir den
Dr. Wolfgang Gerhardt
Landwirten durch einen direkten Einkommensausgleich ein Standbein geben. Das muß in nationaler Kompetenz liegen, weil sie sonst keine Chance haben, sich mit den übrigen Produkten marktgerecht zu bewegen.
Wir reden hier über Menschen und nicht nur über eine Struktur. Das wollen wir den Landwirten auch sagen: Sie sollen im Strukturwandel eine Chance haben.
Fazit, meine Damen und Herren: Niemals hat der Deutsche Bundestag - jedenfalls in dieser Legislaturperiode - vor einer so bedeutsamen Entscheidung gestanden, mit so großen Schwierigkeiten. Aber wir alle wissen, daß die Chancen allemal größer sind als die Risiken. Deshalb entscheidet sich die Freie Demokratische Partei in Verantwortung für unser Land für die Wirtschafts- und Währungsunion.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es hier im Bundestag mit einer der größten Koalitionen in der Geschichte dieser Bundesrepublik zu tun: der Koalition aus CDU/CSU, F.D.P., SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die alle die Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 bejahen.
- Herr Fischer, auf Sie komme ich gleich. Sie haben einen schlimmen Satz gesagt. Sie haben gesagt: Ein Europäer ist überhaupt nur derjenige, der den Euro befürwortet.
Diesen Zusammenhang sehe ich nicht. Man kann auch als Europäer seine Bedenken gegenüber dem Euro äußern. Das muß möglich bleiben.
Nicht Sie allein bestimmen den Maßstab, wer ein guter Europäer ist und wer nicht.
Ich sage allerdings auch: Alle Fraktionen haben auch ihren eigenen Skeptiker,
die SPD zum Beispiel Herrn Schröder, Sie Herrn Schulz, die CDU/CSU-Fraktion Herrn Stoiber; bei der F.D.P. fällt mir gerade keiner ein.
Aber die meisten Fraktionen haben zumindest einen Skeptiker -
- Sie haben auch einen! - und versuchen, auf diese Art und Weise die unterschiedlichen Gefühle in der Bevölkerung zu bedienen.
Da muß ich Herrn Schäuble in einem Zusammenhang recht geben. Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben am Anfang Ihrer Rede gesagt, Sie seien für den Euro; Sie haben am Schluß Ihrer Rede gesagt, Sie seien für den Euro; und zwischendurch haben Sie ihn ausschließlich kritisiert. Ich finde, das geht nicht. Wenn Ihre Kritik stimmt, müßten Sie eigentlich auch mit Nein stimmen. Das wäre dann die Konsequenz.
Aber dahinter steckt die Überlegung, die Befürworter und die Gegner des Euro gleichermaßen hinter die SPD zu bekommen. Ich sage Ihnen, das Ergebnis kann dann auch sein, daß man beide verliert. Man muß ungeheuer aufpassen, wenn man in seiner Haltung so unklar ist.
Es ist hier sehr viel über die Stabilitätskriterien gesprochen worden. Ich will mich damit nicht weiter aufhalten, auf eines möchte ich aber doch hinweisen: Herr Bundeskanzler, Sie haben sicherlich den Bericht der Bundesbank gelesen, und Sie können nicht leugnen, daß in diesem Bericht eine Menge Bedenken formuliert sind und daß ganz am Schluß, praktisch wie ein bißchen künstlich aufgesetzt, die Formulierung kommt, daß es vertretbar sei. „Vertretbar" klingt aber wie „gerade noch vertretbar". Das heißt nicht, daß es gut ist oder daß es besonders positive Folgen und Wirkungen hat.
Ich darf an ein ähnliches Verhalten der Bundesbank im Zusammenhang mit der deutschen Währungsunion erinnern. Da hat nämlich die Bundesbank auch vor den Folgen gewarnt und hat dennoch gesagt, die Währungsunion sei vertretbar. Die Folgen spüren wir noch heute. Schauen wir uns doch die Ergebnisse einer falsch angelegten Währungsunion in Deutschland selbst an. Der Osten ist deindustrialisiert. Das wird beim Euro die Zukunft des Südens in Europa sein, zum Beispiel die Zukunft von Portugal und Spanien.
Dr. Gregor Gysi
Der Osten hat eine riesige Massenarbeitslosigkeit. Natürlich gab es auch Unternehmen, die von der Erweiterung des Binnenmarktes und der Währung Vorteile hatten, gerade im westlichen Teil Deutschlands. Das sind die Vorteile, die im Rahmen der Europäischen Währungsunion die großen Konzerne und Banken haben, weil sie sozusagen ohne jede Hemmung expandieren und exportieren können. Aber letztlich haben wir nicht nur eine wahnsinnig hohe Massenarbeitslosigkeit im Osten, sondern auch mehr Insolvenzen im Westen und immer mehr Arbeitslosigkeit im Westen. Das wird auch die Folge der Europäischen Währungsunion sein, und zwar einfach deshalb, weil die Bedingungen für sie nicht stimmen.
Da ist eigentlich fast alles an Kritik schon genannt worden. Allerdings wird dann die falsche Schlußfolgerung gezogen und gesagt: Das ganze Ding stimmt zwar nicht, aber wir stimmen dennoch zu. - Einer solchen politischen Fehlentscheidung können wir uns einfach nicht anschließen.
Der entscheidende Mangel - das ist hier auch schon mehrfach erklärt worden - ist, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Ihr Versprechen nicht einhalten konnten. Ich räume ein, daß Sie sich darum bemüht haben, aber Sie konnten Ihr Versprechen nicht einhalten. Die Politische Union gibt es in Wirklichkeit noch nicht. Wir haben keinen europäischen Gesetzgeber, wir haben keine europäische Verfassung. Herr Schäuble hat ja auch ganz klar gesagt, er wolle gar nicht, daß Politik in diese Prozesse eingreifen kann, sondern er wolle Deregulierung.
Aber wer so konsequent wie Sie Deregulierung will, der muß sich dann auch mit BSE abfinden. Das ist nämlich die Folge davon.
- Das ist nicht von mir, das ist vom Ministerpräsidenten Luxemburgs. Das ist ein Konservativer, und ich finde, er ist in dieser Frage glaubwürdig, zumindest für Sie glaubwürdig.
Deshalb sage ich Ihnen: Deregulierung heißt Abbau von Kündigungsschutz. Deregulierung heißt Abbau von ökologischen, gesundheitspolitischen und anderen Standards. Deregulierung bedeutet eben nicht Entbürokratisierung. Das wäre ja vernünftig.
Deshalb stellen wir uns gegen das Ziel, Politik immer unmöglicher zu machen. Denn Demokratie gibt es doch nur in der Politik, nicht in der Wirtschaft. Kein Bankchef kann in einem der europäischen Länder gewählt werden, aber der Kanzler kann gewählt werden. Und wenn Sie die Möglichkeiten der Politik einschränken, dann schränken Sie die Möglichkeiten von Demokratie ein, und damit machen Sie die Leute europa-, politik- und letztlich auch demokratieverdrossen. Davon haben dann wieder die Rechtsextremisten etwas, die die Demokratie abschaffen wollen unter dem Motto, daß sich nur mit einer starken Führerschaft in einer Gesellschaft irgend etwas regeln lasse. Und das wollen wir bekanntlich alle nicht. Also müssen wir die Möglichkeiten von Demokratie und von Politik ausbauen und nicht einschränken, wie es mit dieser Europäischen Währungsunion geschieht.
Das zweite sind die fehlenden Angleichungsprozesse, die vom Ministerpräsidenten des Saarlandes hier benannt worden sind, wenngleich er dann, wie ich meine, die falschen Konsequenzen daraus zieht. Wir haben keine Steuerharmonisierung in Europa. Sie machen eine einheitliche Währung bei völlig unterschiedlichen Steuerarten und Steuersätzen, und Sie wissen, daß sich auf Grund des Wettbewerbs ab dem Tag der Einführung des Euro die niedrigsten Steuersätze durchsetzen werden, was bedeutet, daß die Staaten die Möglichkeit verlieren, ökologisch, sozial und kulturell auszugleichen. Das aber ist ihre Aufgabe.
Wir haben völlig unterschiedliche Preise. Wir haben völlig unterschiedliche Löhne. Wir haben völlig unterschiedliche soziale, ökologische und juristische Standards. All das sind Kostenfaktoren. Wenn Sie darauf eine Währung stülpen, dann sagen Sie faktisch: Ab dem Tag der Einführung der Einheitswährung gelten die niedrigsten Standards, weil diese die niedrigsten Kosten verursachen.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie heute das erste Mal offen eingestehen, daß die anderen Länder nicht bereit seien, sich nach unseren sozialen Standards zu richten, dann sagen Sie damit doch nur, daß Sie unsere sozialen Standards noch mehr als gegenwärtig in Frage stellen. Später nämlich werden Sie mit dem Argument kommen, daß diese Standards im Wettbewerb nicht zu halten seien, daß sie gesenkt werden müßten, weil wir hier in Deutschland ansonsten im Rahmen der Einheitswährung eine Bruchlandung machen würden.
Das heißt: Sie projizieren den weiteren Sozialabbau, Sie organisieren Lohndumping.
Eine Währungsunion hätte eine ganz andere Politik erfordert. Sie hätte erfordert, daß gesagt wird: Wir müssen Schritt für Schritt eine Angleichung durchsetzen. Und wenn wir diese erreicht haben, wenn wir ähnliche Preise, ähnliche Löhne, ähnliche ökologische, soziale und juristische Standards und ähnliche Steuern haben, dann krönen wir die Entwicklung mit einer einheitlichen Währung. - Sie gehen den umgekehrten Weg, den Weg des Marktradikalismus, und sagen: Das schaffen wir politisch nicht, also führen wir die Einheitswährung ein und erzwingen dadurch die Angleichung nach unten. Genau das ist mit uns nicht zu machen.
Es ist wahr: Es gibt Leute, die Vorteile dadurch haben. Das sind, wie ich vorhin gesagt habe, die Konzerne und die Banken, weil diese frei expandieren können. Sie können weder in Portugal noch in Spanien, noch in anderen EU-Ländern gestoppt werden. Das allein wäre schon schlimm genug. Es kommt aber hinzu, daß nur 20 Prozent unserer Arbeitsplätze am Export hängen. 80 Prozent hängen am Binnenmarkt. Ich frage Sie: Was soll denn unter diesen Be-
Dr. Gregor Gysi
dingungen aus den kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland werden? Die können nach der Einführung des Euro auf Grund der Lohn-, Preis- und Steuerstrukturen, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, doch überhaupt nicht Schritt halten.
Das Lohndumping, das organisiert wird - darauf weise ich zusätzlich hin -, wird auch Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zur Folge haben. Deshalb kann entgegen dem Wunsch vieler auch in diesem Hause am Ende dieser Währungsunion nicht weniger Nationalismus stehen, sondern mehr. Und deshalb ist möglicherweise derjenige der bessere Europäer, der vor einer falschen Währungsunion warnt, weil er glaubt, daß dadurch die europäische Idee beschädigt wird und Nationalismus und Rassismus zu neuer Blüte erwachsen können.
Herr Fischer hat hier gesagt, er wolle alle Probleme dadurch lösen, daß er die Arbeit verbilligt - das ist eine rein neoliberale These -, und zwar dadurch, daß er Ökosteuern einführt und die Energie teurer macht. Das ist doch derselbe Umverteilungsprozeß, der vorher mit den Rentenversicherungsbeiträgen und der Mehrwertsteuererhöhung stattgefunden hat. Das ist übrigens nicht allein der CDU/CSU und der F.D.P. zu verdanken, sondern auch der SPD. Sie haben der Mehrwertsteuererhöhung auf 16 Prozent, die nun von allen zu tragen ist, zum 1. April zugestimmt. Das muß hier der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnt werden.
Ich sage: Wir brauchen eine völlig andere Struktur. Wir haben eine flexible, am Betriebsergebnis gemessene Wertschöpfungsabgabe anstelle der Lohnnebenkosten gefordert. Die Lohnnebenkosten gänzlich zu streichen und durch eine Wertschöpfungsabgabe zu ersetzen, das wäre eine Reform, nicht aber, die Leute über das Benzin ihre Beiträge zur Rentenversicherung zahlen zu lassen, wie es Herr Fischer hier vorgeschlagen hat. Das ist - da sind wir uns sicher - der falsche Weg. Es ist übrigens auch ein Weg der sozialen Ausgrenzung, der mit uns nicht zu machen ist.
Ich sage Ihnen als letztes - ich habe leider nicht so viel Zeit, daß ich, wie alle anderen, alle Nebenschauplätze mit bedienen kann -: Ein großer Makel dieser Europäischen Währungsunion, wenn sie denn in wenigen Wochen hier beschlossen werden wird, wird immer darin bestehen, daß Sie es der Bevölkerung dieses Landes verwehrt haben, mittels Volksentscheid selber über eine so wichtige Souveränitätsfrage zu entscheiden. Das französische Volk durfte dies; das dänische Volk durfte dies; andere Völker durften dies auch. Sie haben es Ihrem eigenen Volk verwehrt mit der Begründung, daß dieses Volk nicht in der Lage sei, eine solche Entscheidung zu treffen. Damit haben Sie die eigene Bevölkerung eigentlich beleidigt. Wer das dieser Bevölkerung nicht zutraut, der sollte sich auch nicht von ihr wählen lassen.
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister der Finanzen, Theo Waigel.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Jahre vor der Jahrtausendwende steht Deutschland vor einer weiteren historischen Zäsur in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts: 1990 hat Deutschland seine Einheit zurückgewonnen; knapp zehn Jahre später, am 1. Januar 1999, wird Europa eine einheitliche Währung bekommen.
Der Euro ist ein wichtiger Schritt zur Vollendung des Binnenmarktes. Er ist ein zukunftsweisender Schritt für die deutsche Wirtschaft im Zeichen der Globalisierung. Er ist ein Symbol für unsere gemeinsamen kulturellen Wurzeln sowie für unsere gemeinsamen ökonomischen und politischen Überzeugungen.
Ein ökonomisch prosperierendes und politisch stabiles Europa ist ein wichtiger Eckpfeiler der freien Welt im 21. Jahrhundert. Dieses Modell Europa wird gerade vor dem Hintergrund der ostasiatischen Wirtschaftsmodelle oder der Entwicklung von jungen Marktwirtschaften in den Ländern Mittel- und Osteuropas dringend gebraucht. Diesen Weg der Stabilität Europas erwarten nicht nur alle Europäer, sondern auch die Amerikaner, die Asiaten und die Menschen auf anderen Kontinenten.
Deutschland - das ist heute mehrfach zum Ausdruck gekommen - gibt die D-Mark nicht leichtfertig auf. Mit dem Euro erhalten wir eine Währung mit allen Vorzügen der D-Mark, zugleich aber eingebunden in einen großen Binnenmarkt und in ein viel größeres volkswirtschaftliches Potential, als es Deutschland je hätte. Der Euro ist die historische Chance, die Vorteile der D-Mark unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts für uns zu erhalten.
Die Risiken, die in diesem Projekt stecken, haben wir nie verschwiegen. Wir haben sie gekannt und entsprechend gehandelt. Jeder, der den Vertrag von Maastricht liest und die ergänzenden Beschlüsse dazu kennt, muß das einsehen. Es ist uns gelungen, die deutsche Philosophie der Geld-, Wirtschafts- und Finanzpolitik europaweit zu verankern. Das ist ein Erfolg, der vor wenigen Jahren als Illusion abgetan worden wäre.
Der Euro ist kein Abenteuer. Mit dem Vertrag, dem Stabilitätspakt und weiteren Verpflichtungen haben wir die Risiken unter Kontrolle - ökonomisch, politisch und sogar völkerrechtlich. Das hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Wolfgang Schäuble hat bereits darauf verwiesen, daß heute morgen der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu den Verfassungsbeschwerden gegen den Eintritt in die Währungsunion bekanntgegeben worden ist. Einstimmig
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
hat das Gericht die Klagen als offensichtlich unbegründet verworfen.
Der Beschluß überrascht mich nicht. Er ergab sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993. Schon damals hat das Gericht festgestellt, daß der Maastricht-Vertrag im Einklang mit unserem Grundgesetz steht. Nach den damaligen Worten des Gerichts ist die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert, die vorrangig die Preisstabilität zu gewährleisten hat.
Die Wirksamkeit dieses Stabilitätskonzepts steht außer Zweifel. Wir liegen auf Kurs, und zwar sowohl rechtlich als auch ökonomisch. Das zeigen die Konsolidierungsanstrengungen aller Mitgliedstaaten. Das zeigen die zusätzlich eingegangenen Verpflichtungen im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Das zeigen die heute feststellbaren Konvergenzerfolge. Auch in Zukunft werden wir keinerlei Abweichungen vom Konzept der Stabilitätsgemeinschaft zulassen.
Für die Kläger ist der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts eine vernichtende Niederlage. Dies ist notwendig und gut, weil ein mit ungeheurer Medienbegleitung vorgetragener Angriff auf Bundestag, Bundesrat und das, was wir miteinander beschlossen haben, stattfinden sollte. Ich hoffe, daß die Öffentlichkeit mit der gleichen Überzeugung und Überlegtheit zur Kenntnis nimmt, wie die vier Klagesteller ohne hinreichende Kenntnis des Verfassungsrechts versucht haben, die Medien und die Öffentlichkeit gegen diese Entscheidung zu vereinnahmen.
Klar ist: Regierung und Parlament tragen die Verantwortung für die Verwirklichung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft. Aus dieser Verantwortung heraus bittet die Bundesregierung um das zustimmende Votum des Parlaments zum Eintritt in die Währungsunion.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, nun hat sich - das muß ich natürlich auch ansprechen - Ihr Kollege aus Niedersachsen heute nochmals mit einem Interview gemeldet und in erster Linie Bedenken und Probleme aufgezeigt. Er nimmt zwar zur Kenntnis und weiß auch ganz genau, daß der Euro kommen wird und notwendig ist, versucht aber vorher noch einmal, alle zu fangen, die Bedenken haben.
Meine Damen und Herren, eines will ich Herrn Schröder sagen: Er wird mit dieser gefährlichen, sehr opportunistischen und, wie ich meine, nicht zu rechtfertigenden Haltung genauso Schiffbruch erleiden wie Herr Spöri in Baden-Württemberg, und dem geschah es recht.
Wir haben die möglichen Risiken nie verschwiegen. Aber die Risiken eines Europa ohne Euro sind im Zeichen der Globalisierung um ein Vielfaches höher. Wenn wir diese erweiterte Stabilität nicht bekämen, würde es für uns viel problematischer, die Stürme der Welt in den nächsten Jahren, Jahrzehnten und im nächsten Jahrhundert zu überstehen.
Wenn man auf die Kosten hinweist, muß man auch sagen: Die Kostenvorteile bestehen bereits heute durch niedrige Löhne in anderen Ländern Europas. Dem steht eine höhere Produktivität in Deutschland gegenüber. Das größte Problem in den letzten vier, fünf Jahren war für uns, daß Wechselkursveränderungen und Abwertungsstrategien in anderen Ländern zu Lasten unserer Arbeitsplätze in Deutschland gingen. Allein die Abwertung des Jahres 1994 hat wahrscheinlich zu einem Verlust von 500 000 Arbeitsplätzen in Deutschland geführt. Das heißt, Herr Schröder verschweigt einen Teil der Wahrheit. Darum ist das, was er sagt, eben nicht die Wahrheit.
Meine Damen und Herren, mit dem Euro bieten sich gerade für mittelständische Unternehmen europaweit neue Absatzchancen. Viele Betriebe sind zudem Zulieferer großer Unternehmen. Sie profitieren von verbesserten Exportchancen.
Von Hektik kann nun wirklich keine Rede sein. Dieser Amateurgynäkologe aus Niedersachsen hat offensichtlich vergessen, daß wir - lieber Kollege Seiters, ich mache Niedersachsen dafür nicht haftbar; dies bezieht sich nur auf den Ministerpräsidenten - eine zehnjährige Vorbereitungszeit hatten. Noch nie ist ein solches Projekt gemeinsam zwischen Regierungen und Notenbanken intensiver, professioneller und umfassender vorbereitet worden als dieses Projekt.
Den Kosten, die natürlich auch entstehen, stehen dauerhafte Vorteile und Kostenersparnisse durch die Währungsunion gegenüber. Alle Teilnehmerstaaten haben seit Jahren auf Wechselkursabwertungen verzichtet. Sie haben eine breite Stabilitätskultur erreicht. Damit brauchen sie keine zusätzlichen Finanztransfers. Wir werden auch im EU-Haushalt für strikte Disziplin sorgen.
Was Herr Schröder überhaupt nicht begreift, ist, daß der Euro das größte Modernisierungsprogramm auch für Deutschland ist. Es macht uns und Europa fit für den weltweiten Wettbewerb. Dadurch entstehen bei uns dauerhafte Arbeitsplätze. Es ist die Antwort Europas und liegt im nationalen Interesse Deutschlands, daß wir damit die Herausforderungen der Globalisierung national und europäisch gemeinsam bestehen. Das ist die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft.
Mit der Vorlage der Konvergenzberichte der Europäischen Kommission und des Europäischen Währungsinstituts am 25. März 1998 ist die letzte entscheidende Phase in der Vorbereitung auf die Einführung des Euro eröffnet worden. Die Deutsche
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Bundesbank hat am 27. März 1998 ihre Stellungnahme vorgelegt. Die Kommission empfiehlt dem Rat zu bestätigen, daß elf Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für die Einführung des Euro erfüllen. Die Ausnahmen sind Griechenland, Großbritannien, Schweden und Dänemark. Die drei letztgenannten Länder haben politisch entschieden, der Währungsunion einstweilen noch nicht beizutreten.
Auf Basis dieser Analysen und ihrer eigenen Bewertung hat die Bundesregierung den Beschluß gefaßt, bei den anstehenden Entscheidungen auf der europäischen Ebene den Empfehlungen der Kommission zum Teilnehmerkreis unter Würdigung des Berichts des EWI und der Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zu folgen.
Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat sind jetzt aufgefordert, über diesen Beschluß der Bundesregierung zu votieren. Die Bundesregierung löst damit ihre Zusage ein, die sie im Dezember 1992 bei Verabschiedung des Maastricht-Vertrages gegeben hat. Damals hatte ich gegenüber diesem Hohen Haus erklärt, die Bundesregierung werde sich vor dem wichtigen Schritt in die Währungsunion der Rückendeckung der gesetzgebenden Gremien versichern.
Die vorgelegten Konvergenzberichte bestätigen: In Europa hat sich eine breite Stabilitätskultur entwikkelt. Man muß es gerade den Menschen, die noch Sorgen haben, immer wieder darstellen: Der Preisanstieg ist auf einen historischen Tiefststand gesunken. Die durchschnittliche Inflationsrate in der Europäischen Union lag im letzten Jahr bei nur noch 1,6 Prozent. Wie oft hat man uns prophezeit, das würde eine Inflationsgemeinschaft sein? Nein, es ist eine Stabilitätsgemeinschaft geworden. Die heutige Preisstabilität ist stärker als je zuvor. Das wäre ohne Maastricht in dem Maße gesamteuropäisch nie möglich gewesen.
Der Rückgang der Inflationsraten und der Inflationserwartungen haben an den Kapitalmärkten zu historisch niedrigen Zinsen geführt. Wie oft hat man uns prophezeit, mit dem Herannahen der Wirtschafts- und Währungsunion würden die Zinsen steigen? Es ist nicht passiert. Wir haben in Europa historisch tiefe Zinsen; auch der langfristige Zins ist in Deutschland auf einem historischen Tiefststand. Auch das ist ein hervorragendes Zeichen für die Stabilitätskultur in Europa und in Deutschland.
Was zeigt das? Das zeigt: Der Euro hat heute schon das wichtigste Plus der D-Mark erreicht, nämlich das Vertrauen der Märkte. Daß dies so bleibt und bleiben muß, dafür müssen wir auch in der Zukunft einstehen. Dafür muß die Konsolidierung weitergehen. Deswegen darf kein Stillstand bei Konsolidierung und bei Strukturreformen eintreten. Das ist die Voraussetzung.
Auch das Wechselkursgefüge innerhalb des Wechselkursmechanismus des EWS ist trotz der auf Grund der Asienkrise vorübergehend aufgetretenen Spannungen an den Finanzmärkten stabil. Praktisch alle
Teilnehmerwährungen haben sich im Durchschnitt des Referenzzeitraums innerhalb einer Bandbreite von 2,25 Prozent bewegt. Die Währungen aller elf Teilnehmerkandidaten sind im Wechselkursmechanismus stabil aneinander gebunden. Das gilt auch für die Währungen von Finnland und Italien, obwohl sie dem Wechselkursmechanismus nicht volle zwei Jahre angehörten.
Wenn angesichts der weltweiten Turbulenzen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres und Anfang dieses Jahres hier in Europa eine solche Insel der Stabilität der Wechselkurse entstanden ist, dann spricht dies für die Konvergenz. Dann spricht dies für die Vorbereitung, die wir getroffen haben. Das ist eben nicht, wie es Herr Schröder bösartigerweise gesagt hat, eine Frühgeburt, die nicht lebensfähig ist. An Hand der Konvergenzkriterien zeigt sich vielmehr: Dies ist eine gut vorbereitete und damit gut vertretbare Entscheidung, die wir fällen.
Entscheidende Erfolge sind auch beim Abbau der Haushaltsdefizite erzielt worden. Den Referenzwert für das öffentliche Haushaltsdefizit in Höhe von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hat in 1997 mit Ausnahme von Griechenland kein Mitgliedstaat überschritten. In Dänemark, Irland und Luxemburg waren sogar Haushaltsüberschüsse zu verzeichnen. Im Jahre 1998 werden es fünf Länder in der Europäischen Union sein, die Haushaltsüberschüsse zu verzeichnen haben. Im EU-Durchschnitt fiel die Neuverschuldung von 4,2 Prozent in 1996 auf 2,4 Prozent im letzten Jahr.
In Deutschland ist es uns 1997 gelungen, das Staatsdefizit - man muß sich einmal vorstellen, daß wir allein im Bund Zusatzbelastungen in Höhe von 30 Milliarden DM zu verkraften hatten, und zwar Steuermindereinnahmen in Höhe von 20 Milliarden DM und höhere Arbeitsmarktkosten in Höhe von 10 Milliarden DM - von 3,4 auf 2,7 Prozent zurückzuführen.
Ich halte das für einen wirklich großen Erfolg aller, der sozialen Sicherungssysteme, der Kommunen, der Länder, aber vor allen Dingen auch des Bundes.
Damals hat mir ja mancher geraten, ehrliche 3,2 Prozent seien besser als unehrliche 3,0 Prozent. Wir haben jetzt ehrliche 2,7 Prozent. Das ist besser als ehrliche 3,2 Prozent. Darauf bin ich einigermaßen stolz. Ich lese auch nichts mehr von Haushaltslöchern.
Dieser Erfolg der deutschen Finanzpolitik wurde von manchem mit völlig unhaltbaren Argumenten angezweifelt. Ich muß aber auch hier sagen: Der Präsident des DIW hat sich inzwischen förmlich entschuldigt. Die Anschuldigungen des DIW waren sehr unnötig und haben geschadet.
Professor Peffekoven, Mitglied des Sachverständigenrats, hat sich am 18. März 1998 im „Tagesspiegel"
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
zu diesen damaligen Anschuldigungen wie folgt geäußert:
Für den massiven Vorwurf kann jedoch keinerlei Beweis erbracht werden ... Der Bundesfinanzminister ... hat es vielmehr durch eine gewaltige - von vielen, auch vom Sachverständigenrat, nicht für möglich gehaltene - Anstrengung ... doch noch geschafft, die Defizitquote unter 3,0 Prozent zu drücken.
Ich bitte um Verständnis, daß mir diese Worte natürlich wie Öl heruntergehen.
Nur, der Konsolidierungskurs in Europa setzt sich auch künftig fort. Für Deutschland rechnet die Kommission ebenso wie wir mit einem Defizit von 2,5 Prozent. Auch in den meisten anderen Ländern geht der Defizitabbau 1998 deutlich weiter. Die Kommission hat gleichzeitig mit ihrem Konvergenzbericht auch ihre Haushaltsschätzungen für 1999 veröffentlicht. Danach wird für alle EU-Staaten eine Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung prognostiziert.
Kommission, EWI und Bundesbank weisen auch auf die Einmalmaßnahmen hin, wobei der Hinweis darauf richtig ist. Nur, Einmalmaßnahmen sind durchaus zulässig, zum Beispiel der Verkauf von Grundstücken. Das haben wir nicht nur 1997, sondern bereits seit 15 Jahren getan, und wir werden es auch künftig tun. Der Bund benötigt manche Dinge nicht. Es ist zum Beispiel viel besser, das eine oder andere Grundstück, das in einer Kommune zur Wirtschaftsförderung benötigt wird, abzugeben oder es für den sozialen Wohnungsbau sogar verbilligt zur Verfügung zu stellen. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Man muß nur wissen, daß strukturelle Reformen notwendig sind, um zu einer dauerhaften Senkung der Defizite zu kommen. Das werden wir auch fortführen.
Meine Damen und Herren, während die Erfolge beim Defizitabbau unbestreitbar sind, kann man dies vom Schuldenstand nicht uneingeschränkt sagen. Der Referenzwert in Höhe von 60 Prozent des BIP wurde im letzten Jahr von Finnland, Frankreich, Großbritannien und Luxemburg unterschritten. In einigen anderen Ländern lag die Schuldenstandsquote zwischen 60 Prozent und 70 Prozent. Besonders unbefriedigend sind nach Ansicht des EWI und der Bundesbank die nach wie vor hohen Schuldenstände in Griechenland mit 108,7 Prozent, in Italien mit 121,62 Prozent und in Belgien mit 122,2 Prozent. In Deutschland war die Überschreitung mit einer Schuldenstandsquote von 61,3 Prozent im Jahre 1997 am geringsten.
In der deutschen Schuldenquote - darauf hat der Bundeskanzler ja hingewiesen - zeigen sich die durch die Wiedervereinigung Deutschlands bedingten erheblichen Sonderbelastungen der letzten Jahre. Dies wird von der Kommission und dem EWI ausdrücklich anerkannt. Allein die Schuldenübernahme des Erblastentilgungsfonds hat sich mit rund 10 zusätzlichen Prozentpunkten ausgewirkt. Aber auch Schuldenerleichterungen zugunsten unserer östlichen Nachbarländer und die Übernahme von
Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn schlugen mit weiteren knapp 3 Prozentpunkten zu Buche.
Ich möchte nur ganz kurz auf das eingehen, was Sie, Herr Gysi, vorher über die ökonomische Vorbereitung und darüber gesagt haben, daß wir uns 1989/ 90 nicht an den Rat der Bundesbank gehalten hätten. Wenn man den Königsweg einer Stabilitätsgemeinschaft für die deutsche Einheit gegangen wäre - den Sie hier jetzt gefordert haben, obwohl dieser Vergleich keinen Sinn macht -, dann hätte man zunächst einmal in der DDR eine Preisfreigabe, völlige Deregulierung, freie Marktwirtschaft und die Konvertibilität von ostdeutscher Mark und westdeutscher D-
Mark herbeiführen müssen. Sie wären dann bei einem Verhältnis der Währungen von vielleicht 1:4 oder 1 : 5 gelandet. Können Sie uns einmal sagen, welche Zumutung über Jahre hinweg das für die Menschen in Ostdeutschland gewesen wäre?
Im Wissen darum, daß das für die Menschen in Ostdeutschland eine unzumutbare Belastung gewesen wäre, ist es eine bodenlose Unverfrorenheit, hier die Ökonomie zu Rate zu ziehen, zu behaupten, man beherrsche sie, und uns vorzuwerfen, daß wir sie nicht beherzigt hätten. Gerade deswegen, weil wir wußten, daß dies etwas kostet, was wir den Menschen in Ostdeutschland schuldig gewesen sind und auch in Zukunft schuldig sind, haben wir uns für eine frühe Einführung der Währungsunion mit Ostdeutschland entschieden
Was die Umstellung anbelangt, so wissen Sie ganz genau, daß wir, wenn man die Gesamtsumme, die Fließ- und die Bestandsgrößen, miteinander vergleicht, bei einem Verhältnis von etwa 1 : 1,81 gelandet sind. Die Bundesbank hatte ein Verhältnis von 1 : 2 vorgeschlagen. Wir lagen in diesem Punkt also nicht weit voneinander entfernt. Diese Abweichung ist allein darauf zurückzuführen, daß wir den Leuten mit kleinen Sparguthaben den Umtausch im Verhältnis 1 : 1 ermöglicht haben, um sie nicht vor die Tatsache zu stellen, ein ganzes Leben lang umsonst gearbeitet und gespart zu haben. Das war der soziale Hintergrund unseres Vorgehens.
Uns das vorzuhalten ist eine bodenlose Unverfrorenheit. Man muß schon gelernter Kommunist sein, um sich so etwas anzumaßen.
Die Bundesregierung teilt die von der Kommission und insbesondere vom EWI und der Deutschen Bundesbank geäußerten Bedenken hinsichtlich der Konsequenzen für die Nachhaltigkeit des Konsolidierungsprozesses in bestimmten Ländern. Für diese Länder stellen sich erheblich höhere Anforderungen an die zukünftige Haushaltsdisziplin als für andere Mitgliedstaaten. Anerkennenswert ist in diesem Zusammenhang die Bereitschaft Italiens, seine mittelfristige Finanzplanung bis 2001 noch im April 1998 vor-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
zulegen. Auch der belgische Finanzminister Maystadt will mit ehrgeizigen Zielen, vor allem mit einem sehr beachtlichen Primärüberschuß den bisher gezeigten Konsolidierungswillen bekräftigen, um in die Nähe des Konvergenzkriteriums „Schuldenstand" zu gelangen.
Irland zeigt, daß dies geht. Man muß sich das einmal vorstellen: Zwischen 1987 und 1998 wurde der Schuldenstand in Irland von 120 auf 59,2 Prozent des BIP gesenkt. Nun wird niemand bestreiten, daß Irland in großzügiger Weise Empfänger von EU-Mitteln gewesen ist. Aber daß dieses Geld gut angelegt wurde, um die Finanzkennziffern so zu verbessern, daß sich auch die Wettbewerbsfähigkeit des Landes verbessert hat, war sicherlich der richtige Weg für Irland und damit auch für Europa.
Voraussetzung dafür ist die Nachhaltigkeit der Konsolidierungspolitik. Das gilt aber nicht nur für die Länder mit hohem Schuldenstand. Der Konsolidierungsprozeß bei den öffentlichen Finanzen muß in nahezu allen übrigen Mitgliedstaaten konsequent fortgesetzt werden, auch in Deutschland. Ein elementarer Beitrag dazu ist der von mir vorgeschlagene und vom Europäischen Rat in Amsterdam im Juni 1997 beschlossene Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er ist der dauerhafte Rahmen für die Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung.
Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, übermäßige Defizite zu vermeiden und mittelfristig nahezu ausgeglichene Haushalte oder Haushaltsüberschüsse zu erzielen. Daß dies keine Illusion ist, zeigt sich bereits heute in einigen Ländern. Dies wird im Rahmen der jährlich vorzulegenden Stabilitätsprogramme, in denen die Haushaltsentwicklung der kommenden Jahre offengelegt werden muß, auch überwacht. Wo nötig, wird der Rat Empfehlungen oder - als letztes, aber notfalls schnell einzusetzendes Mittel - fühlbare Sanktionen zur Korrektur etwaiger Fehlentwicklungen aussprechen.
Was hieß es denn nicht alles 1992 auch aus wissenschaftlichen Kreisen? Die Unabhängigkeit der EZB sei nicht gewährleistet. Das behauptet heute niemand mehr. Die Wechselkurskompetenz werde nicht bei der EZB bleiben. Das behauptet niemand mehr. Die Kriterien würden politisch aufgeweicht. Das ist nicht wahr. Es gebe keine Sanktionen. Das ist durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt überholt.
Fast alles, was auch wissenschaftlich gefordert wurde, kann heute belegt werden. Aber bei manchem habe ich den Eindruck, daß er gehofft hat, man werde die Marke von 3 Prozent nicht erreichen.
Man hat, wie zum Beispiel in dem Gutachten der Institute, über den Schuldenstand als vernachlässigenswerte Größe gesprochen. Mancher von denen, denen die ganze Richtung nicht paßt, sucht sich heute dieses Thema.
Meine Damen und Herren, wir gehören nicht dazu. Für uns ist der Schuldenstand genauso wie die anderen Kriterien ein wichtiges Kriterium, weil er Auskunft über die Nachhaltigkeit gibt. Wer einen hohen Schuldenstand hat, muß im nächsten Jahrzehnt noch stärkere Konsolidierungsanstrengungen unternehmen als die anderen.
Ich habe bei der informellen Ecofin-Tagung in York, bei der Tagung der Finanzminister und der Notenbankgouverneure, noch folgende zusätzliche Verpflichtungen vorgeschlagen: Die Haushaltsentwicklungen im Jahre 1998 sollten streng überwacht werden. Ungünstigere Haushaltsentwicklungen werden umgehend korrigiert, besser als geplant verlaufende Haushaltsentwicklungen werden zur zusätzlichen Haushaltskonsolidierung genutzt.
Die Haushaltsentwürfe für 1999 sollten frühzeitig auf Gemeinschaftsebene geprüft werden, um sicherzustellen, daß sie mit den Konvergenzprogrammen und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vereinbar sind.
Die Teilnehmer an der Wirtschafts- und Währungsunion verhalten sich ab sofort so, als sei der Stabilitäts- und Wachstumspakt bereits wirksam. Dazu gehört auch die Vorlage von Stabilitätsprogrammen bis Ende 1998.
Länder mit sehr hohem Schuldenstand müssen verstärkte Anstrengungen unternehmen, um den Schuldenstand schnell auf ein tragfähiges Niveau zurückzuführen. Dies erfordert frühzeitig einen ausgeglichenen Haushalt oder Haushaltsüberschüsse.
Der Anteil der kurzfristigen Schulden an der Gesamtverschuldung sollte - wo erforderlich - reduziert werden.
Die Verantwortung für die Haushaltskonsolidierung liegt bei den Mitgliedstaaten; es gibt keine Haftung der Gemeinschaft.
Auch EU-Finanztransfers dürfen die Stabilitätsorientierung der Haushaltspolitik nicht untergraben. Die Währungsunion führt nicht zu zusätzlichen Transferzahlungen.
Diese Punkte betonen die Nachhaltigkeit des Konvergenzprozesses, sie schaffen weiteres Vertrauenskapital für den Euro und legen damit den Grund für dauerhaft niedrige Zinsen in Europa. Nur, meine Damen und Herren, gesunde Staatsfinanzen sind kein ausschließlich deutsches Anliegen. Sie liegen im ureigenen Interesse aller Mitgliedstaaten, die den Euro einführen.
Europa liegt in unserem, liegt im deutschen Interesse. Es ist aber auch legitim und notwendig, in Europa deutsche Interessen zu vertreten, wie dies unsere Partner auch tun.
Das gilt für die Agrarpolitik. Natürlich ist auch eine europäische Agrarpolitik zu geringeren Preisen zu
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
haben, wenn man an die Rückflüsse denkt, wenn man manches umschichtet, wenn man auch die Direkteinkommen nationaler gestaltet. Das ist keine Absage an eine gemeinsame europäische Agrarpolitik, die sicher auch reformiert werden muß.
Ähnliches gilt für die regionale Strukturpolitik. Denn natürlich wollen wir - wie andere auch - auch künftig noch selber eigenständige regionale Strukturpolitik machen.
Das gilt auch für den deutschen Nettozahlerbeitrag. Unsere Partner wissen es: Es ist auf die Dauer nicht gut für die Europäische Union - und bei uns nicht akzeptabel -, wenn 60 Prozent der Nettozahlungen aus Deutschland kommen. Wenn wir das anmahnen und zu einem System kommen wollen, von dem alle überproportionalen Nettozahler positiv betroffen sind, dann ist auch dies legitim und keine antieuropäische Gesinnung.
Auf die wichtigsten Punkte des Vertrages ist hingewiesen. Das Statut der Europäischen Zentralbank orientiert sich an der Deutschen Bundesbank, ist völkerrechtlich abgesichert, damit noch stärker als die Deutsche Bundesbank.
Die Unabhängigkeit der EZB von politischen Weisungen ist völkerrechtlich abgesichert. Die EZB ist vorrangig der Preisstabilität verpflichtet. Es ist ihr - das ist ganz wichtig - ausdrücklich untersagt, Kredite zur Finanzierung nationaler Haushaltsdefizite zu vergeben. Mit diesem Verbot ist für die Mitgliedstaaten gleichzeitig die Notwendigkeit einer echten, auf Eigenanstrengung beruhenden Haushaltskonsolidierung verbunden.
Meine Damen und Herren, man muß sich schon einmal überlegen, was das für die anderen Länder in Europa bedeutet, was sie aufgegeben haben, was sie von der deutschen Stabilitätsphilosophie übernommen haben. Mancher, der in Deutschland das beklagt, was wir tun, sollte einmal überlegen, was es für einen Franzosen, für einen Spanier, für einen Portugiesen oder auch für einen Italiener bedeutet, wenn seine künftige Geld- und Währungspolitik nicht mehr aus seiner Hauptstadt, sondern von Frankfurt am Main aus entschieden wird. Das ist auch, wie ich meine, ein wichtiges positives Signal.
Meine Damen und Herren, mehr und mehr Bürger sehen ein, daß sie nicht die stabile D-Mark verlieren, sondern stabiles Geld für ganz Europa gewinnen. Ich bin sicher, wir werden in Deutschland mit der Einführung des Euro ähnliche positive Überraschungen erleben, wie wir sie mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard gemacht haben.
Gerade einem exportorientierten Land wie Deutschland kommt eine gemeinsame Währung besonders zugute. Das Währungsrisiko zwischen unseren wichtigsten Handelspartnern - ein gravierendes Handels- und Investitionshemmnis - wird mit der gemeinsamen Währung auf Dauer ausgeschaltet. Wir müssen uns vor Augen halten: Ein Viertel unseres Sozialproduktes entsteht im Export, 60 Prozent unseres Außenhandels wickeln wir mit unseren Nachbarn in der EU ab. Jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vom Export ab.
Mit der Währungsunion entsteht zugleich einer der größten Finanzmärkte der Welt. Für Anleger und Investoren wird sich das Angebot an Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten verbessern und transparenter gestalten. Die Finanzierung von Investitionen wird dadurch erleichtert. Auch der Verbraucher wird die Vorteile spüren. Die Währungsunion bringt mehr Transparenz, mehr Wettbewerb und damit auch niedrigere Preise. Beim Urlaub im europäischen Ausland entfallen natürlich in Zukunft die nicht unerheblichen Umtauschkosten. Das ist für den traditionell reiselustigen Deutschen ein nicht zu vernachlässigendes Plus der neuen Währung.
Die Wirtschafts- und Währungsunion wird nicht nur das Zusammenwachsen der heutigen Mitgliedstaaten beschleunigen. Sie liefert eine zuverlässige Orientierung für den wirtschaftlichen Aufholprozeß in den Ländern Mittel- und Osteuropas.
Es gilt jetzt, das in der Währungsunion liegende Potential entschlossen zu nutzen - für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Genauso wie die D-Mark nach dem Krieg in Deutschland schafft der Euro heute einen neuen und soliden Rahmen für erfolgreiches Wirtschaften in Europa. Der Euro ist nicht die Lösung der vorhandenen Strukturprobleme, aber er kann ihre Lösung erheblich beschleunigen. Ich bin überzeugt: Mit dieser Währung wird ein frischer Wind der Modernisierung durch Europa wehen. Wenn wir jetzt ja sagen zur Währungsunion, dann ist das auch ein Ja zum Wandel. Dieses Ja stellt die Reformbereitschaft Deutschlands und Europas unter Beweis.
Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind die globalen Aufgaben der Menschheit im 21. Jahrhundert. Sie sind noch lange nicht erfüllt. Europa hat hier die abendländisch-christliche Tradition, die kulturellen Werte und die vielschichtigen Erfahrungen einer Geschichte von über 2000 Jahren einzubringen.
Ich gehöre zu den wenigen, die heute noch im Amt sind und damals gemeinsam mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher diesen Vertrag unterzeichnet haben. Seitdem bin ich vielen Anfeindungen, Drohungen und vieler Kritik ausgesetzt gewesen.
Ich weiß: Die Entscheidung war richtig. Ich stehe dazu. Ich bin stolz, daß wir jetzt auf dem Weg sind, das zu vollenden.
Der Euro wird die Zukunft gewinnen. Schon in wenigen Jahren wird er ein nicht mehr wegzudenkendes Stück der deutschen und europäischen Erfolgs-
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Beschichte sein. Dafür haben wir zehn Jahre mit Erfolg gearbeitet. Die ökonomischen und die politischen Entwicklungen haben uns recht gegeben. Ich bin überzeugt: Der Euro und Europa liegen im deutschen Interesse.
Vor wenigen Wochen ist Ernst Jünger mit 102 Jahren gestorben. Sie, Herr Gerhardt, sind vorhin auf ihn eingegangen. Wir werden am 22. April eine Sonderbriefmarke diesem großen Deutschen widmen, der 1895 geboren wurde und den ersten sowie den zweiten Weltkrieg mit all den ungeheuren menschlichen Verlusten erlebt hat. Auch mein Vater, ein einfacher Bauer und Maurerpolier, wurde 1895 geboren und erlebte ebenfalls den ersten und den zweiten Weltkrieg. Ich habe meinen älteren Bruder mit 18 Jahren im Krieg verloren.
Joseph Müller, der Mitbegründer der CSU, dessen 100. Geburtstag wir vor einer Woche begangen haben, sagte 1946: Eine gemeinsame europäische Währung ist der beste Weg zum dauerhaften Frieden und zu einer guten Entwicklung in Europa. - Es ist schon visionär, was die großen Frauen und Männer uns schon 1945, 1946 und danach ins Stammbuch geschrieben haben.
Aber zurück zu Ernst Jünger: Zwei Sätze werde ich nie vergessen. Den einen hat er 1991 auf die Frage gesagt: Was sagen Sie zu den Kosten der deutschen Einheit? Darauf sagte der große alte Mann: „Wenn dein Bruder vor der Tür steht, läßt du ihn rein und fragst nicht, was das kostet." - Auf eine so einfache und richtige Formel ist das zu bringen, was wir in den letzten zehn Jahren getan haben. Als ich Ernst Jünger vor anderthalb Jahren in Wilflingen traf, fragte ich ihn am Schluß: Was geben Sie der Jugend als Motto auf den Weg? Da sagte er: Es ist besser, in der Hoffnung als in der Furcht zu leben.
Meine Damen und Herren, wir lassen die Furcht hinter uns und gehen mutig in die Zukunft.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Abgeordneten Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Trotz des schönen Schlusses Ihrer Rede muß ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, sagen: Sie haben mich entweder absichtsvoll oder auch nicht absichtsvoll hinsichtlich des Vergleichs zwischen der deutschen und der Europäischen Währungsunion mißverstanden.
Ich habe nicht gesagt, daß es identische Probleme sind. Ich habe nur gesagt: In beiden Fällen stimmten die Rahmenbedingungen nicht.
Sie haben dann darauf hingewiesen, daß man den Ostdeutschen hinsichtlich ihrer Sparguthaben keinen anderen Kurs zubilligen konnte als den, der damals festgelegt worden ist. Das haben auch wir übrigens damals nicht bestritten. Aber erstens hätte man beim Wechselkurs zwischen privaten Sparguthaben und dem Vermögen der Wirtschaft unterscheiden können - das wäre möglich gewesen -, und zweitens gilt - das ist viel entscheidender -, was wir damals gesagt haben: Wenn die ostdeutschen Unternehmen eine Chance haben sollen, dann brauchen wir andere Rahmenbedingungen. Wir brauchen eine zehnjährige degressive Lohnsubvention, damit sich die Unternehmen in dieser Zeit sanieren können oder wenigstens die Chance haben, sich im Rahmen des Wettbewerbs zu behaupten.
Das hat diese Regierung konsequent abgelehnt. Statt dessen hat sie allein auf Privatisierung gesetzt und dadurch Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung im Osten in Kauf genommen. Das war meine Kritik.
Ähnliche Prozesse durch fehlende Rahmenbedingungen sehe ich auch bei der Europäischen Währungsunion.
Mein letzter Hinweis: Seien Sie bitte mit dem Begriff des gelernten Kommunisten vorsichtiger. Wenn man das wirklich lernen könnte, könnten auch Sie es noch nach einem entsprechenden Schulbesuch werden. Gehen Sie also mit diesem Begriff vorsichtiger um!
Möchten Sie antworten? - Nein.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stark und stabil kann nur eine Währung sein, die Vertrauen findet. Vertrauen will erworben sein und kommt nicht von allein. Die D-Mark genießt dieses Vertrauen in hohem Maße bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, bei den Nachbarn und auf allen Finanzmärkten rund um den Globus.
Nun steht die Entscheidung an, ob die D-Mark nach ihrem in der deutschen Währungsgeschichte beispiellosen Erfolgsweg in den letzten 50 Jahren zugunsten einer gemeinsamen Währung, des Euro, aufgegeben werden soll. Für eine Entscheidung von solcher Tragweite genügt es nicht, einige volkswirtschaftliche Daten zu prüfen. Es geht nicht allein um die Startbedingungen der neuen Währung. Der Euro muß auch nach 20 Jahren eine gute Währung sein.
So wie die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Vertrag von Maastricht angelegt ist, bestehen dafür gute Voraussetzungen. Aber machen wir uns nichts vor: Der Abschied von der D-Mark fällt den Deutschen schwer. Das Vertrauen in den Euro muß noch wachsen. Um so deutlicher sei es gesagt:
Jörg-Otto Spiller
Der Bundestag wird seine Entscheidungen nicht leichtfertig treffen.
Bei seiner Zustimmung zum Vertrag von Maastricht hat der Bundestag auf Initiative der SPD im Dezember 1992 in einer gemeinsamen Erklärung dargelegt:
Der Deutsche Bundestag nimmt die Besorgnisse in der Bevölkerung über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung ernst. Es muß daher alles getan werden, damit sich diese Sorgen als gegenstandslos erweisen. Die Stabilität der Währung muß unter allen Umständen gewährleistet sein.
Gleichzeitig hat der Bundestag erklärt, daß er die Entscheidung über die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion nicht der Bundesregierung überlassen wird, sondern sich selbst diese Entscheidung vorbehält. Der Finanzausschuß, der Europaausschuß und die anderen beteiligten Ausschüsse werden die Vorlage der Bundesregierung, die Konvergenzberichte der Europäischen Kommission, des Europäischen Währungsinstituts und die Stellungnahme der Deutschen Bundesbank sehr sorgfältig beraten.
Für die Sozialdemokraten kommt es dabei vor allem auf eines an: Wir wollen sichergehen, daß die Bedingungen stimmen, damit der Euro nach allem menschlichen Ermessen auf Dauer eine solide Währung wird. Wir wollen unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit gutem Gewissen und aus Überzeugung sagen können: Die D-Mark wird nicht auf dem Altar Europas geopfert, sondern durch eine ebenso stabile und feste Währung ersetzt.
Zugang zu dieser Währungsunion werden nur Länder haben, die bewiesen haben, daß sie selbst eine ähnliche Vorstellung von einer stabilen Währung haben, wie sie in Deutschland über Jahrzehnte gewachsen ist. Die Währungsunion hat nichts mit den Währungsreformen von 1923 oder 1948 zu tun.
Damals sind zerrüttete Währungen ersetzt worden. Heute geht es genau umgekehrt darum: Es können an dieser Währungsunion nur Länder mit einer soliden wirtschaftlichen und währungspolitischen Grundlage teilnehmen.
Diese gewachsene Stabilitätskultur in Europa ist die eigentliche Grundlage für die Hoffnung auf diese gute neue Währung.
Hätte denn vor 20 Jahren jemand geglaubt, daß wir heute in Italien oder Spanien Inflationsraten in Höhe von 1,8 Prozent haben? Wer hätte denn zu hoffen gewagt, daß sich nahezu gleiche Zinssätze in allen Ländern Westeuropas ohne Intervention am Markt eingependelt haben? Wer hätte denn geglaubt, daß über Jahre hinweg bei einem großen Teil der jetzt beteiligten Währungen nahezu völlig stabile Wechselkurse untereinander bestehen? Dies ist eine gute Voraussetzung.
Ich will auch nicht verschweigen, daß wir mit Stolz darauf blicken können, daß die Europäische Zentralbank nach dem Muster der Deutschen Bundesbank konstruiert ist. Sie wird von politischen Weisungen unabhängig sein, sie wird nach dem Vertrag und der Satzung vorrangig auf das Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet sein. Ihr ist es ausdrücklich untersagt, öffentliche Haushalte mit Krediten zu finanzieren.
Herr Finanzminister Waigel, eines muß ich allerdings sagen
- er ist im Augenblick nicht mehr da -: Die Rolle des Musterschülers, der mit einer gewissen Hochnäsigkeit auf andere herabblicken und Zeugnisse und Zensuren verteilen kann, steht den Deutschen nicht zu.
Ich empfehle unserem Bundesfinanzminister, falls er es noch nicht gemacht hat - man muß es fast annehmen -, noch einmal sehr aufmerksam das zu lesen, was beispielsweise das Europäische Währungsinstitut über Deutschland, über die Erosion der Steuerbasis und die Arbeitslosigkeit
sowie über die unsolide Finanzierung eines großen Teils der öffentlichen Verschuldung schreibt,
weil die Fristigkeit von öffentlichen Schulden des Bundes und namentlich der Nebenhaushalte immer kürzer geworden ist.
- Leider ist es wahr, Herr Merz, lesen Sie bitte den Bericht nach.
Es kommt hinzu - das muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden; da sehen wir einen Gegensatz zu manchem, was von der Koalition gesagt worden ist -: Wir werden eine Konsolidierung der öffentlichen Finanzen in Deutschland und in Europa nur durch den Abbau von Arbeitslosigkeit schaffen.
Beschäftigungspolitik und stabile, solide Finanzen sind kein Gegensatz.
Die Erosion des Arbeitsmarktes ist die Hauptquelle für die Erosion von öffentlichen Finanzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Larcher?
Ja, bitte.
Herr Kollege Spiller, weil Sie gerade den Chefbelehrer Bundesfinanzminister Theo Waigel angesprochen haben: Wie erklären Sie sich, daß er zwar unheimlich oft von Gerhard Schröder gesprochen hat, aber trotz deutlicher Zeitungsmeldungen über die Zerreißproben innerhalb der CSU - unter massiven Kontroversen; es stand ja wohl so auf Spitze und Knopf, daß es hieß: entweder Waigel oder Stoiber - überhaupt nicht den bayerischen Ministerpräsidenten angesprochen hat. Sollte der bayerische Ministerpräsident in der CDU/CSU- Fraktion inzwischen Persona non grata geworden sein?
Ich verfüge leider nicht über genaue Kenntnisse über das Verhältnis zwischen dem Herrn bayerischen Ministerpräsidenten und dem Vorsitzenden der CSU. Mir ist allerdings aufgefallen, daß die Vorsitzende der bayerischen SPD
im Zusammenhang - was auch Ihre Aktivitäten, Herr Ministerpräsident Stoiber, angeht - mit dem Euro und der Eurodebatte gesagt hat, Sie erinnerten Frau Schmidt an das Sprichwort von dem Hahn, der glaubt, daß die Sonne nur aufgegangen sei, um sein Krähen zu hören.
Herr Bundesfinanzminister, die Notwendigkeit, daß auch in Deutschland noch Schularbeiten erledigt werden müssen, ist in den Berichten der Kommission und des Europäischen Währungsinstituts, im übrigen auch der Bundesbank, deutlich ausgesprochen worden.
Sowohl Sie als auch der Bundeskanzler werden in den wenigen Monaten, die Ihrer Regierung noch verbleiben, nicht mehr viel zu dieser Konsolidierung und zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland beitragen können.
Das wird im wesentlichen Ihr Nachfolger und die von ihm geführte neue Bundesregierung leisten müssen.
Gerhard Schröder ist gestern von der „Bild"-Zeitung gefragt worden, warum Niedersachsen im Bundesrat für den Euro stimmen wolle. Herr Schröder hat geantwortet: „Weil wir aus den Tatsachen das Beste machen und uns der Verantwortung stellen wollen. Unsere Aufgabe lautet: Die Ärmel aufkrempeln und alles dafür tun, daß der Euro ein Erfolg wird."
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kristin Heyne.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die offenbar unvermeidbaren Wahlkampftöne in dieser Debatte haben die Tatsache ein bißchen in den Hintergrund treten lassen, daß in der Frage, um die es heute geht, nämlich in der Frage des Teilnehmerkreises zu Beginn der Währungsunion, eine breite Einigkeit in diesem Haus besteht. Das ist eine Einigkeit, die gut und notwendig ist. Wir begrüßen als Bündnisgrüne ausdrücklich, daß die Währungsunion mit einem breiten Teilnehmerkreis beginnen wird.
Es ist aber dieser Regierung und auch diesem Haus bisher nicht gelungen, eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu erreichen. Diese Regierung hat die Diskussion hier im Land erst begonnen, nachdem sie völkerrechtlich verbindlich den MaastrichtVertrag unterschrieben hatte. Diese Regierung hat in den letzten zwei Jahren eine völlig unnötige 3,0-Prozent-Debatte hier in Deutschland geführt, die wohl im wesentlichen bayerischen Bedürfnissen geschuldet war. Sie hat mit diesem Verhalten die Verunsicherung und die Ablehnung in der Bevölkerung deutlich verstärkt.
Wir haben heute nun endgültig über das Euro-Einführungsgesetz zu beraten und zu entscheiden. Dieses Gesetz wird regeln, wie die Bevölkerung dem wirklichen Euro begegnen wird und welche ersten Erfahrungen sie mit dem Euro haben wird. In diesem Gesetz sind wichtige Regelungen nicht zu finden, zum Beispiel die Fragen des Verbraucherschutzes. Es wird aber wichtig sein, daß bei der Umstellung der Währung von der D-Mark auf den Euro die Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher möglichst groß ist, damit Vertrauen in diese neue Währung entstehen und ein Preisgefühl für das neue Geld wachsen kann.
Wir halten es deswegen für notwendig, daß vor Einführung der neuen Währung und auch für einen gewissen Zeitraum nach Einführung der neuen Währung die Preise doppelt ausgezeichnet werden, damit bei den Verbrauchern die Ängste, die vor verdeckten Preiserhöhungen bestehen, nicht wachsen können, sondern daß klargestellt wird: Hier wird wirklich von einer Währung auf die andere umgestellt, und es geht nicht der Wert des Geldes verloren.
Wir haben bisher lediglich eine Erklärung des Einzelhandels auf dem Tisch liegen, daß er die Währung genau umrechnen will. Das heißt nur, daß man die in
Kristin Heyne
der EU gültigen Gesetze erfüllen will. Das schafft aber in keiner Weise Preistransparenz. Selbst wenn richtig umgerechnet würde, dies aber für die Bevölkerung nicht zu sehen wäre, könnte dadurch die Legende entstehen, daß mit dem Euro unser Geld weniger wert geworden ist; das wäre ein massiver Schaden für die Bereitschaft zur europäischen Integration.
Es laufen zur Zeit noch die Verhandlungen zwischen den Verbraucherverbänden und dem Einzelhandel. Wenn es im Rahmen dieser Verhandlungen zu keiner Einigung kommen sollte, müssen wir auf gesetzliche Regelungen zurückgreifen. Ich halte deswegen die Erklärung des Wirtschaftsministeriums, daß man auf gesetzliche Regelungen grundsätzlich verzichten wolle, für absolut voreilig. Dieses Parlament und diese Bundesregierung sollten nicht ein zweites Mal den Fehler begehen, die Beunruhigung in der Bevölkerung zu unterschätzen. Sie haben es vor der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages versäumt, die Zustimmung der Bevölkerung einzuholen. Verspielen Sie nicht ein weiteres Mal das Vertrauen der Bevölkerung durch unklare Verhältnisse bei der praktischen Einführung des Euro.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir im Deutschen Bundestag werden heute mit großer Mehrheit eine historische Entscheidung treffen.
Unser wiedervereinigtes Land vereinigt sich durch diese erste Lesung - ich nehme nicht an, daß Sie in zweiter und dritter Lesung von Ihrem heutigen Votum abweichen - wirtschaftlich und währungspolitisch unwiderruflich mit europäischen Partnerländern und mit fast 300 Millionen Europäern zu einer Wirtschafts- und Währungsunion. Dies ist Ausdruck der Selbstbehauptung und des Aufbruchs von uns Europäern. Es ist die Bereitschaft Europas, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit Asien eine globale Partnerschaft einzugehen. Die europäische Währung wird mehr als Geld sein; sie wird das internationale und außenpolitische Gewicht von uns Europäern gewaltig verstärken. Sie ist Ausdruck des Triumphes von Politikern, die sich auch gegen Widerstand für Visionen eingesetzt haben. Sie ist die Niederlage von Menschen, von Politikern und auch von Wissenschaftlern, die aus populistischen Gründen von Anfang an dagegen waren.
Wenn man eine Bilanz der Diskussionen über die europäische Währung zieht, so gehören zu den Gewinnern an der Spitze der Bundeskanzler, Herr Genscher, Herr Kinkel und Herr Waigel, die F.D.P. von
Anfang an als Ganzes, die SPD nicht als Ganzes und in vorbildlicher Weise die deutschen Gewerkschaften. Verlierer sind die Grünen, die PDS, einige wichtige Ministerpräsidenten,
aber auch große Teile der deutschen Wissenschaft und Teile der Medien.
Wer als Kandidat antritt, der kann nicht, wie Herr Schröder, heute kommunalen Wahlkampf machen, sondern der muß bei der ersten Lesung eines so wichtigen Gesetzes hier im Deutschen Bundestag sein.
Der Weg von der Landesliga in die Bundesliga ist weit.
Es ist unwürdig, aus populistischen Gründen - wie heute in der „Bild"-Zeitung - gegen den Euro zu reden, gleichzeitig aber überheblich zu sagen: Ich nehme das als Tatsache hin, aber ich habe die Kraft, aus dieser Miß- und Frühgeburt noch etwas Besseres zu machen. - Das zeugt von unglaublicher Überheblichkeit.
Es gibt auch andere Ministerpräsidenten - wie der aus Sachsen -, die immer Visionen in Deutschland angemahnt haben, aber kurz vor Beginn der Verwirklichung einer großen Vision kläglich um eine Verschiebung um fünf Jahre bitten. Das ist aus meiner Sicht keine große Haltung.
Beruhigend ist, meine Damen und Herren von der Opposition, daß in Deutschland noch nie jemand Bundeskanzler werden konnte, der sich in einer entscheidenden internationalen Frage so populistisch verhalten hat wie Ihr Kandidat.
Die eigentliche Tragik in der deutschen Diskussion liegt darin, daß die Deutschen - unhistorisch - nicht in der Lage sind, sich über einen Erfolg deutscher Nachkriegspolitik zu freuen.
Dr. Helmut Haussmann
In Wirklichkeit haben sich drei Erfolgsprinzipien deutscher Politik in Europa durchgesetzt: Erstens: das Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft. Jacques Delors hat in einer Rede in New York vor fünf Jahren darauf hingewiesen
- er hat dies als Mitglied der sozialistischen Partei Frankreichs gesagt -, daß das geltende europäische Modell der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet ist.
Zweitens: die Unabhängigkeit der Notenbank. Die Europäische Zentralbank ist noch unabhängiger als die Deutsche Bundesbank. Ihre Statuten können nicht mit einfacher Mehrheit geändert werden. Die führenden Leute können zudem nicht wiedergewählt werden.
Drittens: Die Heimat der europäischen Währung wird Deutschland, wird Frankfurt/Main sein.
Deshalb ist es so wichtig, daß wir uns über einen Erfolg freuen können, daß sich auf wirtschafts- und währungspolitischem Gebiet deutsche Ideen durchgesetzt haben, und deshalb, Herr Ministerpräsident Stoiber, kann man diesem Modell mit gutem Gewissen zustimmen. Aus meiner Sicht bedeutet politische Führung im Zeitalter der Globalisierung: Mut zur Vision, nicht ein Schielen auf aktuelle Meinungsumfragen; den Menschen mit guten Argumenten die Ängste zu nehmen, nicht Ängste zu schüren; die Fähigkeit zu haben, mit anderen Nationen von Anfang an vertrauenswürdig zusammenzuarbeiten.
Es war interessant, daß Herr Lamfalussy bei seinem Abschied aus Frankfurt gesagt hat: Wieso seid ihr Deutschen nicht bereit, euch zu freuen? Euer Modell hat sich europäisch durchgesetzt.
Die Stabilitätspolitik ist eben kein Gegensatz zur Beschäftigungspolitik. Vielmehr ist Stabilitätspolitik Voraussetzung für mehr Beschäftigung. Eines ist klar: Unter den Bedingungen der Europäischen Währungsunion wird es mehr Arbeitsplätze in Europa geben. Nur, es wird eine Frage der nationalen Reformpolitik sein, wo die Arbeitsplätze unter den Euro-Bedingungen anfallen. Sie sollten die Menschen aufklären, indem Sie sagen: Der Euro erfordert Reformen. Der Euro erfordert die Notwendigkeit lebenslangen Lernens, Flexibilität und größere Bereitschaft, sich zu verändern.
Zum Schluß will ich sagen: Es ist keine Schande, dem Europäischen Währungssystem aus politischen Gründen zuzustimmen. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn politische Union und Währungsunion parallel vorangeschritten wären. Aber die Währungsunion wird die weitere politische Integration beschleunigen. Deshalb bin ich - im Namen meiner Fraktion - nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus europapolitischen Gründen dafür. Wir werden dem Vertrag von Maastricht und dem Eintritt in die dritte Stufe geschlossen zustimmen.
Vielen Dank.
Nun spricht als Mitglied des Bundesrates der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren!
Die Entscheidung über den Vorschlag der Kommission über die Wirtschafts- und Währungsunion ist sicher eine der bedeutendsten Entscheidungen der Parlamente, der Regierungen in Deutschland in den letzten 50 Jahren. Diese Entscheidung ist deswegen von so überragender Bedeutung, weil sie jeden einzelnen unmittelbar betrifft.
Ich habe mir - ich bin mehrfach zitiert worden - die Entscheidung nicht leichtgemacht. Meine Partei - das hat Herr Fischer dankenswerterweise anerkannt - hat sich auf mindestens acht Parteitagen, darunter zwei Sonderparteitage und Sonderparteiausschüsse, außerordentlich intensiv und streitig
über die Vorteile, aber auch über die Risiken auseinandergesetzt.
Die heutige Diskussion war in einem hohen Maße, wenn ich das sagen darf, sachlich, und es wurde oft auf die Risiken hingewiesen. Ich habe noch nie zuvor gehört, daß Herr Lafontaine auf die dann fehlenden Stoßdämpfer, die Währungsabwertung, und die Folgewirkungen hingewiesen hat.
- In der Vergangenheit, Frau Wieczorek-Zeul, ist die Position der SPD, jedenfalls von ihm und auch von Ihnen, immer anders herübergekommen. Sie haben im Grunde genommen immer versucht, alle, die sich mit den Risiken beschäftigt haben, um diese zu minimieren, in die Ecke der Europagegner zu stellen. Das ist das Problem.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
Unser Problem ist doch, daß ein großer Teil - meine Vorvorrednerin hat das zu Recht gesagt -
unserer Bevölkerung - ob das 50, 60 oder nur 40 Prozent sind, das ist für mich im Moment nicht das Thema - gegenüber der Einführung des Euro und der Abschaffung der D-Mark skeptisch ist.
Jetzt geht es um folgendes, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn man diese Skepsis nicht aufgreift, wenn man diese Ängste nicht aufgreift und sich mit ihnen nicht auseinandersetzt, dann macht man den entscheidenden Fehler, daß man diese Menschen alleine läßt und sie mit der repräsentativen Demokratie auf Kriegsfuß stellt. Die Folge wird natürlich sein, daß diese Menschen nicht zur Wahl gehen,
weil sie sich mit ihren Ängsten politisch nicht vertreten fühlen, oder daß sie möglicherweise Parteien wählen, die wir in diesem Parlament überhaupt nicht haben wollen.
Warum sind die Menschen denn ängstlich, jedenfalls diejenigen, die sich skeptisch gegenüber dem Euro äußern? Das sind doch keine Gegner des Euro. Ich weigere mich, zu akzeptieren und zu sagen: All diejenigen, die gegenüber dem Euro skeptisch sind, sind Eurogegner.
Nein, die Menschen sind skeptisch, weil sie Angst haben, daß ihr Geld in fünf oder zehn Jahren möglicherweise nicht mehr die gewohnte Stabilität hat.
- Das tun wir ja! Lieber Herr Haussmann, das hat keine Partei so sehr auszuräumen versucht wie die des Finanzministers, der auch ich angehöre. Wir haben die Diskussion über die Defizitquote in Höhe von 3,0 geführt. Wie sind wir dafür kritisiert worden. Wie ist uns „Kommafetischismus" vorgeworfen worden. Wie leichtfertig waren Sie eigentlich schon von den 3,0 weg? Sie hätten auch 3,5 oder 3,6 akzeptiert!
Ich sage ganz offen: Eine rotgrüne Regierung hätte sich niemals für einen Stabilitätspakt eingesetzt, den diese Regierung, Helmut Kohl und Theo Waigel, durchgesetzt hat.
Sie haben diese Stabilität doch niemals in dieser
Weise gesehen. Ich möchte Sie noch einmal auf folgendes aufmerksam machen: Sie beginnen ja bereits,
die Stabilitätskriterien durch Beschäftigungskriterien zu relativieren.
- Natürlich tun Sie das. Aber ich will das nicht näher ausführen.
Wenn Sie so wollen, dann ist unsere Forderung nach 3,0, jetzt auf einen Punkt gebracht, sicherlich Synonym für die Stabilität geworden. Unser Beitrag zur Stabilität ist 3,0. Ihr Beitrag war allenfalls 0,0, wenn ich das in diesem Zusammenhang sagen darf.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe eine so geringe Redezeit, und ich will den Zusammenhang nicht sprengen.
- Bitte sehr. Wenn das nicht auf die Redezeit angerechnet wird, bitte sehr.
Herr Kollege Wieczorek, Sie können Ihre Zwischenfrage stellen.
Herr Ministerpräsident Stoiber, mich hat etwas irritiert, was Sie zum Stabilitätspakt und zur Haltung der SPD gesagt haben. Soweit ich mich erinnere, haben wir da zugestimmt. Aber vielleicht fragen Sie einmal Ihren Parteivorsitzenden, wer sich unter anderem mit darum bemüht hat, daß der Stabilitätspakt so zustande gekommen ist. Er hat das einmal öffentlich geäußert. Deswegen wundere ich mich etwas, und ich möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen, daß dies eine gemeinsame Arbeit war.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, der Stabilitätspakt war eine Initiative der Bundesregierung als Ergänzung zum Maastricht-Vertrag, weil dies im Maastricht-Vertrag nicht enthalten war.
Sie hätten mit Sicherheit niemals diesen Stabilitätspakt mit der Intention verfolgt, wie das von unserer Seite aus getan worden ist. Das will ich noch einmal deutlich machen.
Sie, Herr Wieczorek, brauchen sich ja nur mit dem einen oder anderen Ihrer sozialistischen Kollegen auf internationaler Ebene zu unterhalten, was sie von
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
dem internationalen Stabilitätspakt, der hier durchgesetzt worden ist,
gehalten haben. Es wäre viel schneller gegangen, wenn alle die Meinung vertreten hätten, die Sie möglicherweise vertreten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht mir noch um ein Zweites, und darauf will ich ganz besonders hinweisen.
- Ja, die haben nur Sie!
Wir haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch eine besondere Situation in unserer Bevölkerung. Das ist heute schon angesprochen worden. Ich meine die Tatsache des kollektiven Bewußtseins, die Tatsache, daß unser Volk zwei Hyperinflationen mit dramatischen Folgen erlebt hat. Deshalb sit in keinem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union eine so große Skepsis gegenüber der Einführung des Euro festzustellen wie in Deutschland. Das hängt natürlich damit zusammen.
Deshalb ist es auch die primäre Pflicht,
den Menschen die Angst zu nehmen, die Stabilität könne irgendwie in Gefahr geraten. Die Stabilität der Währung ist für die kleinen Leute, für die 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, die keinen Grund und Boden besitzen, die keine großen Aktienpakete besitzen, sondern die nur ihre Rente, ihr Einkommen, vielleicht ihr Sparguthaben oder ihre Lebensversicherung haben, sozusagen eine existentielle Voraussetzung. Deswegen darf man damit nicht leichtfertig umgehen.
Eine zweite Bemerkung in diesem Zusammenhang, die ich auch besonders herausstellen will, weil ich immer wieder das Gefühl hatte - heute hatte ich dieses Gefühl in dieser Diskussion jedenfalls nicht - -
- Ach, um Gottes willen.
Meine Damen und meine Herren, jeder, der auf die Risiken der Gemeinschaftswährung hingewiesen hat, ist von Ihnen immer wieder als Europagegner abqualifiziert worden.
Heute möchte ich noch einmal diesen Punkt ansprechen. Neben der Funktion des Geldes hat die deutsche Währung für die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg auch noch eine andere Funktion: Sie ist auf Grund der geschichtlichen Entwicklung ein Stück nationale Identität geworden. Das wissen Sie. Deswegen tut sich die deutsche Bevölkerung schwerer, sich von dieser Währung als einem Stück der nationalen Befindlichkeit zu trennen.
Deshalb ist es sicherlich richtig, daß wir uns insgesamt im Zusammenhang mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und mit der weiteren Integrationswirkung Europas mit der Frage beschäftigen - und diese Frage hat Herr Fischer angesprochen -, was denn eigentlich heute und morgen die Rolle der Nation, was die Rolle der Region ist.
Herr Fischer, Sie haben mein Interview aus dem Jahre 1993 angesprochen, in dem ich gesagt habe, daß auch meine Partei eine Veränderung vorgenommen hat. Wir sind in den 50er und 60er Jahren für einen Bundesstaat Europa eingetreten. Wir sind heute nicht mehr der Meinung, daß das Ziel Europas ein Bundesstaat nach dem Modell Deutschlands oder gar nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika sein sollte. Die Frage, wie sich Europa entwikkelt, ist sicherlich offen. Ein Bundesstaat aber würde die staatliche Identität oder, wenn Sie so wollen, die Souveränität der Länder entscheidend tangieren. Deswegen kann es von uns niemals akzeptiert werden, wenn ein Bundesstaat Europa angestrebt wird.
Ich sage Ihnen voraus: Die Subsidiarität allein, so dankenswert es auch ist, daß sie in Maastricht und Amsterdam vom Bundeskanzler durchgesetzt worden ist, wird nicht ausreichen. Ich bin der festen Überzeugung - hier möchte ich über das Thema Euro hinausgehen -, daß dieses Europa mit 300 Millionen Menschen innerhalb der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, heute mit 15 Staaten und morgen mit 20 oder 23, nicht wird existieren können, wenn wir keine klareren Zuständigkeitsregelungen haben. Wir werden auch nicht zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommen. Wir werden immer versuchen, manches, was uns nicht paßt, mit Einheitsentscheidungen zu blockieren, wenn wir nicht insgesamt klarere Zuständigkeitsregelungen bekommen. Solche Regelungen zu erreichen muß unsere Aufgabe sein.
- Bitte sehr.
Ich muß Ihnen allerdings sagen, Herr Kollege Fischer, daß ich schon eine Zwischenfrage von Frau Bulling-Schröter abgewehrt habe, weil die angemeldete Redezeit des Ministerpräsidenten abgelaufen ist.
Herr Ministerpräsident, ich muß Sie fragen, ob Sie dann auch die Zwischenfrage der Kollegin BullingSchröter zulassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Wir haben anderweitig Gelegenheit dazu. Obwohl ich länger reden könnte, will ich hier nicht den Rahmen sprengen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
- Wir werden noch viel Gelegenheit haben, über diese Dinge zu reden, vielleicht schon am 23. oder 24. April, wenn die Entscheidung ansteht.
Sie haben auch die Stichworte „Osterweiterung" und „Agenda 2000" angesprochen. Dazu nur eine kurze Anmerkung: Selbstverständlich sind wir aus politischen Gründen für eine Erweiterung der Europäischen Union. Da besteht meines Erachtens in diesem Hause zwischen den politischen Parteien überhaupt kein Dissens, mit Ausnahme der PDS und vielleicht auch der Grünen. Das ist aber zu vernachlässigen.
Eines aber steht doch fest: Sie werden die Osterweiterung nur erreichen, wenn Sie die Finanzbeziehungen völlig neu strukturieren.
Es kann zum Beispiel nicht angehen, daß die Deutschen netto 22 Milliarden DM in die europäische Agrarkasse einzahlen, insgesamt aber nur 10 Milliarden DM zurückbekommen, wenn ich das einmal einfach so aufrechnen darf. Wir haben in Bayern ein Drittel aller deutschen Landwirtschaftsbetriebe. Es kann nicht sein, daß die Agrarpolitik der Agenda 2000 Wirklichkeit wird, weil das den Strukturwandel mit Karacho vorantreiben und Zehntausende von Bauern in unserem Lande von heute auf morgen schutzlos machen würde. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, für den entsprechenden politischen Schutz zu sorgen. Es ist unsere Entscheidung, die Entscheidung dieses Hauses und in Bayern die des Landtages, welche Landwirtschaft wir uns leisten wollen. Das können wir nicht an Europa delegieren. Das ist eine der grundsätzlichen politischen Fragen, die wir morgen oder übermorgen diskutieren müssen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn wir die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion bejahen - leider ist Herr Lafontaine nicht mehr da; er tut dies -, im Prinzip aber gleichzeitig dem dann drängenden härteren Wettbewerb ausweichen wollen und glauben, der Wettbewerb der Steuersysteme, der Wettbewerb der Systeme der sozialen Sicherung, der Wettbewerb der Flexibilität der Arbeit usw. könne sozusagen über eine europäische Harmonisierung erreicht werden, dann können wir Europa vielleicht in hundert Jahren beginnen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Deswegen bleibt uns heute, morgen und übermorgen nichts anderes übrig: Wer für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist, muß auch zu einer Reform der Systeme der sozialen Sicherung bereit sein. Wer gleichzeitig sagt, er wolle das, was die Bundesregierung zum Kündigungsschutz beschlossen hat, oder die Rentenreform wieder zurücknehmen, um bestimmte Entlastungen der Systeme der sozialen Sicherung zu erreichen, der handelt widersprüchlich, meine sehr verehrten Damen und Herren. Beides geht nicht. Entweder, oder!
Wir müssen uns reformieren. Vor allen Dingen müssen wir - das sage ich als letztes - mit dem Pfund der Deutschen Bundesbank außerordentlich wuchern. Ich bin der festen Überzeugung, daß die nach langen Diskussionen getroffene Entscheidung der Deutschen Bundesbank mit der zentralen Bemerkung, der Beginn der Währungsunion erscheine stabilitätspolitisch vertretbar, wegen der Autorität der Bundesbank auch dazu führen wird, die Skeptiker in unserem Lande auf den Weg zu einer vernünftigen Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zu führen. Wir müssen dafür sorgen und darauf achten - hier müssen wir immer Mahner und Wächter sein -, daß die Stabilität das Maß aller Dinge ist und nicht durch Beschäftigungskritierien à la Jospin aufgeweicht wird,
der in der Zwischenzeit davon gesprochen hat, es gebe keine Maastricht-Kriterien mehr, sondern nur noch Luxemburg-Kriterien. Das wird nicht der Weg sein. Darauf werden wir achten.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Joseph Fischer.
Herr Ministerpräsident Stoiber, ich bedaure, daß es nicht zu einer kurzen Zwischenfrage an dem Punkt gekommen ist, den ich - jenseits der parteipolitischen Orientierung - als für die Perspektive sehr spannend empfinde, weil es um die grundsätzliche Ausrichtung deutscher Europapolitik geht. Mit welcher Zielperspektive verbinden Sie das europäische Projekt, das wir heute in einem entscheidenden Punkt, nämlich hinsichtlich der Übertragung der Währungssouveränität auf die europäische Ebene, zu beraten haben?
Sie haben klar gesagt, bei Ihnen gebe es nach der deutschen Einheit eine Absage an den europäischen Bundesstaat. Nun bin ich gerne bereit, Argumente sehr ernst zu nehmen, die besagen, daß ein kontinentaler Bundesstaat, also eine Ausdehnung der Bundesrepublik Deutschland, wie wir sie heute haben, oder gar ein kontinentaler Staat, wie es die USA darstellen, mit Europa nicht machbar, vielleicht auch nicht wünschenswert ist. Aber das ist für mich nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt, nach dem ich Sie fragen wollte, ist: Wie stehen Sie zu weitergehenden Souveränitätsübertragungen auf ein europäisches Völkerrechtssubjekt, das ja weder ein Bundesstaat noch eine lose föderative Struktur sein muß? Verbinden Sie mit der Aussage, Sie seien gegen einen Bundesstaat, zugleich eine Absage an eine weitergehende Übertragung von zentralen Souveränitätsrechten der europäischen Nationalstaaten auf die europäische Ebene?
Herr Ministerpräsident, Sie können darauf antworten. Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Fischer, wir haben gerade im Amsterdamer Vertrag eine Reihe von Souveränitätsrechten nationaler Art auf die Europäische Union übertragen. Wir werden sicherlich in absehbarer Zeit noch weitere Souveränitätsrechte übertragen. Wenn ich vor allen Dingen an den Bereich der inneren Sicherheit und auch an den Bereich des Asylrechts mit seinen vielen Facetten denke, dann bin ich der festen Überzeugung, daß wir hier eine weitere europäische Regelung brauchen. Damit muß aber - das ist die entscheidende Frage - die Einzelermächtigung korrespondieren. Unser Problem in der Europäischen Union, Herr Fischer, ist, daß wir sehr unklare Zuständigkeitsregelungen haben.
Ich glaube, daß in diesem Parlament auch noch nicht in der gebotenen Deutlichkeit diskutiert worden ist, daß die in der Zwischenzeit zur Dominante in Europa gewordene Europäische Kommission sich mittlerweile als eine europäische Regierung begreift, was sie eigentlich nicht ist. Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, daß er bei seinem letzten Auftritt im ZDF sehr deutlich darauf hingewiesen hat, daß die Zuständigkeiten der Europäischen Kommission so nicht weiterbestehen sollen, daß man zu Veränderungen kommen muß.
Jetzt zu Ihrer Frage am Schluß: Wir brauchen eine klare Definition der Kompetenzen, die wir auf die Europäische Union übertragen. Die Europäische Union hat die Eigenheit, daß sie übertragene Kompetenzen extensiv auslegt. Im Streitfall kommt die Angelegenheit zum Europäischen Gerichtshof. Dieser begreift sich nicht als ein Gericht im klassischen Sinn, sondern als einen Integrationsfaktor innerhalb Europas. Es gibt kaum ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das sich gegen eine Kompetenz für Europa ausgesprochen hat. Dies wird morgen oder übermorgen die entscheidende Frage sein.
Sie werden spätestens dann eingeholt werden, wenn es um die Sozialtransfers geht. Gegenwärtig geht es in einem Prozeß am Europäischen Gerichtshof darum, daß Erziehungsgeld und sonstige Sozialleistungen letzten Endes kreuz und quer über Europa verteilt werden sollen. Das kann so mit Sicherheit nicht geschehen. Deshalb muß es zu einer Neuregelung kommen. Sagen wir also ja zu weiteren Kompetenzübertragungen dort, wo es Sinn macht, und Rückübertragungen der Kompetenzen dort, wo die europäische Kompetenzregelung keinen Sinn macht, sowie zu einer wesentlich konkreteren Regelung darüber, wo Europa, wo die Nation, wo die Regionen oder Länder und wo die Kommunen zuständig sind. Das wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein.
Wenn Sie dies nicht hinbekommen, werden die Menschen an Europa letzten Endes irre werden, weil sie nicht mehr wissen, an wen sie sich halten sollen. Der Landtagsabgeordnete sagt: Ich bin nicht zuständig. Der Bundestagsabgeordnete sagt: Ich bin nicht zuständig. Der Ministerpräsident sagt: Da kann ich leider nichts machen, dafür ist die Europäische Kommission zuständig. Wenn sich die Leute dann an die Europäische Kommission wenden, werden sie kaum durchgestellt. Dies ist ein viel größeres Problem für die repräsentative Demokratie als viele glauben. Hier müssen wir gemeinsam ansetzen.
Ich gebe der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Stoiber, es freut uns natürlich, daß Sie jetzt Ihren Salto mortale vollzogen und die Kurve gekratzt haben und doch noch der Europäischen Währungsunion zustimmen werden. Aber es hat doch schon etwas Komisches an sich, wenn jemand, der noch vor wenigen Wochen durch Vertraute hat verlauten lassen, man könne den Euro vielleicht erst einmal auf Probe einführen, auf jetzt diese Art und Weise klarmachen muß, daß er in letzter Konsequenz doch zu dem Ergebnis der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion steht.
Dies ist im übrigen der gleiche Mechanismus wie beim Vertrag von Amsterdam: Erst große Töne spuk-
Heidemarie Wieczorek-Zeul
ken und anschließend, obwohl in diesem Bereich überhaupt nichts geändert wird, einschwenken.
Ich muß sagen: Das ist eine Art und Weise von Politik, die eigentlich nur auf Stimmungsmache zielt, aber überhaupt nichts mit realer Politik zu tun hat.
Jetzt sind Sie in beiden Fällen erwischt worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Stoiber und auch andere haben angesprochen, daß es - darüber dürfen wir uns heute in der Debatte trotz der breiten Zustimmung hier im Parlament zur Frage des Euro keine Illusionen machen - eine immer noch vorhandene erhebliche Skepsis und Sorge der Bevölkerung gibt. Der großen Mehrheit hier im Parlament steht noch eine sehr zögernde große Mehrheit in der Bevölkerung gegenüber.
Ich möchte an eines erinnern, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Deutsche Bundestag hätte sich die Akzeptanzschwierigkeiten und Zweifel im Jahre 1990/91 sparen können, wenn Sie dem Vorschlag der SPD gefolgt wären, die Verfassung so zu ändern, daß wir einen Volksentscheid in diesen Fragen hätten durchführen können.
Ein Volksentscheid hätte Sie von der Regierung dazu verpflichtet, zu argumentieren und den Menschen die Argumente nahezubringen. Statt dessen ist die Sache von manchen aus Ihren Reihen wie eine geheime Kommandosache behandelt worden. Das rächt sich in letzter Konsequenz.
Eines ist klar - das sage ich an die Adresse von Gregor Gysi, wo auch immer er jetzt herumschwirren mag -: Heute noch einmal zu fordern, ein Referendum zur Währungsunion durchzuführen, wäre unredlich, denn der Vertrag ist ein völkerrechtlich gültiger Vertrag. Wir können nicht per Volksentscheid dazu aufrufen, diesen Vertrag zu brechen. Es gibt die Verbindlichkeit deutscher Politik in all diesen Fragen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel?
Ich wollte eigentlich noch einmal genau auf dieses Problem zurückkommen, Kollegin Wieczorek-Zeul. Welche Argumente führen Sie gegen das Begehren an, das viele Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland und auch die PDS vorgetragen haben, nämlich einen Volksentscheid aller Bürgerinnen und Bürger über die Einführung des Euro durchzuführen? Die von Ihnen vorgetragenen Argumente sind meines Erachtens sehr fadenscheinige. Können Sie weitere politische und rechtliche Bedenken dagegen nennen?
Es gibt natürlich auch politische, aber vor allem rechtliche Bedenken. Ich danke Ihnen für die Frage. Ich habe nämlich zu denjenigen gehört - das weiß die Bundesregierung genau -, die hier im Deutschen Bundestag mit den Regelungen zu Art. 23 Grundgesetz und den Regelungen bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß der Maastricht-Vertrag überhaupt ratifizierungsfähig war. Sonst wären Sie im übrigen auch heute vor dem Verfassungsgericht auf Grund gelaufen; darauf will ich nur einmal verweisen.
Wir haben damals im Hinblick auf die völkerrechtlich verbindliche Entscheidung einen Parlamentsvorbehalt geschaffen. Wäre es nach der CDU/CSU und der F.D.P. gegangen, dann wäre der Automatismus abgelaufen, dann hätten wir uns heute im Deutschen Bundestag mit der Frage gar nicht mehr beschäftigt.
Wir haben verankert - hören Sie gut zu; damit müssen Sie sich beschäftigen -, daß der Deutsche Bundestag noch darüber entscheidet, ob die Bundesregierung unterschreiben und der Entscheidung im Europäischen Rat über die Zahl der Teilnehmer an der Währungsunion zustimmen kann. Das ist eine Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen - das müssen Sie von der PDS doch auch einsehen -, die nicht per Volksentscheid getroffen werden kann. Ein Volksentscheid über das Pro und Kontra - ich sage es noch einmal - hätte 1990/91 getroffen werden müssen. Wir waren dafür. Sie von der CDU/CSU und der F.D.P. waren dagegen, weil Sie Angst vor dem Volk hatten.
Ich stelle im übrigen fest - ich finde, das ist eine Mißachtung des Deutschen Bundestages -, daß Herr Stoiber erst redet, sich dann aber der Diskussion nicht stellt.
Ich beziehe mich auf ihn. Ich sage an dieser Stelle: Niemand von der CDU/CSU oder von der F.D.P. hat Herrn Schmidt-Jortzig daran gehindert, ein EuroEinführungsgesetz vorzulegen, nach dem die geltende Regelung des Verbots von Klauseln für automatische Preiserhöhungen wegfallen sollte. Ihre Regierung hat einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt. Wer der Bevölkerung in dieser Frage geschadet oder in ihr einen Vertrauensverlust verursacht hat, das sind Sie gewesen. Wir als SPD und die Grünen waren diejenigen, die Sie überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht haben, daß der Wegfall des seit 1948 geltenden Währungsgesetzes und des Indexierungs-
Heidemarie Wieczorek-Zeul
verbots bedeuten würde, daß die Menschen künftig höhere Gebühren, höhere Raten für Leasing und für Hypotheken beim Hausbau zahlen müßten. Wir haben durch öffentlichen Druck gestern durchgesetzt, daß in das Euro-Einführungsgesetz eine Regelung aufgenommen wird, durch die das Indexierungsverbot des Währungsgesetzes übernommen wird.
Das ist wirklich praktische Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger. Wir sind für die Europäische Währungsunion. Wir sind für den Euro. Aber wir wollen nicht, daß Verbraucher und Verbraucherinnen die Zeche zahlen müssen und über das Ohr gehauen werden. Ihr Gesetzentwurf hätte dazu geführt; das halte ich fest.
Wo war denn das Land Bayern, wo waren Sie denn, als es um diese Frage ging? - Sie waren nicht da. Sie machen große Sprüche, kümmern sich aber nicht um die praktischen Fragen der Menschen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gres?
Nein, jetzt nicht.
Weil ich gerade bei diesem Punkt bin, will ich auf folgendes hinweisen: Wir fordern Sie auf, endlich mit dem Handel für die Übergangsphase der Einführung des Euro verbindliche Regelungen für eine doppelte Preisauszeichnung zu vereinbaren.
Denn die Bürger und Bürgerinnen haben Angst, daß sie mit Preissteigerungen sozusagen übers Ohr gehauen werden. Nach allen menschlichen Erfahrungen haben die Bürger und Bürgerinnen mit dieser Angst nicht unrecht. Wenn das so ist, dann sollten Sie dazu beitragen, eine solche doppelte Preisauszeichnung zu verankern, damit man den Preis selber beurteilen kann. Das ist ein Akt des Schaffens von Vertrauen in den Euro.
Ein nächster Punkt. Es ist heute deutlich geworden, daß wir in diesem Haus grundsätzlich darin übereinstimmen, daß der Euro ein notwendiges Instrument für das Handeln auf globalen Finanzmärkten ist. Aber es sind zwei grundlegend unterschiedliche Konzeptionen deutlich geworden, wie vor allen Dingen die Wirtschaftspolitik unter den Bedingungen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gestaltet werden soll. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir werden mit unseren Nachbarländern dafür sorgen müssen, daß es genauso, wie elf der Länder, die in die Europäische Währungsunion eintreten, erstaunlich reduzierte Inflationsraten haben erreichen können, eine abgestimmte Aktion mit dem Ziel der Reduzierung der Arbeitslosigkeit gibt.
Das ist doch eine Perspektive, vor allen Dingen deshalb, weil natürlich nur dann, wenn die Arbeitslosigkeit bekämpft wird, der Euro auch auf Dauer stabil sein kann. Das ist die wichtigste Voraussetzung, die wir in Europa schaffen müssen.
Es ist ersichtlich geworden - Sie drücken es immer sehr höflich aus; Herr Schäuble, Herr Stoiber und viele andere sprechen von Harmonisierung, Deregulierung und dergleichen -, daß es heimlich und offen - im Schäuble-Lamers-Papier übrigens sehr offen - das Konzept gibt, daß mit Lohndruck, Sozial- sowie Lohndumping und dann faktisch mit wachsender Arbeitslosigkeit eine solche Europäische Währungsunion gestaltet werden soll.
Dieses Konzept wird auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung treffen. Es wird scheitern. Weil wir wollen, daß die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und der Euro funktionieren, sagen wir: Ein Konzept, das auf Lohndruck setzt, bedeutet, daß wir unsere Nachbarländer genauso unter den Druck sinkender Löhne setzen, bedeutet Deflation, wachsende Arbeitslosigkeit und in letzter Konsequenz entweder die Forderung nach Finanztransfers - die keiner will - oder das Scheitern der Währungsunion. Das ist Ihr Konzept. Sie sehen diese Widersprüche nicht und sehen auch nicht, daß es hier wirklich prinzipielle Unterschiede gibt
und daß es vor allen Dingen auch notwendig ist, Regelungen gegen Steuer- und Sozialdumping einzuführen.
An dieser Stelle möchte ich doch einmal feststellen: Ich hätte eigentlich erwartet, daß sich hier heute jemand aus dem Bereich der CDU mit den Argumenten von Kurt Biedenkopf auseinandersetzt. Ich richte mich jetzt an diejenigen in der CDU, die vielleicht noch etwas mit sozialer Marktwirtschaft am Hut haben. Ich zitiere Biedenkopf aus seinem Brief an den CDU-Parteivorstand:
Weil der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion die politische Union fehlt, werden sich der integrierte Markt und der Anwendungsbereich der sozialen und ökologischen Normen zunehmend auseinanderentwickeln. Während die Märkte sich über die nationalen Grenzen hinaus ausdehnen, bleibt der Geltungsanspruch dieser Normen auf den nationalen Rahmen begrenzt. Die Marktkräfte können sich ihnen deshalb zunehmend entziehen. Damit entsteht ein für die soziale Marktwirtschaft bedrohliches Defizit an normativer Bindung der Marktkräfte.
Heidemarie Wieczorek-Zeul
An die Adresse der CDU/CSU- und F.D.P.-Abgeordneten gerichtet, möchte ich folgendes sagen: Die Kritik ist berechtigt. Kurt Biedenkopf zieht nur die falschen Schlußfolgerungen, wenn er eine Verschiebung fordert. Eine Verschiebung würde in eine Situation zurückführen, durch die der Nationalstaat ausgehebelt wird. Unsere Perspektive - das ist die, die auch Gerhard Schröder deutlich gemacht hat - besteht darin, nach vorne zu blicken und auf der europäischen Ebene den Ordnungsrahmen für soziale und ökologische Bedingungen und Regelungen zu schaffen, der notwendig ist. Damit die soziale Marktwirtschaft überhaupt noch einen Gestaltungsrahmen behält, ist das allein die richtige Antwort auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion.
Markt ohne Staat führt zu Anarchie. Deshalb müssen wir dazu beitragen, daß diese Regelungen auf europäischer Ebene geschaffen werden; deshalb müssen wir uns vorwärtsorientieren. Wir dürfen die Einführung des Euro nicht verschieben, wie Kurt Biedenkopf es will.
- Anke Fuchs hat mit dem Zwischenruf recht: Wir lehnen den „Kapitalismus pur" ohne Ordnungsrahmen ab. Vielmehr haben wir die Perspektive eines Ordnungsrahmens für die soziale und ökologische Gestaltung Europas und - vor allen Dingen - für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf EU-Ebene. Darin sollte eine angemessene Begleitung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bestehen; dies sollte die Antwort auf ihre Probleme sein.
Gerade deswegen, weil der Euro kommt, können wir ihn keiner Bundesregierung überlassen, die mit ihm Massenarbeitslosigkeit, Lohndumping und Sozialdumping verbinden wird. Wir brauchen eine neue Regierung, die die von mir skizzierte Politik gestalten kann.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Gres.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, Sie haben es vorhin so darzustellen versucht, als ob es der Initiative der SPD zu verdanken sei, daß wir eine Nachfolgeregelung für das Indexierungsverbot des ehemaligen § 3 des Währungsgesetzes suchen. Damit das nicht im Raume stehenbleibt, will ich die Fakten einmal klarstellen. § 3 des Währungsgesetzes mußte entfallen, weil das Schutzgut D-Mark entfällt. In der Begründung des Gesetzentwurfs zum Euro-Einführungsgesetz steht ausdrücklich, daß die Bundesregierung das Bundeswirtschaftsministerium beauftragt, eine Nachfolgeregelung zu suchen und diese gegebenenfalls im Gesetzgebungsverfahren auch vorzuschlagen.
Genau dies ist erfolgt. Wir haben gestern im Rechtsausschuß, bis auf die PDS, einstimmig für die entsprechende Nachfolgeregelung votiert, die sämtliche Interessen - von der Wirtschaft über Verbraucherschutzgesichtspunkte bis hin zur Preisstabilität in Deutschland -, die zu berücksichtigen sind, abdeckt. Es hätte also der Initiative der SPD nicht bedurft; wir hätten auf jeden Fall eine entsprechende Nachfolgeregelung gefunden.
Frau Wieczorek-Zeul, bitte.
Ich bin Ihnen dafür dankbar, daß Sie mir noch einmal Gelegenheit geben, darauf hinzuweisen, daß es die Sozialdemokratie war, die die öffentliche Diskussion über dieses Thema überhaupt eröffnet hat; denn bis zu diesem Zeitpunkt fand sie doch im Grunde genommen unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. In Wahrheit hat das Justizministerium erklärt, daß das Indexierungsverbot nicht mehr zeitgemäß ist.
Wer sich gegenüber der Bevölkerung so verhält und die Meinung vertritt, daß solche Regelungen nicht mehr zeitgemäß sind, der zeigt nur, daß er von der Frage des Vertrauensschutzes gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen keine Ahnung hat. Deshalb bin ich froh, daß wir uns durchgesetzt haben und daß Sie zum Schluß mitgezogen haben. Wir haben Sie aber hinter unserer Initiative herziehen müssen. Wir freuen uns, daß Sie mitgemacht haben!
Nun gebe ich das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der polnische Außenminister Geremek, ein alter Solidarność-Vorkämpfer, hat am vergangenen Montag in einer bewegenden Rede in Brüssel den Startschuß für die Erweiterung der Europäischen Union die „Wiedervereinigung Europas " genannt.
Den 1. Januar 1999, den Tag des Euro-Beginns, kann man mit Fug und Recht den ersten Tag des 21. Jahrhunderts für Europa nennen; denn dieser Tag wird für Europa seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1957 - darin stimme ich Herrn Fischer ausnahmsweise zu - der zweite wahrhaft historische Schritt in eine neue politische Epoche sein.
Die Europäische Union ist heute weltweit - von Mercosur über NAFTA bis SADCC - zum Vorbild für multinationale Zusammenschlüsse geworden und auch zum Modell für regionale Stabilität und Wohlstand. Es gibt - auch das muß man einmal sagen -, obwohl alle diese multinationalen Zusammenschlüsse ihr nachgebildet worden sind, im Prinzip weltweit keinen anderen multinationalen Zusammenschluß, der in seiner Integration so weit fortge-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
schritten ist wie diese Europäische Union. Auch das muß man bei einer solchen Gelegenheit einmal betonen.
Das europäische Haus, liebe Kolleginnen und Kollegen, nimmt immer klarere Gestalt an. Natürlich wird der Euro in diesem Gebäude ein ganz wesentlicher Baustein und auch ein wesentliches Stück Zukunftssicherung für unser Land sein.
Die Welt wartet auf diesen Euro. Das ist mir bei meinem Besuch im asiatisch-pazifischen Raum wieder deutlich geworden, wo praktisch jedes Regierungsmitglied als erstes gefragt hat: Kommt der Euro? - Das Entscheidende ist: Die Welt und die Weltmärkte haben sich auf diesen Euro eingestellt. Jeder, der sich in Deutschland mit zum Teil fadenscheinigen Argumenten gegen diesen Baustein ausspricht, muß wissen, daß er sich nicht nur in eine Minderheitsecke stellt, sondern er stellt sich auch gegen unsere Partner und Freunde. Deshalb appelliere ich an unsere gemeinsame Verantwortung hier im Deutschen Bundestag: Wer das Vertrauen in den Euro untergräbt, bricht mit einer guten außenpolitischen, für uns ganz wichtigen Tradition - mit 41 Jahren pro-europäischer deutscher Politik. Das schadet uns. Man schaut auf uns, und man rechnet mit uns.
Meine Damen und Herren, es geht hier nicht nur um Vertragstreue, sondern es geht ähnlich - wie bei der Haltung von Bündnis 90/Die Grünen, was die Öffnung der NATO anbelangt - um „Europatreue" und, Herr Fischer, auch ein klein wenig um „Europafähigkeit" . Beides ist miteinander verquickt, was heute schon ein paarmal gesagt wurde. Das ist die wichtigste Vertrauensgrundlage unserer Außenpolitik; ja, das ist zusammen mit unserer Freundschaft zu Frankreich und den USA und unserem besonderen Verhältnis zu Israel eine Art ungeschriebener Verfassungsgrundsatz. Das muß unbedingt so bleiben.
„Nationalismus ist Krieg", hat François Mitterrand hier im Deutschen Bundestag gesagt.
Dieses unselige jahrhundertealte Kapitel europäischer Geschichte - auch das haben Sie angesprochen, Herr Fischer - ist für die Mitglieder der Europäischen Union endgültig abgeschlossen. Die gemeinsame Währung, der Euro, wird als wichtigste europäische Klammer - für hoffentlich bald alle Mitgliedstaaten - diese Zäsur endgültig besiegeln.
Der Euro hat natürlich auch noch eine andere Zielrichtung, und zwar eine nach vorn gerichtete. Er ist zusammen mit der Erweiterung die strategische Antwort Europas auf die Globalisierung. Euro - das heißt: Wachstumsschub für den Binnenmarkt, grünes Licht für unsere Exporte und mehr Investitionen - gut für unsere Arbeitsplätze; mehr Wettbewerb und Transparenz der Preise - gut für den Konsumenten; mehr Druck zur Modernisierung und zu Reformen - gut für den Standort Deutschland; und rote Karte für teure Wohlfahrts- und Konjunkturprogramme sowie für Schuldenmacherei - gut für künftige Generationen.
Wer sich gegen den Euro stellt, gefährdet deshalb nicht nur das Vertrauen unserer Nachbarn in uns, er stellt sich auch gegen die Modernisierung unseres Kontinentes, gegen das Aufbrechen all der Verkrustungen, die Unternehmensfreude und Risikobereitschaft lähmen, und er stellt sich gegen unsere Exportwirtschaft, die praktisch jeden dritten Arbeitsplatz in Deutschland sichert.
Wer laviert und herumdruckst wie Herr Schröder,
zeigt doch nur, daß er nicht das Zeug hat, unser Land in das nächste Jahrhundert zu führen.
- Ich beziehe mich auf Herrn Schröder, auf seine wunderschöne Äußerung, die ein tolles Eigentor war. Der Euro-Zug ist abgefahren; er rollt. Jetzt sollte niemand mehr - auch nicht Herr Schröder - als enttäuschter Schaffner am leeren Bahnsteig hinterherlamentieren. Das ist eine falsche Ausrichtung und eine falsche Zielrichtung.
In der jetzigen Umbruchphase in der Außenpolitik sind strategische Ziele gefragt; Mut, diese Ziele umzusetzen, und die Kraft, den eingeschlagenen Kurs auch gegen Widerstände durchzustehen. Das gilt für den Euro, das gilt genauso für die Erweiterung und die Reform der Agrar- und Strukturpolitik.
Zum ersten Mal nimmt die EU Länder auf, die über vier Jahrzehnte Diktatur und Kommandowirtschaft hatten. Wir bringen diese Länder hinein in eine Wertegemeinschaft, die ausgerichtet ist an Demokratie, an rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen. Ich persönlich glaube - auch nach den Erfahrungen der letzten Beitrittsrunde -, daß es mit die größte Belastung werden wird, die die Europäische Union - bisher jedenfalls - auszuhalten hatte, aber sie ist alternativlos. Und ich wiederhole hier: Gerade wir Deutschen, die wir diesen Ländern Mut gemacht haben, aus dem Kommunismus herauszugehen, dürfen heute nicht sagen: „Wir haben da ein paar Finanzprobleme" - ich wiederhole, was ich kürzlich gesagt habe -; „für Euch ist leider in diesem europäischen Haus kein Zimmer frei." Das ist ungeschichtlich und ist auch untreu!
Ich möchte bei dieser Gelegenheit ein Wort an den türkischen Ministerpräsidenten Yilmaz richten. Wir wollen die Türkei in Europa dabei haben. Aber die
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Art und Weise, wie der Ministerpräsident in letzter Zeit fast täglich Deutschland gegenüber, diesmal dem Bundeskanzler gegenüber, entgleist, ist absolut inakzeptabel, das weise ich zurück.
Wer in diese Europäische Union hinein will - und ich sage ausdrücklich, wir wollen der Türkei auf diesem Wege helfen -, der darf nicht selber sozusagen von diesem europäischen Zug seinen Wagen abkoppeln, sondern muß darauf achten, daß sein Wagen an diesem dampfenden Zug angekoppelt bleibt. Herr Yilmaz muß offensichtlich lernen, daß wir uns hier in der Bundesrepublik solche Dinge nicht pausenlos sagen lassen. Das ist ja nicht das erste Mal, sondern das dritte oder vierte Mal.
Zur Agenda 2000 und zur Landwirtschaft will ich, um Legenden vorzubeugen, ein paar Dinge sagen. Wir haben uns in der Bundesregierung festgelegt, daß wir alles noch prüfen wollen, daß wir dafür kämpfen wollen, daß unsere Landwirte eine Zukunft haben. Darauf können sich die Bauern verlassen. Dafür werde ich - das erkläre ich, um ganz besonders dieser Legende entgegenzuwirken - auch in Brüssel kämpfen, und zwar so sehr, wie ich es nur irgendwie kann.
Vieles von dem, was in Kommissionsvorschlägen vorgelegt worden ist - das weiß keiner besser als ich -, ist für die deutschen Bauern nicht akzeptabel. Aber wir müssen eben auch hinzufügen: Der Ton macht die Musik, und wir tragen nicht nur für die Bauern Verantwortung, sondern für die gesamte deutsche Wirtschaft. Deshalb müssen wir uns in unseren Äußerungen bei allem, was wir tun, Brüssel gegenüber balanciert halten.
Was die Finanzierungsfrage anbelangt, habe ich immer erklärt - ich war ja 1994 an der Koalitionsvereinbarung, in der das steht, beteiligt -, daß wir eine gerechtere Lastenverteilung wollen, die sich insbesondere auf die exorbitanten, aus der Waage geratenen Rückflüsse bezieht. Das ist etwas, was wir gemeinsam vertreten und wo wir uns auch nicht auseinanderdivideren lassen sollten.
Nochmals: Wir müssen hier nationale Interessen wahrnehmen. Aber wir müssen sie so vorbringen, daß wir glaubhaft bleiben. Deshalb sollten wir eben auch die Vorschläge der Kommission zur Agenda 2000 bezüglich Finanzen und Landwirtschaft nicht in Bausch und Bogen verdammen. Dafür sind unser Interesse an Europa und unsere Verantwortung für Europa zu groß.
Meine Damen und Herren, ich verstehe sehr wohl, daß vielen unserer Bürger das Ausmaß der gegenwärtigen Veränderungen Sorgen macht. Mit der inneren Vereinigung, mit dem Euro und dem Zusammenwachsen Europas muten wir uns sehr viel zu, und zwar gemeinsam. Aber in 30 Jahren wird die Frage der Geschichte nicht sein: „Wie viele Probleme habt ihr gehabt?", sondern: „Weshalb habt ihr sie nicht gelöst?" Die historische Chance für ein neues Europa ist jetzt da, und jetzt müssen wir sie nutzen. Nicht nur wir, alle unsere Partner in der EU unternehmen hierfür ja seit Jahren enorme Anstrengungen, mit großem Erfolg.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Nach diesem Prinzip ist die Wirtschafts- und Währungsunion ausgestaltet. Darauf hat die Bundesregierung und insbesondere der Kollege Waigel mit Nachdruck bestanden - und mit Erfolg. Deshalb können wir unseren Bürgern sagen - und ich finde das ganz wichtig -: Im Grunde ist der Euro nichts anderes als die Übertragung der D-Mark auf Europa. Europa hat die Stabilitätskultur der D-Mark übernommen, und dieses Stabilitätsversprechen gilt für die Dauer der Ehe und nicht nur für die Hochzeitsnacht.
Ein Blick über den Tellerrand hinaus zeigt: Wenn sich die Welt verändert, können auch wir Deutschen nicht einfach stehenbleiben. In einer Zeit, in der die Unternehmen global handeln, kann und darf die Politik sich nicht im rein Nationalen erschöpfen. Glaubt denn jemand im Ernst, wir wären auf Dauer mit im Augenblick 14 oder später vielleicht einmal 20 oder noch mehr europäischen Währungen auch nur im geringsten gegenüber dem Dollar oder dem Yen konkurrenzfähig? - Das kann doch wohl keiner ernsthaft annehmen. Schon deshalb ist der Euro notwendig. Er wird zum Dollar Europas werden und damit für die künftige Euro-Zone mit 290 Millionen Einwohnern, 19,4 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und einem Welthandelsanteil von 18,6 Prozent eine neue Perspektive eröffnen.
Der luxemburgische Premierminister Juncker hat hier in Bonn am 14. Januar gesagt:
Wer nicht zu den Bauchladenpolitikern gehört, die jeden zweiten Tag ihr Tütchen aus dem Bauchladen ziehen und Pessimismus verbreiten, dem wirft man in Deutschland sehr schnell vor, er wäre naiv. Anscheinend hat hier nur der Zukunftsvisionen, der sagt, daß Zukunft nicht stattfindet.
Diese Sätze eines guten Freundes Deutschlands sollten uns alle zum Nachdenken bringen.
Politik machen heißt, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Es gibt Zeiten, in denen die Geschichte der Politik eine große Verantwortung aufbürdet. Ein solcher Augenblick war die Nacht, in der die Mauer fiel. Die Bundesregierung hat damals unter Führung von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Mantel der Geschichte ergriffen - eine große Leistung für unser Volk.
Das ist unbestritten und wird international anerkannt. Wir Deutschen sind übrigens heute in einer ähnlichen Situation; das ist heute ja mehrfach zum Ausdruck gekommen. Diesmal geht es nicht um unsere nationale, sondern um die europäische Einheit. Auch dieses Mal - davon bin ich überzeugt - macht
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
die Bundesregierung das Richtige: Sie hat den Mut, ja zu sagen - ja zum Euro, ja zur Beseitigung der Spaltung in Europa, ja zu einem modernen, bürgernahen und vereinten Europa, einem Europa, in dem unsere Kinder und Enkel gut aufgehoben sein werden.
Vielen Dank.
Ich gebe das
Wort dem Abgeordneten Rolf Hempelmann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Am Ende einer solchen Debatte - dem nähern wir uns ja jetzt - kann man, glaube ich, noch einmal feststellen: Der Euro kommt, und er kommt für elf Mitgliedstaaten. Das ist gut so. Man sollte keinen Popanz aufbauen und so tun, als sei das Haus voller Euro-Gegner. Wir sollten feststellen: Alle Seiten des Hauses, bis auf die PDS, begrüßen die Einführung des Euro.
Insofern macht es keinen Sinn, in Haupt- oder Nebensätzen immer zu unterstellen, als seien diejenigen, die auf Probleme hinweisen, auch schon gleich Euro-Gegner.
Daher danke ich auch Herrn Stoiber für sein Plädoyer. Er hat ja ganz eindeutig gesagt: Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie Herrn Schröder dafür kritisieren, daß er auf Probleme hinweist. Damit hat er viel Sympathie, auch bei mir, zurückgewonnen.
Also, meine Damen und Herren: Der Euro kommt. Sie werden mir verzeihen, daß ich meine zehn Minuten jetzt nicht nur zum Freuen nutze. Das haben einige hier eingefordert. Ich will in der Tat auch darüber reden, wie wir die Chancen, die der Euro ja eindeutig bietet, nutzen können.
Ein stabiler Euro schafft neue Möglichkeiten wirtschaftlicher Kooperation, aber er erfordert diese Kooperation auch. Wir führen den Euro ein, um ein Ziel der Wirtschaftspolitik zu erreichen, nämlich Stabilität als Rahmenbedingung für Unternehmensgewinne in Deutschland, in der EU und darüber hinaus. Stabilität ist kein Selbstzweck. Der Euro schafft - davon ist die Mehrheit in diesem Hause überzeugt - eine Zone finanzpolitischer Stabilität. Stabilität allein ist aber nicht alles. Auch die stabile D-Mark hat Arbeitslosigkeit nicht verhindern können,
obwohl mit ihr gute Geschäfte und Gewinne gemacht wurden. Bei Ungleichgewichten, also bei hohen Gewinnen und zugleich niedriger Beschäftigung, muß die Politik gegensteuern.
Wir Sozialdemokraten sind für Teilhabe. Teilhabe heißt, für möglichst viele Menschen einen möglichst fairen Anteil an den Gewinnen zu erreichen.
Das geht, wenn mehr Menschen bezahlte Arbeit haben. Für die Bereitstellung von Rahmenbedingungen, die mehr Arbeitsplätze schaffen und die damit eine bessere Verteilung von Wohlstand ermöglichen, also nicht allein für die Schaffung von Stabilität sind wir in dieses Parlament gewählt. Das ist die Rechtfertigung der Existenz einer politischen Klasse.
Wir wollen also, daß Unternehmen Gewinne machen. Wir sind aber dafür, daß diese Gewinne nicht beim internationalen Finanzmonopoly gesetzt werden, sondern daß sie reinvestiert werden, und zwar nicht nur in Rationalisierungen, sondern in mehr Arbeitsplätze.
Das heißt: in Erweiterungen und in Neugründungen.
Dafür ist die Einführung des Euro ein wirtschaftspolitisches Instrument. Er ist notwendig, aber allein nicht hinreichend für eine arbeitsplatzorientierte Wirtschaftspolitik.
Es müssen noch weitere wirtschaftspolitische Stellschrauben nachjustiert werden. Das sind nicht unbedingt die, die Sie meinen, Herr Haussmann. Manchmal habe ich das Gefühl, Ihr Name steht für den Job, den Sie eigentlich machen sollten.
Zu diesen Stellschrauben gehören in Deutschland, von der derzeitigen Regierung seit anderthalb Jahrzehnten sträflich ignoriert, einige strukturpolitische Weichenstellungen, angefangen bei innovationsorientierter Forschungs- und Bildungspolitik und schnelleren Genehmigungsverfahren bis hin zu einer zeitgemäßen Politik für kleine und mittlere Unternehmen. Dazu gehört auch die Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung kleiner und mittlerer Einkommen, womit die Binnennachfrage gestärkt werden würde.
Wenn man dabei klug vorgeht, Herr Haussmann, und zum Beispiel den Vorschlägen der SPD zur Senkung der Rentenbeiträge und damit der Lohnnebenkosten folgt, entlastet man zugleich auch die Unternehmen und verbilligt Arbeit.
Im Euro-Bereich wird es volle Preistransparenz geben. Ungleiche steuer-, sozial- und beschäftigungspolitische Ausgangsbedingungen werden nicht mehr durch die Wechselkurse abgefedert. Deshalb müssen unsere europäischen Volkswirtschaften aufhören, sich gegenseitig auszukonkurrieren.
Rolf Hempelmann
Damit eines klar ist: Wir sind keine Harmonisierungsabsolutisten, auch wenn Sie uns gerne dazu stempeln wollen. Sie brauchen Ihren Popanz, den Sie bekämpfen können. Uns können Sie aber nicht bekämpfen, weil unsere Konzepte sinnvoll sind.
Wir sind für positive Konkurrenz von Staaten um die bessere Infrastruktur oder um die bessere Ausbildung. Aber es muß mit Steuersenkungswettläufen, insbesondere bei den Unternehmensteuern, Schluß sein.
Sie haben doch alle verfolgt, daß wir mittlerweile in allen europäischen Ländern in die Lohnsteuerstaatsituation geschlittert sind. Damit muß Schluß sein.
Wir brauchen auch wieder eine gleichmäßigere Aufkommensverteilung bei den Einnahmen. Wir brauchen in Deutschland Schritte in Richtung einer Senkung der Unternehmensteuersätze. Dazu haben auch wir Vorschläge gemacht. Wir brauchen in Europa aber eine Mindestbesteuerung, und diese unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens.
Wir brauchen gemeinschaftsweite Regelungen gegen Steuerdumping, und wir müssen Steueroasen beseitigen.
Ein weiterer Punkt. Immer noch wird in Europa der Faktor Arbeit zu stark und der Verbrauch von Umwelt zu gering belastet. Wir brauchen in diesem Bereich eine Trendwende. Auch sie funktioniert am besten mit einer europäischen Gemeinschaftsstrategie.
Also: Wir brauchen, wie das der Vertrag von Amsterdam vorsieht, eine Koordinierung unserer Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Wir dürfen uns in Europa nicht mehr gegenseitig die Butter vom Brot nehmen.
Ein Punkt, der mir jenseits europäischer Hausaufgaben besonders am Herzen liegt, ist die Mobilisierung des weltweit ja reichlich vorhandenen Kapitals für arbeitsplatzschaffende Investitionen. Weltweit wurde 1995 die ungeheure Summe von 320 Billionen Dollar in Devisengeschäften bewegt, 80 Prozent davon in kurzfristigen Anlagen - um nicht zu sagen: Wetten - mit einer Laufzeit von unter 1 Woche. Das Weltbruttoinlandsprodukt betrug zur gleichen Zeit 25 Billionen Dollar. Das ist also ein Verhältnis von 320 zu 25. Wir wären ein ganz gutes Stück weiter, wenn es gelänge, wenigstens einen Teil dieses Kapitals für Erweiterungs- oder Neugründungsinvestitionen zu interessieren.
Es darf nicht sein, daß sich Spekulationen so viel mehr rentieren als die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Auf der internationalen Tagesordnung stehen seit einiger Zeit wieder eine Spekulationsabgabe und verstärkte Bankenaufsicht, die kurzfristige Wettgeschäfte unattraktiver machen sollen. Spätestens seit der ostasiatischen Währungskrise steht die Finanzwelt solchen Abwehrmechanismen gegen Anlageninflation nicht mehr grundsätzlich negativ gegenüber. Sie wird offenbar leichter aus Schaden klug als unsere gegenwärtige Regierung.
Die Euro-Zone hätte das Gewicht und den Einfluß, hier an einer entscheidenden Stellschraube gegen reine Spekulationen vorzugehen, ihnen einen Teil ihres Reizes zu nehmen und im Sinne von Realinvestitionen in Arbeitsplätze Anstöße zu geben.
Politik kann sich nicht damit begnügen, sich hinter angeblichen technischen Schwierigkeiten zu verstecken. Wir sind - ich habe es gerade schon einmal gesagt - aufgerufen, die objektiv vorhandenen Probleme zu lösen. Dafür werden wir bezahlt.
Mit dem Gewicht des Euro haben wir Europäer gemeinsam die Chance, in der Globalisierung politisches Handeln wieder möglich zu machen. Es ist dringend geboten, die Reichweite der Politik, wo immer es geht, an das globale Spielfeld transnationaler Unternehmen anzupassen. Diejenigen, die sich dagegen äußern, die sagen, daß wir alles nur in Hausaufgaben erledigen sollen, haben bereits vor der globalisierten Situation kapituliert. Wir kapitulieren nicht, wir stellen uns den Problemen, und wir wissen, daß wir mit den Partnern in Europa und in der Welt gemeinsame Lösungen anstreben müssen.
Kurzum: Wir wollen den Euro, aber wir wollen ihn auch nutzen. Wir wollen aus ihm herausholen, was herauszuholen ist, insbesondere für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die SPD steht für eine Politik der inneren Reformen und der internationalen Zusammenarbeit, die das leisten kann.
Sie, verehrte Mitglieder der Koalition, haben heute gezeigt, daß Sie nicht bereit sind, diese Aufgaben anzugehen. Dazu wird die SPD gebraucht. Wir brauchen den Wechsel, wir sind bereit.
Ich gebe dem Abgeordneten Manfred Müller das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube nicht, daß nach Vorlage der Konvergenzberichte und der heutigen Debatte die übergroße Mehrheit der Deutschen, die dem Euro skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, ihre Auffassung ändern wird.
Kollegin Wieczorek-Zeul, ich will deshalb doch noch einmal zur Volksabstimmung zurückkommen. Wir haben unsere Vorschläge zur Durchführung einer Volksabstimmung nicht gemacht, um die europäische Integration oder die Einführung des Euro zu
Manfred Müller
behindern, sondern wir haben sie in erster Linie deshalb vorgeschlagen, um die Bürgerinnen und Bürger von diesem europäischen Projekt überzeugen zu können. Dann hätten nicht nur wir uns, sondern dann hätten sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag ganz anders um die Zustimmung zu diesem Projekt bemühen müssen.
Außerdem wären bessere Verträge dabei herausgekommen. Unser Ziel war es, bessere Verträge zu erreichen; denn mit dem Maastrichter Vertrag, dem Amsterdamer Vertrag und dem Euro, wie er jetzt konstruiert ist, hätten wir nicht vor das Volk treten können. Wenn man das in Verhandlungen weiß, dann setzt man andere, bessere Verträge durch. Das war unser eigentliches Ziel.
Sie haben gesagt, daß Sie den Antrag auf die Durchführung einer Volksabstimmung im Jahre 1992 unterstützt haben. Sie haben gesagt, daß das auch Ihr Vorschlag war.
- Richtig. Das ist ja auch nötig, und in Art. 23 Grundgesetz hätte das durchaus hineingepaßt.
Sie haben dieses Ziel jedoch nicht verfolgt.
- Sie haben es nicht erreichen können, weil Sie zum Maastrichter Vertrag ja gesagt haben.
Wenn Sie vor der Abstimmung über diese Verfassungsänderung bzw. die Erweiterung des Art. 23 Grundgesetz nein zum Maastrichter Vertrag gesagt hätten, dann wäre auch ein anderer Vertrag zustande gekommen. Dann hätten wir die Volksabstimmung in der Verfassung gehabt. Aber da Sie ja gesagt haben, können Sie sich jetzt hinterher nicht beklagen, daß Sie das nicht durchgesetzt haben.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wieczorek-Zeul?
Ja.
Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen nicht bekannt ist, daß in dieser Entscheidung der Verfassungskommission und anschließend auch im Deutschen Bundestag das Instrument des Volksentscheides deshalb nicht aufgenommen worden ist, weil CDU/CSU und F.D.P. der Verfassung und damit den Bürgern und Bürgerinnen in Deutschland dieses Instrument verwehrt haben.
Das ist der Grund, warum kein Volksentscheid vor dem Maastricht-Vertrag und vor der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages zustande gekommen ist. Wenn es dieses Instrument gegeben hätte, hätten auch wir diesen Vertrag einem Volksentscheid in
Deutschland unterziehen können und müssen. Das wäre gut und richtig gewesen.
Kollegin WieczorekZeul, ich gebe zu, daß ich mir das aus den Protokollen erlesen mußte. Ich weiß das insoweit. Aber das entkräftet mein Argument und den Vorwurf gegen die Position der SPD in dieser Frage überhaupt nicht.
Das erinnert mich so ein bißchen an das, was von Ihnen zum Lauschangriff entschieden worden ist. Sie haben zunächst der Verfassungsänderung zugestimmt und dann hinterher gesagt, wer alles nicht davon betroffen sein soll. Sie hätten deutlich machen müssen, daß ein Ja zum Maastrichter Vertrag überhaupt nur in Frage kommt, wenn die Verfassung geändert wird.
Wie oft ist in diesem Haus innerhalb von wenigen Wochen die Verfassung geändert worden? Eine kurze Debatte hat es gegeben, dann ist die Verfassung geändert worden.
- Die CDU/CSU hat für den Maastrichter Vertrag Ihre Stimmen gebraucht. Sie hätten sie ihnen erst dann geben sollen, nachdem die Verfassung geändert worden wäre. So einfach ist das.
Es geht also weiter, daß die Regierung es allein den Gewinnern der Geldunion, also den global agierenden Unternehmen, den Großbanken und den Anlegern, überläßt, die Bevölkerung über das aufzuklären, was der Euro bedeuten wird.
Ich darf noch auf folgenden Punkt aufmerksam machen: All das, was Oskar Lafontaine heute hier gesagt hat, was hinterher alles geregelt werden soll, damit es nicht zu Sozialdumping, Lohndumping, Steuerdumping und Ökodumping in Europa kommt, hätte vorher geregelt werden sollen.
Sie, Frau Wieczorek-Zeul, haben heute beklagt, daß man das hinterher nicht mehr regeln kann. Genauso wird es mit all den Dingen sein, die jetzt die Sozialdemokraten nachträglich in die europäischen Verträge hineinnehmen wollen. Wir hätten dem zugestimmt, wenn das vorher geschehen wäre: der Einbau all dieser sozialen und unteren Haltelinien, von denen heute hier nicht nur Oskar Lafontaine, sondern, wenn ich das richtig verstanden habe, auch der Ministerpräsident von Bayern gesprochen hat. All das hätte vorher hineingehört, um die Euroskepsis der Bürgerinnen und Bürger zu beseitigen.
Dann hätte es in diesem Haus möglicherweise eine einstimmige Entscheidung für diesen Euro gegeben, weil dann auch die Bedenken der PDS ausgeräumt
Manfred Müller
worden wären. Wir hätten diesem so verbesserten Vertrag dann auch zustimmen können.
Unser Ziel, wenn wir diesen Vertrag kritisiert haben, war, ihn zu verbessern, weil auch wir die europäische Integration und die europäische Vereinigung immer unterstützt haben, allerdings nicht zu jedem Preis und nicht zu Lasten der Menschen in Europa,
weil sie die europäische Vereinigung und die europäische Verständigung tragen müssen. Auch in Krisenzeiten bedarf es der Unterstützung und der Verteidigung der europäischen Idee durch die Bürgerinnen und Bürger Europas. Deshalb sagen wir nein zu diesem Euro.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/10250 und 13/10251 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung des Euro, Drucksachen 13/9347 und 13/ 10334 Buchstabe a. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Wir treten in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist.
Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Wahrung des Verbraucherschutzes bei der Einführung des Euro auf Drucksache 13/10334 Buchstabe b ab. Der Rechtsausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 9373 abzulehnen.
Dazu liegt wiederum ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/ 10338 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist.
Wir stimmen dann über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ab. Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 4:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Gerd Andres, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zwischenbilanz zum Abbau von sozialen Leistungen - Auswirkungen auf die Betroffenen und auf das gesellschaftliche Klima
- Drucksachen 13/7591, 13/9099 -
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ehe ich die Aussprache eröffne, möchte ich im Namen des Hauses zum Ausdruck bringen, daß wir uns freuen, daß Sie, Herr Kollege Dreßler, wieder unter uns sind.
Wir haben uns ganz unabhängig von unterschiedlichen politischen Meinungen Sorgen um Sie gemacht. Ich begrüße Sie hier herzlich. Wir freuen uns, daß wir Ihnen entweder zuhören oder mit Ihnen streiten können.
Nachdem ich dieses vorausgeschickt habe, eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Gestatten Sie mir vorab, mich bei den Kolleginnen und Kollegen recht herzlich zu bedanken, übrigens auch für die Anteilnahme im Laufe der Monate. Es war ein parteiübergreifender Solidaritätsausdruck, wie ich ihn zugegebenermaßen nicht erwartet hätte. Dafür herzlichen Dank.
Nun zur Sache: Wir debattieren heute über die Große Anfrage der SPD-Fraktion zum Abbau sozialer Leistungen und die Antwort der Bundesregierung darauf. Eigentlich hätte dies Anlaß und Gelegenheit sein können, die gravierenden Unterschiede, die zwischen Koalition und Opposition im Verständnis von den Aufgaben und den Funktionen des Sozialstaates bestehen, klar und deutlich herauszuarbeiten. Ich sage: eigentlich. Denn dazu wäre es notwendig gewesen, den substantiellen Fragen meiner Fraktion
Rudolf Dreßler
auch substantielle Antworten der Bundesregierung entgegenzusetzen. Darauf hat die Regierung allerdings verzichtet. Die Antworten, die sie dem Hause präsentiert hat, sind - mit Verlaub gesagt - feuilletonistisches Geschreibsel ohne inhaltliche Substanz.
Eine Auseinandersetzung über die Sache ist damit schwerlich möglich.
Dabei sind die Unterschiede zwischen Koalition und SPD-Opposition, wenn es um die Aufgaben und Funktionen des Sozialstaates geht, mit Händen zu greifen. Die Koalition will den Sozialstaat zurückdrängen und die sozialstaatlichen Sicherungssysteme weiter beschneiden, um auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes zu verbessern. Dieses Ziel hat die Koalition nie verheimlicht. Gleichzeitig aber - das wird in der Antwort auf unsere Große Anfrage deutlich - versucht sie, bei den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck zu erwekken, das sei alles gar nicht so schlimm; denn wirklich ändern werde sich kaum etwas, im Grunde bleibe alles beim alten. Den Rückbau des Sozialstaates als Ziel anzugeben und die Tatsache, daß dieses Tun für die Menschen handfeste Konsequenzen hat, zu leugnen oder abzustreiten - was soll das denn eigentlich für eine Politik sein?
Ich frage die Koalition: Wenn Sie den Sozialstaat beschneiden, für die Menschen aber im Grunde alles beim alten bleiben soll, wenn also die Schutzfunktion der sozialen Sicherungen angeblich unverändert bleiben soll, warum machen Sie dann eigentlich die ganze Operation der letzten Jahre?
Wenn das alles wahr wäre, wenn sich tatsächlich gar nichts ändern soll, dann könnten es CDU/CSU und F.D.P. auch lassen. Aber es ist ja nicht wahr. Wahr ist, daß die Regierungsfraktionen die fatalen Konsequenzen ihrer sozialstaatlichen Rückbauaktion nicht diskutiert oder erwähnt wissen wollen. Sie möchten sie gerne wegleugnen.
Wahr ist: CDU/CSU und F.D.P. haben mit unserem Sozialstaat nicht mehr viel am Hut. Es ist ihnen nur unangenehm, daß das auffallen könnte, und deshalb reden sie um ihre Absichten herum.
Wer wie diese Regierung Jahr für Jahr in der Sozialversicherung Leistungen von mittlerweile 130 Milliarden DM streicht oder kürzt, der kann doch nicht behaupten, für die betroffenen Menschen ändere sich nichts. Wer die Renten kürzt, wer die Lebensarbeitszeit verlängert, wer die Arbeitsförderung zertrümmert, wer Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zusammenstreicht, wer an der Sozialhilfe manipuliert, wer den Kündigungsschutz beschneidet, wer den Kranken die Zuzahlung drastisch erhöht, wer den Mieterschutz aushöhlt, der kann doch nicht behaupten, in diesem Land habe sich in sozialstaatlicher Hinsicht nichts geändert.
Deshalb fordere ich Sie auf: Stehen Sie doch endlich zu Ihrer Politik der sozialstaatlichen Abräumaktionen, und versuchen Sie nicht ständig, sie zu leugnen! Diese Koalition will den gesellschaftlichen Grundkonsens unserer Republik aufkündigen; das ist das eigentliche Ziel. CDU/CSU und F.D.P. haben das Ziel einer solidarischen Gesellschaft aufgegeben. Es soll nur keiner merken.
Gesellschaft, das ist für diese Koalition nur noch der Rahmen, in dem man gute Geschäfte machen kann. Daß Gesellschaften für ihr Funktionieren und ihren Zusammenhalt eine Wertordnung brauchen, ist dabei völlig zweitrangig. Gerechtigkeit, Humanität, Mitmenschlichkeit - wenn es die wirtschaftlichen Bedingungen zulassen, dann vielleicht schon. Die Wahrheit ist: Diese Koalition will eine Gesellschaft unter der Kuratel der Ökonomie, das ist alles.
Ich will die Vertreter der Union ja gar nicht in Schwierigkeiten bringen und fragen, wie sich so etwas mit dem „C" in ihrem Parteinamen vereinbaren lassen soll. Daß das unvereinbar ist, wissen Sie selbst. Denjenigen, die es nicht wissen wollen, haben es die beiden christlichen Kirchen in ihrem „Gemeinsamen Wort zur sozialen Lage" eindringlich ins Stammbuch geschrieben.
Die SPD wird den Weg der Koalition nicht mitgehen. Wir wollen den Sozialstaat nutzen für eine Modernisierung und Dynamisierung unserer Gesellschaft. Der Sozialstaat ist Instrument der Modernisierung und nicht dessen Opfer.
Diese Koalition redet ständig davon, daß die zusätzlichen Kosten, die neben den Löhnen und Gehältern auf dem Faktor Arbeit ruhen, zu hoch seien. Dazu sage ich: Richtig, das sind sie wirklich. Die Sozialversicherungsbeiträge sind seit 1982 von damals 34 Prozent auf fast 42 Prozent heute gestiegen.
Wenn CDU/CSU und F.D.P. das beklagen, vergessen sie dabei nur eines: Sie sind die politisch Verantwortlichen für diese Entwicklung; denn sie regieren seit 1982 dieses Land. Die Wahrheit ist: Die Ankläger sind die Täter.
Diejenigen, die die hohen Lohnnebenkosten beklagen, haben sie mit ihrer Politik zugelassen oder gar herbeigeführt.
Aber nicht nur das. Mit dem dramatischen Anstieg der Beitragssätze in der Sozialversicherung ist nicht
Rudolf Dreßler
zugleich ein Anstieg der Leistungen einhergegangen, wie die Regierungskoalition uns das einzureden versucht. Das Gegenteil ist richtig: Trotz anhaltender Beitragssatzsteigerungen sind die Leistungen der Sozialversicherung ständig zusammengestrichen worden: in der Arbeitsförderung, in der Arbeitslosenversicherung, in der Rentenversicherung, vor allem in der Krankenversicherung. Es hat nur eine einzige neue soziale Leistung gegeben: Das ist die Pflegeversicherung. Die bezahlt, wie jeder weiß, der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin ganz alleine. Diese Versicherung hat also keinen Einfluß auf die Höhe der Lohnnebenkosten.
Was die Sozialversicherungspolitik dieser Regierung seit 1982 angeht, gilt die perverse Losung: Die Menschen zahlen immer mehr Geld für immer weniger Leistung. Wenn die Bundesregierung behauptet, die ständig steigenden Sozialleistungen hätten schließlich zu einer Überforderung des Sozialstaates geführt, so sagt sie bewußt die Unwahrheit; denn die Ursachen für die gestiegenen Sozialversicherungsbeiträge sind andere. Die haben weniger mit dem Sozialstaat und seiner Konstruktion als vielmehr mit dieser Regierung und ihrer Politik zu tun.
Diese Politik ist es nämlich, die unserem Sozialversicherungssystem ständig neue Belastungen zumutet - Belastungen, die es weder tragen kann noch für die es geschaffen oder gedacht ist. Kein Sozialversicherungssystem kann funktionieren, wenn der Staat ihm ständig Aufgaben auflädt, für die er eigentlich selbst zuständig ist. Die Sozialversicherung ist weder Ausfallkasse noch stille Reserve für einen maroden Bundeshaushalt.
Genau dazu aber mißbraucht die Politik von CDU/ CSU und F.D.P. sie seit geraumer Zeit.
Wer wie CDU/CSU und F.D.P. seit 1990 die finanziell unabweisbaren Notwendigkeiten der deutschen Einheit aus der Sozialkasse finanziert, der kann damit nicht beweisen, daß unser Sozialversicherungssystem nicht auf der Höhe der Zeit ist. Er beweist damit lediglich, daß seine Politik nicht auf der Höhe der Zeit ist.
Keine Sozialversicherung kann funktionieren, wenn Politik es zuläßt, daß sich eine ständig größer werdende Zahl von Menschen der Sozialversicherungspflicht entzieht. Die Flucht in sozialversicherungsfreie 620-DM-Jobs, die Flucht in Scheinselbständigkeit, die ständig wachsenden Finanzansprüche an das System, die nicht das System selbst, sondern der Staat geltend macht, und die Flucht aus dem System, die sich nicht von selbst ergibt, sondern politisch toleriert, wenn nicht gar gewollt ist, haben die Probleme heraufbeschworen. Sie haben zu der perversen Situation geführt, daß eine relativ geringer werdende Zahl an Beitragszahlern eine relativ wachsende Last zu tragen hat.
Eine Regierung, die dieser fatalen, von ihr selbst heraufbeschworenen Entwicklung durch ständig neue Leistungseinschränkungen hinterherkürzt und behauptet, das müsse so sein, weil das System nicht in Ordnung sei, benimmt sich wie jemand, der den Bäckern zunächst die Zahl der zu backenden Brote erhöht, ihnen danach das Mehl rationiert und, wenn das nicht funktioniert, anschließend behauptet, die Bäcker verstünden ihr Handwerk nicht mehr.
Tatsache ist: Sowohl das Einnahme- wie das Ausgabeproblem, die unsere Sozialversicherung derzeit hat, sind politisch herbeigeführt. Unsere Sozialversicherung ist gesund. Die Politik ist es, die sie krank macht.
Fehlfinanzierung von Staatsaufgaben und Flucht aus der Sozialversicherung - wer diese beiden Felder ausräumt, der könnte bei Sozialversicherungsbeiträgen landen, die um 4 Prozent unter den heutigen liegen. Für den, der dem Arbeitsmarkt dann noch ein wenig Ordnung beibringt und der Arbeitslose endlich wieder zu Beitragszahlern macht, werden zu hohe Lohnnebenkosten durch hohe Sozialversicherungsbeiträge vollends zum Fremdwort. Nichts davon aber tut diese Regierung.
Diese Koalition hat die Lohnnebenkosten nicht gesenkt; sie hat sie erhöht. Die Zahlen der Sozialversicherung habe ich genannt. Diese Koalition hat versucht, dieser falschen Entwicklung durch Sozialabbau hinterherzukürzen. Dabei hat sie dann auch noch die volkswirtschaftlichen Nachfragekräfte, die Konsumneigung, entscheidend geschwächt. Sie hat Fehler mit Fehlern bekämpft.
Deshalb sage ich den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die ja so gerne und so oft über den Umbau des Sozialsystems philosophieren: Wir brauchen keine andere Sozialversicherung! Wir brauchen eine andere Regierung mit einer anderen Politik!
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich eine Delegation begrüßen, die auf der Tribüne Platz genommen hat. Es ist eine Delegation der Nationalversammlung der Republik Ghana unter der Leitung des Fraktionsvorsitzenden des National Democratic Congress und Ministers für Parlamentsangelegenheiten - eine interessante Kombination! -, Owusu-Acheampong.
Ich begrüße Sie, hoffe, daß Sie interessante Gespräche haben und daß Ihr Besuch bei uns die Verbindung zwischen unseren Parlamenten weiter stärkt und vertieft, und wünsche Ihnen eine glückliche Heimkehr. Vielen Dank.
Nunmehr gebe ich dem Abgeordneten Julius Louven das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war Rudolf Dreßler, wie wir ihn kennen. Ich freue mich natürlich auch, Herr Dreßler, daß Sie wieder hier sind und daß wir wieder miteinander streiten können. Dies ist nach der Rede, die Sie gehalten haben, auch notwendig.
Das, was Sie hier gesagt haben, ergänzt um das, was in Ihrem Entschließungsantrag steht, muß einen wirklich die Frage stellen lassen: Ist denn diese sozialdemokratische Partei überhaupt in der Lage, Deutschland zu regieren?
Ihr wöchentliches Ritual, uns vorführen zu wollen, hat ein Positives, Herr Dreßler: Wir können darstellen, wie verknöchert, wie uneinsichtig, wie weltfremd Sie sind. Sie wollen den Menschen draußen vermitteln, wir zerstörten den Sozialstaat. Dabei merken und wissen die allermeisten Menschen in unserem Lande, daß es auf Grund der globalen Entwicklung darum geht, den Sozialstaat zu sichern. Die Menschen bekommen doch mit, daß andere Länder die gleichen Probleme haben wie wir. Und sie bekommen auch mit, daß andere Länder mit der notwendigen Reformpolitik deutlich weiter sind als wir und entsprechende Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen haben. Diese Länder stellen sich den Herausforderungen der Globalisierung.
Ich will mich jetzt mit einigen dieser Länder auseinandersetzen. Alle sind sie sozialdemokratisch regiert.
Ich beginne mit den Niederlanden: Sie waren im letzten Jahr drei Wochen vor uns mit einer Delegation in den Niederlanden. Wir konnten dann im „Spiegel" lesen, daß Sie, Herr Dreßler, erklärt haben, Sie hätten in den Niederlanden nichts lernen können.
Wir waren dann ebenfalls dort und haben von Ihrem Parteifreund, Arbeitsminister Ad Melkert, eine ganze Menge gelernt, insbesondere, wie man Leute, die nicht arbeiten wollen, in Arbeit bringt bzw. sie von öffentlichen Kassen fernhält. Wir konnten feststellen, daß die Niederländer genau die Beschäftigungsstrategie verfolgen wie wir hier in Deutschland, die Sie dann allerdings vollmundig für gescheitert erklären.
Holländische Politik bedeutet Senkung von Steuern und Abgaben sowie Lohnzurückhaltung. Die Niederländer haben erkannt, daß die hohen Arbeitskosten für die Krise mitverantwortlich waren. In den Niederlanden gibt es also ganz erhebliche Einschränkungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eine deutliche Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien beim Arbeitslosengeld und eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen - alles Maßnahmen, die Sie hier bis aufs Messer bekämpfen.
In Sorge um die unterschiedlichen Entwicklungen in Europa hat Ihnen ja Wim Kok, der niederländische
Ministerpräsident, auf Ihrem Parteitag deutlich die Leviten gelesen.
Er hat gemäß einem Interview auf dem Parteitag - ich lese es Ihnen vor, damit das bestätigt wird, was ich eben gesagt habe - folgendes ausgeführt: Wim Kok riet seinen sozialdemokratischen Parteifreunden in Deutschland, als Oppositionspartei, die 1998 an die Regierung will, die Realitäten zu erkennen. Er habe den Eindruck, daß die SPD sich auch auf die Realitäten von heute einstelle. Dies sei Voraussetzung dafür, daß genügend Wähler überzeugt werden könnten. - Meine Damen und Herren von der SPD, im Gegensatz zu Wim Kok habe ich den Eindruck, daß Sie sich immer weiter von den Realitäten entfernen.
Sie schüren eine Politik des Sozialneids; Sie sind nicht reformfähig.
Mein nächstes Beispiel ist Portugal - dort sind wir ja gemeinsam gewesen, meine Damen und Herren -: Ich darf daran erinnern, daß in Portugal eine soziale Sicherung, gemessen an unserem Sozialversicherungssystem, nur in Spurenelementen vorhanden ist.
Herr Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gilges?
Ja, bitte sehr. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön.
Herr Kollege Louven, wir sind gerne bereit, uns mit der Realität in den Niederlanden auseinanderzusetzen. Ich frage Sie, ob auch Sie bereit sind, sich mit der Realität in den Niederlanden auseinanderzusetzen, die da lautet, daß es erstens keine versicherungsfreien Arbeitsverhältnisse gibt, daß also für jede Arbeitsstunde eine Versicherungspflicht besteht und nicht, wie hier, 4 bis 5 Millionen Menschen 620-DM-Jobs haben, das heißt: versicherungsfrei beschäftigt sind. Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in den Niederlanden zweitens. eine Grundrente in der Größenordnung von 2000 Gulden gibt, die hier schon eine Spitzenrente wäre?
Das ist die Realität. Und dieser stellen wir uns; da hat der Ministerpräsident, Herr Kok, recht. Tun Sie das auch?
Herr Gilges, zunächst einmal zu den versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnissen. Das, was Sie in bezug auf die Niederlande gesagt haben, ist richtig. In der Tat kennen die Niederländer dieses Instrument nicht. Mein Papier, das ich zur Änderung unserer Situation vorgelegt habe, bestätigt dies ausdrücklich. Aber Sie kennen ja die Situation in einer Koalition. Deshalb ist eine Än-
Julius Louven
derung im Moment nicht durchsetzbar. - Das dazu. Das war eine ehrliche Antwort.
Zweitens. Die Einheitsrente in den Niederlanden beträgt meines Wissens 1200 und nicht 2000 Gulden. Die Niederlande haben zudem ein völlig anderes Rentensystem. Von daher muß ich Sie fragen: Wollen Sie Vergleichbares in Deutschland? Ich denke, daß wir an unserem Rentensystem festhalten wollen.
Nun komme ich wieder zu Portugal, wo wir gemeinsam gewesen sind, Herr Gilges. Dort sagten uns die Arbeitsministerin, der Sozialminister und der Wirtschaftsminister - sämtlich Sozialdemokraten - auf die Frage nach dem wichtigsten Ziel portugiesischer Politik: die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft weiter zu stärken.
Folge, Herr Schreiner: 450 deutsche Firmen gingen innerhalb von drei Jahren nach Portugal.
Jetzt wende ich mich England zu:
Dort hat Tony Blair vor der Wahl angekündigt, daß er unpopuläre Maßnahmen der Vorgängerregierung nach dem Machtwechsel sofort rückgängig machen werde. Bis heute ist davon nichts zu sehen.
Ganz im Gegenteil: Tony Blair setzt Reformen um, indem er staatliche Leistungen kürzt bzw. streicht. So wird beispielsweise das pauschale Arbeitslosengeld nicht mehr für ein Jahr, sondern nur noch für sechs Monate gewährt. Darüber hinaus wurden auch die Zumutbarkeitsregelungen für den Bezug von Arbeitslosengeld erheblich verschärft. - Dies ist eine Politik, die Sie hier als Sozialabbau beschimpfen. Die Politik von Tony Blair macht auch deutlich, wie weit Sie von ihm entfernt sind, so gern Schröder auch den Eindruck aufkommen lassen will, er sei der deutsche Tony Blair.
Dann nenne ich Schweden - wo wir ebenfalls gemeinsam gewesen sind - mit seinem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten: Dort sind seit 1992- jeweils im Konsens mit der Opposition, teils auch mit den Gewerkschaften - 65 verschiedene Maßnahmen mit massiven Eingriffen in das soziale Netz beschlossen worden.
Ich nenne Ihnen einmal einige, Herr Schreiner. 1993:
Die Arbeitgeberabgaben zur Sozialversicherung
wurden von 35 Prozent auf 31 Prozent gesenkt. Arbeitnehmerbeiträge zur Krankenversicherung wurden erstmals eingeführt.
Ein Karenztag bei der Lohnfortzahlung und beim Krankengeld wurde eingeführt.
- Ich nenne Ihnen noch mehr, Herr Schreiner: Bei der Arbeitslosenversicherung wurden fünf Karenztage eingeführt. Das Arbeitslosengeld wurde von 90 Prozent auf 80 Prozent des Einkommens gesenkt.
Der gesetzliche Urlaubsanspruch wurde von 27 auf 25 Tage gesenkt. - Ich könnte diese Liste noch fortsetzen. Ich sage dies, Herr Dreßler und Herr Schreiner, um Ihnen deutlich zu machen, was sozialdemokratisch geführte Länder in Europa tun, um entsprechende Fortschritte zu machen.
Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vom Kollegen Schreiner gern. Aber ich möchte noch den Gedanken zu Ende bringen.
Das Ergebnis, Herr Schreiner: In Schweden ging die Arbeitslosigkeit deutlich nach unten, in Schweden investieren derzeit deutsche Firmen 15mal soviel wie schwedische Firmen in Deutschland. Dies sollte uns doch zu denken geben. - Bitte sehr, Herr Schreiner.
Bitte.
Herr Kollege Louven, gestehen Sie mir zu, daß es überhaupt keinen Sinn macht, einzelne Punkte herauszugreifen und daraus Ländervergleiche zu machen? Dann könnte man Ihnen nämlich entgegenhalten, daß zum Beispiel in Dänemark die Lohnersatzleistung bei Arbeitslosigkeit bis zu 90 Prozent des letzten Nettoeinkommens beträgt und damit weitaus höher ist als in Deutschland, daß in Holland die Lohnersatzleistungen 80 Prozent des letzten Nettoeinkommens betragen und weitaus höher sind als in Deutschland, daß es in fast allen Ländern der Europäischen Union einen funktionierenden Familienlastenausgleich gibt, während Sie hier in Deutschland die Familien mit Kindern in die Armut treiben.
Es macht also überhaupt keinen Sinn, hier einzelne Vergleiche anzustellen.
Abschließend möchte ich Sie fragen, ob Sie dem Kollegen Blüm zustimmen, der vor einigen Monaten in einem längeren Brief die Mitglieder der Koalitionsfraktionen dahin gehend unterrichtete, daß das
Ottmar Schreiner
einzige Kostenkriterium von Sozialleistungen, nämlich die Sozialleistungsquote, in Deutschland im unteren Tabellendrittel der Europäischen Union liegt, daß Sie also nicht Opfer von anderen europäischen Entwicklungen sind, sondern Täter des europäischen Sozialabbaus, weil die anderen aus Wettbewerbsgründen nachziehen müssen. Das ist die tatsächliche Situation. Deshalb sollten Sie zügig Ihre Rede beenden und zum Platz zurückkehren.
Herr Schreiner, ich habe noch vier Minuten Redezeit, und Sie haben es mir ermöglicht, daß ich jetzt noch länger reden kann, da ja die Zeit für meine Antwort auf Ihre Frage hoffentlich nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Herr Schreiner, ich könnte Ihnen jetzt wie zu den anderen sozialdemokratisch geführten Ländern alles zu Dänemark oder zu Österreich vortragen. Aber ich gebe Ihnen recht, daß das möglicherweise den Rahmen sprengen würde. Wenn Sie aber sagen, die familienpolitischen Leistungen seien in diesen Ländern weitaus besser als bei uns, dann möchte ich schon einmal darauf hinweisen, daß es doch die Regierung Kohl - der Arbeitsminister, zusammen mit anderen Ministern - gewesen ist, die die familienpolitischen Leistungen in den letzten Jahren erheblich nach vorne gebracht hat.
Es waren Leistungen, die Sie zwar in Ihrer Regierungszeit ständig angekündigt haben, aber den Familien in jeder Form schuldig geblieben sind.
Meine Damen und Herren, nun haben Sie ja in Ihrem Wahlkampfprogramm angekündigt, was Sie alles rückgängig machen wollen. Diese vollmundigen Ankündigungen werden jedoch auch schon wieder rückgängig gemacht. Clement, Freund von Schröder, designierter Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, sagte gestern in einem Interview mit der „Berliner Zeitung":
Es gilt der Leitsatz: Es wird keine Maßnahme zurückgenommen, wenn dadurch die Lohnnebenkosten steigen.
Die Lohnnebenkosten müssen in Deutschland endlich wieder abgesenkt werden.
Nun kann ich mir vorstellen, daß auch dies von Ihnen bald wieder mit der Aussage „Wir senken die Lohnzusatzkosten, erhöhen dafür aber dann die Steuern" rückgängig gemacht wird. Etwas anderes als Umfinanzierung fällt Ihnen ja nicht mehr ein. Clement allerdings, meine Damen und Herren, ging noch weiter: Eine SPD-Bundesregierung werde nicht vor schmerzhaften Eingriffen zurückschrecken.
Nun bin ich gespannt darauf, wann auch Clement von Lafontaine zurückgepfiffen wird.
Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Bitte.
Herr Kollege Louven, Sie haben gerade aus der „Berliner Zeitung" von gestern eine Aussage von Herrn Clement zitiert. Wären Sie bereit, einen weiteren Satz von Herrn Clement dem Hohen Hause auch noch mitzuteilen? Er hat nämlich folgendes hinzugefügt:
Für den Fall, daß eine Maßnahme zurückgenommen wird, die die Lohnnebenkosten erhöht, muß an anderer Stelle die Kompensation erfolgen.
Wären Sie bereit, dies zuzugestehen? Ich frage Sie, warum Sie diesen Satz von Clement, der der entscheidende ist, hier nicht zitiert haben.
Herr Dreßler, es ist völlig korrekt, was Sie sagen. Aber ich habe dies ja schon mit meiner Bemerkung kommentiert, daß Sie jetzt möglicherweise mit der Aussage kommen - das beinhaltet dies ja -, Sie wollten umfinanzieren, Sie wollten die Lohnzusatzkosten senken und die Steuern erhöhen. Damit lösen wir doch die Probleme in Deutschland nicht! Von daher habe ich hier nun wirklich nichts unterschlagen.
Ich empfehle Ihnen, Herr Dreßler, und Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, dann, wenn Sie ans Rückgängigmachen denken, die Stellungnahme des Zentralbankrats zur Konvergenzlage in der Europäischen Union, vorgelegt in der letzten Woche, zu studieren. Der Zentralbankrat steht wohl nicht in dem Verdacht, einseitig Politik zu machen. In der zusammenfassenden Betrachtung heißt es - ich zitiere -:
Bei einer relativ großen Anzahl von Mitgliedstaaten, unter anderem Deutschland, Frankreich, Schweden und Spanien, bedarf es, um die fiskalische Lage dauerhaft tragfähig zu gestalten, einer Fortsetzung der Konsolidierungsmaßnahmen, einer Rückführung der Ausgabenquote sowie weiterer durchgreifender Reformen der Sozialversicherungssysteme.
Ich habe allerdings die Hoffnung aufgegeben, daß Sie bereit wären, aus solchen Stellungnahmen zu lernen.
Dafür, wie es bei Ihnen vor und zurück geht, kreuz und quer durcheinander, einige Beispiele: Am Sonntag erlebte ich Herrn Clement bei der Meisterfeier
Julius Louven
der Handwerkskammer Düsseldorf. In seiner Rede sprach er sich eindeutig gegen eine Ausbildungsplatzabgabe aus, die Sie in der letzten Woche im Ausschuß mit Nachdruck forderten. Meinen Hinweis, Schröder und Clement seien gegen eine Ausbildungsplatzabgabe, haben Sie zurückgewiesen. Clement sprach sich weiter für eine Steuerreform mit deutlich niedrigeren Steuersätzen - oben wie unten - aus. Er lobte die Einführung des Euro, sah darin Vorteile für die deutsche Wirtschaft, die sich aber auch dem europäischen Wettbewerb stellen müsse und dies nach seiner Meinung auf Dauer nur könne, wenn wir auch im Bereich der Sozialversicherungssysteme den europäischen Wettbewerb bestünden. Das heißt doch wohl eindeutig: Reformen.
Hätte sich Nordrhein-Westfalen im Bundesrat so verhalten, wie Herr Clement es vor den Handwerkern forderte - bei Ihnen ist es offensichtlich so, daß Sie vor Handwerkern anders reden als auf Gewerkschaftskongressen -, dann wäre die Steuerreform mit all den positiven Wirkungen auch auf den Arbeitsmarkt heute in Kraft.
Ich möchte noch von einem anderen Erlebnis in Düsseldorf berichten: Auf einer Veranstaltung der Stadt Düsseldorf für japanische Unternehmer, auf der ich zum Thema Lohnzusatzkosten zu reden hatte, sprach vor mir der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Bickenbach, SPD-Mitglied. In seiner Rede zum Standort Deutschland lobte er, Herr Schreiner, die Ausweitung der Sonntagsarbeit. - Als wir dies hier machten, haben Sie mir antichristliches Verhalten vorgeworfen. -
Er lobte die Streichung der Gewerbekapitalsteuer. - Das haben Sie abgelehnt. - Er lobte die Streichung der Vermögensteuer. - Hier diffamieren Sie uns immer noch. -
Das sind lauter Maßnahmen, die Sie hier in Bonn bis aufs Messer bekämpft haben.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie verlieren jede Glaubwürdigkeit. Das macht auch der Entschließungsantrag von Ihnen deutlich.
Sie wollen vergammelte Zukunftsvisionen als rotgrünes Frischgemüse anpreisen. Mit Dynamik und Zukunft hat dies nichts zu tun. Kehren Sie um, gehen Sie einen Weg der Vernunft wie in anderen sozialdemokratisch geführten Ländern! Nur dieser Weg verspricht Erfolg.
Ich gebe der Abgeordneten Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Niemand wüßte besser als wir Grünen, daß Reisen bildet.
Angesichts dieser wirklich sehr ausführlichen Tour d'horizon des Kollegen Louven quer durch Europa mit Endflughafen Düsseldorf habe ich mir gedacht, daß man auch wissen sollte, was im Rest der Republik los ist.
Angesichts der Tatsache, daß beim Lesen der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage erhebliche Bildungslücken dieser Regierung deutlich wurden, was die Kenntnis der Lage im eigenen Land anbelangt, schlage ich doch vor - diesmal nicht aus ökologischen, sondern aus sozialpolitischen Gründen -, sich im eigenen Lande umzuschauen.
Als ich die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage las, legte sich nach und nach Mehltau über mich, und ich fühlte mich in mein Grundstudium der Volkswirtschaftslehre zurückversetzt, als man mir die Grundzüge der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und die Schwierigkeiten bestimmter statistischer Erfassungsmethoden beibrachte.
- Nein. Ich finde es ein starkes Stück, daß die Bundesregierung auf solche Fragen nach dem Motto antwortet: Das weiß das Statistische Bundesamt nicht. Es wird nicht mit einem Wort darauf verwiesen, daß es neben dem Statistischen Bundesamt noch andere geeignete Erkenntnisquellen gibt. Sie nehmen die - ob es sich nun um Soziologen, Ökonomen oder wen auch immer handelt - überhaupt nicht zur Kenntnis. Offensichtlich existiert die Wissenschaftslandschaft in diesem Land für Sie nur auf irgendwelchen Kongressen. Aber dann, wenn Sie sich einmal sachkundig machen könnten, was zum Beispiel Sozialwissenschaftler über die Verhältnisse in diesem Land zu sagen haben, tauchen Sie ab. Ich weiß nicht, ob es Sie überfordert, das zur Kenntnis zu nehmen.
Ich finde es bedauerlich, daß die Beantwortung der Großen Anfrage für Sie offenkundig eine reine Pflichterfüllung gewesen ist. Dabei hätten Sie damit eigentlich die Chance gehabt, die 15 Jahre Kohl als eine klasse Erfolgsbilanz darzustellen.
Das erwartet man doch von einer Regierung, die sagt: Wir wollen weitermachen. - Aber das erschließt sich mitnichten aus dieser Antwort.
Andrea Fischer
Ich finde auch, dieser miesepetrige Ton, in dem Sie sagen, Sozialpolitik müsse einen Beitrag zur Standortpolitik leisten usw.,
ist nichts anderes als ein bürokratisch-technokratischer Ausdruck für Sozialkürzungen, die Sie in der Regel vornehmen. Darin drückt sich die Vorstellung aus, man könne die Qualität von Sozialstaat in Form einer Soll- und Habenbilanz aufzeigen. Es wird darauf verwiesen, man habe zwar hier und da gekürzt, aber man habe zum Beispiel bei den Kindern und der Pflege auch mehr gegeben. Das für sich genommen ist eine Aussage ohne jeden Wert, weil Sozialpolitik nicht an einer Soll- und Habenbilanz festgemacht werden kann. Für jemanden, der langzeitarbeitslos ist und dem das Arbeitslosengeld gestrichen wird, ist die Einführung der Pflegeversicherung zunächst einmal ohne Belang. Der Tatsache, daß man an der einen Stelle etwas Falsches macht, kann man sich nicht dadurch entziehen, daß man an einer anderen Stelle etwas Richtiges macht.
Wir bestreiten überhaupt nicht, daß es wichtig ist, in der Sozialpolitik auf Geld zu achten. Immerhin geben wir hier Steuergelder und Beiträge anderer Menschen aus. Eine Umverteilung muß gut begründet sein. Gleichwohl bleibt festzuhalten: Die von der Bundesregierung mit Stolz getroffene Feststellung, daß die Sozialleistungsquote über einen Zeitraum von 10, 15 Jahren gleichgeblieben ist, ist, wenn man bedenkt, daß das Ausmaß der Aufgaben von sozialstaatlicher Sicherung durch die hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Probleme gestiegen ist, zunächst einmal nichts anderes als die Aussage: Wir haben massiv gekürzt. - Anders kann es ja nicht sein, wenn die Sozialleistungsquote bei steigenden Problemen gleichbleibt. Das muß hier einmal festgehalten werden.
Gucken wir uns an, bei wem Sie gekürzt haben. Dazu sage ich: Sie haben absolut die falsche Antwort darauf gefunden, wie unter der Bedingung, daß wir das Geld nicht mit vollen Händen ausgeben können, Sparpolitik und Konsolidierungspolitik im Sozialstaat zu betreiben sind. An die Pfründe, an die Doppelversorgung sind Sie nicht herangegangen. Ich will das an drei Beispielen festmachen.
Erstens. Sie halten aus ideologischen Gründen am Ehegatten-Splitting in der heutigen Form fest. Mit einer drastischen Beschneidung des Ehegatten-Splittings könnten Sie aber die Milliarden freisetzen, die man bräuchte, um endlich ein besseres, bedarfsdekkendes Kindergeld zu bekommen.
Zweitens. Sie halten daran fest, daß es ein drastisches Ungleichgewicht zwischen der steuerlichen Förderung der Bildung von Wohneigentum und der Unterstützung von Mietern, die unter zu hohen Mieten leiden, gibt. Beim Wohngeld ist seit Jahren nichts passiert, obwohl wir wissen, daß es eine der drükkendsten Sorgen vieler Menschen ist, daß sich die
Höhe ihrer Mieten und die ihrer Löhne immer mehr auseinanderentwickelt.
Drittens. Gerade gestern hat die Regierung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung selbst gesagt, daß das, was bei der Beamtenversorgung geändert worden ist, unzureichend ist. Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen - das muß auch aus sozialpolitischer Sicht für all diejenigen, die ein Interesse an klugen Rentenreformen haben, ein Herzensanliegen sein -: Es wird in wachsendem Maße zu einem Legitimationsproblem für die gesetzliche Rentenversicherung, wenn die Bestimmungen der Beamtenversorgung nicht sehr stark angeglichen werden.
Des weiteren haben Sie sich bei Ihren Kürzungen ganz genau angeschaut, welches die schwachen Gruppen sind, für die sich ohnehin niemand einsetzt und interessiert, und wo man richtig zulangen kann. Ihre Familienpolitik ist und bleibt unzureichend. Eine Million Kinder in der Sozialhilfe sind einfach ein Skandal.
Da kommen Sie auch nicht weiter. Ich weiß nicht, wie Sie das mit Mißbrauch erklären wollen. Es kann ja wohl nicht sein, daß wir bei der Sozialhilfe einen Sozialmißbrauch haben, der eine Million Kinder betrifft. Ich denke, wenn es - neben der Arbeitsmarktlage - irgendeine Zahl gibt, die Ihren Bankrott deutlich macht, dann ist es diese Zahl.
Menschen mit Behinderungen fürchten inzwischen wirklich um ihre Existenz in diesem Land. Ohne bestreiten zu wollen, daß es für Behinderte gute Maßnahmen, gute Einrichtungen gegeben hat bzw. gibt, ist festzustellen: Das ändert nichts daran, daß es für viele Behinderte eine extrem bedrohliche Perspektive ist, die Sie durch die Änderungen des § 3 a des Sozialhilfegesetzes vorgezeichnet haben, wodurch das Recht auf Selbstbestimmung bei der Unterbringung gestrichen worden ist. Sie alle kennen das Drama um die Behindertenheime und das mangelnde Abgrenzungsproblem; das ist im Rahmen der Debatte über die Pflegeversicherung deutlich geworden. Darauf zu verweisen, daß die Mittel für die Integration von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt nicht oder nur sehr wenig gekürzt worden sind, geht am Problem vorbei. Wenn der Wind auf dem Arbeitsmarkt rauher wird, dann sind Menschen mit Behinderungen selbstverständlich diejenigen, die als erste davon betroffen sein werden. Das heißt, man muß seine Bemühungen verstärken, um diesen Menschen eine Chance zu geben.
Da ich schon bei den Bilanzen bin, möchte ich darauf hinweisen, daß wir die historisch höchste Arbeitslosigkeit haben. Es ist mir völlig schleierhaft, wie die Regierung angesichts dessen immer wieder sagen kann: Die Opposition ist schuld. Jetzt muß ich als Grüne - mit Verlaub - einer konservativen Bundesregierung etwas über Machtfragen erzählen! Alle
Andrea Fischer
Ihre europäischen Beispiele fallen auf Sie selber zurück. Sie sagen immer: Die haben sich alle geändert; da ist etwas passiert, und da ist es gut. Warum ist es dann hier nicht gut?
Eine Bundesregierung, die die politischen Mehrheiten nicht organisieren kann und die gesellschaftliche Zustimmung nicht erhält, hat keine Macht und keine Basis in diesem Land. Das ist ihr Problem!
Der Vorwurf der Blockade fällt in diesem Punkt auf Sie selber zurück, weil es einer Regierung, die mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirklich ernst machen will, schon gelingen müßte, die Tarifparteien in ein gemeinsames Boot zu bekommen und eine gemeinsame Anstrengung in diesem Land durchzusetzen. Wenn Sie das nicht geschafft haben, dann ist das Ihr Fehler und nicht der der Opposition.
Es liegt doch auf der Hand, was zur Zeit not tut. Natürlich müssen wir bei der Einkommensteuerpolitik etwas tun.
Aber darüber gibt es Differenzen. Das wissen auch Sie. Diese Differenzen waren so dramatisch, weil auch Sie intern Differenzen gehabt haben.
- Ich spreche jetzt über die Einkommensteuer und darüber, daß wir insbesondere bei den kleinen und mittleren Einkommen entlasten müssen. Denn man muß sich eine Arbeitsumverteilung auch leisten können.
Wir brauchen außerdem - ich wiederhole das hier
- eine ökologische Steuerreform. Im Übrigen - dazu will ich seitens der Bundesregierung eine Antwort haben -: Sie können die Verlagerung der Finanzierung des Sozialstaats auf indirekte Steuern nicht völlig falsch finden; sonst hätten wir nicht gestern eine Mehrwertsteuererhöhung gehabt. Warum dieses alte Instrument und nicht gleichzeitig ein Einstieg in eine ökologische Erneuerung der Republik?
Ich will von Ihnen eine Antwort hören, wie Sie die Lohnnebenkosten senken. Wollen Sie sich dem Bund der Steuerzahler anschließen, der in der gesetzlichen Rentenversicherung soeben mal 100 Milliarden DM ersatzlos streichen will? Ich kann Ihnen schon sagen, wer dann alles am nächsten Tag Sozialhilfe beziehen muß. Ist das Ihre Antwort? Wollen Sie sich dem anschließen? Wie wollen Sie das machen? Die CDU hat ja noch kein Bundestagswahlprogramm, über das man sich das Maul zerreißen könnte. Von daher wüßten wir hier im Hause schon gerne einmal, wie Sie das machen wollen.
Wir müssen für eine Erneuerung auch des Arbeitsmarktes den Sozialstaat umbauen. Der Sozialstaat muß sich auf die neuen Verhältnisse einstellen, damit sich die Menschen auf die unübersichtlichen und schwieriger gewordenen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt einrichten können. Die Verhältnisse sind komplexer geworden. Ich glaube, daß man eher vereinfachte soziale Sicherungssysteme haben müßte.
Die Erfolge der europäischen Nachbarländer auf dem Arbeitsmarkt basieren durch die Bank auf einer Arbeitsumverteilungspolitik. Es benötigt einen gut funktionierenden Sozialstaat, um das abzusichern. Deswegen ist die Sozialreform eine Voraussetzung für die Modernisierung nicht nur der Gesellschaft, sondern vor allen Dingen des Arbeitsmarktes. Dafür kann ich bei Ihnen überhaupt keine Antwort erkennen. Die bleibt auch Ihre Antwort auf die vorliegende Große Anfrage schuldig.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jedes Gesetz verfolgt einen Zweck, jeder Antrag ein Ziel. Jede Große Anfrage enthält eine Botschaft durch ihren Inhalt, manchmal auch durch die bloße Anzahl der gestellten Fragen. Diese Botschaft wird meist auch gar nicht versteckt, sondern schon in der Überschrift deutlich. In „Leuchtschrift" steht in der Überschrift Ihrer Großen Anfrage „Zwischenbilanz zum Abbau von sozialen Leistungen - Auswirkungen auf die Betroffenen und auf das gesellschaftliche Klima".
Absender ist die SPD, ihre Klagelieder anstimmend.
Man muß nicht einmal in die Rituale der Debatten zur Sozialpolitik in diesem Hause eingeweiht sein, um zu wissen und vorhersehen zu können, wie Sie - begleitet von frischen und schrillen Tönen der Grünen und der PDS -, hier diese Arie singen. Sie werden es nicht unterlassen, das Klima wieder als kalt und frostig, die Gesellschaft als gespalten, die Situation als bedrohlich zu bezeichnen und sich selbst als heilbringend darzustellen.
Dabei sind diese Große Anfrage der SPD und die Antwort der Bundesregierung durchaus lesenswert. Frau Fischer, ich hatte keine Gefühle von Mehltau. Ich fand, daß schon die Fragestellung auf eine Fülle gesellschaftlicher Bereiche zielte; das ging von den Themen Einkommen, Entwicklung der Lohnquote, Lohnstückkosten, Sozialleistungsquote über die The-
Dr. Gisela Babel
men Bildung, Zugang zur Bildung, natürlich Frauen, ihre Berufstätigkeit, ihr Einkommen, der Grad ihrer Arbeitslosigkeit, ferner Behinderte, Mißbrauch von Sozialleistungen, Europa, soziale Standards bis schließlich hin zum Thema der gesellschaftlichen Klimaforschung. Leiden nicht die Betroffenen und leidet nicht die Gesellschaft an der Politik und durch die öffentliche Diskussion? Meiner Ansicht nach leidet sie vor allem an der SPD.
Aus den Fragen und Antworten sollte sich nun - so war ja Ihre Hoffnung - ein Großgemälde der Gesellschaft in Deutschland im Sinne der SPD abbilden. An dieser Stelle muß ich ausdrücklich darauf hinweisen, daß dieser Versuch fehlgeschlagen ist.
Die Erwartungen, die die SPD hatte, haben sich nicht erfüllt. Die Bundesregierung antwortet ausführlich, manchmal auch knapp, meist aber, wie ich finde, sehr vernünftig, unbeirrt und zutreffend. Das Bild, das die Antworten entwerfen, ist in der Tat positiv, aber keineswegs geschönt.
Weder wird verkannt, daß es Probleme im Bereich der Beschäftigung gibt, noch wird verkannt, daß sich diese Probleme auf die sozialen Sicherungssysteme auswirken. Es wird immer wieder auch darauf hingewiesen, daß es auch aus dem Bereich der Sozialpolitik Beiträge gibt, die bestehende Situation zu verbessern.
Gleichwohl haben wir nach wie vor - ich finde, das zeigt diese Antwort ganz gut - ein wohlausgestattetes, stabiles Deutschland, dessen Netze sozialer Sicherung eine Dichte, Stärke und Engmaschigkeit aufweisen, welche alle diese Klagelieder Lüge strafen.
Die Große Anfrage verstellt völlig den Blick dafür, warum wir die Reformen im Sozialbereich vorgenommen haben. Die SPD blendet diesen Aspekt aus, und deswegen möchte ich hier darauf zurückkommen. Es ist richtig, daß die Koalition den Sozialstaat in dieser und in der zurückliegenden Wahlperiode verändert hat. Arbeitszeitgesetz, Arbeitsrecht, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, soziale Sicherungssysteme - all dies haben wir auf den Prüfstand gestellt und tiefgreifend verändert. Dabei war unser Ziel - gerade als Sozialpolitikerin lege ich Wert auf diese Feststellung -, den Sozialstaat für die Zukunft bezahlbar zu halten und ihn zu bewahren.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So
ist es!)
Das läßt sich an einer Fülle von Beispielen nachweisen. Bei der Arbeitszeit haben wir - dies gilt als ein Muster von Deregulierung -, ohne die Interessen der Betroffenen, ohne den Schutz der Arbeitnehmer zu verringern,
Regelungen gefunden, die mehr Flexibilität mit sich gebracht haben. Wir haben die tägliche Arbeitszeit vorsichtig begrenzt. Wir haben die Möglichkeit von Sonntagsarbeit vorsichtig geöffnet. Damit haben wir Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt vorangebracht.
Die Gegenentwürfe der SPD und der Grünen zielten darauf ab, mit starrer Obergrenze der Wochenarbeitszeit eine unverblümte Tarifpolitik im Gewande eines Gesetzes zu betreiben.
Diejenigen Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen, hätten dann selbst sehen sollen, wie sie damit zurechtkommen.
Die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war eine harte Maßnahme, die zu harten Auseinandersetzungen geführt hat. Sie war vielleicht ein Thema, an dem sich festmachen läßt, wie reformfähig wir in Deutschland nun sind. Fällt es uns wirklich so schwer, in dieser Frage eine kleine und vertretbare Korrektur durchzuführen. Meiner Ansicht nach hat sich die Politik in diesem Punkt als handlungsfähig erwiesen; doch in den deutschen Tarifverträgen ist vieles nicht umgesetzt worden.
Im Osten hat man übrigens - nicht anders als schon in den 40 Jahren DDR zuvor - eine Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 90 Prozent. Die gesetzlichen Maßstäbe entsprechen also weitgehend denen, nach denen dort verfahren wird. Aber ganz maßgebend haben die gesetzlichen Änderungen im Tarifbereich zu Kostensenkungen geführt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie dies zurücknehmen - das stand auch heute wieder in einer dieser herrlichen Zeitungen -, wird das zu einer neuen Kostenbelastung führen. Ich hielte das für völlig unverantwortlich.
Meine Damen und Herren, vielleicht noch ein Wort zum Thema „Behinderte". Frau Fischer, um Ihnen noch ein weiteres Reiseland zu nennen: Wir haben uns in den USA über die Eingliederung von Behinderten in das Arbeitsleben informiert. Dabei kam zum Ausdruck, daß die sich um die Eingliederung bemühen. Das ist nicht ganz einfach, weil sie nämlich keinerlei Anreize und Strafen für einen Betrieb vorsehen, einen Behinderten zu nehmen. Ein Betrieb muß dort dieselben Lohnkosten bezahlen. Das ist also nicht ganz einfach. Das geht mit Charme und Persuasion. Ein Behinderter im Rollstuhl hat uns gesagt: In Amerika ist ein Gesundheitssystem, das sich darum kümmern würde, daß Behinderte in die Lage versetzt werden, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, nicht vorhanden. Das sei in Deutschland vorbild-
Dr. Gisela Babel
lich. - Das möchte ich Ihnen nur einmal als Gruß aus Amerika mitbringen. So schlecht ist das hier also nicht.
Meine Damen und Herren, zur Rente. Bis heute hat die SPD die Notwendigkeit einer Rentenreform bestritten. Sie haben die Probleme ausschließlich als Schwierigkeiten infolge der Wiedervereinigung - dazu gehört auch das wunderbare Thema der versicherungsfremden Leistungen -, also als ein innerdeutsches Problem bewertet. Sie haben noch nie zugegeben, daß sich durch die Erhöhung der Lebenserwartung im Grunde in allen Industrienationen das Thema der Alterssicherung stellt und daß man in dieser Frage überall über Reformen nachdenkt. Für die SPD ist das kein Thema. Meine Damen und Herren, mit unserem Ansatz befinden wir uns in guter Gesellschaft. Wir haben das Stabilitätsziel gut erreicht. Nach Aussagen der BfA werden die Rentenbeiträge bis zum Jahre 2015 unter 20 Prozent liegen. Ich halte das für eine gute Sache.
Die SPD setzt ausschließlich auf mehr Geld. Der Grundsatz ihrer Sozialpolitik ist: Senken der Lohnnebenkosten durch mehr Geld.
Mit mehr Geld Kosten zu senken, das wäre fast ein Wunder. Sie müßten eigentlich heiliggesprochen werden, wenn Ihnen das gelänge. Denn das Geld dafür bekommen Sie doch von denselben Betrieben. Wenn Sie die Betriebe mit höheren Lohnnebenkosten belasten, dann ist das schlecht. Wenn Sie die Lohnnebenkosten senken, gleichzeitig aber die Betriebe durch eine höhere Mehrwertsteuer belasten, dann möchte ich die Betriebe sehen, die einer solchen Politik zujubeln können, Herr Dreßler.
Ein Kernthema, auf das wir immer wieder stoßen, und auch das Grundthema der Anfrage ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Frau Fischer, worin kann sich das Kämpfen, das Sie hier immer in großartiger Körpersprache vorführen, manifestieren? Wie kann man es machen? Ich höre immer nur: Wir senken das Arbeitslosengeld nicht, wir verkürzen nichts, wir blähen auf, wir setzen stärker auf den zweiten Arbeitsmarkt - das macht übrigens auch die SPD -, und damit haben wir, wenn man vielleicht auch noch das Recht auf Arbeit in die Verfassung schreibt, das Problem gelöst. Ich verweise bei solchen Gelegenheiten immer auf den Kollegen Friedhoff, der sagt: Dann möchte ich in der Verfassung auch ein Recht auf Aufträge. - Es geht doch darum, daß deutsche Firmen Arbeit haben. Sie haben aber nur dann Arbeit, wenn diese zu wettbewerbsfähigen Kosten angeboten werden kann.
Ich gebe zu, das sind alles alte Weisheiten, die wir wiederholen.
Wir verhalten uns hier wie Pädagogen: Wir versuchen durch Wiederholung in das Bewußtsein unserer Kollegen von der Opposition zu dringen, vielleicht sogar, ohne daß sie das wollen.
Noch einmal zur Arbeitslosenversicherung: Wir haben die Eigeninitiative der Arbeitslosen und der Arbeitsämter gestärkt. Wir haben eine strengere Zumutbarkeitsregelung, die von Ihnen hier bekämpft und abgelehnt wurde, während uns Kommunalpolitiker der SPD ermahnt haben, daß es endlich eine strengere Anwendung der Zumutbarkeitsregelungen geben sollte. Also auch hier ein unentschlossenes Handeln in der Grundlinie, meine Damen und Herren.
Im Regierungsprogramm der SPD steht - das finde ich ganz nett - etwas von Lohnkostenzuschüssen und Einarbeitungszuschüssen. Sie vertrauen offenbar darauf, daß Ihre Wähler noch keinen Blick in das Gesetz geworfen haben. Denn das, was Sie sich in Ihrem Programm vorgenommen haben, haben wir schon alles im Gesetz.
Nun noch ein Beispiel zum Thema Arbeitslosigkeit aus Hamburg: Von 93 500 registrierten Arbeitslosen sucht rund ein Drittel - das haben Untersuchungen ergeben - keine Stelle. Warum nicht? - Die Betreffenden wollen ihre Ansprüche wahren und sind deshalb nicht abgemeldet. Wir müssen also auch diese Zahlen etwas kritischer hinterfragen.
Die SPD erhoffte sich von der Großen Anfrage Beweismaterial für ihre These, die Arbeit der Bundesregierung, der Koalition, habe zu einer Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung geführt.
Zu dieser These möchte ich Ihnen nun ein paar Zahlen vorlesen, die einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, DIW, entstammen, das, wenn ich es recht sehe, doch eigentlich gewerkschaftsnah ist, ein paar Zahlen, die in der Zeitschrift „Capital" veröffentlicht wurden. Die westdeutsche Pro-Kopf-Kaufkraft stieg von 1985 bis 1996 um 19 Prozent. Die untersten 5 Prozent der Einkommensgruppen haben um 18 Prozent zugelegt. Da ist also kein großer Unterschied. Die im internationalen Vergleich äußerst homogene deutsche Einkommensverteilung ist seit 1985 praktisch konstant. Die sozialen Schichten in Deutschland sind durchlässig. Jeder zweite arbeitete sich im letzten Jahrzehnt aus der Unterschicht nach oben. Auch die Pro-Kopf-Kaufkraft in den neuen Ländern stieg um 33 Prozent und liegt nur noch 225 DM unter Westniveau; bei den untersten ist es mit einer Differenz von 63 DM schon fast ausgeglichen.
Meine Damen und Herren, es steht auch in dem Bericht, daß die erhöhten Zahlen der Sozialhilfeemp-
Dr. Gisela Babel
fänger nicht unbedingt ein Hinweis auf Massenelend sind, sondern auf die Tatsache, daß wir 4,5 Millionen Flüchtlinge integriert haben. Das ist eine große Leistung, aber sie hat auch Auswirkungen auf unseren Sozialstaat.
Die SPD redet von Sozialabbau und vom gesellschaftlich vergifteten Klima. - Herr Dreßler, insofern muß ich sagen, einerseits ist es erfreulich, Sie wieder hier zu sehen, andererseits bin ich erleichtert: Sie sind der alte. Die SPD malt das heutige Bild grau in grau, und sie will alle Reformen rückgängig machen. Das ist eine Politik im Krebsgang. Sozialabbau betreibt derjenige, der soziale Sicherungen durch steigende Kosten in den Betrieben gefährdet.
Soziale Bausubstanz erhalten heißt, mit Mut zum Sparen die Kosten in den Betrieben zu senken.
Die F.D.P. warnt vor der angekündigten Politik im Krebsgang. Wir vertreten nachdrücklich die Reformpolitik, und wir sind sicher, daß wir die Weichen richtig gestellt haben. Weitere Reformen werden notwendig sein.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss, PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Dr. Babel, Herr Kollege Louven, ich kann jetzt leider nicht - ich will es auch nicht - mit weiteren Reiseländern aufwarten
und werde mich deshalb ganz bewußt auf die Situation hierzulande konzentrieren.
„Der Umbau des Sozialstaates ist in der 13. Legislaturperiode zügig vorangekommen." So das Fazit der Bundesregierung anläßlich der kürzlichen Verabschiedung des Sozialberichts 1997. Rekordverdächtig waren Sie in der Tat in Tempo und Intensität des Sozialabbaus. Die Bilanz der Regierung Kohl ist niederschmetternd: anhaltende Massenarbeitslosigkeit, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, gesellschaftliche Umstrukturierung auf dem Rücken von Frauen.
Die Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Zwischenbilanz des Abbaus sozialer Leistungen zeugen von einer unheimlichen Arroganz und Realitätsferne, wenn es heißt: „Die maßvollen Kürzungen im Sozialbereich stellen keinen Sozialabbau dar." Das erklären Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, mal einer alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerin oder einem Langzeitarbeitslosen, der auf seine 44. Bewerbung eine Absage bekommen hat! Herr Kollege Louven, es spricht
Bände, daß Sie in dieser Debatte nichts anderes zu bieten haben
als landeskundliche Informationen.
Nach dem Beschluß zur Absenkung des Rentenniveaus oder der Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes davon zu sprechen, es seien „Eingriffe unterblieben, die die bestehenden Sozialversicherungssysteme in ihrem Kern verändern oder in die Tarif autonomie eingreifen",
grenzt schon an Zynismus.
Die Titel Ihrer arbeitsplatzvernichtenden und armutschaffenden Aktionsprogramme sind, meine Damen und Herren von der Koalition, zum Fetisch geworden.
Im Namen von Investitionen und Arbeitsplätzen sowie mehr Wachstum und Beschäftigung haben Sie sich endgültig vom Sozialstaatsprinzip verabschiedet.
Ob Rentenreform, dritte Stufe der Gesundheitsstrukturreform, Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes, Arbeitsförderungs-Reformgesetz oder Arbeitslosenhilfereform: Nicht Ihr selbstgestellter Anspruch, „Sozialpolitik müsse auf gesellschaftliche Veränderungen und neue Bedarfslagen angemessen reagieren, um auch in Zukunft die soziale Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten" - ich glaube, für diesen Anspruch gibt es sogar Konsens hier im Saal -, stand hier Pate, sondern eine von Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau geprägte Politik.
Sich angesichts der gegenwärtigen sozialen Schieflage hierzulande des Rückgangs der Sozialleistungsquote und einer „stark gebremsten Dynamik der Sozialausgaben" zu rühmen zeigt, wie unwichtig Ihnen die sind, die auf Sozialleistungen angewiesen sind. Ich halte es nach wie vor für wichtig und richtig, die Verpflichtungen, die die Bundesregierung auf dem Weltsozialgipfel 1995 unterzeichnet hat, zum Maßstab der Politik zu machen. Diese Verpflichtungen sind: Entwicklung einer nationalen Strategie zur Armutsbekämpfung mit konkreten Zielsetzungen zur Erfüllung sozialer Grundbedürfnisse, Schaffung von Arbeitsplätzen als zentrales Element für soziale Entwicklung, mehr soziale Gerechtigkeit, Verminderung großer sozialer Disparitäten, Beachtung und Förderung der Menschenrechte, Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Frauen, soziale Integration von Randgruppen und Beteiligung der Bürgerin-
Petra Bläss
nen und Bürger sowie der Sozialpartner an der Formulierung und Durchführung der Politik.
Wie tief die Kluft zwischen den auf UN-Ebene abgegebenen Bekenntnissen und der politischen Praxis der Bonner Regierungskoalition ist, kann ich im folgenden nur exemplarisch darstellen. 4,8 Millionen Menschen waren im Februar 1998 offiziell als arbeitslos registriert. Mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 21,3 Prozent wird der Osten immer mehr abgehängt. Vor allem hier nimmt derzeit die Zahl der Langzeitarbeitslosen dramatisch zu.
Die Hauptursache für den dramatischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen ist der Abbau arbeitsmarktpolitischer Instrumente, also eine hausgemachte Ursache. Das neue Arbeitsförderungs-Reformgesetz stellt einen fatalen Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik zu Lasten der Arbeitslosen dar, und daran ändern auch - bitte schön - die Wahlbonbons wie die zusätzliche Bewilligung von Mitteln für ABM nichts. Die Folgen des im Namen von Investitionen und Arbeitsplätzen im September 1996 verabschiedeten Sparpakets sind verheerend. Sie führen laut Angaben des DGB zum Abbau von 500 000 Arbeitsplätzen. Weder die Aufweichung des Kündigungsschutzes noch die Einschränkung der Lohnfortzahlung, noch die Kürzungen bei der Rehabilitation, noch die Veränderung des Ladenschlußgesetzes haben neue Arbeitsplätze gebracht - im Gegenteil.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst hierzulande kontinuierlich, befördert durch Ihre Politik. Reiche sind reicher geworden, weil sie ihr Geldvermögen durch ansehnliche Vermögenserträge aufstocken konnten. Seit 1980 wurden die Gewinne aus Kapital und Vermögen mehr als verdreifacht, während sich in der gleichen Zeit die Nettolohn- und Gehaltssumme nur verdoppelt hat. Die privaten Haushalte verfügten 1997 über ein Geldvermögen von sage und schreibe 5,2 Billionen DM. Doch dies ist bekanntlich höchst ungleich verteilt.
Auf der anderen Seite ist ein stetiger Anstieg der Zahlen der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger zu verzeichnen. Im Jahre 1996 gab es 2,8 Millionen Beziehende von Hilfe zum Lebensunterhalt. Geht man davon aus, daß auf vier Sozialhilfebeziehende drei verdeckt arme Menschen kommen, und davon, daß von 100 sozialhilfebedürftigen Haushalten nur 60 Sozialhilfeleistungen beziehen, dann wird das tatsächliche Ausmaß der Verteilungsungerechtigkeit in der Bundesrepublik noch offensichtlicher.
Sowohl das Kinderhaben als auch das Krank- und Behindertsein, Arbeitslosigkeit und Trennung von Partner oder Partnerin können schnell zum sozialen Absturz führen. Das stellt einer reichen Gesellschaft wie der unseren ein ganz besonderes Armutszeugnis aus.
Armut ist hierzulande nicht nur - wie weltweit - weiblich, sie ist in erschreckendem Maße jung. 38 Prozent der Sozialhilfebeziehenden sind jünger als 18 Jahre.
Der von der Bundesregierung forcierte soziale Kahlschlag trifft Frauen besonders hart. Der Rückgang der Zahl existenzsichernder Arbeitsplätze und die Tatsache, daß Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik nach wie vor an einem überholten patriarchalen Modell orientiert sind, führen zu einer gnadenlosen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die Frauen in zunehmendem Maße in prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder an Heim und Herd drängt. Die Auswirkungen der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung auf die Existenzsicherung von Frauen sind fatal; denn die Benachteiligung im Erwerbsleben wird im sozialen Sicherungssystem bekanntlich fortgeschrieben. Ob Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ob dramatischer Anstieg der Zunahme der sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse als Folge des Ladenschlußgesetzes, ob Heraufsetzung des Renteneintrittsalters für Frauen oder Festschreibung frauendiskriminierender Elemente im Arbeitsförderungs-Reformgesetz: Die Politik der Regierungskoalition zielt eben nicht auf eine eigenständige Existenzsicherung von Frauen und schreibt damit geschlechtsspezifische Diskriminierung fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine der 78 Antworten hat mich ganz besonders nachdenklich gestimmt, nämlich die auf die Frage nach der „Akzeptanz des Leistungsabbaus und der Kürzungen im Bereich der sozialen Sicherung bei der Bevölkerung":
Die Bundesregierung geht aufgrund der ihr bekanntgewordenen Reaktionen davon aus, daß die große Mehrheit der Bevölkerung hierfür Verständnis aufbringt.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich bin mir ganz sicher, daß sowohl der nächste bundesweite Aktionstag gegen Arbeitslosigkeit unter dem Motto „Endlich auf der Straße - die neue A-Masse" am 7. April als auch die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ein deutliches Signal dafür setzen, daß dem nicht so ist.
Spätestens am 27. September aber werden Sie den wohlverdienten Denkzettel verpaßt kriegen und mit der Tatsache konfrontiert sein, daß die Mehrheit in diesem Lande auf einen überfälligen Regierungs-
und Politikwechsel setzt.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Ramsauer.
Frau Kollegin Bläss, daß ausgerechnet Sie als Vertreterin einer Partei, die mit ihrer kommunistischen Vergangenheit den Schlamassel in den neuen Bundesländern, in der früheren DDR, verursacht hat, Deutschland insgesamt als ein Land des Jammers und des Elends schildern und daß Sie verschweigen, wo eigentlich die Ursachen für die Probleme in den neuen Bundeslän-
Dr. Peter Ramsauer
dem herrühren, das ist schon geradezu eine Dreistigkeit.
Sie beklagen den Abbau von sozialen Leistungen. Ich bitte Sie, wenn Sie schon so reden, auch die wahren Zahlen zu nennen, damit auch den Menschen in den neuen Bundesländern klar wird, wie die Sachlage tatsächlich ist. Nehmen Sie bitte nur einmal die Jahre 1996 und 1997.
In diesen beiden Jahren sind durch die Einführung der Pflegeversicherung und durch die Neuregelung und Verbesserung des Familienleistungsausgleichs, also nur durch diese beiden erweiterten bzw. neuen sozialen Leistungen, die Ausgaben für Sozialleistungen um 40 Milliarden DM angewachsen. Auf der anderen Seite haben wir allerdings durch ein großes Reformpaket gut 20 Milliarden DM eingespart. Aber die Ausgaben für Sozialleistungen sind dennoch per saldo um etwa 20 Milliarden DM gestiegen.
Aber Sie sind nicht bereit, uns das zuzugestehen. Sie sagen im Gegenteil, daß gestiegene Ausgaben für soziale Zwecke ein Beweis für gestiegene Armut in Deutschland seien. Was ist denn das für eine total verkehrte Logik? Einmal so und einmal so - das kann nicht angehen.
Gestiegene Sozialausgaben sind kein Beweis für gestiegene Armut. Wenn sie etwas beweisen, dann ist es die Tatsache, daß diese Gesellschaft Solidarität übt. Sie sind ein Beweis für die gestiegene Hilfsbereitschaft. Ich frage Sie: Wodurch erklären Sie sich, daß wir aus dem Ausland einen derartig hohen Zustrom haben, gerade aus Ländern, die nicht der Europäischen Union angehören? Der Zustrom läßt sich dadurch erklären, daß wir dieses hohe soziale Niveau in Deutschland haben. Die Menschen suchen hier doch nicht die Armut, sondern sie suchen zum großen Teil unser starkes soziales Netz, in das sie sich hineinlegen wollen. So sind die tatsächlichen Zusammenhänge!
Von wegen Arbeitsplatzvernichtungsprogramme: Sie wissen ganz genau, woher der zunächst arbeitsplatzabbauende Strukturwandel in den neuen Bundesländern rührt. Das System, das Sie früher vertreten haben, wollte versteckte Arbeitslosigkeit und nicht wettbewerbsfähige Strukturen aufrechterhalten. Daher war nichts anderes möglich, als zunächst einmal wettbewerbsfähige Strukturen zu schaffen.
Eines sagen Sie bitte der Ehrlichkeit halber auch: Die Transferleistungen von den alten in die neuen Bundesländer werden im Westen nicht beklagt. Sie sind ein Beweis dafür, daß die alten Bundesländer dieses hohe Maß an Solidarität aufbringen und nicht nur in den vergangenen acht Jahren alles dafür getan haben, sondern auch noch in den nächsten Jahren alles dafür tun werden, daß in den neuen Bundesländern eine gedeihliche und wettbewerbsfähige
Wirtschaft und die dazugehörigen Arbeitsplätze entstehen.
Frau Kollegin Bläss!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Ramsauer, ich hätte Ihnen gerne noch mehr Zahlen genannt, wenn ich eine längere Redezeit gehabt hätte.
Ich möchte Ihnen noch eine Zahl nennen, mit der der Arbeitsminister Sie als Mitglied der CDU/CSU- Fraktion vor einigen Wochen konfrontiert hat. Er rühmte sich damit, daß 130 Milliarden DM bei Sozialleistungen einschließlich der Kosten für die Arbeitsmarktpolitik gespart worden seien. Ich denke, das ist eine Zahl, die eindeutig ein Armutszeugnis für die Bundesregierung ausstellt.
Apropos Armut: Ich meine, gerade in Sachen Armut ist die Bundesregierung aufgefordert, erst einmal ihre Hausaufgaben zu machen. Ich möchte daran erinnern, daß es nach wie vor weder eine nationale Armutsberichterstattung, geschweige denn einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Armut gibt. Zu beidem hat sich die Bundesregierung beim Weltsozialgipfel in Kopenhagen aber verpflichtet.
Sie haben diese Debatte dazu genutzt, wieder die elendige Mißbrauchsdebatte anzuzetteln, und deshalb möchte ich Sie daran erinnern, daß gerade erst in der letzten Woche hier im Parlament der gemeinsame Vorstoß einer leider großen Koalition von CDU/ CSU, F.D.P. und SPD zur erneuten Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes eingebracht worden ist. Ich denke, das ist ein absolutes Warnsignal. Das Gesetz ist gar kein Leistungsgesetz im Sinne von sozialpolitischem Anspruch mehr. Das, was Sie jetzt vorschlagen, ist sozusagen der Gipfelpunkt von Sozialabbau und inhumaner Politik.
Ich komme jetzt zu den Transferleistungen Ost. Leider hatten Sie gestern nicht die Möglichkeit, an der Anhörung im Ausschuß teilzunehmen. Dort gab es unter anderem ein sehr interessantes Gutachten, das Zahlen zum Ost-West-Transfer genannt hat. Wir werden hier im Bundestag noch genug Debatten führen, in denen wir die Möglichkeit haben, den sogenannten Kassensturz zu machen. Ich bin durchaus der Auffassung, daß Ihre Zahlen zu hinterfragen sind.
Sie haben das Argument der 40 Jahre gebracht, aber darauf lasse ich mich nicht nur auf Grund meines Alters nicht ein. Sie wissen, daß die PDS hier sitzt, weil sie gewählt worden ist und bestimmte Positionen ins Parlament hineinbringt.
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der altbekannten Alternative - die einen sagen, der Sozialstaat wird ruiniert, und die anderen sagen, der Sozialstaat wird betoniert - ist heute vom verehrten Kollegen Dreßler, den ich herzlich im alten Streitring begrüße, eine dritte hinzugefügt worden. Sie lautet: Wir sagen, wir erhalten den Sozialstaat, obwohl wir ihn verändern.
Herr Kollege Dreßler, könnte es sein, daß man den Sozialstaat verändern muß, um ihn zu erhalten? Könnte es nicht sein, daß jeder Wandel ein Stück Erhaltung und ein Stück Veränderung ist?
Meine Damen und Herren, wir wollen in der Tat das Solidarprinzip erhalten. Ich würde mich nie einer Strategie, einem Vorschlag anschließen, der den Sozialstaat privatisieren, individualisieren will. Es geht um das Gleichgewicht von Selbstverantwortung und Solidarität, und ich warne davor, die Frage, wo das Gleichgewicht eingependelt ist, an Zahlen festzumachen.
Zunächst möchte ich ganz einfach sagen: Wir sind kein Staat, der nicht mehr sozial ist. Jede dritte Mark, die in unserem Land ausgegeben wird, wird für den Sozialstaat ausgegeben. Aber selbst auf diese Zahl berufe ich mich nicht; denn diese Zahl - 34 Prozent Sozialleistungsquote - ist auch ein Ergebnis hoher Arbeitslosigkeit. Folglich kann man die Qualität nicht an Zahlen festmachen; denn sonst wäre ja eine hohe Arbeitslosigkeit, die hohe Sozialleistungen erfordert, ein Beitrag zum Ausbau des Sozialstaats. Das wird doch niemand behaupten wollen. Sie können den Sozialstaat nicht mit diesen - wenn ich sie als Milchmädchenrechnung bezeichne, würde ich die Milchmädchen beleidigen - Rechnungen plausibel machen.
Frau Kollegin Bläss, wir haben 130 Milliarden DM eingespart. Daraus machen Sie uns einen Vorwurf. Wir können jedoch nur darüber diskutieren, ob sie an der richtigen Stelle eingespart wurden. Aber wer hätte die Milliardenbeträge denn bezahlt, wenn wir sie nicht eingespart hätten? Sie hätte doch nicht der liebe Gott bezahlt, und sie wären auch nicht aus irgendeinem Geheimfonds bezahlt worden, sondern die Beitragszahler hätten sie bezahlt.
Es ist der erste Grundirrtum dieser Diskussion, zu sagen, daß Gerechtigkeit nur bei der Ausgabenseite beginnt. Wenn ich Ihre Gerechtigkeitsvorstellung richtig verstanden habe, dann lautet sie: Je mehr Geld der Staat ausgibt, urn so gerechter ist es. So war das beim SED-Regime; Sie haben so viel Geld ausgegeben, bis der Staat bankrott war.
Das kann aber nicht die Lösung des Sozialstaats sein.
Ich bleibe dabei: Das erste ist die Arbeit. Diesem Anspruch muß auch der Sozialstaat dienen, obwohl er es allein nicht schaffen kann. Für mehr Beschäftigung ist es ein Aspekt, Lohnnebenkosten zu senken, aber die Lohnnebenkosten sind nicht der einzige Faktor. Innovation und Qualifikation spielen eine mindestens ebenso große Rolle.
Ich will mich auch an den Auslandsreisen meines verehrten Kollegen Louven beteiligen und auf die andere Seite der Medaille aufmerksam machen: Es ist nicht alles Gold, was in anderen Ländern glänzt. Ich betrachte beispielsweise die vielbewunderten Vereinigten Staaten: Wenn 40 Prozent der Lebensmittelempfänger einen Job haben, dann kann das nicht die Lösung sein. Dann heißt das nämlich, daß sie einen Job haben, von dem sie nicht leben können. Das ist nicht der Sozialstaat. Das ist nicht der Staat, den ich verteidige. Arbeit muß die Existenz sichern. Da sind wir uns sicherlich einig.
Ich möchte Tony Blair nennen -, aber wir wollen ausländische Staatsmänner
hier nicht in die Kontroverse einbeziehen. Warum denn in die Ferne schweifen? Schröder liegt so nah.
Von ihm höre ich immer: Modernität. Das ist sein neues Lieblingswort. Herr Dreßler, auch Sie haben es heute gesagt. Sagen Sie mir doch einmal, was es bedeutet. Bedeutet das, alle Reformen zurückzunehmen und anschließend den Leuten zu versprechen, die Beiträge zu senken?
Nach dem Prinzip suche ich seit 16 Jahren: wie man mit weniger Geld mehr ausgeben kann. Das ist das Sterntalerprinzip. Schröder ist der Sterntaler der SPD. Er wartet, bis die Sterne herunterfallen, damit er sie in seinem Hemdchen auffangen kann und in Geld verwandelt. Das ist doch ein Märchenprinzip.
Sie können doch nicht sagen, Sie wollen die Reformen zurücknehmen und nachher noch die Beiträge senken. Was ist denn Ihre Alternative?
- Sie wollen doch draufsatteln. Herr Oberlehrer, sagen Sie doch einmal, wie Ihre Entlastung der Rentenversicherung aussieht? Auf die demographischen Veränderungen müssen Sie antworten. Wieder der Blick über die Grenzen: Die SPD hat, anders als alle anderen Länder Europas, mit einem Parteitagsbeschluß festgestellt: Demographie ereignet sich erst ab dem 1. Januar 2015.
- Doch, das haben Sie gesagt. Sie wollen auf die demographischen Veränderungen ab dem Jahre 2015
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
antworten. Das Leben richtet sich aber leider nicht
nach den Beschlüssen der SPD, sonst funktionierte es.
- Es ist nicht lächerlich.
- Es ist nicht lächerlich. Sie nehmen die Leute auf den Arm, indem Sie sagen: Modernität bedeutet, Reformen zurückzunehmen und die Lohnzusatzkosten zu senken. Man muß den Leuten sagen, daß sie mit einer solchen Parole für dumm verkauft werden.
Übrigens noch so etwas: Zumutbarkeit. Ich höre, wie die neuen kräftigen Helden der SPD danach rufen, daß sie verschärft werden muß. Das ist doch eine schallende Ohrfeige für die Bundestagsfraktion.
Sie haben doch pausenlos gegen die Zumutbarkeitsregelung gestimmt, die jetzt Herr Schröder verschärfen will. Erklären Sie doch einmal, wie das jetzt ist. Gilt das, was Sie hier im Saal sagen, oder gilt das, was Herr Schröder sagt?
Ich weiß allerdings auch nicht immer, was er sagt. Er redet bei der Industrie- und Handelskammer, als wäre er Herr Stihl, und bei der IG Metall so, als wäre er Herr Zwickel. Das ist der Bauchredner des jeweiligen Publikums. Er redet so, wie die Erwartungen des Publikums sind.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Nun bin ich nicht wie Julius Louven, mein lieber Freund und Kollege, ein so weitgereister Mann. Mein Horizont ist etwas kleiner.
Ich bin mehr provinziell. Deswegen fangen wir doch einmal in Deutschland zu reisen an.
Kommen wir doch einmal zu drei SPD-Musterländle. Es ist rein zufällig, daß ich sie erwähne. Niedersachsen: Erholungsmaßnahmen für Behinderte und Schwerbehinderte gestrichen, Geld für Altenheimstiftungen gestrichen, Geld für Behindertenheime gestrichen, Geld für soziale Stationen gestrichen, Hilfe für Senioreneinrichtungen gestrichen, Programm für Beschäftigung und Sozialberatung gestrichen, Programm für Jugendarbeit gestrichen;
Förderung von Selbsthilfegruppen gekürzt, Zuschüsse zur Schuldnerberatung gekürzt, Maßnahmen der Aidsbekämpfung gekürzt, Maßnahmen der Suchtbekämpfung gekürzt. Siebenmal gestrichen, viermal gekürzt unter Niedersachens Ministerpräsident Schröder! Gleichzeitig tritt hier die SPD an und will uns anklagen. In Niedersachsen sind die Sozialausgaben in den letzten Jahren um 11,5 Prozent gesunken. Im Bund sind sie um 11,6 Prozent gestiegen. Das ist der Unterschied zwischen Niedersachsen und dem Bund.
Das eine ist ein Minus, das andere ist ein Plus.
- Nein, ich mache noch weiter. Sie können noch von weiteren Ländern hören.
Nordrhein-Westfalen: Ausgaben für Freie Wohlfahrtsverbände und Zuschüsse für Schwangerschaftskonfliktberatung gekürzt.
- Sie klagen doch die CDU/CSU an. Da will ich doch einmal hier die großen Sprüche vorführen, die die Sozialdemokraten in Bonn klopfen, während sie daheim mit der Dampfwalze über die Sozialpolitik fahren. Das halte ich für doppelbödig; und gegen doppelbödige Politik habe ich etwas.
Das Saarland - können Sie auch noch haben -: Mittel für die Altenpolitik gekürzt, Lehrstellenangebot zurückgenommen. Der Bund dagegen hat das Lehrstellenangebot erhöht. Sie haben ja so eindrucksvoll von den Behinderten gesprochen; ich meine das nicht zynisch. All Ihre schönen Worte: Wer tut denn etwas? Der Bund hat mit 6,9 Prozent - zumindest die Pflichtquote - übertroffen. Die Länder, von denen ich gesprochen habe, liegen alle unter der Pflichtquote. Sie können hier noch so schöne lyrische Reden über die Themen „sozial" und „Sozialstaat" halten. Dort, wo Sie regieren, haben Sie in der Behindertenpolitik versagt. Sie haben die Behindertenquote nicht erreicht. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Bitte.
Herr Minister, könnte es sein, daß einige Länder in schwer zu ertragender Weise auch bei den Ausgaben für die Behinderten kürzen mußten, weil der Bund durch die Abschaffung der Vermögensteuer die Finanzlage der Länder drastisch verschlechtert hat?
- Zum Beispiel.
Nein, das kann deshalb nicht sein, Herr Schreiner, weil die Vermögensteuer im letzten Jahr abgeschafft wurde, aber die Kürzungen schon vorher stattgefunden haben.
Da können Sie höchstens sagen, Sie hätten das prophylaktisch getan. Laßt doch diese Ausreden sein. Die Kürzungen, auch im Saarland, fanden vorher statt.
Auch der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt gefällt mir besonders: Dort gibt es die höchste Arbeitslosenquote in Deutschland und die stärkste Kürzung der Arbeitsmarktmittel in allen neuen Ländern; höchste Arbeitslosigkeit und stärkste Kürzungen der im Haushalt vorgesehenen Mittel.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Die Zeit für Gerede ist vorbei. Hier werden Fakten auf den Tisch gelegt.
In Sachsen-Anhalt wurden die Ausgaben für Behinderte um 20 Prozent, für Jugendarbeit um 33 Prozent und für Familien um 64 Prozent gekürzt. Wir können ja über alles reden, nur die Debatte führe ich hier nicht: daß wir die Herzlosen seien und die Sozialdemokraten die großen Sozialpolitiker.
So nicht! Ich verteidige mit allen Kräften den Sozialstaat. Aber diese Schwarzweißmalerei können Sie nicht mit vielen Worten, auch nicht mit dem Wort „Ich bin bereit" rechtfertigen. Zu was ist denn der Mann bereit?
Ich sehe nur, zu was er in Niedersachsen bereit war. Da war er zu Kürzungen bereit.
- Sie wollten doch hier eine Auseinandersetzung mit der Bundesregierung. Ich führe sie mit Fakten aus Deutschland.
Das erste und wichtigste ist und bleibt: Arbeit für alle. Da stehen wir in der Verantwortung. Da müssen auch andere mitmachen. Auch ich glaube, daß unser Sozialstaat weiterentwickelt werden muß. Wir haben ja nicht nur gekürzt. Von den Kindererziehungszeiten redet kein Mensch. Sie werden auf 100 Prozent aufgestockt. Das heißt nichts anderes, als daß die Leistungen für Kindererziehungszeiten pro Kind um ein Viertel pro Monat gestiegen sind. Bei drei nach 1992 geborenen Kindern sind das im Jahr über 1000 DM. Das ist doch etwas.
Ich sage noch einmal: Ich würde vorschlagen, die ganze Sozialpolitik, die Familienpolitik und auch die Arbeitsmarktpolitik nicht nur an Zahlen zu messen.
Es geht auch um eine Gesinnung der Solidarität und um einen Ethos der Mitverantwortung. Es ist aber nicht so, daß wir nur gekürzt hätten.
Sie haben die Pflegeversicherung schon genannt. Ich sehe eine große neue Aufgabe darin, das Eigentum breiter zu streuen, als es heute ist, auch im Sinne der Solidarität. Ludwig Erhard hatte zwei große Ziele: Wohlstand für alle und Eigentum für alle. Dem ersten Ziel sind wir weitaus näher gekommen, als viele erwartet haben; dem zweiten nicht. Ich halte die Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand im Sinne der sozialen Sicherheit für eine weiterführende Entwicklung mit Perspektive.
Ludwig Erhard und Karl Marx hatten ein gemeinsames Ziel: klassenlose Gesellschaft. Der eine wollte eine erreichen, in der niemand Eigentum hat, und der andere eine, in der alle Eigentum haben. Insofern verfolgen wir die Erhardsche Linie.
- Aber das Modell von Ludwig Erhard hat jedenfalls den Wettbewerb mit dem von Karl Marx nun wirklich gewonnen. Diese historische Schlacht brauchen wir nicht mehr akademisch zu führen.
Das ist aber nie fertig. Ich halte im Sinne der Weiterentwicklung des Sozialstaates die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital für einen weiterführenden Gesichtspunkt; denn Eigentum dient auch als Element der Freiheitssicherung. Deshalb sollte man an der Wirtschaft nicht nur als Mitarbeiter, sondern auch als Miteigentümer beteiligt sein. Diese Idee führt über die Tage hinaus.
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,
sagen Sie, Herr Bundesarbeitsminister. Das Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 haben Sie ja endlich aufgegeben. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen?
Das Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit haben Sie wahrlich verpaßt.
Frau Babel will den Sozialstaat bewahren, Herr Blüm ihn verändern. Herausgekommen sind einseitige Kürzungen zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Hätten Sie die deutsche Einheit gesamtgesellschaftlich finanziert, hätten alle dazu ihren Beitrag geleistet - auch Abgeordnete, auch Mi-
Erika Lotz
nister -, dann wäre mehr Geld für aktive Arbeitsmarktpolitik dagewesen, dann hätte das vielleicht zu „blühenden Landschaften", auch eine der versprochenen Früchte, geführt.
Ich will noch einmal daran erinnern, Herr Bundesarbeitsminister, daß diese Bundesregierung die private Vermögensteuer abgeschafft hat und damit weniger Geld für aktive Arbeitsmarktpolitik da ist. Durch die hohe Arbeitslosigkeit haben Sie die Länder in die Situation gebracht, arbeitslosen Menschen immer mehr Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt gewähren zu müssen. Das wäre der Weg gewesen: die Arbeitslosigkeit im Wege aktiver Arbeitsmarktpolitik zu bekämpfen. Damit hätten Sie dazu beigetragen, daß Arbeitslosigkeit sinkt. Dann wären Sie in Ihrer Argumentation redlich gewesen. Das, was Sie hier vorgetragen haben, ist nicht redlich.
Ich will auf unsere Große Anfrage bzw. Ihre Antworten darauf eingehen. Zunächst zu den Fragen der Situation von Frauen, Familien und Alleinerziehenden. Die Bundesregierung ist sich treu geblieben: Schönfärberei und die Realität auf den Kopf stellen. Das hat sie auch hier - allerdings untauglich - wieder versucht. Daß insbesondere die Frauen Ostdeutschlands die Verliererinnen der deutschen Einheit sind, belegt der Rückgang der Zahl erwerbstätiger Frauen - zwischen April 1991 und April 1994 um 700 000 -allzu deutlich.
Angesichts der Antwort auf unsere Frage nach der Bedeutung einer eigenständigen Existenzsicherung von Frauen scheint diese Bundesregierung an Gedächtnisschwund zu leiden - ich zitiere aus der Antwort -:
Frauen wollen heute materielle Unabhängigkeit und eine eigenständige Sicherung.
Da stimme ich zu.
Deshalb besteht die zentrale Aufgabe in der Schaffung von genügend sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen; dieses Ziel haben sich Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung im Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung gemeinsam gesetzt.
Ja, haben Sie denn vergessen, daß Sie es waren, die mit Ihrer Kürzung der Lohnfortzahlung und des Krankengeldes den Gewerkschaften den Stuhl vor die Tür gestellt haben? Es ist schon toll, jetzt bei den Kirchen um Hilfe nachzusuchen, damit wieder ein Bündnis für Arbeit zustande kommt.
Wo sind die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, die die Wirtschaft schaffen wollte? Oder werden diese jetzt im Wahlkampf geschaffen: 500 000, 200 000 oder wie viele? Was ich feststelle, ist, daß es mehr Arbeitsplätze ohne Sozialversicherungspflicht gibt. Das hat doch nichts mit „materieller Unabhängigkeit" und „eigenständiger Sicherung" von Frauen zu tun, sondern mit alten, überholten Familienmustern, mit Armut und Altersarmut von Frauen, aber auch mit der zunehmenden Flucht von
Arbeitgebern aus der solidarischen Sozialversicherung zu Lasten von Frauen. Fast zwei Drittel all dieser Arbeitsverhältnisse ohne Sozialversicherungspflicht entfallen auf Frauen. Die Arbeitgeber betreiben Sozialdumping. Wir brauchen eine andere Politik.
In der christlichen Seefahrt gilt das Motto: Frauen und Kinder zuerst. Das dient der vorrangigen Rettung der am meisten Hilfebedürftigen bei Seenot. Dieses Motto haben Sie von der Regierung beim Abbau des Sozialstaates auf den Kopf gestellt; denn Sie verlangen Frauen und Kindern, welche doch am meisten auf den Sozialstaat angewiesen sind, die größten Sparopfer ab und drücken ihnen höhere Lebensrisiken auf. Noch immer liegen die Löhne und Gehälter der Frauen um ein Drittel niedriger als die der Männer. Die Renten der Frauen sind extrem niedrig. Mehr Frauen als Männer sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Da preisen Sie sich, weil durch die Abschaffung der Kurzzeitigkeitsgrenzen 600 000 teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen in die Arbeitslosenversicherung aufgenommen wurden. Doch was ist damit für die Frauen bei der Renten- und Krankenversicherung gewonnen? Nichts.
Wir müssen endlich Schluß machen mit dem Mißbrauch der Geringfügigkeitsgrenze. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden das tun. Wir werden diese Arbeitsverhältnisse nicht abschaffen, aber die Bezieher entsprechender Einkommen sozialversicherungspflichtig machen, und das so, Herr Louven, wie in Holland. Das Beispiel hätten Sie vorhin vielleicht auch zitieren können.
Aber wir sind es bei Ihnen schon gewohnt, daß Sie sich aus allem immer nur die Rosinen herauspicken, daß Sie nur das erwähnen, was Ihnen paßt. Was Ihnen nicht paßt, das verschweigen Sie.
Ich erlaube mir, noch ein Zitat aus der Antwort der Bundesregierung zu bringen:
Von einer Politik für mehr Beschäftigung profitieren Arbeitslose sowie generell Benachteiligte am Arbeitsmarkt. Dies begünstigt auch Frauen.
Wahrlich eine schöne Antwort. Aber warum tun Sie dies nicht? Ihre Politik hat bisher genau das Gegenteil erreicht. Im Bereich der aktiven Arbeitsmarktförderung - ohnehin zur Kann-Leistung gemindert - werden nur noch langzeitarbeitslose Leistungsempfänger gefördert. Dadurch kommen überwiegend nur noch Männer zum Zuge. Wo werden da Frauen begünstigt?
Wo, frage ich, bleiben auch die vielen versprochenen Arbeitsplätze in Privathaushalten? Der Sonderausgabenhöchstbetrag ist doch auf 18 000 DM angehoben worden. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß unser Konzept - die Förderung von Dienstleistungs-
Erika Lotz
gutscheinen und Agenturen - zu mehr Arbeitsplätzen führen wird, weil Haushaltshilfen dann kein Privileg mehr für eine kleine Minderheit von Haushalten mit sehr hohem Einkommen sind. Wir werden dies umsetzen.
Ich will zum Schluß noch feststellen, daß Sie bei der Antwort auf unsere Große Anfrage den untauglichen Versuch gemacht haben, Ihren Leistungsabbau und Ihren Abbau von sozialen Schutzrechten zu verschleiern. Die betroffenen Menschen stellen aber fest, daß ihre Wirklichkeit anders ist, als sie von der Regierung geschildert wird. Die Heraufsetzung der Altersgrenzen,
die geänderte Bewertung der ersten Berufsjahre bei der Rente, der Abbau von Kündigungsschutz belasten die Frauen ebenso wie die verlängerten Befristungen von Arbeitsverhältnissen. Allein 5 Millionen Frauen sind in Kleinbetrieben beschäftigt, die von der Minderung des Kündigungsschutzes betroffen sind.
Die Kürzungen bei der Lohnfortzahlung und beim Krankengeld haben keine Arbeitsplätze geschaffen, aber insbesondere alleinerziehende Frauen in eine arge finanzielle Bedrängnis gebracht. Die soziale Sicherheit und die Lebenssituation von Frauen sind durch Ihre Politik verschlechtert worden.
Wir werden dies ändern. Frauenpolitik wird neuen Schwung erhalten. Wir werden die Gleichstellung von Frau und Mann wieder zu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt machen.
Frau Babel, Sie haben Ihre Rede vorhin mit den Worten beendet, Sie hätten die Weichen richtig gestellt. Das mag ja sein, aber Ihre Weichen sind so gestellt, daß der Zug auf ein Abstellgleis fährt.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im vergangenen Jahr 1997 sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als insgesamt 1256 Milliarden DM in Deutschland für soziale Zwecke ausgegeben worden. Das ist eine Zahl, für die man, wenn man sie ausschreibt, eine ganze Zeile braucht. Jede dritte Mark des Bruttosozialprodukts wurde damit im vergangenen Jahre für sozialen Ausgleich und für eine menschliche Gesellschaft aufgewandt. 1991 waren es noch 880 Milliarden DM, also ein Drittel weniger.
Nicht Abbau, sondern Aufbau des Sozialbudgets findet statt. Wer trotzdem pauschal von einer sozialen Wüste in unserem Land und von einem massenhaften Abbau des Sozialstaats spricht, hält wohl auch den Eiffelturm für ein mißglücktes Tiefbauunternehmen.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zeigt doch Eindeutiges. Seit 1982 stellt diese Koalition die Bundesregierung. In den folgenden elf Jahren hat sich das verfügbare durchschnittliche Einkommen der Rentner um 41,2 Prozent, das der Beamtenhaushalte um 52,5 Prozent und das der Arbeiterhaushalte um 53,7 Prozent erhöht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von der SPD, Ihre Anfrage ist ein Bumerang für Sie. Wer Sozialabbau beklagt, sollte zunächst vor der eigenen Tür kehren. Niedersachsen - darauf hat der Bundesarbeitsminister schon hingewiesen - hat mit 11,6 Prozent im Jahresdurchschnitt 1997 die zweithöchste Arbeitslosigkeit bei den Flächenländern, und trotzdem kürzt der niedersächsische Ministerpräsident die Landesmittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Auf der nach unten offenen Schröderskala gingen die Landesmittel von 1990 bis 1996 von 92 Millionen DM auf 36 Millionen DM zurück.
Taten und Worte klaffen hier wieder einmal deutlich auseinander.
Klar ist aber auch, daß wir in Deutschland bei allen Wünschen nach mehr sozialen Transfers an Grenzen stoßen. Auch das gehört zur Wahrheit. Ein pauschales Mehr an Sozialtransferleistungen ist kaum bezahlbar und fördert Tendenzen zur Entsolidarisierung. Die Leistungserbringer, Arbeitnehmer wie Unternehmer, die Beiträge und Steuern zahlen, sind immer weniger bereit, zusätzliche Transfers zu erbringen. Gemeinwohlmehrung durch Teilen ist nicht beliebig fortsetzbar. Deshalb muß eine zukunftsgerichtete, realistische Sozialpolitik die Prinzipien Eigenverantwortung, Subsidiarität, Solidarität und Selbsthilfe wieder herausstellen. Das heißt konkret, Leistung muß sich wieder lohnen.
Wie in den Petersberger Beschlüssen vorgesehen, ist erstens die Senkung der direkten Steuern auf breiter Front unbedingt erforderlich.
Zweitens. Statt Kreativität und innovative Fähigkeiten darauf zu konzentrieren, Steuervermeidungsmodelle zu entwickeln, gilt es, alle Potentiale in neue Produkte und neue Dienstleistungen zu lenken.
Drittens. Unser Sozialsystem soll genutzt, aber nicht ausgenutzt werden können. Die Broschüre zur Ausplünderung der Sozialhilfe, die die SPD vor einiger Zeit herausgegeben hat, aber meines Wissens Gott sei Dank nicht mehr vertreibt, ist der falsche Weg.
Viertens. Umbau des Sozialstaats heißt auch zielgenaue Gerechtigkeit und Hilfe vor allem für diejenigen, die besonders auf Hilfe angewiesen sind. Das sind Menschen mit Handicaps und Familien mit Kindern.
Fünftens. Sozialleistungen sind grundsätzlich unter dem Gesichtspunkt Hilfe zur Selbsthilfe zu sehen
Johannes Singhammer
und nicht auf lebenslange Unterstützung angelegt. Jeder, der von der Gemeinschaft eine Leistung erwartet, muß auch selbst eine Leistung für die Gemeinschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten erbringen.
Darin unterscheiden wir uns klar etwa vom Wahlprogramm der Grünen. Diese wollen einen Grundsicherungsanspruch für jeden; hohe Renten runter, niedrige aufgestockt. Für diese Sozialphantasien reichen, fürchte ich, selbst die 5 DM für den Liter Benzin nicht.
Wir sind beim Umbau des Sozialstaats vorangekommen. Seit 1996 - diese Tatsache ist bemerkenswert - hat sich die Zahl der deutschen Sozialhilfeempfänger nicht mehr erhöht. Erstmals seit Einführung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahre 1962 gingen die Sozialhilfeausgaben im Vergleich zum Vorjahr um gut 2 Milliarden DM auf 50 Milliarden DM zurück - in erster Linie auf Grund der Pflegeversicherungsleistungen, aber auch auf Grund der Maßnahmen zur Kostenbegrenzung im Rahmen der Sozialhilfereform. Die Sozialhilfereform der Bundesregierung erweist sich als ein großer Erfolg, obwohl gerade jetzt besondere Lasten zu schultern sind.
Ich sage angesichts all dieser Zahlen: Es ist eine großartige Solidaritätsaktion der deutschen Steuerzahler, wenn gleichzeitig zusätzlich Millionenbeträge für 500 000 Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aufgebracht werden.
Statt Sozialabbau wurde in den vergangenen Jahren die fünfte Säule des Sozialversicherungssystems, die Pflegeversicherung, geschaffen. Es sind 1,7 Millionen Menschen, die davon unmittelbar profitieren. Die Gesundheits- und die Rentenreform sind Beispiele des tatkräftigen Umbaus und nicht des Stillstands.
Natürlich - auch das gehört zur Wahrheit - lassen sich nicht alle Besitzstände erhalten. Dies beinhaltet eben der Umbau. Wer aber nicht die Kraft hat, zu ändern, was notwendig ist, schafft es auch nicht, zu sichern, was für die Zukunft unabdingbar ist. Die Menschen in Deutschland spüren: Wer ihnen alles verspricht, aber nichts hält, der ist nicht regierungsfähig.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Konrad Gilges, SPD.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Louven und auch Herr Blüm, ich kann überhaupt nicht verstehen, weshalb Sie die Wähler in Niedersachsen dermaßen beschimpfen, wie Sie es heute getan haben. Die Wähler in Niedersachsen haben sich - nehmen Sie das einmal zur Kenntnis - mit fast 48 Prozent für Gerhard Schröder entschieden. Das war ein Vertrauensbeweis nicht nur für seine Person, sondern auch für die Politik, die die Landesregierung in Niedersachsen gemacht hat.
Die CDU im Lande Nordrhein-Westfalen liegt nach jüngsten Umfragen nur noch bei etwas über 30 Prozent. Sie, Herr Blüm, sind doch Landesvorsitzender der nordrhein-westfälischen CDU. Lassen Sie also diese Wählerbeschimpfung! Es ist schon in Ordnung. Der Wähler hat das Recht, zu entscheiden. Herr Schröder ist in dieser Frage glaubwürdiger als Sie.
Ich will etwas zur Antwort auf die Große Anfrage der SPD sagen und will mit einem Punkt beginnen, dem sich auch Frau Babel zugewandt hat, nämlich mit der Frage der Einkommensentwicklung. Frau Babel, Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Kaufkraft der Arbeitnehmer insbesondere im unteren Einkommenssegment von 1980 bis zum heutigen Tag konstant geblieben bzw. gefallen ist. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger, die als Lohnempfänger netto weniger als 2000 DM zur Verfügung haben, haben heute die gleiche bzw. eine geringere Kaufkraft als im Jahr 1982, als Sie als Regierung angetreten sind. Das ist eine katastrophale Entwicklung. Das ist schlicht und einfach ein Verelendungsprozeß. Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!
Ein Drittel aller Lohnempfänger in der Bundesrepublik haben netto weniger als 2000 DM; das sind tarifvertraglich abgesicherte Löhne. Das ist eine Tatsache. Sie können das in allen Statistiken nachlesen. Daran geht kein Weg vorbei.
Wissen Sie, was es bedeutet, mit netto 2000 DM auskommen zu müssen? Sie müssen Miete zahlen, Kinder erziehen, sich kleiden, essen und womöglich noch in den Urlaub fahren, zumindest um die Ecke, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Man braucht ja nicht mit dem Flugzeug zu reisen;
man kann aber zumindest in die Eifel fahren. Wer das weiß, der kennt die soziale Not der Menschen, des Drittels der Lohnempfänger, die weniger als 2000 DM netto zur Verfügung haben. Darüber kann man nicht leichtfertig hinweggehen, wie Sie das hier machen.
Ich will zweitens sagen, daß Ihre immer wieder erhobene Forderung, das Lohnniveau abzusenken, insbesondere bei denjenigen, die im Niedriglohnsektor liegen, bedeutet, daß dann irgendwann ergänzend die Sozialhilfe beantragt wird. Es ist ja heute so, daß Massen von Arbeitnehmern, die arbeiten wie in den USA, gezwungen werden, ergänzend Sozialhilfe zu beantragen. Sie arbeiten ihre 40 Stunden und müssen dann noch zum Sozialamt gehen und sagen: Wir brauchen noch 300 DM oder 400 DM im Monat, um überhaupt über die Runden zu kommen. Das ist auch ein Fakt, an dem kein Weg vorbeiführt. Das können Sie nicht einfach herunterspielen, auch wenn das in
Konrad Gilges
der Antwort auf unsere Anfrage nicht so konkret gesehen wird.
Zum dritten möchte ich zur Frage der Löhne und der Stundenlöhne etwas sagen. Sie fordern ja immer, daß hier etwas getan werden muß. Der durchschnittliche tariflich vereinbarte Stundenlohn - Herr Louven, Sie wissen das genausogut wie ich - beträgt in der Bundesrepublik 22 DM.
Das bedeutet bei durchschnittlich 165 Stunden im Monat einen Bruttolohn von 3630 DM. Davon geht dem Arbeitnehmer ein Drittel herunter.
- Ich sage dazu gleich noch etwas. - Dann hat er netto noch zirka 2300 DM zur Verfügung. Das sind die Realitäten. Damit muß ein Familienvater leben, Kinder erziehen und alles das machen, was heute sozial notwendig ist. Angesichts dessen kann man nicht davon reden, daß diese Löhne noch gesenkt werden müßten,
womöglich mit der Begründung, daß die internationale Konkurrenz das verlangt. Natürlich kann man international konkurrenzfähig bleiben, wenn man am Hungertuch nagt.
Das ist kein Leben, das ich für die Arbeitnehmer dieses Landes will.
Zum letzten möchte ich Ihnen noch etwas sagen, damit diese etwas abstruse Diskussion über die Lohnfrage zurechtgerückt wird. Im Einzelhandel gibt es heute in der Bundesrepublik keinen einzigen Tarifvertrag, der einen Bruttolohn von über 3330 DM im Monat festlegt. Das heißt, es gibt im Einzelhandel gar keine Verkäuferin und gar keinen Verkäufer, die oder der mehr als 3330 Mark verdient. Das muß man einmal zur Kenntnis nehmen. Ich will jetzt nicht davon reden, wie die Entschädigungen für Bundestagsabgeordnete oder die Einkommen von anderen in diesem Bereich im Verhältnis dazu sind.
Herr Louven, Sie haben angesprochen, was wir in Zukunft machen wollen. Nehmen Sie daher bitte folgendes zur Kenntnis: In unserem Regierungsprogramm steht - darauf bin ich besonders stolz - die Verbesserung der Kaufkraft. Ich glaube auch, daß es aus sozialen Gründen und aus konjunkturellen Gründen absolut notwendig ist, daß die Kaufkraft der Arbeitnehmer in diesem Lande verbessert wird.
- Wie wir das machen, steht in unserem Regierungsprogramm, Frau Babel: durch Absenkung der Lohnsteuerkosten für den Arbeitnehmer, also durch Absenkung des Einkommensteuersatzes
von 25 Prozent auf 20 Prozent oder gar 15 Prozent. Darüber haben wir Sozialdemokraten überhaupt keinen Streit. Das hätten Sie mit uns vereinbaren können; aber das wollten Sie nicht.
Zweitens steht in unserem Programm die Senkung der Beiträge zum Sozialversicherungssystem.
- Wir werden das machen, indem wir die versicherungsfremden Leistungen herausnehmen, wie es Kollege Dreßler eben gesagt hat. Ich habe ja nichts gegen das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Aber können Sie mir einmal erklären, weshalb die Leistungen nach diesem Gesetz aus Sozialbeiträgen gezahlt werden müssen? Das können Sie keinem normalen Beitragszahler erklären, keinem Arbeiter, keinem Angestellten, niemandem, der für den Beitrag arbeiten muß.
Wir wollen, daß sich das Verhältnis von Nettolohn zu Bruttolohn wieder bessert. Das heißt, daß der Arbeitnehmer netto mehr zur Verfügung hat und daß die Spanne zwischen Netto- und Bruttolohn, die jetzt sehr groß ist, verringert wird.
Herr Kollege Gilges, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Louven?
Ja.
Herr Kollege Gilges, ganz davon abgesehen, daß Sie die letzte versicherungsfremde Leistung in der Rentenversicherung hier im Deutschen Bundestag mit beschlossen haben, möchte ich Sie dennoch fragen: Wie können Sie die Sozialversicherungsbeiträge senken, ohne Steuern zu erhöhen? Sind Sie bereit, uns darüber Auskunft zu geben?
Ja, sicher. Wir haben das jetzt auch gemeinsam gemacht, Herr Louven; jetzt seien Sie doch bitte ehrlich. Die Mehrwertsteuer ist ab 1. April erhöht worden, damit die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt werden konnten. Das haben wir hier alle beschlossen, und jetzt tun wir so, als wenn das keine gesellschaftspolitische Notwendigkeit wäre.
- Moment, Frau Babel. Natürlich muß ich eine Umverteilung auch im Steuersystem vornehmen, ohne
Zweifel. Das heißt, diejenigen, die in diesem Lande
Konrad Gilges
Milliarden haben oder Millionen verdienen, müssen höher belastet werden.
- Dazu bekenne ich mich.
- Entschuldigen Sie, das steht schon im gemeinsamen Wort der katholischen und der evangelischen Kirche: Die Schultern, die breit sind, müssen mehr als die Schultern tragen, die schmal sind. Das ist der Sinn des Sozialstaates. Ich komme jetzt gleich darauf, was das im Konkreten bedeutet.
Die Entwicklung der Arbeitseinkommen und der Gewinne der letzten Jahre sieht wie folgt aus: Von 1980 bis 1991 sind die Nettogewinne in unserem Land um 144,3 Prozent gestiegen.
Die Löhne und Gehälter sind im gleichen Zeitraum nur um 41,9 Prozent gestiegen. In den Jahren von 1991 bis 1996 sind die Nettogewinne um 40 Prozent gestiegen, die Löhne und Gehälter im gleichen Zeitraum um 19 Prozent. Das zeigt, welche Politik Sie in den letzten 15 Jahren betrieben haben: Sie haben die Kleineren belastet und die Großen von den Belastungen freigestellt. Das führt zu der Schieflage, die wir heute haben: Die Reichen werden reicher, und die Armen werden ärmer.
Das wollen wir natürlich ändern. Dazu bekennen wir uns.
In Anbetracht der Zeit will ich nur noch etwas zur Vermögensbildung sagen. Herr Blüm, ich bin mit Ihnen einer Meinung darüber, daß die Vermögensverhältnisse in unserem Land nicht korrekt sind und geändert werden müssen. Aber das Gesetz, das Sie vorgelegt haben,
löst das Problem überhaupt nicht.
Herr Lendermann vom Katholischen Büro, der für die evangelische und katholische Kirche gesprochen hat,
hat gesagt: Das ist der Spatz in der Hand.
Aber es ist notwendig, daß das nach dem 27. September geändert wird. Darum geht es; das ist der entscheidende Punkt. Sie machen einen kleinen Schritt
- den Spatz -, aber die dicke Gans lassen Sie ungeschoren.
Ich will für die Arbeitnehmer natürlich an die Taube heran. An die Gans - darin bin ich mit Ihnen einer Meinung - kommen wir wahrscheinlich schlecht heran. Aber an die Taube will ich schon heran. Ich will, daß die Vermögensbildung eine realistische Größe erreicht. Dazu muß - wie es in unserem Regierungsprogramm steht - der Tariffonds in das Vermögensbildungsgesetz eingebaut werden. Ohne den Tariffonds werden Sie keine echte Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer bekommen. Deshalb muß das geändert werden. Ich hoffe, daß das alles nach dem 27. September möglich ist.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Gilges, zu Ihrer Niedersachsenaussage: Die Wahl in Niedersachsen war, wenn ich das richtig beurteile, in der Tat keine Entscheidung über die Sozial- oder die Arbeitsmarktpolitik in Niedersachsen. Vielmehr war sie nichts anderes als die mit Wahlkampffinanzierung herbeigeführte verdeckte Entscheidung über die Frage, ob Lafontaine oder Schröder Kanzlerkandidat wird. Herr Schröder hat die Millionen gehabt und hat damit die Leute herumgekriegt. Die Entscheidung, wer in Deutschland regiert, fällen wir am 27. September.
Dabei geht es um Themen, und über diese wollen wir heute reden, Herr Gilges.
Herr Gilges, Sie haben über die Höhe der Löhne geredet. Dann haben Sie uns etwas über Tarifpolitik erzählt; aber daraus wollen wir uns als Bund heraushalten. Deswegen halte ich es nicht für richtig, das hier anzusprechen. Dann haben Sie die Steuerreform angesprochen. Hier müssen Sie sich in der Tat die Frage gefallen lassen: Warum haben Sie bei der Steuerreform nicht mitgemacht, wenn Sie die Menschen wirklich entlasten wollen?
Zur Rentenversicherung haben Sie, Herr Gilges, gesagt: Sie wollen versicherungsfremde Leistungen herausnehmen. Haben Sie eigentlich nicht mitbekommen, daß wir gerade mit der Umfinanzierung einen Beitrag dazu geleistet haben und, daß wir das, was an versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung enthalten ist, durch einen höheren Bundeszuschuß abgedeckt haben? Inzwischen sind in den Rentenkassen 102 Milliarden DM als Bundeszuschuß. Dies ist ein kluger Weg, weil es gleichzeitig dazu geführt hat, daß der Rentenversicherungsbei-
Wolfgang Meckelburg
trag bei 20,3 Prozent bleiben konnte. Die Richtung bei der Rentenreform muß bleiben, auch durch strukturelle Maßnahmen einen Beitrag dazu zu leisten, daß wir die Beiträge auf Dauer senken können.
Herr Kollege Meckelburg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ja, bitte. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Herr Kollege Meckelburg, würden Sie mir zugestehen, daß Sie auf dem Arbeitsmarkt viel Ungerechtigkeit geschaffen haben? Halten Sie es für richtig, daß in diesem Land weit über 5 Millionen Menschen ohne Sozialversicherung für 620 DM beschäftigt sind? Halten Sie es für richtig, daß wir über 1 Million Scheinselbständige haben, die alle an der Sozialversicherung vorbeigehen? Meinen Sie nicht, daß wir diese Sache einmal grundlegend in Ordnung bringen müssen? Das betrifft auch das Thema Überstunden, das Sie im „Bündnis für Arbeit" hätten behandeln können. Meinen Sie nicht, daß Sie wirklich grundlegende Fehler gemacht haben? Wann sind Sie endlich zu einer Umkehr bereit?
Was den Bereich der Scheinselbständigen und der 620-DM-Jobs betrifft, so hat der Kollege Louven einiges dazu gesagt, wo da die Schwierigkeiten liegen. Ich will Ihnen aber auch in aller Deutlichkeit sagen, Herr Dreßen, damit draußen nicht die falsche Erwartung entsteht, daß sämtliche Probleme bei der Sozialversicherung dann, wenn Sie diese alle in die Versicherung hineinnehmen, gelöst seien:
Das reicht nicht aus.
- Wir brauchen, Herr Dreßen, strukturelle Maßnahmen, die die demographische Entwicklung berücksichtigen. Dazu haben wir einfach festzustellen, daß die Menschen immer älter werden, daß sie - Gott sei Dank - eine längere Rentenlaufzeit haben und daß die Zahl derjenigen, die die Beiträge hierfür aufzubringen haben, immer geringer wird. Also brauchen wir einen Ausgleich zwischen den Generationen.
Was Sie wollen und was Sie in Ihr Programm hineingeschrieben haben, Herr Dreßen, ist die Wegnahme dieser Strukturregelungen. Sie wollen eine Rentenreform allein auf Kosten des Steuerzahlers und des Beitragszahlers. Das ist die junge Generation. Das können wir nicht zulassen. Wir wollen da einen Ausgleich haben.
Lassen Sie mich noch ein Letztes zu Ihnen sagen, Herr Gilges; denn Sie haben eine neue Variante gebracht, die im Bundestagsprotokoll sehr deutlich festgehalten werden muß. Sie haben die Steuerdebatte, die heute vormittag am Rande der Europadebatte eine große Rolle gespielt hat, um eine Variante erweitert. Da gibt es in der SPD einen Streit darüber, wie der Spitzensteuersatz aussehen soll. Im Gespräch ist eine Senkung von 53 Prozent auf 49 Prozent oder auf 45 Prozent bzw. auf 43 Prozent bis 45 Prozent. Lafontaine hat die Reißleine gezogen und 49 Prozent gesagt.
Sie haben nun eine neue Variante gebracht, indem Sie eben auf die Frage des Kollegen Louven, wie Sie das Ganze denn finanzieren wollen, wenn Sie da Steuerzahler brauchen, ganz einfach geantwortet haben, dann müßten die Oberen mehr bezahlen. Das ist für mich die Variante: Spitzensteuersatz 53 Prozent plus X. Das ist also eine neue Variante. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Was wollen Sie eigentlich? Das müßten Sie den Leuten draußen sagen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Bitte.
Herr Kollege, nehmen Sie einmal zur Kenntnis - ich frage Sie, ob Ihnen das überhaupt bekannt ist -, daß zum Beispiel der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Schleußer, eine Untersuchung über 600 Steuerzahler gemacht hat, die ein Einkommen von über 1 Million DM haben. Über 300 bezahlen überhaupt keine Einkommensteuer.
- Lassen Sie mich doch einmal meine Zwischenfrage stellen! - Über die Hälfte bezahlt überhaupt keine Einkommensteuer. Ein Einkommensmillionär - dies sei nur als Beispiel genannt -, der ein Einkommen von 1,5 Millionen DM hat, bekommt noch eine Steuerrückerstattung von 380 000 DM.
Wir haben es mit Steuerumgehungstatbeständen zu tun. Wollen Sie damit sagen - das war mein Petitum -, daß die Steuerumgehungstatbestände und Abschreibungsmöglichkeiten, die bestehen, abgeschafft werden sollen? Dann sind wir einer Meinung; das können wir machen.
Jetzt hat wieder der Kollege Meckelburg das Wort.
Herr Kollege Gilges, da wir im Ausschuß partnerschaftlich miteinander umgehen, will ich es sehr zurückhaltend formulieren: Ich habe den Eindruck, daß Sie sich nicht
Wolfgang Meckelburg
ausreichend mit unseren Vorschlägen bzw. generell mit den Fragen der Steuerreform beschäftigt haben.
Wenn Sie das getan hätten, dann hätten Sie nämlich zur Kenntnis genommen, daß ein Teil der Steuerreform die Senkung der Tarife ist. Wir sind für eine Senkung der Tarife im unteren Bereich bis zu 15 Prozent. Im oberen Bereich, beim Spitzensteuersatz, sind Sie streitig. Als Gegenfinanzierung ist selbstverständlich vorgesehen, einen großen Teil der Abschreibungsmöglichkeiten abzuschaffen. Das ist zwischen uns gar nicht streitig.
Es geht aber nicht an, daß Sie draußen herumlaufen und sagen: Die Abschreibungstatbestände müssen alle weg, aber wir bleiben bei den hohen Steuersätzen. - Dann sind Sie nämlich eine Steuererhöhungspartei; das muß deutlich gemacht werden.
Ich will mich noch ein paar Minuten nicht mit Herrn Gilges, sondern mit den anderen Themenbereichen, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, beschäftigen. Das Stichwort „soziale Demontage " begleitet uns seit zwei Jahren und kommt in allen möglichen Varianten aus Ihrer Richtung: Sozialabbau, sozialer Kahlschlag, Politik der sozialen Kälte. - Interessanterweise sind Sie heute etwas zurückhaltender geworden, möglicherweise deshalb, weil Sie innerlich befürchten, daß Sie demnächst etwas zu sagen haben. Aber wir werden alles dafür tun, daß es nicht soweit kommt.
Mit der heutigen Debatte sind wir auch bei der zentralen Frage der bevorstehenden Auseinandersetzungen in der Politik, nämlich bei der Frage, ob es gelungen ist, die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung zu verbessern, und ob es dabei gelungen ist, die Sozialsysteme zu sichern und den sozialen Umbau zu gestalten.
Ich will bezüglich des Abbaus sozialer Leistungen darauf hinweisen, was in diesem Bereich so alles passiert ist. Als Beispiel nenne ich die Sozialhilfereform. Das ist angesprochen worden. Wir sind im Frühjahr des Jahres 1996 monatelang von Ihnen, von der SPD, beschimpft worden, wir betrieben in diesem Bereich soziale Demontage. Dann hat es auch bei Ihnen Bewegung gegeben, weil auf kommunaler Ebene, wo Sie die politische Mehrheit haben, Druck gemacht wurde. Im betreffenden Vermittlungsverfahren wurden Regelungen getroffen. Da war es plötzlich möglich, im Bereich der Sozialhilfe zu Deckelungen zu kommen. Da war es möglich, 25 Prozent der Sozialhilfe verpflichtend zu kürzen, wenn jemand einen Arbeitsplatz angeboten bekommt und ihn nicht annimmt. Ab dem Zeitpunkt, als Sie mit im Boot waren, als Sie diese Regelungen für gut befunden haben, war von sozialer Demontage, von Sozialabbau nicht mehr die Rede. Das ist der Unterschied: Solange Sie reden, reden, reden, sprechen Sie von Sozialabbau. Wenn Sie mitbeteiligt sind, spielt das keine Rolle mehr.
Ich will die Chance nicht verpassen, hier einmal auf ein paar Aussagen hinzuweisen, die der Spitzenkandidat Schröder Ende September letzten Jahres - also nicht vor 'grauer Urzeit, sondern vor einem halben Jahr - vor dem Bundeskongreß der SPD-Senioren in Berlin gemacht hat. Diese Zitate aus dem „Handelsblatt" vom 1. Oktober 1997 zeigen, was hier wirklich passiert - Schröder wörtlich in Berlin -:
Wir sollten klar sagen, daß wir an sozialen Leistungen nichts mehr draufsatteln können.
Warum schreiben Sie das in Ihr Programm nicht deutlich hinein? Warum machen Sie den Leuten draußen vor, daß Sie in der Lage sind, mit weniger Einnahmen mehr Ausgaben zu ermöglichen? Warum sind Sie nicht so ehrlich?
Zweites Zitat laut „Handelsblatt": Das Recht auf Arbeit
- so Schröder -
korrespondiere auch mit der Pflicht, etwas für einen Job zu tun. Es sei durchaus noch kein Zwang, wenn Menschen dazu gebracht würden, einen geringer bezahlten Arbeitsplatz anzunehmen.
Hier geht es um die Frage der Zumutbarkeit. Was Sie in den letzten Monaten und Jahren in diesem Bereich getan haben, ist genau das Gegenteil. Sie müssen bei sich intern erst einmal klären, was Sie wirklich wollen.
Wenn Sie nicht genau wissen, was Sie wollen, dann müssen wir mit aller Kraft dafür kämpfen, daß Sie keine Mehrheiten erhalten. Denn es ist noch unausgegoren, was Sie Deutschland anbieten.
- Wenn Sie sagen, daß wir im Glashaus sitzen, Herr Gilges, dann müssen Sie jetzt aufpassen.
Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfalen. Unser Arbeitsminister Norbert Blüm hat schon auf die Zahlen hingewiesen. Ich will sie - denn ein Teil der Kollegen ist ja in der Zwischenzeit neu hinzugekommen - mit Blick auf die Länder, in denen Sie regieren, in der Summe wiederholen. Nordrhein-Westfalen: Von 1995 bis 1998 wurde der Haushalt für Arbeit, Gesundheit und Soziales um 0,5 Milliarden DM, um 500 Millionen DM, reduziert. Ist das kein Sozialabbau? Oder wie würden Sie das nennen?
Ich nenne die Zahl für Niedersachsen - das betrifft den Spitzenkandidaten der SPD -: Im Zeitraum 1994 bis 1997 wurde der Sozialhaushalt um 0,6 Milliarden
Wolfgang Meckelburg
DM, um 600 Millionen DM, reduziert. Wie nennen Sie das: Sozialabbau, soziale Demontage?
Zum Saarland. Das Saarland fällt besonders bezüglich der Arbeitslosenquote auf.
Sie betrug 12,4 Prozent. Westdeutschland hatte dagegen eine Quote von 9,9 Prozent. Die Landesmittel für die Arbeitsmarktpolitik wurden zurückgefahren. Das betrifft das Saarland, das heißt, den Vorsitzenden der SPD.
Auch in Sachsen-Anhalt wurde in diesem Bereich gekürzt - die PDS ist da ja halb mit im Boot -: Kürzungen bei Behinderten um 20 Prozent, bei Jugendlichen um 33 Prozent und bei Familien um 64 Prozent.
Ihre Sozialhaushalte sind wirklich zu einem finanzpolitischen Steinbruch geworden. Norbert Blüm hat dies alles aufgeführt. Ich will noch an eine andere Zahl erinnern. Das betrifft die Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Niedersachsen - Kollege Singhammer hat darauf hingewiesen; die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist ja das Hauptthema derjenigen, mit denen Sie draußen medienwirksam herumturnen; das betrifft wiederum Ihren Spitzenkandidaten in Niedersachsen -
Zwischen 1990 und 1996 sanken die Landesmittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von 52 Millionen auf 35,6 Millionen DM. Das sind pro Arbeitsloser ganze 92 DM. 1996 betrugen die Ausgaben aus Eigenmitteln des Landes bei einem Vergleich mit dem Länderdurchschnitt 450 DM.
Das ist der Unterschied zwischen Reden und Handeln. Wenn man die niedersächsischen Realitäten einmal auf den Tisch legt, dann knallt der „Ich-
bin-bereit" -Verkünder der SPD wirklich lautstark auf den „So-bin-ich-wirklich" -Boden-der-Tatsachen. Zwischen Seniorenheim und Sozialstation pendelt der Rotstift, und zwischen Aufsichtsrat und Opernball pendelt der Dienstwagen des Ministerpräsidenten.
Sie bei der SPD haben wahnsinnig viel Klärungsbedarf, bevor Sie den Deutschen wirklich deutlich machen können, was Sie wollen. Arbeiten Sie daran hart! Ich wünsche Ihnen viel Spaß und viel Streit. Wir werden uns in der Zwischenzeit jedenfalls weiterhin um die Lösung der Probleme bemühen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/10303. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19p sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
19. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Juni 1997 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen
- Drucksache 13/10114 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Dezember 1993 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Obersten Rat der Europäischen Schulen über die Europäischen Schulen in Karlsruhe und München
- Drucksache 13/10115 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 6. Oktober 1997 zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der im Königreich der Niederlande stationierten deutschen Truppen einschließlich des ergänzenden Protokolls und zu dem Abkommen vom 6. Oktober 1997 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs der Niederlande über die Rahmenbedingungen für das I. Korps und dem Korps zugeordnete Truppenteile, Einrichtungen und Dienststellen (Gesetz zu dem Vertragswerk über die deutschniederländische militärische Zusammenarbeit)
- Drucksache 13/10117 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 19. Dezember 1995 zur Durchführung des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit
- Drucksache 13/10124 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. September 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien über Soziale Sicherheit
- Drucksache 13/10125 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit
f) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über parlamentarische Gremien
- Drucksache 13/10029 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 13/10151 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß Sportausschuß
Ausschuß für Verkehr
h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zerlegungsgesetzes
- Drucksache 13/10152 —
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Drucksache 13/10157 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Arbeitsgerichtsgesetzes
- Drucksache 13/10242 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Erleichterung der Verwaltungsreform in den Ländern
- Drucksache 13/10156-
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
l) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
- Drucksache 13/10283 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Gesundheit
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Dr. Gerald Tahlheim, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verlängerung der Pachtverträge landwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern
- Drucksache 13/9942 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Heinrich Graf von Einsiedel, Andrea Gysi, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kuba
- Drucksache 13/10067 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß
o) Beratung des Antrags der Präsidentin des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1997
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 13/10082 –
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tragfähige Neuordnung der Milchmarktpolitik
- Drucksache 13/10277 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung
- Drucksache 13/8585 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Entscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte
- Drucksache 13/10284 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Innenausschuß
Ausschuß für Gesundheit
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Forstabsatzfondsgesetzes
- Drucksache 13/10285 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Der Antrag der Fraktion der SPD zur Verlängerung der Pachtverträge landwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern auf Drucksache 13/9942, Tagesordnungspunkt 19m, soll allerdings nicht an den Haushaltsausschuß überwiesen werden.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Erleichterung der Verwaltungsreformen in den Ländern auf Drucksache 13/10156, Tagesordnungspunkt 19k, soll zusätzlich dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden.
Die Federführung beim Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften über parlamentarische Gremien auf Drucksache 13/10029, Tagesordnungspunkt 19f, soll beim Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung liegen.
Die Gegenäußerung der Bundesregierung auf Drucksache 13/10344 zur Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetz zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Arbeitsgerichtsgesetzes, Tagesordnungspunkt 19j, soll mit dem Gesetzentwurf an die angegebenen Ausschüsse überwiesen werden.
Ich habe eine Wortmeldung beim Kollegen Penner gesehen, bitte.
Meine Wortmeldung bezieht sich auf den Überweisungsvorschlag zu Tagesordnungspunkt 19f. Ich beantrage, den vorgesehenen Überweisungsvorschlag zu ändern, soweit er sich auf die Federführung des ersten Ausschusses bezieht. Es wäre ratsam, den Innenausschuß federführend sein zu lassen.
Schon 1992 bei der letzten Novellierung des PKK- Gesetzes war der Innenausschuß federführend. Auch diesmal handelt es sich schwerpunktmäßig um eine Materie, die eine Änderung des PKK-Gesetzes vorsieht. Soweit die Zusammenfassung parlamentarischer Gremien, die auch Kontrolle auf diesem Gebiet ausüben, vorgesehen ist, erscheint es ratsam, den ersten Ausschuß mitberatend tätig werden zu lassen.
Im übrigen weise ich darauf hin, daß das Ergebnis der SPD-Initiative auf der Arbeit einer interfraktionellen Arbeitsgruppe des Innenausschusses beruht. Dieses Ergebnis ist einmütig erzielt worden. Das heißt, die meisten derer, die mit dieser Materie vertraut sind, sind Mitglieder des Innenausschusses. Auch deshalb erscheint es sachgerecht, daß sich der Innenausschuß federführend und der erste Ausschuß, der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, mitberatend mit diesem Gesetzentwurf befaßt. Das beantrage ich.
Herr Kollege Weng, Sie wollten sich dazu äußern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stimme gegen den Antrag des Kollegen Penner. Soweit ich weiß, sind Mitglieder verschiedener Ausschüsse und nicht nur die des Innenausschusses betroffen. Deshalb hat der Ältestenrat aus guten Gründen die Ausschußüberweisung, wie ausgedruckt, vorgeschlagen. In dem Gesetzeswerk sind Dinge zu bewerten, die das Parlament als Ganzes angehen. Es scheint nicht sinnvoll zu sein, nur einen Teil der Abgeordneten, die betroffen sind, mit der federführenden Beratung zu betrauen, einen anderen Teil aber nicht in gleicher Weise damit zu befassen. Ich bitte, den Antrag des Kollegen Penner abzulehnen.
Gibt es weitere Wortmeldungen dazu? - Herr Kollege Hirsch.
Ich möchte mich dem Antrag des Kollegen Penner anschließen. In der Tat geht es nicht darum, nur einige Kollegen mit dieser Sache zu befassen, sondern es geht darum, durch eine umfangreiche Mitberatung in den anderen Ausschüssen eine breite Beteiligung der Mitglieder des Bundestages herzustellen. Die federführende Beratung muß aber in irgendeiner Weise mit der Zuständigkeitsverteilung in der Verwaltung korrespondieren. Für diese Dinge ist der Innenminister zuständig. Der Innenausschuß hat in der Tat, wie Herr Penner dies dargestellt hat, alle Gesetze, um deren Änderung es jetzt geht, bislang federführend beraten. Von daher wäre eine Überweisung zur federführenden Beratung an den Innenausschuß eine sachgerechte Zuweisung.
Das müssen wir durch Abstimmung klären. Ich ziehe Punkt 19f vor. Abweichend von dem Vorschlag des Ältestenrates ist beantragt worden, diese Vorlagen zur federführenden Beratung an den Innenausschuß, also nicht an den ersten Ausschuß, zu überweisen.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag des Kollegen Penner? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Das ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei zwei Stimmenthaltungen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen und gegen eine Stimme bei der F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Es bleibt also bei der Empfehlung, den Gesetzentwurf zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu überweisen.
Sind Sie im übrigen, bei den Tagesordnungspunkten 19a bis 19p und 2a bis 2 c mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Die Ausschußüberweisungen sind so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 20a, 20c bis 20m und 20o bis 20 q sowie zu den Zusatzpunkten 3 a und 3 b. Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 20 a:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksache 13/9956 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses
- Drucksache 13/10280 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Detlef Helling Detlef von Larcher
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/10281 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Jacoby
Dr. Wolfgang Weng Karl Diller
Oswald Metzger
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung, soweit ich das sehe, einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung und sonstiger gewerberechtlicher Vorschriften
- Drucksache 13/9109 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/10130 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Heinz Scherhag
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 d:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. März 1997 zur Änderung des Vertrags vom 23. November 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Einbeziehung der Gemeinde Büsingen am Hochrhein in das
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
schweizerische Zollgebiet
- Drucksache 13/9040 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
- Drucksache 13/10062 - Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Lamers
Dr. Eberhard Brecht
Gerd Poppe
Ulrich Irmer
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/10062, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkte 20 e bis g:
e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. April 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Philippinen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/9531 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/10089 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
f) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/9532 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/10090 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
g) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. März 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Libanesischen Republik
über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 13/9533 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/10091 -
Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/10089 bis 10091, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Kein Widerspruch, dann verfahren wir so. Ich bitte diejenigen, die den drei Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 h:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen zu den Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Förderation, der Ukraine und der Republik Moldau andererseits
- Drucksache 13/9547 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/10144 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Dietrich Sperling
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/10144, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20i:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Juli 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Litauen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 13/9548 –
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 13/10179 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Schindler
Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 10179, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20j:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 18. September 1997 über den Beitritt des Königreichs Schweden zu dem Übereinkommen vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen sowie zu dem Zusatzübereinkommen vom 18. September 1997 zu dem vorgenannten Übereinkommen
- Drucksachen 13/9511, 13/9579 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/10 243 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Wolf Bauer
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/10243, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 k:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Matthias Berninger, Annelie Buntenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Neugestaltung der Arbeit"
- Drucksachen 13/1621, 13/4476-
Berichterstattung: Abgeordnete Jörg van Essen
Stephan Hilsberg Simone Probst
Andreas Schmidt
Der Ausschuß empfiehlt den Antrag auf Drucksache 13/1621 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 201:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Untersuchungen auf Dioxin- und Arsenkontaminationen in den ehemaligen Lagerstätten für flüssige Kampfmittel: Löcknitz in Mecklenburg-Vorpommern, Dessau in SachsenAnhalt, Munster in Niedersachsen, Lübbecke in Nordrhein-Westfalen, St.Georgen in Bayern und Halle - Ammendorf in Sachsen-Anhalt
- Drucksachen 13/2519, 13/5240 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Harald Kahl Wolfgang Behrendt
Dr. Jürgen Rochlitz
Dr. Rainer Ortleb
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2519 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 20m:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Köhne, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Verbleib von 2400 Tonnen wiederaufgearbeiteten Urans deutscher Energieversorgungsunternehmen
- Drucksachen 13/1958, 13/9757 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Wolfgang Behrendt
Michaele Hustedt
Dr. Rainer Ortleb
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1958 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 20 0:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat
Schaffung von Arbeitsplätzen: Möglichkeit
einer versuchsweisen und optionellen An-
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
wendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf arbeitsintensive Dienstleistungen
-Drucksachen 13/9668 Nr. 2.33, 13/10058-
Berichterstattung:
Abgeordnete Detlev von Larcher Johannes Selle
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 20p:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Verordnung der Bundesregierung
Zustimmungsbedürftige Verordnung über den Klärschlamm-Entschädigungsfonds
- Drucksachen 13/9977, 13/1235 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann Steffi Lemke
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 20 q:
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 316 zu Petitionen
- Drucksache 13/10213 -
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 317 zu Petitionen
- Drucksache 13/10214 -
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 318 zu Petitionen
- Drucksache 13/10215 -
– Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 319 zu Petitionen
- Drucksache 13/10216 -
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 320 zu Petitionen - Drucksache 13/10217 -
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 321 zu Petitionen
- Drucksache 13/10218- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 322 zu Petitionen
- Drucksache 13/10219-
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 323 zu Petitionen - Drucksache 13/10220-
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 324 zu Petitionen
- Drucksache 13/10221-
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 325 zu Petitionen
- Drucksache 13/10222-
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 326 zu Petitionen - Drucksache 13/10223 -
- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 327 zu Petitionen - Drucksache 13/10224 -
Sammelübersicht 316, Drucksache 13/10213. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 316 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Sammelübersicht 317, Drucksache 13/10214. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -Sammelübersicht 317 ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Sammelübersicht 318, Drucksache 13/10215. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 318 ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Sammelübersicht 319, Drucksache 13/10216. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 319 ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Sammelübersicht 320, Drucksache 13/10217. Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 320 ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Sammelübersicht 321, Drucksache 13/10218. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 321 ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Sammelübersicht 322, Drucksache 13/10219. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 322 ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Sammelübersicht 323, Drucksache 10/10220. Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 323 ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Sammelübersicht 324, Drucksache 13/10221. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 13/10299? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wer stimmt jetzt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 324 ist angenommen, Stimmenverhältnisse wie vor.
Sammelübersicht 325, Drucksache 13/10222. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 13/10286 vor, über den ich zuerst abstimmen lasse. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt jetzt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 325 ist angenommen, Abstimmungsverhältnis wie vor.
Sammelübersicht 326, Drucksache 13/10223. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 326 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD- Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS angenommen.
Sammelübersicht 327, Drucksache 13/10224. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 327 ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3a auf:
Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Vorschriften
- Drucksache 13/8935 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/10065 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Bosbach Günter Graf
Manfred Such
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen, Mehrheitsverhältnisse wie vor.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer , Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts
- Drucksache 13/3594 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/10 333 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Altmaier Dr. Jürgen Meyer Volker Beck (Köln)
Jörg van Essen
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen, Mehrheitsverhältnisse wie vor.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
9. a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch -
- Drucksache 13/9816 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Andrea Fischer , Volker Beck (Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch - (Drittes SGB XI-Änderungsgesetz - 3. SGB XI-ÄndG)
- Drucksache 13/8681 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/9772 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/9773 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/10312 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Fischer
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Andrea Fischer , Rita Grießhaber und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nichtanrechnung des Pflegegeldes als Einkommen der unterhaltsberechtigten Pflegeperson
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung
- Drucksachen 13/9219, 13/9528, 13/10312 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Fischer
ZP4 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/8941 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des PflegeVersicherungsgesetzes
- Drucksache 13/5002 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/10330 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Fischer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram, Hamburg, CDU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung ist ein Erfolgsmodell. Sie entwickelt sich, wie ich neulich in einem Gespräch mit einer japanischen Journalistin erfahren durfte, geradezu zu einem Exportschlager. Sie arbeitet erfolgreich, sie hilft 1,7 Millionen Pflegebedürftigen verläßlich, sie entlastet die Sozialhilfe um 10 bis 11 Milliarden DM pro Jahr, sie hat seit 1994 rund 75000 neue Arbeitsplätze geschaffen und steht auf einem sicheren finanziellen Fundament.
Die Pflegeversicherung ist die einzige Säule in unserem System der sozialen Sicherung, die ohne staatlichen Zuschuß lebt und arbeitet.
Birgit Schnieber-Jastram
Sie hat damit den Beweis erbracht, daß der Sozialstaat auch in schwierigen Zeiten umbaufähig ist. Ich glaube, das ist ein wichtiges Zeichen.
Nach einer relativ kurzen Anlaufzeit mit Problemen bei der Einstufung - wir können uns alle erinnern - haben sich so gut wie alle Regelungen bewährt. Ich nehme jetzt das große und problematische Paket der Umsetzung in den Ländern aus, an dem wir gemeinsam viel Kritik üben. Das heißt nicht, daß alles Friede, Freude, Eierkuchen ist, und das heißt auch nicht, daß es nichts zu verbessern gibt.
Eine Frage muß allerdings wirklich erlaubt sein, und die müssen wir ernsthaft miteinander diskutieren:
Hat es einen Sinn, der Pflegeversicherung, die Gott sei Dank ohne staatliche Zuschüsse arbeitet, neue Lasten aufzubürden? Dieser Frage müssen wir uns alle stellen, denn die Überschüsse, die heute erwirtschaftet werden, werden wir noch dringend in der Pflegekasse brauchen, wenn sich die Verschiebung der Alterspyramide dramatisch bemerkbar machen wird.
Ich habe jetzt gelernt, daß es bei Ihnen, jedenfalls in der Rente, erst im Jahr 2015 losgeht. Wir wollen auch weiterhin, daß die Pflegeversicherung - wir halten das für einen wichtigen Bereich - ohne staatliche Zuschüsse arbeiten kann. Die Antwort darauf, ob und, wenn ja, welche Leistungen ergänzt werden sollen, fällt, wie Sie wissen, sehr unterschiedlich aus.
Die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion, SPD und Grüne - sie sind ausnahmsweise einmal einer Meinung - sind der Auffassung, daß Verbesserungen in einigen Bereichen wünschenswert und sinnvoll sind, auch wenn sie eine finanzielle Belastung der Reserven in der Pflegekasse bedeuten; denn hier stehen voraussichtlich 3,6 Milliarden DM Überschuß 200 Millionen DM Zusatzkosten gegenüber.
Die F.D.P. und Teile unserer Fraktion sind nicht dieser Meinung. Sie haben genauso Gründe für ihre Ansicht, wie die Befürworter einzelner zusätzlicher Leistungen Argumente für ihre Ansicht haben. Ich glaube, wir müssen lernen, andere Ansichten zu tolerieren.
Wir, die Befürworter, meinen, daß es nicht sinnvoll ist, das Pflegegeld im Sterbemonat zurückzufordern. Laufende Kosten laufen weiter, wie der Name schon sagt, und bis die Auswirkungen eines Sterbefalls aufgearbeitet sind, dauert es meist weit länger als einen Monat. Dieser Kulanzmonat sollte in der Pflegeversicherung enthalten sein. Es geht einfach um eine sinnvolle und pietätvolle Umsetzung des Gesetzes, auch wenn sie 30 Millionen DM kostet.
Wir meinen, es muß Verbesserungen in der Kurzzeitpflege geben, zum Beispiel die Übernahme von Pflichtbesuchen. Aber wir haben in dieser Frage keinen Konsens erzielen können. So etwas kann vorkommen, das sage ich ganz offen. Das ist kein Beinbruch, das führt nicht zum Koalitionsbruch. Wechselnde Mehrheiten wird es hier nicht geben, denn die bringen nichts. Im Vergleich zur rotgrünen Koalition ist die Bonner Koalition hier noch immer ein triefender Born der Harmonie.
Allerdings heißt das natürlich nicht, daß die Koalition nicht durchaus für Strukturverbesserungen zu haben ist, solange diese aufkommensneutral zu gestalten sind. Darin sind wir uns einig; deswegen schlagen wir ausdrücklich vor, mit der Verlängerung der leistungsrechtlichen Übergangsregelung, über die es überhaupt keine Diskussion gibt, gleichzeitig die Regelung über die Durchschnittsvorgabe zu lokkern.
Zur Verlängerung der Übergangsregelung möchte ich mich nur kurz äußern. Wir halten sie für wichtig, weil Pflegebedürftige und Heimträger durch die gestaffelten festen Leistungsbeträge Transparenz über den Umfang der Leistungen erhalten, die im Einzelfall beansprucht werden können. Wir glauben, daß die gestaffelten festen Leistungsbeträge für eine möglichst weitgehende Gleichbehandlung der pflegebedürftigen Versicherten aller Versicherungsarten sorgen. Außerdem können weitere Erfahrungswerte - auch das ist wichtig - darüber gesammelt werden, ob die festen Pauschalbeträge in Höhe von 2000 DM, 2500 DM, 2800 DM und 3300 DM für die Übernahme ins Dauerrecht geeignet sind.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen - Sie haben auch dazu beigetragen, das will ich durchaus anerkennen -:
Die Pflegeversicherung ist eine Erfolgsstory. Vor ihrer Einführung wurde sie von allen Seiten als nicht überlebensfähig prognostiziert, nun zeigt sie sich effektiv und voller Reserven. Dies schafft Begehrlichkeiten von allen Seiten. Ich finde, man sollte die Leistungen nicht zu sehr aufblähen, aber auch nicht notwendige Korrekturen mit Verweis auf Rückzahlung oder Rückstellung blockieren. Wir sollten uns hier im Parlament bemühen, das Vertrauen der Menschen nicht zu enttäuschen, und die Beiträge der Pflegeversicherung dafür einsetzen, wofür sie bezahlt wurden: für die Sicherung eines menschenwürdigen Alters.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Karl Hermann Haack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Schnieber-Jastram, ich hätte mich darüber gefreut, wenn Sie in Ihren einleitenden Worten betont hätten,
Karl Hermann Haack
daß die Einführung der Pflegeversicherung eine gemeinsame Aufgabe von CDU, CSU, SPD und F.D.P. gewesen ist.
- Nein, ich will es an den Anfang meiner Worte stellen; denn wir befinden uns heutzutage in einer Diskussion, in der wir uns eventuell gegenseitig unterstellen, für die Pflegeversicherung nicht mehr verantwortlich zu sein. Ich stelle zu Beginn fest: Die Pflegeversicherung ist ein gemeinsames Kind dieser Parteien hier im Hause.
Wir haben heute eine Menge Anträge. Wir haben den ersten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung vorliegen. Ich will in Erinnerung rufen, daß dieser Bericht nach vier Jahren -1994 haben wir die Pflegeversicherung eingeführt - erstmalig erschienen ist.
Die Einführung und die Umsetzung der Pflegeversicherung sind durch Zuversicht und Anregungen, aber auch durch Kritik begleitet gewesen. Aus dieser anhaltenden Diskussion resultieren die Entwürfe zu Gesetzesänderungen, die heute ebenfalls zur Debatte stehen. Ich möchte aber zu Beginn meiner Rede drei Dinge sagen, die mir besonders wichtig sind, weil wir erstmalig eine allgemeine Bilanz zur Einführung der Pflegeversicherung ziehen.
Als erstes, meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Präsident, geht mein Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Alltag mit den Instrumenten der Pflegeversicherung arbeiten müssen. Das gilt für diejenigen, die in der Familie Pflege vornehmen. Das gilt für diejenigen, die in ambulanten Diensten arbeiten. Das gilt für diejenigen, die in stationären Einrichtungen ihren Dienst versehen.
Sie haben an die Einführung der Pflegeversicherung eine hohe Erwartungshaltung gehabt. Hier treffen hohes ethisches Engagement - eben als Ausdruck der Bereitschaft, Menschen zu helfen - mit einem hohen Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Beitragszahlern zusammen, die Einrichtung wirtschaftlich zu führen. Diese beiden Engagements treffen aufeinander, aber auch gegeneinander. Das, was sich daraus resultierend an Emotion und an Kritik äußert, ist immer von dem Wunsch angetrieben, aus der Pflegeversicherung noch etwas Besseres zu machen.
Ich stelle namens der SPD-Bundestagsfraktion fest: Wir haben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Einrichtungen, aber auch den Familienmitgliedern in der häuslichen Pflege nicht nur zu danken, sondern wir setzen unser Vertrauen darauf, daß sie weiterhin mit uns in der Umsetzung der Pflegeversicherung zusammenarbeiten; denn wir wissen, daß der Erfolg dieser sozialen Sicherung im wesentlichen von deren Arbeit und deren Engagement abhängt: in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft.
Zweitens. Wir machen die Gesetze, aber die Lebenswirklichkeit der Pflegeversicherung findet in den ambulanten stationären Einrichtungen und in den Häusern der zu Pflegenden statt. Insofern haben wir Zuspruch und Kritik von dort anzunehmen und zu bewerten. Die Kritik und die Fragen von den Betroffenen, für die wir die Pflegeversicherung errichtet haben, ergeben einen doppelten Sinn. Sie sind ein Ausdruck dafür, daß ein großes Vertrauen in unser System der sozialen Sicherung besteht. Die Aufforderung, dieses oder jenes zu verbessern, ist doch der Beleg dafür, daß das Gesetz insgesamt als Ausdruck eines Bekenntnisses zur Solidargemeinschaft begriffen wird.
Hier ist zu betonen - dies liegt mir angesichts der jahrelangen Diffamierung des Sozialstaatsprinzipes durch Teile der Koalition und der sie begleitenden Presse besonders am Herzen -, daß das Sozialstaatsprinzip in der Pflegeversicherung zum Ausklang dieses Jahrhunderts bekräftigt worden ist.
Wir stehen zum System der sozialen Sicherung. Wir stehen zum solidarischen Finanzierungssystem in unserer sozialen Sicherung. Gerade die Debatte um die Pflegeversicherung draußen zeigt, daß man den Sozialstaat nicht ablehnt, sondern ihn zu verbessern wünscht. Niemals ist die Einrichtung der Pflegeversicherung in Abrede gestellt worden, sondern Kritik an ihr bedeutete zugleich immer ihre Anerkennung als neue Säule der Sozialversicherung. Im Umkehrschluß bedeutet dies: Die Durchsetzung und Umsetzung der Pflegeversicherung ist in der öffentlichen Debatte eine Niederlage derjenigen, die diesen Sozialstaat nicht wollen und die danach trachten - eventuell nach dem 27. September -, das zu erreichen, was ihnen bis heute verwehrt geblieben ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein dritter Punkt muß in den Mittelpunkt der Debatte um die Pflegeversicherung gestellt werden. Es ist die Frage nach der Gerechtigkeit bei der Handhabe der Pflegeversicherung. Es sind insbesondere die Fragen der Einstufungsproblematik und die Frage der Betreuung von Dementen, psychisch Kranken und Behinderten gewesen, die uns in den Beratungen beschäftigt haben. Wir alle haben zum Teil erschütternde Briefe und Fallschilderungen von Betroffenen erhalten, haben Gespräche geführt, haben Besuche gemacht und haben versucht, Einblick in den Alltag und die Nöte der Menschen zu bekommen, die Pflegeleistungen beantragt haben oder Pflege durchführen. Uns allen ist dabei schmerzlich bewußt geworden, daß es individuelle Gerechtigkeit für den Einzelfall nicht gibt und daß sie auch durch die Pflegeversicherung nicht immer zu leisten ist.
Der Gesetzgeber - das haben wir sagen müssen - richtet sein Bemühen an der Vorstellung einer, ich will nicht sagen durchschnittlichen, aber doch allgemeingültigen Gerechtigkeit aus. Das führt zu Span-
Karl Hermann Haack
nungen. Die persönliche Erwartung der zu Pflegenden und derjenigen, die pflegen, auf Erfüllung durch den Gesetzgeber und die Ansprüche, die dann nicht erfüllt werden können, haben zu Spannungen in diesen Gesprächen geführt. Diese Spannungen müssen wir aber aushalten. In der Konsequenz sind wir dann dazu aufgerufen, Ungerechtigkeiten dort, wo sie bestehen - sie bestehen in der Tat auch in der Pflegeversicherung -, ohne Verzug zu beheben und zu korrigieren. Hier sind wir gegenüber den Pflegenden und auch den zu pflegenden Menschen in der Pflicht, das gegenseitig gegebene Vertrauensversprechen nicht zu brechen.
Wir haben in der Vergangenheit zahlreiche Gespräche geführt, um den Korrekturbedarf zu ermitteln. Wenn wir heute kontrovers über das gemeinsam verabredete Paket von 260 Millionen DM abstimmen, ist dieses aus unserer Sicht eine Art von Vertrauensbruch durch die Koalition, denn wir haben uns mit den Verbänden und Kirchen auf dieses Änderungspaket mit einem Umfang von 260 Millionen DM verständigt.
Was waren die Ziele der Pflegeversicherung? Laut Bericht waren es sechs: Das Risiko sollte abgesichert werden; die Pflegeversicherung sollte eine Grundversorgung darstellen; sie sollte der demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft Rechnung tragen; sie sollte sich an den Grundsatz Rehabilitation und Prävention vor Pflege orientieren; sie sollte die Pflegepersonen sozial absichern, und sie sollte zu einer Verbesserung der Pflegeinfrastruktur führen.
Ich will mich auf drei Punkte konzentrieren.
Der erste Punkt ist die Grundversorgung durch die Pflegeversicherung. Was bedeutet dies? Die Pflegeversicherung kann nicht alles leisten. Über diesen Punkt hat es mit den Trägern von Einrichtungen in der Vergangenheit ausführliche Gespräche gegeben, deren Ergebnis in einem Schreiben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege vom 14. November vergangenen Jahres zusammengefaßt ist. Wir haben unsere gemeinsame Position dagegengehalten und haben gesagt: Eine Erweiterung des Pflegebegriffes gibt es nicht. Er ist abschließend und gerichtsfest formuliert. Dies wurde in mehreren Urteilen des Bundessozialgerichtes vom 19. Februar bestätigt, das Anträge auf Erweiterung des Pflegebegriffs negativ beschieden hat. Damit bleibt es - auch mit Blick auf die Debatte um die Lohnnebenkosten - bei einem Beitragssatz von 1,7 Prozent. Dennoch gilt: Für die Kirchen, für die Familien, für die Angehörigen und für die Wohlfahrtsverbände ist das, was ich hier formuliert habe, bitter. Wir sind aber gemeinsam, insbesondere die Sozialdemokraten, aufgerufen, auch weiterhin nach gerechten Lösungen zu suchen, um Grenzfälle positiv zu bescheiden.
Ich erinnere an das letzte Gespräch über die Eingliederungshilfen für Behinderte. Nach dem 27. September wollen wir dieses Problem zu regeln versuchen.
Ein zweiter Punkt, der bitter aufstößt, ist die Abkehr vom Grundsatz „Rehabilitation und Prävention vor Pflege". Wir haben uns immer darauf verständigt, daß Pflege keine Einbahnstraße sein darf: von Stufe 0 zu Stufe 1 bis zu Stufe 3. Vielmehr sollte es gemäß dem Grundsatz „Rehabilitation und Prävention vor Pflege" möglich sein, Pflegebedürftige aus stationären Einrichtungen wieder in ihr häusliches Milieu zurückzuführen. Nun stellen wir mit gewisser Erbitterung fest - das entnehmen wir dem Bericht -, daß diesem Grundsatz nicht gefolgt wurde. Hier ist nichts geschehen. Herr Bundesarbeitsminister, Sie sind daran zu erinnern, daß Sie die Verantwortung tragen: Sie haben es versäumt, im Rahmen der Rechtsaufsicht die Spitzenverbände der Pflegekassen anzuhalten, entsprechende Rahmenvereinbarungen zu treffen.
Der Feststellung im Bericht, dem Grundsatz „Prävention vor Pflege" werde nicht genügt, hätten Sie hinzufügen müssen: Der Bundesarbeitsminister hatte zur Regelung dieses Tatbestandes keine Zeit.
- Oder keine Lust.
Einen dritten Punkt halte ich angesichts der Diskussion sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung von Frauen für äußerst wichtig. Mit dem Pflegeversicherungsgesetz haben wir endlich eine soziale Absicherung für diejenigen eingeführt, die in der häuslichen Pflege Leistungen erbringen. Alljährlich wird - dies muß der Öffentlichkeit gesagt werden
- von der Pflegeversicherung ein Betrag in der Größenordnung von 2 Milliarden DM an die Rentenversicherungsträger abgeführt. Als Berechnungsbeispiel liegt eine Halbtagstätigkeit zugrunde. Ich finde, das muß gesagt werden, wenn man dazu steht, daß die Pflegeversicherung als Ausdruck sozialer Dienste eine arbeitsplatzschaffende Maßnahme ist. Das sollte man vor allen Dingen denjenigen ins Stammbuch schreiben, die meinen, mit einem schlanken Sozialstaat Kosten sparen zu müssen. Nein, angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen und insbesondere angesichts hoher Frauenarbeitslosigkeit ist dieser Aspekt der Pflegeversicherung nicht hoch genug zu veranschlagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung steht trotzdem auf dem Programm der politischen Arbeit in der kommenden Zeit. Wir dürfen uns nicht auf dem Erreichten ausruhen, sondern müssen an der Pflegeversicherung weiterarbeiten.
In diesem Zusammenhang möchte ich an die Kompromißbereitschaft erinnern, die diese Pflegeversicherung bis vor kurzem getragen hat. Wir haben gemeinsam - damit spreche ich besonders Frau Schnie-
Karl Hermann Haack
ber-Jastram an, die im Moment nicht hier ist; sie hat sich bei mir entschuldigt, sie hat dringend etwas anderes zu tun - den Griff von Herrn Waigel in die Pflegekasse abgewehrt. Als bekannt wurde, daß die Pflegeversicherung hohe Rücklagen hat, wurde der Versuch unternommen, diese mit Blick auf Maastricht anzugreifen. Das haben wir verhindert. Wenn die CDU/CSU sagt, die Pflegeversicherung stehe auf einer soliden Grundlage, gehört der Hinweis dazu, daß wir einen Griff in die Pflegekasse gemeinsam verhindert haben.
Darüber hinaus haben wir im Zuge der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ein kleines Paket von Reformen verabredet: Die Leistungen für die Tages- und Nachtpflege sollen aufgebessert werden. Bei der Verhinderungspflege sollen Verbesserungen erreicht werden. Die Leistungen für erbrachte Pflege sollen im Todesfall für den Sterbemonat nicht zurückgezahlt werden müssen. Man muß sich einmal vorstellen, wie borniert Koalitionsarithmetik sein kann: Da verstirbt ein zu pflegender Angehöriger Mitte des Monats - Trauer ist angesagt, die Familien befinden sich in einer hochemotionalen Situation -, und dann bekommt man einen Brief von der Pflegekasse, daß der Betrag für den Monat zurückgezahlt werden muß.
Was ist das für eine Koalitionsarithemtik, daß Sie eine Gesetzesänderung verhindern wollen, die - angesichts der Situation, in der sich eine solche Familie befindet - doch nur der moralische Anstand gebietet?
Ich kann sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß unsere Position bezogen auf das, was wir verabredet haben, klar ist. Wir wollen dieses 260Millionen-DM-Paket heute verabschieden. Wir wollen in einer Entschließung, die wir dem Pflegeversicherungsbericht beigefügt haben, noch einige wichtige Punkte geändert wissen.
Wir wollen den Grundsatz „Reha vor Pflege" realisieren. Wir wollen die Heilmittelversorgung in den Heimen auf klare, rechtsverbindliche Grundlagen stellen. Es kann nicht sein, daß man jemandem die Krücken oder den Rollstuhl verweigert mit der Begründung, die Finanzierung dieser Heilmittel sei nicht Aufgabe einer stationären Einrichtung. Hier ist Klärungsbedarf angesagt. Sie verweigern sich diesem Klärungsbedarf. Wir wollen auf diesem Gebiet noch viele andere Dinge machen.
Ich stelle zu meinem großen Bedauern fest: Der Konsens, der uns bei Einführung der Pflegeversicherung getragen hat, ist auf dem Altar der Koalitionsarithmetik geopfert worden. Auch das, was wir als Fachleute gemeinsam verabschiedet haben, wird heute auf dem Altar der Koalitionsarithmetik geopfert. Daher meine Prognose: Erst nach dem Regierungswechsel am 27. September dieses Jahres wird es wirklich eine soziale und fortschrittliche Perspektive zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung geben.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Schnieber-Jastram hat eben ganz rührend von Toleranz gegenüber anderen Meinungen und ähnlichem geredet. Offensichtlich wird in der Koalition heftig gekuschelt. Nach außen bleibt trotzdem der Befund, daß die Bundesregierung auf der Flucht ist. Bei der Pflege gilt für sie die Parole: Die Verhältnisse sind so unübersichtlich und die Widersprüche zwischen den Koalitionspartnern so groß, daß man nur noch weglaufen kann.
Für diese Flucht aus der Verantwortung war die Diskussion der letzten Wochen um die Heimpersonalverordnung symptomatisch. Die Bundesregierung kündigte aus heiterem Himmel an, die Quote für Fachkräfte in den Pflegeheimen aufzuheben. Bundesministerin Nolte hat versucht, diese Aufhebung mit dem Argument anzupreisen, daß eine staatlich verordnete Quote viel zu starr sei - man kennt das Argument -, um den verschiedenen Einrichtungen gerecht zu werden. Deswegen sollte die Quote für die Fachkräfte doch besser durch die Heimträger und Pflegekassen vor Ort ausgehandelt werden.
Mit diesem Vorschlag ignoriert Frau Nolte aber geflissentlich, daß sich mit der Ausweitung des Pflegemarkts die Kräfteverhältnisse zwischen Einrichtungsträgern auf der einen Seite und Kostenträgern auf der anderen Seite verschoben haben. Die Pflegekassen und die Sozialhilfeträger haben zunehmend die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Anbietern zu entscheiden und damit einen Kostensenkungswettbewerb in Gang zu bringen, der natürlich zu Lasten der Qualität geht.
Angesichts der Pluralisierung der Trägerlandschaft gilt der Satz „Wer zahlt, hat das Sagen" zunehmend natürlich auch hier.
Wie die Ministerin vor dem Hintergrund einer solchen Entwicklung ausgerechnet auf die Idee kommen konnte, jede Art von Regelung aufzuheben, ist mir schleierhaft. Die Ministerin wird heute in der Zeitung zitiert, sie wolle, nachdem die Aufhebung verschoben ist, noch einmal nachdenken. Ich setze meine Hoffnung darauf, daß das Ergebnis besser ist als der letzte Vorstoß.
- Nach dem 27. September kann sie nachdenken bis zum Gehtnichtmehr.
Andrea Fischer
Diese Aufgabe jedweden sozialpolitischen Gestaltungsanspruchs findet sich auch im Umgang mit der Pflegeversicherung, und zwar mit inzwischen verheerenden Folgen. Schon vor ihrer Einführung wurde von Fachleuten und Verbänden auf Defizite hingewiesen. Der Kollege Haack hat es eben angesprochen. Der Anspruch „Prävention und Rehabilitation vor Pflege" ist nicht umgesetzt. Es gibt eine unzureichende Bedarfsorientierung, so daß es noch immer zu viele Pflegebedürftige gibt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Vor allen Dingen die eklatanten Abgrenzungsprobleme gegenüber der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege nach dem Sozialhilferecht sind lange bekannt und noch immer nicht gelöst.
Die Bundesregierung hat sich mit ihrem Verweis darauf, daß das alles nur Mäkelei an der Erfolgsstory Pflege ist, allen Einwänden verschlossen. Das ist aber keine Art und Weise, hier weiterzukommen.
Heute werden Sie wieder sagen - Sie haben es eben schon getan; auch der Minister wird es gleich tun -, wie wunderbar und klasse das alles ist. Aber was erwidern Sie den Heimleitern, die heute in der „Frankfurter Rundschau" mit der Ausssage zitiert werden: „Die Pflegeversicherung muß weg"?
Das sind doch inzwischen keine Einzelstimmen mehr. Wir haben mittlerweile Hunderte von Zuschriften von professionellen Pflegekräften, von Angehörigen und auch von Pflegebedürftigen selber, aus denen klar wird, daß der Pflegeversicherung die Legitimationsbasis wegbröckelt, insbesondere was die zweite Stufe anbelangt.
Angesichts einer solchen Entwicklung ist der durchaus bekannte „Totstellreflex" der Koalition wirklich die absolut unangemessenste Reaktion.
Das ist wirklich verantwortungslos. Wir haben hier schon einmal darüber diskutiert, daß auch die kleinen Veränderungen, von denen wir dachten, wir würden sie mit Ihnen verwirklichen können, nun nicht möglich sind. Eine große Lösung des Abgrenzungsproblems hatten wir uns gar nicht mehr bis zum Ende der Legislaturperiode erhofft, sowohl aus Zeitgründen als auch deshalb, weil wir um den Zustand der Koalition wissen.
- Wir reden doch hier wirklich nicht über große Summen, Frau Babel, und das wissen Sie genausogut wie wir. Wir reden hier über 200 Millionen DM. Das heißt, es geht um eine leichte Anhebung der Leistungsbeträge für die Tages- und die Nachtpflege, um Verbesserungen bei der Anrechnung auf Unterhaltsleistungen. Daß so eine kleine Lösung, die aber für diejenigen, die davon betroffen sind, eine Menge bedeutet, mit Ihnen jetzt jenseits aller fachpolitischen Debatten nicht mehr drin ist, schockiert mich wirklich.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel? Viel Zeit ist dann allerdings nicht mehr.
Mir geht es darum, daß mein Zwischenruf nicht falsch verstanden wird. Sie sagten, Sie hätten bezüglich der Abgrenzungsproblematik keine Hoffnung mehr gehabt, daß wir das noch in dieser Legislaturperiode schaffen würden. Ich sagte, daß Sie auch keine Lösung für diese Abgrenzungsproblematik haben. Darauf haben Sie jetzt falsch reagiert. Sie können jetzt vielleicht richtig auf diesen Sachverhalt reagieren.
Mein Punkt ist jetzt aber gewesen, daß wir kleine, wirklich ganz marginale Veränderungen verabredet haben und daß Sie diese nicht mitmachen wollen.
Hinsichtlich der Abgrenzungsproblematik wissen wir beide genau, wie schwierig das ist. Aber da kann man doch nicht wegtauchen! Eines kann ich Ihnen zusagen: Es wird da keine leichte Lösung geben, aber es wird eine Lösung geben müssen, weil die Lage in den Heimen und in den Einrichtungen der Behindertenpflege immer schwieriger wird. Das kann man nicht hinnehmen. Wenn Sie finden, Sie könnten sagen, das Problem sei Ihnen jetzt zu groß, so daß Sie lieber wegtauchen, dann tauchen Sie am 27. September weg.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Als wir im Februar im Zusammenhang mit den Gesetzen zur Änderung der Pflegeversicherung im Bundestag insbesondere über die Frage diskutierten, ob angesichts der beachtlichen Überschüsse eine Senkung der Beitragssätze sinnvoll und verantwortbar wäre - diese Meinung hat ja die F.D.P. vertreten - oder ob eine Leistungsausweitung erfolgen sollte, wobei wir uns beides haben vorstellen können, erschien die Situation der Pflegeversicherung noch einigermaßen sonnig. Das hat sich seitdem verändert.
Aus zwei Richtungen drohen der Pflegeversicherung Mehrbelastungen. Sie erlauben mir vielleicht, dazu kurz etwas zu sagen.
- Das eine ist bekannt, das andere war nicht bekannt, Herr Haack.
Dr. Gisela Babel
Eine schwierige Frage ist die Abgrenzung von Pflege und Behindertenhilfe. Ich glaube, daß wir uns weitgehend darüber einig sind - das zeigt auch die Resolution, die wir, glaube ich, einstimmig verabschieden werden -, daß das, was sich jetzt hier abgespielt hat, und das, was wir in dieser Anhörung gehört haben, nicht mit dem übereinstimmt, was wir mit dem Gesetz wollen. Es war der klare Wunsch des Gesetzgebers und aller Parteien, die das Thema gekannt und durchschaut haben, zu verhindern, daß Behinderteneinrichtungen in irgendeiner Weise Abstriche erleiden, daß Behinderte auf einmal mit dem Etikett „pflegebedürftig" versehen werden und daß unter dem Aspekt der Kostenentlastung eine solche Umetikettierung der Betroffenen stattfindet. Wir waren uns über diesen Prozeß im Grunde nicht nur einig, sondern suchten auch nach Lösungen, wie wir dem begegnen können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist uns nach der Anhörung als Prozeß noch sehr viel deutlicher gewesen. Die Reaktion war ja von Hilflosigkeit oder von Wut und Zorn geprägt, je nach Temperament. Aber es wurde uns doch von den Sozialhilfeträgern offen gesagt, daß sie dabei seien, in Behinderteneinrichtungen Behinderte als Pflegefälle in der Weise herauszufiltern, daß sie dann die volle Prämie der Pflegeversicherung bekommen. Der während eines kurzen Zeitraums unternommene Versuch, im Gesetz etwas dagegenzusetzen, ist gescheitert. Im Grunde ist uns hier außer der Resolution, dem Appell, nichts eingefallen.
Deswegen, Frau Fischer, habe ich diese Zweifel angemeldet. Sie sind ja in sozialen Fragen immer etwas großzügiger als die F.D.P. Nehmen Sie aber einmal an, es würde gesagt: Okay, jeder Behinderte, der in stationären Einrichtungen ist und die Bedingungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt, bekommt die volle Prämie. - Damit ist noch immer nicht gesagt, daß diesen Betroffenen nicht seitens der Sozialhilfeträger insoweit die Behinderteneigenschaft abgesprochen wird, daß sie nicht mehr die zusätzliche Eingliederungshilfe bekommen. Der Wettbewerb, aus ihnen möglichst kostenentlastende Pflegefälle zu machen, wird nicht gewonnen.
Meiner Ansicht nach, zumindest nach der Diskussion, die ich erlebt habe, ist dieser Prozeß für Behinderte in Einrichtungen mit keiner Verbesserung durch Zuschüsse aus der Pflegekasse zu stoppen. Das ist meine Auffassung in dieser Frage.
Gestatten auch Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Kollegin, ich habe Ihnen eben schon zugestanden, daß es schwierig ist, dieses Problem zu lösen. Können Sie sich aber nicht daran erinnern, daß wir gesagt haben - wir haben dies in Debatten angesprochen -, daß man beim entsprechenden Recht für die Sozialhilfe darauf achten muß, daß die Träger der
Einrichtungen die Pflegeversicherung nicht für diesen Prozeß einer Umetikettierung nutzen?
Im Moment appellieren wir nur mit unserer Entschließung. Wenn wir aber feststellen, daß dieser Appell nicht hilft: Würden Sie mir nicht recht geben, daß man sich dann diesen Teil noch einmal angucken muß? Teilen Sie meine Erinnerung an bisherige Gespräche, daß es nicht zuletzt eine gewisse Widerspenstigkeit seitens des Bundesgesundheitsministeriums mit seiner Zuständigkeit für den Sozialhilfebereich gab, die weitergehende Überlegungen in diese Richtung schnell beendet hat?
Es hat dafür gesorgt, daß die Situation etwas gemildert wurde. Die Resolution hat nicht mehr die Frische und Schärfe, in der sie ursprünglich einmal formuliert war. Da gebe ich Ihnen recht, Frau Fischer. Ich glaube, dieses Thema wird uns weiterhin beschäftigen.
Als wir die Pflegeversicherung leidenschaftlich und auch strittig diskutierten, gab es immer die Vorstellung unseres hochgeschätzten Herrn Arbeitsministers, daß es mit der Pflegeversicherung Frieden zwischen den Trägern geben werde.
Es sollte nicht mehr über dem Bett der Oma die schreckliche Auseinandersetzung zwischen den Sozialhilfeträgern geben, ob sie noch krank oder schon pflegebedürftig und damit ein Fall für die Sozialhilfe ist. - Ich sage nur eines: Die Zuversicht, es werde Friede einkehren, hat sich nicht bewahrheitet, zumindest nicht in der Frage der Eingliederungshilfe. Das bleibt ein offenes Problem.
Die zweite Belastung, auf die ich noch kurz eingehen möchte, ist das EuGH-Urteil. Wir waren hier gesetzgeberisch derselben Meinung: Wir wollen die Pflegeversicherung als eine Versicherung, deren Leistungen nur im Inland gezahlt werden. Wir sind so weit gegangen, zu sagen, daß ein pflegebedürftiger Deutscher, der immer eingezahlt hat, aber im Ausland lebt, diese Leistung nicht beanspruchen darf. Der Hintergrund war natürlich, daß die Architektur der Pflegeversicherung immer in bezug auf die Sozialhilfe gedacht war und eine Entlastung der Sozialhilfeträger mit sich bringen sollte. Jetzt liegt dieses Urteil vor; weitere Urteile zum Krankenversicherungsrecht wird es geben. Somit müssen wir nun, was das deutsche Sozialversicherungsrecht anbelangt, in eine neue Diskussion eintreten und uns mit den Folgen der EuGH-Rechtsprechung beschäftigen, mit der wir meiner Ansicht nach nicht ernsthaft gerechnet hatten.
Meine Damen und Herren, nun zum eigentlichen Thema, das Sie angesprochen haben, Herr Haack. Ich bedanke mich für Ihre sehr konziliante Tonart; sie hat sich wohltuend von früheren Debatten abgehoben. Ich glaube nicht, daß man sagen kann, der Kon-
Dr. Gisela Babel
sens zur Pflegeversicherung sei aufgehoben. Ich glaube auch nicht, daß die Verantwortung, die wir da übernehmen, in irgendeiner Weise aufgekündigt werden sollte. Ich gebe zu: Wir haben bei der Leistungsausweitung keinen Konsens gefunden. Ich selbst habe sie aus fachlicher Sicht für vertretbar gehalten; das tue ich nach wie vor.
Eines aber wollen wir zugestehen: Die Zeit, seit der die Pflegeversicherung greift, ist noch nicht so schrecklich lang. Die Entwicklung hat in diesen Punkten noch nicht zu so großen Aufwallungen und Rufen nach Gerechtigkeit geführt. Ich glaube, daß man es in der Tat verantworten kann, über die Struktur der Überschüsse und ihre Verwendung zu neuen Entscheidungen zu kommen.
In einem Punkte stimme ich mit Ihnen überein: Der Monat der Entscheidung auch über diese Frage ist der September 1998, aber im Sinne neuer Koalitionsverhandlungen zwischen den jetzt regierenden Fraktionen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was die Bundesregierung in Wahlzeiten plötzlich möglich macht. Fast aus dem Stand werden 600 Millionen DM für ABM bewilligt, für Maßnahmen, die bis vor kurzem im Grundsatz abgelehnt wurden.
- Begrüßen kann man das ja durchaus. Aber es kommt ein bißchen spät.
Auch in der Pflegeversicherung tendiert die Bundesregierung im Wahljahr 1998, wenn auch nur punktuell, zur Kenntnisnahme bestimmter Realitäten. So sichert das jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Vierte Änderungsgesetz zum SGB XI, daß das ursprüngliche Ziel der Pflegeversicherung, eine gewisse Anzahl pflege- und assistenzbedürftiger Menschen aus der Sozialhilfeabhängigkeit herauszuholen, für weitere zwei Jahre möglich wird.
Meine Gespräche in Pflegeeinrichtungen in den vergangenen Wochen haben gezeigt, daß es den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen nicht vermittelbar gewesen wäre, wenn sie zum 1. Januar 1998 erneut sozialhilfeabhängig geworden wären. Das ist nun auf den 1. Januar 2000 verschoben worden. Die Annahme des Vorschlages der PDS, die Übergangsvergütung dauerhaft zu gestalten und nicht nur auf weitere zwei Jahre zu begrenzen, hätte erneute Unsicherheiten in den Einrichtungen und vor allem bei den Menschen verhindert.
Das Weitergelten der Übergangsvergütung ist zweifellos ein Wahlgeschenk. Das zeigen auch die
Pläne der Bundesregierung zur Aufhebung der Heimpersonalverordnung, die bei Umsetzung das letzte Hindernis für eine Still-satt-sauber-Pflege beseitigt hätte.
Die Botschaft der Bundesregierung ist klar: Alte und behinderte Menschen brauchen nicht fachkompetent gepflegt zu werden. Drastisch beschreibt der Verband der Pflegefachkräfte die heutige Situation:
Wir haben uns gegen unser Gewissen bereit erklären müssen, Pflegebedürftige und altersbedingt verlangsamte Menschen zu nötigen, in drei Minuten ihre Notdurft zu verrichten, müssen sie in fünf Minuten ins Bett scheuchen und in einer Viertelstunde durch das Badewasser ziehen. So hatten wir Altenpfleger unseren Beruf nicht erlernt!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufschlußreich ist die Tatsache, daß die Bundesregierung, aber auch die SPD jede noch so geringe Verbesserung der gegenwärtigen Situation pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen ablehnen. Das Argument der Nichtfinanzierbarkeit ist angesichts der nach wie vor zu erwartenden jährlichen Überschüsse in der Pflegeversicherung von 1 bis 2 Milliarden DM absolut nicht zutreffend. Das zeigt aber auch, daß die Pläne zur Verschiebung der Pflegemilliarden und zum Stopfen von Haushaltslöchern noch nicht vom Tisch sind. Oder warum verweigert die Bundesregierung jegliche sachliche, kritisch-analytische Diskussion beispielsweise zu den Vorschlägen zur Einführung einer Pflegestufe null, die mit einem Mindestpflegegeld verbunden werden soll?
Neben derartigen Einzelregelungen in Richtung einer gestärkten Prävention und einer mehr am Bedarf orientierten Ausgestaltung der Pflegeversicherung hält die PDS grundsätzliche Änderungen für unumgänglich. Angesichts der zunehmenden Vernichtung von Arbeitsplätzen spricht gegenwärtig alles dafür, die Kompensationsregelung für die Arbeitgeberbeiträge aufzuheben, den dafür gestrichenen gesetzlichen Feiertag wieder einzuführen und damit der deutschen Wirtschaft das unmißverständliche Signal zu geben, daß ohne Schaffung neuer Arbeitsplätze keine weiteren steuerlichen und andere Vergünstigungen gegeben würden.
Ihre Politik der Steuergeschenke der vergangenen Jahre hat sich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als völlig untauglich erwiesen. Es ist nach wie vor systemzerstörerisch, die Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung eines Zweiges der Sozialversicherung zu entlassen. Sie verschweigen immer wieder, daß das der eigentliche Geburtsfehler der Pflegeversicherung war. Im Gegenteil, die Arbeitgeber müßten endlich nach ihrer Leistungskraft differenziert dazu herangezogen werden. Das wäre gerecht und zukunftsweisend, und die PDS hat hierzu ein handfestes Konzept vorgelegt.
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst dafür, daß wir das Thema heute in einem ruhigeren Ton als vor kurzer Zeit verhandeln. Mit „ruhigerem Ton" meine ich: weniger Anteile an Aggressivität.
Ich singe hier keine Erfolgsstory, sondern lasse lieber die Betroffenen zu Wort kommen. Sie richten sich nämlich nicht nach dem, was in Parteizentralen beschlossen wird. Nach einer Untersuchung der Universität Hamburg sind 80 Prozent mit ihrer Pflegesituation einverstanden. 64 Prozent haben die Pflegeversicherung als Ansporn empfunden, die Pflege ihrer Angehörigen zu übernehmen. 67 Prozent haben gesagt, daß in der Pflegeversicherung auch eine Anerkennung derjenigen liegt, die pflegen. 75 Prozent, also drei von vier, waren mit der Begutachtungspraxis einverstanden. Das ist ein ganz schwieriger Teil, gerade bei der Einführung der Pflegeversicherung.
- Das sind die Stimmen der Betroffenen. Diese gelten hoffentlich mehr als die Stimmen derjenigen, die im Zuschauerrang stehen.
- Ich komme auch noch zur zweiten Stufe.
Natürlich gibt es Kritik, natürlich ist nicht alles perfekt. Es melden sich selbstverständlich auch diejenigen zu Wort, die mit der Pflegeversicherung nicht einverstanden sind. Die 75 Prozent - darüber beschwere ich mich gar nicht -, die damit einverstanden sind, melden sich nicht. Nur diejenigen, die unzufrieden sind, schreiben Leserbriefe.
Trotzdem muß deren Stimme ernst genommen werden. Jedes System, jede Institution, die neu anfangen, haben Anlaufschwierigkeiten. Man muß Erfahrungen sammeln. Aber es führt kein Weg daran vorbei, daß durch die Pflegeversicherung 1,7 Millionen Menschen mehr geholfen wird als vorher.
Den ganzen Nachmittag habe ich nur etwas über Zahlen und Finanzen gehört, obwohl das nicht der einzige Aspekt der Sozialpolitik ist. Aber immerhin werden jetzt über 30 Milliarden DM für die Pflege ausgegeben, früher von der Sozialhilfe waren es nur 17,6 Milliarden DM. Für die ambulante Sozialhilfe waren es 1,6 Milliarden DM, jetzt sind es bei der Pflegeversicherung im ambulanten Bereich 15 Milliarden DM.
Ich sage noch einmal, daß für mich der Wert einer Pflegeversicherung nicht allein am Geld abgelesen werden kann. Der größte Erfolg aus meiner Sicht ist, daß mehr Menschen in ihren vertrauten vier Wänden bleiben können. Die Anträge auf Heimunterbringung gehen zurück. Wir brauchen auch Heime - damit dies nicht als Abwertung verstanden wird. Aber daß mehr Menschen, solange sie das wollen und können, zu Hause bleiben, halte ich für einen großen Erfolg.
Zur Fachkraftquote, sehr verehrte Frau Kollegin Fischer, möchte ich noch einmal folgendes sagen. Bringen Sie das nicht auf die Ebene: Die einen sind für, die anderen sind gegen Fachkräfte. Ich frage erneut: Kann eine schematische Quote von 50 Prozent als Mindestquote die differenzierte Lage treffen? Wir haben drei Pflegestufen: Schwerstpflegebedürftige, Schwerpflegebedürftige und erheblich Pflegebedürftige. Diese sind aber nicht gleichmäßig über die Heime verteilt. Also ist es doch viel vernünftiger zu differenzieren. Es kann Heime mit einem 80- oder 90prozentigen Fachkräftebedarf und andere mit einem 30prozentigen Fachkräftebedarf geben.
Ich wehre mich auch dagegen, eine Pflege mit Herz könnte nur mit Diplom erbracht werden. Ich kenne viele, die im Heim ohne Diplom, aber mit großem Engagement arbeiten, was ich ausdrücklich anerkenne.
Natürlich brauchen wir Fachkräfte. Aber zunächst einmal müßte definiert werden, was eine Fachkraft ist. Wir haben keinen Altenpflegerberuf. Bei 17 verschiedenen Definitionen dessen, was eine Fachkraft ist, kann eine bundeseinheitliche Quote nicht die Lösung sein. Im übrigen vertraue ich nicht so sehr auf die staatliche Heimaufsicht, die alles regelt. Ich vertraue der Selbstverwaltung, so wie das auch im Krankenhaus geschieht. Im Krankenhaus ist der Personalschlüssel abgeschafft worden, weil er zu starr war. Warum sollte er im Heim gelten? Wir werden dafür eine Lösung suchen.
Frau Fischer, ich glaube auch, daß es immer zwei Grenzen gibt: erstens die Grenze zur Sozialhilfe und zweitens die Grenze zur Krankenversicherung. Wie wir alle glaube ich, daß Rehabilitation ein wichtiger Bestandteil der humanen Pflege ist, daß es nicht nur um Geldverteilung geht.
Daß wir heute keine Einigung über - wie ich zugebe - bescheidene Verbesserungen erzielen können, bedaure ich wie Sie. Wir wollen gar nicht drumherumreden. Es ist gut, daß wir eine Rücklage von 9 Milliarden DM haben. Das ist erstens wegen der Sicherheit gut. Zweitens - das will ich sagen, ohne daß ich es ankündige und mit Terminen versehe, schon gar nicht vor Wahlkämpfen - werden irgendwann auch die Leistungen der Pflege angepaßt werden müssen. Das steht sogar im Gesetz. Sonst würde der reale Wert sinken, denn in den Heimen steigen ja die Löhne. Dennoch kündige ich so etwas nicht an, schon gar nicht im Wahlkampf. Aber den Pflegebedürftigen geht keine Mark verloren. Wir brauchen es zur Sicherheit und zur angemessenen Anpassung der Leistungen. Aber die Sicherheit geht vor; denn 1,7 Prozent Beitrag ist tabu; daran rütteln wir nicht. Damit muß die Pflegeversicherung auskommen.
Ich bedanke mich dafür, daß wir die Diskussion heute der Problemlage angepaßt geführt haben; denn allzu aufgeregte Debatten, Frau Fischer - -
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
- Wenn Sie Reue haben, daß Sie sich nicht genug aufgeregt haben und sich nachträglich noch aufregen wollen, dann können Sie dies tun. Ich kann mich vielleicht für Sie mit aufregen.
Es ist gut, wenn wir die bei uns beiden vorhandene Begabung zur Aufregung etwas zurückdrängen; denn diese Aufregung überträgt sich in die Heime.
- Die Menschen haben Angst. Ich habe gerade verdienstvoll erklärt, daß wir uns darum bemühen, diese Debatte so zu führen, daß sie nicht mit Angst und Schrecken in den Heimen verbunden ist. Der Gegenstand - das ist sehr kalt formuliert -, die Personen verlangen Rücksichtnahme auf ihre Ängste und Sorgen.
Jetzt hat der Abgeordnete Karl-Josef Laumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich eine grundsätzliche Anmerkung zu Ihnen, Frau Kollegin Bläss, machen. Das hängt mit den beiden Debatten zusammen, die wir in den letzten zweieinhalb Stunden geführt haben.
Als das DDR-System zusammenbrach, war ich in Ostdeutschland. Eine der ersten Einrichtungen, die ich in Ostdeutschland besucht habe, war eine Behinderteneinrichtung. Da habe ich gesehen, wie die Behinderteneinrichtungen im SED-Staat ausgestattet waren. Ich glaube, daß man daran auch sehen konnte, was behinderte Menschen für den SED-Staat wert waren. Es war ein grauenhafter Eindruck, den ich nie vergessen werde. Sie bzw. Ihre Partei, die das doch wohl ein Stück weit zu verantworten hat, hat, glaube ich, gar nicht das Recht, über Sozialpolitik zu reden.
Deswegen interessieren mich Ihre sozialpolitischen Ideen genauso, als wenn in China ein Sack Reis umfällt.
Der Pflegeversicherungsbericht, den die Bundesregierung vorgelegt hat - ich möchte mich ausdrücklich für die Erstellung dieses Berichts bei Herrn Gondeck und seiner Abteilung bedanken, weil er, wie ich finde, eine gute Grundlage für die Diskussion über die Pflegeversicherung ist -, beweist eigentlich, daß wir mit der Pflegeversicherung eine Menge Erfolge erzielt haben. 1,7 Millionen Pflegebedürftige bzw. ihre Angehörigen bekommen Geld. 75 000 neue Arbeitsplätze sind in diesem Bereich geschaffen worden. Die Sozialhilfe ist um 10 bis 11 Milliarden DM entlastet worden.
Ich glaube, wir alle in unseren Wahlkreisen wissen, daß die Ausdehnung der Zahl der Anbieter im Bereich der Pflegedienstleistungen zu Qualitätsverbesserungen geführt hat. Es gibt also viel Positives.
Dennoch stellen wir in vielen Diskussionen fest, daß die Erwartungen der Menschen an die Pflegeversicherung - der Kollege Haack hat davon gesprochen - groß sind und daß es auch Menschen gibt, die meinen, die Leistungen seien immer noch zu gering. Ich finde es schon gut - ich will das ausdrücklich sagen -, daß im Bereich der Sozialpolitik bei Koalition und Opposition Einigkeit darin besteht, daß wir über die Pflegeversicherung zum jetzigen Zeitpunkt im großen und ganzen nicht mehr leisten können und daß wir nicht alle Erwartungen erfüllen können. Ich halte es auch für richtig, wenn wir dies gemeinsam vertreten und diesen kleinsten Zweig der Sozialversicherung, soweit es geht aus dem parteipolitischen Streit herauslassen.
Ich will aber auch sagen, daß es für einen großen Teil der Regelungen in den Änderungsanträgen, die von SPD und Grünen eingebracht worden sind, in der Koalition Sympathien gibt. Es sind auch Vorschläge dabei, die Sinn machen, zum Beispiel bezüglich der Rückzahlung des bereits erhaltenen Geldes im Sterbemonat und der Vorschlag, daß beim Unterhalt von Geschiedenen das Pflegegeld nicht angerechnet werden kann.
Aber es ist auch so - das ist nun einmal so, wenn man Regierungsfraktion ist, wenn man in Verantwortung steht -, daß man sich einigen muß. Wir haben uns in diesem Punkt nicht einigen können. Dann kann man eben keine Entscheidung treffen. Das ist in jedem Parlament - egal, wie die Schattierungen sind - so. Es hat auch gute Gründe, daß es so ist; denn die Mehrheit hat immer eine finanzielle Gesamtverantwortung für das, was geschieht. Man kann sich die schönen Sachen nicht immer heraussuchen, sondern muß für eine Entscheidung einstehen.
Ich muß, obwohl ich persönlich es gerne gesehen hätte, daß wir diese Änderungen vornehmen, zugeben, daß ich vor denjenigen in der Koalition Respekt habe, die anderer Meinung waren. Sie waren ja nicht gegen einen einzelnen Punkt, den wir ändern wollten. Sie haben vielmehr gesagt: Es paßt in das gesamte Konzept unserer Politik zur Zeit nicht hinein, eine Leistungsverbesserung vorzunehmen.
Wir alle in diesem Haus wissen im großen und ganzen, daß in unserem Land zur Zeit Leistungsverbesserungen nicht möglich sind, so gerne wir alle sie uns wünschen würden, weil absolute Priorität sein muß: Wir brauchen mehr finanzierbare Arbeit. Dem muß sich alles - auch vieles, was wir gerne tun würden - unterordnen. Vor diesem Argument muß man dann in der Gesamtschau Respekt haben.
Ich bitte Sie, diesen Respekt zu haben, obwohl wir im Kreis der Sozialpolitiker etwas anderes verabredet hatten. Ich hoffe sehr, daß die heutige Position nicht dazu führt, daß wir die Pflegeversicherung in den parteipolitischen Streit des Wahlkampfes hineinziehen. Ich glaube, das haben wir alle nicht nötig. Das würde am Ende beim Stimmenzählen auch nieman-
Karl-Josef Laumann
dem helfen. Wir sollten wenigstens diesen Bereich aus der Auseinandersetzung heraushalten.
Schönen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Laumann, gestatten Sie mir kurz zwei Anmerkungen zu Ihren Ausführungen. Zum ersten. Ich möchte Sie zum wiederholten Male darüber informieren, daß zum Gründungskonsens der PDS eine kritische und differenzierte Aufarbeitung der Geschichte der DDR gehörte.
Dazu gehörte auch eine kritische Analyse der Behindertenpolitik der SED. Ich kann Ihnen gerne Dokumente zur Verfügung stellen, da ich selber an diesen Diskussionen beteiligt war.
Es gibt nach wie vor eine kritische Diskussion, einen kritischen Blick auf die Behindertenpolitik der
SED und auf die Situation in den Heimen.
Ich möchte es nicht im Sinne einer Relativierung sagen, wenn ich betone, daß man auch die materielle Situation dieser Jahre beachten muß. Aber das entschuldigt nicht die schlimmen Zustände. Das möchte ich hier klar und deutlich sagen.
Aber zu einem differenzierten Blick auf die Behindertenpolitik der DDR gehört es eben auch, Komponenten - ohne sie zu idealisieren - wie die Invalidenrente und Bestrebungen der Integration von behinderten Menschen in den Arbeitsmarkt zu beleuchten.
Zum zweiten. Herr Kollege Laumann, ich habe überhaupt kein Problem, wenn Sie hier sagen, Sie interessierten sich nicht für die sozialpolitischen Positionen der PDS. Dies ist allerdings ein bißchen ein Armutszeugnis. Ich spreche Ihnen aber eines ab: Sie sind nicht in der Lage - Sie dürfen das einfach nicht -, uns das Recht abzusprechen, unsere Position als PDS hier vorzubringen. Das spricht für Ihr nicht vorhandenes Demokratieverständnis.
Kollege Laumann.
Frau Kollegin Bläss, Sie sind die Nachfolgepartei der SED.
Sie haben das Vermögen der SED genommen, um damit heute Politik zu machen.
Da hatten Sie und die Mitglieder Ihrer Partei keine Skrupel. Deshalb müssen Sie ein Stück weit die Verantwortung für das übernehmen, was im DDR-Staat passiert ist.
Der DDR-Staat hat nun einmal eine grausame Behindertenpolitik betrieben.
Er hat diese Menschen ausgegrenzt.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir werden dies immer wieder klarstellen, weil es wichtig ist, auf diese Dinge hinzuweisen, damit die Menschen wissen, was ein totalitäres System für Menschenrechte und insbesondere für die schwachen Mitglieder einer Gesellschaft bedeutet.
Ich möchte Ihnen sehr empfehlen, vor dem Hintergrund Ihrer Verantwortung eine Schamfrist von einigen Jahren des Nachdenkens einzulegen, bevor Sie sich politisch wieder äußern.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 13/9816. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/10312 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Das ist nicht der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Fall. Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 13/8681. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/10312 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/8681 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 13/9772. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/10312, Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über diesen Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 13/9772, abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung auch darüber die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Eliten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 13/9773. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/10312, Buchstabe d, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Damit entfällt auch darüber die weitere Beratung.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Nichtanrechnung des Pflegegeldes als Einkommen, Drucksache 13/10312, Buchstabe e. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/9219 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der SPD angenommen worden.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe f seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/10312, den Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung zur Kenntnis zu nehmen und die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und SPD angenommen worden. Die PDS hat sich enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Das sind die Drucksache 13/8941 und 13/10330 Buchstabe a. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung wiederum mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/ Die Grünen und SPD angenommen worden. Die PDS hat sich enthalten.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit dem soeben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zur Änderung des Pflegeversicherungsgesetzes auf Drucksache 13/5002. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/10330, Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse nun über diesen Gesetzentwurf der PDS, Drucksache 13/5002, abstimmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung hierüber.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 5. Juni 1997 zur Verlängerung der Ausnahmeregelung für den sogenannten Duty-free-Handel
- Drucksache 13/7608 -
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Daß wir heute über ein Problem diskutieren müssen, das eigentlich schon längst hätte aus der Welt geschafft werden können, haben wir einzig und allein einem Bundesfinanzminister zu verdanken, der seine Hände lieber
Antje-Marie Steen
in die Taschen der Steuerzahler steckt, als sie für sinnvollere Aufgaben zu rühren.
Die EU plant zum 30. Juni 1999 die Abschaffung des steuerfreien Handels. Das betrifft vor allem uns im Küstenbereich. Ihr Hauptargument sind die angeblichen steuerlichen Wettbewerbsverzerrungen, die durch den Duty-free-Handel ausgelöst werden.
Lassen Sie mich zu der Vision von Kommissar Monti, der mit der Abschaffung des Tax-free-Handels plötzlich einen steuerharmonischen EU-Binnenmarkt schaffen will, folgendes sagen: In der EU gibt es zur Zeit allein 200 Ausnahmeregelungen bei der Mehrwertsteuer und 70 Ausnahmeregelungen bei den Verbrauchsteuern. Wäre es nicht auch hier angebracht, eine Ausnahme oder Sonderregelung einzuführen?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Die Verbrauchsteuern auf eine Flasche Whisky betragen in Spanien 5 DM und in Schweden 43 DM. Soviel zu der Harmonisierung im Bereich des europäischen Binnenmarktes.
Duty-free stellt nach Aussagen von Kommissar Monti eine Wettbewerbsverzerrung dar. Ich allerdings beharre auf meiner Position und sage Ihnen: Duty-free rechnet sich für uns, da dem teilweisen Verzicht auf Verbrauchs- und Mehrwertsteuern weitaus höhere Einnahmen aus zusätzlichen Lohn-, Einkommen- und ertragsunabhängigen Steuern gegenüberstehen.
Duty-free, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sichert in Europa direkt oder indirekt über 100 000 Arbeitsplätze, in der Bundesrepublik gut 10 000 und in meinem Bundesland Schleswig-Holstein über 3 000 Arbeitsplätze. Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß die gesamte Ostseeküste durch das bevorstehende Aus bei Duty-free einen drastischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen verzeichnen würde. Mich schreiben täglich betroffene Unternehmen wie beispielsweise die Deutsche Fährgesellschaft Ostsee an, die auf Grund der Kündigungsfristen gezwungen ist, bereits im kommenden Frühherbst über 250 Angestellte in die Arbeitslosigkeit zu schicken.
Das gleiche gilt für den größten Caterer auf den Fährschiffen, die Mitropa, die in einer ersten Welle 300 bis 400 Angestellte entlassen will. Eines der größten Reedereiunternehmen, die Förde Reederei Seetouristik, würde allein in Lübeck 50 Mitarbeiter entlassen müssen, die länger als 20 Jahre in diesem Bereich beschäftigt sind. 250 000 Passagiere, meine Damen und Herren, unternehmen allein bei dieser Reederei jährlich Ausflugsfahrten auf der Ostsee. Welche Alternative bieten Sie eigentlich dieser Region, oder wie soll die Kaufkraft in diese Region zurückgeholt werden, wenn Duty-free ausfällt?
Ich möchte ganz nachdrücklich allen Verlautbarungen widersprechen, die behaupten, das Ende für Duty-free sei bei der EU unwiderruflich.
Auf europäischer Ebene mehren sich die Aktivitäten und Stimmen für den Erhalt des steuerfreien Handels, und ich glaube, daß wir hier unserem Finanzminister einmal die Frage stellen müssen: Was eigentlich tut unsere Regierung, um den einstimmigen Beschluß dieses Parlamentes und des Bundesrates umzusetzen? Wo sind die Appelle und die Schreiben für den Erhalt des Duty-free an Ihre europäischen Kollegen? Wo sind die persönlichen Kontakte und Treffen mit Ihren europäischen Kollegen? Wo sind die klaren Bekenntnisse und Vorgaben des stärksten Gemeinschaftsmitgliedes, an denen sich so viele EU-Staaten zu recht orientieren?
Die Zeit drängt. Deswegen erwarten wir ein klares Wort des Bundeskanzlers.
Denn das Aus für Tax-free wird die Akzeptanz für die Währungsunion bei den Bürgerinnen und Bürgern garantiert nicht wachsen lassen. Wer sich auf internationaler und europäischer Ebene bewegt und für sich reklamiert, daß er der Vater der Europäischen Union sei, hat hier eine Aufgabe. Ich denke, die Dramatik, daß wirklich Zehntausende von Arbeitsplätzen verlorengehen, sollte die Bundesregierung bewegen, diesen Beschluß endlich umzusetzen.
Ich bin gespannt, meine Damen und Herren von der Koalition, was Sie sich ausgedacht haben, um uns ruhigzustellen. Mein Kollege Olderog in meinem Wahlkreis zum Beispiel müht sich redlich, den Spagat zwischen seiner Zustimmung zu dieser Regelung und dem Nichthandeln des Finanzministers hinzubekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem eben genannten Kollegen Olderog jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns allen ist bewußt: Bei der Fortführung von Duty-free geht es um die Rettung von Arbeitsplätzen in Deutschland, um die Rettung von 8000 bis 10 000 Arbeitsplätzen, die bei Wegfall von Duty-free am 30. Juni 1999 entfallen, und zwar, wie ich unterstreichen möchte, in den meisten Fällen ersatzlos: Arbeitsplätze auf Fährschiffen, Ausflugsschiffen, bei Busunternehmen, Schiffsausrüstern, im Handel und im Gastgewerbe der Küstenorte sowie auf Flughäfen und in Flugzeugen. Im strukturschwachen norddeutschen Küstenraum, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind es allein 5700 Arbeitsplätze.
Ist es angesichts der hohen Arbeitslosigkeit wirklich zu verantworten, daß wir Tausende Menschen
Dr. Rolf Olderog
zusätzlich mit dem Wegfall von Duty-free in die Arbeitslosigkeit entlassen?
Die CDU/CSU-Fraktion und auch ich ganz persönlich wollen alles tun, um dies zu verhindern.
Der Duty-free-Handel - viele wissen das nicht - kostet die öffentliche Hand keine Mark. Das beweist das Prognos/ISL-Gutachten sehr detailliert.
Wenn die Brüsseler EU-Kommission dies alles nicht nachvollziehen kann und nur um des Prinzips Binnenmarkt willen Tausende von Menschen arbeitslos macht, dann zeigt das nur, wie weit die Verantwortlichen in Brüssel von den wirklichen Sorgen und Nöten der Menschen entfernt sind.
- Lieber Herr Kollege, ich lade Sie ein, gucken Sie sich das einmal an!
Das sind Erkenntnisse, meine Damen und Herren, die mich als überzeugten Europäer bedrücken.
Ich habe allerdings den Eindruck, daß es auch in der Verwaltung, in den Ministerien den einen oder anderen gibt, der die Sichtweise Brüssels teilt. Es gibt zum Beispiel Äußerungen aus dem Finanzministerium, die mich nicht gerade in Begeisterung versetzt haben.
Unbestreitbar ist: Der. Binnenmarkt entfaltet äußerst positive Wirkungen. Er erleichtert den Handel, führt über mehr Wettbewerb zum Vorteil für die Verbraucher und beschleunigt den Reiseverkehr. Aber welchen praktischen Vorteil hätte es für die Menschen in Europa, wenn das Prinzip des Binnenmarktes den Duty-free-Handel zu Fall brächte? - Ich sehe keinen. Für ein bloßes, abstraktes Prinzip viele tausend Arbeitsplätze zu opfern - das bei einer Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen in Deutschland -, wird man wohl kaum verantworten können.
Frau Steen, Sie haben sehr polemisch Kritik geübt.
Manches ist sicherlich überzeugend. Auch ich habe - das habe ich ja angedeutet - mit der einen oder anderen Äußerung meine Probleme. Aber Sie hätten zumindest Herrn Bohl, den Kanzleramtsminister, loben sollen,
an dessen Äußerungen wirklich nichts auszusetzen ist. Es sind prima Äußerungen.
Sie, liebe Frau Steen, hätten den Bundesverkehrsminister loben sollen, der von der EU-Kommission völlig zu Recht zunächst einmal ein Gutachten fordert.
Aber ich denke, der Parlamentarische Staatssekretär Hansgeorg Hauser, der sich ja in unserer Sache sehr engagiert hat
und mit uns und vielen Verbänden immer wieder Gespräche geführt hat, wird heute in aller Klarheit für sein Haus Stellung beziehen.
Wenn es in allen anderen EU-Mitgliedstaaten so aussehen würde wie in Deutschland, dann bräuchten wir uns um den Fortbestand von Duty-free keine Sorgen zu machen.
Insgesamt betrachtet, sind doch Irland und Deutschland die Vorreiter der Bewegung. Dazu gehören auch noch Spanien, Belgien, Griechenland und Finnland. Aber wo gibt es eine so klare Beschlußlage wie bei uns im Bundestag und im Bundesrat?
Ich will dabei von unserem CDU-Bundesparteitag gar nicht reden. Wir sollten deshalb nicht enttäuscht und verärgert reagieren, sondern damit zufrieden sein, daß wir bisher in Europa so viel weiter als andere gekommen sind.
Aber die Zeit läuft. Jetzt gilt es, gemeinsam Überzeugungsarbeit gegenüber der Kommission und den anderen Mitgliedsländern der EU zu leisten.
Diese Debatte, liebe Frau Steen, hätte eine Chance sein können, wenn wir nämlich die Gelegenheit genutzt hätten, unpolemisch gemeinsam ein demonstratives Bekenntnis zu Duty-free abzulegen,
und wenn dies auch noch von der Bundesregierung unterstützt wird. Das wäre ein werbendes Signal für Duty-free nach Brüssel und in die EU-Mitgliedsländer.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Vor uns liegt noch ein Weg mit Hindernissen. Stehen wir zusammen, und geben wir damit all denen in Deutschland, die so besorgt für den Fortbestand von Duty-free und den Fortbestand ihrer Arbeitsplätze eintreten, wieder neue Kraft und neue Hoffnung!
Dr. Rolf Olderog
Viele Menschen warten darauf. Sie setzen auf uns, auf das Parlament.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Schmitt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Steen! Herr Kollege Olderog! Es ist legitim und respektabel, wenn sich Abgeordnete aus Gebieten, die von gesetzgeberischen Veränderungen betroffen sind, dagegen zur Wehr setzen. Ich denke aber, dem Deutschen Bundestag steht es gut an, in dieser Frage den größeren Zusammenhang zu berücksichtigen. Die Diskussion über den Fortbestand von sogenannten Tax-free-Fahrten - es handelt sich ja nicht um Zölle, sondern um Steuerbefreiungen - und Tax-free-Einkaufsmöglichkeiten an Flughäfen muß in den Zusammenhang der europäischen Integration
und auch in den Zusammenhang eines von allen Parteien prinzipiell bejahten Bemühens um den Abbau von Erhaltungssubventionen im Steuerrecht gestellt werden.
Das ist eine Konsequenz des europäischen Binnenmarkt-Projektes, das ja von allen Fraktionen des Hauses bejaht wird. Wir haben heute morgen eine europapolitische Debatte geführt, in der sich alle Fraktionen deutlich zum Fortgang der europäischen Integration bekannt haben. Eine dieser Konsequenzen ist es eben, daß dieses Europa auch ein einheitlicher Wirtschaftsraum und - ich füge hinzu und hoffe es - in Zukunft ein mehr und mehr harmonisierter Steuerraum wird. In diesem Zusammenhang ist es schlicht und einfach ein Anachronismus, in diesem einheitlichen Wirtschaftsraum so etwas wie steuerbefreite Einkaufsmöglichkeiten einzuräumen, denn es geht nur um die Einkaufsmöglichkeiten im Rahmen des innereuropäischen Reiseverkehrs, aber nicht um die Einkaufsmöglichkeiten im Rahmen des internationalen Reiseverkehrs in Nicht-EU-Länder oder andere Kontinente.
Ich bin der Meinung: Erstens. Nachdem die einschlägigen Richtlinien in den Jahren 1991 und 1992 beschlossen worden sind, wußte jeder, was auf ihn zukommt. Zweitens. Es gibt auch andere Gewerbe, liebe Kolleginnen und Kollegen, die vom europäischen Binnenmarktprojekt betroffen sind. Ich komme aus dem Rheinland. Fragen Sie einmal in Geilenkirchen, fragen Sie einmal im Großraum Mönchengladbach, wie viele Arbeitsplätze dort durch den Wegfall der entsprechenden Erfordernisse bei der Handhabung der Zollformalitäten abgebaut worden sind. Die Menschen dort haben eingesehen, daß europäische Integration natürlich Wandel bedeutet. Wandel bedeutet Reformen, und wir bekennen uns dazu.
Natürlich müssen auch Opfer gebracht werden.
Der größte Gefallen, den die Europäische Kommission den Betroffenen getan hat, ist, ihnen diese langen Übergangsfristen einzuräumen.
Wenn man sich zum Strukturwandel und zum politischen Wandel bekennt, dann ist die entscheidende Forderung, daß die Betroffenen Zeit haben, sich darauf einzustellen. Ich denke, sechseinhalb Jahre sind mit Fug und Recht als ein Zeitraum anzusehen, in dem sich alle Betroffenen auf die neue Situation entsprechend einstellen konnten.
Ich möchte zum Schluß noch ein Beispiel erwähnen. Es gibt in Lateinamerika ein kleines Land, das weitaus ärmer als die Bundesrepublik Deutschland ist, nämlich Paraguay. Dieses Land lebte bis vor kurzem in erster Linie vom Schmuggel und vom zollfreien Verkauf. Selbst die armen Paraguayer haben eingesehen, daß die Tendenz zur regionalen Integration, zur Schaffung des Mercosur in Lateinamerika, auch um den Preis zu unterstützen ist, daß damit angestammte Arbeitsplätze und angestammte Wirtschaftsbereiche aufs Spiel gesetzt werden. Ich denke, wir sollten uns ein Beispiel an Paraguay nehmen, den europäischen Integrationsprozeß unterstützen und dafür sorgen, daß Steuersubventionen abgebaut werden, auch wenn es manchmal schmerzlich ist. In diesem Bereich können wir die Probe aufs Exempel machen und dafür sorgen, daß Erhaltungssubventionen abgebaut werden, unser Steuersystem vereinfacht wird und gleiche Wettbewerbsbedingungen auch im Einzelhandel hergestellt werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich interessiere mich als Schleswig-Holsteiner natürlich für dieses Thema, denn auch in meinem Wahlkreis sind Arbeitsplätze betroffen. Ich teile zum großen Teil das, was der Kollege Schmitt gerade hier vertreten hat. Ich komme allerdings zu einem etwas anderen Ergebnis, wozu ich gleich etwas sagen werde.
Jürgen Koppelin
Ich weiß sehr wohl, daß sich der Schleswig-Holsteinische Landtag einstimmig und die Konferenz der norddeutschen Wirtschaftsminister eindeutig für die Beibehaltung des Duty-free-Handels über den 30. Juni 1999 hinaus ausgesprochen haben. Das habe ich auf der einen Seite zu berücksichtigen. Ich habe allerdings andererseits - das gehört ebenfalls zu einer solchen Diskussion - auch Äußerungen vom Deutschen Industrie- und Handelstag genauso wie von den Verbänden des Einzelhandels zur Kenntnis zu nehmen. Auch diese Äußerungen sollte man ernst nehmen.
Kollegin Steen, da Sie hier von einem Spagat gesprochen haben, möchte ich Ihnen einmal etwas von einem Spagat erzählen, den der Kollege Olderog und ich erlebt haben. Wir hatten zu diesem Thema eine wunderschöne Podiumsdiskussion in Flensburg. Ihr Kollege Wodarg hat sich wirklich mit Vehemenz für den Duty-free-Handel eingesetzt und hat in seiner Funktion als Abgeordneter aus Flensburg gesagt, man müsse ihn natürlich erhalten.
- Ja, das hat er gut gemacht. Ich lobe ihn dafür. - Dann bekamen wir alle das Schlußwort, und Ihr Kollege Wodarg erklärte, er müsse nun doch einmal sagen, daß er grundsätzlich dagegen sei, Zigaretten und Schnaps billig zu verkaufen, da er Arzt sei. Das war das Ergebnis dieser Veranstaltung.
Auch so kann man einen Spagat machen.
Es ist ganz korrekt, was der Kollege Schmitt von den Grünen hier eben vorgetragen hat. Wenn man auf dem Weg zur Veränderung des Binnenmarktes einen Schritt weiterkommen möchte, ist die Haltung durchaus nachvollziehbar, daß 1999 mit Duty-freeRegelungen Schluß sein muß. Es ist außerdem aus ordnungspolitischer Sicht bedenklich, den Einkauf von Waren im Inland rechtlich anders als den Einkauf in sogenannten Duty-free-Shops zu behandeln.
Ich will noch eine Bemerkung machen, die nicht untergehen soll. 1992 haben uns alle betroffenen Verbände gesagt: Wenn wir diese Regelung, die den Übergang bis 1999 regelt, hinkriegen, dann schaffen wir einen entsprechenden Übergang. Die Zeit reicht für uns. - Nichts haben diese Verbände getan. Das zu bemerken gehört auch zu dieser Diskussion.
- Frau Kollegin Steen, das ist Ihr Problem: daß Sie bestimmte Fakten, die nun einmal da sind, einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen und statt dessen hier populistisch reden.
Die Duty-free-Regelung stellt doch nichts anderes dar - das ist eben auch vom Kollegen Schmitt korrekt dargelegt worden - als eine politisch gewollte Steuersubvention für Einkäufe in entsprechenden Shops.
Eine sachliche Notwendigkeit dafür besteht im Europa des freien Warenverkehrs nicht mehr.
Außerdem erschwert die Duty-free-Regelung den Grenzverkehr. - Nun hören Sie doch einmal zu! - Denn ist es nicht so, daß wir wollen, daß die EU-Bürger freie Grenzen haben? Mit dem Duty-free-Handel sorgen wir dafür, daß sie wieder an der Grenze kontrolliert werden.
Auch das, denke ich, sollten wir bei der Diskussion erwähnen.
Allerdings komme ich aus folgendem Grunde zu dem Schluß - damit bin ich auch beim Thema Arbeitsplätze -: Ich vermag nicht einzusehen, daß wir in unserer Region die reine Lehre verkünden sollen, daß wir gegenüber der EU einknicken sollen, mit anderen Worten: daß wir die Kröten schlucken sollen, während andere sich die Subventionsrosinen aus dem Europakuchen picken. Insofern bin ich bereit, zu sagen: Auch wir als F.D.P. setzen uns für die Arbeitsplätze in unserer Region ein.
Auch will ich hier - davon wissen Sie; das Argument ist, glaube ich, noch nicht gekommen - den Freizeitwert - der Tourismus hat es gerade im Norden schwer - ansprechen.
Ich schlage vor, daß wir, wenn wir wirklich zu einem guten Ergebnis kommen wollen, liebe Kollegin Steen, nicht nur populistisch reden, sondern wirklich vernünftig die Argumente pro und kontra sammeln und daß wir dann mit wirklich vernünftigen Argumenten gegenüber der EU kommen, die man auch akzeptieren kann. Aber vieles, was Sie hier vorgetragen haben, schadet eher unserer Argumentation, als daß es bei der EU positiv ankommt.
Zum Abschluß will ich sagen: Wenn Sie schon den Bundesfinanzminister ansprechen - auch da haben Sie von\\ einem Spagat gesprochen, was wir alles tun sollen -, dann muß ich Ihnen sagen: Der Bundesfinanzminister ist nur einer von denen, die wir brauchen, um eine vernünftige Regelung zu bekommen. Sprechen Sie doch einfach einmal bei der EU mit Frau Wulf-Mathies, die den Duty-free-Handel nicht will. Das ist doch das Entscheidende!
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Kommen Sie nicht wie die schleswig-holsteinische SPD, wie Ihr Kollege Wodarg plötzlich mit Ideen wie der, wir sollten irgendwelche Plattformen außerhalb der Dreimeilenzone errichten, damit die Schiffe dorthin fahren können. Ich glaube, da würde selbst bei der rotgrünen Koalition in Schleswig-Holstein keiner mitmachen. Damit macht man sich eher lächerlich. Statt dessen
Jürgen Koppelin
sollten wir die wenigen guten Argumente, die wir haben, vernünftig vortragen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Duftwässerchen, Zigaretten, Alkohol: Die erste Reaktion ist oftmals ein Lächeln - im Frühling vielleicht erwünscht. Trotzdem handelt es sich um ein sehr ernstes, nicht so einfach zu lösendes Problem.
Duty-free soll als Ergebnis der Einführung, der Umsetzung des europäischen Binnenmarktes abgeschafft werden. Eigentlich handelt es sich um Taxfree-Handel. Aber bereits bei der Frage, ob es sich tatsächlich um eine Steuersubvention handelt, sind die Zahlen sehr verschieden: Einerseits spricht man von 84 Millionen DM Steuerausfällen; andererseits versuchen die Befürworter nachzuweisen, daß es sich um einen sich selbst tragenden Wirtschaftszweig handelt.
Wenn das so ist, kann man das wohl nicht so einfach von der Hand weisen.
Abgesehen davon, daß gerade Butterfahrten schon fast den Rang von Freizeitveranstaltungen für Seniorinnen und Senioren haben - das ist durchaus nicht negativ zu werten -, geht es bei der Diskussion letztendlich um den Erhalt von Arbeitsplätzen. Hierzu muß ich sagen: Es erstaunt mich doch sehr, wenn ich in der Antwort der Bundesregierung auf eine Frage lese:
Amtliche Daten über die Anzahl der Arbeitsplätze im Tax-Free-Handel und zur Frage, wie viele Arbeitsplätze vom Auslaufen der Tax-FreeRegelung betroffen sein werden, liegen der Bundesregierung nicht vor.
Was ist das für ein politisches Handeln, wenn man nicht richtig weiß, was das Ergebnis einer Entscheidung sein wird, und sie trotzdem trifft?
Das geht wirklich nach dem Motto: Sie wollen nicht wissen, was Sie tun.
Wer argumentiert, Tourismus hänge nicht nur von Tax-free ab, mag ja recht haben. Es geht vor allem um den Erhalt von Naturlandschaften; es geht um infrastrukturelle Maßnahmen; es geht um Freizeitmöglichkeiten. Aber dazu gehören nun einmal auch tradierte Tourismusangebote. Insbesondere in den Küstenländern wie Mecklenburg-Vorpommern gibt es trotz Übergangsregelung kein Licht am Ende des Tunnels und keine Aussicht, daß dort in irgendeiner Weise Ersatzarbeitsplätze entstehen werden, ob 1999 oder im Jahre 2002. Das ist das Problem.
Es handelt sich um ein europäisches Problem. Am 1. Dezember 1997 waren in Brüssel viele Demonstranten mit Plakaten wie „Finanzminister + Monti = Arbeitslosigkeit" zu sehen. Das zeigt, daß es sich eben nicht nur um ein nebensächliches Problem handelt, welches von der Kommission schon abgehakt ist, sondern daß es um den Erhalt von Arbeitsplätzen geht.
Nun mögen Gegner der Regelung einwenden: Wenn man sich nur für alle Arbeitsplätze so stark machen würde! - Stimmt, wir sollten uns im Prozeß der europäischen Einigung für alle Arbeitsplätze stark machen. Aber dem ist nicht so. Ich würde mir wünschen, daß solche Vehemenz in Sachen Steuerharmonisierung auch dann eingesetzt wird, wenn es um den Kampf gegen Steuerschlupflöcher und legale Steueroasen geht. Wir tun das.
Aber die Frage des Tax-free zeigt, wie groß die Täuschung aller Fraktionen dieses Hauses ist; wir haben es heute früh bei der Maastricht-Diskussion erlebt.
Ich möchte hier noch einmal aus einer Antwort der Bundesregierung zitieren; schließlich führen wir hier eine Debatte, in der wir versuchen, uns im Parlament gegenseitig zu überzeugen, aber auch die Regierung zu überzeugen. Ich zitiere:
Im übrigen kann der Ministerrat nach dem EU- Vertrag selbst mit einem einstimmigen Beschluß die Kommission nicht zwingen, von ihrem Initiativrecht Gebrauch zu machen und einen Richtlinienvorschlag zur Verlängerung der Tax-FreeRegelung vorzulegen.
Das genau ist der Punkt: Wir können hier demokratisch beraten, wir können Beschlüsse fassen und die Regierung beauftragen, etwas zu tun, die Regierung kann in Brüssel entsprechend auftreten und handeln - aber es muß nichts passieren. Die Kommission ist an keine Weisung gebunden. Hier werden die ganz großen Demokratiedefizite sichtbar. Hier wird sichtbar, daß Sie sich mit Maastricht auch von einer aktiven Wirtschaftspolitik verabschieden; denn wir können hier als Parlament beschließen, was wir wollen: Es gibt keine realen Möglichkeiten, das auch tatsächlich umzusetzen.
Das ist ein Problem, worauf wir in der gesamten Debatte zu Maastricht verwiesen haben.
Das ist etwas, was Sie mit dem gemeinsamen Geld nicht lösen werden. Mit solch einer Regelung wie der Tax-free-Regelung stellt sich die Frage: Wie soll Wirtschaftspolitik gesamteuropäisch gemacht werden? Verabschieden wir uns hier nicht völlig von der Wirt-
Dr. Barbara Höll
schaftspolitik? Wo sind die großen Demokratiedefizite dieses Prozesses?
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Hauser.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schmitt, Sie haben hier schon einiges vorweggenommen, zum Beispiel die Klärung des Begriffes, über den wir hier diskutieren. Es geht hier also nicht um Duty-free, sondern um Tax-free. - Ich möchte das hier jetzt nicht belehrend sagen, liebe Frau Kollegin Kastner, sondern ich möchte hier nur den Sachverhalt erklären. - Diese Tax-free-Regelung begünstigt nur den Flug- und den Schiffsreiseverkehr innerhalb der Gemeinschaft. Davon zu unterscheiden ist der Reiseverkehr mit Drittländern. Dieser Reiseverkehr ist nicht von dem Auslaufen der Tax-free-Regelung betroffen. Hier bleibt es bei einer echten Duty-freeRegelung, das heißt also zoll-, verbrauch- und umsatzsteuerfreier Verkauf.
Auch geht es hier nicht, Frau Kollegin Höll, um Butterfahrten. Das habe ich in vielen Gesprächen mit den Betroffenen ein Stück weit dazugelernt. Die „Butterfahrten" sind nur ein minimaler Bestandteil dieser Ausflüge. Es sind echte Fährverbindungen, die hier betroffen sind.
Aus den bisherigen Wortbeiträgen wurde schon deutlich, daß es hier natürlich unterschiedliche Auffassungen gibt: zum einen von der sachlichen Seite her, zum anderen natürlich unter dem Gesichtspunkt Arbeitsplätze. Das müssen wir sehr ernst nehmen. Lassen Sie mich deshalb diese beiden Bereiche einmal darstellen: zum einen das, was die Kommission sagt, zum anderen die Haltung der Bundesregierung dazu.
Mit der Einführung des Binnenmarktes im Jahre 1993 haben Reisende grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, für ihren Eigenbedarf im Erwerbsland versteuerte Waren unbeschränkt über die Grenzen der Mitgliedstaaten zu verbringen. Von diesem Zeitpunkt an gab es - darin waren sich das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission einig - keine steuerpolitische Rechtfertigung für einen Tax-freeHandel mehr. Der Ecofin-Rat hatte im November 1991 entschieden, lediglich für eine Übergangszeit von sechseinhalb Jahren ab Beginn des Binnenmarktes weiterhin Tax-free-Verkäufe zuzulassen. Damit sollte der Branche - auch zugunsten der Beschäftigten - ermöglicht werden, neue Geschäftsfelder zu erschließen und sich umzuorientieren. Inwieweit das tatsächlich möglich ist, ist natürlich eine zweite Frage.
Die Bestimmungen in den EG-Richtlinien sind so gefaßt, daß die Tax-free-Verkäufe zum 30. Juni 1999 auslaufen. Eine Änderung dieser Rechtslage könnte nur auf Vorschlag der Kommission und mit einstimmigem Beschluß des Rates der Europäischen Union herbeigeführt werden. Also beides: Vorschlag der Kommission und einstimmiger Beschluß des Rates.
Die Bundesregierung verkennt nicht, welche wirtschaftliche Bedeutung der Tax-free-Handel für bestimmte Branchen und Regionen hat. Wir haben das ja im Beitrag des Kollegen Olderog sehr deutlich gehört. Sie nimmt die Sorgen der Betroffenen sehr ernst, wenn es um die Zukunft ihrer Arbeitsplätze, insbesondere in einer strukturschwachen Küstenregion, geht.
Die EU-Kommission nimmt jedoch in der Frage der Verlängerung der Tax-free-Regelung eine eindeutig ablehnende Haltung ein. Sie hat dafür im wesentlichen drei Gründe:
Erstens. Das Auslaufen der Tax-free-Regelungen sei sachlich begründet. Mit der Schaffung des Binnenmarktes und dem Wegfall der europäischen Binnengrenzen habe der Tax-free-Handel keine Berechtigung mehr. Im Reiseverkehr erfolge die Besteuerung von Waren abschließend im Erwerbsland.
- Frau Kollegin Steen, ich zitiere hier die Meinung der Kommission. -
Es sei mit dem Binnenmarkt nicht vereinbar, daß man bei Flugreisen von München nach Paris steuerfrei einkaufen könne, diese Regelung aber bei einem Flug von München nach Berlin nicht gelte.
Und warum dürfe bei Flügen von München nach Paris steuerfrei eingekauft werden, nicht aber bei Zugoder Busreisen zwischen beiden Staaten?
Zweitens sagt die Kommission bezüglich der Wettbewerbsverzerrungen, daß die einseitige steuerliche Subventionierung der Tax-free-Branche nicht gerechtfertigt sei. Das Umsatz- und Verbrauchsteuerrecht sei wettbewerbsneutral zu gestalten, um den Einzelhandel sowie die mit dem Flug- und Schiffsverkehr konkurrierenden Verkehrsträger nicht weiter zu benachteiligen; denn diese müssen ihre Waren ja versteuert anbieten.
Zum dritten sagt die Kommission, daß es keine neuen Argumente in dieser aktuellen Diskussion gebe. Gerade im Hinblick auf die schon damals vorgetragenen Argumente wurde die ausgesprochen lange Übergangsfrist von sechseinhalb Jahren gewährt, um der Branche die Umstellung zu erleichtern. Die Kommission erwarte deswegen von dieser
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
Branche, daß sie diese Frist nun auch aktiv und konstruktiv nutze.
Zuletzt bekräftigten Kommissar Monti und Kommissionspräsident Santer auf den Ratstagungen der Wirtschafts- und Finanzminister im Januar und im März dieses Jahres die ablehnende Position der Kommission.
Die Haltung der Kommission ist sehr wichtig; denn ohne eine Initiative der Kommission ist eine Verlängerung dieser Regelung nicht möglich. Ich habe es bereits erwähnt: Wir brauchen auch einen einstimmigen Beschluß sämtlicher 15 Mitgliedstaaten. Aber selbst - das hat Frau Höll sehr richtig zitiert, das ist so im EG-Vertrag festgehalten - bei einem einstimmigen Ratsbeschluß kann die Kommission nach dem EG-Vertrag nicht gezwungen werden, von ihrem Initiativrecht, das nur ihr alleine zusteht - so ist der Vertrag nun einmal konstruiert -, Gebrauch zu machen und einen Vorschlag zur Verlängerung der Tax-freeRegelung vorzulegen.
Die Bundesregierung nimmt den Beschluß des Bundestags vorn 5. Juni 1997, der eine Verlängerung der Tax-free-Regelung fordert, sehr ernst. Wir haben uns immer aktiv dafür eingesetzt.
Die Bundesregierung hat in mehreren Gesprächen, und zwar in der Person des Finanzministers, mit hochrangigen Vertretern der EU-Kommission versucht, die Möglichkeiten für eine Verlängerung der Tax-free-Regelung auszuloten. - Wenn Sie, Frau Steen, fragen, wo die Schreiben an die Finanzminister der anderen Länder sind, dann frage ich Sie natürlich, wo die Schreiben der anderen Finanzminister an uns sind. Bis jetzt sind wir die einzigen, die sich in dieser Form eingesetzt haben. Das möchte ich einmal sehr deutlich sagen. -
Zuletzt hat der Bundesfinanzminister am 9. März dieses Jahres bei der Tagung des Ecofin-Rates den Kommissions-Präsidenten Santer auf das Problem angesprochen und auch hier eine ablehnende Haltung vorgefunden.
Jetzt möchte ich Ihnen auch sagen, was ich beigetragen, was ich gemacht habe. Neben meinen vielen Gesprächen mit Verbänden und mit Kommissar Monti habe ich ihm neuerlich einen Brief geschrieben, um weitere Ansatzpunkte für eine Lösung zu finden. Ich habe ihn gebeten
- liebe Frau Steen, hören Sie doch einmal zu! -, auf folgende Fragen einzugehen: Erstens. Wurde im Zusammenhang mit dem Beschluß des Ecofin-Rates zum Auslaufen der Tax-free-Regelung Mitte 1999 ein Gutachten über die Auswirkungen der Abschaffung der Tax-free-Regelung in Aussicht gestellt, was immer behauptet wird? Zweitens. Wurde der Beschluß über die Befristung bis Mitte 1999 verknüpft mit der
Erwartung, daß bis zu diesem Zeitpunkt eine Harmonisierung der Umsatz- und Verbrauchsteuern in der EU erreicht sei? Auf diese beiden Fragen habe ich bisher noch keine Antwort bekommen. Wenn sie vorliegt, stelle ich sie selbstverständlich auch Ihnen zur Verfügung.
Das EU-weite Gutachten, das die EU-Verkehrsminister angefordert haben, ist bereits erwähnt worden. Die Kommission hat hier auf Hilfsmöglichkeiten - beispielsweise Strukturhilfefonds der Gemeinschaft -, die zur Umstellung beitragen könnten, hingewiesen.
Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin aktiv einsetzen, urn den Beschluß des Bundestages, insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Arbeitsplatzverluste, umzusetzen. Ich habe Ihnen aufgezeigt, wie stark die Position der Kommission ist. Wir können das nicht gegen, sondern nur mit dieser Kommission erreichen.
Liebe Frau Steen, hören Sie auch jetzt wieder zu, damit Sie nicht hinterher sagen, das hätten Sie nicht gewußt: Ich greife aus diesem Grund den Vorschlag von Herrn Dr. Olderog, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Tourismus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf und biete an, mit einer Delegation von Abgeordneten des Bundestages zu dem zuständigen EU-Kommissar Monti zu fahren, um ihn nochmals auf das Thema anzusprechen,
es mit ihm zu diskutieren und ihn nachdrücklich auf die Auswirkungen des Auslaufens der Tax-free-Regelung aufmerksam zu machen, um - möglicherweise - eine Meinungsänderung zu erreichen. Ich bitte Sie, dieses Angebot anzunehmen und mich dorthin zu begleiten.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jelena Hoffmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal muß ich folgendes sagen: Wir hätten uns diese Aktuelle Stunde sparen können, wenn die Bundesregierung nicht wieder einmal verschlafen hätte.
Die Entscheidung der Europäischen Kommission, zum 30. Juni 1999 den zollfreien Handel abzuschaffen, ist auf harten Widerstand gestoßen, da die Aufhebung der Duty-free-Regelung gravierende Folgen für die betroffenen Branchen und Regionen hätte. Das haben hier schon alle bestätigt.
Der Internationale Duty-free-Verband hat errechnet, daß europaweit etwa 140 000 Arbeitsplätze mit dem abgabefreien Verkauf verbunden sind, davon allein 5 700 in der deutschen Küstenregion. Der Umsatz in diesem Bereich betrug in Deutschland im Jahr 1996 1,4 Milliarden DM. Diese Erlöse aus dem zollfreien Einkauf, die zum Beispiel Reedereien erzielen, tragen im Rahmen einer Mischkalkulation wesentlich
Jelena Hoffmann
dazu bei, die Fährpreise niedrig zu halten. Damit werden die Ausflugsfahrten für breite Bevölkerungsschichten kostengünstiger gestaltet; auch die Transportleistungen können preisgünstiger angeboten werden. Ebenso profitieren der Einzelhandel, die Gastronomie und Hotels in den betroffenen Regionen stark vom Duty-free-Handel. Auch in diesem Bereich wäre eine Änderung bestehender Verhältnisse verheerend.
Ich möchte meine Aussagen mit einigen weiteren Zahlen untermauern: Auf den Ausflugsschiffen betragen die Einnahmen aus dem zollfreien Handel bis zu 85 Prozent der Gesamteinnahmen. Es ist dort mit einer Reduzierung der Beschäftigten um bis zu 90 Prozent zu rechnen. Die Fährdienste und die Personenschiffahrt müßten reduziert, einzelne Routen aufgegeben werden. Eine Abschaffung des zollfreien Handels hätte zur Folge, daß die Flugpreise um 10 Prozent - die der Chartergesellschaften um 20 Prozent -, die Fähr- und Schiffspreise gar um 30 Prozent erhöht werden müßten. Die Steuerausfälle durch den Verkauf zollfreier Waren sind geringer einzuschätzen als die Kosten von Arbeitslosigkeit. Vor allen Dingen Frauenarbeitsplätze sind betroffen.
Die Werftindustrie hat versichert, daß neue Aufträge für Fährschiffe stark von der Entscheidung abhängen, ob auch weiterhin mit einem Duty-free-Handel zu rechnen ist.
Bei der Art und Weise, wie diese Bundesregierung - besonders Finanzminister Dr. Waigel - mit Beschlüssen dieses Hohen Hauses umgeht, kann ich allerdings nur den Kopf schütteln. Der Ausschuß für Wirtschaft als federführender Ausschuß hat in seiner Sitzung am 16. April 1997 mit großer Mehrheit einer Entschließung zugestimmt, in der gefordert wird, den Duty-free-Handel über das Jahr 1999 hinaus aufrechtzuerhalten. Der Deutsche Bundestag hat dieser Beschlußempfehlung am 5. Juni 1997 mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS zugestimmt.
Unser Bundesfinanzminister hätte diese Entscheidung des Parlaments den EU-Gremien mitteilen und dieses Votum unterstützen müssen.
Was tat er? Nichts! So geht ein Bundesminister mit den Entscheidungen des Deutschen Bundestages um!
Dem Wirtschaftsminister Dr. Rexrodt scheint ebenfalls nichts an dieser Angelegenheit zu liegen; denn sonst hätte er im Bundeskabinett auf eine Entscheidung im Sinne der deutschen Wirtschaft drängen müssen. Oder liegt es an den Schwierigkeiten der CDU/CSU und der F.D.P. im Umgang miteinander? Vielleicht liegt es auch nur daran, daß die Bundesregierung konzeptionslos reagiert, was an dieser - ich hätte beinahe gesagt: einfachen - Sache wieder einmal deutlich wird.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Lamp.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach ernstzunehmenden Untersuchungen wären europaweit deutlich über 100 000 Arbeitsplätze gefährdet, wenn die derzeit gültigen Regelungen zum Tax-free-Handel entsprechend den 1992 beschlossenen EG-Vereinbarungen geändert würden.
In Deutschland wären hiervon - wir haben es gehört - auf Flughäfen, Fähr- und Ausflugsschiffen und in deren Umfeld über 10 000 Arbeitsplätze betroffen, davon im norddeutschen Küstenraum 5 700 Arbeitsplätze, hier überwiegend im Zusammenhang mit den sogenannten Butterfahrten, dem Verkauf steuerbefreiter Ware auf See. In den strukturschwachen norddeutschen Regionen bieten sich - anders als in manch anderen Gegenden Deutschlands - kaum Alternativen für die um ihren Arbeitsplatz bangenden Menschen.
Über 16 000 Arbeiter und Angestellte gingen einst täglich durch die Tore der Howaldt-Werft in Kiel zur Arbeit. Heute sind es gerade noch 3 300 Mitarbeiter, die hier mit Reparatur und Schiffsneubau beschäftigt sind. Daß der Tax-free-Handel auf See mittlerweile über 1 000 Menschen mehr Arbeit und Brot bietet als die größte deutsche Werft, ist sicher beeindruckend. Aber offensichtlich sind Umfang und Tiefe der Betroffenheit vor Ort manchen Kollegen hier im Parlament nicht deutlich geworden.
Deshalb möchte ich an Hand eines ganz konkreten, nachvollziehbaren Einzelbeispiels ein plastisches Bild der tatsächlichen Lage an der Küste vermitteln.
Vor einigen Stunden ist die „Fair Lady" wieder in den Kieler Hafen eingelaufen. Das schmucke, weiße Fahrgastschiff mit 800 Sitzplätzen verließ - wie an jedem Werktag - heute vormittag den Fördehafen mit Ziel Marstal, Dänemark. Am Kai warteten heute nachmittag Busse auf die ankommenden Passagiere, die nicht nur einen erlebnisreichen Tag auf See genießen konnten, sondern dank der Tax-free-Regelung Gelegenheit hatten, sich mit preiswerter Kosmetik und anderem zu versorgen.
Auf der „Fair Lady" sind zirka 30 Personen beschäftigt. Die Schiffsbesatzung ist zu etwa gleichen Anteilen wie die anderen 2 200 Mitarbeiter auf deutschen „Butterschiffen" in verschiedenen Bereichen tätig: 46 Prozent Seeleute, 37 Prozent Küchen- und Servicepersonal, 15 Prozent Verkaufspersonal und 2 Prozent andere Hilfskräfte. Tag für Tag werden Passagiere aus nah und fern zur „Fair Lady" nach Kiel gefahren - pro Jahr insgesamt 140 000.
Helmut Lamp
Diese Aufgabe übernehmen 30 Busunternehmen aus der Region. Eines dieser Busunternehmen ist der Betrieb Ruser aus Schönberg. Allein dieses Busunternehmen hat zwei Mitarbeiter überwiegend oder ausschließlich zur Bedienung der Butterfahrten mit der „Fair Lady" abgestellt.
Der Schiffsausrüster Pretorius aus Kappeln beliefert die „Fair Lady" und andere Schiffe mit den steuerbegünstigten Verkaufswaren. Die Firma würde bei Einstellung der Butterfahrten von ihren 40 Mitarbeitern 35 freisetzen müssen.
Die Hafenverwaltungen an der Kieler Förde bezahlen Gehälter und Löhne unter anderem auch aus den Hafengebühren der „Fair Lady" - immerhin 300 000 DM pro Jahr. 200 000 DM stellt die Lindenauwerft Kiel-Holtenau der Reederei jährlich für anfallende Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten am Schiff in Rechnung.
Viele weitere Arbeitsplätze der Küstenregion Kieler Bucht wären indirekt betroffen, würde die „Fair Lady" nicht mehr zur steuerbegünstigten Einkaufsfahrt auslaufen dürfen. Dazu zählen der Einzelhandel und das Gastgewerbe an Land - wir haben es gehört -, aber auch das Beherbergungsgewerbe wäre in erheblichem Umfang betroffen, haben sich doch die Butterfahrten längst zu einem regionaltypischen Touristikangebot entwickelt, das für viele Familien bei der Wahl des Urlaubsortes eine gewichtige Rolle spielt.
Allein bezogen auf das Fahrgastschiff „Fair Lady", würden bei Einstellung der Butterfahrten weit über hundert Personen in die Arbeitslosigkeit geschickt werden, Personen, die ich zum Teil sogar namentlich benennen kann, die ich persönlich kenne. Dies sind Arbeitsplätze, für die Steuern und Sozialabgaben bezahlt werden, Arbeitsplätze, die die Arbeitsämter nicht belasten.
10 000 Arbeitsplätze sind in Deutschland akut gefährdet, mit unterschiedlichen weiteren Konsequenzen. Eine Einschränkung des Tax-free-Handels auf Flughäfen würde den Flugverkehr insgesamt nicht ernsthaft gefährden; die Abschaffung der Tax-freeRegelungen für Butterschiffe hätte jedoch die Verschrottung der „Fair Lady" und anderer Butterschiffe zur Folge.
Vor uns, liebe Kollegen, liegt noch ein sehr mühsamer Weg bis zur erfolgreichen Änderung des EG-Beschlusses von 1992.
Liebe Kollegen von der SPD, wir sollten aufhören mit dem Unsinn, zu behaupten, die Bundesregierung habe bisher nichts getan, und hier nur vorbereitete Reden abzulesen. Wir haben gerade von dem Staatssekretär gehört, wie sich die Bundesregierung einsetzt. Wir sollten vielmehr ernsthaft alle gutwilligen politischen Kräfte bündeln und koordinieren. Wir müssen gemeinsam und geschlossen, zielgerichtet und unbeirrt für den Erhalt der Arbeitsplätze an der Küste und im Binnenland kämpfen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor dem Hintergrund einer mangelnden Steuerharmonisierung in der EU gibt es weder eine rechtssystematische noch eine binnenmarktpolitische Notwendigkeit, jetzt eine Branche, die sich selbst trägt, zu vernichten.
Meine Damen und Herren, es ist fünf Minuten vor zwölf, und darum auch die Aktuelle Stunde heute an dieser Stelle; denn es stellt sich schon die Frage: Was können wir als Parlamentarier, was kann die Bundesregierung tun, um das zu verhindern, das heißt, um den Beschluß des Bundestages umzusetzen?
Richtig ist, daß das auf EU-Ebene ein sehr schwieriger Prozeß ist. Zum einen muß ein einstimmiger Beschluß des Europäischen Rates herbeigeführt werden - das braucht viel Überzeugungsarbeit -, zum anderen hat in dieser Sache die Europäische Kommission das alleinige Initiativrecht, und auch sie muß von der Notwendigkeit überzeugt werden.
Das Parlament hat nur sehr geringe Chancen. Es kann die Kommission auffordern, Vorschläge zu machen. Es hat keinen Einfluß auf die Vorschläge. Im Juni findet aber eine Parlamentsdebatte dazu statt. Das heißt, auch das Europäische Parlament nimmt sich dieser Sache an. Unter den Parlamentariern gibt es auch, um das deutlich zu sagen, einen Verbund der Küstenregionen, und ich hoffe, daß wir hier noch ein ganzes Stück weiterkommen.
Meine Damen und Herren, die Zahlen der betroffenen Arbeitsplätze sind genannt worden. Ich möchte besonders auf die im Verkehrsbereich hinweisen. Für sie gibt es, wie richtig gesagt wurde, keine Alternative. Wenn wir wissen, daß die Fährpreise um 30 Prozent erhöht werden, und wenn wir wissen, daß viele Fähren nur noch fahren können, weil sie Tax-free an Bord haben - das ist ja nicht zu verheimlichen, das ist völlig klar -, müssen wir davon ausgehen, daß viele Fähren ihre Linien einstellen werden. Damit haben wir auch ein verkehrspolitisches Manko zu verzeichnen, denn die Verlagerung von Gütertransporten „from road to sea" wird damit wieder einen Schritt zurück gehen und keinen Schritt voran.
Allein 19 Fährverbindungen von England, Irland und Deutschland wären davon direkt betroffen; in der gesamten EU wären es 25 bis 30 Fährverbindungen.
Das betrifft natürlich auch die großen Passagierschiffe auf der Ostsee. Es betrifft ganz klassische Routen zum Beispiel zwischen Kiel/Laboe und Marstal/Öro und auch die Linie zwischen Eckernförde und Sonderburg. Sie werden genauso eingestellt wie die Ausflugsfahrten rund um Helgoland, die heute noch möglich sind. Ein Kuriosum am Rande: Die Zollfreiheit Helgolands ist nicht bedroht; denn für die EU bleibt diese Insel Zollausland. Vielleicht können wir
Annette Faße
alle Schiffe umleiten: auf nach Helgoland! Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, wenn wir unser Ziel nicht erreichen.
Zur Zeit wagt es keine Reederei, neue Fährschiffe in Auftrag zu geben, weil deren Konzeption ganz entscheidend davon abhängt, ob weiterhin Dutyfree-Verkäufe zugelassen werden oder nicht. Für unsere Werftindustrie sind die Auswirkungen sehr groß.
In meinem Wahlkreis Cuxhaven sind beim Reeder Cassen Eils, der zwei Schiffe in der Ostsee betreibt, 80 Arbeitsplätze gefährdet; denn er wird diese beiden Fährlinien einstellen. Das sind Arbeitsplätze an der Küste, für die es keinen Ersatz gibt. Da kann man nicht fordern, daß die Verbände sich hätten bewegen müssen. Man kann sich nicht bewegen. Es gibt keine Alternative für diese vielen Menschen, auch für die 80 bei uns vor Ort.
Jetzt muß man sich natürlich fragen, ob Verkehrsminister Wissmann, den das eigentlich angehen müßte, auf EU-Ebene die Initiative ergriffen hat. Das hat er nicht gemacht. Es war die irische Verkehrsministerin, die auf der letzten Tagung, am 17. März, die Kommission nachdrücklich aufforderte, die vom Rat bereits im vergangenen Jahr in Auftrag gegebene Studie über die Auswirkungen endlich durchführen zu lassen. Daß Herr Wissmann dies dann unterstützt hat, ist ja ganz nett. Aber nicht einmal im Bericht vor dem Verkehrsausschuß tauchte der Name „Wissmann" auf; die Irländerin wurde genannt. Ich frage mich: Wie groß ist eigentlich sein Engagement?
Meine Damen und Herren, Deutschland sollte sich an die Spitze des Zuges setzen. Die anderen Länder erwarten das von uns. Der Widerstand hat sich schon formiert: 5000 Transportarbeiter haben in Brüssel demonstriert. Man kann sich fragen: Warum hatten die EU-Kommissare keine Zeit für die Transportarbeiter? Möglicherweise machten sie zu der betreffenden Zeit gerade eine Pause mit ihren EU-Beamten, um eine steuerfrei erworbene Zigarette zu rauchen. Die Eurokraten dürfen nämlich alljährlich für 1800 belgische Francs steuerfrei Schnaps und Zigaretten einkaufen,
eine Regelung, die von der Abschaffung des Dutyfree-Verkaufs unberührt bleibt. Wie praktisch!
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein interessantes Spannungsfeld, in dem wir uns heute befinden. Man muß sich nur einmal die formalistischen Rahmenbedingungen und das, was in den EWG- Richtlinien - Umsatzrichtlinie - dazu geschrieben steht, anschauen: Befreiung nur für den Verkauf von Gegenständen, die nicht zum sofortigen Verzehr bestimmt sind, an Bord von Schiffen und Flugzeugen während einer innergemeinschaftlichen Beförderung.
Das ist zunächst einmal ganz formalistisch. Die Übergangsregelung wird zum 30. Juni 1999 auslaufen, gleichberechtigt in allen EU-Staaten. Daran könnte man keinen Anstoß nehmen. Wenn man die Lage aber differenziert betrachtet, dann sieht man schon, daß es sich hier um ein Stück historisch gewachsenes touristisches Angebot handelt. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir die Lage gesamtheitlich beurteilen wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich dann höre, Frau Faße, daß Sie sogar Linien zwischen Kiel und Laboe unter die Tax-free-Verkäufe und die touristischen Angebote einordnen wollen,
dann ist das vielleicht doch etwas zu eng gegriffen.
Als Politiker, der für seine Heimat MecklenburgVorpommern etwas erreichen möchte, denke ich an die großen Fährlinien der DFO. Insofern sind schon berechtigte Bedenken anzumelden. Frau Steen, ich muß Ihnen recht geben: Es ist einfach notwendig, daß man hier Alternativlösungen entwickelt oder die alten Bestimmungen einfach aufrechterhält.
Wir haben keine Harmonisierung innerhalb Europas im Bereich des Steuerrechts, gerade was die Branntwein- und die Tabaksteuer betrifft. Schauen Sie sich die Skandinavier an. Warum fahren sie denn so gerne mit unseren Fähren? Sie fahren immer die Königslinie von Saßnitz nach Trelleborg und zurück.
Ich will das gar nicht weiter ausdehnen.
Das sind natürlich auch Angebote, die dazu führen, daß Familienfeiern an Bord gemacht werden usw. Der Urlauber möchte hinaus auf die freie See, ob nun auf dem 17-Meter-Kutter oder der Finnjet. Wenn die Dreimeilenzone erreicht ist, öffnet der Kapitän den Shop, dann gibt es zoll- und steuerfreien Branntwein, dann kann der Tourist ein paar Geschenke mit nach Hause nehmen. Das ist doch irgendwie Atmosphäre, ein maritimes Ambiente, das wir nicht einfach so zerstören können.
Daran hängen Tausende von Arbeitsplätzen. Das ist völlig richtig berichtet worden; Herr Lamp hat das auch gesagt. Das geht bis hinunter in die Werften. Da sind die großen Butterschiffe, die ihre Tagesfahrten machen. Da müssen Übergangsregelungen kommen. Der Umsatz in diesem Geschäftsfeld beträgt 1 Milliarde DM im Jahr. Dazu werden die Einzelhändler zwar sagen, daß ihnen dies aus ihren Umsätzen herausgezogen wird, und wahrscheinlich würden 60 Prozent dieser Umsätze in der Tat auch anderweitig getätigt werden. Aber 40 Prozent sind indizierte Käufe, die von dem Reisenden, der das maritime Erlebnis haben möchte, über den eigentlichen Bedarf hinaus getätigt werden. Das führt letztendlich dazu, daß auch bei der Herstellung deutscher Produkte ein zusätzliches Steueraufkommen zu verzeichnen ist. Es kommen zusätzliche Lohn- und Gewerbesteuern herein, die auch den Gemeinden zugute kommen. Das
Werner Kuhn
muß man ganzheitlich betrachten. Ich glaube, wenn man es richtig durchrechnet, ist es ein Nullsummenspiel, bei dem auch für die Bundesrepublik Deutschland kein Schaden entsteht.
Natürlich muß man auch fragen, warum denn vergleichbare Angebote nicht auch in den südlichen Bundesländern möglich sind. Auf der Donauschifffahrtslinie sind solche Angebote im touristischen Bereich sicherlich auch einmal zu prüfen. Ich glaube, sie werden sogar schon gemacht.
Der Bodensee wäre für meine Begriffe die nächste Möglichkeit,
- ferner die Rheinschiffahrt.
Dann muß man auch einmal sehen, was die Nachbarn um uns herum machen. Die Österreicher haben die gleiche Mehrwertsteuer wie wir, 16 Prozent. Aber sie besteuern die Dienstleistungen in ihrem Restaurations- und Beherbergungsgewerbe - wir sind ja hier Tourismuspolitiker - nur mit 7 Prozent. Damit bringen sie letztendlich günstigere Preise, was unsere Unternehmen in Bayern und Baden-Württemberg belastet.
Bevor nicht eine Harmonisierung im Steuerrecht in ganz Europa richtig greift und alle vergleichbare Werte haben, können wir nicht einfach Knall auf Fall sagen, Duty-free, Tax-free laufen aus und sind kein touristisches Angebot mehr. Das betrifft Tausende von Arbeitsplätzen. Das können wir in MecklenburgVorpommern bei einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent nicht hinnehmen. Ich bitte daher, alles zu unternehmen, daß Möglichkeiten im Alternativbereich geschaffen werden bzw. eine Fortführung dieser Regelung über den 30. Juni 1999 hinaus erlaubt bleibt.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Susanne Kastner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die Debatte durch eine blühende Vielfalt gekennzeichnet. Ich bin wirklich fasziniert, Herr Kollege Olderog: Sie bringen hier eine richtige Analyse unserer Diskussionsgrundlage, sagen im Anschluß daran, schuld sei die EU - da gebe ich Ihnen auch ein Stück weit recht -, zugleich sagen Sie aber, wir sollten zufrieden sein, und die SPD sei schuld, weil sie eine Aktuelle Stunde beantragt, damit eine Mißstimmung hineinbringt und das dann in der EU nicht umgesetzt werden kann.
Herr Schmitt und Herr Koppelin weisen darauf hin, daß die Übergangsfristen vom Jahr 1992 an schließlich lang genug gewesen seien und die betroffenen Regionen sich hätten umstellen müssen. Ich möchte die beiden Kollegen nur einmal daran erinnern, daß sich im Jahr 1992 die Arbeitslosigkeit noch nicht in so schwindelerregender Höhe bewegt hat wie heute, so daß wir heute eine andere Ausgangslage haben, als wir sie damals hatten.
Der Kollege Lamp hat in sehr eindrucksvoller Weise - dafür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken - darauf hingewiesen, daß es dabei um menschliche Schicksale geht, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von Arbeitslosigkeit bedroht werden, und um deren Kinder. Auch der Kollege Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es eine Weiterführung geben muß.
Nun komme ich zu Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hauser, weil Sie gesagt haben, der Finanzminister bzw. das Finanzministerium und die Bundesregierung hätten sich mit Kraft dafür eingesetzt, daß dies in der EU vorangetrieben wird.
Es handelt sich - daran mag ich die anderen Kollegen noch einmal kurz erinnern - um einen einvernehmlichen Beschluß des Deutschen Bundestages, im übrigen auch mit Zustimmung der Grünen, auch wenn Herr Schmitt heute so getan hat, als hätte es keine Zustimmung der Grünen gegeben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe eine Aussage von Ihnen, daß Herr Dr. Theodor Waigel am Rande des Ecofin-Rates vom 9. März von der Kommission Aufschluß darüber verlangt habe, wie sie in der Taxfree-Frage weiter zu verfahren gedenke. Das ist nicht der richtige Weg, und das reicht nicht aus. Es geht um den Parlamentsbeschluß. Die Umsetzung dieses Parlamentsbeschlusses bedarf politischen Drucks, und zwar von allen Seiten.
Wenn Sie heute gesagt haben, daß Sie bereit wären, noch einmal mit einer Abordnung zur Europäischen Kommission zu fahren, mag eine unserer Forderungen erfüllt sein. Aber ich möchte trotzdem noch einmal darauf hinweisen, daß mir das Verhalten des Finanzministers in der Vergangenheit zuwenig war.
Nach dem Beitritt Österreichs zur EU hat sich das Bonner Finanzministerium sehr stark dafür eingesetzt, daß im Bereich der Binnenschiffahrt, speziell auf der Donau, der Verkauf von Duty-Free-Artikeln möglich sein wird. Das ist der richtige Weg. Wollte oder mußte der CSU-Vorsitzende in Bayern einmal wieder gefallen, oder gab es für das Bonner Finanzministerium dafür auch noch sachliche Gründe? Gab es als sachlichen Grund die Arbeitsplätze, die auf diese Weise gesichert werden sollten, oder gab es noch andere Gründe, nämlich den, die Qualität der Verkehrsträger, der Binnen- und der Personenschiffahrt auf der Donau, zu sichern? All dies soll hier plötzlich nicht mehr gelten. Ich kann das Ganze nicht verstehen.
Susanne Kastner
Wenn ich mir die Debatte der Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag anschaue, erinnert sie mich sehr an einen Eiertanz. Auch wenn bald Ostern ist: Beenden Sie diesen Eiertanz in der Öffentlichkeit, und setzen Sie sich für einen - so hoffe ich - gemeinsamen Parlamentsbeschluß mit dem Finanzminister dieser Republik ein. Ich weiß nämlich, daß es Tendenzen aus anderen Ländern gibt, die keinen Parlamentsbeschluß haben, wie England, dies in der EU massiv zu begleiten.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Aktuelle Stunde zum Duty-Free- und Tax-free-Handel gibt uns die Gelegenheit, über ein Segment der Wirtschaft, den Tourismus, zu debattieren, das nach wie vor in unserer volkswirtschaftlichen Betrachtung stiefmütterlich behandelt wird.
Als 1992 beschlossen wurde, den Duty-Free-Handel im innergemeinschaftlichen Reiseverkehr im Rahmen der europäischen Steuerharmonisierung mit einer Übergangsregelung 1999 auslaufen zu lassen, waren sich die Mitgliedsländer anscheinend noch nicht ausreichend der Tragweite dieser Entscheidung bewußt.
Heute steht fest: Allein im innergemeinschaftlichen Reiseverkehr - Fluglinien, Flughäfen, Fähren - erwirtschaftet der Duty-Free-Handel europaweit 5,1 Milliarden US-Dollar Umsatz. Der Umsatz innerhalb der Bundesrepublik Deutschland beträgt 528 Millionen US-Dollar.
Mit diesem Umsatz werden annähernd 10 000 Arbeitsplätze in ganz Deutschland direkt oder indirekt vom Duty-Free-Handel gesichert. 5 700 Arbeitsplätze schafft der Duty-Free-Handel in den strukturschwachen Küstenregionen an Nord- und Ostsee. Die Freie und Hansestadt Hamburg ist daran mit zirka 500 Arbeitsplätzen beteiligt.
Insofern stellt der Einkaufs- bzw. Shopping-Tourismus für die Küstenregionen ein regionalwirtschaftlich bedeutendes Segment des Tourismus, das leider immer wieder unterschätzt wird, dar. Dieser Wirtschaftszweig braucht zweifelsfrei mehr öffentliche und politische Zuwendung. Wir können, ja wir sollten heute einen Beitrag dazu leisten.
Im Laufe des heutigen Vormittags hat sich das Parlament mit den finanzpolitischen Aspekten der Europäischen Union beschäftigt. Ich bin der Überzeugung, daß das Thema „Verlängerung des Duty-FreeHandels" stärker unter den oben bereits angedeuteten regionalwirtschaftlichen und sozialpolitischen Aspekten diskutiert werden muß.
Das häufig vorgebrachte Argument, der DutyFree-Handel führe zu einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber dem Einzelhandel, lasse ich so nicht gelten. Ich möchte dies an einem Beispiel dokumentieren: Jeder Urlauber, der von Wyk auf der Insel Föhr eine Tagestour nach Helgoland unternimmt, kauft preiswert Zigaretten, Alkohol oder Parfum auf dem Schiff oder auf Helgoland. Dabei animieren erfahrungsgemäß die günstigen Preise, die Waren dieses Sortiments zu erwerben. Duty-Free-Handel ist also im wesentlichen ein Zusatzgeschäft, das maßgeblich durch seine besondere Einkaufskultur bestimmt wird.
Es ist meines Erachtens völlig weltfremd zu glauben, daß nach einer Abschaffung des Duty-FreeHandels kurzfristig die obengenannten Umsatzzahlen im übrigen Einzelhandel erreicht und die wegfallenden Arbeitsplätze dort kompensiert werden könnten. Vielmehr stellt der Duty-Free-Handel für die norddeutschen Küstenländer eine gewaltige Marketingmaßnahme dar, die den Freizeit- und Erlebniswert dieser deutschen Urlaubsregion deutlich erhöht.
Es geht innerhalb dieser Debatte um ein klares Zeichen für die Sicherung von Arbeitsplätzen innerhalb der Europäischen Union und in der Bundesrepublik Deutschland im besonderen. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sollten nicht verkennen, daß wir gerade jetzt im Rahmen der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung von Flensburg bis Berchtesgaden, von Saarbrücken bis Görlitz auf dem schwierigen Weg nach Europa vertrauensbildende Maßnahmen brauchen.
Es stünde der Politik in Brüssel gut zu Gesicht, wenn angesichts der neuen Erkenntnisse der Mut aufgebracht würde, zum Wohle von über 100 000 Arbeitsplätzen innerhalb der Europäischen Union gefällte Entscheidungen unbürokratisch zu revidieren.
Ich bitte Sie und die Bundesregierung, für eine verträgliche und konstruktive Lösung im innereuropäischen Kontext einzutreten. Geben Sie ein Signal für gelebte Solidarität in einem föderalen Bundesstaat. Unterstützen wir unsere norddeutschen Länder ohne Polemik und Parteipolitik, Frau Steen - darauf lege ich außerordentlich großen Wert -, erbringen wir einen Beitrag für den Erhalt des Shopping-Tourismus, und stärken wir den Wirtschaftszweig Tourismus! Was niemandem schadet, nützt allen.
Ich möchte zum Abschluß noch darauf hinweisen, daß wir als CDU/CSU-Fraktion den Vorschlag, den Herr Staatssekretär Hauser hier vorgetragen hat, ausdrücklich unterstützen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin! Es hat mir die Sprache verschlagen; ich bin heiser. Ich gebe meine Rede zu Protokoll.
Vielen Dank. Wir wünschen gute Besserung. - Als nächstes hat der Abgeordnete Wolfgang Börnsen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein unglücklicher Moment, wenn man eigentlich reden möchte, aber nichts sagen kann. Frau Lucyga, wir alle wünschen Ihnen gute Besserung und hoffen, daß es Ihnen bald wieder gutgeht.
Ich meine, daß die Debatte berechtigt ist und daß es notwendig ist, über Duty-Free zu debattieren; denn es gibt in der Bevölkerung - teilweise auch noch bei unseren Kollegen - viele Mißverständnisse, und viele wissen nicht, wie tief die Sorge Tausender von Menschen nicht nur in Norddeutschland ist, deren Arbeitsplätze von der Duty-Free-Regelung abhängig sind.
Susanne Kastner, das Argument trifft schon zu. Wir haben eine Ausnahmesituation. Bei allem Verständnis für ordnungspolitisches Vorgehen und für die Position, daß es in Europa eine Regelung geben muß, die für alle zutrifft, ist festzustellen: Angesichts der extrem hohen Arbeitslosigkeit in ganz Europa muß man sich überlegen, was besser ist, ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm oder eine Sicherung und Stabilisierung noch vorhandener Arbeitsplätze.
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat 1991 am Ende einer damaligen Duty-Free-Kontroverse während einer Debatte gesagt: Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist das beste Sozialprogramm für Rentner und Senioren; laßt es, wie es ist.
- Helmut Schmidt! Kollege Gerhard Stoltenberg aus Schleswig-Holstein sagte damals: Finanzpolitisch kann man nicht immer tragen, was dort passiert; aber Duty-Free nützt vielen und schadet niemandem.
Darüber waren sich die meisten auch einig. Wir haben die Situation, daß sich in dieser Frage die beiden großen Fraktionen, das Parlament und der Bundesrat - alle Länder - einig sind und alle quer durch die gesellschaftlichen Gruppierungen bis hin zum Deutschen Gewerkschaftsbund und zu den Industrie- und Handelskammern der Auffassung sind: In dieser besonderen Situation, in der wir leben, ist es verkehrt, die Fortführung der Duty-Free-Regelung aufzuheben. Das heißt, der Aufforderungscharakter für die Bundesregierung ist absolut gegeben.
Ich möchte - das muß man fairerweise tun - die Bundesregierung vor übertriebenen und pauschalen Angriffen in Schutz nehmen. Solche Angriffe sind nicht begründet. Es bestand ein Mangel an Informationen. Wer in den letzten sechs Monaten gehandelt hat, ist neben Irland ganz eindeutig die Bundesregierung gewesen.
Unser Problem wird es sein - denn der Schlüssel für eine Fortführung der Duty-Free-Regelung liegt in Brüssel -, auf europäischer Ebene tätig zu werden. Wir müssen zwei Dinge tun:
Erstens. Wir müssen die Kommission - besonders einen Kommissar - dazu bewegen, das rechtlich einzig mögliche Mittel, nämlich das Initiativrecht, wahrzunehmen, um damit eine Vorlage für die europäischen Finanzminister zu haben.
Zweitens. Wir müssen ebenso dafür sorgen, daß dieser finanzpolitischen Entscheidung 15 Länder einstimmig zustimmen. Leider haben wir in Skandinavien mit Dänemark und Schweden zwei Länder, die noch nein sagen. Das heißt, wer von uns will, daß in Europa 140 000 Arbeitsplätze gesichert werden, wer will, daß in Deutschland gut 6 000 Arbeitsplätze - ich gehe hierbei von der unteren geschätzten Zahl aus - von der Flensburger Förde bis zur Donau für eine bestimmte Zeit gesichert werden, der muß jetzt die Bundesregierung darin unterstützen, dies auf europäischer Ebene zu einem Thema zu machen, und zwar zu einem Thema, das bald zu lösen ist. Denn die ersten Entlassungen sind bereits vorgenommen worden.
Eine Bemerkung zum Schluß: Es geht nicht nur um Arbeitsplätze und Beschäftigung. Mein Kollege Lamp hat das deutlich gemacht. Es sind inzwischen umfangreiche Strukturen in Regionen entstanden, die keine Alternativen haben obwohl sie alles versucht haben. Wenn man diese Tax-free-Regelung jetzt beendet, dann brechen ganze Strukturen zusammen. Das können wir nicht wollen. Wir müssen jetzt handeln und für eine Fortführung sorgen.
Danke schön.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
- Drucksache 13/10241 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Berninger, Marieluise Beck , Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBAföG-Strukturreform dringender denn je - Drucksache 13/10278 -
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 227. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. April 1998 20869
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zwölfter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
- Drucksache 13/9515 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das Wort für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Bernd Neumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder haben am 18. Dezember letzten Jahres einen Kompromiß zur Ausbildungsförderung getroffen. Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir jetzt diskutieren, setzt diesen Kompromiß um. Die Verbesserungen, die die Bundesregierung jetzt vorschlägt, sind notwendig, um die Ausbildungsförderung zu stabilisieren. Sie berücksichtigt damit den Zwölften Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes und zieht hieraus Konsequenzen.
Mit diesem Anpassungsgesetz nimmt die Bundesregierung nicht die grundlegende Reform der Ausbildungsförderung vorweg. Wer behauptet - wie es im Antrag der Grünen geschieht -, die im Interesse der Studierenden vorgeschlagenen Regelungen besiegelten den Ruin des BAföG, hat entweder den Gang der Diskussion verschlafen oder will die Öffentlichkeit bewußt in die Irre führen.
Dieser Gesetzentwurf umfaßt im wesentlichen folgende Punkte: Wir erhöhen zum 1. Juli 1998 die BAföG-Bedarfssätze um 2 Prozent. Damit steigt der Förderungshöchstsatz beim BAföG von 995 DM auf 1010 DM. Bei Berücksichtigung des Kindergeldes stehen voll geförderten Studierenden dann mindestens 1230 DM pro Monat zur Verfügung.
Darüber hinaus werden die Freibeträge um 6 Prozent angehoben. Die Bundesregierung will dadurch die Gefördertenquote, die in den letzten Jahren in der Tat heruntergegangen ist, stabilisieren. Sie lag 1996 bei 24,7 Prozent. Damit erhält jeder vierte dem
Grunde nach förderungsberechtigte, Studierende Leistungen nach dem BAföG.
Außerdem passen wir die Sozialpauschalen an. So wird der Anstieg der Beiträge zur Sozialversicherung aufgefangen.
Der vorgelegte Gesetzentwurf ist auch ein Schritt in Richtung Hochschulreform. Mit dem neuen § 7 Abs. 1 a des Bundesausbildungsförderungsgesetzes sichern wir die Einführung von international vergleichbaren Studienabschlüssen, wie Bachelor und Master, für die Studierenden finanziell ab. Das sind klare Verbesserungen für die Studierenden. Man sollte sie auch aus wahltaktischen Gründen nicht kleinreden.
Ich sage das mit Blick auf die Stellungnahme des Bundesrates und mit Blick auf die wenig konstruktive Kritik, die von Teilen der Opposition laut geworden ist.
Dazu möchte ich vier Punkte anmerken.
Erstens. Die Bundesregierung hat sich auch in dieser Legislaturperiode trotz der angespannten Haushaltslage erfolgreich für Verbesserungen in der Ausbildungsförderung eingesetzt.
Die Ausbildungsförderung nach dem BAföG und dem Meister-BAföG war neben dem Kindergeld der einzige Bereich, in dem in der laufenden Legislaturperiode eine gesetzliche Leistung erhöht wurde.
Zweitens. Bund und Länder haben bislang kein Einvernehmen über eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung für Studierende erzielt. Es waren allerdings die Länder, meine Damen und Herren von der Opposition, die sich im Vorfeld der Beratung am 18. Dezember 1997 nicht auf die - auch aus ihrer Sicht - notwendigen strukturellen Veränderungen bei der Ausbildungsförderung haben einigen können.
Die Bundesregierung hat daraufhin in der Beratung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder am 18. Dezember 1997 erklärt, daß sie an der Absicht festhält, die Studienförderung im Sinne des sogenannten Bayern-Modells deutlich zu verbessern. Zur Herstellung einer größeren Verteilungsgerechtigkeit zwischen geförderten und nicht geförderten Studenten setzt sich die Bundesregierung mit der Unterstützung des Bayern-Modells dafür ein, daß das studienbezogene Kindergeld und die steuerlichen Kinder- und Ausbildungsfreibeträge für Studierende an bestimmte BAföG-Kriterien, wie zum Beispiel Leistungsnachweise, geknüpft werden.
Parl. Staatssekretär Bernd Neumann
Ich meine, das ist vertretbar und richtig.
Drittens. Das fortgeschriebene Drei-Körbe-Modell, das Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wohl präferieren, das auch die Mehrheit im Bundesrat zur Grundlage für eine Reform der Ausbildungsförderung machen will, sieht eine sogenannte elternunabhängige Förderung vor. Ich halte dies für ordnungspolitisch falsch und im übrigen auch finanzpolitisch für irreal;
die Realisierung dieses Drei-Körbe-Modells würde je nach Höhe der vorgesehenen Fördersätze entweder Einbußen für einkommensschwache Familien - wenn nicht mehr Geld zur Verfügung steht und das ganze kostenneutral sein soll - bedeuten, oder es würde, wenn man tatsächlich optimal nach diesem Drei-Körbe-Modell fördern wollte, für den Bund wie auch für die Länder unfinanzierbare Mehrausgaben mit sich bringen. Kostenneutral - Kostenneutralität wollen alle Finanzminister der Länder, auch die Finanzminister, die aus Regierungen kommen, an denen Grüne beteiligt sind - sind Verbesserungen der Studienfinanzierung mit Ihrem Drei-Körbe-Modell nicht zu bewerkstelligen.
Viertens. Die Kosten des Drei-Körbe-Modells würden noch weiter in die Höhe getrieben, wenn die von uns initiierten Regelungen des letzten, des 18. BAföG-Änderungsgesetzes, wie zum Beispiel die Umstellung auf verzinsliche Bankdarlehen bei Überschreiten der Regelstudienzeit, wieder zurückgenommen würden. Aus dem Antrag der Grünen geht hervor, daß dies wieder korrigiert werden soll, Herr Kollege Berninger. Angesichts der angespannten Haushaltslage des Bundes und der Länder ist es wirtschaftlich geboten, aber auch gerechtfertigt, daß eine moderate Eigenbeteiligung, wie sie die Ausbildungsförderung in Form eines verzinslichen Bankdarlehens bei Überschreitung der Förderungshöchstdauer darstellt, gefordert wird. Ich meine, das ist vertretbar. Wahrscheinlich ist das sogar viel angenehmer und gerechter als das Modell der Grünen, Herr Berninger, mit dem Sie denjenigen, die ein Studium abgeschlossen haben, eine fast lebenslängliche Akademikersteuer überstülpen wollen. Ich weiß nicht, ob dies im Interesse der Studenten und der späteren Akademiker ist.
Im übrigen ist es in sozialen Härtefällen, also bei Schwangerschaft, Betreuung eigener Kinder und dem Vorliegen anderer Kriterien, bei der Zuschußförderung alter Art geblieben.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf, bei dem es in der Tat ausschließlich um die Erhöhung der BAföG-Bedarfssätze und um eine deutliche, nämlich um eine 6 prozentige, Erhöhung der Freibeträge geht, ist auf einen Konsens zwischen dem Bundeskanzler und den Regierungschefs aller Länder zurückzuführen. Deshalb gehe ich davon aus, daß dieser Gesetzentwurf, der die soziale Lageder Studenten verbessert, trotz Wahlkampfes die Zustimmung des gesamten Hauses finden wird.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Doris Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bewegend, daß eine solche Mininovelle wie der Entwurf eines 19. BAföG- Änderungsgesetzes in erster Lesung so ausgiebig mit einer Staatssekretärsrede gefeiert wird. Dieser am 18. Dezember 1997 als Ersatz für die auf Eis gelegte BAföG-Strukturreform zwischen den Regierungschefs von Bund und Ländern vereinbarte Minianpassung um zwei Prozent bei den Bedarfssätzen und sechs Prozent bei den Freibeträgen - unter Anrechnung übrigens von einem Prozentpunkt, der bereits im Rahmen der 18. Novelle für 1998 beschlossen war -, verträgt das Feiern nicht.
Sie ist, wie auch der Zwölfte Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes beweist, unzureichend, auch wenn dies ein Durchbrechen der Koalitionslinie ist, in dieser Wahlperiode überhaupt keine Leistungsverbesserungen bei Sozialgesetzen vorzunehmen. Von einer Verbesserung für die Studierenden und ihre Eltern kann schon deshalb keine Rede sein, weil bei der Einkommensberechnung das 1996 angehobene Kindergeld zum Tragen kommt und für viele dann in Wirklichkeit eine weitere Absenkung beim BAföG zu verzeichnen ist.
Wir setzen uns dennoch für eine rasche parlamentarische Beratung ein, um die Ausbildungsförderung während der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung - Sie haben das dankenswerterweise angesprochen, Herr Staatssekretär Neumann - nicht vollends zum Ausbluten zu bringen. Ein Absinken der Gefördertenquote auf jetzt teilweise schon 15 Prozent haben Sie ja als Bilanz Ihrer BAföG-Verhinderungspolitik bis heute schon zu verzeichnen.
In ihrer Stellungnahme zu den Vorschlägen des Bundesrates - Sie haben sie zum Teil gerade noch wiederholt - führt die Bundesregierung dazu aus - und das muß ich zitieren, das schmeckt so, wenn man es hier vorträgt -:
Diese Ausgestaltung nimmt auch im europäischen Vergleich der Ausbildungsförderung, z. B. mit Großbritannien oder anderen vergleichbaren Industriestaaten, einen eindeutigen Spitzenplatz ein.
Doris Odendahl
Und weiter:
Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit trotz der angespannten Haushaltslage stets mit Erfolg für Verbesserungen in der Ausbildungsförderung eingesetzt.
Deshalb weist sie die Unterstellung der Mehrheit des Bundesrates,
- übrigens: es war der gesamte Bundesrat, Herr Staatssekretär Neumann -
sie habe eine drastische Absenkung des Förderniveaus beabsichtigt, entschieden zurück.
Also, was gilt denn nun? Wenn nicht beabsichtigt, so wären die in der Studie enthaltenen Zahlen Ihrer Finanzplanung ja fahrlässig.
Ich wollte Ihnen diese Zitate Ihrer eigenen Stellungnahme nicht ersparen; nicht um hier eine Lachnummer auszuweisen, sondern um zu fragen,
ob Sie auch während der Studentenproteste im Winter damit um Verständnis für Ihre Politik geworben haben.
- Ach, ich lächle Sie sehr oft an, aber nicht bei diesem Thema.
Schon während Sie die Verhandlungen der BundLänder-Arbeitsgruppe für eine BAföG-Strukturreform verschleppt und behindert haben, wurde von uns mit Nachdruck gefordert, daß die Einschränkungen der 18. Novelle - Auslandsförderung, Gremienarbeit, Fachrichtungswechsel, Studienabschlußförderung - zurückgenommen werden, und zwar bei erster Gelegenheit. Die Gelegenheit zur BAföG-Strukturreform wird in dieser Legislaturperiode nicht mehr zustande kommen. Sie haben sie durch Ihre Reformunfähigkeit in den Sand gesetzt.
Die Bereitschaft der Länder zur Umsetzung des in der Arbeitsgruppe untersuchten Drei-Körbe-Modells war und ist vorhanden. Die SPD wird in der nächsten Wahlperiode dieses Reformmodell mit eigener Mehrheit verwirklichen. Dies ist Bestandteil unseres Wahlprogramms, und die Wählerinnen und Wähler werden darüber entscheiden. Sie werden darüber entscheiden, ob Chancengleichheit weiterhin Richtschnur unserer Bildungspolitik bleibt.
Wir werden - keine Sorge - diese Minimalanpassung weder aufhalten noch ihr die Zustimmung versagen, weil wir wollen, daß diese 260 Millionen DM pro Jahr dem BAföG-Topf und somit einer künftigen Finanzmasse für unsere Strukurreform erhalten bleiben und Sie diese - es tut mir leid, das sagen zu müssen - nicht auch noch vergeigen.
Allerdings halte ich es dann auch für notwendig, daß Sie dem seit Januar im Ministerium vorliegenden Vorbericht zur 15. Sozialerhebung umgehend dem Ausschuß für die anstehenden Beratungen zuleiten und ihn nicht erst dann, wenn der Bundestag seine Beratungen abgeschlossen hat, der Öffentlichkeit mit entsprechenden Kommentaren vorstellen.
Angereichert wird nun die heutige Debatte durch den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „BAföG-Strukturreform dringender denn je". Die Überschrift ist zutreffend, aber altbekannt. Der Antrag besteht aus sieben Seiten mit - das tut mir leid, Herr Berninger - falschen Beschreibungen und Feststellungen und einem Gesuch an die Bundesregierung - ich war ganz gerührt -, sie möge gefälligst ihren Teil der Verantwortung für die BAföG- Strukturreform übernehmen, die Verschlechterungen der 18. Novelle - daß es sie gibt, ist wohl wahr - in der 19. zurücknehmen und endlich einen eigenen Vorschlag für die Strukturreform vorlegen.
Was darin als Lösungsvorschlag angeboten wird, besagt im Klartext: Bündnis 90/Die Grünen - oder ist es nur der Kollege Berninger?; das würde es mir einfacher machen - verabschieden sich damit endgültig aus der gemeinsamen Verantwortung für die Studienfinanzierung und die Herstellung der Chancengleichheit. Sie übertreffen damit bei weitem alle Privatisierungspläne von Herrn Minister Rüttgers - tut mir leid, Herr Berninger, ich kann es Ihnen nicht ersparen -, so daß der Spruch leider zutreffend ist: Dann lieber Rüttgers als Berninger.
Sie riskieren damit leider den Vorwurf der Politikunfähigkeit. Ich kann Ihnen heute schon sagen:
Die SPD wird Ihren Antrag - zu meinem Bedauern auch gemeinsam mit der Regierungskoalition; das fällt mir besonders schwer - ablehnen.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Bärbel Sothmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Niedergang des
Bärbel Sothmann
BAföG", „die 19. Novelle besiegelt den Ruin des BAföG":
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen liest sich fast wie ein schlechtes Kriegsdrama.
Auch der Bundesrat gefällt sich in negativen Stellungnahmen. Wo sind seine konstruktiven Vorschläge zur Reform der Ausbildungsförderung? Wo ist ein gemeinsamer Gesetzentwurf der SPD-regierten Lander für eine BAföG-Strukturreform?
Die Lage in Sachen Ausbildungsförderung ist mehr als schwierig - nachzulesen im Zwölften Bericht nach § 35 BAföG.
Unbestreitbar ist der massive Ausgabenrückgang beim BAföG von 1991 bis 1996. Gleichzeitig sank die Gefördertenquote in dieser Zeit von 33,7 auf 24,7 Prozent der anspruchsberechtigten Studenten.
Es besteht dringender Handlungsbedarf; das wissen wir alle. Wir wissen seit langem: Wir brauchen die umfassende BAföG-Strukturreform; denn die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung brachten nur kleine Verbesserungen für die Studierenden.
Die Freibeträge und Bedarfssätze wurden aber bereits mehrfach in dieser Legislaturperiode erhöht; zunächst durch die 17. BAföG-Novelle um je 4 Prozent. Mit der 18. BAföG-Novelle stiegen die Freibeträge nochmals um 2 Prozent. Schon damals wollten wir eine BAföG-Strukturreform durchsetzen und dadurch eine massive Anhebung der Leistungen um je 6 Prozent zum Herbst 1996 erreichen. Das ist jedoch leider am Widerstand der Länder gescheitert.
Die Kritik von Bündnis 90/Die Grünen und dem Bundesrat an der 18. BAföG-Novelle ist dennoch nicht angebracht. Vor allem die Einführung eines verzinslichen Bankdarlehens nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer oder bei einem Zweitstudium war wirtschaftlich geboten und auch gerechtfertigt. Das können wir nicht rückgängig machen, ohne das BAföG insgesamt auf das höchste zu gefährden. Herr Staatssekretär Neumann hat bereits ausführlich darauf hingewiesen.
Auch der erneute Anlauf für eine umfassende BAföG-Reform hat noch nicht zum Erfolg geführt. Deshalb machen wir gemeinsam mit den Ländern diese 19. Novelle. Wir haben sie beschlossen und werden die Bedarfssätze zum 1. Juli abermals um 2 Prozent und die Elternfreibeträge um 6 Prozent erhöhen. Dadurch können wir die Förderquote - zumindest vorerst - stabilisieren. Damit haben wir insgesamt Leistungssteigerungen von 6 Prozent bzw. 12 Prozent seit Beginn dieser Legislaturperiode.
Das ist angesichts der knappen Kassenlage eine ganz gute Leistung.
Ein großer Pluspunkt der kleinen Novelle: In dem BAföG-Förderungskatalog werden die neuen internationalen Abschlüsse, Bachelor und Master, aufgenommen. Das ist ein Beitrag zur Hochschulreform.
Doch wir wissen alle: Die kleine Novelle ist nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer umfassenden BAföG-Strukturreform. Unser Ziel ist und bleibt eine größere Verteilungsgerechtigkeit unter allen Studierenden. In dieser Grundforderung sind wir uns sicherlich alle einig. Nicht einig sind wir uns allerdings über den Weg, der zum Ziel führen soll.
Das von Ihnen, der SPD, favorisierte fortgeschriebene Drei-Körbe-Modell ist eindeutig der falsche Weg, Herr Tauss. Es wirft zu viele rechtliche und gesellschaftliche Probleme auf und ist mit Mehrkosten von bis zu 2 Milliarden DM auf gar keinen Fall finanzierbar. Die Zahlung eines elternunabhängigen Sokkelbetrages an jeden Studierenden, egal ob bedürftig oder nicht, ist verfassungswidrig und gefährdet die soziale Gerechtigkeit. Dieses Modell widerspricht ganz klar dem Unterhaltsrecht im BGB, treibt geradezu einen Keil in die Familien und führt zum Abbau privater Verantwortung und zu mehr Staat.
Das Bayern-Modell dagegen verspricht verschiedene Vorteile. Es ist kostenneutral, sozial gerecht und stellt eine Reform innerhalb des bisherigen Systems dar.
Eltern sollen nach diesem Modell für ein studierendes Kind nur noch dann Kindergeld und den steuerlichen Kinder- und Ausbildungsfreibetrag erhalten, wenn es die BAföG-Leistungskriterien erfüllt.
Dadurch erwarten wir beim Familienleistungsausgleich Einsparungen von rund 470 Millionen DM. Diese Einsparungen müssen auf jeden Fall wieder dem BAföG zugute kommen. Ich appelliere eindring-
Bärbel Sothmann
lich an die zuständigen Minister, sich in diesem Sinne so schnell wie möglich zu einigen.
Fazit, meine Damen und Herren: Die 19. Novelle muß jetzt zügig verabschiedet werden, damit sie am 1. Juli wie geplant in Kraft tritt. Unsere Bemühungen um die große BAföG-Reform müssen mit allem Nachdruck fortgesetzt werden. Die Hochschulreform ist zügig durchzusetzen, um das Studium zu straffen und billiger zu machen.
Dadurch wird auch die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Absolventen verbessert.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Matthias Berninger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1996 haben wir hier im Hause einheitlich die Position vertreten, daß es in dieser Wahlperiode noch zu einer BAföG-Strukturreform kommen muß. Das Trauerspiel, das sich hier heute abzeichnet, ist, daß wir uns eingestehen müssen, daß weder die Bundesregierung noch die Landesregierungen in der Lage waren, binnen zwei Jahren eine BAföG-Strukturreform in Gang zu setzen.
Ich danke Ihnen sehr für den Hinweis, daß die Zahl der Geförderten insgesamt zurückgegangen ist. Ich danke Ihnen sehr für den Hinweis, daß der Kollege Neumann völlig falsch liegt, wenn er sagt, die Bundesregierung habe beim BAföG mächtig etwas draufgelegt; denn der Haushalt weist eindeutig aus, daß hinsichtlich der Chancengleichheit in den letzten Jahren Milliardenbeträge eingespart worden sind. Das ist der Grund, warum wir sagen, eine BAföG- Strukturreform ist dringender denn je, und warum wir auch Vorschläge machen.
Ich komme zu einem ganz wichtigen Punkt. Ich finde es ja in Ordnung, wenn Sie lieber den Herrn Rüttgers als mich haben wollen, Frau Odendahl.
Das ist die große Koalition, die Sie sich wünschen. Ich befürchte aber, Sie werden eher mit uns als mit Herrn Rüttgers verhandeln müssen. Das kommt für die Sozialdemokratie insgesamt besser. Wenn Sie sich noch nicht zwischen uns beiden entscheiden können, dann diskutieren Sie mit den Studenten, was ihnen lieber ist.
Für mich ist entscheidend, daß die Vorschläge, die von Ihrer Seite kamen und die das Sockelmodell betrafen, von den Justizministern und von den Finanzministern Ihrer Partei abgelehnt worden sind.
Für mich ist des weiteren entscheidend, daß die Bundesregierung nicht in der Lage war, einen eigenen Vorschlag im Kabinett einzubringen, weil die F.D.P. die Notbremse gezogen hat. So gelangte das BayernModell ins Kabinett.
Für mich ist weiter entscheidend, daß unsere Fraktion in dieser Woche einen Gesetzentwurf durch die Gremien gebracht hat, in dem wir einen Vorschlag gemacht haben, von dem ich glaube, daß er sozial gerechter ist. Er ist deshalb sozial gerecht, weil er mit einer Umverteilung aufhört, die so aussieht, daß es eine Förderung für Reiche gibt, nämlich Steuervergünstigungen für die Kinder Wohlhabender, die studieren, und ständige Verschlechterungen bei den weniger Wohlhabenden dadurch, daß das BAföG zusammengekürzt wird. Ich halte diese Ungerechtigkeit für nicht länger hinnehmbar. Ich glaube, daß das Wichtigste ist, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, und zwar rückstandsfrei.
- Ich finde es wunderbar, Herr Tauss, daß wir uns da einig sind. Über den Weg werden wir ab dem 27. September zu verhandeln haben.
Für mich ist aber ein weiterer Punkt sehr entscheidend. Ich glaube, daß wir eine Strukturreform beim BAföG nur hinkriegen, wenn es uns gelingt, einen Beitrag der Modernisierungsgewinner zur Finanzierung der Chancengleichheit für alle auf den Weg zu bringen. Dagegen wehren Sie sich zur Zeit noch.
Ich halte den Weg von Herrn Rüttgers für völlig falsch. Ich halte auch den Weg des Bayern-Modells für völlig falsch, bei dem nämlich im Grunde versucht wird, innerhalb der Gruppe der BAföG-Empfänger Geld zu sparen. Wenn Sie sagen, daß Sie Elternunabhängigkeit für systemfremd halten, sagen Sie nichts anderes, als daß Sie an den Privilegien für die Kinder Wohlhabender festhalten wollen. Ich halte den Weg für falsch, eine Verzinsung vorzusehen und das Risiko den Studierenden individuell aufzuerlegen.
Der andere Weg hat unangenehme Seiten, aber er hat eine richtige Seite: Wenn wir für einen neuen Generationenvertrag eintreten, bei dem diejenigen, die studiert haben, die elternunabhängig Förderung bekommen haben, nachdem sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, wenn sie viel Geld verdienen, einen Beitrag dafür leisten, daß auch die nächste Generation studieren kann, dann ist das der Startpunkt für die Bildungsreform, die wir brauchen.
Matthias Berninger
Woran es bei der momentanen Bildungsreform krankt, ist, daß über Hochschulreform und über Effizienz und alles mögliche diskutiert wird, aber tatsächlich für einen großen Teil der jungen Generation der Weg in die Uni durch die momentane elternabhängige Förderung versperrt wird. Dagegen wehrt sich meine Fraktion.
Wie gesagt: Wir haben einen Gesetzentwurf erarbeitet. Über den diskutieren wir dann. Wir diskutieren auch darüber, ob er mit dem Unterhaltsrecht kompatibel ist.
Aber wer das bisher nicht geschafft hat, wer vier Jahre lang - Sie gehören zu einer großen Fraktion, Frau Odendahl - keinen Gesetzentwurf vorgelegt hat,
wer sich statt dessen immer wieder an die Länder angehängt hat und immer wieder jeden Schwung mit den Ländern mitgegangen ist,
sollte vorsichtig sein, wenn er sagt: Lieber Rüttgers als Berninger.
Um das abschließend noch einmal zu sagen: Ich glaube, daß eine BAföG-Strukturreform, wie wir sie vorschlagen, kommen wird,
daß eine Beteiligung der Modernisierungsgewinner an der Chancengleichheit kommen wird. Ich glaube, daß es uns allen gut zu Gesicht steht, eine solche Reform zu machen. Ich sage vor der Wahl die Wahrheit und nicht hinterher.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Karlheinz Guttmacher.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Zwölfte Bericht nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge sowie die Stellungnahme des Beirats für Ausbildungsförderung kommen zu dem Ergebnis, daß wir die Bedarfssätze um 10 Prozent und die elterlichen Freibeträge um 7 Prozent erhöhen sollten. Innerhalb von sechs Jahren ist die Gefördertenquote von gut einem Drittel auf knapp ein Viertel der nach BAföG dem Grunde nach berechtigten Studierenden gesunken.
Da in diesen Jahren leider nicht bundesweit und flächendeckend der allgemeine Wohlstand ausgebrochen ist, läuft hier kontinuierlich etwas auseinander, was eigentlich zusammengehört.
Für die F.D.P. sage ich, daß die jungen Leute auch in Zukunft unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern studieren können müssen.
Mit dem 19. BAföG-Änderungsgesetz werden die Bedarfssätze um 2 Prozentpunkte und die elterlichen Freibeträge um 6 Prozentpunkte angehoben. Ich sage dies auch für meine Fraktion: Wir sind sehr enttäuscht über das Gespräch, das zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern stattgefunden hat. Die Bundesländer waren nicht bereit, die Bedarfssätze der Studierenden um einen höheren Prozentsatz zu steigern.
Dies macht, wenn wir das unter dem Strich sehen, bei einem Förderhöchstbetrag von 1010 DM 15 DM für die Studierenden aus.
Fairerweise müssen wir natürlich auch berücksichtigen, daß wir in dieser Legislaturperiode, wie dies schon angesprochen worden ist, die Freibeträge um 12 Prozent und die Bedarfssätze insgesamt um 6 Prozent erhöht haben. Ganz besonders erfreulich ist für uns, daß nach der Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes nun auch die international vergleichbaren Studienabschlüsse wie Bachelor und Master im BAföG mit berücksichtigt werden.
Viele Bürger glauben, daß die staatliche Unterstützung beim Studium nur diejenigen beziehen, die auch BAföG erhalten. Es wird immer wieder vergessen, daß mit dem 18. Lebensjahr auch Kindergeld, Kinderfreibeträge und Ausbildungsfreibeträge gewährt werden. Beim BAföG erhalten die Studenten um so mehr Unterstützung, je weniger die Eltern verdienen. Beim Kindergeld sieht das genau umgekehrt aus, was steuersystematische Gründe hat. Studenten, deren Eltern viel verdienen, können bis zu 490 DM und die Kinder, deren Eltern keinen Job haben, maximal 220 DM zusätzlich über ihre Eltern erhalten.
Die notwendigen Aufwendungen für die Ausbildung sind aber über alle Einkommensgruppen gleich.
Deshalb hält es die F.D.P. für vertretbar und geboten, das Gesamtaufkommen dieses Teils des Familienlastenausgleichs, Herr Rixe, zusammenzunehmen
Dr. Karlheinz Guttmacher
und daraus nur den Studierenden, die im Sinne des BAföG ordentlich studieren, ein staatliches Grundstipendium in Höhe von etwa 400 DM zu gewähren. Durch dieses Stipendium wird kein Pfennig mehr ausgegeben, als wir es heute in all diesen Bereichen schon tun.
Dieses staatliche Grundstipendium ist kein Gehalt, sondern eine Verpflichtung, mit diesen Steuermitteln gewissenhaft umzugehen. Wer nicht ordentlich studiert, fliegt eben aus diesem Stipendium heraus. Wir sehen deshalb in der Umsetzung des Bayern-Modells einen ersten Ansatz, der in die Richtung eines grundlegenden BAföG-Modells geht, und würden es auch in dieser Form unterstützen.
Danke.
Ich gebe der Abgeordneten Maritta Böttcher das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich müßte heute die seit 1996 angekündigte Strukturreform zur Debatte stehen, die damals immerhin die Bedingung für die Zustimmung der Bundestagsmehrheit zur 18. BAföG- Novelle gewesen ist.
Die PDS hatte diesem Bund-Länder-Deal von Anfang an ihre Zustimmung verweigert, da für uns schon vor zwei Jahren klar war: Die Verschlechterungen werden festgeschrieben, während Reformen, die Studierende tatsächlich besserstellen, mit Sicherheit auf sich warten lassen würden.
Genauso ist es abgelaufen. Zwei Jahre lang wurde diskutiert, aber nichts bewegt. In dieser Zeit bewegte sich die Gefördertenquote weiter nach unten, und der Finanzaufwand von Bund und Ländern für das BAföG sank: ein Sparprogramm, für das Bildungsminister vielleicht bei Finanzministern Punkte sammeln konnten, für Studierende weniger gut betuchter Eltern aber das Aus.
Herr Staatssekretär Neumann, das DSW hat im November 1997 errechnet, daß zu diesem Zeitpunkt nur noch 15 Prozent der Studierenden gefördert wurden. Es nutzt also hier nichts, irgend etwas schönzureden. Auf diesem Niveau sollte dann eine „kostenneutrale" Reform stattfinden. Also im Klartext: Reform statt Geld.
Reformen verschleppen und Kostenneutralität auf immer niedrigerem Niveau fordern - ein derart zynischer Umgang mit Sozialleistungsgesetzen steht in eklatantem Widerspruch zu den vollmundigen Erklärungen im BAföG-Bericht, daß angeblich zu keiner Zeit „das Ziel der sozialen Öffnung und Offenhaltung des Bildungswesens, mit dem das BAföG 1971 beschlossen wurde, in Frage gestellt" war.
Der Rückgang der Zahl der Geförderten erklärt sich weniger daraus, daß immer weniger Studierende Unterstützung benötigen. Anders herum wird ein Schuh daraus: Schulabgänger aus einkommensschwachen Familien ziehen nämlich eine Hochschulausbildung meist gar nicht mehr in Erwägung. Was das bedeutet, sollte dann auch klar und deutlich artikuliert werden, nämlich das Ende des BAföG als Sozialleistungsgesetz.
Was von der Reform, die Minister Rüttgers den protestierenden Studierenden noch für den Dezember 1997 versprochen hatte, übrig ist, steht nun hier zur Debatte: die Anhebung der Bedarfssätze um 2 Prozent und der Freibeträge um 6 Prozent zum Herbst 1998.
Auch mit diesen geringfügigen und seit Jahren notwendigen Verbesserungen, die als großartige Leistung offeriert werden, geht das BAföG-Sparprogramm weiter. Der Finanzaufwand von Bund und Ländern wird weiter sinken und im Jahre 2001 etwa die Hälfte des Aufwandes von 1991 betragen:
In unserem Antrag bezüglich einer 19. Anpassungsnovelle, den wir bereits im Februar 1997 - also vor mehr als einem Jahr - gestellt haben, lauteten die Forderungen: 7 Prozent mehr bei den Bedarfssätzen und 5 Prozent mehr bei den Freibeträgen plus Rücknahme der Verschlechterungen durch die 18. BAföG- Novelle. Eine bedarfsgerechte Anpassung zum Wintersemester 1998 müßte laut Beirat nunmehr. - Sie haben es bereits gesagt - eine Erhöhung der Bedarfssätze um 10 Prozent und der Freibeträge um 7 Prozent beinhalten. Diesen Forderungen schließen wir uns an.
Abschließend möchte ich hier noch einen Punkt erwähnen: Entsprechend der 19. Novelle sollen nunmehr auch die Bedarfssätze und besonderen Freibeträge für Behinderte im Ersten Berufsausbildungsbeihilfe-Anpassungsgesetz erhöht werden.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Immerhin wird in diesem Bereich - im Gegensatz zum BAföG - tatsächlich mit höheren Ausgaben gerechnet. Trotzdem bleibt auch diese Erhöhung für die Betroffenen eine faktische Sozialhilfe, die nur einen anderen Namen trägt.
Die PDS bleibt bei ihrer Forderung nach einer sozialen Grundsicherung für Studierende, Auszubildende und Behinderte, damit das Grundrecht auf freie Berufswahl tatsächlich von allen wahrgenommen werden kann.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 13/10241, Drucksache 13/10278 und Drucksache 13/9515 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Spruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 und den Zusatzpunkt 6 auf:
TOP 5 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hartmut Koschyk, Rainer Eppelmann und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Markus Meckel, Siegfried Vergin und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Gerald Häfner, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Dr. Rainer Ortleb, Dr. Max Stadler, Ina Albowitz und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
- Drucksache 13/9870 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses 4. Ausschuß
- Drucksache 13/10325 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartmut Koschyk Markus Meckel
Gerald Häfner
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gerald Häfner, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherstellung und Fortführung des gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesses durch Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung
- zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit"
Teilbericht zu dem Thema
„Errichtung einer selbständigen Bundesstiftung des öffentlichen Rechts zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"
- Drucksachen 13/4353, 13/8700, 13/10325 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartmut Koschyk
Markus Meckel Gerald Häfner Dr. Max Stadler Ulla Jelpke
Es liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Hartmut Koschyk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/Die Grünen, der die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vorsieht. Das für mich Schönste an diesem Gesetzentwurf - das will ich deutlich sagen - ist, daß wir ihn heute nach monatelanger Beratung als Entwurf der vier genannten Bundestagsfraktionen wirklich vorlegen können.
Es geht bei der zu errichtenden Stiftung nicht, wie einige Spötter in diesen Tagen gerne sagen, um die Fortsetzung der Enquete-Kommission aus der 12. und 13. Legislaturperiode des Bundestages zu den Nachwirkungen von Geschichte und Folgen des SED-Staates mit anderen Mitteln. Nein, es geht vielmehr damm, der Aufarbeitung dieser Diktatur, die eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und bleibt, Beständigkeit und Stetigkeit zu verleihen.
Das ist auch dringend notwendig. Für die weitere Entwicklung Deutschlands in einem zusammenwachsenden Europa sind nämlich die Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts entscheidende Lernerfahrungen. Daß nach 1945 in einem Teil Deutschlands auf die nationalsozialistische Diktatur eine kommunistische Diktatur folgte, darf nicht vergessen werden. Das Kredo der Deutschen nach diesen geschichtlichen Erfahrungen kann nur lauten: Nie wieder Diktatur!
Wer aber die zweite Diktatur auf deutschem Boden nicht thematisieren will, trägt zur Schwächung des demokratischen und antitotalitären Selbstbewußtseins bei. Das öffentliche Bewußtsein über den Diktaturcharakter des SED-Staates scheint heute noch nicht ausreichend gefestigt. Häufig wird nur das NS- Unrechtsregime in den Blick genommen, obwohl es geraten scheint, gerade die doppelte Diktaturerfahrung zu reflektieren. Vor allem die Opfer der SEDDiktatur beklagen, daß dieses Unrechtssystem zwischen Elbe und Oder im öffentlichen Bewußtsein oftmals nicht mehr hinreichend präsent ist.
Ich meine, liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann durchaus negative Folgen für die rechtsstaatliche und freiheitliche Demokratie in Deutschland haben, wenn die SED-Diktatur als legitime Alternative zum Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland betrachtet wird, wie es die historischen Deutungsbemühungen der PDS beabsichtigen. Die Demokraten müssen diesen Versuchen die Wahrheit entgegensetzen. Die PDS ist hierzu offensichtlich unfähig und ist zu großen Teilen auch gelähmt.
Wie gespalten die PDS einer Aufarbeitung der SED-Diktatur gegenübersteht, zeigt sich an ihrem parlamentarischen Verhalten gerade gegenüber der heute durch einen Gesetzentwurf zu gründenden Stiftung. Als wir an dieser Stelle am 13. November 1997 den Zwischenbericht der Enquete-Kommission entgegengenommen haben, hat der Kollege Elm
Hartmut Koschyk
eine mehrheitlich zustimmende Einstellung der PDS- Gruppe zu diesem Zwischenbericht signalisiert. In den abschließenden Ausschußberatungen diese Woche mußten wir vernehmen, daß die PDS-Vertreter diesen Gesetzentwurf ablehnen bzw. sich allenfalls enthalten wollen.
Ohnehin, liebe Kollegin, trägt die PDS bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur eher zur Verschleierung von Schuld und Verantwortung und der historischen Wahrheit bei.
Ihr und den Kadern des alten Systems geht es darum, Funktionsträger des SED-Regimes reinzuwaschen. Wenn dann die Wahrheit durch historische Forschung oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens ans Licht kommt, reagieren die alten Funktionsträger abwehrend, aggressiv, ja sogar drohend.
Vor wenigen Tagen kündigte der ehemalige Generalsekretär der SED Egon Krenz am Grabe des langjährigen Politbüromitglieds Erich Mückenberger an, für die Urteile gegen ihn und seine Genossen - ich zitiere wörtlich - „werden wir die Richter eines Tages zur Verantwortung ziehen"
Ich darf an eine Äußerung des Kollegen Zwerenz hier im Bundestag erinnern, der im Hinblick auf die Bemühungen dieses Hauses, Licht ins Dunkel der Stasivorwürfe gegen Gregor Gysi zu bringen, in einer Pressemitteilung drohte - ich zitiere ebenfalls -:
Wir werden die Umtriebe protokollieren für die nächste Wende. Sie kommt gewiß in diesem wendereichen Zeitalter.
Revanche statt selbstkritischer Aufarbeitung scheint das Motto der PDS und ihrer Gesinnungsgenossen zu sein. Unserer Gesellschaft würde jedoch ein schlechter Dienst erwiesen, wenn die Verdränger und Beschöniger der SED-Diktatur die Oberhand gewännen. Deshalb muß es auch Aufgabe dieser Stiftung sein, diese geistig-politische Auseinandersetzung mit denen in unserem Land zu leisten, die, statt aufzuarbeiten, verdrängen und, statt die Wahrheit darzustellen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, beschönigen wollen.
Ich bitte deshalb namens unserer Fraktion um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Wie das so ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in der Hektik der Abschlußberatungen im Innenausschuß bei der Erstellung der Beschlußempfehlung für das Plenum ein Redaktionsversehen passiert. Durch dieses Redaktionsversehen ist im Ausschußbericht Satz 3 des § 6 Abs. 5, der heißt: „Der Stiftungsrat faßt seine Beschlüsse mit einfacher Mehrheit der Stimmen.", nicht in diese Beschlußempfehlung aufgenommen worden. Wir können das heilen, indem ich das hier vortrage.
Ich gehe davon aus, daß dieser in der Beschlußempfehlung des Ausschusses redaktionell unter die Räder gekommene Satz in der zweiten und dritten Lesung Ihre Zustimmung findet.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Markus Meckel.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich ebenfalls sehr, daß wir heute so weit sind, dieses Gesetz zu verabschieden und in der Folge die Stiftung zu gründen.
1994 haben wir in dem Sondervotum der SPD zu der ersten Enquete-Kommission diesen Vorschlag gemacht. Er ist dann verschiedentlich aufgenommen und diskutiert worden. Es war von Anfang an klar, daß eine solche Stiftung nur möglich sein wird, wenn man sie nicht im Alleingang, sondern gemeinsam zu gründen versucht.
Denn es ist eine ganz zentrale Dimension der Aufarbeitung von Vergangenheit, daß sie nicht unpolitisch ist - Vergangenheitsaufarbeitung ist immer auch ein politisches Geschäft; sie ist immer auch strittig, aber sie muß nicht entlang den Parteigrenzen strittig sein -, daß sie nur sehr begrenzt parteipolitisch instrumentalisierbar ist, auch wenn dies unbezweifelbar immer wieder versucht wird. Es ist eine Frage der politischen Kultur eines Landes, wieweit man fähig ist, daraus nicht nur parteipolitischen Streit zu machen.
Ich bin sehr froh, daß es uns heute mit den vier Fraktionen dieses Bundestages gelungen ist, dieses Gesetz einzubringen und gemeinsam zu verabschieden. Ich möchte mich bei allen bedanken - das ist in unserem Hause nicht so sehr üblich -, bei den Mitarbeitern der Enquete-Kommission und des Innenausschusses, die die Arbeit bereitwillig mitgetragen haben, und den Sachverständigen, die die Arbeit der Enquete-Kommission und das Erstellen des Zwischenberichts mitgetragen haben.
Ein Teil von ihnen sitzt auf der Tribüne.
Die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit ist eine Aufgabe, von der wir überzeugt waren und sind, daß sie nicht nur eine Aufgabe für ehemalige DDR-Bürger ist, sondern eine Aufgabe aller Deutschen. Wir wissen - manchmal muß man es aber auch sagen -, daß die DDR-Geschichte ein Teil der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ist. Damit ist die DDR nicht nur „der eine deutsche Staat", sondern auch der Staat, auf den sich der andere deutsche Staat immer wieder bezogen hat. Auch die Politik der alten Bundesrepublik wäre gar nicht verständlich ohne die ständige Auseinandersetzung mit diesem anderen Teilstaat.
Markus Meckel
Insofern geht es bei der Betrachtung unserer Geschichte nicht nur um die gesamtdeutsche Notwendigkeit, sich mit der DDR auseinanderzusetzen, sondern auch darum, sich mit der Geschichte der Teilung und den verschiedenen Dimensionen und Perspektiven auseinanderzusetzen. Ich glaube, daß auch wir als Enquete-Kommission dieses nicht immer hinreichend und deutlich genug getan haben. Dies wird für die Zukunft eine wesentliche Aufgabe sein.
Für viele Menschen im Westen sind die Geschichte der DDR und die Erfahrungen, die man dort gemacht hat, weitgehend eine Terra incognita, ein unbekanntes Land - Erfahrungen, die wenig bekannt, nur sehr schemenhaft und oft auch nur in wenigen Stichworten aufzeigbar sind. Ich glaube, hier muß sich etwas ändern, wenn wir als Deutsche in Ost und West künftig gemeinsam als deutsches Volk Geschichte machen und miteinander leben wollen.
Das betrifft zum Beispiel auch die Frage der Schulbücher. Was in der Wissenschaft erkannt worden ist, hat noch lange nicht Eingang in die Schulbücher gefunden.
Aber das gilt auch für die DDR-Bürger. Viele von ihnen glauben, sie seien von vornherein Experten für DDR-Geschichte. Dabei gehörte es zum System, daß, da es keine Öffentlichkeit und keine öffentliche Debatte gab, jeder nur seinen Ausschnitt kannte. Ich muß sagen: In den letzten Jahren, in denen wir uns mit unserer Geschichte befaßt haben, habe ich selbst, der ich die ganze Zeit in der DDR gelebt habe, über dieses Land, seine Bezüge und ganz andere gesellschaftliche Bereiche sehr viel gelernt. Ich denke, das ist eine Aufgabe, der wir uns im Miteinander, im gegenseitigen Erzählen, durch Förderung von Wissenschaft und politischer Bildung sowie im Zur-SpracheBringen und Zur-Sprache-bringen-Lassen der Menschen, die ihre jeweiligen besonderen Erfahrungen gemacht haben, stellen müssen. Dies wird wichtig sein.
Dies ist die Aufgabe der Stiftung. Sie soll keine Oberbehörde oder Zentrale für Aufarbeitung sein - es ist ganz klar: notwendig sind plurale Träger in den verschiedenen Bereichen der politischen Bildung, der Wissenschaft -, das kann die Stiftung nicht leisten; denn dann müßten wir sie ganz anders ausstatten. Ihre Aufgabe soll vielmehr sein, diese pluralen Träger, diese vielen kleinen und größeren Träger zu unterstützen, zusammenzuführen, ihnen Anregungen zu geben und damit ein Motor in diesem gesamtgesellschaftlichen Geschäft zu sein.
Meine Damen und Herren, es gibt schon viele, die sich dieser Aufgabe widmen, auch in der politischen Bildung, auch in der Wissenschaft. Ich nenne insbesondere die mehr als 60 Aufarbeitungsinitiativen in Ostdeutschland, die mit großem Engagement - wenn heute auch nicht mehr mit Risiko; es sind viele, die vorher in der Opposition tätig waren - und durchaus mit manchen Entbehrungen tätig waren und sind; denn bezahlt wurde diese Arbeit oft nicht. Viel ehrenamtliche Tätigkeit steckt dahinter, und dort, wo in der Vergangenheit öffentliche Mittel zur Verfügung standen, sind diese oft ausgelaufen.
Deshalb ist es besonders wichtig, daß auch diese Aufarbeitungsinitiativen von dieser Stiftung Mittel erhalten, um ihre Arbeit weiter tun zu können; denn obwohl es sich nur um Minderheiten in der Gesellschaft handelt - an Aufarbeitung sind übrigens immer nur Minderheiten interessiert -, tun sie etwas, was für die gesamte Gesellschaft, für die Nation und ihr Selbstverständnis wichtig ist. Deshalb ist es eine wesentliche Aufgabe und uns ein wesentliches Anliegen - es soll auch das erste sein, was die Stiftung macht -, diesen Initiativen zu helfen, ihre Arbeit fortzusetzen.
Es sind nur Projektmittel, die wir zur Verfügung stellen können. Ich muß vor zu hohen Erwartungen warnen, auch vor der Erwartung, daß alles, was jetzt geschieht, künftig von der Stiftung finanziert werde. Dies wird nicht möglich sein. Ich denke nur daran, daß der Beauftragte für die Stasiunterlagen in Berlin, bisher allein durch den Senat finanziert, für seine Arbeit jedes Jahr mehrere Millionen DM erhält. Diese Summe wird nicht allein von der Stiftung übernommen werden können. Die Länder und die Gemeinden bleiben in der Pflicht. Gleichzeitig muß man sagen, daß sich auch andere Stiftungen, auch andere Träger dieser Arbeit weiterhin hier engagieren müssen, nicht nur mit Rat und Tat, sondern eben auch mit Geld.
Aufarbeitung der Vergangenheit - ich sagte es - ist etwas, was uns als Deutsche alle betrifft; aber es ist nicht nur etwas für uns Deutsche, sondern es hat eine Dimension, die europäischen Charakter hat. Wir haben im Januar eine Veranstaltung durchgeführt, auf der verschiedene Personen aus mehr als einem Dutzend Ländern Europas anwesend waren, aus dem ganzen früheren Ostblock, also aus Ländern, in denen es vergleichbare Probleme gibt, wenn auch ganz anders in der konkreten Geschichte, ganz anders im Umgang mit ihr danach. Oft schaut man neidvoll nach Deutschland.
Hier wird durchaus auch erwartet, daß diese Stiftung in der Kommunikation, im europäischen Miteinander des Bedenkens dieser Fragen Anregungen für die wissenschaftliche Forschung, für die parlamentarische Zusammenarbeit zwischen den Ländern gibt. Hier werden wir auch künftig in dieser Weise gefragt sein.
Wesentlich ist - und damit möchte ich schließen -, daß diese Stiftung zu einer Erinnerungskultur in Deutschland beitragen kann. Auch das kann sie nicht allein machen; aber sie kann zum Beispiel bei der Ausgestaltung von Gedenktagen, etwa des
17. Juni oder des 13. August, zur Verfügung stehen.
Ich möchte einen Tag hinzufügen, der in Verbindung mit der Erinnerung an ein ganz anderes Datum gerade jetzt sehr häufig erwähnt wird, und zwar den
18. März. Wir haben ja in den letzten Wochen oft des 18. März als des 150. Jahrestages der 1848er Revolution und damit einer wesentlichen demokratischen deutschen Tradition gedacht. In dieser ganzen Debatte hat fast nirgendwo die Tatsache eine Rolle ge-
Markus Meckel
spielt, daß der 18. März zugleich das Datum der freien Wahl in der DDR war, das Datum, an dem wir eine siegreiche Revolution zu Ende geführt haben und ein demokratischer deutscher Staat entstand, der dann die Möglichkeit und auch die Fähigkeit hatte, zusammen mit der Bundesrepublik die deutsche Vereinigung zu organisieren.
Ich wünsche dieser Stiftung alles Gute.
Ihre Arbeit beginnt jetzt. Wir sollten sie auch als Bundestag künftig begleiten; denn von uns wird es abhängen, daß sie genügend Finanzmittel bekommt, um ihre Arbeit tun zu können.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Gerald Häfner.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 40 Jahre lang war das Land, in dem wir leben, getrennt - nicht nur getrennt: Es war geteilt, durch Mauer und Stacheldraht. Unzählige Menschen haben ihr Leben an dieser Grenze verloren. Heute hat man das Gefühl: Es ist schon fast nicht mehr wahr. Fast niemand erinnert sich mehr daran. Mein Sohn beispielsweise hat das nie mehr erlebt. Wenn ich ihm das erzähle, kann er es sich nicht vorstellen.
Ich habe auch den Eindruck, viele wollen allzu schnell zur Tagesordnung übergehen, wollen die nötigen unbequemen, schwierigen, auch schmerzhaften Fragen nicht stellen - so, wie sie sich auch diesen Fragen nicht stellen wollen.
Der Deutsche Bundestag legt mit dem, was heute Abgeordnete aller Fraktionen des Hauses gemeinsam hier einbringen und zur Abstimmung stellen, ein klares Bekenntnis dafür ab, die Aufarbeitung dieser Vergangenheit, auch der schmerzhaften, schwierigen Seiten davon, fortzusetzen. Wir wollen, daß diese Aufarbeitung subsidiär geleistet wird. Ich glaube, beides ist ein ungemein wichtiges Zeichen - gerade heute.
Das eine deshalb, weil Aufarbeitung kein Selbstzweck ist. Aufarbeitung ist mehr als der Blick zurück in die Vergangenheit. Aufarbeitung, glaube ich, kann, wenn sie gelingt, aus dieser Vergangenheit heraus Erkenntnisse sichern, die unerläßlich sind für die Gegenwart und die Zukunft, etwa wenn es darum geht, Demokratie zu verteidigen, oder wenn es darum geht, Zivilcourage zu beweisen. Das ist ihr eigentlicher, tieferer Sinn.
Ich glaube auch, daß es einen Wert an sich hat, die Wahrheit zu erkennen und zu benennen, auch wenn sie schmerzt. Ich denke, daß letztlich nichts heilsamer ist als diese Wahrheit. Und wenn wir, unser ganzes Land, versuchen, uns dieser Wahrheit zu stellen, dann stehen uns noch viele schwierige Fragen bevor.
Ich will deshalb auch eine Frage an uns stellen, an die Kreise und an die Bewegung, aus denen ich selbst komme. Die Linke und auch Teile der Grünen in Deutschland haben sich jahrelang wesentlich leichter getan, für Menschenrechte in Chile und Südafrika zu kämpfen als für Menschenrechte in Ostberlin, Dresden oder Chemnitz.
Diesen Fragen müssen wir uns stellen. Ich glaube: Alle hier im Hause haben ebensolche Fragen, auch an sich selbst zu stellen. Wir sollten diese Fragen nicht voreilig beantworten, sondern uns fragen: Wie kommt so etwas zustande, wie war das alles möglich?
Wir tun hier etwas für die Fortsetzung der Arbeit an diesen Fragen, der Aufarbeitung in Deutschland, und wir tun es in der Weise, daß wir - das haben beide Vorredner schon deutlich gesagt - die Aufarbeitung nicht monopolisieren. Wir schaffen kein Zentralinstitut für Aufarbeitung, wir machen das genaue Gegenteil: Wir sind uns dessen bewußt, daß Aufarbeitung immer nur zu kleinen Teilen von Parlamenten, von Gerichten, von etablierten gesellschaftlichen Institutionen geleistet werden kann.
Im Kern ist die Aufarbeitung zurückliegenden Unrechts vielmehr eine politisch-kulturell-gesellschaftliche Aufgabe, eine Aufgabe, die vor allem „unten" in der Gesellschaft selbst passieren muß. Wer wäre dazu besser prädestiniert als diejenigen Menschen, die auf Grund ihrer Biographie, ihres besonderen und besonders schweren Lebensweges ebenso wie ihrer persönlichen Entscheidungen in diesem Leben ohnehin schon mehr als andere ihre Aufgabe sehen, diese Arbeit tun und sie heute vielfach nicht mehr fortsetzen können, weil die Mittel dazu fehlen.
Deshalb wollen wir mit der Stiftung vor allen Dingen helfen, diese so wichtige Arbeit fortzusetzen: die Arbeit der Aufarbeitungsinitiativen, auch der Opferverbände, die Arbeit der unabhängigen Archive, die Arbeit der freien und unabhängigen Forscher, die vielfach nicht die Möglichkeit hatten, ein Hochschulstudium zu durchlaufen, aber auf Grund ihrer persönlichen Kenntnisse und Erfahrungen viel genauer wissen, wovon die Rede ist, wenn es um die Aufarbeitung dieser Vergangenheit geht.
Ich bin ausgesprochen froh, daß uns das in so gutem Geist konstruktiv und gemeinsam über die Fraktionsgrenzen hinweg gelungen ist. Es sei dabei nicht nur den Abgeordneten, die hier sprechen, gedankt. Es sei auch den Mitarbeitern gedankt, und ich möchte auch die Mitglieder und Sachverständigen der Enquete-Kommission neben vielen anderen nennen, die hieran mitgewirkt haben. Ich bin froh und auch ein bißchen stolz, daß uns das gemeinsam so gelungen ist. Ich glaube, daß das ein wichtiges Werk ist, das für die Zukunft dieses Landes von Bedeutung sein kann.
Lassen Sie mich, bevor ich zum Schluß kommen muß, nur noch darauf hinweisen: Es gibt auch eine Tendenz zur Einseitigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Vergangenheit, die mit durch etwas eigentlich Gutes entstanden ist, was wir gemeinsam
Gerald Häfner
schon früher im Deutschen Bundestag bewirkt und erreicht haben: das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Ich halte das wahrlich für eine große Errungenschaft. Aber es gibt heute eine starke Beschäftigung mit dem Staatssicherheitsdienst, dem ehemaligen Unterdrückungsapparat. Es gibt aber viel zu wenig Beschäftigung mit denen, die diesen Unterdrückungsapparat überhaupt erst eingesetzt haben, denen, die Aufträge gegeben und die Fäden gezogen haben, denen, die diese Politik verantwortet haben. Auch dies wird eine Aufgabe dessen sein, was in der Stiftung zu leisten ist und durch die Stiftung ermöglicht werden soll.
Bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich komme zum Schluß.
Viele fragen natürlich, worin heute die Bedeutung einer solchen Arbeit liegen kann. Ich glaube, daß die Erfahrungen, die in der DDR-Diktatur gemacht worden sind, zu einer moralischen Substanz für das ganze Land führen können, wenn sie richtig erkannt und verarbeitet werden. Das nährt die Hoffnung, daß sich Vergleichbares nicht wiederholt. Dazu einen Beitrag geleistet zu haben lohnt diese Anstrengung.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Professor Dr. Rainer Ortleb.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht mir bei diesen in Übereinstimmung vorbereiteten Gesetzesvorlagen so wie schon bei der Einrichtung der Enquete-Kommission: Als vierter Redner zum Thema, der sich mit seinen Vorrednern im Konsens befindet, kann ich zur Sache an sich nichts Neues beitragen. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, Erinnerungen vorzutragen und dabei unterschiedliche Etappen der Betrachtungsweise des Problems Bewältigung zu skizzieren.
Als es 1989/90 mit der DDR zu Ende ging, ist das auch für mich ein einschneidendes Ereignis gewesen. Mein bisher nicht angetastetes Glaubensbekenntnis eines Mathematikers, zweimal zwei sei vier, war nicht mehr das Entscheidende, als sich eine Gesellschaft, die ich als erstarrt und nicht zum Umbruch fähig ansah, plötzlich im Umbruch befand - und überdies auf friedliche Weise. Weil man im Vorfeld dieser Ereignisse das Gefühl hatte, mit dem Staat würde es schwieriger und schwieriger, habe ich seinerzeit gern formuliert, das Problem der DDR sei, daß sie daranging, drei Errungenschaften der menschlichen Urgesellschaft in Frage zu stellen. Das eine war die Abschaffung der Erfindung des Geldes. Wir hatten am Ende mehrere Währungen in der DDR: vom Forumscheck bis Valuta, daneben die eigentliche Währung. Zweitens wurde die Arbeitsteilung abgeschafft, indem jeder selbst tapezierte oder sein Auto reparierte, weil es dafür keine Kapazitäten gab. Ehe es dann zum dritten an die Abschaffung des Rades ging, ist der Staat Gott sei Dank zusammengebrochen.
Es war eine aufregende Zeit, eine Zeit des Machens gewesen. Das Fernsehen der DDR wurde plötzlich interessant. Es fanden Demos statt, es fanden Auseinandersetzungen statt, es gab plötzlich runde Tische, an denen man offen diskutieren konnte. Die Demos unter der Überschrift „Keine Gewalt" haben im Grunde genommen das erreicht, was wir heute in der Rückschau als Ergebnis sehen können.
Die letzte Volkskammer war sicherlich ein Parlament der Macher. Oder welches andere Parlament hat sich in einem höheren Staatsinteresse entschlossen, sich selbst abzuschaffen, wie es die Volkskammer getan hat?
Wenn ich an Bewältigung denke, dann fällt mir natürlich auch ein, daß schon am Anfang manche Torheiten begangen worden sind. Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich an die Fernsehbilder erinnert, als die Archive der Staatssicherheit gestürmt wurden und man mit Brechstangen die Festplatten zerstörte. Ich glaube, die Gauck-Behörde hätte es heute wesentlich leichter, wenn sie diese Platten hätte. Aber das war ein Ausdruck der Wut, des Trotzes und des Hasses.
Die letzte Volkskammer der DDR hat in unglaublich forscher Weise viele Gesetzesvorlagen verabschiedet, so daß ich mir manchmal wünschen würde, daß etwas von diesem Tempo auch in den Deutschen Bundestag übergekommen wäre.
Als der 3. Oktober uns die staatliche Einheit brachte, war auch noch wenig vom Blick zurück zu spüren, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil viele den Mechanismus in seiner vollen Tragweite noch gar nicht erkennen konnten. Erst die Untersuchungen der dann eingerichteten Enquete-Kommissionen - zwei sind es ja inzwischen - haben bewirkt, daß unter politischer Leitung diese Problematik forciert wissenschaftlich angegangen wurde.
Schließlich ist die Stiftung, die wir heute ins Leben rufen, das Fazit der Arbeit der Enquete-Kommissionen. Der Gedanke der Bewältigung soll weiterleben. Wie schwierig Bewältigung ist, wissen wir alle, wenn wir an die rechtliche Aufarbeitung denken. Wie wir inzwischen alle wissen, ist es nicht so einfach, mit ei-
Dr. Rainer Ortleb
nem Nicht-Rechtsstaat mit rechtsstaatlichen Mitteln fertig zu werden,
ohne selbst Praktiken des Nicht-Rechtsstaates anzuwenden. Denn das Prinzip, nach dem früher manches Recht gesprochen wurde, beruhte mehr oder weniger auf einer Umkehr der Beweislast. Wir aber müssen die Tat beweisen, wenn wir jemanden verurteilen wollen.
Eine andere Schwierigkeit ist, daß man für Geschichte und ihre Betrachtung Abstand braucht. Wenn Sie - ich bleibe in einem Bild - in einer Großstadt spazierengehen, werden Sie viele Türen, viele Straßenecken, viele Hausnummern, viele Simse, viele freundliche oder nicht freundliche Leute sehen. Wenn Sie sich aber mit einem Hubschrauber über der Stadt bewegen, erkennen Sie die Strukturen. Eines Tages haben Sie eine Karte über das Umfeld und die Zusammenhänge. Wir waren 1989 die Spaziergänger im Häuserviertel der Aufarbeitung und haben zunehmend die Perspektive des Hubschraubers erlangt. Die endgültige Kartierung wird diese Stiftung machen und auch schwierige Probleme, wie etwa den Alltag in der DDR, beschreiben. Wie schwierig das ist, haben wir in der Enquete-Kommission gemerkt, als wir die entsprechende Gruppe ins Leben gerufen haben. Es ist uns unglaublich schwergefallen, das überhaupt in Worte zu fassen, ohne daß es Nostalgie wird. Das ist eine andere Gefahr.
Ihre Redezeit ist um.
Abschließend möchte ich sagen, daß die Fraktion der F.D.P. diesem Stiftungsgesetz vorbehaltlos in der Erwartung zustimmt, daß die Stiftung ihre Aufgabe erfüllen wird.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Ludwig Elm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vertreter der PDS haben in der Enquete-Kommission am Konzept einer Stiftung zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mitgearbeitet. In der Plenardebatte zum Zwischenbericht der Kommission am 13. November 1997 wurde die grundsätzliche Zustimmung zum Stiftungsprojekt auch vor dem Hintergrund unserer Herkunft und der Verpflichtungen zur Wiedergutmachung sowie als Bereitschaft ausgedrückt, weiterhin an der allseitigen, kritischen Aufarbeitung von Gesellschaft, politischem System und Geschichte der DDR mitzuwirken.
In die Ausarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs wurden wir nicht einbezogen. Mit unserem
Änderungsantrag bejahen wir wiederum die eigentliche Stiftungsidee, indem wir beispielsweise einleitend in der Begründung schreiben:
Im Respekt vor den Menschen, denen in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR Unrecht zugefügt wurde, unterstützt die Gruppe der PDS die Errichtung einer Stiftung, die sich im besonderen Maße der Anliegen der Opfer annimmt. Zur Aufarbeitung
- so heißt es weiter wörtlich -
gehört auch die Sicht und die direkte Beteiligung der Opfer und die Auseinandersetzung mit den Unterdrückungsmechanismen.
Unser Antrag richtet sich auf die Versachlichung des Namens und des Auftrages der Stiftung sowie gegen den Ausschluß der PDS aus dem Stiftungsrat. Der Status als parlamentarische Gruppe ist besonders in diesem Fall ein in jeder Hinsicht unglaubwürdiger Vorwand. Er ist mit dem ursprünglichen parteiübergreifenden Anliegen des Stiftungsvorhabens unvereinbar und widerspricht wesentlichen Aussagen im Zwischenbericht, die sich an einer pluralistischen und kontroversen Geschichtsdiskussion orientieren.
Dieser Politikstil verfehlt elementare Ansprüche an eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Vergangenem, wie sie von Karl Jaspers bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert allgemeingültig formuliert wurde.
Die durchsichtige parteiegoistische Instrumentalisierung des Projekts bedingt Folgerungen für das Abstimmungsverhalten. Die Annahme unseres Antrages würde den breiten Konsens zur Konstituierung und Tätigkeit der Stiftung wiederherstellen. Anderenfalls werden die Abgeordneten der PDS in der Regel durch Enthaltung oder durch Gegenstimme ausdrücken, daß sie die von der Mehrheit des Hauses offensichtlich angestrebte parteipolitische Funktionalisierung und die erkennbar einseitigen inhaltlichen Vorgaben ablehnen. Sie werden ihre Verpflichtungen gegenüber den Opfern politischer Verfolgung und Repression in der DDR und deren legitimen Ansprüchen in anderen Formen zu verwirklichen wissen.
Ich gebe dem Staatsminister Anton Pfeifer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur, die wir heute beschließen, geht auf einen Vorschlag im Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" zurück.
Ich möchte deshalb namens der Bundesregierung zunächst einmal den Mitgliedern der Enquete-Kommission danken. Ich möchte vor allem auch dafür danken, daß Ihre sorgfältige Arbeit bewirkt hat, daß der Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung die-
Staatsminister Anton Pfeifer
ser Stiftung von allen Fraktionen dieses Hauses getragen wird. Für die Arbeit der Stiftung und für ihre zukünftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist dieser breite Konsens und Rückhalt im Deutschen Bundestag von großer Bedeutung.
Wenn wir auch durch die Errichtung dieser Stiftung immer wieder den Blick auf die Realitäten des SED-Staates richten, auf das Unrecht, welches in dieser Diktatur in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen Menschen zugefügt wurde, die für Freiheit, für Humanität, für Menschenrechte und Demokratie eingetreten sind, wenn wir immer wieder an die Ursachen, an die Mechanismen zur Durchsetzung des totalen Machtanspruchs des SED-Staates und an die Schäden und Folgewirkungen dieses totalitären Systems erinnern, dann geht es uns ausdrücklich nicht darum, den Menschen Vorhaltungen zu machen oder die Menschen zu verurteilen, die in diesem Staat gelebt haben.
Ich stimme der Feststellung der Enquete-Kommission ausdrücklich zu, daß zu einer solchen politischmoralischen Bewertung in erster Linie die Menschen aus der ehemaligen DDR aufgefordert sind und daß wir, die wir im Westen Deutschlands in diesen Jahrzehnten in der Sicherheit einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie gelebt haben, uns mit politisch-moralischen Bewertungen zurückhalten sollten.
Eines allerdings ist unsere gemeinsame Aufgabe: die Kennzeichnung des SED-Staates als ein illegitimes Regime und die darin zum Ausdruck kommende Absage an jede Form totalitärer Ideologien, Programme, Parteien und Bewegungen.
Denn dies ist ein fundamentaler Beitrag dafür, zu verhindern, daß sich ein von Gewalt, Unfreiheit und Diktatur geprägtes Regime wiederholen kann und daß neues Unrecht entsteht. Es ist dies auch ein fundamentaler Beitrag dafür, daß der antitotalitäre Konsens in unserer Gesellschaft gefestigt und gefördert wird, daß die junge Generation wachsam bleibt gegenüber demokratiefeindlichen Tendenzen, daß sich die Menschen in unserem Land die Sensibilität und Wachsamkeit gegenüber jenen Haltungen und Einstellungen bewahren, die totalitären Diktaturen den Weg bereitet haben und die sich niemals wiederholen dürfen, daß bei den Menschen unseres Landes und vor allem in der nachwachsenden Generation immer von neuem demokratisches Bewußtsein gestärkt wird und daß die Stiftung im Dialog mit der Öffentlichkeit zur inneren Einheit, zur Überwindung der Folgewirkungen der Diktatur und zur Versöhnung in unserer Gesellschaft beiträgt.
Die Bundesregierung wird deshalb das ihr Mögliche dafür tun, daß diese Stiftung schnell ihre Arbeit aufnimmt. Sie wird dazu nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die dazu erforderlichen Haushaltsmittel bereits im laufenden Haushaltsjahr überplanmäßig zur Verfügung stellen und im kommenden Haushaltsjahr für die Etatisierung der erforderlichen Finanzmittel Sorge tragen.
Die Bundesregierung wird auch das Ihre dazu beitragen, daß der politische Konsens, der zur Errichtung dieser Stiftung geführt hat, in der jetzt beginnenden Arbeit der Stiftung möglichst breit erhalten bleibt.
Dies, so meine ich, sind wir den Opfern von Diktatur und Gewalt schuldig. Wir sind es aber auch uns selbst und den nach uns kommenden Generationen schuldig, denen wir ein Leben in Freiheit, in Demokratie und in einer rechtsstaatlichen Ordnung sichern wollen. Denn wer das Vergessen verhindert, wer immer wieder zur authentischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Diktaturen beiträgt, der bringt den Menschen dadurch immer wieder von neuem zu Bewußtsein, was unsere Demokratie wert ist und daß wir jeder Gleichgültigkeit gegenüber der Verletzung der Menschenwürde, der Menschenrechte und des Friedensgebots entgegenzuwirken haben. Unser Grundgesetz ist geprägt von den Grundwerten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Das Bewußtsein für diese Werte unserer Verfassung gilt es zu stärken. Ich denke, daß diese Stiftung bei der Erfüllung ihres Auftrages genau dazu entscheidend beitragen wird.
Deshalb möchte ich Ihnen auch namens der Bundesregierung ausdrücklich dafür danken, daß dieser Gesetzentwurf heute mit der Zustimmung aller Fraktionen verabschiedet wird.
Damit schließe ich die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Wolfgang Bierstedt das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ursprünglich hatte ich die Absicht, dem Vorhaben „Errichtung einer Stiftung" zuzustimmen - und dies unabhängig davon, ob der Änderungsantrag der Gruppe der PDS zum vorliegenden Gesetzentwurf Berücksichtigung finden sollte oder nicht.
Ich wollte diesem Vorhaben zustimmen, weil ich einerseits als Obmann der PDS im 2. Untersuchungsausschuß dieses Hauses einen tieferen Einblick in die Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse der DDR vermittelt bekam, der mich in Teilbereichen nachdenklicher gemacht und für bestimmte Verhaltensweisen sensibilisiert hat. Ich wollte diesem Vorhaben zustimmen, weil für mich andererseits aus der Erklärung der PDS-Bundestagsgruppe, daß es in der
Wolfgang Bierstedt
DDR sowohl Recht als auch Unrecht gegeben hat, Konsequenzen abgeleitet werden müssen.
Ich wollte diesem Vorhaben zustimmen, weil ich glaubte, daß eine wissenschaftliche Aufarbeitung nach § 2 Abs. 3 des Gesetzentwurfes wesentlich zum Abbau von „Vorurteilen", „Desinformationen" und vorherrschender „Unkenntnis" - Teil A 1 der Begründung - hätte beitragen können. Ich wollte diesem Vorhaben zustimmen, weil ich die Formulierung in der Begründung, die „Lebenswirklichkeit in der DDR in den Blick nehmen und bearbeiten", als ein Signal betrachtet hatte, welches ich abseits von politischen Einseitigkeiten oder gar Wahlkampfbegehrlichkeiten in der auch heute noch gespaltenen Gesellschaft für unentbehrlich hielt. Stiftungsarbeit hat etwas mit wissenschaftlicher Arbeit und diese etwas mit Objektivität zu tun - so meine sicherlich etwas blauäugige Sicht.
Ich werde mich nach reiflicher Überlegung dennoch nur enthalten, weil erstens sowohl der unveränderbar erscheinende Text des Entwurfes als auch die heutige Debatte beim besten Willen nicht so interpretiert werden können, daß es um tatsächliche wissenschaftliche Aufarbeitung geht. Ich werde mich enthalten, weil zweitens die Gruppe der PDS zumindest für die Zeit, bis sie den Fraktionsstatus erlangt, aus einem Prozeß herausgehalten werden soll, der sie doch mit betrifft oder, besser gesagt, wo sie getroffen werden soll. Sollte die gestrige Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum § 6 des Gesetzentwurfes, zum Stiftungsrat, durchkommen, hätte die PDS auch als Fraktion keine Chance. Ich frage Sie: Weshalb fürchten Sie uns so in diesem Gremium?
- Herr Kollege Meckel, lesen Sie es ganz genau durch. Die Formulierung in der Beschlußempfehlung des Innenauschusses heißt - -
Herr Kollege Bierstedt, Sie können eine Erklärung abgeben, aber nicht wieder in eine Debatte eintreten.
Herr Kollege Meckel, vielleicht stellen Sie eine Frage. Dann kann ich darauf antworten.
Nein, er kann auch keine Frage stellen. Sie geben vielmehr eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung ab.
Danke schön, Herr Präsident.
Bitte schön.
Abgesehen davon ehrt mich natürlich die Sicherheit, mit der Sie uns einen Fraktionsstatus zuordnen.
Ich werde mich enthalten, weil ich drittens ganz einfach die große Gefahr sehe, daß Geschichte nicht aufgearbeitet, sondern für politische Zwecke instrumentalisiert werden soll. Diesen Schritt kann ich denn doch nicht tun.
Danke schön.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-
Diktatur, Drucksachen 13/9870 und 13/10325 Buchstabe a. Es liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/10326 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Gruppe der PDS zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung, und zwar mit der Berichtigung, die der Kollege Koschyk vorgetragen hat, zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung und einer Gegenstimme der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Dann treten wir in die
dritte Beratung
und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie zuvor in dritter Lesung angenommen worden ist.
Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Sicherstellung und Fortführung des gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesses durch Errichtung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung, Drucksache 13/10325 Buchstabe b auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4353 für erledigt zu erklären. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung einmütig angenommen worden ist.
Ich rufe die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Drucksachen 13/ 8700 und 13/10325 Buchstabe c auf. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme. Wer der Beschlußempfeh-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
lung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Wohnen im Alter
und
Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission
- Drucksache 13/9750 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Es liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe zunächst zur Kenntnis, daß die Kollegin Reinhardt ihre Rede zu Protokoll gegeben hat.*)
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für die Bundesregierung der Ministerin Claudia Nolte.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, 24 Stunden nach dem „Tag des älteren Menschen" eine Debatte über Seniorenpolitik mit Schwerpunkt zum Zweiten Altenbericht zu führen, die, wenn sie auch in vertrautem Kreise - wie das leider häufig bei eigentlich nicht ganz unwichtigen Themen ist - stattfindet, über das eigentliche zu beratende Thema hinausgeht.
Diejenigen, die sich damit befaßt haben, werden es selber feststellen: Der Zweite Altenbericht ist eine Fundgrube für alle, die sich mit dem Thema „Wohnen im Alter" befassen. Aber er geht auch weit darüber hinaus. Mit dem, was er zum Ausdruck bringt, unterstützt er meine Überzeugung, daß es Aufgabe einer modernen Altenpolitik ist, die Selbständigkeit älterer Menschen nachhaltig zu fördern, ihr gesellschaftliches Engagement zu stärken und Möglichkeiten für den Dialog mit der jüngeren Generation zu schaffen.
In diesem Sinne unterstützt er mit Nachdruck die zukunftsorientierte Altenpolitik der Bundesregierung. Wir müssen sehen, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Wir erleben einen gravierenden demographischen Wandel, der das Verhältnis von Jung und Alt in den nächsten Jahren total verändern
*) Anlage 2 wird. Wir entwickeln uns von einer Alterspyramide hin zu einem Alterspilz; das heißt, der Anteil der Älteren in der Bevölkerung wird größer.
Wir sehen: Es gibt nicht die Älteren. Sie sind keine einheitliche Gruppe; vielmehr haben wir inzwischen sogar zwei bis drei Generationen, die sich im Ruhestand befinden. So kann man sagen, daß es die aktiven Alten und die gesunden Alten gibt, es gibt die Hochbetagten, es gibt ältere Menschen mit unterschiedlich ausgeprägtem Hilfe- und Pflegebedarf.
Daher gibt es auch in der Altenpolitik für und mit Senioren die Notwendigkeit, sich an den unterschiedlichen Gegebenheiten zu orientieren. Wir brauchen auf der einen Seite Rahmenbedingungen, die aktives Altern ermöglichen, und wir brauchen auf der anderen Seite eine qualitätsvolle, bedarfsorientierte Hilfe. Dabei ist Wohnen im Alter für mich ein zentrales seniorenpolitisches Thema, denn Wohnen setzt in erheblichem Maße Rahmenbedingungen für das Leben im Alter, für die Gestaltung des dritten und vierten Lebensabschnittes. Wir wissen, je kleiner der Aufenthaltsradius der Älteren wird, um so wichtiger wird das unmittelbare Umfeld, und das ist dann die Wohnung.
Wir wissen: Die meisten älteren Menschen möchten so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung mit ihren gewachsenen sozialen Kontakten leben. Dafür brauchen wir eine gute Wohnzufriedenheit, die ein kompetentes und selbstbestimmtes Leben möglich macht, die die gesellschaftliche Beteiligung der älteren Menschen möglich macht. Deshalb müssen wir verstärkt darauf achten, diese normale Wohnform zu fördern und dort zu investieren.
Es besteht gar kein Zweifel: Maßgeschneiderte Hilfsangebote und rechtzeitige Anpassung des persönlichen Wohnumfeldes an die Bedürfnisse des Alters sind dementsprechend notwendig, damit ein Verbleib in der angestammten Umgebung möglich ist. Barrierefreies Bauen und Wohnen erleichtert es den älteren Menschen, täglich anfallende Besorgungen besser zu erledigen. Wohnstrukturen müssen kommunikativ wirken und die Funktion sozialer Netze stützen. Das heißt, wir brauchen Wohnungen, die es ermöglichen, daß Familien mit kleinen Kindern, mit erwachsenen Kindern genauso in dieser Wohnumgebung leben können wie ältere Menschen, damit der natürliche Dialog der Generationen leichter wird.
Wir wissen auch, daß wir in den neuen Bundesländern noch einen erheblichen Sanierungsbedarf haben. 26 Prozent aller Haushalte mit älteren Menschen finden sich in den neuen Ländern immer noch in Substandardwohnungen, das heißt in Wohnungen ohne Bad und WC.
Mein Haus hat die Anregungen der Altenberichtskommission bereits aufgegriffen und wird sie in einem umfassenden mehrjährigen Modellprogramm „Wohnkonzepte der Zukunft - Für ein selbstbestimmtes Leben im Alter" umsetzen. Dabei geht es um mehr als nur zu schauen, ob wir eine Wohnung altersgerecht ausgestattet haben. Es geht auch um die Frage der wohnortnahen Hilfen, der Infrastruk-
Bundesministerin Claudia Nolte
tur, der Möglichkeit zur Kommunikationsförderung und zum Generationszusammenhalt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ältere sind Teil unserer Gesellschaft, und viele möchten dies auch demonstrativ leben, sich einbringen und ihre Lebenserfahrung und Kompetenz der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Wir brauchen dann auch neue Verantwortungsrollen im Alter. Es wird in Zukunft notwendiger sein, Strukturen zu schaffen, damit sich Ältere entsprechend einbringen. Gerade wenn man bedenkt, daß der Anteil der Jüngeren geringer wird, und man den größeren Anteil Älterer sieht, kann leicht das Gefühl entstehen, daß hier vielleicht ein Teil auf Kosten des anderen lebt. Um so deutlicher müssen der Leistungswille, die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit der anderen Seite hervortreten, die dem jüngeren Teil zugute kommen. Deshalb beginnt mein Haus zur Zeit mit der Vorbereitung eines Modellprogramms zur Verankerung von Verantwortungsrollen, mit dem wir die Möglichkeiten ausloten wollen, daß ältere Menschen als Fachseniorberater zur Weitergabe von Lebenserfahrung innerhalb unserer Aus-, Fort- und Weiterbildungssysteme tätig werden, um diese Fachkompetenz abzufordern.
Die Zukunft unserer Gesellschaft wird heute wie zu keiner anderen Zeit von der Frage bestimmt, wie Jüngere und Ältere ihr Zusammenleben gestalten. Deshalb war für mich das Thema des Dialoges der Generationen von Anfang an ganz entscheidend. Wir müssen Möglichkeiten finden, daß Jung und Alt zueinanderkommen. Nur so verstehen sie sich in ihrer gegenseitigen Lebenserfahrung und auch in der Erwartung für ihr weiteres Leben. Deshalb haben wir vor einiger Zeit die Initiative „Dialog der Generationen" gestartet, bei der es darum geht, bundesweit einen Anstoß für solche generationsübergreifenden Projekte zu geben, mit der wir Länder und Kommunen motivieren wollen, dies ebenfalls aufzugreifen, und mit der vor allem auch die Medien angeregt werden sollen, mehr dieses positive Bild des Alterns und des Dialoges der Generationen zu vermitteln.
Fairneß zwischen den Generationen, Sicherheit und Schutz, Sicherung der materiellen Basis für das Leben im Alter sind die Leitlinien der seniorenpolitisch wichtigen Entscheidungen, die wir getroffen haben, gerade beispielsweise bei der Rentenreform.
Die gestiegene Lebenserwartung spiegelt sich natürlich in einer erhöhten Rentenbezugsdauer wider. Deshalb muß das in der Rentenhöhe seinen Niederschlag finden. Wir halten an der Leistungsbezogenheit der Rente fest. Auch die Leistung, die durch die Erziehung der Kinder für die Gesellschaft erbracht wird, ist mit der Rentenreform stärker gewürdigt, so daß wir mit Stolz sagen können, daß die CDU/CSU- F.D.P.-geführten Regierungen es waren, die die großen Säulen der Grundsicherung für die Bürger gegen Lebensrisiken geschaffen haben und dem mit der Pflegeversicherung seit 1994 eine neue hinzugefügt haben. Damit haben wir einkommensunabhängige Leistungen im ambulanten Pflegebereich geschaffen und im stationären Pflegebereich den Aufenthalt im
Pflegeheim für den älteren Menschen bezahlbarer gestaltet.
Ich denke, daß wir damit den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen. Denn wir müssen sehen: Auf Grund der veränderten demographischen Verhältnisse, auf Grund der häufigeren Erwerbstätigkeit von Frauen, auf Grund von mehr alten Menschen ohne Kinder und ohne familiäre Bezüge ist die Notwendigkeit außerfamilialer sozialer Bezüge um so dringender. Wir brauchen außerfamiliale Stütz- und Hilfsangebote, ein Netz von ambulanten, teilstationären und stationären Pflegediensten, die den Menschen angeboten werden.
Wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Pflegeversicherung mit 6,4 Milliarden DM in den Jahren zwischen 1995 und 2002 erheblich dafür sorgen wird - Sie, Frau Rönsch, haben einiges dazu beigetragen, daß das möglich ist -, daß Sanierungen in erheblichen Größenordnungen in den Pflegeeinrichtungen der neuen Bundesländer stattfinden können.
Deshalb wehre ich mich entschieden dagegen, daß gesagt wird, daß die Pflegeversicherung zu einer Verschlechterung der Situation in Heimen und im ambulanten Bereich beigetragen habe. Das haben wir in der Auseinandersetzung um die Heimpersonalverordnung hören dürfen. Das ist schlicht und ergreifend nicht wahr. Denn wir haben in vielen Teilen die Pflegesituation erheblich verbessert, sowohl im ambulanten Bereich wie natürlich auch in Heimen.
Wichtig ist für mich, daß wir weiterarbeiten an dem Schutzgedanken für den älteren Menschen und diesen auch auf den Sektor der ambulanten Hilfe übertragen. Da sehe ich noch einen erheblichen Aufarbeitungsbedarf in den strukturellen Fragen. Denn wir haben heute doch eine erhebliche Unübersichtlichkeit im Bereich der Altenhilfesysteme. Wir haben einen Großteil an Leistungserbringern, einen Großteil an Kostenträgern, und der Betroffene muß sich im Zweifel allein das notwendige Hilfepaket zusammenstellen. Wir haben keine Koordinierungsstelle, die ihm dabei unter die Arme greift und das günstigste Pflegepaket zusammenstellt. Angesichts dieser unübersichtlichen Struktur ist das sehr mühsam.
Wir sind bei der Qualitätsdiskussion erst am Anfang. Auch das wurde im Zuge der Diskussion über die Heimpersonalverordnung sehr deutlich.
Deshalb beabsichtige ich, aus Mitteln des Bundesaltenplans ein Programm „Altenhilfestrukturen der Zukunft" durchzuführen. Ich möchte dabei auch die Probleme der demenzkranken Menschen berücksichtigen, weil wir wissen, daß, wenn der Anteil an Hochbetagten steigt, auch die Gefahr und die Problematik von Demenzerkrankungen zunehmen. Solange wir noch keine Möglichkeiten der Therapie im engeren Sinne haben, ist es um so notwendiger, Unterstützungsleistungen für Demenzkranke zur Verfügung zu stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sicherheit und Schutz, das heißt auch Schutz älterer Menschen, auch vor Kriminalität und Gewalt, ob das im öffentli-
Bundesministerin Claudia Nolte
chen Raum ist oder im nahen sozialen Umfeld. Mein Haus hat seit langem dieses Thema Schutz vor Gewalt bearbeitet, in Modellprojekten aufgearbeitet. Es ist immer wieder erschreckend, Berichte über Vernachlässigung und Gewaltanwendung auch gegenüber Pflegebedürftigen hören zu müssen. Die erste repräsentative Dunkelfeldstudie in Deutschland, die von meinem Haus finanziert wurde, hat hier den Erkenntnisstand doch um einiges verbessert. Es ist notwendig, an diesem Punkt anzusetzen. Wir haben einige Maßnahmen bereits durchgeführt. Ich habe mir erst vor wenigen Wochen in Hannover die ersten Arbeitsschritte des von meinem Hause geförderten Modellprojektes „Gewalt gegen Ältere im persönlichen Nahraum" berichten lassen.
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, Seniorenpolitik setzt an bei der Lebensumwelt der Menschen. Wohnen und Wohnumfeld mit den Angeboten der Infrastruktur, einschließlich der Hilfeangebote bei Erkrankung und Pflegebedürftigkeit, sind dabei die am konkretesten erlebten Rahmenbedingungen für ein Alter in größtmöglicher Selbständigkeit. Mein Ziel ist es, Rahmenbedingungen für ältere Menschen so zu gestalten, daß diese Menschen als aktiver Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen werden, daß sie sich hineinbegeben können in diese Gesellschaft und daß sie in den Dialog mit den jüngeren Generationen eingebunden sind.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Marlene Rupprecht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr spät abends, und wir alle, die wir in diesem Ausschuß tätig sind, wissen, wie wichtig es eigentlich wäre, dieses Thema bereits am Nachmittag zu beraten. Wir können das aber leider nicht beeinflussen. Deshalb habe ich dagegen gestimmt, daß wir jetzt unsere Redebeiträge zu Protokoll geben.
Der Sachverständigenkommission, die den Zweiten Bericht der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland erstellte, sei für ihre fundierte, umfangreiche Arbeit gedankt. Aus dem Vorwort zu diesem Bericht möchte ich hier zitieren:
Obwohl dieser Bericht das Wohnen in den Vordergrund zu stellen hat, war es ein besonderes Anliegen der Kommission, die Ganzheitlichkeit moderner Altenpolitik zu betonen. Wenn nämlich das in unserer Gesellschaft deutlich zunehmende Gewicht der Älteren nicht einseitig und lähmend als Risiko ... gesehen werden soll, dann muß Altenpolitik in den Gesamtzusammenhang einer generationen-, geschlechter- und familienbezogenen sozialen Strukturpolitik eingeordnet sein, um ihrem Rang gerecht zu werden. Sie schwerpunktartig oder gar nur als Notlagenpolitik zu konzipieren wäre ein falscher Ansatz.
Drei wichtige Aspekte aus dieser Passage will ich nochmals betonen.
Erstens. Moderne Altenpolitik kann nur ganzheitlich gesehen werden.
Zweitens. Altenpolitik muß in den Gesamtzusammenhang einer generationen-, geschlechter- und familienbezogenen sozialen Strukturpolitik eingeordnet sein.
Drittens. Altenpolitik kann sich weder nur mit mobilen „jungen Alten" noch nur mit den pflegebedürftigen „Hochbetagten" beschäftigen.
Die Bundesregierung sieht sich in ihrer Altenpolitik durch die Arbeit der Sachverständigenkommission bestätigt, wie sie in ihrer Stellungnahme hierzu schreibt. Aber überprüfen wir doch die Altenpolitik der Bundesregierung in einigen Punkten auf ihre Ganzheitlichkeit. Heute morgen konnten wir lesen, daß das Kabinett beschlossen habe, die Übergangsfrist für die Heimpersonalverordnung um zwei Jahre zu verlängern.
Diese Entscheidung ist wahrlich zu begrüßen. Die Debatten hätten aber erst gar nicht begonnen werden müssen, wenn Sie auf den Rat der Fachleute und der Opposition gehört hätten.
Erst vehemente Proteste der SPD und der Verbände - Gott sei Dank haben sie lauthals protestiert - bewirkten diese Entscheidung.
Weiterhin fehlen dringende Nachbesserungen in der Pflegeversicherung, zum Beispiel bei der Einteilung der Pflegestufen, bei der Bewertung der ambulanten Pflege und bei der Definition des Pflegebegriffes. Auch in diesem Zusammenhang warten Betroffene und Verbände schon lange auf Maßnahmen, die längst überfällig sind. Erst gestern wurde wieder ein Entschließungsantrag der SPD im Familien- und Seniorenausschuß abgelehnt, mit dem die Situation Demenzkranker - also in der Regel Schwerstbetreuungsbedürftiger - wesentlich hätte verbessert werden können. Der Antrag wurde abgelehnt, obwohl Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, genau wissen, wie sehr gerade altersverwirrte Menschen und vor allem ihre Angehörigen Unterstützung benötigen.
Es bedarf ebenfalls dringender Reformen im Betreuungsrecht. Erst nach massivem Druck der SPD- Fraktion konnte man sich gestern im Rechtsausschuß auf einen Kompromiß verständigen, der vorsieht, daß in der nächsten Legislaturperiode im Sinne der zu Betreuenden eine Reform in Angriff genommen werden soll.
Es fehlt noch immer die Rechtsverordnung nach § 3 des Heimgesetzes, die die Einhaltung wichtiger
Marlene Rupprecht
Standards in der Kurzzeitpflege regeln soll. Diese Rechtsunsicherheit ließe sich durch wenig aufwendige Verordnungen beheben - keine Modellprojekte werden benötigt, sondern ganz einfache, kurze Verordnungen. Die Fachwelt und die Verbände waren sich bei der Anhörung des Familienausschusses zur Altenpflegeausbildung 1996 einig, daß auf eine bundeseinheitliche Ausbildung in der Altenpflege hingewirkt werden müsse. Selbst Herr Blüm hat heute nachmittag in seiner Rede zugegeben, daß es über 15 Definitionen für Fachpersonal in der Pflege gibt. Ich denke, das müßte doch Anlaß zum Handeln sein.
Anderthalb Jahre sind seit dieser Anhörung vergangen. Es liegt immer noch kein Ergebnis vor, im Gegenteil: Die CDU/CSU hat gestern den Antrag zur Behandlung der Altenpflegeausbildung das zweite Mal von der Tagesordnung des Familien- und Seniorenausschusses abgesetzt.
Damit hat sich die bayerische Regierung, die sich strikt gegen eine einheitliche Regelung sträubt, wieder einmal als Blockierer einer am Menschen orientierten Sozialpolitik gezeigt.
Deutlicher kann eine Regierung ihre eigenen Ansprüche durch ihr Handeln nicht konterkarieren.
Ich will hier nicht auf eine verfehlte Gesundheitspolitik, die Krankheiten im Alter zum Armutsrisiko macht, eingehen. Auch die Entwicklung in der Rentenpolitik sei hier nur als weiteres Indiz einer verfehlten ganzheitlichen Altenpolitik angeführt. Andere Politikbereiche will ich lieber nicht erwähnen.
Weil die Koalitionsregierung weder am Tag der älteren Generation noch an einem anderen Tag dieser Legislaturperiode auf eine ganzheitliche Altenpolitik eingeht, sich vielmehr selbstzufrieden mit der Vorstellung des Altenberichts zufriedengibt, wollen wir von der SPD-Fraktion wenigstens durch einen Entschließungsantrag auf den längst überfälligen Handlungsbedarf hinweisen.
Neben vielen Punkten, die die generationenübergreifende Wohn- und Siedlungspolitik betreffen - auf diesen Teil wird meine Kollegin Iwersen noch eingehen -, fordern wir die Bundesregierung auf, Vorschläge für konkrete Maßnahmen zu folgenden Bereichen vorzulegen:
Erstens. Der Informations- und der Meinungsaustausch zur Altenpolitik ist innerhalb der EU zu intensivieren.
Zweitens. Die Rahmenbedingungen für ehrenamtliche Tätigkeiten sind zu verbessern.
Drittens. Die Gründe, die zu frühzeitiger Erwerbsunfähigkeit führen, sind vor allem unter geschlechtsspezifischen Aspekten zu analysieren.
Viertens. Darüber hinaus ist die soziale Infrastruktur so zu gestalten, daß Alte und Junge überhaupt die Chance haben, gemeinsam zu wohnen und zu leben, ohne daß dabei eine Generation ins Abseits gedrängt wird.
Fünftens. Das Angebot haushaltsbezogener Dienstleistungen, die zur Unterstützung von älteren Menschen verstärkt nachgefragt werden, ist in privaten Dienstleistungsagenturen zu bündeln und die Bezahlung über Dienstleistungsgutscheine mitzufinanzieren. Dieses hat die SPD schon vor eineinhalb Jahren beantragt. Dieses Vorhaben wurde aber durch Ihre Ablehnung blockiert.
Statt dessen setzen Sie ohne Erfolg auf die steuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen für Haushaltshilfen. Dies benachteiligt vor allem aber die, die über ein so geringes Einkommen verfügen, daß sie steuerlich gar nichts geltend machen können.
Weiterhin ist die Bundesregierung aufgefordert, einen Bericht vorzulegen, aus dem das Preis-Leistungs-Verhältnis bei den Quadratmeterpreisen für die Wohnungen beim betreuten Wohnen hervorgeht, so daß hier für mehr Transparenz gesorgt wird und nicht nur vermögende Senioren diese Wohnform in Anspruch nehmen können.
Die Situation älterer Pflegebedürftiger ist dringend zu verbessern. Dazu müssen umgehend gesetzgeberische Maßnahmen für eine qualifizierte und bundeseinheitliche geregelte Altenpflegeausbildung getroffen werden.
Nicht zuletzt fordere ich die Bundesregierung dazu auf, hier einmal im einzelnen darzulegen, welche konkreten Folgerungen sie aus den Empfehlungen des Ersten Altenberichts tatsächlich gezogen hat und welche konkreten Maßnahmen sie nun zu ergreifen gedenkt, um den Empfehlungen des Zweiten Altenberichts Rechnung zu tragen, und zwar nicht nur in Modellprojekten, sondern auch in Maßnahmen, die der geforderten Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit gerecht werden.
Nun, meine Damen und Herren von der Regierung, können Sie sagen, die Opposition fordere unbillige Schritte. Meinen Ausführungen legte ich aber nur Ihre Maßstäbe aus dem von Ihnen in Auftrag gegebenen Altenbericht und die Beschlüsse des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugrunde.
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank,
Marlene Rupprecht
- die Herren werden nicht alt; sie sterben vorher - Ihr Anspruch auf ganzheitliche Altenpolitik genügt Ihren eigenen Maßstäben nicht. Ganzheitliche Altenpolitik wird wohl nicht mehr vor dem 27. September stattfinden. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik werden wir dies ändern.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Hannelore Rönsch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich hätte mir gewünscht, Frau Kollegin Rupprecht, daß dieses Thema - Senioren, ältere Menschen - hier im Plenum vielleicht einmal hätte einheitlich diskutiert werden können.
- Dazu werde ich Ihnen gleich etwas sagen. Man kann nicht nur Anträge vorlegen und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen, ohne nachher Lösungen anzubieten. So einfach darf man es sich selbst als Opposition nicht machen.
Ich möchte heute abend bei diesem Thema, wenn es um ältere, um alte Menschen geht, nicht in den normalen Tonfall verfallen, der hier Regierung und Opposition sehr oft begleitet.
Ich denke, das Thema ist für uns alle zu ernst. Wir sollten uns gemeinsam bemühen, für unsere ältere, unsere alte Generation Lösungsansätze zu finden.
Dieser Zweite Altenbericht hat für mich wieder sehr eindrucksvoll bewiesen, daß unsere älteren Mitbürger eigenverantwortlich in ihrer vertrauten Umgebung leben wollen,
daß sie nicht abgeschirmt und an den Rand gedrängt, wie es in den späten 70er Jahren der Fall war, sondern mitten in der Gesellschaft leben wollen. Sie wollen in der vertrauten Umgebung leben, solange sie ihr Leben selbst gestalten können.
Ich werbe immer dafür, daß man sich als älter werdender Mensch zu einer guten Zeit Gedanken darüber macht, wie die nächste Lebensphase aussieht.
- Eben. Deshalb habe ich das ausdrücklich gesagt. Herr Kollege Schmidt, ich denke, wenn ich den
„Kürschner" richtig kenne, könnten auch Sie ganz allmählich damit anfangen.
Viele von uns sollten sich zu einer guten Zeit Gedanken darüber machen: Wie sieht meine nächste Lebensphase aus? Kann ich in dem Wohnumfeld, in dem ich jetzt lebe, auch meine Zukunft verbringen? Ist ein Aufzug im Haus, falls ich einmal pflegebedürftig werde? Ist ein Arzt in der Nähe? Sind die Einkaufsmöglichkeiten und die Busstationen so gelegen, daß ich am Allgemeinleben teilnehmen kann? Wenn man dies zu einer guten Zeit tut, dann kommt, wenn man tatsächlich einmal krank und pflegebedürftig ist, nicht die Situation auf einen zu, daß andere über einen entscheiden. Darauf kommt es mir ganz wesentlich an.
Wer sehr viel mit Betreuung älterer Menschen zu tun hat, erlebt die erschreckende Situation, die dann ganz plötzlich vor den Älteren steht, weil sie sich entscheiden müssen, aber dazu nicht mehr alleine in der Lage sind, so daß andere für sie die Entscheidung treffen. Vor dieser Situation möchte ich Ältere bewahren und fordere immer wieder dazu auf, daß man früh darüber nachdenkt, wie die nächste Lebensphase aussieht.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland - so weist es der Altenbericht aus - noch etwa 600 000 Wohnungen, die modernisiert werden müssen. Auch hier bietet die Pflegeversicherung eine gute Hilfeleistung: Diejenigen, die pflegebedürftig werden, können bis zu 5000 DM über die Pflegeversicherung erhalten, um die eigene Wohnung umzubauen. Hier fordere ich die Städte, die Kommunen auf, entsprechende Serviceangebote zur Verfügung zu stellen. Ich kann meine Stadt Wiesbaden als Beispiel nehmen. Dort wird älteren Menschen Beratung angeboten, wenn sie im Rahmen der Pflegeversicherung diese 5000 DM in Anspruch nehmen wollen. Ich denke auch, daß durch das große Netz der Sozialstationen und der Serviceeinrichtungen, die wir geschaffen haben, Ältere in der Zukunft eigenverantwortlich leben können.
Trotz allem werden wir auch in der Zukunft Alten- und Pflegeheime brauchen. Trotz aller Serviceangebote in der Zukunft werden wir zusätzlich jährlich etwa 10 000 Pflegeplätze bereitstellen müssen. Hier wollen ältere, alte Menschen fließende Übergänge. Sie wollen die Altenwohnung, wo sie eigenverantwortlich leben. Sie wollen aber zum anderen auch das betreute Wohnen und dann auch die Pflege.
Hier hat mich, Frau Ministerin, in dem Altenbericht ein wenig irritiert, daß man Doppelzimmer generell abschaffen will. Durch viele Gespräche mit alten Menschen, die in Doppelzimmern leben und wohnen, weiß ich, daß sie gar keinen Wert darauf legen, alleine zu sein. Sie wollen noch Geräusche eines Nachbarn hören. Deshalb darf man Doppelzimmer in der Zukunft nicht generell abschaffen.
Wir haben aber in den neuen Bundesländern noch ganz andere Aufgaben zu lösen; denn dort müssen
Hannelore Rönsch
wir uns die Diskussion um Doppel- und Einzelzimmer noch nicht so verdeutlichen. Hier haben wir oft noch Altenpflegeeinrichtungen, wo Menschen in Acht- und Zehnbettzimmern untergebracht sind. Hier würde ich mir wünschen, daß trotz der Pflegeversicherung, die 800 000 DM pro Jahr über acht Jahre zur Verfügung stellt, alles ein wenig schneller geht.
Ich habe 1993 eine private Stiftung „Daheim im Heim" gegründet, die mit privater Initiative Altenpflegeheime in den neuen Bundesländen saniert und den Menschen, wenn es möglich ist, hilft, die sonst vielleicht trotz der Pflegeversicherung nicht mehr in einer entsprechenden Wohnumgebung leben können.
Hier hat diese private Stiftung - ich danke auch von dieser Stelle all denen, die mitgeholfen haben - sehr viel tun können. Wir konnten 24 Häuser sanieren, und der Abschluß der Sanierungsmaßnahmen bei zwei weiteren Häusern steht unmittelbar bevor.
Ich will auf ein Weiteres aufmerksam machen. Hier wende ich mich ganz nachdrücklich an die Jüngeren. Wohneigentum schmälert nicht das Alterseinkommen. Wer sich zu einer guten Zeit eine Eigentumswohnung oder ein Eigenheim kauft, dessen Alterseinkommen wird dann nicht um ein Drittel durch Mietzahlungen geschmälert.
Mit der Eigenheimzulage haben wir gerade jungen Familien die Möglichkeit gegeben, sich dieses eigene Dach zu schaffen. Ich betrachte dies als die vierte Säule der Altersvorsorge. Ich kann junge Familien nur ermuntern, mit dieser Eigenheimzulage für sich Wohneigentum zu schaffen; denn im Alter hilft das eigene Dach über dem Kopf, die Rente entsprechend anzupassen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der uns in Zukunft mit Sicherheit - ich hoffe, alle gemeinsam - zu neuen Überlegungen bringt. Wir werden im Rahmen der demographischen Entwicklung leider immer mehr Demenzpatienten in den Altenpflegeeinrichtungen haben. Diese Demenzpatienten verlangen eine ganz andere Betreuung, als der alte Mensch in den Pflegeeinrichtungen momentan erwartet.
Hier müssen wir uns neue Gedanken über die Konzeptionen auch in der Altenbetreuung und in der Altenpflege machen. Ich bin ganz sicher, daß wir, wenn wir hier gemeinsam arbeiten und dies gemeinsam tun wollen, für unsere älteren und alten Mitbürger mit Sicherheit Gutes bewegen können. An dieser Stelle ist Gemeinsamkeit gefordert.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rupprecht?
Aber sicher.
Bitte schön.
Frau Kollegin Rönsch, können Sie mir erklären, warum gestern in unserem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gerade diese Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Demenzkranken von den Mitgliedern der Regierungsfraktionen abgelehnt wurden, während sich im Gesundheitsausschuß alle einmütig dafür ausgesprochen haben, solche Verbesserungen durchzuführen?
Wir können, Frau Kollegin, hier nicht punktuell einzelne Dinge herauspicken und sagen: Das ist eine Konzeption. Mit diesem Altenbericht ist die Grundlage der Altenpolitik dieser Bundesregierung vorgestellt worden. Ich hätte mir schon gewünscht, daß auch von Frau Kollegin Rupprecht - Frau Kollegin Iwersen hat noch die Chance, das eine oder andere Positive zu sagen - erklärt wird, daß diese Gesamtkonzeption auch von Ihnen mitgetragen wird.
Es kann nicht sein, daß man sich einzelne Punkte herausnimmt und dann an dieser Stelle meint, das sei jetzt eine Konzeption. Lassen Sie uns gemeinsam darüber beraten. Ich sagte Ihnen schon: Altenpolitik wird auch in Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam weiterentwickelt werden müssen. Es reicht nicht, wenn man sich nur einen Teil der älteren Menschen herausnimmt. Altenpolitik muß einen gesamtpolitischen Ansatz haben. Es ist mir ein wenig zuwenig, wenn Sie sich tatsächlich nur auf die Demenzkranken beschränken. Sie stellen in der Gesellschaft einen hohen Anteil - die Ministerin hat darauf hingewiesen -; aber ich meine, daß dies alleine nicht ausreicht.
Wir haben seit 1990 in der Bundesrepublik Deutschland 3,8 Millionen Wohnungen neu gebaut und haben dadurch insgesamt eine gute Wohnraumversorgung. Dieses größere Angebot dient natürlich ganz besonders den älteren Menschen, weil auch sie hierdurch die Chance haben, sich die für sie angemessene Wohnung herauszusuchen.
Aber ich wende mich noch einmal ganz bewußt an die mittlere Generation; denn sie ist die Generation der Erben. Das sind jetzt die 45, 50 und 55 Jahre alten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie erben nun von ihren Eltern. 1995 wurden 150 Milliarden DM Privatvermögen vererbt. Auch diese mittlere Generation fordere ich auf, sich Wohneigentum anzuschaffen, damit das eigene Dach über dem Kopf im Alter dafür sorgt, daß das zur Verfügung stehende Alterseinkommen nicht durch Mietzahlungen entsprechend geschmälert wird.
Hannelore Rönsch
- Herr Kollege Willner, ich habe vorhin schon darüber gesprochen - ich weiß nicht, ob Sie da schon im Saal waren -, daß unsere Eigenheimzulage für mich die vierte Säule der Altersabsicherung ist, weil mit Wohneigentum natürlich das Alterseinkommen ganz anders abgedeckt ist und die Frage der Wohnung alte Menschen nicht mehr mit Sorge erfüllen muß. Damit haben sie die Chance zu sagen: Ich habe mein Dach über dem Kopf, kann frei entscheiden und meine Wohnung auch entsprechend altersgerecht umbauen.
Wenn wir gemeinsam die Bedürfnisse älterer und alter Menschen ernst nehmen, dann erwarte ich auch von der Opposition eine Gesamtkonzeption. Es kann nicht sein, daß man sich einzelne Punkte, die momentan vielleicht noch - das gestehe ich ein - schwer umzusetzen sind, herausnimmt. Legen Sie uns Ihre Konzeption für die Altenpolitik einmal vor,
dann sind wir sehr gerne bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren.
Ich bin ganz sicher: Mit der Altenpolitik, die wir in den vergangenen 16 Jahren den alten Menschen offerieren konnten und durften - ich beziehe hier auch die Pflegeversicherung ein -, werden wir auch im September ganz gut dastehen.
Das Wort hat die Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ergebnisse des Zweiten Altenberichts dokumentieren sehr deutlich die Veränderung der Wohnbedürfnisse alter Menschen und unterstützen die grünen Vorstellungen vom Wohnen im Alter: Das Modell des klassischen Altenheims hat ausgedient; statt in gettohaften Großanlagen leben ältere Menschen zusammen mit jüngeren Menschen in generationenübergreifenden Wohnhäusern; es gibt Wohnen mit Pflegeservice, Altenwohngemeinschaften, selbständiges Wohnen statt Leben in Sondereinrichtungen und Wohnbedingungen, die den Bedürfnissen der Menschen jeden Lebensalters gerecht werden und zugleich die Risiken des Alters berücksichtigen. Das sind die neuen Ansätze der Kommission.
So begrüßenswert die Ergebnisse des Berichts sind, entscheidender ist es, zu welchen Konsequenzen sie führen. Da stimme ich mit Ihnen, Frau Rönsch, überhaupt nicht überein. Ministerin Nolte hat gerade erklärt, daß sie die Selbständigkeit älterer Menschen nachhaltig fördern will. Die Realität, Frau Ministerin, sieht leider anders aus. Sie haben zwar über kleine Modelltöpfe eine Reihe von neuen Wohnprojekten gefördert, aber von einer Trendwende in der Politik für ältere Menschen kann hier nun wirklich keine Rede sein.
Vielmehr hat die Bundesregierung geradezu zu einer Verschlechterung der Wohn- und Lebenssituation älterer Menschen beigetragen.
Ich will das näher begründen: Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, waren es, die entschieden haben, daß die ambulante Pflege für ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen nicht mehr finanziert wird, wenn sich das Heim als die billigere Lösung erweist. Sie sind es, die entschieden haben, daß mittelbar durch die Pflegeversicherung nach wie vor gettohafte Mammutanlagen gefördert werden, aber individuelle Wohnformen kombiniert mit Pflegeleistungen außen vor bleiben.
Wo bleiben denn Selbständigkeit und Unabhängigkeit, wenn nach der Bauverordnung für Heime einem alten Menschen im Altenwohnheim gerade einmal 12 Quadratmeter für Wohnen und Schlafen zugestanden werden? An dieser Stelle stimme ich auch nicht mit dem Bericht überein, der vorschlägt, man solle doch 2 Quadratmeter dazugeben, so daß 14 Quadratmeter pro Person zur Verfügung stehen. Ich finde, diese 2 Quadratmeter können die Menschenwürde hier auch nicht retten.
Wo bleiben die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit, wenn ältere Menschen nach dem Umzug in ein Heim plötzlich nicht mehr die Rechte besitzen, die außerhalb des Heims jeder Mieter und jede Mieterin hat? Sind das der Respekt und die Hochachtung, die die Bundesregierung - so Kanzler Kohl zum gestrigen Tag der älteren Generation - für ältere Menschen übrig haben?
Warum haben Sie nicht schon längst mehr Geld für die Modernisierung von bestehenden Wohnungen in Ostdeutschland bereitgestellt, statt zuzulassen, daß große Beträge in Abschreibungsobjekte gepumpt werden? Dadurch haben Sie in Kauf genommen, daß in Ostdeutschland immer noch mehr als ein Viertel der Wohnungen älterer Menschen nicht einmal ein Bad oder ein WC haben. Erst jetzt wird die Förderung umgestellt. Dazu kann ich nur sagen: Willkommen in der Realität - neun Jahre nach der deutschen Einheit.
Da ich gerade beim Stichwort Einheit bin: Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind es doch auch, die sich einer bundeseinheitlichen Pflegeausbildung verweigern. Wie soll denn eine Anerkennung von Abschlüssen in Europa eigentlich aussehen, wenn es allein in Deutschland 16
- danke, 17 - unterschiedliche Ausbildungen gibt. Daß Sie gestern im Ausschuß mit Ihrer Mehrheit zum zweitenmal die Anträge der Opposition von der Tagesordnung gestimmt haben, um damit eine Ihnen offensichtlich unangenehme Diskussion im Parla-
Irmingard Schewe-Gerigk
ment zu verhindern, ist kein guter parlamentarischer Stil.
Wenn man sich all dies vergegenwärtigt, klingen die Schlußfolgerungen der Bundesregierung aus dem Altenbericht seltsam hohl. Mehr als eine leere Absichtserklärung vermag ich darin nicht zu sehen, wenn Sie, Frau Nolte, nun proklamieren, normales Wohnen solle stärker gefördert werden. Wenn Sie das wirklich fördern wollten, dann würden Sie neue Wohnformen mehrerer Generationen unterstützen. Ein erster Schritt - Frau Rönsch, hier sind die Lösungsvorschläge, die Sie nachgefragt haben - wäre, diese Wohnformen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus als förderungswürdig auszuweisen, wie es zum Beispiel der Antrag der Bündnisgrünen vorsieht.
Sie wissen doch genausogut wie wir, daß auch beengte Wohnverhältnisse und belastende familiäre Pflegesituationen eine Ursache für Gewalt gegen ältere Menschen sind. Um so unverständlicher finde ich es, wenn Sie selbst diese Anträge der Opposition, die die Ausschüsse bereits passiert haben, heute nicht zur Diskussion im Bundestag zulassen. Durch Mehrgenerationen-Wohnen ließe sich ein hohes Maß an sozialer Isolierung und an Gewalt gegen ältere Menschen vermeiden.
Es gibt einen weiteren Punkt, mit dem Sie andere Wohnformen, wie sie im Zweiten Altenbericht vorgesehen sind, geradezu behindern: die Wohnberechtigung im sozialen Wohnungsbau. Schaffen Sie endlich die unsinnige Regelung ab, wonach nur verheiratete Menschen mit ihren Angehörigen Sozialwohnungen beziehen können! Ihr antiquierter Ehe- und Familienbegriff verhindert, daß ältere Menschen gemeinsam oder mit jüngeren eine Sozialwohnung beziehen können. An diesem Punkt müssen Sie nicht sagen, das koste viel Geld. Das können Sie sofort umsetzen.
Wenn es Ihnen wirklich um die älteren Menschen geht, dann müssen Sie auch das Bundessozialhilfegesetz so ändern, daß sich ältere Menschen frei entscheiden können, welche Form der Pflege sie in Anspruch nehmen - ambulant oder stationär. Und Sie müssen nicht zuletzt die menschenunwürdigen Vorschriften ändern, die ältere Menschen in Heimen wirklich auf kleinstem Raum zusammenpferchen.
Meine Damen und Herren, Altenpolitik darf keine Nischenpolitik sein, sondern sie muß in viele Bereiche hineinwirken. Die Bundesregierung muß endlich ihren Beitrag dazu leisten, vielfältige Wohnmöglichkeiten für ältere Menschen zu eröffnen. Ich habe gerade erläutert, was wir vorhaben.
SPD und PDS haben viele differenzierte Einzelforderungen gestellt, denen wir ausdrücklich zustimmen, auch wenn manche nur in den Ländern erfüllt werden können.
Die Bündnisgrünen haben heute einen sehr realpolitischen Antrag gestellt, in der Hoffnung, damit die Mehrheit in diesem Hause zu erreichen. So könnten doch zumindest die bundesgesetzlichen Barrieren, die hier bestehen - auch der Altenbericht bringt sie ganz deutlich zum Ausdruck -, abgebaut werden. Neue Modelle des gemeinsamen Wohnens von Jüngeren und Äteren sowie Wohngemeinschaften älterer Menschen im sozialen Wohnungsbau, wie sie der Bericht fordert, wären dann möglich.
Ich wäre sehr erfreut über eine entsprechende Diskussion im Ausschuß und bitte Sie um Zustimmung.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Lisa Peters, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen! Vor Ihnen steht, so habe ich es dem Bericht entnommen, eine „junge Alte".
Mein Kollege Jürgen Türk - er ist nun weggegangen - wäre ein „zukünftiger Senior", und nach Erreichen des 75. Lebensjahres wäre ich dann die „alte Alte". So steht es jedenfalls in dem Bericht. Wir sehen: Ohne Zuordnungen und Bezeichnen kommen wir leider nicht mehr aus. Gleichzeitig signalisiert der Begriff „zukünftige Senioren" - das sind jene ab 50-, daß man in eine Lebensphase eintritt, die Veränderungen in das Leben bringen wird, mit denen man sich rechtzeitig auseinandersetzen muß.
Es ist so: Wir werden alle alt. Ja, wir werden viel älter. Wir erreichen ein Lebensalter, das unsere Großeltern fast nie erleben konnten. Das Durchschnittsalter einer Frau beträgt schon heute 79,5 Jahre - Tendenz steigend.
Ich denke, es ist eine Herausforderung für den einzelnen Menschen, diese Lebensphase als eine positive Zeitspanne zu begreifen und anzunehmen. Gleichzeitig müssen jedoch auch die Gesellschaft, die Institutionen und der Staat diese Lebensphase beratend und stützend begleiten.
Der Zweite Bericht der Bundesregierung zum Wohnen im Alter ist für mich, Frau Ministerin, eine wahre Fundgrube gewesen, mit guten Hinweisen und guten Fakten. Er zeigt die Veränderungen in unserer Gesellschaft, die es in vielfacher Hinsicht gibt, auf. Es wird nichts verdrängt und auf morgen verschoben. Die Lösung „Weiterleben wie bisher" kann es in Zukunft nicht mehr geben.
Ich denke, die zukünftigen Senioren müssen schon während der beruflichen Tätigkeit darüber nachdenken, wie sie die nächsten 20 bis 30 Jahre ihres Lebens verbringen wollen. Frau Rönsch, auch Sie haben das schon angeschnitten.
Die Antworten werden sehr unterschiedlich sein. Noch haben die meisten älteren Leute Kinder und eine Familie. Dies ändert sich in den nächsten Jahr-
Lisa Peters
zehnten abrupt, da zirka 25 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter keine Kinder mehr bekommen, oft auch keine wollen. Für diese zukünftigen Alten stellt sich die Frage nach einem Zusammenwohnen mit der Familie nicht mehr.
Doch gerade das Wohnen im Alter ist wichtig. Der ältere Mensch verbringt vier Fünftel seiner Lebenszeit in der Wohnung. Diese Wohnung muß sein Zuhause sein. Sie muß ein menschenwürdiges, zufriedenes und selbständiges Leben im Alter zulassen.
Der Bericht sagt: Wohnen hat etwas mit Schutz, mit Geborgenheit, mit Ruhe und mit Gewohnheit zu tun. Dies unterstreiche ich voll. Das Wohnen steht im Mittelpunkt des Lebens des älteren Menschen. Das heißt, man muß sich rechtzeitig entscheiden, ob noch ein Wohnortwechsel vorgenommen werden soll. Ein vertrautes Wohnquartier, das die Bedürfnisse des älteren Menschen abdeckt, die Dinge des täglichen Bedarfs bereithält, ein gemischtes Wohnen von Alt und Jung zuläßt sowie gute nachbarschaftliche Beziehungen aufweist, wäre optimal.
Ich meine, daß die Erkenntnisse, die in den letzten Jahren auf allen Ebenen gesammelt wurden, viele gute Hinweise geben. Mit der Anwendung hinken wir allerdings oft hinterher. Im Wohnungs- und Eigenheimneubau kann man ohne große Mehrkosten alten- und behindertengerechte Räume erstellen - aber nur, wenn vorher nachgedacht wird und die Anforderungen berücksichtigt werden. Ein Haus hält hundert Jahre, meine Herren und meine Damen. Stufen und Emporen sind wunderschön. Sie bilden jedoch Barrieren für Menschen, die behindert oder auch nur älter sind. Alles das, meine ich, muß man bedenken, wenn man sich in jungen Jahren seine eigenen vier Wände aufstellt.
Wohnen in den eigenen vier Wänden, solange es möglich ist - dies ist der Wunsch der meisten älteren Menschen. Ich denke, es ist ein Wunsch, der in der Regel erfüllt werden kann. Die Betreuung in der Wohnung kann heute fast immer gewährleistet werden. Fast alle Städte und Gemeinden haben sich in den letzten Jahren intensiv um die Versorgung und Betreuung der alten Menschen bemüht. Netzwerke wurden geschaffen oder befinden sich im Aufbau, Sozialstationen, Betreuungsdienste und private Anbieter machen das Angebot komplett. Hier sind allerdings - das muß man feststellen - noch viel Beratung und Information nötig. Die Angebote müssen noch mehr an die zu betreuenden Menschen herangetragen werden. Frau Ministerin Nolte, Sie haben in Ihrem Beitrag gesagt, daß Sie das in Zukunft sehr intensiv aufnehmen wollen.
Die Zahl neuer Wohnformen hat zugenommen. Betreutes Wohnen mit unterschiedlichem Service wird angeboten, gibt es überall. Hier setzt aber oft die finanzielle Leistungsfähigkeit des älteren Menschen eine Grenze.
Ich begrüße es, daß das Angebot vielfältig ist, daß die älteren Menschen wählen können - wenn sie es denn wollen. Dieses Wollen, meine Damen und Herren, ist unendlich wichtig. Eine Lebensveränderung kann nur positiv werden, wenn erkannt wurde, daß das „Weiter so" nicht mehr geht.
Viele alte Menschen leben allein in ihrer Wohnung. Sie haben oft wenig Kontakte. Menschen, die ihren Lebenskreis ausmachten, sind verstorben. Aber gerade der ältere Mensch braucht Kontakte, muß mit Menschen sprechen, sich austauschen, am Leben teilnehmen. Dies sind Voraussetzungen zur Erhaltung der Gesundheit. Deshalb ist ein Festhalten an einer Wohnung im dritten Stock, die nur über Treppen erreicht werden kann, nicht die Lösung.
Die älteren Menschen sind in der Regel nicht sehr mobil. Hier müßte das Gespräch rechtzeitig einsetzen. Wünsche, in eine altengerechte Wohnung umzuziehen, sollten beratend und finanziell unterstützt werden.
Ältere Menschen brauchen auch Kontakte zu jungen Leuten und Kindern. Der Mensch ist auf das Miteinander angewiesen. Einsamkeit macht krank, erzeugt Hilflosigkeit; das ist längst erkannt.
Für das Zwei-Generationen-Wohnen - in welcher Form auch immer - muß noch viel mehr getan werden. Hier sind auch Städteplaner und Investoren gefragt. Generationenwohnen ist auch ohne eigene Kinder und Verwandte möglich, vorausgesetzt, die Senioren wollen es und bringen sich ein.
Meine Herren und Damen, das Alter ist eine Lebensphase, die sehr lang sein kann. Dies ist eine Chance. Diese Chance muß man rechtzeitig erkennen, und man muß handeln.
Wenn man zu zweit ist, geht vieles leichter. Auch alleinstehende und alleinlebende Menschen haben eine Bringschuld. Auch sie müssen auf Menschen zugehen, ihr Leben notfalls verändern. Ein Wohnortwechsel kann damit verbunden sein. In meinem Wohnbereich ziehen immer mehr ältere Menschen in die Nähe des Wohnorts ihrer Kinder, die es beruflich in meinen Heimatbereich verschlagen hat.
Kinder und Enkelkinder sehen, mit ihnen sprechen, Anteil nehmen am Leben des anderen ist der Wunsch der Älteren. Ich denke, es ist ein Geben und Nehmen. Viele „junge Alte" versorgen und betreuen ihre Enkelkinder. Diesen Enkelsöhnen und -töchtern wird das Leben der hochaltrigen Großeltern sicherlich später nicht gleichgültig sein. Das ist einfach meine Beobachtung.
Ein aktives Leben im Alter, ohne Berufsleben, mit viel Freizeit, kann eine Bereicherung sein. Aber dieses Leben muß man annehmen und dann planen. Die älteren Menschen werden in Zukunft auch mehr von der werbenden und verkaufenden Welt wahrgenommen, verfügen sie doch größtenteils über Einkommen, die beachtlich sind.
Ich denke, es werden sich noch viele Dienstleistungsunternehmen ansiedeln, die ihre Tätigkeit speziell auf die Bedürfnisse der älteren Menschen ausrichten. Sie werden nicht ohne Arbeit sein, meine
Lisa Peters
Herren und Damen. Die ältere Generation ist eine große Bevölkerungsgruppe, ihre Zahl steigt stetig.
Die letzte Lebensphase des älteren Menschen wurde durch die Einrichtung der Pflegeversicherung erleichtert. Hier hat sich herausgestellt, daß die häusliche Pflege überwiegend in der eigenen Wohnung - die entsprechend eingerichtet sein müßte, wenn man alles rechtzeitig bedacht hat - erfolgen kann. Oft ist jedoch ein stationärer Aufenthalt unumgänglich. Auch hier hat der Fortschritt gerade im Baubereich in den letzten Jahren die Pflegesituation für die Betroffenen und das Pflegepersonal positiv gestaltet und erleichtert.
Zusammenfassend kann man sagen, daß noch vieles zu tun ist, daß wir aber auf dem richtigen Weg sind. Die meisten Menschen haben erkannt, daß das Alter durchaus eine positive Lebensphase sein kann, die viele Aktivitäten zuläßt, die mit einem aktiven Berufsleben nicht zu vereinbaren sind.
Für mich - und ich gehöre ja schon zu diesen „mittleren Alten" - ergeben sich mehr Chancen als Risiken, würde ich sagen. Wir müssen sie annehmen und auf allen Ebenen in unserer Gesellschaft miteinander arbeiten.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Heidi Lüth, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich möchte der Sachverständigenkommission für die Qualität des vorgelegten Berichtes besonders danken. Dies betrifft sowohl die Gründlichkeit, mit der die Datenlage erfaßt und bewertet wurde, wie auch die fundierten und realisierbaren - so der politische Wille vorhanden ist - altenpolitischen Empfehlungen. Der Bericht ist auch ein Beleg dafür, daß Politik für und mit Seniorinnen und Senioren nicht in einzelne Bereiche aufgeteilt werden kann, sondern ganzheitlichen Charakter hat.
Aber, Kollegin Rönsch, ich bin schon der Meinung, daß man dann, wenn es nicht möglich ist, die Ganzheitlichkeit auf einen Schlag umzusetzen, bei einzelnen Punkten beginnen muß und nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten kann.
Es ist schon bewundernswert, wie die im Bericht benannten Probleme zu der Grundaussage umfunktioniert werden, daß der Bericht die Altenpolitik der Bundesregierung bestärke. Diese Altenpolitik hat doch wohl auch dazu geführt - wenn ich das aus wohnungspolitischer Sicht betrachte -, daß Wohnungsprivatisierungen, auslaufende Sozialbindungen, verringerter Mieterschutz, unzureichende Wohnungsbauförderung und zu geringes Wohngeld bei nicht wenigen Seniorinnen und Senioren zu Lebensunlust und zu Angst vor dem Morgen führen.
Einige Einwände zur Stellungnahme der Bundesregierung seien hier benannt. So wird die Bedeutung des Wohneigentums als Altersvorsorge aus meiner Sicht sehr überbetont. In seiner realen Bedeutung ist dabei in den alten Bundesländern die Lage der heutigen Seniorengeneration sicherlich - so ist es auch mehrfach dargestellt worden - von der Lage der nächsten Generation zu unterscheiden. Die heutige Altengeneration hatte ja auch in den alten Bundesländern in ihrer mittleren Lebensphase, wie die Statistiken zeigen, weniger Möglichkeiten zur Bildung von Wohneigentum, als sie die folgende Generation vielleicht haben wird. In der DDR fehlten sowieso die entsprechenden Voraussetzungen.
Die Erhöhung der Wohneigentumsquote ist also in keiner Weise ein Königsweg zum besseren Wohnen im Alter und schon gar nicht für die über 70jährigen. Für entscheidender als Eigentumsformen halten wir die Wohn- und Bauformen. Dazu zählen in unserem Verständnis die verschiedenen Formen des betreuten Wohnens, die sich in Wohnanlagen oder mehrgeschossigen Wohngebäuden günstiger realisieren lassen.
Für kritikwürdig halten wir es auch, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme unzulässigerweise den Eindruck erweckt, daß mit dem Entwurf des Wohnungsbauförderungsgesetzes schon wesentliche Aspekte des Wohnens im Alter abgedeckt seien.
Wir haben in unserem Entschließungsantrag formuliert, wo politischer Handlungsbedarf aus unserer Sicht angesagt ist. Wir haben uns dabei ausschließlich an die Konsequenzen gehalten, die dem Thema des Berichtes und den Schlußfolgerungen der Sachverständigen entsprechen - dies auch deshalb, weil Politik für, mit und durch Seniorinnen und Senioren nicht nur am Wohnen im Alter festzumachen ist.
Frau Kollegin Lüth, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch.
Ja.
Frau Lüth, ich frage Sie, woher Sie den Mut nehmen, über Wohnen im Alter anderen Vorschläge zu machen.
Wenn ich es im „Kürschner" richtig gelesen habe, waren Sie schon 1989 Verantwortungsträgerin in der SED. Haben Sie sich seinerzeit einmal die Wohnsituation alter Menschen in der DDR vor Augen geführt? Waren Sie einmal in einem der 1400 Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen, wo die SED, die DDR jeden aussortiert hat, der nicht mehr zur Produktivität beitragen konnte? Wir haben heute noch an dem zu arbeiten, was uns die SED hinterlassen hat. Ich wundere mich über Ihren Mut.
Frau Kollegin Rönsch, wenn Sie eben einmal im „Kürschner" nachgeblättert haben, hätte Ihnen auffallen müssen, daß ich nicht schon, sondern erst im November 1989 eine Funktion innerhalb der SED übernommen habe und demzufolge nun sicherlich nicht die Verantwortliche für die Wohnungspolitik der DDR gewesen bin.
Ich weiß ganz genau, da ich aus Leipzig komme, welches Erbe die DDR im Bereich Wohnen, insbesondere im Bereich des Altenwohnens, hinterlassen hat. Ich weiß auch, daß in großen Foren, die der Seniorenbeirat unserer Stadt Leipzig durchgeführt hat, mehrfach konstatiert werden mußte, auch noch nach fünf oder sechs Jahren deutscher Einheit - ich will das jetzt nicht der deutschen Einheit anlasten, weil man manche Dinge nicht so schnell verändern kann -, daß, so zynisch das jetzt vielleicht auch klingt, je älter die Knochen, desto älter das Gemäuer, weil nämlich insbesondere bei Hochbetagten in den neuen Bundesländern und gerade in den Großstädten ein ungeheurer Substandard vorhanden ist, der nach und nach beseitigt wird.
Aber das Problem besteht jetzt eigentlich darin, daß durch diese Verbesserung in der Ausstattung der Wohnungen - in dem Bericht wurden dazu ja wegweisende Dinge benannt, die beispielsweise auch in Leipzig schon umgesetzt werden - die älteren Bürgerinnen und Bürger ihr soziales Umfeld nicht verlieren dürfen, sondern möglichst eine Wohnung in den Quartieren erhalten sollen. Das konnte leider durch die Form, in der viele Sanierungsprojekte in Leipzig und in anderen Großstädten umgesetzt werden, nicht erreicht werden.
Vielleicht darf ich noch auf einen Punkt hinweisen. Sie hatten vorhin und gerade auch noch einmal die Rolle der Pflegeheime genannt. Ich kenne die Pflegeheime der DDR, und ich weiß demzufolge auch, was bisher durch die Bundesregierung in den Pflegeheimen geleistet wurde. Ich komme darauf nachher noch einmal kurz zurück. Aber wenn man immer nur so tut, als sei die PDS die Angeklagte der Nation, muß ich darauf hinweisen, daß wir immerhin mit Stimmen der Bürgerinnen und Bürger in dieses Parlament gewählt wurden, die wir hier auch gerne vertreten wollen.
- Sie tragen doch zum Beispiel auch Verantwortung, Frau Eichhorn, für die Dinge, die jetzt passieren. Das muß man dann doch vielleicht auch einmal sagen.
Wenn die Bundesregierung die Verantwortung übernommen hat und auch weiter übernehmen will, muß es auch ihr Anspruch sein, eine demokratische, soziale und ökologische Wende in der Wohnungspolitik einzuleiten und ein überschaubares Mietrecht zu gestalten, das auch der älteren Generation sicheres und bezahlbares Wohnen ermöglicht. Dies ist aus unserer Sicht nicht allein mit der Eigentumsförderung zu ermöglichen, sondern insbesondere auch mit der Förderung des sozialen Wohnungsbaus, wie es hier schon verschiedentlich benannt wurde.
Wir halten es gleichfalls für erforderlich, eine Reform des Mietrechts durchzusetzen, damit auch den älteren Bürgerinnen und Bürgern, die das 70. Lebensjahr überschritten haben, ein Kündigungsschutz garantiert wird. Es erscheint uns ferner notwendig, das Wohngeld sofort anzuheben und den gestiegenen Mietkosten anzupassen. Diese Forderung basiert darauf - so hat auch der Bericht konstatiert -, daß insbesondere die Einkommen der alleinlebenden älteren Frauen, hier wieder vor allem der hochbetagten, schon heute zu über 30 Prozent für die Miete ausgegeben werden müssen. Sie können jetzt solche Formen des Wohneigentums, wie sie vorhin vorgeschlagen wurden, natürlich überhaupt nicht mehr nutzen.
Was das Wohnen im Alter betrifft, so halten wir es für erforderlich, betreute Wohnformen von Seniorinnen und Senioren rechtlich und materiell zu sichern und den Wohnaspekt in Pflegeheimen als Folge des höheren Anteils alleinlebender hochbetagter Frauen auszuprägen. Notwendig erscheint uns, gesetzgeberisch tätig zu werden, um alternative Formen altersgerechten Wohnens, zum Beispiel Selbsthilfeprojekte von Wohngemeinschaften Alleinlebender oder von Lebensgemeinschaften, die nicht das traditionelle Altenheim bevorzugen, zu unterstützen.
Hier sei mir noch ein Einschub erlaubt.
Ich bitte Sie, auf die Redezeit zu achten.
Darf ich diesen Einschub noch vortragen?
Ja, bitte.
Es wäre sehr schön, wenn ich einmal einen Bericht darüber bekommen könnte, wie die Pflegeheime, die heute in den neuen Bundesländern eine Zehn- und Achtbettenbelegung pro Zimmer haben sollen, von der Pflegeversicherung zugelassen werden; so etwas gibt es in den neuen Ländern eigentlich schon seit einigen Jahren nicht mehr.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Iwersen, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Rönsch war der Ansicht, wir hätten heute die Konzeption der Bundesregierung zu bewerten, und erwartete eine positive Stellungnahme von mir. Ich muß Ihnen sagen, daß ich einen Bericht einer weitgehend unabhängigen Expertenkommission gelesen habe. Dieser Bericht ist sehr sachlich und sehr fundiert; er ist auch schon von vielen hier gelobt worden. Aber er steht keineswegs im-
Gabriele Iwersen
mer positiv zu dem, was wir vorfinden und was hier in Verbindung mit Altenpolitik zu bewerten ist.
Was Sie, wenn Sie sich auf die Seite der Bundesregierung stellen, aus dieser Stellungnahme zum Bericht an Honig zu saugen versucht haben, ist allerdings nicht von allen nachzuvollziehen, und das wird auch mir nicht gelingen. Dazu weichen die Konsequenzen, die Sie sehen, zu sehr von dem ab, was von den Sachverständigen bilanziert worden ist.
Der Handlungsbedarf in Sachen Altenpolitik ist schon von meiner Kollegin Marlene Rupprecht aufgezeigt worden. Meine Bemerkungen beziehen sich im wesentlichen auf Stadtentwicklung und Wohnungsbau.
Der Bericht sei eine „Fundgrube", stellt die Bundesregierung fest. Das Wort habe nicht nur ich herausgefunden; das habe ich eben schon einmal gehört. Besonders merkwürdig ist, daß sich die Bundesregierung in ihrer Altenpolitik bestärkt fühlt. Auch das hat bereits eine Kollegin als Einstieg in ihre Rede gewählt. Aber der Opposition sei es gestattet, aus der „Fundgrube" auch andere Erkenntnisse zu gewinnen.
Zunächst möchte ich das Stichwort Wohnumfeld und Quartiersgestaltung aufgreifen, wo auf die Erreichbarkeit von Infrastruktureinrichtungen sowie von privaten und öffentlichen Dienstleistungen hingewiesen wird. Eine bedauerliche Entwicklung, die wir schon 1991 vergeblich kritisiert hatten, führt aber leider zum ständigen Verlust von wichtigen Angeboten im Wohnquartier. Die wohnortnahe Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, wie es so schön heißt, hat sich fast vollständig in Wohlgefallen aufgelöst. Die kleinen Supermärkte sind dem Konzentrationsprozeß im Einzelhandel zum Opfer gefallen. Die Post samt Postbank hat ihre kleinen Filialen wegrationalisiert, was, wie ich annehme, eine Auswirkung der Postreform ist. So könnte ich noch viele Beispiele anfügen.
Haben die Experten das beim Altenbericht vielleicht übersehen? Das ist keineswegs der Fall. Professor Großhans weist auf die spezifischen Charakteristika der Wohnquartiere hin, die es zu erkennen, zu erhalten und auszubauen gilt, und erklärt:
Das bezieht sich auch auf die vorhandene Infrastrukturausstattung, die heute vielfach in Folge der Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand durch Ausdünnung bedroht ist.
Danach fragt Großhans, was die Tauglichkeit von Wohnquartieren für das Leben älterer Menschen einschränkt. An erster Stelle nennt er die ungenügende oder fehlende soziale und kommerzielle Infrastruktur mit altengerechten Angeboten.
Man muß deutlich zwischen der Versorgung mit sozialen Diensten und der normalen Versorgungsstruktur des Wohnviertels unterscheiden. Die selbständige Lebensführung einschließlich der eigenen Versorgung ist fast überall nur dort möglich, wo Senioren Autos haben und sie noch bedienen können. Danach setzt weitgehend die Abhängigkeit von Diensten wie „Essen auf Rädern" ein. Erfahrungsgemäß führt das zu einem erheblichen Kompetenzverlust, denn nur die Tätigkeiten, die regelmäßig praktiziert werden, bleiben als Fähigkeiten erhalten.
Die Kommission plädiert für Maßnahmen, die eine kleine soziale Infrastruktur wie Gemeinschaftseinrichtungen zur Nachbarschaftspflege fördern und die notwendigen Betreuungs- und Pflegedienste in annehmbarer Entfernung bereitstellen. Genossenschaften und sozial orientierte Wohnungsunternehmen sind auf diesem Gebiet richtungsweisend.
Die Kommission mißt den sozialen und den gesundheitsbezogenen Diensten einen hohen Stellenwert bei der Aufrechterhaltung einer selbständigen Lebensführung bei. Dienstleistungen wie hauswirtschaftliche Dienste, Begleit- und Besuchsdienste, Pflegedienste, ambulante Rehabilitation, Vermittlung professioneller Hilfe im Notfall und auch die Vermittlung kultureller und geselliger Angebote und vieles mehr sind bereits verfügbar. Hier hat sich ein neuer Dienstleistungsmarkt entwickelt, der bereits recht flexibel auf die strukturellen Wandlungen im Altersaufbau der Bewohner räumlich begrenzter Wohnquartiere reagiert. Dies ist zweifellos eine Auswirkung der Pflegeversicherung, die im ambulanten Bereich auf mehr positive Resonanz stößt als in der stationären Pflege. Trotzdem muß darauf hingewiesen werden, daß die Versorgung bis jetzt keineswegs flächendeckend ist.
Der ländliche Raum ist noch weitgehend abhängig von sozialen Diensten mit langen Anfahrtswegen. Da der Alterungsprozeß in den dünner besiedelten Regionen bis zum Jahre 2010 zu größeren Zuwachsraten der Zahl der über 60jährigen führen wird, besteht hier erheblicher Handlungsbedarf, zumal landschaftlich reizvolle und ökologisch wenig belastete Gebiete, zum Beispiel das schöne Ostfriesland, durchaus mit zusätzlichen Wanderungsgewinnen der über 55jährigen rechnen können.
Sie bedürfen nicht nur einer Infrastruktur, die sich durch eine gute Sozialplanung der Kreise und Gemeinden sicherstellen läßt, sondern sie benötigen auch das soziale Geflecht von Freundschaft und Nachbarschaft, das die Generationen übergreift, als Grundgerüst für Hilfe, Geselligkeit und Teilhabe. Dieses soziale Netz entsteht nur auf der Grundlage von Gegenseitigkeit.
Im Bericht lesen wir:
Hier stecken die Solidariätspotentiale unserer Gesellschaft. Dieses sich stark wandelnde Geflecht muß als dynamisches Soziotop genauso gepflegt werden wie bedrohte Biotope in der Natur.
Hoffentlich stößt diese Formulierung nicht auf taube Ohren.
Doch zurück zur „Fundgrube" und zu den Städten: Funktionsmischung im Quartier ist die richtige Grundlage für Selbständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe im Alter. Darin sind wir uns einig. Wünschenswert ist die Rückgewinnung dieser Funktionsmischung in Altstadtquartieren, die starken Sanierungsbedarf aufweisen. Das gilt besonders für die
Gabriele Iwersen
ostdeutschen Städte, für die eigenständige sozial- und wohnungspolitische Strategien zu entwerfen sind. Beklagt wird der hohe Anteil an Substandardwohnungen, in denen gerade die älteren Menschen mit geringem Einkommen leben müssen.
Hier fordert die Kommission mit Nachdruck die Fortsetzung der Stadtsanierung und eine barrierefreie Modernisierung der Wohnungsbestände. Zitat:
Weil die Bevölkerung der innenstadtnahen Wohngebiete nur eine schwache Kaufkraft aufweist, kann bei den Sanierungen kaum auf die Mobilisierung privaten Kapitals gesetzt werden.
Der Hinweis auf den Bedarf an staatlicher Hilfe ist unüberhörbar.
Doch auch in westdeutschen Städten wohnen gerade alte Menschen in sanierungsbedürftigen Stadtquartieren, deren Bewohnerstrukturen einen weiteren starken Alterungseffekt erwarten lassen. Für derartige Stadtgebiete schlägt die Kommission vor, rechtzeitig eine förmliche Festlegung als Sanierungsgebiet zu erwägen, um Umbau und Modernisierung der Wohnungen durch die Eigentümer mit einer Senioren- und familientauglichen Wohnumfeld- und Quartiergestaltung aus öffentlichen Mitteln zu flankieren.
Durch diese Maßnahmen werden wieder gemischte Bewohnerstrukturen möglich. Alternative Wohngemeinschaften für Jung und Alt finden im Sanierungsgebiet genauso Platz wie institutionalisierte Wohnformen bis hin zur Pflegeeinrichtung, auf die wir leider nicht verzichten können und die auch nicht an den Stadtrand gehört.
In der Stellungnahme der Bundesregierung vermisse ich ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit der Städtebauförderung in Ost und West.
Da wir uns einig sind, daß jeder, der es wünscht, seine Selbständigkeit bis ins hohe Alter erhalten soll, wäre auch das Stichwort „Wohngeldnovelle" wichtig.
Vor allem - so läßt uns die Kommission wissen - beanspruchen Einpersonenhaushalte der über Sechzigjährigen Wohngeld. Wenn Minister Oswald jetzt wirklich in Sachen Wohngeld aktiv wird, sollte er auch an die Älteren im Lande denken. Der uns bekanntgewordene Vorschlag zur Anhebung des Wohngeldbudgets um 250 Millionen DM für 1999 wird der Aufgabe dieses sozialpolitischen Instruments jedenfalls nicht gerecht. Diesbezüglich könnte man sich bei Herrn Töpfer informieren. Er hat vor mehreren Jahren schon ein Vielfaches für notwendig erachtet.
Lassen Sie mich nur noch eine kurze Bemerkung zum Wohnungsbestand und den veränderten Wohnwünschen älterer Menschen machen. Trotz lautstarker Appelle schon bei der Geburt des Ausdrucks „barrierefreies Bauen" hat sich in der Praxis eine umfassende Anwendung dieses Leitgedankens bis jetzt nicht durchgesetzt. Ich vermute, daß der deutsche
Grundsatz „alles oder nichts" hierbei hinderlich ist. Statt stufenlose Hauseingänge und Wohnungsgrundrisse zu planen, die ohne nachträglichen Umbau gute Bedingungen für ambulante Pflege bieten - wenn sie denn nötig ist -, schrecken Wohnungspolitiker, Bauherren und Investoren zurück in der Annahme, Barrierefreiheit sei ein Werbeslogan der deutschen Aufzughersteller.
Was wir brauchen, ist Barrierefreiheit mit Augenmaß, um in allen Wohnquartieren den Anteil an Wohnungen zu steigern, in denen es sich trotz eingeschränkter Beweglichkeit selbständig leben läßt. Das gleiche gilt für das Wohnumfeld. Eine rollstuhlgerechte Stadt von oben bis unten aber hat niemand gefordert. Die Fehler, die im Zusammenhang mit der autogerechten Stadt gemacht worden sind, sollten nicht wiederholt werden.
Abschließend noch ein Wort zu den alternativen Wohnprojekten. Sie haben alle ihre Berechtigung und vielleicht auch ihre Zukunft. Aber die Entscheidung für eine solche Wohnform muß rechtzeitig fallen, nämlich in der aktiven Phase des Alterns. Man darf nicht unterschätzen, daß das Leben in einer neuen Gemeinschaft eine gewisse Toleranz und Flexibilität erfordert. Die Inanspruchnahme von Service nach Katalog bedarf einer realistischen Einschätzung der eigenen Finanzkraft. Qualitätssicherung und Preistransparenz sind schon genannt worden.
Zusammenfassend will ich mich der Bewertung des Berichts als Fundgrube gerne anschließen. Mir gibt diese Fundgrube aber sehr zu denken; denn sie zeigt, daß unsere Gesellschaft bis jetzt nicht im erforderlichen Maß auf die veränderten Bedürfnisse unserer zur Zeit immer stärker alternden Gesellschaft vorbereitet ist. Bei allen Aufgabenfeldern, auf denen Geld verdient werden kann, läuft die Arbeit gut an. Wo die Gesellschaft in Vorleistung treten muß, sieht es leider schlechter aus.
Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/9750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Gruppe der PDS auf Drucksachen 13/10298, 13/10287 und 13/10339 sollen an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Exportkontrollpolitik bei Rüstung und rüstungsrelevanten Gütern
- Drucksachen 13/5165, 13/5966 -
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Bachmaier, Norbert Gansel, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gegen die Erleichterung deutscher Rüstungsexporte
- Drucksache 13/5807 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ludger Volmer, Angelika Beer, Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Lieferung von Leopard I Panzern an Chile
- Drucksache 13/9889 —Überweisungsvorschlag:
Auswärtiges Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Verteidigungsausschuß
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10288 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre aber, daß sich die Fraktionen darauf verständigt haben, die Debattenbeiträge zu Protokoll zu geben. Es handelt sich dabei um den Beitrag der Kollegin Angelika Beer, des Kollegen Erich G. Fritz, des Kollegen Hermann Bachmaier, des Kollegen Jürgen Türk, Dr. Willibald Jacob und des Parlamentarischen Staatssekretärs Kolb. *) Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. -
Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/5807 und 13/9889 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10288 zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, an den Verteidigungsausschuß sowie an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur vorläufigen Rege-
*) Anlage 3 lung des Rechts der Industrie- und Handelskammern
- Drucksache 13/9378-
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Hans Berger, Hans Martin Bury, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern
- Drucksache 13/384 –
- Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Margareta Wolf und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Reform des Industrie- und Handelskammerwesens
- Drucksache 13/6063 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/9975 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Hansjürgen Doss
Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. haben gemeinsam einen Änderungsantrag und einen Entschließungsantrag eingebracht. Außerdem liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hansjürgen Doss, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag beschließt heute mit überwältigender, parteiübergreifender Mehrheit die Änderungen des IHK-Gesetzes. Ich begrüße es ausdrücklich, daß wir nach langen und intensiven Verhandlungen zwischen der Koalition und der SPD eine gemeinsame Linie entwickeln konnten. Die Industrie- und Handelskammern stehen damit im wesentlichen außerhalb der parteipolitischen Auseinandersetzung. D as war unser Ziel. Selbst Bündnis 90/Die Grünen und die PDS haben sich im federführenden Wirtschaftsausschuß bei der abschließenden Beratung enthalten und nicht gegen den Gesetzentwurf votiert.
Ich begrüße dies deshalb besonders, weil es in der letzten Zeit verstärkt auch grundsätzliche Kritik an den IHKs und radikale Stimmen der Ablehnung der IHKs gab und gibt. Konstruktive Kritik im Sinne einer Verbesserung des Systems der Industrie- und Handelskammern und ihrer Arbeit hat ihre Berechtigung. Demgegenüber ist klar: Ideen von einer Zerschla-
Hansjürgen Doss
gung des Kammersystems, das sich in vielen Jahrzehnten prinzipiell bewährt hat, haben in diesem Parlament keine nennenswerte Basis. Dies gilt im Grunde selbst für den Gesetzentwurf von Bündnis 90/ Die Grünen. Sie wollen zwar die Kammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften abschaffen. Gleichzeitig soll den sogenannten privatisierten Industrie- und Handelskammern e.V., aber eine Vielzahl der bisher erfüllten hoheitlichen Aufgaben im Wege einer Beleihung wieder übertragen werden. Ich meine, dies ist nicht konsequent und ein wenig halbherzig.
Ich sage: Wir bleiben bei dem bewährten Grundprinzip der öffentlich-rechtlichen Kammern und sorgen für eine gerechte und angemessene Beitragsordnung sowie dafür, daß die Kammern gute und wirksame Arbeit für ihre Mitgliedsunternehmen leisten.
Losgelöst vom vorliegenden Gesetzentwurf, der im wesentlichen Beitragsfragen für Kleinstgewerbetreibende betrifft, möchte ich folgende grundsätzliche Punkte noch einmal festhalten:
Erstens. Trotz aller Einzelinteressen jedes Unternehmens gibt es nach meiner Überzeugung sehr wohl so etwas wie ein Gesamtinteresse der Wirtschaft in einer Region, sprich: in einem Kammerbezirk.
Zweitens. Dieses Gesamtinteresse liegt oft jenseits von Angebot und Nachfrage und außerhalb konkreter Geschäftsinteressen einzelner Unternehmen und Branchen.
Drittens. Dieses Gesamtinteresse der Wirtschaft hat eher mit dem Gemeinwohl innerhalb einer Region zu tun, etwa mit Entwicklungen der Infrastruktur, mit Rahmenbedingungen für wirtschafltiche Entwicklung sowie mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, weniger mit den unmittelbaren Wünschen und Anliegen einzelner Unternehmen.
Viertens. Wenn man so will: Kammern sind originäre Einrichtungen einer sozialen Marktwirtschaft. Sie sind ein Element des deutschen Prinzips einer sogenannten Konsensgesellschaft.
Fünftens. Im übrigen nehmen Kammern echte hoheitliche Aufgaben wahr, die ansonsten von staatlichen Einrichtungen zu erfüllen wären - im Zweifel dann aber teurer und ohne die Praxisnähe, die die Selbstverwaltungseinrichtungen der Wirtschaft mit ihren ehrenamtlich tätigen Unternehmern auszeichnet. Beispiele: Berufsausbildung/Prüfungswesen, Vereidigung von Sachverständigen, Beglaubigung von Außenhandelsdokumenten, Sachkundeprüfungen und vieles mehr.
Vor diesem Hintergrund bekennen sich CDU/CSU, F.D.P. und SPD eindeutig zum System der Kammer als öffentlich-rechtlicher Körperschaft und damit zu einer gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft; denn alle Unternehmen sind zur Mitwirkung an diesen wichtigen Aufgaben aufgerufen, und alle Unternehmen sollten infolgedessen grundsätzlich auch an deren Finanzierung beteiligt sein.
Neben der Einigkeit über die grundsätzliche Anerkennung der Industrie- und Handelskammern sind sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages ebenso darin einig, daß die Effizienz der Kammertätigkeit noch deutlich gesteigert werden kann und muß und daß speziell die kleinen und mittleren Unternehmen hinsichtlich ihrer Beitragspflicht zu den IHKs entlastet werden müssen. In diesem Sinne haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf beschlossen und ergänzend dazu einen Entschließungsantrag von Koalition und SPD vorgelegt.
So wie das frühere Beitragsrecht Kleinstgewerbetreibende und Mittelständler vielleicht zu sehr aus der finanziellen Mitverantwortung für ihre Kammern entlassen hat, hat die Beitragsreform von 1992 die Kleinstgewerbetreibenden möglicherweise zu stark belastet. Hier soll das vorliegende Gesetz Abhilfe schaffen. Kammermitglieder mit nicht mehr als 10 000 DM Gewerbeertrag bzw. Gewinn aus Gewerbebetrieb sollen in Zukunft völlig von der Beitragspflicht freigestellt werden. Auf den ersten Blick mag diese Grenze ausgesprochen niedrig erscheinen. Über diese Grenze haben wir mit am meisten gerungen und diskutiert. In diesem Punkt hat der Kollege Uwe Jens seinen Einfluß nicht unmaßgeblich geltend gemacht und sich auch durchsetzen können. Es ist eine Frage des Verhandlungsgeschicks und natürlich des Wunsches, einen Konsens zu bekommen.
In vielen Kammerbezirken fallen bereits mehr als ein Drittel aller Kammerzugehörigen Gewerbebetriebe aus der Beitragspflicht heraus. Andererseits muß, auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, sichergestellt sein, daß eine deutliche Mehrheit der Kammermitglieder zur Finanzierung der Kammeraufgaben beiträgt. Dieses Ziel verfolgt auch der Gesetzgeber, vor allem im Lichte der eben dargestellten öffentlichen, gemeinwohlorientierten Aufgabenstellung für die Kammern. Wir gehen deshalb davon aus, daß in der Regel nicht mehr als rund ein Drittel aller Kammermitglieder beitragsfrei sein dürfen und daß sich das neu gestaltete Beitragsrecht an dieser Marke orientiert. Zusätzlich haben wir im Beitragsbereich eine Erleichterung für Personengesellschaften und Einzelfirmen eingeführt; deren Freibetrag bei der Umlage wird von 15 000 DM auf 30 000 DM verdoppelt.
Eine weitere Regelung im Bereich des Beitragswesens will ich ansprechen. Zunehmend arbeiten Freiberufler in der Rechtsform der GmbH und sind damit automatisch Mitglieder der Industrie- und Handelskammer. Da Freiberufler gleichzeitig Pflichtmitglieder in ihren berufsständischen Kammern sind, zum Beispiel Steuerberater, sollte eine gerechte Ausgleichsregelung geschaffen werden. Da in der Regel eine gewerbliche Tätigkeit im engeren Sinne bei derartigen Freiberufler-GmbHs nicht im Vordergrund steht, soll deren Beitrag zur IHK generell auf der Basis von einem Zehntel ihres Beitrags berechnet werden. Ich halte dies für eine sachgerechte Lösung, die einerseits die grundsätzliche Anerkennung der IHKs ebenso berücksichtigt wie andererseits die besondere Stellung der freien Berufe.
Hansjürgen Doss
Ein weiterer Sonderfall - die Nachfolgebetriebe der früheren LPGs in der ehemaligen DDR - soll hier ausdrücklich angesprochen werden. Hier hat es bisher eine spezielle Regelung gegeben, die nach Auffassung der Koalition und der SPD-Fraktion auch weiterhin Anwendung finden soll. In unserem Entschließungsantrag haben wir dies ausdrücklich als Erwartung gegenüber den Industrie- und Handelskammern in den neuen Bundesländern zum Ausdruck gebracht.
Des weiteren möchte ich aus dem Entschließungsantrag folgenden Punkt hervorheben: Die Gebühren der Kammern im Bereich der Lehrlingsausbildung müssen so bemessen sein, daß die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe nicht übermäßig belastet wird. Im Gegenteil: Die Kosten für die einzelnen Ausbildungsbetriebe müssen gesenkt werden, gegebenenfalls durch eine stärkere Finanzierung über allgemeine Beiträge wie über Gebühren.
Abschließend möchte ich ausdrücklich betonen, daß die Industrie- und Handelskammern zur Förderung ihrer Akzeptanz in vielfacher Hinsicht noch erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um sich stärker als Dienstleister für ihre Mitglieder zu präsentieren. Hier liegt eine große Chance für die Kammern und für viele Unternehmen. Viele Unternehmen schimpfen auf ihre Kammern mit dem Hinweis: Ich habe doch gar nichts von ihnen. - Diejenigen, die die Dienste ihrer Kammer einmal in Anspruch genommen haben, sind überwiegend sehr zufrieden. Kammern und Betriebe sollten also stärker aufeinander zugehen.
Ich bin froh, daß wir es nach vielen Verhandlungen, die sich über lange Zeit hingezogen haben, gemeinsam hinbekommen haben, daß unser Kammerwesen in dieser Vorwahlkampfzeit nicht in den parteipolitischen Streit hineingezogen wurde. Ich danke meinem Kollegen Paul Friedhoff von der F.D.P., der hier wesentlich mitgewirkt hat, und ebenso Uwe Jens von der SPD, der sehr hartnäckig seine Ziele verfolgt hat. Wir konnten uns aber am Ende verständigen. Das ist eine gute Sache für unsere Kammern. In diesem Sinne bedanke ich mich für die Mitarbeit, aber auch für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Uwe Jens, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir konnten auf die Beratung dieses Gesetzentwurfs nicht verzichten. Wir befinden uns in der zweiten bzw. dritten Lesung. Von der Befreiung von Kammerbeiträgen sind Hunderttausende von kleinen und mittleren Unternehmen betroffen, und an dieser Diskussion sind noch Hunderttausende von kleinen und mittleren Unternehmen interessiert. Insofern mußten wir, so meine ich, hierüber auch zu so später Stunde noch ein wenig diskutieren. Ich glaube auch, daß diese lange Diskussion über diesen Gesetzentwurf in den Kammern eine produktive Unruhe geschaffen und auch schon das eine oder andere verändert hat, was sehr vernünftig ist und was auch nicht aufhören darf, sondern aus meiner Sicht weitergehen muß.
Die Kammern - der wesentliche Inhalt des Entwurfs ist von dem Kollegen Doss bereits dargestellt worden - hatten bisher eine Grenze für Kleingewerbetreibende von 3 000 DM vorgesehen, bis zu der kein Beitrag gezahlt werden mußte. Die Koalitionsfraktionen wollten auf 6 500 DM gehen. Jetzt stehen in dem Gesetzentwurf 10000 DM als Grenze für den Gewerbeertrag, von der ab der Beitrag fällig wird. Damit haben wir etwa ein Drittel der Kleingewerbetreibenden von der Beitragspflicht befreit. Eigentlich könnten diese uns ein klein wenig dankbar sein.
Bei der gefundenen Regelung handelt es sich um einen Kompromiß, der, wie dies bei Kompromissen üblich ist, nicht alle befriedigt. Vielmehr wird es auch in Zukunft welche geben, die diesen Kompromiß gern abändern möchten.
Auf Grund eines Vorschlages der niedersächsischen IHKn, wie dies so schön heißt, wird in einem zusätzlichen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion, den wir auch noch zur Abstimmung bringen müssen, außerdem noch folgende kleine Regelung festgelegt: Gewerbetreibenden, die einer IHK mehrfach angehören - zum Beispiel mit Tochtergesellschaften -, kann von dieser ein ermäßigter Grundbeitrag eingeräumt werden. Alles in allem werden mit dieser Regelung den Kammern etwa 10 bis 20 Prozent der jeweiligen Einnahmen weggenommen. Für die Kammern in den neuen Bundesländern wird eine Übergangsregelung geschaffen. Diese Kammern sind im Aufbau begriffen und kommen nun zweifellos besonders unter Druck. Sie haben aber aus unserer Sicht auch die Chance, von vornherein schlanke, optimale Strukturen aufzubauen. Die westdeutschen Kammern werden dagegen abspecken müssen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es auf diesem Felde noch weitere Schritte geben könnte.
In einem gemeinsamen Entschließungsantrag stellen die Parteien fest, daß der öffentlich-rechtliche Charakter der Kammern weiterhin erforderlich und sachgerecht ist. Gefordert werden insbesondere der Abbau kammerinterner Bürokratie - diese ist stark ins Kraut geschossen -, mehr Öffentlichkeit bei den Vollversammlungen - hier besteht aus unserer Sicht ein Demokratiedefizit - und stärkere Einbindung möglichst vieler Mitglieder in die Selbstverwaltung. Das ist ganz wichtig. Das möchte ich hier noch einmal betonen. Hoffentlich vergessen das die Kammern nicht.
Der Bundestag verlangt, daß die „Gebühren im Bereich des Ausbildungs- und Prüfungswesens ... so bemessen werden, daß auch auf diese Weise zusätzlich Anreize zur Förderung der Ausbildungsbereitschaft" zustande kommen. - Einige Kammern haben auf diesem Felde schon etwas getan, andere stehen noch an, hier etwas zu tun. Ich glaube, bei der Ausbildung muß der Beitrag deutlich herabgesetzt werden. - In dem Entschließungsantrag heißt es weiter:
Dr. Uwe Jens
„Die Kammern müssen selbst einen spürbaren Beitrag zur Stärkung ihrer Akzeptanz bei den Mitgliedsunternehmen leisten." Sie müssen „sich noch stärker am Gedanken der Selbstverwaltung und der Interessenwahrnehmung sowie der Dienstleistung für die Mitgliedsunternehmen orientieren." Die Kammern „sind aufgerufen, ihre konkrete Arbeit zur Stärkung der Wirtschaftskraft ihrer Region, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Förderung von Existenzgründungen zu intensivieren. " Die Sozialdemokraten verlangen aber von den Kammern insbesondere - es hat Fälle gegeben, in denen das nicht der Fall war - insbesondere verstärkt parteipolitische Neutralität.
Mit der Zustimmung der Sozialdemokraten zum IHK-Änderungsgesetz gehen wir davon aus, daß sich die Kammern - und die sind schon etwas anderes als die Gewerkschaften - und insbesondere der Deutsche Industrie- und Handelstag in Zukunft jeder politischen Einflußnahme enthalten. Wenn aber der Präsident des Deutschen Industrie und Handelstages, Herr Stihl, weiterhin meint, er müsse im Wahlkampf einseitig Werbung für die CDU machen, so werden mit Sicherheit in meiner Partei die Stimmen immer lauter, die für die Aufhebung der Zwangsmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern plädieren werden.
Wir verkennen nicht, daß die Kammern gegenüber den privatwirtschaftlich organisierten Verbänden, die zum Teil hervorragende Arbeit leisten, auf Grund ihres öffentlich-rechtlichen Charakters klare Wettbewerbsvorteile besitzen. Die Unternehmen können aus den Verbänden austreten, aus den Kammern aber nicht. Würden die Kammern aber privatwirtschaftlich organisiert sein, könnten sie, so glaube ich wenigstens, den Verbänden mit ihrer angestammten Basis und ihrem Know-how offenbar noch mehr Wettbewerb machen als heutzutage.
Ich bin auch davon überzeugt, daß die Kammern im allgemeinen in der beruflichen Bildung gute und relativ preiswerte Arbeit im Interesse der Gesamtgesellschaft leisten. Eine Verstaatlichung dieser Arbeit kommt für uns überhaupt nicht in Frage.
Denkbar wäre aber sicherlich eine Art TÜV-Regelung, eine Lizensierung der beruflichen Ausbildung durch den Staat an andere vergleichbare Organisationen. So etwas gibt es ja. Aktuell wichtig ist vor allem, daß die Kammern die Kosten für die Abschlußprüfungen senken. Einige Kammern haben auf diese Art und Weise einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der Ausbildungssituation in unserem Lande bereits geleistet.
Daß die Kammern in der Region im allgemeinen die Interessen der Wirtschaft vertreten, kann ich aus meiner eigenen Region am Niederrhein nur bestätigen. Die Interessen der Wirtschaft sind jedoch sehr unterschiedlich. Leider hat sich auch bei einigen
Kammern ein gewisser Übermut, eine gewisse Arroganz der Macht eingeschlichen.
Wenn die Kammern sich nicht stärker gegenüber jedem Mitglied - ich füge hinzu: auch gegenüber den Nichtbeitragszahlern - als Dienstleistungsbetrieb verstehen, dann kann der Übermut zum Hochmut und damit zum Verhängnis werden.
Die IHK-Verweigerer oder „Kammerjäger", wie sie sich selbst gern nennen, können den Sozialdemokraten keinesfalls vorwerfen, daß sie den Kammern eng verbunden sind. Ich habe mal nachgesehen: Es gibt keinen Präsidenten und auch keinen Hauptgeschäftsführer, der etwa der SPD angehört,
nur einen stellvertretenden Geschäftsführer.
Wenn wir den öffentlich-rechtlichen Charakter der Kammern und die Zwangsmitgliedschaft nicht antasten wollen, so deshalb, weil wir glauben, daß - zur Zeit, füge ich gerne hinzu - die Vorteile dieses Systems offenbar größer sind als die Nachteile. Ich persönlich bin immer noch der Ansicht, daß es in einer marktwirtschaftlichen Ordnung sehr schwer zu begründen ist, warum jedes Unternehmen Mitglied einer Kammer sein muß. Das Kammerwesen hat bei uns manchmal seltsame Blüten getrieben. Von einer Kartellierung kann man sicherlich nicht sprechen, dennoch erinnert manches an längst vergangene Zeiten des Ständestaates.
Zur Zeit läuft auch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, auch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht in Düsseldorf gegen die sogenannte Zwangsmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1962 haben sich die Kammern auf ihre Pflichtaufgaben zu konzentrieren, und das ist leider nicht immer der Fall. Zur Zeit sind die Kammern eifrig darum bemüht, den Katalog ihrer Pflichtaufgaben auszuweiten, indem sie die Führung der Handelsregister von den Amtsgerichten übernehmen wollen. Aber dieses Hin- und Herschieben öffentlicher Aufgaben - wenn sie an einer Stelle gut erledigt werden - ergibt aus meiner Sicht wirklich keinen Sinn.
Dort, wo es jetzt angesiedelt ist, wird es ja gut gemacht - und auch erheblich besser, als das früher der Fall war.
Wir gehen davon aus, daß die Klärung dieser schwierigen Frage der Zwangsmitgliedschaft in nicht allzu
Dr. Uwe Jens
ferner Zeit erneut dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt wird.
Auch der Deutsche Bundestag verlangt in der Entschließung, von der ich eben gesprochen habe und die wir heute verabschieden werden, in vier Jahren erneut einen Bericht über die Vor- und Nachteile der IHKs. Wir Sozialdemokraten werden den Bericht und diese anstehende Entscheidung zur gegebenen Zeit sorgfältig prüfen.
Auch ich möchte dem Kollegen Hansjürgen Doss von der CDU und dem Kollegen Paul Friedhoff von der F.D.P. herzlichen Dank sagen. Wir haben lange zum Teil sehr strittig miteinander diskutiert, aber wir sind aus meiner Sicht am Schluß zu einem tragbaren Kompromiß gekommen.
Wir Sozialdemokraten sind ein wenig stolz darauf, daß wir entscheidend dazu beigetragen haben, ein Drittel der sogenannten Kleingewerbetreibenden insgesamt von der Pflicht zu Beiträgen an die Kammern zu befreien.
Herzlichen Dank.
Die folgenden Redner haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Margareta Wolf , Jürgen Türk, Roll Kutzmutz sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Kolb.*) Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Darf ich fragen, ob das Haus damit einverstanden ist, daß die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es muß seine Ordnung haben. - Das ist der Fall.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Änderung des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern; das sind die Drucksachen 13/9378 und 13/9975, Nr. I. Dazu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Abstimmung über den gemeinsamen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 13/10296. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/10289. Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der beschlossenen Änderung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Stimmenthaltung
') Anlage 4
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, trotz der vorgenommenen Änderung jetzt unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Dann ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 13/10297. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern; das ist Drucksache 13/9975, Nr. II. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 13/384 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die Reform des Industrie- und Handelskammerwesens auf Drucksache 13/6063. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/9975 unter III, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6063 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und Dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit" und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern
- Drucksache 13/10023 -
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
- Drucksache 13/10327 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Jacoby
Dr. Wolfgang Weng Karl Diller
Oswald Metzger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Mir ist mitgeteilt worden, daß die vorgesehenen Redner ihre Beiträge zu Protokoll geben. Es handelt sich um Dr. Hermann Kues, Hans Georg Wagner, Dr. Wolfgang Weng, Oswald Metzger und Dr. Barbara Höll. *) Ich gehe davon aus, daß das Haus einverstanden ist.
- Das ist der Fall. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit" und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern auf Drucksache 13/10023. Der Haushaltsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/10327, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und einer Stimme von der PDS bei sonstiger Stimmenthaltung der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen, Mehrheitsverhältnisse wie
vor.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Schiffssicherheitsanforderungen in der Seefahrt an den internationalen Standard
- Drucksache 13/9722 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/102271 -
Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre auch hier, daß es eine Vereinbarung
*) Anlage 5
gibt, die Reden zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Kollegen Dr. Dieter Schulte, Werner Kuhn, Egbert Nitsch, Horst Friedrich, Dr. Dagmar Enkelmann und Konrad Kunick. *) Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung der Schiffssicherheitsanforderungen in der Seefahrt an den internationalen Standard auf Drucksache 13/9722. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen, Mehrheitsverhältnisse wie vor.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS
Einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor einrichten - Massenarbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen bekämpfen
- Drucksachen 13/7147, 13/10293 -
Berichterstattung: Abgeordneter Adolf Ostertag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie mögen das überflüssig finden. Ich finde diese Art von Alleinunterhaltung auch nicht besonders spannend.
Ich sage Ihnen: Das ist für mich Motiv genug, dafür zu sorgen, daß hier ab dem 27. September eine PDS- Fraktion sitzt.
*) Anlage 6
Dr. Heidi Knake-Werner
Die PDS hat mit ihrem Antrag zur Einrichtung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors
einen weiteren Baustein dafür geliefert, wie die Massenarbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden kann und wie wir einen ökologischen und sozialen Umbau unserer Arbeitsgesellschaft gewährleisten können.
Die Ausgangsdaten haben sich seit dem letzten Jahr, in dem wir diesen Antrag eingereicht hatten, leider weiter verschärft. Nie zuvor haben die Arbeitsämter so viele Arbeitslose registriert wie heute. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist auf über 60 Prozent angestiegen, eine skandalöse Höhe, wie ich finde. Nie zuvor waren so viele junge Menschen ohne Job und damit ohne Zukunftschancen. Auch die enorme Zunahme von prekären nicht versicherungspflichtigen Billigjobs, von illegaler Arbeit und von Scheinselbständigkeit ist Beleg für die katastrophale Arbeitsmarktsituation. Dafür sind Sie verantwortlich.
Natürlich gibt es keine Patentrezepte; davon gehen auch wir nicht aus. Aber Rezepte von vorgestern, mit denen Sie hier vorzugsweise operieren, fahren den Karren nur noch weiter in den Dreck.
Wer heute zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit noch immer auf ungebremstes Wirtschaftswachstum setzt, der hat die Zeichen der Zeit verschlafen. Trotz Wachstum, trotz riesiger Unternehmensgewinne in den letzten Jahren steigen die Arbeitslosenzahlen. Viele verführt diese Situation zu der Annahme, uns gehe die Arbeit aus. Das meine ich nicht. Aber die Arbeitsproduktivität führt dazu, daß in fast allen Bereichen der materiellen Produktion enorm viele Arbeitsplätze abgebaut werden.
Die Annahme, daß die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffe, erweist sich zunehmend als Trugschluß. Auch der Dienstleistungsbereich wird in den nächsten Jahren zum Jobkiller.
Wo sich auf der einen Seite die Herstellung von Waren und die Erledigung von Dienstleistungen mit einem immer geringeren Arbeitseinsatz bewältigen lassen, erfordern auf der anderen Seite personenbezogene Dienste im Sozialbereich, in der Bildung und in der Kultur, aber auch bei ökologischer Sanierung und Reproduktion einen immer höheren Personaleinsatz. Diese Dienste werden auch immer wichtiger. Wir haben es also tatsächlich mit dramatischen Umbrüchen in unserem Arbeitssystem zu tun. Hier sind nicht alte Hüte, sondern neue Ideen gefragt.
Die PDS will mit ihrem Konzept für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor einen Beitrag für diesen notwendigen Umbau der Arbeitsgesellschaft leisten. Ein auf Dauer angelegter, zukunftsorientierter Sektor zwischen privater Wirtschaft und öffentlichem Dienst
eröffnet die Chance, Hunderttausende neue Arbeitsplätze zu schaffen, und ist zugleich ein unverzichtbares Instrument zur Verbesserung des sozialen, kulturellen und ökologischen Lebensniveaus, der Menschen.
Schon heute gibt es Gott sei Dank diesen Non-profit-Sektor; wichtige Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge, die durch den Kahlschlag der Sparpolitik der letzten Jahre dieser Bundesregierung zu veröden drohten, werden von ihm übernommen.
Vereine, Verbände, Initiativen, selbstorganisierte Projekte und eine Fülle an ehrenamtlicher Arbeit sorgen heute unter oft schwierigsten Bedingungen dafür, daß die sozialen Probleme nicht überborden und die Gesellschaft ganz auseinanderfällt. Nein, uns geht die Arbeit nicht aus. Im Gegenteil, der Bedarf an Dienstleistungen, die bezahlbar sind, nimmt enorm zu. Das sind Dienstleistungen, die sich nicht rechnen werden und auch nicht in Ihr neoliberales Konzept passen.
Das sind Dienstleistungen, die auf Dauer Subventionen benötigen werden, wenn Sie noch wollen, daß alle Menschen, unabhängig von ihrem Geldbeutel, diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Wie es kein Theater ohne öffentliche Subventionen gibt, solange man noch will, daß alle Menschen ins Theater gehen können, so wird es auch mit diesen Dienstleistungen sein.
Ich kann Ihnen eine Fülle von Bereichen nennen, wo solche Angebote zukünftig notwendig sein werden: Jugendlichen- und Seniorenfreizeitprojekte, Naherholungsprojekte, Breitensportagenturen, Gesundheits- und Wissenschaftsläden, Verbraucher- und Schuldnerberatung, Stadtbegrünung usw.
Die Ideen des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors sind bereits im zweiten Arbeitsmarkt angelegt. Aber dessen Schwachstellen wollen wir überwinden, weil der zweite Arbeitsmarkt diskriminiert und weil es dort befristete und unter Tarif bezahlte Arbeitsplätze gibt. Das alles wollen wir nicht.
Der ÖBS setzt bewußt auf Selbstorganisation und gemeinnützige Strukturen. Auch das will ich Ihnen noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Hier geht es nicht um die Ausweitung des Staatssektors oder um größeren Dirigismus - das haben Sie bislang immer noch nicht begriffen -, sondern darum, den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern und sie
Dr. Heidi Knake-Werner
demokratisch gestaltbar zu machen, bürgernah und unbürokratisch organisiert.
Das läßt sich auch finanzieren. Sie alle wissen, daß die Selbstfinanzierungsquote im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor sehr hoch ist. Sie liegt nach Angaben der Bundesregierung zwischen 75 und 85 Prozent. Es bedarf nur etwa 10 Milliarden DM an Vorleistung für eine Million Arbeitsplätze in diesem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Das entspricht etwa dem, worauf Sie durch die Streichung der Vermögensteuer im letzten Jahr verzichtet haben.
Wir sind also der Auffassung, daß der ÖBS eine Zukunftsinvestition und ein Standortfaktor ist, aber nicht für Ihren Wirtschaftsstandort, sondern für den Lebensstandort Deutschland.
Danke schön.
Die weiteren Redner geben ihre Beiträge zu Protokoll: Manfred Grund, Adolf Ostertag, Marieluise Beck und Uwe Lühr.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. - Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Dann schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Das ist die Drucksache 13/10293. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7147 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
- Können Sie ein bißchen ruhiger sein? Ich komme sonst durcheinander.
*) Anlage 7
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 13 a und 13b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Beförderung gefährlicher Güter
- Drucksache 13/10158 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gila Altmann , Albert Schmidt (Hitzhofen), Helmut Wilhelm (Amberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gefährdung durch Gefahrguttransporte minimieren
- Drucksache 13/9849 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Dazu gab es keinen Widerspruch. Ich höre aber, daß auch hierzu die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich dabei um folgende Kolleginnen und Kollegen: Hubert Deittert, Angelika Graf, Gila Altmann, Horst Friedrich, Dr. Winfried Wolf und Dr. Wolf Bauer.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus einverstanden ist. - Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/10158 und 13/9849 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich gehe davon aus, daß Sie damit einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit sind wir am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3. April 1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.