Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ganz besonders, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Sejm der Republik Polen, Herrn Bielecki, begrüßen zu dürfen. Herr Bielecki, der sich zu einem Besuch in Bonn aufhält, hat seinen Aufenthalt verlängert, um der heutigen für sein Land und für uns alle so wichtigen und bedeutenden NATO-Erweiterungsdebatte beiwohnen zu können.
Auf der Tribüne begrüße ich außerdem ganz herzlich die diesjährige amerikanische Delegation im Rahmen des parlamentarischen Austauschprogramms zwischen US-Kongreß und Deutschem Bundestag. Herzlich willkommen!
Ich wünsche gute Begegnungen und Gespräche zum Nutzen der deutsch-amerikanischen Freundschaft.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich einigen Kollegen nachträglich zum Geburtstag gratulieren. Es sind dies der Kollege Dr. Ingomar Hauchler, der am 15. März seinen 60. Geburtstag feierte,
der Kollege Siegfried Vergin, der am 17. März seinen 65. Geburtstag feierte,
und der Kollege Hans-Dietrich Genscher, der am 21. März seinen 71. Geburtstag beging.
Ich spreche allen drei Kollegen die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aus.
Die Fraktion der SPD teilt mit, daß der frühere Kollege Arne Börnsen aus dem Gremium nach § 41 des Außenwirtschaftsgesetzes und aus dem Gremium gemäß § 9 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses - das ist das G-10-Gremium - ausgeschieden ist. Als Nachfolger schlägt sie für das Gremium nach dem
Außenwirtschaftsgesetz den Kollegen Ernst Schwanhold und für das G-10-Gremium den Kollegen Dieter Wiefelspütz vor. Sind Sie damit einverstanden? - Es gibt keinen Widerspruch. Damit sind die beiden Kollegen wie vorgeschlagen als Mitglieder in den genannten Gremien bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung umzustellen und zu erweitern. Der geänderte Ablauf der Tagesordnung dieser Woche und die Ergänzungen liegen Ihnen mit der Zusatzpunktliste vor:
Donnerstag:
- Regierungserklärung und Aussprache zur NATO-Erweiterung
- Änderung des Wehrsoldgesetzes
- Beschluflempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Bundesnaturschutzgesetz
- Beratungen ohne Aussprache
- Aktuelle Stunde auf Verlangen der SPD-Fraktion zur Heimpersonalverordnung
- Castor-Transporte
- Schlanker Staat
- Asylbewerberleistungsgesetz
- Rechtschreibreform
- Europäisches Jahr gegen Rassismus
- Milchmarktpolitik
- Antipersonenminen/Verbot von Nuklearversuchen
- Arbeitszeitgesetz
- Beziehungen mit Indien
- Lage in Kambodscha
- IHKG-Änderungsgesetz
- Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1994 (abgesetzt)
Freitag:
- Staatsangehörigkeitsrecht
- Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Regierungserklärung und Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 1998
- Europol-Immunitätenprotokollgesetz
- Euro-Einführungsgesetz
1. Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung: Öffnung der Atlantischen Allianz für Polen, die Tschechische Republik und Ungarn
Vizepräsidentin Michaela Geiger
2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Wehrsolderhöhung - Drucksache 13/10191-
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes - Drucksache 13/10186 -
4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Rolf Kutzmutz, Dr. Willibald Jacob, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS: Veröffentlichung des Vertragsentwurfs „Multilateral Agreement on Investment" - Drucksache 13/10083 -
5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Vorstellungen der Bundesregierung zur Rücknahme der 4. Verordnung über die personellen Anforderungen für Heime
6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Castor-Transporte - Drucksache 13/10184 -
7. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Vorschriften der Land- und Forstwirtschaft - Drucksache 13/10187 -
8. a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung - Drucksachen 13/9817, 13/10197 -
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zum Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung vom 3. Dezember 1997 - Drucksache 13/10116 -
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. September 1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen - Drucksache 13/10075 -
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Vertrag vom 24. September 1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen - Drucksache 13/10076-
9. Beratung des Antrags der Fraktion CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Lage in Kambodscha - Drucksache 13/10185-
10. a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung des-Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch Kinder ausländischer Eltern - Drucksachen 13/8157, 13/10030 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Hermann Bachmaier, Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Erleichterung der Einbürgerung unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Gesetzesinitiative der Bundesregierung zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christoph Zöpel, Freimut Duve, Rudolf Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Unterrichtung des Deutschen Bundestages über internationale Vereinbarungen mit besonderer Bedeutung für die Ausländer-, Asyl- und Menschenrechtspolitik
- zu dem' Antrag der Abgeordneten Cern Özdemir, Kerstin Müller und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mindestkriterien für eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller , Amke Dietert-Scheuer, Christa Nickels und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klare Integrationssignale setzen: Für eine sofortige Reform des Staatsangehörigkeitsrechts - Drucksachen 13/259, 13/2833, 13/7505, 13/7923, 13/3657, 13/7677, 13/10030-
11. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU und F.D.P.: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes - Drucksache 13/10178-
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 219. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. Februar 1998 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf von den Abgeordneten Hartmut Koschyk, Rainer Eppelmann und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Markus Meckel, Siegfried Vergin und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Gerald Häfner, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Dr. Rainer Ortleb, Dr. Max Stadler, Ina Albowitz und der Fraktion der F.D.P. über die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur - Drucksache 13/9870 -
überwiesen: Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Sportausschuß
Haushaltsausschuß
Der in der 221. Sitzung des Deutschen Bundestages am 4. März 1998 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushaltsausschuß auch gemäß § 96 GO überwiesen werden.
Gesetzentwurf von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Förderung der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und anderer Formen der Vermögensbildung der Arbeitnehmer - Drucksache 13/10012-
überwiesen: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung,
Bauwesen und Städtebau
Haushaltsausschuß mitberatend
und gemäß j 96 GO
Der in der 222. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. März 1998 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Sportausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Klaus Riegert, Dr. Klaus Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Birgit Homburger und der Fraktion der F.D.P.
Sporttourismus, neuartige Sportaktivitäten und Umweltschutz - Drucksache 13/10017 -
überwiesen: Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Innenausschuß Sportausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
Sind Sie - soweit Sie zugehört haben - mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 c sowie Zusatzpunkt 1 auf:
2. a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach-
Vizepräsidentin Michaela Geiger
ten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 16. Dezember 1997 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn
- Drucksache 13/9815 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
- Drucksache 13/10063 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Lamers Karsten D. Voigt Gerd Poppe
Ulrich Irmer
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Ratifizierung der Beitrittsprotokolle zum Nordatlantikvertrag und weitere Umsetzung der NATO-Rußland-Akte
- Drucksachen 13/9858, 13/10064 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Karsten D. Voigt
Gerd Poppe
Ulrich Irmer
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 19. Juni 1995 zwischen den Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrags und den anderen an der Partnerschaft für den Frieden teilnehmenden Staaten über die Rechtsstellung ihrer Truppen sowie dem Zusatzprotokoll
- Drucksache 13/9972 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
ZP1 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Öffnung der Atlantischen Allianz für Polen,
die Tschechische Republik und Ungarn
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache über den Gesetzentwurf zur NATO-Osterweiterung namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat jetzt der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau des Hauses Europa geht voran. Gestern haben EU-Kommission und Europäisches Währungsinstitut ihre Vorschläge zum Euro-Teilnehmerkreis vorgelegt. Es gab keine Überraschungen: Deutschland ist dabei.
Heute verabschieden wir das Ratifikationsgesetz über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zum Atlantischen Bündnis, und am kommenden Montag fällt in Brüssel der Startschuß für die Erweiterung der Europäischen Union. Einen Tag später bereits beginnen die Verhandlungen mit den sechs ersten Kandidaten: Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern. Damit wächst in ganz Europa wieder zusammen, was zusammen gehört.
Das ist nach Jahrzehnten der Mauer und des Stacheldrahts ein Anlaß zur Freude und auch zur Dankbarkeit, gerade für uns Deutsche, die wir davon ganz besonders betroffen waren.
Der polnische Präsident Kwasniewski hat sich am Wochenende in Berlin für die Unterstützung Deutschlands beim NATO-Beitritt Polens bedankt. Wir Deutschen sollten uns daran erinnern: Ohne den Freiheitswillen unserer östlichen Nachbarn und Freunde hätten wir unser wichtigstes nationales Ziel, die Wiedervereinigung, nicht erreicht.
Deshalb war und ist es für uns Deutsche eine historische und auch eine moralische Pflicht, diesen Ländern bei ihrer Rückkehr nach Europa, ihrem Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union zu helfen.
Unsere Landsleute in Brandenburg, in Sachsen und Thüringen, in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern wurden unmittelbar mit der Wiedervereinigung auch von der EU und von der NATO mit wahrhaft offenen Armen aufgenommen. Die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Ungarn und andere hatten dieses Glück nicht; sie stehen noch draußen vor der Tür zur NATO und zur Europäischen Union. Sie klopfen an und sagen: Laßt uns rein! Es kann und es darf - das gilt vor allem für uns Deutsche - doch wohl nicht richtig sein, daß wir diesen Ländern über Jahrzehnte zugerufen haben: Legt den Kommunismus ab, legt den Marxismus-Leninismus ab, kommt in unsere freiheitliche westliche Lebensgemeinschaft!, um jetzt, wo es ein paar Probleme gibt, zu sagen: Für euch ist in diesem europäischen Haus leider kein Zimmer mehr frei. Das darf es mit uns nicht geben!
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Daß diesen Ländern jetzt Gerechtigkeit geschieht, war und ist vor allem auch dem Engagement der Bundesregierung zu verdanken. Wir haben in Europa gerade auch diesen Ländern gegenüber nicht nur Versprechungen gemacht, wir haben Wort gehalten, und dieses Verdienst der Bundesregierung wird international anerkannt.
Ich möchte gern ein Wort an Bündnis 90/Die Grünen richten. Die Politik der Bundesregierung als Anwalt der Reformstaaten bei ihrem Wunsch nach Beitritt zu EU und NATO ist auch ein Stück Versöhnungspolitik. Deshalb ist Ihre zu erwartende überwiegende Stimmenthaltung bei unserem heutigen Votum zur Öffnung der NATO für unsere polnischen, tschechischen und ungarischen Freunde nicht nur sicherheitspolitisch ein Unding; sie ist auch schlichtweg Undank.
Ich sage Ihnen, daß diese Haltung unhistorisch ist, und sie ist auch ein gutes Stück unmoralisch.
Genauso verhält es sich mit Ihren Forderungen nach Auflösung der NATO oder nach „Bundeswehr - raus aus Bosnien". In diesen Fällen geht es nicht um das Wolkenkuckucksheim, wie bei Ihrer Forderung nach 5 DM für den Liter Benzin oder Urlaubsreisen nur alle fünf Jahre.
- Herr Fischer, hören Sie heute besonders gut zu! - Was schlimmer ist: Eine solche Forderung widerspricht auch unserer Verantwortung vor der Geschichte, unserer Verantwortung für den Frieden und den Schutz der Menschenrechte. Wir sind gespannt, was Sie nachher sagen.
Man muß Ihnen schon zurufen: Haben Sie vergessen, wie die gepeinigten und verängstigten Menschen im Jahr 1996 in den bosnischen Dörfern vor ihren Häusern standen und die Ifor-Soldaten begeistert begrüßt haben? Es hat sich doch gezeigt: Wenn es hart auf hart geht, wenn Menschen in Not und Lebensangst geschützt werden müssen, dann braucht man eben einen starken und verläßlichen Helfer. Da gibt es nur einen: Das ist die NATO.
Das haben wir in Deutschland doch wahrhaft am eigenen Leibe verspürt. Die NATO war es, die die Sicherheit Deutschlands in der Zeit der Teilung unseres Landes und in der Zeit vor allem auch der Teilung
Berlins gewährleistet hat. Auch das sollten wir in einem solchen Augenblick nicht vergessen.
Es kommt nicht von ungefähr, daß unsere ostlichen Nachbarn nicht nur in die EU hineinwollen, sondern vor allem auch in die NATO, weil sie eben in diesem Bündnis ihre Sicherheit gewährleistet sehen, weil diese Mitgliedschaft, wie keine andere Schutz, Sicherheit und Stabilität garantiert.
35 Staaten stehen unter der Führung der NATO in Bosnien zusammen für den Frieden ein. Ich glaube, daß Generalsekretär Solana recht hat, wenn er die NATO als „magnetischen Pol" bezeichnet, um den alles kreist. Ohne diesen Pol wäre es nicht gelungen, den Handlungsspielraum des hohen Repräsentanten auszubauen, die Position der versöhnungsbereiten Kräfte in der Republika Srpska zu stärken und die Kriegshetzer in die Ecke zu drängen. Eine Beendigung der NATO-geführten internationalen Friedensmission in Bosnien würde all das mit enormer internationaler Unterstützung Erreichte wieder gefährden. Frieden, Wiederaufbau und Flüchtlingsrückkehr haben in Bosnien auch heute - leider - ohne militärische Absicherung noch keine Chance, weil wir eben noch keine selbsttragende Stabilität haben. Das muß jeder wissen, der gegen die Verlängerung unserer Bundeswehrpräsenz stimmen will. Er stimmt im übrigen, wenn er das tut
- Herr Fischer, nicken Sie nur -, gegen die Hoffnung der Menschen in der gesamten Region.
Deshalb haben ganz speziell Sie nach Ihrem Besuch in Srebrenica vor drei Jahren die Dinge offensichtlich genauso gesehen. Aber Magdeburg hat wieder einmal gezeigt, daß Ihre Partei in entscheidenden Fragen eben nicht hinter Ihnen steht - entgegen dem Eindruck, den Sie immer wieder erwecken.
Man kann in einer Situation, in der wir im Augenblick sind, nicht oft genug sagen: Sicherheit und Berechenbarkeit des mit weitem Abstand bevölkerungsreichsten Landes in der Europäischen Union, in der Mitte Europas vertragen keine Experimente.
Wir haben mit viel Mühe in die Völkergemeinschaft zurückgefunden und Vertrauen aufgebaut. Dieses Vertrauen zu verspielen wäre eine höchstgefährliche Angelegenheit.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Was Sie in Ihrem Programm haben, ist außenpolitisches ,,bungee-jumping", nur mit dem Unterschied, daß Sie nicht genau wissen, wie lang das Halteseil ist.
Mit Ihrer Ablehnung der NATO stellen Sie sich nicht nur außerhalb von vier Jahrzehnten bewährter deutscher Außen- und Sicherheitspolitik; Sie verweigern auch dem Bauplan Europa einiges. Hören Sie genau zu: Sie stoßen die Reformstaaten zurück und gefährden damit deren Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft. Sie leisten, ob Sie es wollen oder nicht, einer Renationalisierung in diesen Ländern Vorschub. Sie untergraben die Schaffung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität; denn die ist ohne die NATO nicht denkbar. Sie schaden vor allem auch - das ist ganz besonders wichtig - der transatlantischen Partnerschaft, dem neben unserer Sonderbeziehung zu Frankreich wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Eckstein.
Mit der Erweiterung und Öffnung von EU und NATO nehmen unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn ihren Platz in dem Europa ein, von dem sie jahrzehntelang ferngehalten wurden, in dem Europa, das mit dem Marshallplan, dem Europarat und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begann und das heute den größten Binnenmarkt der Welt umfaßt, sich eine gemeinsame Währung schafft und seine Anstrengungen für die innere und äußere Sicherheit seiner 370 Millionen, in weiterer Zukunft 500 Millionen Bürger bündelt. Diese historische Erneuerung unseres Kontinents wäre eben ohne das Atlantische Bündnis nicht möglich gewesen; denn ohne Sicherheit keine Demokratie und auch kein Wohlstand.
Die NATO stand nach dem Krieg für die Freiheit unseres geteilten Landes und des geteilten Berlin, für die Freiheit des geteilten Europa. Auch heute, nach dem Fall der Mauer, bleibt es die Aufgabe der NATO, den Frieden zu sichern - jetzt aber für ganz Europa. Zusammen mit WEU, EU, Europarat und OSZE muß sie auf unserem Kontinent die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft überall gedeihen können. Dabei lassen wir keine neuen Trennlinien mehr zu.
Die Öffnung des Bündnisses ist eingebettet in ein wirksames Konzept der Kooperation und der Vertrauensbildung. Die NATO-Rußland-Grundakte und die entsprechende NATO-Ukraine-Charta sind zusammen mit der Öffnungsentscheidung von Madrid ein Stück äußerst erfolgreicher euroatlantischer und deutscher Diplomatie und Friedenspolitik, das alle Skeptiker widerlegt hat. Ihr Kernelement ist das wachsende Vertrauen Rußlands und der Ukraine in unsere europäische Politik, das Vertrauen darin, daß wir beiden Ländern in Europa einen Platz einräumen, der ihrer großen Geschichte und ihrem Potential entspricht.
Ich möchte gern umgekehrt im Hinblick auf die Regierungsumbildung in Moskau in den letzten Tagen sagen: Ein solches Ereignis hätte vor ein paar Jahren noch Schockwellen ausgelöst. Heute sind wir weiter. Wir vertrauen darauf - ich glaube, das ist das Wesentlichste -, daß Rußland seinen Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft fortsetzt - unabhängig von Regierungswechseln. Das ist ein enormer Fortschritt für Europa und auch für die Welt. Dafür sollten wir allen Reformkräften in Rußland danken. Sie haben wahrlich keine leichte Aufgabe; um so bemerkenswerter sind ihre Leistungen und ihre Unbeirrbarkeit. Wir sollten hier im Deutschen Bundestag gerade in einer auch für Rußland etwas schwierigen Zeit sagen: Wir Deutschen werden dem russischen Volk auch in Zukunft zur Seite stehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im gesamten mittel- und osteuropäischen Raum hat allein schon die Perspektive des Beitritts zu EU und NATO für Stabilität gesorgt. Unsere Nachbarn haben - was viel zu wenig wahrgenommen wird - untereinander ihre Minderheiten- und Grenzprobleme weitgehend ausgeräumt, weil sie genau wissen - wir müssen es ihnen auch immer wieder sagen -: Es wird kein problembehaftetes Land in die EU oder in die NATO hereinkommen können, weil wir uns dies in beiden Wertegemeinschaften in Zukunft gerade beim Größerwerden einfach nicht leisten können.
Wichtig ist jetzt, daß der Prozeß der weiteren inneren Reform und Öffnung der NATO so fortgeführt wird, daß das gewonnene Vertrauen und die zusätzliche Stabilität in ganz Europa nicht wieder beeinträchtigt werden.
Das Sorgenkind Europas bleibt das ehemalige Jugoslawien. Die Lunte am Pulverfaß Kosovo ist nicht entschärft, auch wenn jetzt Gott sei Dank ein paar erste Schritte getan worden sind und vor allem das Bildungsabkommen abgeschlossen wurde.
Ich war letzte Woche mit meinem französischen Kollegen Védrine in Belgrad und in Zagreb. Wir haben in sehr langen, ausführlichen und schwierigen Gesprächen mit Präsident Milosevic einige Fortschritte, aber leider keinen endgültigen Durchbruch erzielt. Dieser Besuch war aber auch ein wichtiges Stück deutsch-französischer Gemeinsamkeit, das im übrigen auch gestern bei einer wieder sehr schwierigen Tagung der Kontaktgruppe hier in Bonn und auch in dem anschließenden Treffen mit den Außenministern der Region eine Rolle gespielt hat.
Es ist uns gestern nach sehr komplizierten Verhandlungen gelungen, in der Kontaktgruppe zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen. Es ist Präsident Milosevic nicht gelungen - ich glaube, das ist zentral wichtig und muß festgestellt werden -, uns auseinanderzudividieren. Das war ein Erfolg der
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
gestrigen Zusammenkunft, und das ist auch der große Unterschied zu 1991.
Alle haben in der Zwischenzeit ihre Bosnien-Lektion im wahrsten Sinne des Wortes gelernt.
Die klare Botschaft an die Konfliktparteien lautet - ich bitte den Deutschen Bundestag, diese Botschaft mit zu unterstützen, weil es wesentlich ist, daß dies nicht nur von den Regierungen getan wird, sondern auch von den Parlamenten, die hinter diesen Regierungen stehen -:
Erstens. Wir bestehen auf einer umgehenden Aufnahme von ernsthaften Verhandlungen über den Status des Kosovo mit der Führung der Kosovo-Albaner, und zwar ohne Vorbedingungen und auf der Ebene des Bundesstaates und der Republik. Präsident Milosevic, der immer wieder versucht, die Verantwortung wegzudrücken oder zu leugnen, muß wissen, daß er höchstpersönlich dafür die Verantwortung trägt und auch von uns dafür verantwortlich gemacht wird.
Zweitens. Delegationen beider Seiten müssen umgehend zusammenkommen, um einen Rahmen für einen substantiellen Verhandlungsprozeß festzulegen. Insbesondere muß die Teilnahme Außenstehender möglich sein.
Drittens. Wir unterstützen weder den Status quo noch die Separation. Ziel muß vielmehr eine Autonomie mit einer sinnvollen Selbstverwaltung sein.
Viertens. Belgrad muß mit Felipe González, dem persönlichen Beauftragten des amtierenden OSZE-Vorsitzenden und Sondergesandten der EU, zusammenarbeiten.
Fünftens. Beide Seiten, vor allem die serbische Polizei und die serbischen Sonderpolizeieinheiten, aber auch die Extremisten unter den Kosovo-Albanern müssen aufgefordert werden, sich jeder Gewalt zu enthalten.
Sechstens. Angesichts der mangelnden Fortschritte werden die in London am 9. März beschlossenen Maßnahmen beibehalten und durchgeführt, auch das Waffenembargo durch den UNO-Sicherheitsrat, und zwar bis zum 31. März. Das war gestern das zweite wichtige Ergebnis. Wir konnten Jewgenij Primakow, den russischen Außenminister, überzeugen - es war sehr schwer, bis er zugestimmt hat -, diesem Waffenembargo im Sicherheitsrat am 31. März für Rußland zuzustimmen.
Siebtens. In vier Wochen wird die Kontaktgruppe die Lage erneut überprüfen. Dabei wird sie einen Bericht der OSZE-Troika-Mission zu Rate ziehen. Falls Präsident Milosevic die Forderungen des Londoner Treffens bis dahin erfüllt hat, wird die Aufrechterhaltung aller bisherigen Maßnahmen überprüft, auch das Waffenembargo. Erfüllt Milosevic die Voraussetzungen nicht und kommt der Dialog auf Grund der Haltung der Bundesrepublik Jugoslawien oder der serbischen Behörden nicht zustande, werden wir, wie in London angekündigt, weitere Maßnahmen ergreifen.
Achtens. Wenn Belgrad die erforderlichen Schritte nicht unternimmt, wird sich auch der internationale Status des Landes nicht verbessern. Man muß wissen, daß Belgrad - leider - nicht in der UNO ist, nicht in der OSZE und nicht im Europarat, daß es keinen Zugang zu UNEP hat und keinen Zugang zu den internationalen Finanzorganisationen - es braucht aber Umschuldungen -, daß es keine Chance zum Kontakt mit IWF und der Weltbank hat, daß es keinen Zugang zu Europa, keinen Zugang zu PHARE-Programmen und keinen Zugang zu anderen Unterstützungsmaßnahmen hat. All das wäre möglich und könnte schrittweise eingeleitet werden. Wir wollen ja, daß die Serben ihren Platz in Europa wiederlinden. Sie hätten ihn, wenn sie so, wie es jetzt relativ positiv in den Fragen Republika Srpska und Ost-Slawonien geschehen ist, auch im Kosovo mitwirkten. Das muß Milosevic wissen; das müssen wir ihm von hier aus sagen.
Am gestrigen Treffen haben acht Außenminister aus der Region teilgenommen. Das war wichtig, weil jede Lösung Teil eines Regionalkonzepts sein muß. Es ist wichtig, was in Albanien geschieht. Es ist wichtig, was in Mazedonien geschieht. Wir müssen versuchen, den Waffenexport über die Grenzen hinweg zu verhindern. Das bedeutet: Verlängerung der UNO-Mission in Mazedonien, Grenzsicherung gegen Waffenschmuggel von Albanien in den Kosovo und Stärkung der regionalen Zusammenarbeit, und am wichtigsten ist: Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens brauchen eine europäische Perspektive. Das geht nur, wenn Milosevic mit uns zusammenarbeitet.
Wie sehr wir Deutschen daran interessiert sind, wie die Dinge im Kosovo laufen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Wir haben in der Zwischenzeit an die 400 000 Albaner in der Bundesrepublik. Allein 140 000 Asylbewerber in der Bundesrepublik sind aus dem Kosovo. In den letzten Monaten hatten wir einen Zulauf zwischen 500 und 2000 neuen Flüchtlingen. Allein im letzten Monat kamen 1500 Flüchtlinge aus dem Kosovo. Wir haben mit die Hauptlast zu tragen.
Völlig unabhängig von der Frage der Stabilität in der Region hat Deutschland ein Anrecht darauf, Herrn Milosevic zu sagen: Dies ist nicht nur eine innere Angelegenheit Ihres Landes. Vielmehr haben wir Deutschen daran, auch wegen der Bosnien-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Flüchtlinge, zu Recht ein ganz besonderes Interesse. Das müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen.
Wir leisten den mit Abstand größten Solidarbeitrag in Europa. Mehr als 20 Milliarden DM haben wir seit 1991 für den Frieden im ehemaligen Jugoslawien aufgewandt. Deshalb können wir von der politischen Führung dort verlangen, daß sie selbst den Willen zum Neuanfang unter Beweis stellt. Das Jahr 1998 muß einen entscheidenden Fortschritt in der Flüchtlingsrückkehr bringen, und zwar eben auch in bezug auf die Republika Srpska. Das ist deshalb wichtig, weil 60 Prozent der Flüchtlinge, die noch in Deutschland sind, aus der Republika Srpska stammen. Eine Rückkehr dorthin ist aber nur möglich, wenn die Krajina-Flüchtlinge von Präsident Tudjman nach Kroatien zurückgenommen werden, damit Raum für die Flüchtlinge hier aus Deutschland geschaffen wird.
Meine Damen und Herren, wenn die NATO im nächsten Jahr in Washington ihr 50 jähriges Jubiläum feiert, wird dies nicht nur für Polen, Tschechien und Ungarn ein ganz besonderer Anlaß sein; auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, feiern 1999 denselben, runden Geburtstag - ein Anlaß zur Rückschau, zum Dank an all unsere Freunde, vor allem auch an Amerika für all das, was es seit Kriegsende für uns getan hat. Die NATO ist dafür ein ganz besonderes Symbol geworden. 50 Jahre NATO sind aber auch Anlaß, mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft zu sehen. Denn die NATO steht nun einmal für die unauflösliche Freundschaft und Partnerschaft über den Atlantik hinweg. Sie war von Anfang an nicht nur ein Verteidigungsbündnis,
sie war immer auch ein zutiefst politisches Bündnis, ein Bündnis, das jetzt, über die Verteidigungsaufgabe hinaus, drei weitere zentrale Aufgaben hat: „peace keeping", „peace making" und vor allem, Nukleus dieser neuen europäischen Sicherheitsarchitektur zu sein.
Daß wir mit der NATO gut zusammenarbeiten, war Schlüssel für all das, was in der Vergangenheit erreicht wurde, und es bleibt ein Schlüssel für die Zukunft. Denn was die NATO anbelangt, gilt im wahrsten Sinne des Wortes: Gemeinsam sind wir stark!
Vielen Dank.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Günter Verheugen, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entscheidung, die wir heute vormittag treffen wollen, verändert für eine Reihe von europäischen Staaten, vielleicht auch für uns und vielleicht für ganz Europa, den Gang der europäischen Geschichte. Sie ist deshalb wichtig genug, um ein paar sehr prinzipielle Überlegungen an den Anfang zu stellen, die über den Tag und über den Anlaß hinausweisen.
Wer in Deutschland regiert oder regieren will, darf niemals vergessen, daß kein europäisches Land so sehr auf das Vertrauen seiner Nachbarn angewiesen ist wie Deutschland.
Für unser Land gilt ganz besonders, daß seine Außenpolitik verläßlich und berechenbar sein muß. Ein nationaler Konsens in den fundamentalen Fragen unserer außenpolitischen Orientierung ist deshalb nicht nur innenpolitisch enorm wichtig, sondern auch eine enorme außenpolitische Leistung.
Ich will deshalb auch klarstellen, daß eine außenpolitische Konzeption, die letztlich darauf hinauslaufen würde, den bestehenden stabilen europäischen Sicherheitsrahmen der NATO aufzulösen und damit Deutschland aus seiner wichtigsten sicherheitspolitischen Verankerung zu lösen, auch für eine Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung nicht einmal ein Verhandlungsgegenstand sein könnte.
Die internationale Öffentlichkeit wird sehr genau beobachten, wer sich heute hier im Deutschen Bundestag wie verhält - und aus etwas anders gearteten Gründen die deutsche Öffentlichkeit übrigens auch. Verhaltensweisen, die so verstanden werden könnten, als wolle Deutschland bewährte Partnerschaften aufgeben und durch vage Zukunftskonstruktionen ersetzen - auch wenn etwas ganz anderes gemeint sein sollte -, führen zwangsläufig zu Verunsicherung und Mißtrauen bei unseren Partnern und Nachbarn. Es lohnt sich doch, darüber nachzudenken, warum wohl alle NATO-Mitglieder zu dem Ergebnis gekommen sind, daß die NATO für die europäische Sicherheit unverzichtbar ist. Eine andere deutsche Haltung würde zur Isolierung unseres Landes führen.
Das gilt auch für unsere Bereitschaft, unseren Teil zur Bewältigung der Konflikte in Europa, vor allem auf dem Balkan, zu leisten. Wir haben hier nicht nur eine Verantwortung; wir haben in der Tat auch ein Interesse, das stärker ist als das der meisten anderen europäischen Staaten. Wir können uns nicht auf den Standpunkt stellen, daß andere für uns Lasten übernehmen und die Arbeit tun sollen, die für uns als das Zielland möglicher Fluchtbewegungen ganz besonders wichtig sind. Wir müssen schon selber mitwirken und mithelfen. Darum ist es notwendig, daß wir bei der militärischen Sicherung des Friedensprozesses in Bosnien weiter mithelfen und daß die Bundeswehr dort ihre positive Rolle weiter spielt, und es ist wichtig, daß wir weiter daran arbeiten - mehr noch
Günter Verheugen
als in der Vergangenheit -, die zivilen Voraussetzungen für eine stabile, sich selbst tragende Demokratie in Bosnien zu schaffen.
In diesem Zusammenhang ein Wort zu Serbien und zum Kosovo, weil der Bundesaußenminister die Gelegenheit genutzt hat, im Rahmen dieser Regierungserklärung sehr ausführlich zu dieser aktuellen Frage zu sprechen. Wenn es eine Konfliktregion in Europa gibt, deren Gefährlichkeit und Virulenz seit vielen Jahren bekannt sind und die immer und immer wieder von den Fraktionen des Bundestages im Auswärtigen Ausschuß und hier im Plenum behandelt worden ist und in bezug auf die immer und immer wieder angemahnt worden ist, daß eine Lösung gefunden werden muß, dann ist das der Kosovo gewesen. Seit genau zehn Jahren beschäftigen wir uns mit diesem Problem. Es schmerzt doch, zu sehen, daß immer erst Gewalt ausbrechen muß, daß eine Explosion unmittelbar bevorstehen muß, bevor dann tatsächlich etwas geschieht und eine - es tut mir leid, Herr Kinkel, das sagen zu müssen -, jedenfalls von außen betrachtet, etwas hektisch und unkoordiniert wirkende Diplomatie einsetzt.
- Es ist leider so.
Ich konnte dem, was Sie gesagt haben, auch nicht entnehmen, ob wirklich ein tragfähiges Konzept zur Bewältigung dieser Krise vorliegt. Meine Vermutung ist, daß der Hinweis auf den früheren Autonomiestatus und der Versuch, ihn wiederherzustellen, heute bereits nicht mehr ausreichen, -
- das haben Sie nicht gesagt -, um den Kosovo zu befrieden. Vielmehr muß man eine Ebene der Staatlichkeit für den Kosovo finden, die ungefähr der Ebene unserer Bundesländer entspricht. Mir scheint, daß der einzig gangbare Weg der ist, eine echte Föderalisierung der Bundesrepublik Jugoslawien zu erreichen. Dann hätte der Kosovo etwa den Status von Montenegro. Das Problem wird sein, daß Serbien einen solchen Zustand als eine Bedrohung für die territoriale Einheit des Gesamtstaates empfindet. Wenn es Ihnen, Herr Kinkel, gelingen könnte, im Rahmen der Kontaktgruppe eine Garantie zu finden, die die territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien nicht nur nach außen, sondern auch nach innen sichert, dann könnte das vielleicht ein Weg sein. Aber dazu ist es notwendig, gegenüber Serbien eine sehr deutliche Position einzunehmen. Sie haben hier eine sehr harte - eine ungewöhnlich harte - Sprache gefunden. Ich habe dem nichts hinzuzufügen, außer
einem: Ein Waffenembargo in diesem Teil Europas muß auch durchgesetzt werden können.
Deshalb scheint es mir notwendig, auch darauf hinzuweisen, daß die Mission der Vereinten Nationen an der Grenze zwischen Makedonien und dem Kosovo auf jeden Fall verlängert werden muß und daß etwas Ähnliches auch an der Grenze zwischen Albanien und dem Kosovo geschehen muß.
Lassen Sie mich zum eigentlichen Thema zurückkehren. Wer eine profilierte deutsche Außenpolitik will - und wer wollte das nicht -, der kann das nur auf der Grundlage absoluter Klarheit in der prinzipiellen Orientierung erreichen. Ich will daran erinnern, daß die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition nicht möglich gewesen wäre ohne Klarheit in der Frage, wo Deutschland hingehört und wo Deutschland steht. Es ist niemals in Zweifel gezogen worden, daß Deutschland die europäischen Integrationsprozesse und die transatlantischen Strukturen klar und eindeutig unterstützt.
Wer zum Beispiel eine aktivere Rolle Deutschlands für eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur - etwa durch eine Stärkung der OSZE - erreichen will, der kann das auf der Grundlage der Klarheit in der anderen Frage tun. Wer eine Abrüstungsinitiative in Europa mit dem Ziel tatsächlich verminderter Rüstung in allen europäischen Staaten für richtig hält - ich tue das -, der kann das tun, wenn er klarstellt, daß er nicht die Grundlagen verändern will.
Meine Damen und Herren, für unsere Nachbarn, von denen ja die Initiative zur Erweiterung der NATO ausging, ist das, was wir heute tun, eine historische Korrektur; denn sie haben ja nicht freiwillig mehr als 40 Jahre kommunistischer Herrschaft ertragen. Sie finden jetzt ihren Platz dort, wo sie hinwollen und hingehören: in der Familie der westlichen Demokratien.
Die NATO-Mitgliedschaft bietet ihnen einen stabilen sicherheitspolitischen Rahmen für Transformationsprozesse, die weit gediehen, aber bei weitem noch nicht abgeschlossen sind. Jeder muß doch verstehen, daß diese Länder nicht in einem sicherheitspolitischen Niemandsland verharren können und wollen, in dem sie unerwünschten äußeren Einflüssen ausgesetzt sein könnten. Sie wollen als gleichwertig und gleichberechtigt anerkannt sein und ihre internationale Verankerung auch in eigener Verantwortung entscheiden.
Ich freue mich darüber, daß in Polen, in Ungarn und in Tschechien die demokratischen Parteien uneingeschränkt hinter dieser Politik stehen. Wir hatten in Ungarn ein sehr deutliches Referendum. Wir werden in Polen und in Tschechien im Parlament die entsprechenden Mehrheiten finden. Wir werden auch in Tschechien nicht erleben, daß nach der Ratifizierung etwa Bemühungen um ein Nachreferendum fortgesetzt werden.
Günter Verheugen
Neue Möglichkeiten ergeben sich für uns übrigens durch die Mitgliedschaft Polens, Ungarns und Tschechiens in bezug auf die notwendige Stabilisierung und Demokratisierung in der Slowakei und in der Ukraine, den Nachbarn dieser drei Länder, Länder, die wir aus unterschiedlichen Gründen nicht aus dem Auge verlieren sollten: die Slowakei, weil sie in der Mitte Europas nicht einfach ungebunden bleiben kann, und die Ukraine, weil sie von allen europäischen Staaten zur Zeit wahrscheinlich die größten Probleme hat.
Für uns, meine Damen und Herren, ist das vorrangige außenpolitische Interesse Stabilität in Europa. Daß wir jetzt zum erstenmal in unserer Geschichte von Freunden und Bündnispartnern umgeben sind, daß unsere Nachbarn in eine Lage gekommen sind, in der sie in Deutschland keine potentielle Gefahr mehr sehen müssen, das ist ein gewaltiger Fortschritt und etwas, worauf wir stolz sein können und worüber wir uns freuen müssen.
Die gesamteuropäische Perspektive der europäischen Integrationsprozesse eröffnet übrigens gerade unserem Land große Chancen und Möglichkeiten; denn ein prosperierendes Gesamteuropa bietet auch uns deutlich erkennbare Vorteile und ist ein ganz wichtiges Element zur Sicherung unserer eigenen Zukunft.
Der Bundesaußenminister hat mit Recht ein paar Bemerkungen zu Rußland gemacht. Auch ich will das tun, zunächst aber in Verbindung mit dem Thema, um das es geht. Wir wissen, für Rußland ist diese Entscheidung schwer verdaulich. Es ist erkennbar, daß sich die russische Politik noch nicht ganz aus dem alten Denken gelöst hat. Wer Gespräche in Moskau führt oder Besucher aus Rußland in Bonn empfängt, der weiß, daß wir in allen politischen Lagern in Rußland nach wie vor auf eine massive Ablehnung der NATO-Osterweiterung stoßen. Die erste Runde, die wir heute beschließen, wird allenfalls hingenommen.
Ich muß darauf hinweisen, daß wir ernst nehmen müssen, wenn uns Vertreter der demokratischen Parteien Rußlands sagen, daß in der Fortsetzung des Prozesses eine Gefahr liegt, wenn er nämlich in Rußland innenpolitisch instrumentalisiert wird, um nationale Emotionen zu schüren und damit von anderen Problemen abzulenken. Das sollten wir wissen.
Deshalb kann die Botschaft an Rußland nur lauten, daß die NATO-Osterweiterung keine Ausgrenzung und keine strategische Einschnürung für Rußland bedeutet, sondern daß sie objektiv auch für die russische Außenpolitik und für russische Sicherheitsinteressen vorteilhaft ist. Unser Angebot an Rußland heißt doch, daß wir eine Sicherheitspartnerschaft mit Rußland entwickeln wollen.
In der langfristigen Perspektive gehört dazu, daß wir
sagen: Rußland ist eine europäische Macht, ohne die
gesamteuropäische Sicherheit auf Dauer nicht garantiert werden kann und die deshalb auf Dauer auch nicht aus gesamteuropäischen Integrationsprozessen ausgeschlossen werden darf.
Es bietet sich übrigens an, die Felder der Zusammenarbeit mit Rußland zu erweitern. Dazu können wir parlamentarische Kontakte stärker nutzen, aber auch neue Kooperationsfelder erschließen. Ich nenne nur ein einziges Stichwort: Wenn man Sicherheitspartnerschaft wirklich will, dann könnte der Gedanke einer Ost-West-Rüstungskooperation beispielsweise bei dem großen Transportflugzeug AN 70 jedenfalls auch unter diesem Gesichtspunkt sehr interessant sein.
Gegenüber Rußland ist Offenheit notwendig. Man muß den russischen Partnern auch sagen, daß die NATO-Osterweiterung in unserem Verständnis ein offener Prozeß ist und wir heute damit nicht Schluß machen. Kein europäischer Staat, der es will und der die Bedingungen erfüllt, ist prinzipiell von diesem Prozeß ausgeschlossen. In der vor uns liegenden Phase sind es zunächst Rumänien, Slowenien, Bulgarien und die baltischen Staaten, an die zu denken ist. Weitere Phasen der Osterweiterung haben selbstverständlich mit der Entwicklung in Rußland zu tun. Auch ich glaube, daß der Reformprozeß in Rußland Vertrauen und Unterstützung verdient. Wir können grundsätzlich optimistisch sein, was die demokratische und rechtsstaatliche Orientierung Rußlands angeht. Keiner kann aber bestreiten, daß es hinsichtlich der Stabilität Rußlands und Osteuropas Risiken gibt. Ich sage dazu: Ein funktionierendes Sicherheitssystem vergrößert diese Risiken nicht, sondern begrenzt sie.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu unserem Partner auf der anderen Seite des Atlantiks, ohne den das alles nicht möglich gewesen wäre. Ich glaube, daß die NATO-Osterweiterung die transatlantischen Bindungen stärkt und daß das amerikanische Engagement in Europa auf diese Weise gesichert wird. Die Partnerschaft mit den USA allerdings gründet sich heute nicht mehr nur auf gemeinsamen Sicherheitsinteressen; aber sie sind für lange Zeit wohl noch zentral. Auch hier wäre es richtig, weitere Felder der Zusammenarbeit zu erschließen. Wir wünschen uns sehr, daß es den Europäern und Amerikanern endlich gelingt, zu einer gemeinsamen Position etwa in der Türkei-Politik, in der China-Politik und in der Iran-Politik zu kommen. Auch bei der Bewältigung der globalen Konflikte ist Gemeinsamkeit richtig. Wir wünschen uns eine stärkere Rolle Europas in der Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Mehr Verantwortung der Europäer.bedeutet allerdings, daß wir uns in einen Zustand versetzen müssen, von dem wir im Augenblick leider weit entfernt sind, nämlich europäische Interessen zu definieren und dann auch tatsächlich gemeinsam zu vertreten.
Günter Verheugen
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die NATO-Osterweiterung ist ein Baustein in einem Projekt, dessen Konturen immer deutlicher werden, von dem wir aber noch nicht ganz genau wissen, wie es am Ende aussehen wird. Die NATO-Osterweiterung schafft das Element äußere Sicherheit, das wir brauchen, um die Reform- und Transformationsprozesse in Europa sicher zu Ende zu bringen, wobei unsere deutsche Rolle in Europa ja nur die einer unterstützenden Partnerschaft sein kann.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt aus den dargestellten Gründen dem Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und Ungarns zur NATO zu und wird dem Ratifizierungsgesetz ihre Zustimmung erteilen.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Dr. Alfred Dregger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tag ist ein wichtiger Tag in der Geschichte des Hauses, weil er ein großer Tag ist im Hinblick auf den Frieden und die Freiheit in Europa.
Der bevorstehende Beitritt der drei Republiken Polen, Tschechien und Ungarn ist ein Meilenstein auf dem Wege zu einer europäischen Friedensordnung, in der, wie es die Heimatvertriebenen schon 1950 ausgedrückt haben, die Völker ohne Zwang in Frieden und Freiheit leben können. Unsere künftigen Bündnispartner, um die es heute geht, sind: Polen, das mit der Erhebung der „Solidarität" in den frühen 80er Jahren das Sowjetsystem erschüttert hat, und zwar in einer Zeit, als dieses in Afghanistan seine Macht bis zum Indischen Ozean zu erweitern suchte, Ungarn, das als erstes Land den Zaun geöffnet und damit den Weg geebnet hat für die deutschen Botschaftsflüchtlinge, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit das SED-Regime als eine Regierung gegen das Volk demaskiert haben, und Tschechien, wo 1968 durch die Invasion von Truppen des Warschauer Paktes der zaghafte Versuch erstickt wurde, dem Kommunismus wenigstens ein menschliches Gesicht zu geben.
Welch eine Entwicklung in diesen 49 Jahren seit der Gründung der NATO! 40 Jahre davon waren geprägt durch den kalten Krieg, in dem Europa in einer erstarrten Kriegsordnung geteilt war und die aus dem zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Weltmächte, die USA und die Sowjetunion, über das Schicksal unseres Kontinents entschieden.
Ich meine, wir tun gut daran, uns in diesen Tagen an die großen Debatten der 50er Jahre im Deutschen Bundestag zu erinnern, in denen damals dieses Hohe Haus um die Richtung der deutschen Politik gerungen hat. Damals ging es um die Westintegration unseres Landes, um den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu dieser nordatlantischen Vertragsgemeinschaft, den der damalige amerikanische Präsident Truman in einer Botschaft an die Staatschefs dieser neuen Allianz bereits am Vorabend ihrer Gründung gefordert hatte. Nur ein stabiles Westdeutschland konnte nach Meinung Trumans den unentbehrlichen deutschen Beitrag für Frieden und Stabilität in Europa leisten.
Dem ist, wie Sie sich erinnern, Bundeskanzler Konrad Adenauer mit seiner Politik der Westintegration entgegengekommen. Adenauers Bedingung waren der Deutschland-Vertrag und die in ihm enthaltene Verpflichtung unserer westlichen Bündnispartner auf das Wiedervereinigungsgebot unseres Grundgesetzes. Für Konrad Adenauer war die Westintegration kein Hindernis für Deutschlands Wiedervereinigung, wie der damalige Oppositionsführer Kurt Schumacher befürchtete, sondern deren Voraussetzung. Adenauer hat recht behalten. Schumacher hatte für seine damalige Gegnerschaft honorige Gründe - ganz anders, als dies in den 70er Jahren bei der weitverbreiteten Opposition der Linken gegen die NATO der Fall gewesen ist.
Wir sollten uns deshalb heute auch an die großen Debatten der frühen 80er Jahre erinnern, als es darum ging, die von Bundeskanzler Schmidt initiierte Nachrüstungspolitik des Bündnisses gegen die neuen atomaren Mittelstreckenwaffen der Sowjetunion durchzusetzen, - und das gegen eine von Moskau ausgehaltene sogenannte Friedensbewegung.
- Das ist meine Beurteilung der Lage. Dafür gibt es Gründe.
Damals war das Bündnis in seiner schwersten Krise. Sein Zerfall war möglich. Die Verweigerung der Nachrüstung hätte den Sieg der Sowjets und ihrer militärischen Drohpolitik gegen das freie Europa bedeutet.
An dieser Frage ist Bundeskanzler Schmidt mit gescheitert, vor allem weil seine eigene Partei ihm damals die Gefolgschaft verweigerte.
Die Durchsetzung dieser Nachrüstung durch die Koalition der Mitte unter Bundeskanzler Helmut Kohl hat den Zusammenhalt des Bündnisses wiederhergestellt. Dies führte zu einem tiefgreifenden Wandel in den Ost-West-Beziehungen, der mit einer völligen Revision der auf Hegemonie, Expansion und militärischer Einschüchterung fußenden Politik der so-
Dr. Alfred Dregger
wjetischen Führung begonnen hat. Ohne diese mit dem von uns durchgesetzten NATO-Doppelbeschluß eingeleitete neue Politik wäre der Eiserne Vorhang nicht gefallen und hätte es keine Perestroika und keine deutsche Einheit gegeben.
Der kalte Krieg hat Europa 40 Jahre lang gelähmt und viele Kräfte verbraucht - auf beiden Seiten. In der Sowjetunion führte das schließlich zum Zusammenbruch dieses letzten und größten Kolonialreichs der Geschichte. Dieser Zusammenbruch machte den Weg frei für die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas sowie für die Erneuerung der von der Sowjetunion unterworfenen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas in Freiheit. Davon, meine Damen und Herren, profitieren heute alle, nicht zuletzt Rußland selbst, das sich nun auch mit unserer Unterstützung auf den schwierigen Weg einer demokratischen Erneuerung begeben hat.
Nur wenige Jahre nach dem Wegfall der Berliner Mauer, der Selbstauflösung des Warschauer Paktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion öffnet sich nun das Bündnis für die ersten Reformstaaten Ostmitteleuropas. Sind dieser Erfolg und dieses Ergebnis nicht fabelhaft, meine Damen und Herren?
Deshalb markiert unsere heutige Debatte auch einen großen Tag für Europa.
Wir sollten übrigens von der Öffnung der NATO sprechen und von dem Beitritt ihrer neuen Mitglieder, nicht von einer NATO-Erweiterung und schon gar nicht von Expansion. Der Begriff „Erweiterung" weckt Assoziationen an veraltete Denkmuster
in Macht- und Einflußbereichen, was den rückwärtsgerichteten Kräften nicht nur im Hause, sondern auch in Moskau - auch da gibt es solche - falsche Argumente an die Hand geben würde.
In Wirklichkeit wird dieser Öffnungsprozeß flankiert von jener NATO-Rußland-Grundakte, mit der eine strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland vertraglich geregelt wurde, wie ich das schon seit langem gefordert habe. Damit ist klargestellt, daß diese Entwicklung nicht gegen Rußland gerichtet ist, sondern in dessen wohlverstandenem Eigeninteresse liegt.
Der Beitritt der ersten mitteleuropäischen Staaten zur transatlantischen Allianz unterstützt und fördert deren demokratische Erneuerung. Er stärkt die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa. Niemand könnte - so habe ich es hier an diesem Pult am 12. Dezember 1996 ausgeführt - durch eine solche Politik
für sich selbst mehr gewinnen als Rußland. Denn Rußland ist vom Westen her nicht bedroht. Seine Risiken liegen eher im Inneren, im Süden und im Südosten seines riesigen Territoriums. Stabilität, Freundschaft und Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn im Westen gehören daher zu den erstrangigen Zielen einer klugen russischen Politik.
Natürlich hat es eine Weile gedauert, bis die früheren Antagonisten im kalten Krieg, die Vereinigten Staaten und Rußland, die Richtigkeit dieser Politik erkannt haben. In Moskau werden noch immer Zweifel daran geäußert. Doch ich vertraue darauf, daß sich diese Einsicht auch dort durchsetzen wird, wie 1990, als wir um der Stabilität in Europa willen gefordert haben, daß das wiedervereinigte Deutschland als Ganzes Teil der Nordatlantischen Allianz bleiben bzw. werden müsse. Das haben wir Gott sei Dank durchgesetzt.
Ich möchte aber auch die Vertreter des amerikanischen Volkes im Senat und im Repräsentantenhaus bitten, der jetzigen Öffnungspolitik zuzustimmen, weil sie im Interesse der gesamten Allianz und damit auch im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika liegt.
Ich halte es für falsch, daß - wie es in einer in diesem Zusammenhang von einer Kommission für die nationalen Interessen Amerikas 1996 verfaßten Studie heißt - die Sicherstellung der Existenz der Verbündeten Amerikas erst an fünfter Stelle der Prioritätenliste der amerikanischen Außenpolitik stehe.
Ich meine, die Zeiten sind vorüber, in denen der Starke alleine am mächtigsten ist. Das haben die Vereinigten Staaten gerade in jüngster Zeit schmerzhaft erfahren müssen. Amerika wird stärker sein, wenn es Partner eines starken Europas ist. Die Sicherstellung der freien Existenz seiner Verbündeten sollte daher zu den erstrangigen Zielen der amerikanischen Politik gehören.
Es war falsch, als der von mir sonst geschätzte frühere Verteidigungsstaatssekretär der USA Fred 11E16 meinte, wenn die NATO expandiere - er gebrauchte tatsächlich diesen falschen Begriff -, würde das ihren Niedergang einleiten. Iklé wandte sich dagegen, daß diese Militärallianz angeblich zu einem „Kindergarten der Demokratie umgeformt werden" solle. Mit der Inkorporierung mittel- und osteuropäischer Nationen würde, so Iklé, die NATO ihren Zweck wie auch ihren Zusammenhalt verlieren.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die NATO würde ihren Gründungszweck verfehlen, wenn sie sich den frei gewordenen Staaten Ostmitteleuropas verweigerte.
Sie würde ihren Zusammenhalt schwächen, wenn sie die Werte, denen sie sich in ihrer Geschichte verpflichtet wußte, auf diese Weise verraten würde.
Dr. Alfred Dregger
Deshalb kann der Beitritt dieser ersten drei Kandidaten zur NATO, über den wir heute sprechen, auch nur der Anfang eines Prozesses sein, von dem Schritt für Schritt und „ohne Pause", wie es im Bericht des Auswärtigen Ausschusses heißt, alle postkommunistischen Reformstaaten erfaßt werden, die die Normen und Werte des Bündnisses erfüllen.
Ich hatte schon einmal Anlaß, Fred Iklé zu kritisieren, nämlich 1988, als er mit dem Politikwissenschaftler Wollstetter in einer Studie den Abschreckungsverbund der europäischen Bündnispartner mit den Vereinigten Staaten auflösen wollte. Europa sollte sich nach seiner Vorstellung mit seinen eigenen Atomwaffen verteidigen. Ich habe damals in Washington in einem intensiven Gespräch mit Präsident Reagan, der mich liebenswürdigerweise eingeladen hatte, darüber gesprochen und habe erklärt, daß dieser Abschreckungsverbund zwischen den NATO- Staaten für die Sicherheit Europas und für die Sicherheit der USA unerläßlich sei.
Zugleich habe ich damals unsere europäischen NATO-Partner aufgefordert, Europa politisch zu einigen und im Rahmen der Atlantischen Allianz eine europäische Identität in der Sicherheitspolitik zu schaffen. Entscheidend ist - so sagte ich damals -, daß wir Europäer aus der Rolle derer herauskommen, die bestenfalls konsultiert werden, aber über ihr eigenes Schicksal nicht mehr mitentscheiden. Wovor ich damals gewarnt habe, war also das, was man heute unilaterales Handeln der Weltmacht USA nennen würde. Deshalb bin ich froh darüber und halte es für eine großartige Sache, daß sich diese Weltmacht heute zu Europa bekennt.
Amerika mußte zweimal in diesem Jahrhundert die Erfahrung machen, daß die Europäer die lebenswichtigen Fragen von Krieg und Frieden nicht alleine regeln konnten. Leider war das auch angesichts des zerfallenden Jugoslawiens so. Die NATO hatte sich nach anfänglichem Versagen auf Betreiben der Führungsmacht USA dann jedoch dieser Aufgabe gestellt - spät, aber nicht zu spät. Heute wirken dort amerikanische und europäische Truppen vertrauensvoll zusammen, mit russischen Truppen übrigens. Das ist außerordentlich wichtig. Hier hat sich eine neue NATO bewährt. Deren Aufgabe ist nicht mehr die Abschreckung einer antagonistischen Macht, sondern die Beherrschung der Risiken für die Sicherheit ihrer Mitglieder.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als ältesten gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes zum Schluß meiner Ausführungen noch einige Empfehlungen für die Fortentwicklung dieser großartigen Nordatlantischen Vertragsgemeinschaft zu Protokoll geben.
Erstens. Mit der Öffnung der NATO für die Staaten Ostmitteleuropas wird die NATO europäischer. Die Vereinigten Staaten, denen wir Europäer die Bewahrung unserer Freiheit und den Schutz vor der Sowjetunion im kalten Krieg verdanken, sollten dies auch als ihre Chance begreifen. Die NATO wird Zukunft
haben, wenn sie ein Bündnis unter prinzipiell Gleichen sein wird - zwischen einem starken Amerika und einem starken, weil geeinten Europa.
Zweitens. Die Europäer müssen begreifen, daß sie nur dann den Amerikanern ein vollwertiger Partner sein werden, wenn sie mit einer Stimme sprechen.
Drittens. Die NATO würde ihrem Anspruch als Bündnis für die Freiheit nicht gerecht, wenn sie einem unserer europäischen Nachbarn, der die Voraussetzung für die Mitgliedschaft in diesem Bündnis erfüllt, diese Mitgliedschaft verweigerte. Der Lackmus-Test für die künftige europäische Friedensordnung, deren Stabilitätsanker die NATO sein muß, wird deshalb die Fortsetzung der gegenwärtigen Öffnungspolitik sein, bis hin zu den baltischen Staaten, die doch durch ihren Freiheitswillen 1989 und 1990 einen wesentlichen Beitrag zu den Veränderungen geleistet haben.
Viertens. Rußland, das seit dem Ende des Nordischen Krieges, also seit dem frühen 18. Jahrhundert,
an allen wesentlichen Entscheidungen in Europa beteiligt war, sollte unser strategischer Kooperationspartner in einer solchen gesamteuropäischen Friedensordnung sein. Niemand sollte Rußland aus Europa herausdrängen wollen. Aber Rußland muß auch begreifen, daß es als große euro-asiatische Macht mit erheblichem Zukunftspotential gerade in seinen asiatischen Teilen die Institutionen und Strukturen dieses gemeinsamen Europas überfordern würde, wollte man es in dieses integrieren.
Meine Damen und Herren, wenn wir diese vier Gesichtspunkte beachten, dann werden wir in der Lage sein, mit Hilfe der neuen NATO und in Kooperation mit Rußland sowie der Ukraine jene europäische Friedensordnung zu vollenden, die seit Konrad Adenauer das höchstrangige Ziel der deutschen Außenpolitik ist.
Europa wäre in einer solchen Ordnung die „friedenserhaltende Mitte zwischen den Weltmächten", so wie ich das bereits Mitte der 80er Jahre gefordert habe. Diese Vision sollte das Ziel der deutschen Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert bleiben. Nur so sichern wir Frieden und Freiheit auch für unsere Kinder und Enkel.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Poppe, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich besonders, daß wir Gäste haben - auch aus den
Gerd Poppe
Staaten, um deren Zukunft es heute im besonderen geht. Ich will deshalb wiederholen, was ich gestern dem Vorsitzenden des polnischen Auswärtigen Ausschusses, Dr. Bielecki, sagte. Mich erfüllt ein Gefühl großer Dankbarkeit, wenn ich mich daran erinnere, was die polnische, tschechische und ungarische Demokratiebewegung zur friedlichen Revolution der Jahre 1989/90 beigetragen hat.
Als ein ehemaliger DDR-Oppositioneller meine ich, feststellen zu dürfen, daß ohne die Solidarnosc, ohne die Charta 77 und die vielen anderen oppositionellen und widerständigen Gruppen der Herbst 1989 anders verlaufen und daß die deutsche Einheit so schnell nicht möglich gewesen wäre.
Zugleich möchte ich den Anteil würdigen, den polnische, tschechische und ungarische Bürgerinnen und Bürger nach all dem, was ihnen von Deutschen angetan wurde, an der Versöhnung unserer Völker haben.
Der Weg zur Selbstbestimmung und zur Demokratisierung, den viele Polen, Tschechen und Ungarn schon in der Zeit einer erstarrten bipolaren Welt anstrebten und der im Westen leider oft genug unbeachtet blieb, war zugleich immer auch der „Weg nach Europa", die Umsetzung eines „Traums von Europa". Seitdem dieser Traum Wirklichkeit zu werden verspricht, ist es nicht nur eine Chance, sondern auch eine historische Aufgabe und für uns Deutsche geradezu eine Verpflichtung, den Weg der mittel- und osteuropäischen Staaten zu erleichtern.
Seit 1990 haben diese Staaten, und zwar nicht nur ihre Politiker, sondern auch die große Mehrheit ihrer Bevölkerungen, ihren Weg darin gesehen, Demokratie und Marktwirtschaft zu errichten - wie wir wissen: mit durchaus bemerkenswerten Erfolgen.
Sie haben darüber hinaus den Anspruch erhoben, der EU und der NATO anzugehören, von denen sie sich einerseits Unterstützung ihrer demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung, andererseits Sicherheit erhoffen - gerade auch wegen ihrer traumatischen Erfahrungen mit Hitler und Stalin. Ich halte diesen Anspruch für legitim und für unabweisbar. Ich möchte all diejenigen, die immer, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen, wissen, was „richtig" und was „falsch" ist, auffordern, die in freier Selbstbestimmung getroffenen Entscheidungen der Demokratien Ost- und Mitteleuropas zu respektieren.
Ich gehöre deshalb zu denjenigen Mitgliedern unserer Fraktion, die dem Gesetz über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO zustimmen werden.
Gleichwohl - auch das gehört zur Debatte in unserer Partei und Fraktion - gebe ich all denjenigen recht, die in dem begonnenen Erweiterungsprozeß nicht nur Chancen, sondern auch Risiken sehen. Deshalb finde ich es völlig unangemessen, daß Sie, Herr Kinkel, diese ernsthafte Debatte zu so billigen Wahlkampfmanövern ausnutzen.
Ich sehe die Chance, daß der Prozeß der NATO-Öffnung einen Schritt darstellen kann, um dem sich nach dem Ende des kalten Krieges stellenden wichtigsten sicherheitspolitischen Ziel näherzukommen. Als solches verstehe ich die langfristige Entwicklung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems, nicht aber die bloße Erweiterung bestehender Bündnisse um einzelne Staaten. Ich bin davon überzeugt, daß die neuen Mitgliedstaaten eigenständige Beiträge für die europäische Sicherheit leisten können. Die polnischen Kollegen haben uns gestern darauf hingewiesen. Sie haben intensive Beziehungen zu sieben Nachbarstaaten und gestalten diese im Bewußtsein ihrer neuen gesamteuropäischen Möglichkeiten. Sie habe n uns vieles an Kenntnissen über Osteuropa voraus. So kann ihre Einbeziehung ein echter Gewinn für Organisationen sein, deren Wurzeln in der zu Ende gegangenen Blockkonfrontation und in dem aus ihr erwachsenden konfrontativen Sicherheitsverständnis liegen.
Wir wissen doch alle, daß europäische Sicherheitspolitik nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht mehr auf traditionellen Denkmustern, Feindbildern und Ressentiments einer verflossenen Zeit basieren kann. Dies zu verstehen und so zu einer Neubestimmung europäischer und transatlantischer Beziehungen zu kommen ist eine Herausforderung für die heutige Politik.
Es besteht die reale Chance, daß die neuen Mitgliedstaaten zur notwendigen Neuorientierung beitragen werden. Das ist unsere Erwartungshaltung; das könnte die Gegenleistung der neuen Mitglieder sein. Es geht um Geben und Nehmen, nicht aber um eine Wiederholung der aus dem Prozeß der deutschen Einheit hinlänglich bekannten Fehler nach dem Muster: Ihr seid die Dazugekommenen, und nun übernehmt einfach das bei uns Erprobte!
Gerd Poppe
Andererseits gibt es unbestreitbare Risiken des Erweiterungsprozesses, und ich möchte wenigstens zwei nennen, weil sie die Debatte in unserer Fraktion wesentlich geprägt haben: zum einen das Entstehen von sicherheitspolitischen Grauzonen, von Regionen unterschiedlicher Sicherheit in Europa. Trotz aller anderslautenden Bekenntnisse ist zu befürchten, daß sich der NATO-Erweiterungsprozeß nicht automatisch und schon gar nicht kurzfristig fortsetzen wird. Zum zweiten geht es um die Gefahr neu entstehender Konfrontationslinien insbesondere an der neuen NATO-Außengrenze und vor allem gegenüber Rußland. Diese Gefahr besteht dann, wenn nicht das Ziel eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems im Auge behalten wird. Ein solches System verlangt auch einen neuen Sicherheitsbegriff. Sicherheit ist nicht mit militärischer Sicherheit gleichzusetzen. Sicherheit, wie wir sie verstehen, verlangt unter anderem die Stärkung ziviler Möglichkeiten der Konfliktbehandlung, die Verstärkung der Konfliktprävention und die Abkehr vom Vorrang militärischer Instrumente.
Eine einseitige Fixierung auf die NATO verstellt die Möglichkeit, ein solches Sicherheitssystem zu entwickeln. Deshalb führen wir in unserer Fraktion und auch mittels unserer parlamentarischen Initiativen die Debatte über die notwendige Stärkung der OSZE, die am ehesten dafür in Frage kommt, die zivilen und präventiven Elemente europäischer Sicherheit zu entwickeln. Im OSZE-Rahmen sollten auch Sicherheitskonzepte im Blick auf diejenigen Staaten entwickelt werden, die auf längere Sicht der NATO und der EU nicht angehören werden.
Sicherheit entsteht letztlich nicht gegeneinander, sondern miteinander. Das gilt besonders für die Beziehungen mit Rußland. Die Ankündigungen der NATO-Rußland-Akte müssen schnell umgesetzt werden. Entsprechendes gilt für das Abkommen mit der Ukraine. Die konventionelle Abrüstung muß vorangetrieben werden. Zu kritisieren ist die Vernachlässigung der atomaren Abrüstung. Sie wissen, die Ukraine hat einen interessanten Vorschlag zur Errichtung nuklearwaffenfreier Zonen gemacht, der ernsthaft geprüft werden sollte. Überfällig ist vor allem der Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz.
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. - In nächster Zeit sollte - um das noch zu sagen - der EU-Erweiterungsprozeß mit den dazu notwendigen Reformen absoluten Vorrang haben.
Zum Schluß möchte ich nur sagen: Ich habe nur einige wenige mögliche Handlungsoptionen herausgegriffen, um zu illustrieren, in welchen Gesamtrahmen der heute zu treffende Beschluß gestellt werden sollte. Er wird nur in dem Maße erfolgreich sein, in dem er einen Weg zur gesamteuropäischen Sicherheit öffnet. Unseren polnischen, tschechischen und
ungarischen Freunden und Kollegen wünsche ich, daß die von ihnen zum Ausdruck gebrachten Erwartungen und Hoffnungen erfüllt werden. Uns selbst, meine Damen und Herren, beglückwünsche ich zu diesen neuen Partnern.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir treffen heute eine der bedeutsamsten Entscheidungen. Wir wissen alle, daß die Geschichte noch nicht an ihrem Ende angekommen ist, daß es auf der Welt noch viele Unverträglichkeiten gibt und daß wir uns weltweit noch vielen kritischen Situationen gegenübersehen.
Für Europa aber hat es noch nie eine solch große Chance gegeben. Nach dem historischen Umbruch sind wir von Freunden nahezu - wie das der Bundesaußenminister immer ausdrückt - umzingelt. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft haben in Europa neue Chancen erhalten. Aus Feinden und Gegnern von gestern sind friedliche Nachbarn von heute und morgen geworden. Die nuklearen Mittelstreckenwaffen sind verschwunden. Die strategischen Nuklearwaffen sind substantiell reduziert worden. Die Androhung der gegenseitigen totalen Vernichtung ist Vergangenheit. Dazu waren schwierige und unbequeme Entscheidungen zu treffen, manche, die mehr Verantwortung gefordert haben als die Teilnahme an Ostermärschen.
Das waren manche Entscheidungen, die vermittelt werden mußten, manche, die in Fraktionen und Parteien auf einmal keine Mehrheit mehr hatten und erneut legitimiert werden mußten. Das waren keine bequemen Veranstaltungen.
Ich will für die Freie Demokratische Partei herausheben, daß wir in der Arbeit der liberalen Außenminister Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel einen persönlichen, politischen, programmatischen und bedeutsamen Kursbeitrag für diesen Abschnitt deutscher Entscheidungen sehen.
Diese trugen - in unterschiedlichen Koalitionen - eine wichtige Verantwortung. Sie war zielgerichtet und ein Beitrag der Freien Demokraten zum heutigen Frieden in Europa.
Ich sage das an dieser Stelle bewußt, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von den Grilnen, weil es für mich im Kern nicht entscheidend ist, wie viele sich von Ihnen heute enthalten, wie viele zustimmen und wie viele dagegenstimmen. Sie ha-
Dr. Wolfgang Gerhardt
ben zu allen Abschnitten dieser Politik, von den jüngsten Entscheidungen von Maastricht bis zur EU- Öffnung in Amsterdam, zum Somalia-Einsatz und zum Bosnien-Einsatz nein gesagt. Sie sind nicht in der Lage, den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten eine Antwort auf die Frage zu ihren Entwicklungschancen zu geben. Sie sind eine Partei, die sich jetzt im Kern bemüht, Tapferkeitsauszeichnungen an diejenigen zu verleihen, die Realos sind. Aber das ist kein ausreichender Beitrag deutscher Politik zur europäischen Orientierung unserer Nachbarn.
Es gibt auf eine der zentralsten Fragen keine Antwort der Grünen. Wer international derart handlungsunfähig ist, ist auch national nicht regierungsfähig.
Das erkennen immer mehr Menschen.
Deutschland ist aus der größten Katastrophe seiner Geschichte nur herausgekommen, weil es bündnisfähig war, weil es wußte, daß es für seine eigene Sicherheit von anderen nur soviel bekommt, wie es bereit ist, auch anderen zu geben. Deutschland ist aus dieser Katastrophe herausgekommen, weil es gewußt hat, daß es neben der europäischen Einbettung als unabdingbare Voraussetzung für die Sicherheit unseres Landes einen Bezug - wie auch jüngste Krisen gezeigt haben - zur amerikanischen Führungsmacht halten muß.
Wir sind, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nicht so etwas wie eine größere Schweiz in der Mitte Europas, die sich aus allem heraushalten könnte. Als Nation sind wir am dringendsten dazu verpflichtet, daß andere Vertrauen in uns haben, und die dürfen wir nicht irritieren.
Das geht weit über die Beantwortung der Frage nach der Zugehörigkeit zur NATO hinaus.
Wir wissen, daß die Chancen für die Schaffung einer dauerhaften europäischen Friedensordnung jetzt vielversprechend sind. Aber Sicherheit und Stabilität in Europa kommen nicht von ungefähr. Sie kommen nicht von Enthaltungen; sie kommen nur von klaren Entscheidungen. Den Aufbau dieser künftigen Friedensgemeinschaft schaffen wir nur mit der Europäischen Union, mit ihren Erweiterungsmöglichkeiten, -notwendigkeiten und -chancen. Wir schaffen ihn nur mit der Atlantischen Allianz. Wir schaffen ihn nur mit der Westeuropäischen Union, und wir schaffen ihn nur mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Alle diese Einrichtungen mußten in der deutschen Politik streitig erkämpft werden. Denken Sie an die NATO-Entscheidung und auch an die OSZE-Entscheidung. Wer erinnert sich denn noch an die Auseinandersetzung über die Frage, ob man an der KSZE teilnehmen sollte und ob sie denn überhaupt
eine Chance habe? Wer blickt heute zurück und erkennt, was das für die deutsche Politik bedeutet hat?
Europäische Union und NATO sind Grundfesten, ohne die Deutschland keine stabile internationale Rolle finden würde und könnte. Das ist mehr als eine Beliebigkeit.
Diese Fragen sind von so erheblicher Bedeutung, daß eine Partei, die sie nicht klar beantworten kann, Verantwortung für dieses Land nicht übernehmen kann.
Die Überwindung der Teilung Europas geschieht doch nicht nur durch die NATO-Erweiterung; sie geschieht vielmehr, wenn wir klar und couragiert den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten über die militärische Sicherheitsnotwendigkeit NATO hinaus auch die politische, ökonomische und ökologische Sicherheitsantwort Europäische Union und Zusammenarbeit geben. Beides getrennt geht nicht; denn es überlagert sich. Das stellt Chancen für unsere Nachbarn und damit für uns selbst dar. Deshalb sind die Äußerungen mancher Gruppen, die den Deutschen einreden wollen, daß nationale Lösungen besser seien, so abwegig.
Wenn unsere Nachbarn keine Chancen zu ökonomischer Stabilität haben, dann sind auch unsere ökonomische Stabilität und unsere Wertestabilität nicht mehr gesichert. Nur wenn andere Lebenszuverischt bekommen, haben auch wir in Deutschland Chancen.
Das ist eine herausragende politische Überzeugungsaufgabe für jede der Parteien, die in Deutschland antritt, Verantwortung zu übernehmen.
Wir heißen - das sage ich für meine Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. - unsere Nachbarn aus Polen, aus Tschechien und aus Ungarn in der Verteidigungsgemeinschaft herzlich willkommen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihnen.
Wir wollen, daß sie Sicherheit bekommen.
Niemand anders als der Kollege Alfred Dregger, ein Vertreter der Kriegsgeneration, hätte uns heute morgen besser in Erinnerung rufen können, was diese Entwicklung für jemanden bedeutet, der in diesem Jahrhundert den anderen noch als Soldat gegenübergestanden hat.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Manchmal mag man gar nicht ermessen - hierzu werden bei den Grünen viele Diskussionen geführt -, daß das nahezu völlig ausgeblendet wird. Wir müssen wieder vermitteln, daß Frieden nicht beliebig ist, sondern daß er täglich erstritten werden muß
und daß man dieses Wort nicht nur in gesinnungsethischer Absicht auf ein Transparent schreiben kann, sondern daß klare politische Entscheidungen, verbunden mit Verantwortung und schwierigen Dimensionen, zu dem geführt haben, was heute ist.
Herr Kollege Dregger, es ist völlig richtig, was Sie gesagt haben. Ich erinnere mich an die leidenschaftlichen Diskussionen zum NATO-Doppelbeschluß, an die Voraussagen, daß dieser jede Friedensabsicht in Europa zerstören werde, an die Weissagung, der Doppelbeschluß bedeute das Ende der Entspannungspolitik, an die Beschimpfung derer, die ihn vertreten haben, sie seien nicht so friedliebend wie die anderen, die ihn bekämpft haben. Diejenigen, die ihn vertreten haben, haben wahrscheinlich einen mindestens genauso verantwortungsvollen Beitrag zum Frieden in Europa, geleistet; sie sind sogar den schwierigeren Weg zum Frieden in Europa gegangen als diejenigen, die nur Transparente vorgezeigt haben.
Die Öffnung der NATO soll zu keinem neuen Wettrüsten in Europa führen. Die NATO hat darauf verzichtet und klar erklärt, daß dort keine Nuklearwaffen stationiert werden. Das war ein wichtiges Signal; wir brauchen nämlich über die Mitgliedschaft dieser Länder in der NATO vertrauensbildende Signale an andere, die jetzt noch nicht im Eintrittsprozeß begriffen sind.
Wir begreifen das als neue Chance, in Zukunft weitere Abrüstungsschritte in Europa zu vereinbaren. Aber wir sagen auch allen: Es kann kein Land über das Sicherheitsinteresse eines anderen Landes bestimmen. Jedes Land kann nur sein eigenes Sicherheitsbedürfnis bekunden.
Wir wollen mit unserem europäischen Nachbarland Rußland fair umgehen. Wir erwarten aber, daß unsere russischen Kolleginnen und Kollegen respektieren, daß über das Sicherheitsbedürfnis der Ungarn die Ungarn, über das Sicherheitsbedürfnis der Polen die Polen und über das Sicherheitsbedürfnis Tschechiens die Tschechen entscheiden und niemand anders.
Für die F.D.P. und für uns alle habe ich ein massives Interesse an den baltischen Staaten bekundet. Ich sage das genauso symbolisch wie unser Kollege Verheugen: Das Sicherheitsbedürfnis eines Landes wird von dem Land, das das Sicherheitsbedürfnis artikuliert, bestimmt und von niemand anderem.
Wir wollen unserem europäischen Nachbarn Rußland klar signalisieren, daß wir nicht nur in der NATO-Rußland-Akte eine dauerhafte Sicherheitspartnerschaft angelegt haben. Das ist für uns nicht der Abschluß, das ist der Beginn. Es geht ja nicht nur um die klassischen Fragen der Abrüstung, der Rüstungskontrolle und der Nichtweiterverbreitung; es geht auch um Fragen engerer Zusammenarbeit, und zwar nicht nur bei den Themen Katastropheneinsätze, Umweltschutz und gemeinsame Schulung von Soldaten. Im übrigen wird diese kooperative Sicherheit in Bosnien erfolgreich praktiziert. Wir sind mit deutschen Soldaten dort, genauso wie unser Nachbar Rußland mit russischen Soldaten dort ist.
Nichts prägt die Fähigkeit zur Vertrauensbildung mehr als die konkrete Tat in gemeinsamer sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Das ist einer der wichtigsten Punkte.
Deshalb müssen wir unseren europäischen Nachbarn Rußland als selbstbewußten Nachbarn empfinden. Unser vorrangiges Ziel ist nicht, dieses Land irgendwie zu bedrohen. Unser vorrangiges Ziel ist, daß Rußland europäische Orientierung findet und seinen demokratischen Reformprozeß verstärken kann. Dazu ist es notwendig, daß Rußland zu uns Vertrauen hat.
Ich sage es so wörtlich, wie ich es meine: Rußland muß sich auf uns verlassen können, und Rußland kann sich auf uns verlassen. Wir haben ein massives Interesse am ökonomischen Fortschritt, an menschlichen Zukunftschancen und an friedlicher und ungestörter Nachbarschaft mit diesem großen und großartigen Land, mit dem uns in der Geschichte viel verbindet.
Meine Damen und Herren, die NATO ist und bleibt der Sicherheitsanker Europas. Sie ist die kollektive Verteidigungsversicherung der Demokratien in Europa. Ich kann mir gegenwärtig kein anderes Gebäude vorstellen, das sie ablösen könnte, das sie transformieren könnte, das an ihre Stelle gesetzt werden und besser sein könnte. Deshalb sind die Gedankenspielereien der Ablösung, des Ausscheidens, der Zeithorizonte so absurd für die deutsche Politik. Außenpolitische Spielchen sollten sich die Deutschen am allerwenigsten von allen Völkern der Welt leisten.
Deshalb ist die NATO nichts Beliebiges, nichts, was man einfach zur Disposition stellen könnte. Die Allianz ist heute bereits der Motor für die breitangelegte Friedensbewegung in Europa. Sie ist eine Chance. Die Öffnung und die Reform der NATO bedeuten mehr Sicherheit für alle, einschließlich Rußland.
Wenn wir es mit der historischen Chance der endgültigen Überwindung der Teilung unseres Kontinents wirklich ernst meinen, müssen wir die Öffnung der NATO und im übrigen auch die Öffnung der Europäischen Union konsequent vorantreiben. Die
Dr. Wolfgang Gerhardt
Westeuropäische Union ist aus ihrem Schattendasein aufgeweckt worden, sie ist und kann der Kern für eine zukünftige europäische Verteidigung sein. Beides - Reform und Öffnung der NATO und Ausbau der WEU - werden zu einer effektiveren Prävention und Eindämmung von Konflikten führen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit bleibt der umfassende Rahmen für europäische Anstrengungen. Alle zusammen sind Kernelemente einer großen Friedensordnung.
Wir haben als Freie Demokraten an dieser Architektur mitgearbeitet. Wir haben schwierige Situationen bestehen müssen. Wir haben auch schwierige Abstimmungen hinter uns gebracht. Wir wollen alles daransetzen, daß dieser Weg erfolgreich weitergegangen werden kann: zu einem vereinten Europa, das gemeinsam Verantwortung für Frieden und Freiheit trägt. Zu dieser Politik gibt es keine Alternative. Alles andere ist abwegig.
Deutschland muß wissen, wie es Vertrauen ausstrahlt. Deutschland muß wissen, wo sein Standort ist. Deutschland muß wissen, wer seine Verbündeten sind. Deutschland muß seinen Verbündeten Bündnisbereitschaft signalisieren, weil es sonst seine politische Rolle als Land, auf das sich auch viele Erwartungen richten, nicht dauerhaft und beständig spielen kann.
Deshalb muß es in Deutschland Kräfte geben, die das wissen, die unsere Lage kennen, die die Geschichte des Landes beachten und die daraus ihre Lehren für die Zukunft ziehen. Das wird die Freie Demokratische Partei im Abstimmungsverhalten in Kenntnis all dieser Fakten nachher so tun.
Wir stimmen der Osterweiterung der NATO aus tiefen sicherheitspolitischen, europapolitischen und deutschlandpolitischen Erwägungen zu.
Das Wort hat die Abgeordnete Andrea Gysi, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Vorbemerkung machen, gerichtet an Dr. Bielecki, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses in Polen. Weil hier in verschiedenen Redebeiträgen ziemlich polemische Unterstellungen gefallen sind, ist es mir ein Anliegen, zu betonen,
daß wir selbstverständlich die Entscheidungen anderer Völker, anderer Staaten, anderer Regierungen respektieren.
Dennoch vertreten wir eine eigene Meinung, die ich nachfolgend begründen werde.
Es wirft, finde ich, ein bezeichnendes Licht auf Ihr Demokratieverständnis, wenn Sie, falls jemand anderer Meinung ist, den Respekt gegenüber der anderen Meinung verlieren. Das ist Ihr Problem, nicht unser Problem.
Da Sie allenthalben die NATO-Erweiterung in einem Zusammenhang mit der EU-Erweiterung bringen, will ich gleich betonen: Wir sind sehr wohl dafür, daß weitere ost- und mitteleuropäische Staaten in die EU aufgenommen werden. Es ist aber einfach nicht nachvollziehbar, wieso Sie ununterbrochen einen zwingenden Zusammenhang zwischen militärischer Kooperation und politischer, kultureller und wirtschaftlicher Kooperation sehen wollen.
Sie stellen diesen Zusammenhang her, weil Sie sich nichts anderes als eine militärische Integration vorstellen können. Herr Dr. Gerhardt, Sie können sich gedanklich nichts anderes vorstellen, weil Sie politisch nichts anderes wollen, als Sie heute hier beschließen.
Mir fällt es demzufolge etwas schwer, das Pathos in diesen heutigen Äußerungen nachzuvollziehen, zumal die eigentliche Entscheidung nicht hier fällt, sondern an anderen Orten längst gefallen ist. Die NATO-Ostausdehnung wird kommen, es wird auch weitere Erweiterungsrunden geben.
Ich will noch einmal kurz unsere Positionen zusammenfassen. Erstens. Wir hielten und halten die OSZE für die geeignete Organisation zur Schaffung einer neuen Friedensarchitektur in Europa. Die NATO ist und bleibt ein Militärbündnis, das zunehmend weltweit interveniert, das die nukleare Erstschlagsdoktrin nicht aufzugeben bereit ist, ein Militärbündnis mit einer anderen als auf politischen Dialog orientierten Philosophie. Eine dialogorientierte Philosophie ist aber die Voraussetzung für die Zivilisierung internationaler Beziehungen, und sie hätte in der und über die OSZE gestärkt, weiterentwickelt und gefördert werden können.
Zweitens. Wir sehen weiterhin die Gefahr einer Spaltung Europas. Ausgerechnet nach dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West bedeutet dies das Vertun einer einmaligen Chance. Der Graben verläuft nun weiter östlich als früher, wird aber nicht weniger tief sein, wenn die Planungen weiter so verfolgt werden, wie sie jetzt diskutiert werden.
Bei aller Euphorie über die Zusammenarbeit mit Rußland im NATO-Rußland-Rat oder auch in Bosnien-Herzegowina: Der Dissens über die Ausweitung der NATO wird bleiben und die Beziehungen zu Rußland immer wieder auf harte Proben stellen. Dieses Risiko bewußt in Kauf zu nehmen tragen wir jedenfalls nicht mit, um so mehr, als die Diskussionen um die nächsten Länder, die in die NATO aufgenom-
Andrea Gysi
men werden sollen, diesen Dissens mit Rußland noch verschärfen werden.
Drittens. Die Grundakte zwischen NATO und Rußland ist nicht nur nicht ausreichend, um diese Befürchtungen auszuräumen, sondern sie wird schon jetzt von der NATO unterlaufen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die so dringend erforderlichen konventionellen Abrüstungsschritte in Europa und hinsichtlich der nuklearen Abrüstung.
Das Verhalten der NATO-Staaten, insbesondere der USA, wird wohl kaum Anlaß für Rußland sein, selbst abzurüsten. Nach wie vor stehen Pläne der Amerikaner auf der Tagesordnung, die KSE-Verhandlungen durch Vorschläge zu torpedieren, wonach die Obergrenzen durch ausländische Truppen erhöht werden. Dies wie auch die Entwicklung einer neuen Wasserstoffbombe ist unter diesem Punkt einzuordnen. Wohlweislich hat man beim Thema „Atomwaffen" keinerlei Verbindlichkeit in die NATO-Rußland-Grundakte Eingang finden lassen. Fazit: Die NATO-Osterweiterung bringt offenkundig mehr statt weniger Militär, mehr statt weniger Waffen.
Viertens. Die aufgenommenen Länder werden die Aufnahme in die NATO mit einem hohen Preis für die Bevölkerung bezahlen müssen. Die Anpassung der Armeen an den NATO-Standard kostet Geld. Ich glaube, etwaige Rüstungsaufträge werden wohl eher an westliche Firmen gehen denn an polnische, ungarische oder tschechische. Die Ressourcen, die dabei draufgehen, sollten besser für eine europäische Integration im Rahmen der EU verwendet werden. Wenn man die Belastungen, die in diesem Punkt noch auf diese Länder zukommen, betrachtet, dann muß das erschrecken.
Fünftens. Es gibt manche, die ganz listig meinen, die NATO würde sich zu einer Art anderen OSZE entwickeln, wenn ganz viele Staaten und letztlich auch Rußland aufgenommen würden. Diejenigen, die mit dieser Argumentation und Illusion zustimmen wollen, sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, daß die NATO-Staaten tunlichst darauf bedacht sind, Konflikte in den eigenen Reihen möglichst nicht zuzulassen, militärisch stark und geschlossen nach außen gegenüber Dritten aufzutreten, also nicht etwa eine Wandlung der NATO in Kauf zu nehmen, die sie zu einer wirklich politischen, auf Konsens hinarbeitenden Organisation macht, also zu einem echten System gegenseitiger kollektiver Sicherheit.
Weil all das von der NATO nicht gewollt wird, ist eine Aufforderung an Rußland zum Beitritt ausgeblieben. Deshalb war auch das Baltikum in der ersten Runde nicht dabei, obgleich sich dessen Sicherheitsinteressen von denen Polens oder gar nicht grundlegend unterscheiden.
Wir bleiben deshalb bei unserem Nein. Wir halten auch das „Weiter so" für die Fortsetzung eines falschen Weges. Wir sind nach wie vor der Meinung, daß das Prinzip „OSZE first" gelten sollte. Das ist hier einmal vom Außenminister verkündet worden. Selber aber hat er diese Parole nicht ganz ernstgenommen, auch wenn man seine Rede heute betrachtet. Jede Erweiterungsrunde wird immer wieder eine vorübergehende Festschreibung einer Spaltung zwischen Nichtmitglied und Mitglied sein und damit auch eine Gefährdung europäischer Sicherheit.
Wir hoffen sehr, daß im Nachgang zu dieser Entscheidung zumindest Bemühungen zum Thema „Atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa" aufgegriffen werden und solche Fragen hier in einer anderen Weise debattiert werden, als es zu diesem Thema der Fall war.
Ich erteile jetzt dem Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Vorabend der Gründung der NATO, am 3. April 1949, versammelten sich Präsident Truman, sein Außenminister Dean Acheson und die Führer der neuen Allianz im Weißen Haus. Damals erklärte der amerikanische Präsident: Ohne die Integration Deutschlands in die NATO wird es keine Sicherheit und Stabilität für Europa geben. Die Integration Deutschlands in die westlichen Institutionen sei zwingend für die Entwicklung der deutschen Demokratie und für die wirtschaftliche Gesundung.
33 Jahre später, am 10. Juni 1982, hatte ein NATO-Gipfel in Bonn die wichtige Frage zu beantworten: Wie können wir Spanien nach Franco demokratisch und ökonomisch stabilisieren? Die Antwort war klar: durch Integration in die NATO und in die Europäische Union.
Heute verfolgen wir mit der Integration Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik diese bewährten Grundsätze einer historisch bewährten Politik.
Ich habe die Öffnung der Atlantischen Allianz von Anfang an als die richtige und notwendige Antwort auf das legitime Begehren unserer Nachbarn gesehen, dazugehören zu wollen. Wenn Sie nach einem Schlüsselbegriff fragen: Das ist nicht „Erweiterung" oder „Expansion". Es geht darum, dazuzugehören - „to belong". Das ist das zentrale Anliegen: Teil der westlichen Gemeinschaft zu werden, aus politischen, moralischen und strategischen Gründen.
Herr Kollege Fischer, wenn Sie hier sprechen, erlauben Sie sich ja immer auch, ganz direkt den Bundeskanzler und andere anzusprechen. Deswegen darf ich Sie vielleicht einen Augenblick um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten.
Es geht darum, die Stalinsche Teilung Europas zu überwinden.
Bundesminister Volker Rühe
Wer dabei abseits steht, der darf niemals politische Verantwortung in diesem Lande tragen.
Deswegen ist es ein historischer und moralischer Skandal, wenn man sich in einer solchen Frage enthält.
Zu sagen, es sei Quatsch, daß sich hier die Frage der Regierungsfähigkeit stellt, wirft ein bezeichnendes Licht auf Sie. Sehen Sie: Man ist in seiner Partei nicht immer auf der Mehrheitsseite. Man kann auch einmal unterliegen. Aber den zentralen Fragen muß man sich stellen. Wo waren Sie denn, als es in Magdeburg um den Bosnien-Einsatz ging?
Sie haben sich der Debatte nicht gestellt. Da müssen Sie Ihre Autorität, wenn Sie sie denn haben, auch einmal einbringen, kämpfen und sagen: Hier stehe ich; ich kann nicht anders. Entweder gelingt es mir, den richtigen Kurs durchzusetzen, oder ich ziehe die Konsequenzen. - Dann würden Sie endlich einmal glaubwürdig sein.
Die Abmahnung, die Ihnen Herr Verheugen hier gegeben hat, war völlig richtig.
Warum beziehe ich mich auf die Haltung der Grünen? - Sie haben in der Vergangenheit die NATO bekämpft.
- Ja, so ist es. Das war ein großer Fehler. Denn wenn wir dieser Position gefolgt wären, hätten wir keine Wiedervereinigung und hätten wir gar nicht die Chance der Freiheit für Polen und andere Staaten gehabt. Und nachdem Sie mit der Bekämpfung der NATO einen alten Fehler gemacht haben, bekämpfen Sie jetzt die Öffnung der NATO und begehen gleich einen zweiten Fehler.
Das bleibt so lange ein Problem Ihrer Partei, wie Sie sich nicht von Ihren alten Fehlern lösen. Wir haben verfolgt, welche Leute für die Grünen in den Bundestag kommen werden: Ströbele und andere. Das ist ein moralischer Skandal. Denn die haben immer noch nicht begriffen, daß es zwar genug Beispiele in der Geschichte gibt, die zeigen, daß es unmoralisch war, Soldaten einzusetzen, aber daß es zutiefst unmoralisch gewesen wäre, wenn wir die deutschen Soldaten nicht in Bosnien eingesetzt hätten.
Eine Partei, die das nicht begreift, kann vielleicht auf Zeit in der einen oder anderen Kommune regieren - das schadet zwar der Kommune, aber die meisten überleben das -, aber sie darf niemals in Deutschland politische Verantwortung in der Führung übernehmen, wenn in diesen Grundsatzfragen ein falscher Kurs gesteuert wird.
In Westeuropa hat sich durch Integration und transatlantische Bindung ein Stabilitätsraum gebildet.
- Nein, gefragt sind in erster Linie Sie: um aufzuklären und zu verdeutlichen. Denn in Wirklichkeit kann Herr Schröder nur mit Hilfe der Grünen Kanzler werden. Anders geht es ja gar nicht.
- Das ist so. - Deswegen nutzt es gar nichts, sich davon zu distanzieren. Wir werden das im übrigen zu verhindern wissen. Denn das würde unsere Nachbarn auf das tiefste beunruhigen.
Jetzt würde ich gerne noch ein bißchen meiner außenpolitischen Leidenschaft nachgehen. Vielleicht darf ich auch einmal sagen: Ich freue mich über den großen Konsens. Es waren ja nicht immer alle der Meinung, daß dieses Vorgehen richtig war. Deswegen möchte ich an dieser Stelle Karsten Voigt einmal ein großes Kompliment machen.
Herr Verheugen, ich habe Ihre Reden noch in Erinnerung.
- Ja, natürlich, aber ich will Sie jetzt nicht gegeneinander ausspielen.
Ich möchte wirklich ehrlich sagen: Karsten Voigt gebührt ein großes Verdienst. Er hat in einer Zeit, als um Deutschland herum viele Parteien völlig das Vertrauen in die Außenpolitik der Sozialdemokratie verloren hatten, den Menschen Hoffnung gegeben. Er hat ein großes Verdienst daran, daß es heute im Deutschen Bundestag einen großen Konsens gibt.
Vielen Dank für diesen Einsatz!
Bundesminister Volker Rühe
Auch wenn Sie das nicht wissen und dafür nicht dankbar sind: Er hat viel für Sie geleistet. Sie haben ihn zwar bei der Gelegenheit um seine Karriere gebracht,
aber die Polen, Ungarn und Tschechen wissen, was er für sie geleistet hat.
- Außer „Quatsch" fällt Ihnen nicht mehr viel ein.
Unsere Nachbarn nehmen in Anspruch, was als politisches Grundrecht in Europa anerkannt ist: das Recht auf freie Bündniswahl. Polen, die Tschechische Republik und Ungarn erfüllen als demokratische, freiheitlich-rechtsstaatliche europäische Staaten alle Voraussetzungen für einen Beitritt. Sie haben das in den Beitrittsgesprächen überzeugend nachgewiesen. Wir haben ja auch deutlich gemacht: Investitionen in Humankapital haben Vorrang vor Rüstungsprogrammen. Im übrigen möchte ich sagen: Das Bündnis wird nicht von Waffensystemen zusammengehalten. Wenn das richtig wäre, daß Bündnisse allein von Waffen zusammengehalten werden, dann gäbe es heute noch den Warschauer Pakt. Er hatte nämlich ausgezeichnete Waffen - und davon sehr viele.
Er ist aber untergegangen; es gibt nur noch die NATO. Das sollten wir nie vergessen, wenn manche in der Debatte über die Kosten solche Horrorrechnungen aufmachen.
Die Bundeswehr engagiert sich wie keine zweite Armee - das wird von vielen noch unterschätzt - darin, die Streitkräfte unserer östlichen Nachbarn durch intensive Zusammenarbeit in das Bündnis hineinzuführen. Die Integration einer dänischen, polnischen und deutschen Division in einen gemeinsamen Korpsverband, der 1999 in Stettin in Dienst gestellt werden wird, ist ein besonderes Zeichen für das Vertrauen in die Bundeswehr und in unser Land, das hier gewachsen ist. Das würde ich ganz hoch einschätzen.
Wir werden am 22. August, zunächst auf der polnischen Seite, in Gubin, ein öffentliches Gelöbnis veranstalten, an dem ein deutscher Verband teilnehmen wird. Wir werden danach gemeinsam auf die deutsche Seite herübergehen und dort ein öffentliches Gelöbnis von Rekruten durchführen. Vorher wird es eine Übung im gemeinsamen Katastropheneinsatz geben.
Herr Fischer, wer von solchen Dingen nicht fasziniert ist und sie nicht aus vollem Herzen unterstützt und wem nicht klar ist, daß hier die Ordnung des 21. Jahrhunderts geschaffen wird, der kann mir nur leid tun. Das muß ich Ihnen einmal sagen.
Wenn Sie und Ihre Partei nicht begreifen, um welche faszinierenden Vorgänge es sich hier handelt, dann zeigt sich darin, daß Sie mindestens 50 Jahre hinter der Geschichte herhinken. Weil Sie sich einmal in bezug auf die NATO auf eine falsche Position eingelassen haben, sind Sie heute unfähig, an der Friedensordnung des 21. Jahrhunderts mitzuwirken.
Meine Damen und Herren, es ist hier zu Recht darauf hingewiesen worden, daß es keine deutsche Einheit ohne den mutigen Einsatz von Polen, Ungarn und Tschechen, als es darum ging, die Freiheit für Europa zu erkämpfen, gegeben hätte. Es ist auch in völlig richtiger Weise gesagt worden, daß die Öffnung der NATO auch durch eine neue Sicherheitspartnerschaft mit Rußland und der Ukraine ausbalanciert wird.
Wer angesichts der leidvollen Geschichte, die hinter uns liegt, am Ende dieses Jahrhunderts dafür kein Gefühl hat und wer meint, daß es sich bei solchen Debatten um irgendeine Debatte handele, von der man einfach weggehen könne - beispielsweise in Magdeburg, als dort eine falsche Entscheidung getroffen wurde -, der irrt. Vor jeder Fernsehkamera ist ja Herr Fischer zu finden. Aber wenn es darum geht, in seiner Partei um die Mehrheit für eine richtige Politik zu kämpfen, wird er nicht gesehen. Da kann ich nur sagen: erbärmlich!
Zurück zu dem Signal für unser Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft: Der polnische Außenminister Geremek, den ich sehr schätze - -
- Ja, das ist einer der peinlichsten Tage für Sie, Herr Fischer; das ist überhaupt keine Frage. Wer nicht in der Lage ist, in einer der Schicksalsfragen unseres Volkes die eigene Partei von einem schrecklichen Irrweg abzubringen, der ist politisch gescheitert. Und das spüren Sie auch; deswegen sind Sie so unruhig.
Jetzt darf ich Sie ein wenig um Ruhe bitten, Herr Fischer.
- Machen Sie ruhig weiter so! Das zeigt jedermann Ihren Zustand.
- Doch!
Bundesminister Volker Rühe
Der polnische Außenminister Geremek - vielleicht hören Sie einen Augenblick zu -, dessen Leben Leid und Tragik, aber auch den Aufbruch des polnischen Volkes in ganz besonderer Weise widerspiegelt, hat am 19. Dezember 1997 hier in Bonn auf der Veranstaltung, zu der uns der polnische Botschafter in, wie ich finde, sehr eindrucksvoller Weise alle eingeladen hatte, um den Beschluß der NATO-Gremien miteinander zu feiern, sehr bewegende Worte gefunden. Der Beitritt zum Bündnis sei für Polen von größter historischer Tragweite. Was ihn aber noch mehr berühre, sei das Wunder der deutsch-polnischen Verständigung, das nun auch dadurch manifestiert werde, daß Polen und Deutsche Verbündete in derselben Allianz würden.
All dies werde ganz besonders bewegend in der Integration deutscher und polnischer Streitkräfte in einen Verband sichtbar.
Die militärische Integration sei ein besonderer Ausdruck freiwilliger, gegenseitiger Abhängigkeit und gemeinsamer Verantwortung. Sie zeige, wie eng und unauflöslich wir unser Schicksal miteinander verbinden. - Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen. Das zeigt, daß Deutsche und Polen gemeinsam die Sicherheitsordnung des 21. Jahrhunderts gestalten werden.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karsten Voigt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Abstimmung zur Osterweiterung der NATO ist - das haben verschiedene Redner bereits gesagt - eine der wichtigsten außen-, sicherheits- und letztendlich auch europapolitischen Entscheidungen, die dieser Bundestag je zu treffen hatte.
Historisch gesehen garantiert die Osterweiterung der NATO einen vertraglich abgesicherten Gleichklang unserer sicherheitspolitischen Interessen mit unseren westlichen und östlichen Nachbarn zugleich. Dies bewirkt die positivste sicherheitspolitische Lage für Deutschland seit Hunderten von Jahren.
Das ist aber auch zugleich eine stabile Grundlage für dauerhafte freundschaftliche Beziehungen Deutschlands zu allen seinen Nachbarn; eine Perspektive, die nicht nur für Deutschland und seine Nachbarn, sondern angesichts der Geschichte der
letzten hundert Jahre für die europäische Stabilität insgesamt von zentraler Bedeutung ist. Ich mache gar keinen Hehl daraus, daß jeder von uns, der sich damit beschäftigt hat, weiß, daß dies auch einer der Gründe für die Entscheidung der USA und anderer Partner war, für die NATO-Osterweiterung zu sein. Ihr Motiv war nicht nur der Wunsch der Ost- und Mitteleuropäer nach Beitritt.
Die positive Wirkung der NATO-Osterweiterung wird durch den gleichzeitigen Ausbau der kooperativen Beziehungen zu Rußland mit der NATO-Rußland-Akte, durch die Vereinbarung mit der Ukraine und auch durch den erneut bestätigten Verbleib der USA in Europa zusätzlich unterstrichen. Insofern ist es für mich schon ein wenig amüsant - in mancherlei Hinsicht gegenüber den großartigen Ansprüchen des US-Senats auch ein bißchen von einer ironischen Bedeutung -, daß wir vor dem US-Senat unsere heutige Entscheidung treffen werden, weil der US-Senat in einer für die USA nicht sehr untypischen Weise der Vermischung von Innen- und Außenpolitik sowie Außen- und Parteipolitik seine Entscheidung verschoben hat. Leider ist solch eine Vermischung, wie wir jetzt in der Debatte erlebt haben, auch für Deutschland nicht ganz unbekannt.
Ich bin dabei bei einem innenpolitischen Aspekt - wir wollen dem als Sozialdemokraten gar nicht ausweichen -, dem der Grünen. Herr Rühe hat Kritik daran geübt, daß die Grünen in dieser Frage gespalten sind. In Wirklichkeit ist die Enthaltung der Mehrheit der Grünen - die ich in der Sache für völlig unbefriedigend halte - gegenüber ihren früheren Verhaltensweisen in solchen Fragen ein Fortschritt.
- Es geht noch weiter.
Erst recht ist es ein Fortschritt, wenn eine relevante Minderheit der Grünen in dieser Frage zustimmen wird. Beides sollte man positiv vermerken. Ich füge gleichzeitig hinzu: Es reicht nicht aus.
Denn es wird sich herausstellen, daß die Minderheit der Grünen in dieser Frage, auf Dauer gesehen, recht hatte, parteipolitisch recht hatte, aber außen-, sicherheits- und europapolitisch ebenfalls recht hatte, wie übrigens die Minderheit bei der CDU/CSU, die in den 70er Jahren den Ostverträgen zustimmte, darunter der Kollege Hornhues, der sich noch unter uns befindet.
- Da fehlt jetzt Ihr Beifall.
Karsten D. Voigt
Die damalige Führung der CDU/CSU hatte sich bei der KSZE und bei den Ostverträgen in eine Sackgasse verirrt. Ich sage das ohne Polemik, weil Alfred Dregger in seiner Rede zu Recht darauf hingewiesen hat, daß uns in den 50er und den 80er Jahren ähnliches passiert ist.
Wichtig ist aber nicht, daß sich hier und dort einmal die Opposition in eine Sackgasse verirrt; wichtig ist, daß Oppositionsparteien, die an die Regierung wollen, aus dieser Sackgasse herauskommen müssen, weil sie sonst tatsächlich nicht regierungsfähig sind.
Denn Deutschland ist zu groß, ist zu wichtig und hat zu viele Nachbarn, als daß wir - erst recht vor dem Hintergrund unserer Geschichte - eine Politik betreiben könnten, die uns in einen unmittelbaren Gegensatz zu all unseren Nachbarn in Ost und West treiben würde.
Eine Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, die in einer so entscheidenden Frage in Widerspruch zu der all seiner Nachbarn stünde, wäre keine Friedenspolitik. Da zählen nicht Absichten, da zählen Wirkungen.
Ich habe Respekt vor dem OSZE-Modell, das übrigens auch in unserer Partei vertreten wurde und das ja auch ein ehrenwertes Modell ist - ich habe es zwar nicht geteilt, aber das ist eine andere Frage -; aber nachdem sich unsere Nachbarn in Ost und West und die meisten Europäer, darunter alle NATO-Staaten, auf ein anderes Modell gesamteuropäischer Sicherheit geeinigt haben, das die NATO-Osterweiterung beinhaltet, würde ein Beharren auf diesem Modell, über das man theoretisch hätte diskutieren können - nicht mit mir, aber mit anderen -, einen deutschen Sonderweg und Alleingang bedeuten und somit nicht friedensfördernd sein, sondern den Frieden in Europa gefährden.
Das ist der Grund, warum viele bei uns in der Fraktion, die ursprünglich für dieses Modell eintraten, heute trotzdem für die NATO-Osterweiterung stimmen. Man muß wissen, wann welche Entscheidungen zu treffen sind. Auch wir wissen das, weil wir an der Berechenbarkeit unserer Politik für unsere Nachbarn festhalten wollen.
Volker Rühe hat zwar bestimmte Positionen bei den Grünen kritisiert, aber unterschlagen, welche Antworten die Sozialdemokraten darauf geben. Für uns ist die Frage der NATO in Koalitionsverhandlungen nicht Verhandlungsmasse, sondern Voraussetzung.
Das wissen übrigens auch die meisten Grünen. Das gilt übrigens nicht nur für die NATO- und die EU-Mitgliedschaft, sondern auch für eine konstruktive Politik in der NATO und in der EU.
Wir verabschieden heute einen Antrag - der ursprünglich von der SPD kommt, aber das ist nicht so entscheidend -, in dem steht, daß wir für die Fortsetzung der NATO-Osterweiterung sind. Nach unserem Willen soll 1999 die nächste Phase beginnen. Das bedeutet: Eine künftige deutsche Regierung bzw. Regierungskoalition hätte sich auch mit dieser Frage zu beschäftigen. Das bedeutet: Die Grünen müssen wissen, daß eine Koalition mit uns nicht nur für die NATO sein muß, sondern auch für eine weitere Öffnung der NATO in Zukunft eintreten muß.
Es steht ja in diesem Spätsommer nicht nur die Entscheidung über eine Fortsetzung des Bosnien-Einsatzes selbst an, sondern so, wie die Lage in Bosnien ist, müßte jede Regierungskoalition, wie auch immer sie zusammengesetzt ist, auch über künftige Bosnien-Einsätze entscheiden, und zwar positiv. Das wissen wir.
Ich empfehle Ihnen, bei Ihrer Konferenz Anfang Juni darüber Ihre Funktionäre und Mitglieder nicht im unklaren zu lassen. Es ist nämlich falsch, mit falschen Versprechungen in den Wahlkampf zu gehen. Das bedeutet deshalb, daß von jeglichem Element der Auflösung oder Überwindung der NATO in einer Koalition mit uns nichts übrigbleiben würde. Sagen Sie denen das von vornherein. Dann gibt es eine Basis.
Wir sagen das aber auch, weil wir diese Klarstellung im Hinblick auf unsere Nachbarn für erforderlich halten.
Jetzt aber zu dem Problem der NATO-Osterweiterung selber. Diese erste Runde soll, wie gesagt, nicht die letzte sein. Wir sind dafür, daß bei einer nächsten Runde, die 1999 beginnt, mindestens zwei neue Kandidaten dabeisein sollten, hoffentlich aber mehr. Mit den neuen Mitgliedern müssen wir dann aber auch über die inhaltliche Reform der NATO reden. Über diese ist bisher noch viel zuwenig geredet worden. Das eine betrifft die europäische Identität innerhalb der NATO. Ich möchte in den Vereinigten Staaten als europäischer Politiker nicht nur gelobt, sondern auch respektiert werden.
Damit sie respektiert werden, müssen die Europäer eine gemeinsame Haltung formulieren. Nicht die Amerikaner sind zu stark, sondern die Europäer sind zu schwach.
Deshalb ist es dringend erforderlich, daß die Europäer ihre gemeinsame Identität innerhalb der NATO
so formulieren, daß sie auch handlungsfähig sind.
Karsten D. Voigt
Diese Bemerkung zur Handlungsfähigkeit geht innerhalb der NATO auch an die Adresse der Briten und an die Adresse von Frankreich. Viele von unseren polnischen, tschechischen und ungarischen Freunden werden noch begreifen, daß es innerhalb des Bündnisses nicht ausreicht, proamerikanisch zu sein - das bin ich auch -, sondern daß es sehr wichtig ist, dabei eine eigenständige europäische Komponente innerhalb der NATO zur Geltung zu bringen.
Zweitens. Die Kooperation mit Rußland und der Ukraine muß ausgebaut, muß mit Leben erfüllt werden. Je mehr Europa und die NATO handlungsfähig sind, desto weniger braucht man Sorgen bei einer Kooperation mit Rußland zu haben. Die Kooperation - auch Polens - mit Rußland und der Ukraine ist ein wichtiges Element gesamteuropäischer Stabilität. Deshalb ist der Ausbau der NATO-Rußland-Akte in der Praxis - dessen, was sie bedeutet - und der Charta mit der Ukraine für uns von außerordentlich großer Bedeutung.
Dann - und das ist ein viel schwierigerer Punkt, weil das bis in die Fragen der Ausrüstung hineingeht - muß die NATO auch als Instrument der Krisenvorbeugung ausgebaut und effizienter gestaltet werden. Das Kontingent, das jetzt in Makedonien steht und dort eine Eskalation der Krise über die Grenzen hinaus verhindert hat, ist zwar ein UNO-Kontingent, aber es sind NATO-Truppen daran beteiligt, und wir können gar nicht ausschließen, daß in Zukunft entweder über die NATO oder über die Westeuropäische Union solche Kontingente, zum Beispiel zur Verhinderung einer grenzüberschreitenden Krise in Albanien, erforderlich sein werden. Wir zumindest halten das für möglich. Deshalb muß sich die deutsche Politik auf diese krisenvorbeugende Rolle der NATO stärker als bisher orientieren.
Dann gibt es die NATO nicht nur als Instrument der kollektiven Verteidigung, wie sie es als klassisches Bündnis ist, sondern auch als Instrument der kollektiven Sicherheit, wie in Bosnien. Leider ist die Lage in Europa und um Europa herum so, daß die NATO als Instrument kollektiver Sicherheit über den klassischen Verteidigungsauftrag hinaus in Zukunft mehr als bisher erforderlich sein wird. Auch darauf sollten sich deutsche Politiker und eine künftige Bundesregierung noch mehr als bisher einrichten.
Zuletzt noch zwei Komponenten. Wir müssen zusätzlich zur NATO, die hier alle gelobt haben - auch die bisherigen Sprecher der Grünen -, die klassische militärische NATO, die natürlich schon immer nichtmilitärische und politische Komponenten hatte, ergänzen - nicht ersetzen - durch etwas, was ich eine zivile NATO nennen möchte. Nach dem Fortfall des Ost-West-Konflikts müssen die Beziehungen über den Atlantik hinaus zu den USA und zu Kanada nicht nur mit traditionellen militärischen Mitteln verkoppelt werden, sondern auch mit kultureller Zusammenarbeit, technologischer Zusammenarbeit und wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit. Das heißt:
Wir müssen uns hier frühzeitig abstimmen. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß einseitige Aktionen der USA eher hinderlich sind. Diese Ergänzung der klassischen militärischen und politischen NATO durch eine zivile NATO halte ich für dringend erforderlich.
Zu allerletzt: Die NATO muß den Prozeß der politischen und der militärischen Reform nach innen fortsetzen. Wir sind dort noch nicht am Ende. Der Wettbewerb, wie viele Häuptlinge die NATO bei welchem Kommando stellt, ist zwar wichtig, darf aber nicht weiterhin die Erkenntnis blockieren, daß die NATO auch in ihrer Kommandostruktur mehr als bisher mit einer stärkeren europäischen Komponente und in ihrer Militärstruktur nach dem Ende des kalten Krieges Konsequenzen ziehen muß.
Diese verschiedenen Komponenten zusammengenommen, verbunden mit einer Stärkung der OSZE, Rußland-NATO-Rat, Zusammenarbeit mit der Ukraine und einer erweiterten, sich aber noch stärker erweiterenden NATO, das ist das System gesamteuropäischer Sicherheit. Es ist nicht, wie manche sich denken, irgend etwas Neues, Phantasievolles, ganz etwas anderes, was dann irgendwie einmal erfunden wird, sondern aus dem Zusammenwirken dieser verschiedenen Prozesse, Institutionen, Staaten und Interessen entsteht ein System gesamteuropäischer Sicherheit. Ich sage bei allem Verständnis für die, die an der OSZE noch stärker gehangen haben als ich: Es ist wichtiger, daß gesamteuropäische Sicherheit entsteht, als daß sie allein aus den Institutionen entsteht, bei denen man dies früher einmal gedacht hat.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt Rossmanith.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sicherlich ist das Thema Sicherheit nicht unbedingt das Hauptthema, wenn man heute unsere Bürgerinnen und Bürger im Lande nach ihren Sorgen befragt. Dennoch haben die Menschen in unserem Lande längst begriffen, daß es nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation eher schwieriger geworden ist, auch in unseren europäischen Regionen Stabilität zu bewahren.
So bedauerlich und unfaßbar das für uns ist, so ist doch festzustellen: Krieg ist in Europa wieder denkbar geworden; Krieg wird wieder auf dem Balkan geführt. Politische Konflikte können sehr schnell in Gewalt eskalieren. Unsere Bürgerinnen und Bürger machen die Erfahrung, daß äußere Sicherheit ein sehr großes Gut und ein bürgerliches Grundbedürfnis ist, ohne dessen Erfüllung Freiheit und Wohlstand sehr schnell gefährdet sein können.
Insofern tätigen wir heute mit unserer Zustimmung zum Beitritt Polens, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn zum Nordatlantikvertrag eine
Kurt J. Rossmanith
wichtige Investition für die Sicherheit Europas und auch für die Sicherheit unseres Landes. Der Weg, den wir gehen müssen, heißt Integration. Denn nur in einem einigen Europa kann ein geeintes Deutschland in Frieden leben.
Mit der Öffnung der NATO nach Osten unter gleichzeitiger Verstärkung der Kooperation mit Rußland und der Ukraine begeben wir uns auf den richtigen Weg. Es geht um die Erweiterung des Stabilitätsraumes Europa. Ein elementares Funktionsprinzip ist dabei, daß Deutschland als ein relativ großes Land in der Mitte Europas dem Vertrauen seiner Partner gerecht wird und sich mit seiner Verantwortung stellt, so wie wir es mit unserem Engagement im Bosnien-Konflikt unter Beweis gestellt haben und noch immer tun.
Es ist sicherlich ein Erfolg unseres Bundesministers der Verteidigung, Volker Rühe, und auch des Deutschen Bundestages, daß die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande verstanden haben, daß Deutschland als gleichgewichtiger Partner bereit sein muß, seinen Beitrag für die Stabilität im europäischen Raum zu leisten, und daß wir auf keinen Fall mehr eine Sonderrolle beanspruchen können.
Genau dies aber hat die Partei Bündnis 90/Die Grünen in Magdeburg unserem Land als Weg für die Zukunft empfohlen. Herr Joseph Fischer hat sich wieder als das erwiesen, was er sicherlich nicht gerne sein möchte: als ein Fischer, dem das Netz abhanden gekommen ist, dem seine Partei nicht mehr auf dem Weg, den er für richtig hält, folgt. Es ist deshalb - ich sage das so in dieser Offenheit - sicher, daß sich die Gesinnungsdogmatiker der Grünen von der NATO, dem jahrzehntelangen Garanten für Frieden und Sicherheit in Europa, verabschieden und daß sie auf die Fähigkeit zu einer leistungsfähigen Krisenintervention Deutschlands ebenfalls verzichten, indem sie die Bundeswehr schlicht und einfach halbieren wollen.
Was Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, empfehlen, ist nichts anderes als ein gewaltiges machtpolitisches Vakuum in der Mitte Europas. Die Wirkung von Vakuen kennt jeder sowohl aus der Physik, aber noch schmerzhafter für die Menschen auch aus der Geschichte. Die eigentliche Irrsinnstat des Magdeburger Parteitags der Grünen ist deshalb sicherlich nicht die 5-Mark-Attacke gegen die deutschen Autofahrer, sondern die Beschädigung der außenpolitischen Glaubwürdigkeit unseres Landes. Das ist ja der eigentliche Punkt. Das ist wirklich eine unsagbare Tat, die Sie damit begangen haben.
Ich spreche von dem Schaden, der schon jetzt durch die Politik der Grünen eingetreten ist. Denn wie wird in der Zeitschrift „Die Woche" am 13. März 1998 geschrieben:
Nichts und niemandem mißtraut man in Paris, London, Prag, Warschau oder Den Haag aus nachvollziehbaren historischen Gründen mehr als deutschem Idealismus und deutschen Idealisten.
Der Weg, den wir mit der Öffnung der NATO gehen, heißt Integration. Das Programm der Grünen, das im abgetragenen Mantel des Pazifismus daherkommt, bedeutet nichts anderes als den Rückfall in Isolationismus und kleinbürgerlichen Nationalismus. Das ist doch der Tenor.
So darf sich der Beobachter auch nicht wundern, wenn er im Wahlprogramm der Grünen nachlesen kann, daß die Aufnahme der souveränen Staaten Polen, Tschechische Republik und Republik Ungarn in die NATO und die Erweiterung der Europäischen Union in dem Tenor kommentiert wird, daß die Tür weiter geöffnet werde in Richtung auf eine Militärmacht EU.
Die NATO ist aber nicht - wie es von den Grünen in geradezu diffamierender Weise dargestellt wird - ein machtkaltes Militärbündnis, das nach Auflösung der Blöcke längst obsolet geworden ist. Nein, die NATO ist ein modernes Stabilitätsinstrument, mit dem die Werte- und Interessengemeinschaft der westlichen Zivilisation ausdrückt, daß sie sich den vielfältigen neuen Herausforderungen, Risiken und Bedrohungen internationaler Sicherheit nach dem Ende des West-Ost-Konfliktes stellen will.
Aber - lassen Sie mich dies anmerken - auch im Kreise der Beitrittskandidaten sind politische Stimmen zu hören, die zeigen, daß die Rolle der NATO manchmal noch aus dem Blickwinkel des Ost-West-Konfliktes betrachtet wird. Ich meine gewisse Töne, die in der politischen Debatte in der Tschechischen Republik angeschlagen werden. Tschechische Politiker, die zum Teil antieuropäische und antideutsche Gefühle anheizen, müssen sich darüber im klaren sein, daß sie den ohnehin länger dauernden Integrationsprozeß unnötig belasten und erschweren. Ein Beitritt, sei es zur NATO oder zur Europäischen Union, verlangt eben auch das Bekenntnis zu den Grundüberzeugungen und den Werten der Gemeinschaft, der man beitritt.
Für die tschechische Politik sollte dies Anlaß sein, die Frage der Bewertung der Vertreibung der Sudetendeutschen neu zu diskutieren. Dabei geht es um unsere gemeinsame Zukunft. Denn man kann nicht - wie es im Jugoslawienkonflikt geschieht - Vertreibung in der Gegenwart und für die Zukunft verdammen, wenn man sie in bezug auf die Vergangenheit nicht ansprechen will. Mitgliedschaft setzt voraus, daß man nicht nur von den anderen die Bereitschaft zum Handschlag fordert, sondern auch selbst unter Beweis stellt, daß man es mit der Absage an die Schatten der Vergangenheit ernst meint. Wir sollten diese Aufgabe gemeinsam - Tschechen und Deutsche, Deutsche und Tschechen - konstruktiv angehen.
Ich möchte aber nicht nur zu den neuen Partnern etwas sagen, sondern auch einen Satz zu einem langjährigen Partner in der NATO verlieren, der Türkei.
Kurt J. Rossmanith
Die Deutschen und die Türken haben immer, zurückreichend bis ins letzte Jahrhundert, eine gute Beziehung zueinander gepflegt. Wir schätzen das türkische Volk und die Türkei als NATO-Partner und wollen mit ihr auf europäischer Ebene eng zusammenarbeiten. Doch anstatt die Wut an anderen auszulassen, sollte sich die Türkei den Problemen im eigenen Land zuwenden. Die Menschenrechtssituation, das Kurdenproblem und das Verhältnis zu Griechenland und Zypern sind Fragen, die in erster Linie von der Türkei selbst gelöst werden müssen. Deshalb sollte Ministerpräsident Yilmaz langsam zu einer sachlichen Sprache zurückfinden und nicht mutwillig eine altgewachsene Freundschaft aufs Spiel setzen,
eine Freundschaft, zu der wir mit unseren östlichen Nachbarn Gott sei Dank wieder gefunden haben.
Deshalb rufe ich Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn zu: Herzlich willkommen bei uns in der NATO!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nicht der Abgeordnete Volker Rühe aus Hamburg, sondern der Verteidigungsminister Volker Rühe hat heute genau vor fünf Jahren, nämlich am 26. März 1993, eine Rede in London gehalten
und gefordert, daß Osteuropa in sicherheitspolitischer Hinsicht kein konzeptionelles Niemandsland sein dürfe.
Die Argumentation Volker Rühes bewegte sich im Rahmen traditioneller Geopolitik. Herr Rühe, Sie schlossen Rußland aus der Entwicklung einer gesamteuropäisch integrierten Sicherheitspolitik aus. Ich zitiere:
Die riesigen Potentiale und die geostrategische Lage Rußlands sprengen die europäischen Dimensionen.
Wer die Teilung Europas überwinden will, der muß Rußland einbeziehen und nicht neue Unsicherheitszonen in Europa durch die NATO-Osterweiterung in Kauf nehmen oder riskieren.
Das ist der Grund, warum wir nicht zustimmen können. Die Tatsache, Herr Rühe, daß Sie Rußland bewußt ausgegrenzt haben und in diesem Prozeß federführend waren, ist der historische und moralische Skandal der Politik, die Sie betreiben.
Lieber Karsten Voigt, Bündnis 90/Die Grünen brauchen sicherlich nicht den Programmratschlag der SPD. Das werden wir alleine festlegen. Ich kann nur sagen, daß wir in der Auseinandersetzung um eine zukünftige kooperative und kollektive Sicherheitspolitik in ganz Europa auch von der SPD erwarten, daß sie darüber nachdenkt, ob man Rußland nicht enger einbeziehen kann, als es bisher der Fall ist.
Wir erinnern uns, daß die Vereinigten Staaten der NATO-Osterweiterung zunächst skeptisch gegenübergestanden und erst auf deutsches Drängen nachgegeben haben. Ich sehe hierin und in dem Streit um die Reform der Kommandostruktur der NATO einen Hinweis, daß die Zurückhaltung der deutschen Außenpolitik aufgegeben und zumindest im europäischen Rahmen eine klare Macht- und Interessenpolitik betrieben wird. Die Bundesregierung mißbraucht multilaterale Politik für nationale Interessenpolitik. Die Osterweiterung des Militärbündnisses ist ein Mittel der Politik, aber nicht eine Frage der europäischen Zukunft auf niedrigem militärischen Niveau.
Ich möchte mich noch einigen sicherheitspolitischen Aspekten widmen. Im engeren sicherheits- und militärpolitischen Bereich gibt es Entwicklungen, die eine klare Ablehnung der NATO-Osterweiterung begründen:
Erstens. Die Erweiterung bedeutet eine Verschiebung weg vom Zivilen hin zum Militärischen und gefährdet die Stabilität der Regionen.
Zweitens. Wir brauchen die wenigen Ressourcen, die vorhanden sind, für eine Stärkung der europäischen Gemeinsamkeit, der OSZE, und nicht für neue Rüstungsprojekte, die im Moment von dieser Regierung im Blindflug noch durchgedrückt werden.
Drittens. In sicherheitspolitischen Fachkreisen besteht längst Konsens, daß es in Europa keine Bedrohung gibt. Wer den Begriff von der kooperativen Sicherheit ernst nimmt, müßte sofort auf die Doktrin des Ersteinsatzes von Atomwaffen verzichten, anstatt neue nukleare Rüstungspläne umzusetzen.
Ich möchte vor allem noch erwähnen, was für uns so eminent wichtig ist - auch in diesem Punkt gibt es einen gewissen Konsens über Fraktionen hinweg -:
Angelika Beer
die konventionelle Abrüstung. Wir können nicht so tun, als sei diese Aufgabe bereits erledigt.
Wir wehren uns dagegen, daß die NATO die Weiterentwicklung des KSE-Regimes benutzt, um ihre Vorstellung von militärischer Infrastruktur in Europa durchzusetzen. Das ist ein Grund, warum Rußland verunsichert ist, obwohl sich diese Struktur im Moment nicht gegen Rußland richtet, sondern gegen die südlichen sogenannten Schurkenstaaten. Nur: Mit dieser Politik wird neue Unsicherheit statt Stabilität geschaffen.
Ich möchte noch etwas zu der Frage der wirtschaftlichen Folgen sagen. Es kann doch wohl kein Zufall sein, daß gestern eine Lobby-Veranstaltung der Rüstungsindustrie in Bonn mit dem Titel „Chancen der deutschen Industrie bei der Ausrüstung europäischer Streitkräfte vor dem Hintergrund der NATO-Osterweiterung" stattgefunden hat. Die Feigenblätter, die man bisher vorgehalten hat, fallen herunter, und wir sehen, daß der gesamte Rüstungskomplex jenseits jeder politischen Verantwortung versucht, die Beitrittsländer zu zwingen, sich in eine Aufrüstungsspirale zu begeben, die wir nicht wollen und die politisch schädlich ist.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Osterweiterung war eine falsche Entscheidung. Die Chancen, im Rahmen der OSZE das Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert zu formulieren und umzusetzen, werden durch diesen Schritt massiv erschwert. Die OSZE hat aber - das will ich hier unterstreichen - trotz der banalen und geringen Mittel, die man ihr zur Verfügung stellt, bewiesen, daß sie durchaus in der Lage ist, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten.
Wir werden deshalb weiterhin für eine Stärkung dieser Organisation und - im globalen Rahmen - der Vereinten Nationen eintreten und auch dafür kämpfen, daß die Mittel für zivile Konfliktbearbeitung bereitgestellt werden. Dies und nur dies ist der richtige Weg, eine Friedensordnung für Europa aufzubauen.
Eines möchte ich auch der SPD versichern: Trotz der schlechten Voraussetzungen, der verschärften Ausgangslage durch die NATO-Osterweiterung werden Bündnis 90/Die Grünen - egal in welcher Rolle - für eine weitere Reduzierung der Rüstung und der Drohpotentiale und für die Abschaffung der nuklearen Bedrohung eintreten. Ohne dieses Ziel wird es
eine gemeinsame Sicherheit in Europa nicht geben können. Dafür stehen wir.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einer solchen Debatte an das Pult tritt, hat man den großen Vorteil, daß man noch mit ein paar Dingen aufräumen kann, die sich im Laufe der Aussprache angesammelt haben.
Ich möchte zunächst einmal das aufgreifen, was Karsten Voigt gesagt hat, der vom Bundesverteidigungsminister mit vollem Recht sehr gepriesen worden ist für seine sehr konstruktive Rolle in Richtung auf europäisches Zusammenwachsen und auch auf Stärkung der Wertegemeinschaft NATO.
Mit einem, was er gesagt hat, war ich nicht einverstanden. Es soll ein Fortschritt sein, so Karsten Voigt, daß sich die Grünen jetzt doch von einem strikten und einmütigen Nein zu einer relativen Enthaltung berappelt haben. Von dieser Auffassung habe ich bei dem, was Frau Beer uns gerade kundgetan hat, allerdings herzlich wenig gespürt. Frau Beer, ich hätte von Ihnen ganz gerne gehört, was Sie dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Sejm in Polen, dem Kollegen Bielecki, der als Zuhörer auf der Tribüne sitzt, eigentlich sagen wollten.
Ich hätte von Ihnen gerne gehört, was Sie den Miteuropäern in Ungarn und in der Tschechischen Republik sagen, die es alle freudigst begrüßen, daß der Deutsche Bundestag ihrem Beitritt in die NATO heute mit großer Mehrheit zustimmen wird.
Was sagen Sie diesen Menschen, indem Sie ihnen den Zutritt zu unserem Bündnis verwehren wollen? Sie sagen doch: Wir Grüne, wir wissen alles viel besser. Wir sind die eigentlich moralischen Kräfte. Wir, die berühmt-berüchtigten Fernethiker, sagen der Welt, wo es langgeht. Alle anderen sollen schauen, wo sie dabei bleiben.
Es mag ja sein, daß sich in dem Kindergarten voll gestörten Nachwuchses, bei den Grünen, in Selbsterfahrungsgruppen zu der Frage Bündnis und Verteidigung etwas geregt hat. Aber, meine Damen und Herren, ich bin nicht bereit, die Schicksalsfragen der Na-
Ulrich Irmer
tion in die Entscheidungsbefugnis eines solchen gestörten Kindergartens zu legen.
Karsten Voigt hat gesagt: Eine Opposition kann sich alles mögliche leisten. Da hat er ja recht. Aber die Grenze ist doch da erreicht, wo eine solche Oppositionspartei den Anspruch erhebt, im Herbst dieses Jahres an einer Bundesregierung mitzuwirken und gar den Außenminister zu stellen. Dazu müssen Sie doch einmal Stellung nehmen.
Ich finde es außerordentlich bezeichnend, daß Herr Fischer, der sonst nicht zurückschreckt, wenn es darum geht, das große Wort zu führen, in dieser Debatte keinen Ton von sich gegeben hat. Da darf Frau Beer mit ihren Thesen aus dem kalten Krieg, die ihr heute keiner mehr glaubt, die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Da wird - ich sage es jetzt - der von mir ganz außerordentlich geschätzte Kollege Gerd Poppe ins Rennen geschickt, der seine Auffassung ehrlich vertreten hat.
Ist es ein Zufall, meine Damen und Herren, daß der Gerd Poppe, der für den Widerstand in der DDR, für die Bürgerrechtsbewegung in der DDR stand, hier heute die vernünftige Position vertreten darf, die er immer vertreten hat? Ich möchte Gerd Poppe ausdrücklich für die konstruktiven Jahre unserer Zusammenarbeit im Auswärtigen Ausschuß danken.
Aber statt daß die Partei Bündnis 90/Die Grünen uns den Gerd Poppe wieder in dieses Parlament schickt, schickt sie Herrn Ströbele. Gerd Poppe ist abgemeiert worden; er hatte keine Chance mehr. Mit Gerd Poppe ist nicht nur er selbst als Person, sondern auch der Teil der Partei abgemeiert worden, der sich mit Stolz „Bündnis 90" nennt. Meine Damen und Herren, auf diese Arbeit können wir gerne verzichten.
Ich danke Gerd Poppe und anderen konstruktiven Kräften bei Bündnis 90/Die Grünen, daß sie bei uns jetzt der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in die NATO zustimmen, in diese Wertegemeinschaft, auf die wir angewiesen sind und die einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenwachsen Gesamteuropas leistet.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brigitte Schulte.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist es schade, daß, beim Bundesaußenminister ange-
fangen bis zum letzten Redner, viel zuviel Polemik in diese Debatte hineingekommen ist.
Gleichwohl ist es erfreulich, daß wir heute in einem breiten Konsens diese wichtige außenpolitische Frage positiv abschließen, und das in einem hektischen Wahljahr.
Wer von uns hätte denn vor zehn Jahren geglaubt, daß am 26. März 1998 das nationale Parlament des geeinten Deutschland die Aufnahme der drei Staaten Polen, Tschechien und Ungarn beschließen würde? Erinnern wir uns doch einen Moment daran, daß bei der Gründung der NATO am 4. April 1949 die Teilung Europas bittere Realität war und zwei von Deutschland besonders gequälte Völker, die Polen und die Tschechen, schon wieder in der Abhängigkeit eines totalitären Systems standen. Stalin und der Sowjetkommunismus beherrschten Mittel- und Osteuropa.
Heute morgen wurde an einige Daten erinnert, und ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, wie mutig Polen, Ungarn und Tschechen von 1956 bis 1989 waren. Da sind der Posener Aufstand im Juni 1956, der Ungarn-Aufstand im Oktober 1956, von April bis August 1968 der Prager Frühling, im Dezember 1970, nachdem die Bundesrepublik Deutschland mit Polen den Weg zur Versöhnung begangen hatten, die Unruhen in Danzig und Stettin. Wir erinnern uns doch alle des mutigen Kampfes von Solidarnosc für ein demokratisches Polen ab 1980, der im April 1989 mit dem Abschluß der Gespräche am Runden Tisch in Polen endete. Am 11. September 1989 öffnete Ungarn seine Grenzen für die DDR-Bürger und für alle anderen nach Österreich, und am 23. Oktober 1989 endete die ungarische Volksrepublik. Am 17. November begann die samtene Revolution in Prag.
Mit viel Engagement und in kürzester Zeit wandelten sich alle drei Staaten in parlamentarische Demokratien, die nun ihren Platz in der internationalen Gemeinschaft schon eingenommen haben, wenn man an den Europarat, die OSZE und die UN denkt, und die möglichst bald in der NATO, der EU und der WEU ihre Aufgaben erfüllen möchten. Meine Damen und Herren, geben wir es doch zu, welch eine Freude es bereitet, heute in freien Ländern durch so bedeutende Städte wie Budapest, Prag oder Warschau zu bummeln.
Wer wollte denn bestreiten, daß diese Länder, Völker und historischen Städte ihren Platz in einem gemeinsamen Europa und in einem gemeinsamen Verteidigungsbündnis haben?
Nun war es aber - allen Reden von der rechten Seite zum Trotz -, nicht unbillig, sich 1990 und 1991 zu fragen, ob man das Nordatlantikbündnis nach der Auflösung des Warschauer Paktes noch benötigte, da die Ost-West-Konfrontation weggefallen war. Viele von uns haben Menschen, die so fragten, die Bedeu-
Brigitte Schulte
tung des Bündnisses erläutert - ich finde, das ist ein wenig zu kurz gekommen -:
Demokratische Rechtsstaaten haben sich 1949 zu einem militärischen Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen, denn gemeinsame Sicherheit gab ihnen einen größeren militärischen Schutz.
Demokratische Rechtsstaaten tragen, seitdem es in verschiedenen Teilen der Welt immer mehr Massenvernichtungswaffen gibt, auch eine gemeinsame Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte und des Friedens.
Demokratische Rechtsstaaten führen gegeneinander auch keine Kriege. Sie versuchen, selbst so schwierige Fragen wie die zwischen den Nachbarstaaten Griechenland und Türkei friedlich zu lösen.
Besonders der langjährige Partner Türkei hat uns in den letzten Jahren immer wieder Probleme bereitet, was die Einhaltung der Menschenrechte und der Spielregeln eines Rechtsstaates betrifft. Doch wäre die Antwort darauf wirklich der Ausschluß jenes großen Landes? Vergessen wir bitte nicht, daß die Türkei in den 30er Jahren Gegnern und Opfern des Nationalsozialismus Zuflucht und Zukunft gab. Vergessen wir bitte bei aller Kritik an den heutigen Zuständen in der Türkei auch nicht, daß sich das Land seit Jahrzehnten mit den Problemen einer zu schnell wachsenden Bevölkerung und dem Wandel vom Agrarstaat in eine Industrienation zu plagen hat. Meine Damen und Herren, es gibt sogar die Möglichkeit, daß sich in den nächsten Wochen und Monaten das Verhältnis zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung im Osten dieses Landes entspannt. Hierbei sollten wir hilfreich sein.
Hier haben doch all diejenigen Kritiker recht, die sich in den letzten Jahren als Hilfe für die Türkei statt Waffen lieber ökonomische Aufbauhilfen und Sachverstand gewünscht hätten.
Zurück zur NATO: Sie hatte sich nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes nicht überlebt. Der Golfkrieg und die Jugoslawienkrise zeigten, daß sie zwar als alte NATO nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor gefragt war, aber durch eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik unter Einschluß der Nordamerikaner als neue NATO eine politische Notwendigkeit bleibt.
Allerdings verstehen sich - wie Kritiker behaupten - die Mitgliedstaaten des Nordatlantikpaktes nicht als Weltpolizisten. Zu vielschichtig sind die Probleme, zu schwer zu bewältigen wäre es, wenn wir uns als Europäer und Nordamerikaner zumuten würden, jeden Konflikt auf der Welt durch die Androhung von Waffengewalt zu bekämpfen. Die NATO hat sich statt dessen seit 1991- und verstärkt in den letzten Jahren - einer internationalen Kooperation verschrieben. Mit dem Programm Partnerschaft für den Frieden in Europa sind neue Wege für eine aktive militärische und zivile Zusammenarbeit beschritten worden.
Heute können wir mit unserer Zustimmung zur Erweiterung des Bündnisses auch die NATO-RußlandAkte und die NATO-Ukraine-Charta als Erfolg internationaler Politik vorzeigen. Deshalb sollten wir als Deutsche keineswegs aus der NATO austreten und zu einer nationalen Sicherheits- und Außenpolitik zurückkehren. Dessen sind wir uns hoffentlich alle bewußt: Die Allianz bleibt auch eine Sicherheitsgarantie für unsere Nachbarn im Osten, Norden und Westen, eine Garantie dafür, daß sich das zahlenmäßig und ökonomisch starke Deutschland internationalen Spielregeln fügt und keinen Sonderweg wie 1933 geht, der im Krieg, in der Vertreibung und in der Zerstörung Europas 1945 endete.
Allerdings sind wir auch diejenigen, die heute von der Mitgliedschaft im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft ganz besonders profitieren: Erstmals in unserer mehr als 1000jährigen Geschichte sind wir nur von Nachbarn umgeben, mit denen wir multilateral und bilateral gut zusammenarbeiten. Doch machen wir uns keine Illusionen: Nicht nur bei Polen und Tschechen, sondern auch bei Holländern, Dänen und Belgiern ist im Unterbewußtsein immer noch Angst,
vor den starken Deutschen vorhanden, die durch die Anwesenheit der Amerikaner in Europa Gott sei Dank gebändigt wird. Für diese kleineren Staaten ist es eine Lebensversicherung, daß wir in einem gemeinsamen militärischen Bündnis zwischen den großen und kleinen Staaten Europas zusammenleben.
Zum Schluß bleibt festzustellen, daß es eine gemeinsame Sicherheit zum Nulltarif natürlich nicht geben kann. Die Bundesrepublik muß, wie alle anderen Staaten auch, einen angemessenen militärischen Beitrag leisten. Nur, Frau Kollegin Beer: Die Polen, die Tschechen und die Ungarn machen zwar große Anstrengungen, sich in die militärische Struktur des Bündnisses einzufügen; aber sie haben auch die Chance, ihre Streitkräfte erneut zu reduzieren und damit langfristig Geld einzusparen. Gerade wir Deutsche haben ihnen in den letzten Wochen manches von dem ausgeredet, was unsere Nachbarn im Westen, einschließlich der Amerikaner, ihnen sofort einzureden versucht haben, nämlich daß sie dieses oder jenes Waffensystem dringend kaufen müßten. Es waren gerade die Vertreter der Bundeswehr, die gesagt haben: Baut erst einmal eure personelle Struktur auf, nehmt eure veralteten Waffen; es droht kein Krieg. Ich finde, dies sollte auch von Kritikern der NATO anerkannt werden.
Ich will ausdrücklich bekräftigen, daß wir die Chance nutzen sollten, mit den übrigen Staaten Europas außerhalb der NATO über neue Abrüstungsinitiativen nachzudenken und dabei immer mehr außereuropäische Regionen einzubeziehen. Auf der Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit ist es ja zum Beispiel gelungen, die Achtung der Landminen durchzusetzen. Und hier wie bei der NATO-Erweiterung und der Vertiefung der Zusammenarbeit mit
Brigitte Schulte
Ukrainern, Russen und anderen europäischen Staaten außerhalb des Bündnisses will ich ausdrücklich die Arbeit der Bundesregierung loben. Sie hat im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium gute Arbeit geleistet.
Frau Kollegin Beer, es kann um das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland nicht so schlecht bestellt sein,
wenn sich ausgerechnet heute der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler mit dem Präsidenten der Russischen Föderation in Rußland treffen. Tragen Sie es mit etwas Gelassenheit, was die Lage Rußlands betrifft.
An die Kritiker möchte ich appellieren, sich daran zu erinnern, daß 1982 bei der Öffnung der NATO für Spanien ausgerechnet ein junger und sympathischer Sozialist, Javier Solana, gegen den Beitritt seines Landes zur NATO war. Ich glaube, er macht seine Aufgabe heute als Generalsekretär des Bündnisses hervorragend. Beweisen Sie, daß man wie er hinzulernen kann.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.
Ich möchte darauf hinweisen, daß es für die Kollegin eben wegen der Unruhe sehr schwer war, zu reden. Bitte, hören Sie doch auch einmal auf die Glocke der Präsidentin. Ich versuche nämlich, damit Ruhe zu erzeugen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst ein Wort an den Ehrenvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, an unseren Kollegen Alfred Dregger, richten.
Ich glaube, daß die Rede, die wir von Herrn Dregger heute gehört haben, eine eindrucksvolle Bilanz seiner Beiträge zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und ein richtungweisendes Vermächtnis für die Zukunft darstellt.
Die meisten von uns werden sich an eine andere Rede erinnern, nämlich an die Rede, die der damalige polnische Außenminister, Herr Bartoszewski, in diesem Haus am 8. Mai 1995 gehalten hat. Er hat damals gesagt: Polen, Ungarn, Tschechien, die mittel- und osteuropäischen Staaten wollen in die EU und in die NATO, weil das für sie die Rückkehr nach Europa bedeutet, zurück in die europäische Zivilisation nach den Jahren des Stalinismus. - Wenn wir uns diese
Worte von Herrn Bartoszewski, dieses Klopfen an die Tür der NATO vor Augen halten, wenn wir hinhören, was zum Beispiel in Polen gesagt wird, dann gibt es überhaupt keinen Grund, den Polen zu sagen: Nein, wir stimmen gegen eure NATO-Mitgliedschaft; wir wissen besser als ihr, was für eure Sicherheit notwendig und richtig ist. - Das ist Arroganz und Ignoranz, die wir aufs schärfste zurückweisen.
Wir erinnern uns an Lech Walesa auf der Lenin-Werft in Danzig, an Geremek, an Mazowiecki, an die großartigen Leute der Solidarnosz, die aufgestanden sind und denen wir in Deutschland unsere Wiedervereinigung und die Europäer auf dem ganzen Kontinent ihre Freiheit verdanken.
Diesen Menschen schulden wir Dankbarkeit statt Arroganz und Ignoranz, Frau Kollegin Beer.
Den mittel- und osteuropäischen Ländern steht es bis obenhin, von weltfremden Ideologen belehrt zu werden. Sie wissen selbst, was für sie am besten ist, und bedürfen nicht der Belehrung von Beer, Trittin und anderen in der Grünen-Fraktion.
Meine Damen und Herren, zu diesem heutigen Tag, zu dieser wirklich historischen Entscheidung haben viele von uns beigetragen. Ich möchte in der Bundesregierung - ich glaube, ich trete damit niemandem zu nahe - ganz besonders Volker Rühe ansprechen. Ich möchte Volker Rühe für das, was er geleistet hat, danken; denn er ist der erste in Europa, in der westlichen Welt gewesen, der das Thema der NATO-Öffnung auf die internationale Tagesordnung gesetzt hat.
Ich danke aber auch den Kollegen in meiner Fraktion, dem Fraktionsvorsitzenden Schäuble, der sich ebenfalls schon zu einem Zeitpunkt dafür eingesetzt hat, als viele andere noch zögerten.
Ich danke den vielen, die mit zahlreichen Kontakten und sehr vielen Reisen in diesen Ländern Vertrauen geschaffen haben, das 1990 und 1991 noch nicht da war. Ich nenne Reinhard von Schorlemer, den Vorsitzenden der Deutsch-Ungarischen Parlamentariergruppe,
Karl-Heinz Hornhues, der sich in Polen engagiert hat, Karl Lamers und Rudolf Seiters, die sich um Tschechien gekümmert haben. Solche Menschen gibt es auch in der SPD-Fraktion, sie gibt es im ganzen Haus.
Dr. Friedbert Pflüger
Der Deutsche Bundestag hat mit einer Vielzahl von Kontakten dazu beigetragen, daß dieses Vertrauen wachsen konnte und in Polen, Tschechien und Ungarn der Eindruck entstanden ist: Die kommen nicht nur mal kurz vorbeigefahren, sondern die wenden sich uns wirklich zu, die interessieren sich für uns. Daß uns diese Länder wirklich vertrauen, ist doch etwas, was man immer wieder spürt und worauf man auch ein wenig stolz ist.
Frau Kollegin Schulte, Sie haben soeben den Moskauer Gipfel angesprochen. Sie haben recht: Er ist nicht so unproblematisch. Aber dadurch, daß Helmut Kohl, unser Bundeskanzler, da hinfährt und die Polen, Tschechen und Ungarn Vertrauen zu ihm aufgebaut haben, ist das Ganze überhaupt kein Problem mehr für sie.
Meine Damen und Herren, ich möchte ein Wort zu den Sozialdemokraten sagen, und zwar im Zusammenhang mit einer sehr wichtigen Sache, die wir immer wieder mit sehr viel Zustimmung erleben: Es kommen Offiziere aus Polen, Tschechien und Ungarn an unsere Führungsakademie nach Hamburg. Wir erleben, daß die Bundeswehr ein Vorbild an Innerer Führung für sie ist. Das Bild vom Soldaten als dem Bürger in Uniform, die Innere Führung und das Primat der Politik haben für sie Vorbildfunktion. Diese Offiziere kommen zur Führungsakademie nach Hamburg und gestalten ihre Armeen nach dem Vorbild der Bundeswehr. Dies tun sie aber bestimmt nicht, weil sie glauben, dort seien Rechtsradikale am Werk.
SPD und Grüne haben diesen unsinnigen Untersuchungsausschuß eingerichtet, und er ist wirklich ein Skandal, weil er die Bundeswehr - gewollt oder ungewollt - unter Generalverdacht stellt.
Diese Länder sind das beste Beispiel dafür, wie unsinnig Ihr Beschluß war, diesen Untersuchungsausschuß einzusetzen.
Herr Abgeordneter, einen Moment! Ich will versuchen, für Ruhe zu sorgen. Mir ist gesagt worden, daß man auf den hinteren Bänken nichts mehr verstehen kann, 'obwohl wir das Mikrofon so laut wie möglich eingestellt haben. Ich bitte Sie, mehr Ruhe zu halten.
Ich finde, daß wir sehr gut daran tun, unserer Bundeswehr Dank für das zu sagen, was sie in Bosnien macht,
und zwar zusammen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten, zusammen mit Rußland. Wir sollten ihr für das danken, was sie an der Oder gemacht hat, und sie nicht den peinlichen Dauerbefragungen, einem Dauerverdacht aussetzen, der die Kräfte der Bundeswehr nur lähmen und ihr Ansehen in der Bevölkerung nur beschädigen kann.
Die Frage, die wir hier zu stellen haben, lautet: Wie geht es jetzt weiter? Ich finde es sehr wichtig, daß wir gemeinsam beschlossen haben, Karsten Voigt, daß wir jetzt nicht Schluß machen mit der NATO-Öffnung, daß wir auch an den amerikanischen Kongreß appellieren, jetzt nicht ein Moratorium zu verhängen. Das würde die Rumänen, die Bulgaren, die Slowenen, die Slowaken, die Balten auf das tiefste enttäuschen und neue Konflikte und Unsicherheiten in diesen Ländern schaffen. Deshalb sagen wir klar: Der Prozeß der NATO-Öffnung muß ohne Pause in Phasen fortgesetzt werden.
Ein letztes Wort zum Thema Rußland: Heute wird in Moskau zwischen Chirac, Kohl und Jelzin über eine neue, gemeinsame Agenda gesprochen. Wir sehen, daß die russische Außenpolitik konstruktiver geworden ist: In Bosnien und im Kosovo, bei der Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen gibt es gute Ansätze; es gibt gute Ansätze bei der Abrüstung, bei der Bekämpfung internationaler Kriminalität. Wir wollen Rußland als Partner einer neuen NATO haben. Aber wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß diese NATO mehr ist als ein politischer Debattierklub. Sie ist und bleibt ein Verteidigungsbündnis. Als Verteidigungsbündnis schafft sie Sicherheit und Stabilität für alle in Europa.Meine Damen und Herren, ich glaube, daß auch in Polen, Tschechien, Ungarn und den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten deutlich geworden ist, daß dieses Deutschland heute ein Partner, ein Anwalt und nicht mehr ein Gegner und Feind wie in früheren Jahren ist. Ich habe von dem Spruch: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, oder: Ich bin stolz, ein Franzose oder Belgier oder Amerikaner zu sein, nie viel gehalten, weil man für seine Staatsangehörigkeit nichts kann. Man wird geboren und hat erst einmal noch keine Verdienste, auf die man stolz sein könnte. Aber wenn ich in diesen Ländern sehe, welches Vertrauen uns Deutschen entgegenschlägt, wie dort erklärt wird: „Jawohl, ihr seid jetzt unser Anwalt, nachdem ihr noch vor etwas mehr als 50 Jahren über uns hergefallen seid" , dann, meine ich, haben wir in der Tat ein bißchen Grund, auf unser Land und auch auf unsere Regierung stolz zu sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998 20459
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu den Protokollen zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn. Das ist die Drucksache 13/9815.
Nach § 31 unserer Geschäftsordnung gibt es zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung, die ich Sie bitte zu Protokoll nehmen zu dürfen: Es gibt eine Erklärung des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner, des Abgeordneten Kurt Neumann, des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, des Abgeordneten Cem Özdemir und weiterer Abgeordneter sowie eine Erklärung des Abgeordneten Ludger Volmer, der Abgeordneten Angelika Beer und weiterer Abgeordneter.*) Sind Sie einverstanden, daß wir das zu Protokoll nehmen? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/10063 , den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen jetzt besetzt? - Nein, noch nicht. - Es fehlen hier links von mir noch Schriftführer. Ich bitte, diese Plätze beschleunigt zu besetzen. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, an der zweiten Urne links ist noch kein Schriftführer. - Jetzt endlich. Dann eröffne ich die Abstimmung. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe damit die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis werden wir Ihnen später mitteilen.** )
Wir setzen die Beratungen fort. Da wir zunächst eine Abstimmung durchführen müssen, bitte ich Sie, die Gänge frei zu machen, damit ich ein bißchen Übersicht bekomme.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Ratifizierung der Beitrittsprotokolle zum Nordatlantikvertrag und zur weiteren Umsetzung der NATO-RußlandAkte; das ist die Drucksache 13/10064. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/9858 in der Ausschußfassung der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 13/9972 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
*) Anlagen 2 bis 4 **) Seite 20461B
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 2 auf:
8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes
- Drucksache 13/9960 - Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Wehrsolderhöhung
- Drucksache 13/10191 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich werde die Aussprache aber erst eröffnen, wenn Ruhe eingetreten ist. -
Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Jürgen Augustinowitz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der großen Debatte über die NATO-Erweiterung kommen wir zu den Themen zurück, die die Soldaten unmittelbar betreffen, insbesondere die jungen Wehrpflichtigen. Gerade die Änderung des Wehrsoldgesetzes bietet einen guten Anlaß, einmal Bilanz zu ziehen, was diese Koalition in den letzten vier Jahren für die Grundwehrdienstleistenden in Deutschland erreicht hat, finanziell und im Sozialbereich.
- Kollege Kolbow meint, wir hätten nichts erreicht. Nachdem ich gesprochen habe, nehmen Sie - das verspreche ich Ihnen - das zurück.
Für das ganze Haus sage ich - aber natürlich richte ich mich speziell an die Sozialdemokraten -: Erstens. 1995 haben wir das Verpflegungsgeld für dienstfreie Tage und das Wochenende verdoppelt. Das ist ein Plus von 50 DM im Monat für jeden Wehrpflichtigen.
Wir haben zweitens die Zeiten der Beförderungen wesentlich reduziert. Heute wird man nach den ersten drei Dienstmonaten zum Gefreiten befördert und dann eingesetzt, und man wird, wenn man sich bewährt, nach den ersten sechs Dienstmonaten zum Obergefreiten befördert. Das bedeutet: In dem einen Fall plus 45 DM und in dem anderen Fall plus 90 DM pro Monat.
Jürgen Augustinowitz
Drittens. Diese Koalition hat den sogenannten Mobilitätszuschlag eingeführt. In der ersten Stufe, die die Entfernungen von 50 bis 99 Kilometern umfaßt, sind das 90 DM pro Monat mehr, Herr Kollege Kolbow,
in der zweiten Stufe, die Entfernungen von über 100 Kilometern umfaßt, sind das 180 DM pro Monat mehr.
Wir werden mit der zum 1. Juli dieses Jahres geplanten Änderung des Wehrsoldgesetzes eine weitere Stufe vorsehen. Bereits ab 30 Kilometern gibt es 30 DM im Monat mehr. Dieses alles zusammengenommen bedeutet eine massive Erhöhung des Wehrsoldes. Wenn man einmal eine Entfernung von über 100 Kilometern betrachtet - Herr Kollege Kolbow, nun hören Sie einmal gut zu -, bedeutet das eine Erhöhung von 9,10 DM. Und Sie bieten uns heute lächerliche 2 DM an!
Jemand, der in der Entfernungsstufe zwischen 50 und 99 Kilometern ist, hat 5,80 DM mehr, und jemand, der in der darunterliegenden Entfernungsstufe ist, hat 4,10 DM mehr.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht das Prinzip der Gießkanne angewandt. Die sozialistische Gießkanne wird nach wie vor von der SPD eingesetzt. Sie wollen nämlich für jeden 2 DM mehr. Wir wollen diejenigen, die besonders viel leisten und die besonderen Belastungen ausgesetzt sind, einen besonderen Ausgleich geben. Deswegen haben wir diese neuen Instrumente, die ich genannt habe, eingeführt. Der Mobilitätszuschlag ist das wichtigste dieser Instrumente. Sie, Herr Kollege Kolbow, sollten gleich - vielleicht im Rahmen einer Zwischenfrage - die Gelegenheit nutzen und das zurücknehmen, was Sie eben behauptet haben.
Um Ihnen noch einmal die Dimension deutlich zu machen, will ich Ihnen zwei Beispiele nennen. Ein Soldat im fünften Dienstmonat, bei dem die Entfernung zwischen Dienstort und Wohnort 80 Kilometer beträgt, bekam früher 452 DM, und heute bekommt er 635 DM. Das ist eine Wehrsolderhöhung für den jungen Mann von 40 Prozent.
Zweites Beispiel. Die Entfernung beträgt 130 Kilometer; der Soldat ist im fünften Dienstmonat. Früher bekam er 452 DM, heute 725 DM. Das ist ein Plus von 63 Prozent. Das ist die Politik dieser Koalition für unsere jungen Wehrpflichtigen. Sie ist toll. Das soll hier einmal deutlich gewürdigt werden.
Die Sozialdemokraten haben heute einen Antrag vorgelegt, demzufolge der Wehrsold um 2 DM erhöht werden soll. Das kostet übrigens im Jahr 100 Millionen DM. Woher die 100 Millionen DM kommen sollen, das sagen die Sozialdemokraten natürlich nicht. Das ist ja immer so.
Erst einmal Forderungen stellen und anschließend nicht sagen, wie es finanziert werden soll - das sind wir ja von Ihnen gewohnt.
Sie geben in Ihrer Begründung allerdings einen ganz wichtigen Hinweis, nämlich darauf, daß es nicht nur auf die finanziellen Rahmenbedingungen ankommt, unter denen die Wehrdienstleistenden in Deutschland zu arbeiten haben. Sie weisen zu Recht auch auf die sozialen Bedingungen hin. Zu diesen sozialen Bedingungen möchte ich auch etwas sagen. Die Grünen wollen die Bundeswehr um 75 Prozent reduzieren; die SPD natürlich ein bißchen weniger. Aber in ihrer Gesamtheit rechtfertigt eine rotgrüne Sicherheitspolitik in Deutschland schon, zu sagen: Soldaten, paßt auf; die Standorte sind gefährdet!
Das müssen wir den Leuten sagen. Daß die SPD davon getroffen ist, sehen wir ja daran, daß sie ihren Sprecher hat verkünden lassen: Wenn ihr SPD wählt, werden die Standorte zumindest in den ersten vier Jahren gesichert sein. Dazu sage ich: Die Soldaten lassen sich doch nicht mit solchen Sprüchen für dumm verkaufen. Wahr ist, daß dann , wenn eine rotgrüne Regierung die Sicherheitspolitik bestimmen würde, viele Standorte in Deutschland gefährdet wären. Ich kann nur sagen: Soldaten, überlegt, was in einem solchen Fall auf euch zukommen würde!
Der zweite wichtige Punkt. Sie haben mit dem Untersuchungsausschuß, der sich ja auf die Gesamtgemengelage der jungen Grundwehrdienstleistenden auswirkt, einen Schaden für unsere Soldaten angerichtet. Ich weiß aus Gesprächen, daß Sie das zum Teil mittlerweile selber erkannt haben. Aber wir müssen diese Punkte hier noch einmal deutlich machen. Die jungen Grundwehrdienstleistenden wie alle Soldaten haben es nicht verdient, von der politischen Linken in Deutschland unter einen Generalverdacht gestellt zu werden.
Diesen Punkt werden wir Ihnen immer wieder im Wahlkampf vorhalten.
Ein weiterer Skandal im Zusammenhang mit den sozialen Rahmenbedingungen wird deutlich beim
Jürgen Augustinowitz
Thema öffentliche Gelöbnisse. Ich will das ganz konkret an einem Beispiel aus meinem Wahlkreis deutlich machen. Der SPD-Bürgermeisterkandidat von Lippstadt, einer alten Garnisonsstadt, war sich nicht zu schade, folgendes in der Presse öffentlich zu erklären: Er habe Schwierigkeiten mit öffentlichen Gelöbnissen; mit ihm als Hausherr würde so etwas nicht stattfinden. „Das sind Rituale, die man nicht mehr ertragen kann. "
Meine Damen und Herren, das sind sozialdemokratische Bürgermeisterkandidaten in unseren Städten und Gemeinden. Das hat etwas mit sozialen Rahmenbedingungen zum Thema Wehrpflicht zu tun.
Noch schlimmer sind natürlich in dem Zusammenhang die Grünen, die in einem unerträglichen Pakt, zum Teil auch mit Chaoten, dabei sind, öffentliche Proteste gegen Gelöbnisse der Bundeswehr anzumelden. Es gibt in Deutschland nicht einen Platz, nicht eine Straße, wo die Soldaten nicht öffentlich geloben können, Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Das mußte Ihnen einmal deutlich ins Stammbuch geschrieben werden: nicht nur die finanziellen Dinge, sondern auch die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen Sie glauben, Bundeswehrpolitik machen zu können.
Der 27. September kommt immer näher.
Wir spüren Ihre Unsicherheit, wenn es um das Thema äußere wie innere Sicherheit geht. Aus diesem Schwitzkasten werden Sie nicht entlassen.
Es wird deutlich werden, daß Sicherheitspolitik im außenpolitischen Bereich, vor allen Dingen, wenn es um die Bundeswehr geht, bei Rotgrün am allerschlechtesten aufgehoben wäre.
Vielen Dank.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu den Protokollen vom 16. Dezember 1997 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn mitteilen. Abgegebene Stimmen: 622. Mit Ja haben gestimmt 555. Mit Nein haben gestimmt 37. Enthaltungen: 30. Der Gesetzentwurf ist damit mit großer Mehrheit angenommen worden.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 620; davon
ja: 553
nein: 37
enthalten: 30
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Anneliese Augustin Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank
Dr. Heribert Blens Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig
Rudolf Braun Paul Breuer
Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler Hartmut Büttner
Manfred Carstens Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn
Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Jochen Feilcke
Ulf Fink
Dirk Fischer
Leni Fischer
Klaus Francke Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler Michael Glos
Wilma Glücklich
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund
Horst Günther Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
Gerda Hasselfeldt
Otto Hauser Hansgeorg Hauser
Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise
Detlef Helling
Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze
Josef Hollerith Elke Holzapfel
Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster
Hubert Hüppe Peter Jacoby
Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork
Michael Jung Ulrich Junghanns
Dr. Harald Kahl Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder
Peter Keller
Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Ulrich Klinkert Hans-Ulrich Köhler
Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Annegret Kramp-
Karrenbauer Rudolf Kraus
Wolfgang Krause Andreas Krautscheid
Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger
Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Vera Lengsfeld Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach
Walter Link Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann
Julius Louven Sigrun Löwisch Heinrich Lummer
Erich Maaß Dr. Dietrich Mahlo
Erwin Marschewski Günter Marten
Dr. Martin Mayer
Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl
Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz
Rudolf Meyer Hans Michelbach Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Elmar Müller Engelbert Nelle
Bernd Neumann Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost
Eduard Oswald Norbert Otto
Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch
Ulrich Petzold Anton Pfeifer Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla
Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff
Dr. Albert Probst Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau
Helmut Rauber Peter Rauen
Otto Regenspurger
Christa Reichard Klaus Dieter Reichardt
Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter
Dr. Norbert Rieder
Dr. Erich Riedl Klaus Riegert
Franz Romer
Hannelore Rönsch
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth
Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Roland Sauer Ortrun Schätzle
Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte
Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Andreas Schmidt Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff
Dr. Dieter Schulte
Gerhard Schulz (Leipzig) Frederick Schulze
Diethard Schütze (Berlin) Clemens Schwalbe
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer
Marion Seib
Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert
Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora
Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm
Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset
Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser
Dr. Susanne Tiemann Gottfried Tröger
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt
Dr. Horst Waffenschmidt Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke
Kersten Wetzel
Hans-Otto Wilhelm Gert Willner
Bernd Wilz
Willy Wimmer Matthias Wissmann Dr. Fritz Wittmann
Dagmar Wöhrl
Michael Wonneberger Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer
Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer
Wolfgang Zöller
SPD
Brigitte Adler Gerd Andres Ernst Bahr
Doris Barnett
Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt
Hans Berger Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig
Anni Brandt-Elsweier
Dr. Eberhard Brecht
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi
Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger
Annette Faße Elke Ferner
Lothar Fischer Gabriele Fograscher
Iris Follak
Eva Folta
Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs
Katrin Fuchs
Monika Ganseforth
Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner
Günter Graf Angelika Graf (Rosenheim) Dieter Grasedieck
Achim Großmann
Karl Hermann Haack
Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach
Dr. Liesel Hartenstein Klaus Hasenfratz
Dieter Heistermann Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum
Reinhold Hiller Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann Frank Hofmann (Volkach) Ingrid Holzhüter
Erwin Horn
Eike Hovermann Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde liber Gabriele Iwersen Renate Jäger
Jann-Peter Janssen Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Hans-Ulrich Klose
Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Helga Kühn-Mengel Konrad Kunick Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger
Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann Christa Lörcher
Erika Lotz
Dieter Maaß Winfried Mante Ulrike Mascher Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer Ursula Mogg
Michael Müller Jutta Müller (Völklingen) Christian Müller (Zittau) Volker Neumann (Bramsche) Gerhard Neumann (Gotha) Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Doris Odendahl Günter Oesinghaus Leyla Onur
Manfred Opel
Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick Joachim Poß
Rudolf Purps
Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach
Dr. Edelhert Richter
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Günter Rixe
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch Dieter Schanz
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler Horst Schild
Otto Schily
Günter Schluckebier Horst Schmidbauer
Ulla Schmidt Dagmar Schmidt (Meschede) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann
Brigitte Schulte Reinhard Schultz (Everswinkel)
Volkmar Schultz Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Lisa Seuster
Horst Sielaff
Erika Simm
Johannes Singer
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge
Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Dr. Bodo Teichmann Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin
Günter Verheugen Ute Vogt
Karsten D. Voigt Hans Georg Wagner
Hans Wallow
Wolfgang Weiermann Reinhard Weis Matthias Weisheit
Gert Weisskirchen Jochen Welt
Hildegard Wester Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz
Berthold Wittich
Verena Wohlleben
Hanna Wolf Heidi Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Marieluise Beck Matthias Berninger
Dr. Uschi Eid
Joseph Fischer Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
Gerd Poppe
Rezzo Schlauch
Wolfgang Schmitt
Waltraud Schoppe
Dr. Antje Vollmer
Margareta Wolf
F.D.P.
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
Jörg van Essen
Dr. Olaf Feldmann
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Dr. Burkhard Hirsch
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Dr. Otto Graf Lambsdorff Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb
Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Konrad Gilges Uwe Hiksch
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNE
Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Monika Knoche
Dr. Jürgen Rochlitz Halo Saibold
Ursula Schönberg
PDS
Wolfgang Bierstedt Petra Bläss
Marina Böttcher
Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi
Dr. Gregor Gysi Hanns-Peter Hartmann
Dr. Uwe-Jens Heuer
Dr. Barbara Höll Dr. Willibald Jacob Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne
Rolf Kutzmutz Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth
Dr. Günther Maleuda Manfred Müller Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel Klaus-Jürgen Warnick
Dr. Winfried Wolf
Gerhard Zwerenz
Fraktionsios
Kurt Neumann
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Egon Jüttner
SPD
Dr. Marliese Dobberthien Dr. Ingomar Hauchler
Dr. Christine Lucyga Dr. Hermann Scheer
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Elisabeth Altmann
Volker Beck (Köln) Angelika Beer
Franziska Eichstädt-Bohlig Antje Hermenau
Kristin Heyne
Uli Höfken
Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper
Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke
Kerstin Müller Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Egbert Nitsch Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Albert Schmidt Marina Steindor
Christian Sterzing Manfred Such
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV oder der IPU
Abgeordnete(r)
Antretter, Robert, SPD Zierer Benno, CDU/CSU
Das Wort in der laufenden Debatte hat jetzt der Abgeordnete Dieter Heistermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie nervös die Koalition auftritt, dann war der Kollege Augustinowitz ein Beispiel dafür,
Dieter Heistermann
wie unsicher Sie die kommenden Monate auf sich zukommen sehen.
Weil ich bei dem Beitrag daran erinnert wurde - mit dem Eigenlob ist das immer so eine Sache; wenn man sich hier in einer bestimmten Art und Weise darstellt, dann gibt es bestimmte Gerüche; ich will das hier nicht unparlamentarisch ausdrücken -, möchte ich sagen: Ein bißchen weniger aufgetragen wäre der Debatte angemessener gewesen.
Es ist erstaunlich, das doppelte Verpflegungsgeld hier als besondere Leistung einzuführen, nachdem man es erst gestrichen hatte. Da kann ich nur sagen: Kollege Augustinowitz, ein bißchen weiter runter! Auch andere Abgeordnete haben verfolgt, was diese Koalition in den letzten Jahren getan hat.
Ich möchte noch eines zu diesem berühmten Schwitzkasten sagen. Ich hoffe, daß Sie sich das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein noch einmal anschauen: In den Standorten, wo Bundeswehreinheiten stationiert sind, haben die Sozialdemokraten überdurchschnittliche Gewinne erreicht.
Vielleicht könnte das den Denkprozeß bei Ihnen noch ein wenig in die Richtung stärken, daß sich die Soldaten eben nicht von einer Partei sozusagen einkassieren lassen, sondern Staatsbürger in Uniform sind.
Da spielt es auch keine Rolle, welche Partei den Verteidigungsminister stellt. Diese Bürger wissen alleine, nach welchen Kriterien sie zu entscheiden haben; sie bedürfen da keines Rates, auch nicht des Kollegen Augustinowitz.
Ich möchte aber, weil das hier in die Debatte eingeführt worden ist - ich war schon von der Bandbreite sehr überrascht, was man alles in eine Debatte über Wehrsolderhöhung reinpacken kann -, noch etwas zu dem Kollegen Pflüger sagen, der hier Anwürfe macht, dann aber leider der weiteren Debatte nicht folgt.
Das ist vielleicht ein Stil, in einer Debatte, in der es um Soldaten der Bundeswehr geht, den Untersuchungsausschuß anzuführen, aber dann an den weiteren Beratungen nicht teilzunehmen! Dem Kollegen Pflüger kann ich nur sagen: Es war ein Untersuchungsausschuß, der von den Sozialdemokraten eingesetzt worden ist, der einem General die Ehre wiedergegeben hat, dem Sie die Ehre nehmen wollten. Das ist ein Ergebnis. Ich sage das deshalb, weil er von unerträglichen Beschlüssen gesprochen hat, die die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen betrafen.
Das fällt auf Sie zurück. Wir nehmen ein Verfassungsrecht in Anspruch. Dieses Verfassungsrecht lassen wir uns von niemandem beschneiden. Wir entscheiden selbst, ob wir etwas einrichten oder nicht.
Die im Entwurf eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes ab 1. Januar 1999 angekündigte Erhöhung des Wehrsoldes um 1 DM ist schon lange überfällig. Meine Damen und Herren von der Koalition, überheben Sie sich bloß nicht; denn nach so vielen Jahren des Nichtstuns muß Ihnen erst einmal jemand nachmachen, auf diesem Gebiet zu so einem Vorschlag zu kommen. Der Betrag der angekündigten Erhöhung ist seiner Höhe nach völlig unbefriedigend. Er kommt zudem viel zu spät.
Das Einbringen des vorliegenden Gesetzentwurfes zum jetzigen Zeitpunkt und die Ankündigung - man höre und staune! -, den Wehrsold zum 1. Januar 1999 zu erhöhen, sind zudem ein durchsichtiges Manöver.
Es ist Wahljahr, und so entdeckt die Koalition die Wehrpflichtigen. Deshalb will sie den Wehrsold 1999 um 1 DM erhöhen. Dabei weiß diese Koalition genau, daß eine Wehrsolderhöhung erst nach der Bundestagswahl am 27. September mit dem Haushalt 1999 eingebracht werden kann. Das von ihr heute hier vorgeführte Manöver zeigt, wie billig sie auf Wählerstimmenfang gehen will.
Wir dürfen jedenfalls heute davon ausgehen, daß die Verantwortung für den nächsten Verteidigungshaushalt ohnehin in sozialdemokratischer Hand liegen wird
und dann unsere Erhöhung um 2 DM pro Tag greifen wird. Darauf kann der Kollege Augustinowitz heute schon einen trinken.
Die SPD will eine sofortige Angleichung des Wehrsoldes an die veränderten Lebenshaltungskosten durch eine sachgerechte Erhöhung um 2 DM pro Tag für alle Wehrsoldgruppen. Diese notwendige Anpassung haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, unseren Wehrpflichtigen seit
Dieter Heistermann
1993 beständig verweigert. Dafür tragen Sie mit Ihrem strikten Nein zu unseren Vorschlägen für eine Anpassung in einer angemessenen und notwendigen Höhe, nämlich im Rahmen der Lebenshaltungskosten, die Verantwortung.
Bezeichnenderweise begründen Sie Ihre Verweigerungshaltung damit, daß eine Wehrsolderhöhung mittelbar auch den Zivildienstleistenden zugute käme, was Sie nicht wollten. Sie haben damit die Chance vertan, gemeinsam mit uns, den Sozialdemokraten, parteiübergreifend für ein gerechtes Anpassen des Wehrsoldes an die Lebenshaltungskosten und an die bisherige Preisentwicklung durch eine Erhöhung um 60 DM pro Monat zu sorgen. Es wäre für die Wehrpflichtigen und die Zivildienstleistenden ein wichtiges Zeichen gewesen, wenn wir ihren gesetzlich geforderten Dienst nicht nur in wohlwollenden Reden beschwören, sondern ihnen auch den Geldwertverlust des Wehrsoldes ausgleichen.
Die letzte Wehrsolderhöhung erfolgte, wie gesagt, im Oktober 1992 und liegt damit schon lange zurück. Seitdem sind eben auch bei den Grundwehrdienstleistenden die Lebenshaltungskosten im bekannten Umfang gestiegen. In allen übrigen Bereichen unserer Gesellschaft wurden die Einkommen an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angepaßt. Nur den Grundwehrdienstleistenden, die einen Ehrendienst für unser Land leisten, der auch dadurch gekennzeichnet ist, daß er nicht mit einem gerechten, vollen Lohn besoldet wird, wurde bisher eine gerechte Wehrsolderhöhung durch den Verteidigungsminister und die Regierungskoalition vorenthalten.
Statt aufwendige Werbekampagnen - ein bißchen weniger täte es auch - für einen neuen Kämpfertyp zu finanzieren, sollten Sie, Herr Minister Rühe, die jungen Soldaten besser ordentlich besolden und ihnen eine ausreichende politische Bildung ermöglichen.
Das ist die beste Werbung, und das ist auch der beste Weg für unsere junge Bundeswehr. Da könnten Sie Beispielhaftes leisten, Geld an der richtigen Stelle auszugeben.
Eine angemessene materielle Grundsicherung ist für die Wehrpflicht unerläßlich. Denn es handelt sich bei dem Wehrsold für die Grundwehrdienstleistenden eben nicht um Lohn, sondern um ein notwendiges Taschengeld für die private Lebensführung als Entschädigung für eine staatsbürgerliche Pflichterfüllung. Wer die Wehrpflicht erhalten will, muß für ihre Akzeptanz in der Bevölkerung Sorge tragen. Soziale und finanzielle Rahmenbedingungen für Grundwehrdienstleistende, Reservisten sowie deren Familien spielen dabei eine ganz wesentliche Rolle.
Vier Jahre lang hatte die Regierungskoalition jedes Mal die Möglichkeit, die SPD-Forderung einer Erhöhung des Wehrsoldes zu unterstützen. Die Regie-
rungskoalition ist heute abermals aufgerufen, ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen und unseren Antrag zu unterstützen. Mittelfristig sollte der Wehrsold schrittweise an das Einkommen der Auszubildenden im ersten Lehrjahr der Gruppe Angestellten- und Arbeiterrentenversicherungspflichtige im öffentlichen Dienst angepaßt werden.
Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, daß auch der Deutsche Bundeswehr-Verband, die Interessenvertretung der Soldaten der Bundeswehr, die Anhebung des Wehrsoldes um 1 DM für völlig ungenügend hält.
Der Deutsche Bundeswehr-Verband verweist auf die zutreffende Begründung der Bundesregierung, daß die seit der letzten Wehrsolderhöhung am 1. Oktober 1992 eingetretene Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine Anhebung des Wehrsoldes erforderlich macht. Nötig ist aber nach Auffassung des Deutschen Bundeswehr-Verbandes sogar eine Mindestanhebung um 3,50 DM täglich, und zwar mit sofortiger Wirkung. Dieser Auffassung können wir uns nicht voll anschließen, sie zeigt aber überdeutlich, wie notwendig eine Verbesserung empfunden wird.
Der Gesetzentwurf der Koalition sieht vor, daß der 1996 eingeführte Mobilitätszuschlag für Grundwehrdienstleistende durch eine weitere Differenzierung verbessert werden soll. Diese weitere Differenzierung des Mobilitätszuschlages löst nicht das Problem und ist kein Ersatz für eine angemessene Wehrsolderhöhung. Die Staffelung des Mobilitätszuschlages führt letztendlich dazu, daß nicht der Dienst, sondern die Entfernung zwischen Heimat- und Dienstort vergütet wird. Grundwehrdienstleistende, die in relativer Heimatnähe stationiert sind, gehen nämlich leer aus.
Die Folge ist eine Schlechterstellung von Grundwehrdienstleistenden, deren Dienstort nur einen Kilometer weniger als gefordert vom Heimatort entfernt ist. Sie erhalten weniger Sold als Grundwehrdienstleistende, die diese Grenze überschreiten.
Wir werden den Mobilitätszuschlag aber nicht ablehnen, denn er ist letztendlich besser als nichts. Aber es bleibt dabei: Er ist kein Ersatz für die von uns geforderte Wehrsolderhöhung um 2 DM pro Tag, die uns wichtiger ist als die weitere Differenzierung des Mobilitätszuschlages.
Die Regierungsparteien haben einen Kurs eingeschlagen, der an den tatsächlichen Erfordernissen vorbeigeht. Sie tragen damit zum Unfrieden in der Bundeswehr bei. Ich hoffe, daß Sie unserem Antrag zustimmen.
Dieter Heistermann
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Kollege Augustinowitz, Ihr Selbstlob war zu erwarten. Sie haben allerdings bei Ihrem Selbstlob einen wichtigen Teil Ihres Paketes vergessen, nämlich die freie Wahl zwischen weißer Bundeswehrunterwäsche oder einer Entschädigungszahlung von 50 DM. Diese dritte Säule Ihres Konzeptes zeigt die Dimension Ihrer Verbesserungsvorschläge.
Die Bundesregierung hat als Ziel ihres Gesetzentwurfes angeführt, erstens solle der Wehrsold an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt und zweitens solle die Wehrgerechtigkeit verbessert werden. Zur wirtschaftlichen Entwicklung: Seit 1992 ist der Wehrsold nicht mehr erhöht worden. Seit dieser Zeit sind die Lebenshaltungskosten um ungefähr 15 Prozent gestiegen. Wenn die Bundesregierung es mit dem Kaufkraftausgleich ernst meinen würde, dann müßte sie den täglichen Wehrsold zum Beispiel eines Obergefreiten nicht von 16,50 auf 17,50 DM pro Tag erhöhen, sondern auf mindestens 19 DM.
Ungeachtet unserer Kritik an der gegenwärtigen Militärpolitik hat unsere Fraktion schon seit einigen Jahren eine deutlich andere Erhöhung des Wehrsoldes verlangt, nicht, wie Sie jetzt vielleicht denken, wieder um 5 DM, sondern - hier waren wir enorm realpolitisch nur um 3 DM, was ja der Forderung des Bundeswehr-Verbandes ungefähr entspricht.
In der Auseinandersetzung um das Für und Wider der Wehrpflicht können Sie sich, meine Damen und Herren von der Koalition, kaum einkriegen in Ihrem Lob für die Wehrpflichtigen. Sie sagen von den Wehrpflichtigen, sie seien Garanten eines offenen Geistes in der Bundeswehr, der Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft und schließlich sogar einer militärisch zurückhaltenden Außenpolitik.
Wenn Sie das wirklich ernst meinen und das in den letzten Jahren gleichzeitig mit einer realen Wehrsoldabsenkung verbinden, dann muß man sagen, daß das erstere nichts als warme Worte sind.
Zur sogenannten Verbesserung der Wehrgerechtigkeit: Der Gesetzentwurf hat mit Verbesserung der Wehrgerechtigkeit nichts zu tun. Er setzt vielmehr die bisherigen Ungerechtigkeiten und Ungleichgewichte fort. Zwei Beispiele: Zivildienstleistende, die ja drei Monate länger dienen müssen als Grundwehrdienstleistende, erreichen im Vergleich zu einem Wehrdienstleistenden in der Regel noch nicht einmal die Soldstufe 3. Das heißt, diese Leute dümpeln bei einem Tagessold von derzeit 15 DM herum.
Kraß schließlich ist die Diskrepanz zu Auslandsverwendungszuschlägen, die ja bekanntlich zwischen 50 und 180 DM liegen.
Hier kann es dann bei einem freiwillig Wehrdienstleistenden so aussehen, daß er bis zu 5400 DM pro Monat erhält. Daß die Höhe des Auslandsverwendungszuschlages auch in keinem Verhältnis zu den Zuschlägen steht, die Hilfsorganisationen ihren Mitarbeitern in Krisengebieten zahlen - das Technische Hilfswerk zum Beispiel zahlt 50 DM -, das sei hier nur am Rande erwähnt.
Sie legen uns heute das Vierzehnte Gesetz zur Änderung des Wehrsoldgesetzes vor. Inhaltlich ist es lächerlich. Aber es deutet auch zugleich immer mehr darauf hin, daß es die letzte Änderung des Wehrsoldgesetzes in der bisherigen Form ist, weil nämlich die Tage der Wehrpflicht gezählt sind.
Hier ergibt sich der Zusammenhang mit der vorherigen Debatte. Wenn in den nächsten Jahren die NATO-Osterweiterung umgesetzt wird, wenn 500 000 Soldaten aus den mittelosteuropäischen Ländern zur NATO kommen, dann werden die jetzige Größe der Bundeswehr und die Wehrpflicht noch viel weniger zu rechtfertigen sein als heute.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Nolting.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung die Verbesserung des Mobilitätszuschlages zum 1. Juli dieses Jahres und die Anhebung
Günther Friedrich Nolting
des Wehrsoldes zum 1. Januar 1999. Auch so tragen wir der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse Rechnung.
Herr Kollege Heistermann, wenn Sie schon die finanziellen Verbesserungen ansprechen - der Kollege Augustinowitz hat das sehr eindrucksvoll hier aufgezeigt -,
so will ich auch Ihnen - wenn Sie zuhören, Herr Kollege Schmidt -
einmal sagen: Allein in dieser Legislaturperiode lagen die finanziellen Verbesserungen für Wehrpflichtige zwischen 27 und 63 Prozent, je nach Belastung. Wir wollen hier kein Gießkannenprinzip, sondern ausdrücklich die finanziell mit unterstützen, die eine entsprechende Belastung haben.
Ich kann Sie schon jetzt herzlich einladen, uns dabei zu unterstützen.
Wenn Sie uns hier den Vorwurf der Wahltaktik unterstellen, Herr Kollege Heistermann, will ich doch einmal darauf hinweisen, daß Sie jetzt, in diesen Tagen, einen eigenen Antrag eingebracht haben, in dem Sie eine Erhöhung um 2 DM fordern, ohne daß Sie dabei die einzelnen Belastungen der Wehrpflichtigen individuell berücksichtigen. Ich sage Ihnen dazu: Sie haben sich bei dem, was Sie vorschlagen, nicht einmal um die Finanzierbarkeit gekümmert. Sie verfahren da genauso wie Ihr Kanzlerkandidat, der alles unter einen finanziellen Vorbehalt stellt, nach dem Motto: Alles versprechen, aber nichts halten.
Dieser Regierungsentwurf ist sinnvoll und auch solide finanziert.
Der vorliegende Regierungsentwurf geht auf eine Initiative der Koalition im Verteidigungsausschuß zurück. Sie können sich sicher daran erinnern, daß diese Initiative bereits im letzten Jahr ergriffen wurde. Wer hier also Taktik vortäuscht oder taktisch vorgeht, kann man schon erkennen, wenn man sich die zurückliegenden Anträge und die Zeitachsen ansieht.
Ich will auch kurz auf die Ausführungen des Kollegen Nachtwei eingehen. Herr Kollege Nachtwei, Ihre Ausführungen waren mehr als unglaubwürdig. Sie haben in den letzten Monaten mit der SPD zusammen einen Untersuchungsausschuß angezettelt. Sie wollten sich - ich sage aber: vergebens - auf Kosten der Soldaten profilieren, indem Sie die Bundeswehr
als Ganzes zu Unrecht in das Licht eines vermeintlich rechtsradikalen Sumpfes rücken.
Heute spielen Sie sich hier als Interessenvertreter genau dieser Soldaten auf, und das auch noch vor dem Hintergrund - Sie haben das hier erwähnt -, daß Sie die Wehrpflicht abschaffen wollen. Das ist schon mehr als dreist zu nennen; das sage ich Ihnen in aller Offenheit.
Aber das paßt genau zu Ihren unsinnigen Forderungen. 5 DM pro Liter Benzin - damit schnüren Sie vielen Berufsgruppen die Luft ab,
auch den Angehörigen der Bundeswehr, den Soldaten, den Zivilisten und gerade den Wehrpflichtigen, die, wie Sie selbst wissen, viel fahren müssen, weil wir viele Standorte in der Fläche haben. Aber auch die, die zu den Schulen und zu den Lehrgängen müssen, sind auf das Auto angewiesen. Doch wer die Bundeswehr abschaffen will, braucht ja auf die Soldaten keine Rücksicht mehr zu nehmen.
Herr Kollege Nachtwei, Sie haben die vorangegangene Debatte erwähnt. Sie haben die NATO-Öffnung abgelehnt,
Sie wollen den Bosnien-Einsatz beenden, Sie wollen die NATO ablösen, Sie wollen die Bundeswehr abschaffen.
Wer dies fordert - ich wiederhole, was mein Bundesvorsitzender Dr. Gerhardt dazu gesagt hat -, ist international nicht handlungsfähig und national nicht regierungsfähig.
Das erkennen nicht nur die Bürger, sondern das erkennt mittlerweile auch der Kanzlerkandidat Ihres potentiellen Koalitionspartners.
Die F.D.P. steht zur Bundeswehr. Die F.D.P. steht zu den Wehrpflichtigen.
- Herr Kollege Kolbow, ich würde das Thema etwas ernster nehmen, wenn Sie wirklich Verantwortung für Ihre Fraktion in diesen Fragen übernehmen wollen. Ich bitte Sie wirklich um etwas mehr Ernst in dieser Angelegenheit. Die Wehrpflichtigen haben es nicht verdient, daß Sie in dieser Weise versuchen, das Thema lächerlich zu machen.
Günther Friedrich Nolting
Auch Sie sollten für die Wehrpflicht eintreten. Für uns sind die Wehrpflichtigen das Rückgrat der Bundeswehr. Wir sollten in dieser Stunde auch an ihre Leistungen in bezug auf die deutsche Einheit, aber auch an ihre Leistungen im Rahmen des hervorragenden Hilfseinsatzes an der Oder erinnern. Hier haben die Wehrpflichtigen Einsatzbereitschaft und Motivation gezeigt. Deswegen lade ich Sie herzlich ein: Lassen Sie uns gemeinsam etwas für diese Wehrpflichtigen tun!
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Kolbow.
Herr Kollege Nolting, Sie waren so freundlich, mich anzusprechen.
Deswegen möchte ich ebenfalls freundlich - für Sie möglicherweise unfreundlich - replizieren.
Sie versuchen, in Sachdebatten über den Wehrsold auf Themen auszuweichen, mit denen Sie sich bis zum Wahltag über die Runden zu retten glauben. Sie wollen damit die Wählerinnen und Wähler dazu bringen, Sie im Bundeswehrbereich zu unterstützen. In Niedersachsen und in Schleswig-Holstein lautete die Antwort auf Ihre bisherige Bundeswehrpolitik: In Bundeswehrstandorten waren überdurchschnittliche Stimmengewinne der Sozialdemokraten zu verzeichnen, weil wir den Soldatinnen und Soldaten und den Zivilbeschäftigten die Wahrheit sagen, auch die Wahrheit über Ihre Politik in den letzten vier Jahren.
Wenn Sie behaupten, daß Sie die Wehrpflichtigen gewissermaßen als Menschen in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen, dann sage ich Ihnen, daß sich Ihre Politik nach dem Satz ausrichtet: Der Mensch ist Mittel - Punkt.
Die Behauptung, wir würden einen Untersuchungsausschuß - in diesem Punkt haben Sie mich angesprochen - einrichten, um die Bundeswehr in Generalverdacht zu bringen, entspricht nicht den Tatsachen. Auch durch Ihre Wiederholungen wird Ihre Behauptung nicht wahrer.
Wir nehmen nur das im Grundgesetz verankerte Minderheitenrecht wahr.
Wir wollen der Bundeswehr ihren guten Ruf wiedergeben bzw. helfen, ihn zu erhalten.
Einige haben die Bundeswehr in Mißkredit gebracht,
weil sie als militärische Führer oder Beteiligte versagt
haben. Wir geben der Bundeswehr ihren guten Ruf
wieder, indem wir untersuchen, ob strukturelle Mängel vorhanden sind, etwa Schieflagen in der inneren Führung, in der politischen Bildung oder in der zeitgemäßen Menschenführung.
Wir werden am Ende des Untersuchungsausschusses feststellen können, wie die Verantwortung des Bundesministers der Verteidigung ist, der sein Interesse für die Menschen in der Bundeswehr und für die Wehrpflichtigen dadurch unter Beweis stellt, daß sein Stuhl in dieser Debatte leer bleibt. Das ist die Wahrheit über Herrn Rühe, und das ist auch ein Charakteristikum Ihrer Politik.
Herr Nolting, bitte.
Herr Kollege Kolbow, jeder der Ihren Beitrag verfolgt hat, konnte feststellen, was Sie beabsichtigen, nämlich Wahlkampf, Wahlkampf, Wahlkampf - und dies mit vorgetäuschten Tatsachen.
Ich habe auch den Untersuchungsausschuß angesprochen. Wir haben gemeinsam, Herr Kollege Kolbow, viele Stunden in diesem Untersuchungsausschuß gesessen und haben viele Fragen gestellt. Als Zwischenergebnis kann ich feststellen - Herr Kollege Kolbow, Sie werden mir in diesem Punkt nicht widersprechen können -, daß wir zu keinen neuen Ergebnissen gekommen sind als zu denen, die im sogenannten Dau-Bericht des Verteidigungsministeriums bereits enthalten waren. Wir hätten schon bedeutend weiter sein können, als wir es mit diesem Untersuchungsausschuß sind.
Sie wollten diesen Untersuchungsausschuß als Mittel im Wahlkampf einsetzen. Sie sehen aber mittlerweile selbst ein, daß Sie damit vor die Wand fahren. Nicht umsonst drängen Sie darauf, daß wir diesen Untersuchungsausschuß möglichst rasch beenden; denn Sie wissen, daß dieser Untersuchungsausschuß eine fatale Wirkung in die Bundeswehr hinein hat.
Sie können sich daran erinnern, daß ich es war, der gesagt hat, der Bundestag solle sich darüber unterhalten: Wie sieht es mit Gewalt in der Gesellschaft aus? Wie sieht es mit Radikalität in der Gesellschaft aus? Wie sieht es mit Extremismus in dieser Gesellschaft aus, und zwar nicht nur auf der rechten Seite, sondern auch auf der linken Seite? Denn auch das, was sich in Ahaus und Gorleben abgespielt hat, ist Gewalt gegen Sachen und gegen Menschen. Ich denke, es wäre eine Aufgabe des gesamten Deutschen Bundestages gewesen, sich über diese Fragen und über die Auswirkungen auf die Bundeswehr zu unterhalten.
Günther Friedrich Nolting
Mit diesem Untersuchungsausschuß fokussieren Sie alles nur noch auf die Bundeswehr. Sie lenken von den eigentlichen Problemen, die es in dieser Gesellschaft gibt, ab. Sie wissen, Rechtsextremismus ist ein Problem dieser Gesellschaft. Aber Sie tun mit diesem Untersuchungsausschuß so, als sei Rechtsextremismus ein Problem der Bundeswehr. Das stimmt nicht. Eher ist es ein Problem der Gesellschaft. An der Lösung dieses Problems hätten Sie mitarbeiten können. Aber da haben Sie sich verweigert. Das bedauere ich.
Eine letzte Bemerkung: Wir haben hier aufgeführt, was wir in dieser Legislaturperiode für die Wehrpflichtigen getan haben. Ich brauche das nicht im einzelnen zu wiederholen. Aber ich bitte, daran zu denken, daß wir hinsichtlich des Mobilitätszuschlages auf den einzelnen abgezielt haben, daß wir individuelle Lösungen haben wollen und uns weiterhin dafür einsetzen, weil das letztendlich dem einzelnen Soldaten zugute kommt. Auch da haben Sie Ihre Mitarbeit verwehrt und haben sich nicht beteiligt.
Herr Kollege Heistermann, Sie dürfen darauf jetzt nicht antworten, weil wir keine internen Debatten zulassen können.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Graf von Einsiedel.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Gewalt in der Gesellschaft betrifft natürlich nicht nur die Bundeswehr. Aber schließlich regieren Sie das Land seit 16 Jahren. Für das, was sich in dieser Zeit entwickelt hat, tragen deshalb hauptsächlich Sie, die Regierung, die Verantwortung.
Aber lassen wir das. Das, was Sie hier von sich geben, ist alles nur Getöse.
Angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten dürfen Wehrpflichtige finanziell nicht noch mehr ins Hintertreffen geraten, als sie es ohnehin schon sind. Wir unterstützen daher den vorliegenden Antrag der SPD; denn er fordert wenigstens einen geringen Ausgleich der Preisentwicklung - und dies umgehend und nicht erst im nächsten Jahr.
Nach Auffassung der Koalition ist dies angeblich nicht finanzierbar. Seltsam: Finanzpolitische Skrupel dieser Regierung, wenn es darum geht, beim Sold noch eine D-Mark mehr draufzupacken, aber völlige Skrupellosigkeit bei einem zweistelligen Milliardenbetrag für das gigantischste Rüstungsprojekt der Nachkriegszeit, den Eurofighter.
Aber auch der Antrag der SPD ändert nichts an der Tatsache, daß der Staat die jungen Männer dieses Landes über Monate hinweg ohne irgendeinen plausiblen Grund zu Zwangsdiensten heranzieht, deren persönliche Freiheit und Freizügigkeit erheblich einschränkt und sie während dieser Zeit letztlich mit einem Taschengeld abspeist.
Er ändert nichts an der Tatsache, daß insbesondere Wehrpflichtige, die sich noch in der Ausbildung befinden oder gerade den Einstieg in einen Job geschafft haben und dann eingezogen werden, mit erheblichen beruflichen Nachteilen zu kämpfen haben.
Er ändert nichts an der Tatsache, daß von Gleichbehandlung Wehrdienstleistender und Zivildienstleistender keine Rede sein kann und daß Zivis mit den neuen Regelungen für den Mobilitätszuschlag noch stärker ins Hintertreffen geraten, wobei die Rekruten in der Regel ja nichts dafür können, daß sie nicht heimatnah eingesetzt werden.
Er ändert nichts an der Tatsache, daß ein paar D-Mark mehr all diese Nachteile, die aus der anachronistischen Wehrpflicht resultieren, keineswegs kompensieren können.
Wir bleiben daher bei unseren Forderungen an die Bundesregierung: Verkleinern Sie die Bundeswehr personell drastisch, indem Sie die Wehrpflicht abschaffen! Organisieren Sie die Streitkräfte, wenn sie denn für nötig erachtet werden, auf der Basis der Freiwilligkeit, so wie dies für andere Gemeinschaftsaufgaben - Polizei, Zoll, Bundesgrenzschutz - gilt! Entlohnen Sie die Freiwilligen entsprechend!
Danke.
Ich gebe jetzt das Wort dem Herrn Staatssekretär Bernd Wilz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit zwei Vorbemerkungen und gehe zunächst auf etwas ein, was der Kollege Kolbow angesprochen hat. Ich darf feststellen, daß der Ruf und das Ansehen der Bundeswehr im In- und Ausland noch nie so gut waren wie heute.
Lieber Kollege Kolbow, dazu bedarf es nicht eines Untersuchungsausschusses, sondern das hat die Bundeswehr durch ihre Einsätze, ob in Kambodscha, in Somalia, im Irak, in Bosnien oder an der Oder, selber geleistet. Dafür danken wir ihr.
Die zweite Vorbemerkung: Ich kann immer verstehen, wenn aus der Opposition heraus Einzelpunkte kritisch hinterfragt werden oder manches noch schneller oder besser gehen soll. Nur, wenn man fair und objektiv ist, muß man feststellen, daß das, was wir im Gesamtzusammenhang geleistet haben, beachtlich ist und sich wirklich sehen lassen kann.
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundeswehr gehört als Teil des Volkes in unsere Mitte. Ihre Struktur und ihr Charakter werden seit mehr als 40 Jahren durch die allgemeine Wehrpflicht geprägt. Die Qualität unserer Streitkräfte und ihre Fähigkeit, auch neue Herausforderungen zu meistern, hängen dabei nicht allein von Strukturen und Waffensystemen ab. Vor allem kommt es auf die Menschen an, die in der Bundeswehr dienen. Die grundwehrdienstleistenden Soldaten sind und bleiben dabei eine tragende Säule der Streitkräfte. Es wird nicht das eintreten, was Sie, Kollege Nachtwei, hier vorgeträumt haben, daß nämlich die Tage der Wehrpflicht gezählt seien. Nein, die Wehrpflicht wird erhalten bleiben; das ist auch die Zukunft für Deutschland.
Die grundwehrdienstleistenden Soldaten helfen massiv, daß die Bundeswehr ihre Aufgaben optimal erfüllen kann. Wir sind nicht zuletzt auf die Fähigkeiten und beruflichen Qualifikationen der jungen Generation angewiesen. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, daß auch in Zukunft genügend Wehrpflichtige in den Streitkräften dienen. Der Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes sowohl durch eine sinnvolle, fordernde und erlebnisorientierte Ausbildung als auch in materieller und ideeller Hinsicht kommt dabei eine unverändert hohe Bedeutung zu.
Mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz haben wir ab Januar 1996 vor allem die materielle Lage der wehrpflichtigen Soldaten deutlich verbessern können. Ich weise noch einmal auf die wesentlichen Punkte hin: Mit der Verkürzung der Dauer des Wehrdienstes auf zehn Monate verlangen wir den jungen Menschen nur den Dienst ab, der sicherheitspolitisch erforderlich und geboten ist. Die Einführung eines freiwilligen zusätzlichen Wehrdienstes von zwei bis 13 Monaten mit einem finanziellen Zuschlag von monatlich 1200 DM hat die Flexibilität für beide Seiten erhöht, für die Bedürfnisse der Streitkräfte wie auch für die Lebensplanung unserer Wehrpflichtigen. Von der erstmaligen Einführung eines Mobilitätszuschlages in Höhe von monatlich 90 oder 180 DM bei heimatferner Stationierung von mehr als 50 oder 100 Kilometern profitiert zur Zeit rund die Hälfte aller Wehrdienstleistenden.
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch an das Vorziehen des Dienstzeitausgleichs vom siebten auf den vierten Monat. Darüber hinaus haben wir die Beförderungszeiten für Mannschaften verkürzt; das hat Kollege Augustinowitz hier vorgetragen. Im übrigen weise ich noch einmal darauf hin, daß wir für Mannschaften den neuen Spitzendienstgrad Oberstabsgefreiter eingeführt haben. Das erhöht die Attraktivität für junge Männer ebenfalls.
Meine Damen und Herren, nur für diese Verbesserungen geben wir jährlich rund 300 Millionen DM aus. Dieser Betrag ist, wie wir meinen, als Investition in die Menschen bei der Bundeswehr gut angelegt.
Ergänzend zu diesen Maßnahmen hat der Bundesverteidigungsminister im März 1996 die Leitlinie zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes erlassen. Mit ihr werden vorrangig die nichtmateriellen Aspekte des Grundwehrdienstes gestärkt und ideelle Motivationsanreize geschaffen.
Durch den jetzt vorgelegten Entwurf wollen wir die schon veranlaßten Maßnahmen noch weiter steigern. Es geht dabei nicht um neue Leistungen, sondern wir wollen Vorhandenes verbessern oder anheben. Das eine ist der Mobilitätszuschlag - ich freue mich, Kollege Heistermann, daß Sie hier zustimmen -, der ab dem 1. Juli 1998 auch für die Distanz zwischen 31 und 50 Kilometern eingeführt wird. Das ist eine weitere gute Sache.
Das zweite ist die Wehrsolderhöhung um 1 DM täglich ab dem 1. Januar 1999. Ich glaube, wenn man das zusammen mit dem sieht, was wir bereits alles getan haben, ist das - so finde ich - angemessen und auch, was den Haushalt angeht, als vertretbar zu bezeichnen.
Die Kosten für die von uns angestrebte Anhebung des Wehrsolds und die weitere Ausgestaltung des Mobilitätszuschlags werden jedes Jahr zusätzlich rund 64 Millionen DM betragen. Wir werden daher mit diesem Gesetzesvorhaben in Verbindung mit dem schon Geleisteten auch in Zukunft dafür Sorge tragen, daß der Wehrdienst in der Bundeswehr anerkannt und attraktiv bleibt. Ich finde, unsere Wehrpflichtigen haben es verdient. Wir sollten sie weiterhin - gerade auch bei öffentlichen Gelöbnissen - massiv unterstützen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/9960 und 13/10191 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/10191 soll dem Haushaltsausschuß jedoch nur zur Mitberatung und nicht gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Ist das richtig so? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege, zur Umsetzung
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften und zur
Anpassung anderer Rechtsvorschriften
- Drucksachen 13/6441, 13/7778, 13/8180, 13/
8268, 13/9638, 13/9837, 13/9838, 13/10003 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Müller
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Nein. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Dann rufe ich den Abgeordneten Susset auf.
Es dürfen keine Debattenbeiträge geleistet, sondern nur Erklärungen abgegeben werden.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU- Bundestagsfraktion hat es sich mit der Umsetzung der FFH-Richtlinie nicht leichtgemacht. Bekanntlich haben die Koalitionsfraktionen im Juni 1997 ein Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes beschlossen. Dieses Gesetz sah eine Ausgleichsregelung für die Land- und Forstwirtschaft bei naturschutzbedingten Nutzungsbeschränkungen vor.
Anschließend hat der Bundesrat das Gesetz abgelehnt und den Vermittlungsausschuß angerufen. Leider war dessen Beratungsergebnis für die Landwirtschaft völlig unakzeptabel, weil es sich um die pure Umsetzung der FFH-Richtlinie ohne jegliche Ausgleichsregelungen handelte. Auch die erneute Anrufung des Vermittlungsausschusses durch die Koalitionsfraktionen erbrachte kein anderes Ergebnis.
Wir stimmen heute dennoch der Umsetzung der FFH-Richtlinie zu, weil inzwischen ein Weg gefunden wurde, um die berechtigten Ausgleichsansprüche von Land- und Forstwirtschaft gesetzlich zu verankern. Dazu bringen die Regierungsfraktionen heute den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ein. Dies ist notwendig, weil im Rahmen der Umsetzung der FFH-Richtlinie bundesweit Schutzgebiete ausgewiesen werden können. Davon sind natürlich auch Flächen von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben betroffen. Konkret bedeutet dies: Der Staat erläßt Bewirtschaftungsauflagen, die für die Betriebe Ertragseinbußen, eine Erschwernis der landwirtschaftlichen Arbeit sowie eine Beschränkung der Betriebsentwicklung bedeuten. Dies ist nichts anderes als ein direkter Eingriff in das Eigentum. Denn kann man es anders bezeichnen, wenn ein Betrieb durch gesetzliche Auflagen Einkommensverluste ohne Ausgleich hinnehmen muß?
Meine Damen und Herren, ich möchte einmal den Aufschrei derer hören, die für die Verweigerung der Ausgleichsregelung verantwortlich sind, wenn der Staat zu Zwecken des Naturschutzes vielleicht 30 Prozent ihres Gehaltes einziehen würde. Es kann doch keine verantwortliche und dem Eigentum verpflichtete Politik sein, den Land- und Forstwirten zu erklären, die Einkommensverluste seien im Rahmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums hinzunehmen. Für meine Fraktion ist der Schutz des Eigentums eine Grundsatzposition. Deshalb respektieren wir natürlich auch das Bodeneigentum der Land- und Forstwirte. Diese haben keine Nachhilfe im Naturschutz
nötig; vielmehr betonen sie selbst, daß der Schutz von Boden, Luft und Wasser ein ureigenes Interesse der Landwirtschaft ist.
Man muß sich auch vergegenwärtigen, daß ein großer Teil der nun im Rahmen der FFH-Richtlinie zur Ausweisung anstehender Naturschutzgebiete erst durch die landwirtschaftliche Tätigkeit geschaffen wurde.
84 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands werden von der Land- und Forstwirtschaft in einem gepflegten Zustand gehalten und damit auch der Gesellschaft insgesamt zur Verfügung gestellt. 40 Prozent der Fläche Deutschlands werden von der Land- und Forstwirtschaft freiwillig in Umweltprogramme eingebracht, im Rahmen derer über die gute fachliche Praxis hinaus Maßnahmen auf den Gebieten des Natur-, Boden- und Gewässerschutzes durchgeführt werden. In zirka 5500 Naturschutzgebieten erfüllen die Landwirte erhöhte Anforderungen an die Bewirtschaftung, um wildlebenden Tieren und Pflanzenarten ihren Lebensraum in einer dichtbesiedelten Industrienation zu erhalten. Auf 15 Prozent der Fläche in der Bundesrepublik wird ein erhöhter Gewässerschutz in Form von Wasserschutzgebieten praktiziert.
Viele in der Land- und Forstwirtschaft befinden sich in einer schwierigen Situation. Sie sind durch hohe Umwelt-, Naturschutz- und Tierschutzauflagen im Wettbewerb mit ihren EU-Nachbarn benachteiligt. Sie können auf keinen Fall noch zusätzliche Naturschutzauflagen ohne finanziellen Ausgleich hinnehmen.
Wir bedanken uns bei Frau Minister Merkel und bei Herrn Bundeslandwirtschaftsminister Borchert für die kooperative Zusammenarbeit. Wir stimmen dem Vermittlungsergebnis deshalb zu, weil wir uns auf einen zustimmungsfreien Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes geeinigt haben, auf einen Gesetzentwurf, der die Entschädigung regelt.
Ich bedanke mich.
Ebenfalls zu einer Erklärung erhält das Wort die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß der kleine Teil des Bundesnaturschutzgesetzes, der heute verabschiedet werden soll, nun das Licht der Öffentlichkeit noch erblickt, habe ich überhaupt nicht mehr zu hoffen gewagt. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Koalition, daß sie die Wahl in Sachsen-Anhalt nicht zum Anlaß genommen haben, die Verabschiedung dieses Gesetzes noch einmal zu verschieben.
Ulrike Mehl
Ich bedauere außerordentlich, daß Sie aus wahltaktischen Gründen die Verabschiedung des Gesetzes über Monate hinweg verschoben und gleichzeitig eine beispiellose Kampagne gegen den Naturschutz gefahren haben, die die Akzeptanz in der Öffentlichkeit um mindestens zehn Jahre zurückzuwerfen droht. Sie haben dabei in Kauf genommen, daß Ihre Umweltministerin öffentlich lächerlich gemacht wurde.
Aber das ist Ihr Problem. Das ist nur der Beginn des Ganzen.
Weil Sie immer sagen, wir hätten blockiert, erkläre ich noch einmal, wie es tatsächlich abgelaufen ist. Begonnen hat es bereits bei der Beratung im Bundestag. Frau Merkel ist mit dem Anspruch angetreten, eine umfassende Novelle vorzulegen. Bei der Entstehung und Beratung dieses Gesetzes haben sowohl die Regierung als auch die Koalition keine Gelegenheit ausgelassen, dieses Gesetz zu demontieren. Die abschließende Beratung im federführenden Umweltausschuß wurde auf Ihr Verlangen hin mehrmals von der Tagesordnung abgesetzt, weil Sie sich intern nicht einig waren. Mit jeder Woche, die ins Land ging, trieb es den Umweltpolitikern in der Koalition den Angstschweiß auf die Stirn, weil sie nicht mehr absehen konnten, welche Skurrilitäten als weitere Demontage des Naturschutzes noch auftreten würden.
Was heraus kam, ist folgendes - ich möchte es mit einem Vergleich darstellen -: Sie gehen in ein Gasthaus und bestellen dort ein Schnitzel. Der Kellner bringt Ihnen aber Labskaus und erklärt Ihnen auf die Frage, ob das denn das Schnitzel sei: Ja, dies ist das Schnitzel. Den Vergleich des Gesetzes mit Labskaus halte ich allerdings insofern für schlecht, als Labskaus ein gutes Gericht ist; Ihr Gesetz hingegen ist nicht gut.
Das Ganze erlebte seine Krönung in der abschließenden Beratung des Bundesrates; auch darauf möchte ich Sie noch einmal hinweisen. Im Bundesrat wurde Ihr Gesetz von allen Ländern abgelehnt; kein einziges Land hat diesem Gesetz zugestimmt. Der Präsident war fassungslos über dieses Ergebnis und hat noch einmal nachgefragt, ob er es richtig gesehen habe. Er hatte es richtig gesehen. Einem schlechten Gesetz kann man nämlich nicht zustimmen. Keiner hatte zugestimmt.
Sie haben die Diskussion um die Verbesserung des Naturschutzes zu einer Nutzerförderungsdiskussion verkommen lassen. Ich sage Ihnen, Herr Susset: Wenn der Landwirtschaft heute das Wasser bis zum Hals steht, dann ist nicht der Naturschutz schuld, sondern die Landwirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. Sie suchen dafür einen Sündenbock und glauben, ihn im Naturschutz gefunden zu haben.
Wir wollen den Weg zu einer insgesamt flächendeckenden, umweltverträglichen Landwirtschaft finden, und wir wollen, daß die Landwirte einen finanziellen Ausgleich für ökologische Leistungen erhalten. Warum unterschlagen Sie permanent, daß Millionenbeträge in den Ländern an die Landwirtschaft gezahlt werden? Warum unterschlagen Sie das?
Ich habe noch nicht gehört, daß ein Landwirt gegen solche Auflagen erfolgreich oder überhaupt geklagt hätte. Die Landwirte, die diese Ausgleichszahlungen bekommen, sind in der Regel damit zufrieden.
Statt dessen legen Sie bei der Verabschiedung der zweiten Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz bereits eine dritte Novelle vor. Ich glaube, daß das ein einmaliger Vorgang in diesem Hause ist. Ich wundere mich auch, daß die Geschäftsordnung zuläßt, daß an einem Tage die zweite Novelle zu einem Gesetz verabschiedet wird, und gleichzeitig die dritte Novelle in erster Lesung vorliegt.
Mit dem vorgelegten Vorschlag lösen Sie nicht die Probleme, die in erster Linie in der Landwirtschaftspolitik zu lösen wären, sondern Sie versuchen, die Probleme im Naturschutz zu lösen. Das ist der völlig falsche Weg.
Wenn Sie endlich dazu bereit wären, mit uns darüber zu reden, mit welchen gesetzlichen Instrumenten die Landwirte in die Lage versetzt werden könnten, insgesamt umweltverträglich zu wirtschaften, dann hätten wir viele Probleme der Landwirtschaft und des Naturschutzes gelöst. Was Sie vorlegen, ist weiße Salbe.
Ich sage Ihnen: Das haben die Landwirte nicht verdient.
Das Wort zu einer Erklärung erhält nun die Kollegin Ulrike Höfken.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Tatsächlich wird heute der Umsetzung der europäischen FFH-Richtlinie und der Artenschutzverordnung zugestimmt. Die Verzögerungen, die Deutschland durch die entstandenen Rechtslücken im Artenschutz zu einem regelrechten Schmuggelparadies der organisierten Kriminalität im Handel mit geschützten Arten machte, sind vollkommen unnötig und reine Wahltaktik gewesen. Das gilt übrigens
Ulrike Höfken
ebenso für die Anhebung der Vorsteuerpauschale. Das muß hier noch einmal betont werden.
Es war doch diese Bundesregierung, nicht die Länder und nicht die Opposition, die die FFH-Richtlinie 1992 in dieser Form unterschrieben hat. Das haben wir natürlich auch unterstützt. Aber daß diese Bundesregierung, die rechtliche Umsetzung vertrödelt und jetzt ihre eigenen Richtlinien zum „Job der Länder" macht, ist doch ein Skandal!
Mit diesem unverantwortlichen Umgang mit einer EU-Richtlinie hat diese Bundesregierung die Probleme der Planungsunsicherheit bei Landwirtschaft und Wirtschaft erst geschaffen. Mit dieser mangelnden Umsetzung und rechtlichen Unverantwortlichkeit treibt sie die Leute jetzt in Bürgerinitiativen zur Sicherung des Eigentums, die faktisch Bürgerinitiativen gegen diese Bundesregierung und nicht gegen den Naturschutz sind.
Ein neues Verhandlungsangebot legte die Bundesregierung nicht vor. Ein Verhandlungsangebot muß finanzielle Komponenten enthalten. Die CDU/CSU-und F.D.P.-Agrarpolitiker haben vor den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein geschworen, niemals eine Umsetzung ohne Entschädigung zuzulassen. Das war alles nur heiße Luft. Die Bundesregierung gibt für die Bauern keine müde Mark aus. Die Länder weisen nicht nach Belieben FFH-Gebiete aus.
- Die Länder weisen nicht nach eigenem Belieben FFH- und Naturschutzgebiete aus, sondern sie müssen sie nach den Bestimmungen der erlassenen und von Ihnen unterschriebenen europäischen Richtlinie ausweisen, nach festgelegten Kriterien.
Darf ich einmal dazwischengehen, Frau Kollegin Höfken? Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß dies keine Debatte ist. Vielmehr werden hier Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben. Debattenbeiträge werden nicht geduldet. Die jeweiligen Redner hier müssen sich an das Stichwort „Erklärung" halten. Sie müssen erklären, warum Sie wie abstimmen, und das ist es. Es tut mir leid, aber so sind die Regeln. Sonst muß man eine Debatte vereinbaren.
Also, bitte, eine Erklärung zur Abstimmung.
Ich erkläre dann weiter, daß die Finanzierung auch deshalb nicht allein auf die Länder abgeschoben werden
kann, da die Ausweisung der FFH-Gebiete nicht in der direkten Kompetenz der Länder liegt.
Die Bundesregierung kneift damit vor der naturschutzpolitischen und agrarpolitischen Verantwortung.
Bündnis 90/Die Grünen sind für Ausgleichszahlungen, für Nutzungsausfälle, wenn die Umweltanforderungen über die Anforderungen der ordnungsgemäßen Landwirtschaft hinausgehen - immerhin gibt es im Pflanzenschutzgesetz jetzt ein Stück weit Definitionen -, aber unter Beteiligung des Bundes. Einen Entschädigungsautomatismus lehnen wir ab.
Mit der jetzt von Ihnen geplanten, noch nicht eingebrachten Gesetzesänderung zum Bundesnaturschutzgesetz - jetzt geht es in die dritte Runde im Kreis - durch die Koalition soll nach Abschluß des wahlkampftaktischen Geplänkels das Gesicht gewahrt werden.
Rechtlich wird diese unzulässige Finanzierungsverlagerung auf die Länder wohl kaum Bestand haben. Die Bundesregierung zeigt sich damit verhandlungsunfähig und als unfähig, die Interessen der Bauern und des Naturschutzes zu vertreten.
Die konstruktiven Vorschläge kommen von der Opposition. Die Grünen fordern eine Finanzierung der Nutzungsausfälle aus der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur bei gleichzeitiger Aufstockung um den neu geschaffenen Naturschutztitel aus dem Bereich des BMU, und zwar mit Geldern aus der Atomkraftförderung. Dies haben wir bereits in Änderungsanträgen zum letzten Haushalt so geäußert.
Alles andere, eine solche Gesetzesvorlage ohne ein finanzielles Angebot, ist eine schamlose Bauernfängerei.
Danke.
Das Wort zu einer Erklärung hat der Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Obwohl wir hier nur Erklärungen abzugeben haben, möchte ich vorher aber doch einen Satz sagen: Es fällt einem wirklich schwer, hier eine Erklärung abzugeben, ohne auf die vorangegangenen Beiträge einzugehen. Denn jedem Fachmann stellt sich das Nackenhaar auf, wenn man diese Erklärungen zur Kenntnis nehmen muß.
Die Regierungskoalition von F.D.P. und CDU/CSU beweist in einer schwierigen Lage ihre Entschlossenheit und ihre Handlungsfähigkeit. Zwar konnten wir bisher im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat weder im Bundesnaturschutzgesetz noch mit der Umsetzung der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie eine Ausgleichsregelung durchsetzen. Diesen Weg hat die Opposition versperrt und damit die No-
Ulrich Heinrich
welle zum Bundesnaturschutzgesetz zum wiederholten Male an einer Ausgleichsregelung für Land- und Forstwirte scheitern lassen.
Dennoch zeichnet sich jetzt in dieser zentralen Frage zum Schutz der Eigentumsrechte eine befriedigende Lösung ab. Durch den abgespeckten dritten Entwurf einer Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz, den wir heute nach der Abstimmung hier ebenfalls einbringen, wollen wir den Grundeigentümern zu ihrem Recht verhelfen. Dieser neue Gesetzentwurf enthält unter anderem eine Ausgleichsregelung. Danach sollen Aufwendungen für Anforderungen des Naturschutzes, die über der guten fachlichen Praxis liegen, den Landwirten erstattet werden. Auflagen, die über die gute fachliche Praxis hinausgehen, sind Eingriffe in das Eigentum und mit gravierenden Einkommenseinbußen verbunden.
Sie sind deshalb ausgleichspflichtig, und sie sind keine Subventionen.
Gleichzeitig bewahren wir so den bewährten Vertragsnaturschutz vor einem möglichen Eigentor. Damit gewährleisten wir, daß auch zukünftig Naturschutz mit und nicht gegen die Land- und Forstwirte verwirklicht wird.
Mit der Umsetzung der FFH-Richtlinie in nationales Recht widerlegen wir zudem alle Vorwürfe, wir wollten mit der Nichtumsetzung dem Natur- und Umweltschutz in Deutschland die Rechtsgrundlage entziehen. Seither haben Sie durch Ihr Verhalten dafür gesorgt, daß wir nicht vorangekommen sind, meine Damen und Herren von der Opposition.
Neu an unserem Gesetzentwurf zur dritten Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz ist ebenfalls - das ist für die weitere parlamentarische Beratung ausschlaggebend -, daß wir mit dieser Vorlage nicht mehr auf die Zustimmung des rotgrün dominierten Bundesrates angewiesen sind. Es handelt sich nämlich um ein Rahmengesetz, bei dem der Bundesrat nur ein Einspruchsrecht hat. Die Ausgestaltung liegt dann bei den Ländern.
Abschließend appelliere ich an alle Landesregierungen, an denen CDU, CSU und F.D.P. beteiligt sind, die von uns eröffnete Chance zur Verabschiedung der dritten Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz mutig zu ergreifen und durch ihre Unterstützung die Dauerblockade von Rotgrün im Bundesrat zu brechen.
Ich erkläre hier für die F.D.P.-Bundestagsfraktion: Der Umsetzung der FFH-Richtlinie stimmen wir zu, weil in der dritten Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz die von uns immer geforderte Ausgleichsregelung enthalten ist und wir diese Novelle somit auch gegenüber dem Grundeigentümer verantworten können.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Bulling-Schröter, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zwei Ehrenrunden, die das Vermittlungsergebnis drehen durfte, wären eigentlich wie so viele Absurditäten dieses Hauses kaum an die Allgemeinheit gelangt. Allein der Umstand, daß die Sendung „Monitor" dieses Trauerspiel im Zusammenhang mit dem Artenschutz an die Öffentlichkeit zerrte, entfachte diesmal einen Sturm der Entrüstung.Wir stimmen dem Vermittlungsergebnis zu. Wir meinen, daß die wahltaktische Ablehnung des Vermittlungsergebnisses im Plenum dazu beigetragen hat, daß die Geltung einer Gesetzeslücke verlängert wird, die kriminellen Händlern bedrohter Tier- und Pflanzenarten seit zirka einem Jahr weitgehende Straffreiheit verschafft. Diese Gesetzeslücke war mir übrigens bei der letzten Abstimmung genausowenig bekannt wie sicher den meisten hier im Saal. Die Abgeordneten werden in den Ausschüssen zwar oft mit Papier zugeschüttet, mit solchen wichtigen Details aber leider nicht belästigt.
Wir stimmen zu. Wir meinen, daß das Grundproblem der Auseinandersetzung um die Novellierung des Naturschutzgesetzes allerdings weiterhin darin besteht, daß die Koalition an Landwirte für deren Flächen pauschal Geld ausschütten will - egal ob bewirtschaftet oder nicht, egal ob Acker, Brache, Wiese oder sogar Wald -, wenn diese innerhalb von Schutzgebieten liegen - und dies auch noch rückwirkend.Ich bin der Auffassung, daß viele Landwirte beispielsweise beim Vertragsnaturschutz einen wertvollen Beitrag zum Erhalt unserer natürlichen Umwelt leisten. Deshalb sollen sie auch entsprechende Kompensationszahlungen erhalten können. Allerdings muß einerseits ein sachlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem Naturschutz erkennbar sein und andererseits die aus Naturschutzgründen erwachsende Belastung der Land- und Forstwirte über ein Maß hinausgehen, welches eigentlich im Rahmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums hinzunehmen wäre. Konkret hieße das, daß durch eine Mischung von Übergangshilfen und Vertragsnaturschutz eine Änderung der Nutzung vom Staat finanziell begleitet werden muß.Wir stimmen dem Ergebnis zu und bleiben dabei: Pauschale Ausgleichszahlungen für Flächen, die in Naturschutzgebieten liegen bzw. liegen werden und teilweise nie bewirtschaftet wurden, oder, wie im Regierungsentwurf der Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz neu festgeschrieben, rückwirkende Zahlungen an Eigentümer solcher Flächen sind ökologisch unsinnige Geldgeschenke. Wenn tatsächlich den wirtschaftenden Bauern und nicht den Eigentümern schlechthin geholfen werden soll, dann dürfen nur Ertrags- und Einkommensverluste als Folge von Naturschutzmaßnahmen auf tatsächlich land-
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998 20475
Eva Bulling-Schröterwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen finanziell ausgeglichen werden. Und dies passiert schon heute, und zwar in erheblichem Umfang.Die Politik der Bundesregierung gefährdet aber genau diese Zahlungen, die zwischen den Länderumweltministerien und den jeweiligen Bauern ausgehandelt werden. Wenn das Regierungsprogramm Realität würde, dann würden die EU-Kofinanzierungsmittel der momentan laufenden Agrarumweltprogramme, also zirka die Hälfte der jährlich rund 750 Millionen DM - den Rest tragen Bund und Länder -, gestrichen. Da aus der Freiwilligenvereinbarung zwischen Landwirten und Ländern ein Rechtsanspruch werden würde, wäre dies mit EU- Mitteln nicht förderfähig. Deutschlands öffentliche Haushalte würden sich also finanziell auch hier „ins Knie schießen", wie es der Naturschutzbund formulierte.Wir stimmen dem Ergebnis zu und meinen, daß darüber hinaus der Bundesrepublik durch die Nichtumsetzung der FFH-Richtlinie Fördermittel aus dem EU-LIFE-Programm verlorengehen. Die Vergabe der Mittel ist an Gebiete gebunden, die nach der FFHRichtlinie und der EU-Vogelschutzrichtlinie als Schutzgebiete der EU gemeldet sind. Die Bundesrepublik erhielt 1995 rund 10 Millionen DM aus dem LIFE-Programm. Ungefähr genausoviel hat sie aber verschenkt, da die Hälfte der Anträge auf Grund der Nichtmeldung deutscher Gebiete von der EU zurückgewiesen wurde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stimmen zu und meinen, daß eine tatsächliche Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes noch aussteht. Das bleibt traurige Realität.
Keine weiteren mündlichen Erklärungen.Bevor wir jetzt zur Abstimmung kommen, teile ich dem Hause mit, daß es schriftliche persönliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung gibt: eine Sammelerklärung des Kollegen Gert Willner und weiterer 18 Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion der CDU/CSU, eine Erklärung des Kollegen Dr. Michael Meister sowie eine Erklärung der Kollegen Elke Wülfing, Karl-Josef Laumann und Werner Lensing. *)Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/10003? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses aus CDU/CSU, F.D.P., SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen, bei - wenn ich es recht gesehen habe - drei Gegenstimmen aus der Fraktion der CDU/CSU-Fraktion, keine Enthaltung.') Anlagen 5 bis 7Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 3 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes- Drucksache 13/10186—Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau HaushaltsausschußEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/10186 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 18a bis 18u sowie den Zusatzpunkt 4 auf:18. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Juni 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen- Drucksache 13/9957 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaftb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. August 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Laos über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen- Drucksache 13/9958 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaftc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. Oktober 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Burkina Faso über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen- Drucksache 13/9959 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaftd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 13/9971 - Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft
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20476 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998
Vizepräsident Hans-Ulrich Klosee) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Oktober 1997 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten- Drucksache 13/10113 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußFinanzausschußf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. Oktober 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Tschechischen Republik über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes- Drucksache 13/10129-Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitg) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Anpassung der Bedarfssätze der Berufsausbildungsbeihilfe und des Ausbildungsgeldes nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/10110—Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß gemäß I 96 GOh) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 13. Februar 1997 des Übereinkommens über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation „EUTELSAT"- Drucksache 13/10138 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und Telekommunikationi) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 1. September 1995 des Übereinkommens über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation „INTELSAT"- Drucksache 13/10139-Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und Telekommunikationj) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit" und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern- Drucksache 13/10023 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß Finanzausschußk) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EG-Einlagensicherungsrichtlinie und der EG-Anlegerentschädigungsrichtlinie- Drucksache 13/10188 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Ausschuß für WirtschaftHaushaltsausschuß1) Erste Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck , Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung der Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen- Drucksache 13/9525 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendm) Erste Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck , Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen in der Erwerbsarbeit- Drucksache 13/9526 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugendn) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung (§§ 153, 267 StPO) - Gesetz zur Verbesserung des strafrechtlichen Sanktionensystems -- Drucksache 13/9612 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußo) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Michael Müller , Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998 20477
Vizepräsident Hans-Ulrich KloseEinführung einer einheitlichen und umfassenden Kennzeichnung umwelt- und gesundheitsverträglicher Textilien
- Drucksache 13/7530 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für GesundheitAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungp) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.Unterstützung der neuen Friedensinitiative zur Beilegung des Westsaharakonflikts- Drucksache 13/10025 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschußq) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.Internationale Kontrolle und Abrüstung von Kleinwaffen- Drucksache 13/10026-Überweisungsvorschlag :Auswärtiger Ausschuß InnenausschußVerteidigungsausschußr) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Edelgard Bulmahn, Katrin Fuchs , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAbrüstung von Kleinwaffen- Drucksache 13/9248 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß InnenausschußVerteidigungsausschußs) Beratung des Antrags der Abgeordneten Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDArmutsbekämpfung durch Mikrofinanzierung in der Entwicklungszusammenarbeit- Drucksache 13/10027 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungt) Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEuropas gemeinsame Verantwortung für Afrika- Drucksache 13/10035 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungu) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungErster Bericht nach § 70 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch i. V. m. § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze der Berufsausbildungsbeihilfe- Drucksache 13/9589—Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Rolf Kutzmutz, Dr. Willibald Jacob, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSVeröffentlichung des Vertragsentwurfs „Multilateral Agreement on Investment"
- Drucksache 13/10083 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
FinanzausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeitund EntwicklungAusschuß für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19a bis 19d sowie 19f bis 19p. Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 19 a:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. November 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar über den Luftverkehr- Drucksache 13/8816 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/9891 -Berichterstattung:Abgeordneter Lothar IbrüggerVizepräsident Hans-Ulrich KloseDer Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/9891, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 19 b:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 17. März 1992 über die grenzüberschreitenden Auswirkungen von Industrieunfällen- Drucksache 13/8710 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
- Drucksache 13/9943 -Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Wolfgang BehrendtDr. Jürgen RochlitzDr. Rainer OrtlebDer Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 13/9943, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 c:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 22. April 1996 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien andererseits- Drucksache 13/9343 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/9985 -Berichterstattung:Abgeordneter Paul K. FriedhoffDer Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/9985, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes- Drucksache 13/9534 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- Drucksache 13/10069-Berichterstattung:Abgeordneter Matthias WeisheitDer Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 13/10069, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 19f:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für einen Beschluß des Rates über die Förderung einer dauerhaft tragbaren und sicheren Mobilität- Drucksachen 13/7017 Nr. 2.36, 13/9407 -Berichterstattung:Abgeordnete Gila Altmann
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 19 g:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung des Europäischen Parlaments zum Fremdenverkehr- Drucksachen 13/8615 Nr. 1.8, 13/9963 -Berichterstattung:Abgeordnete Halo Saibold Dr. Roll OlderogBrunhilde IrberDr. Olaf FeldmannVizepräsident Hans-Ulrich KloseWer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD angenommen.Wir kommen jetzt zu Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 19 h:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 307 zu Petitionen- Drucksache 13/10042 -Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 307 ist bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 i:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 308 zu Petitionen- Drucksache 13/10043 -Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 308 ist gegen die Stimmen der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19j:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 309 zu Petitionen - Drucksache 13/10044 -Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 309 ist gegen die Stimmen der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 k:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 310 zu Petitionen- Drucksache 13/10045 -Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 310 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Tagesordnungspunkt 191:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 311 zu Petitionen- Drucksache 13/10046-Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 311 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD bei Enthaltung der Gruppe der PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 19m:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 312 zu Petitionen - Drucksache 13/10047 -Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 312 ist gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 n:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 313 zu Petitionen - Drucksache 13/10048-Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 313 ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.Tagesordnungspunkt 19 o:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 314 zu Petitionen - Drucksache 13/10049 -Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 314 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.Tagesordnungspunkt 19 p:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 315 zu Petitionen - Drucksache 13/10050-Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 315 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDVorstellungen der Bundesregierung zur Rücknahme der 4. Verordnung über die personellen Anforderungen für Heime
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulrike Mascher, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um öffentlich im Parlament die Pläne zu diskutieren, mit denen die Minister Blüm und Seehofer und wohl auch Frau Nolte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion beabsichtigen, die Qualitätsanforderungen für die Pflege von alten Menschen in Pflegeheimen abzusenken.
Diese Aktuelle Stunde ist auch deshalb notwendig, weil Minister Blüm nicht bereits gestern bereit war, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung einen von uns angeforderten Bericht über seine Absichten abzugeben, sondern das strikt verweigert hat. Ich freue mich, daß er heute hier im Parlament ist. Vielleicht erklärt er, was er mit dieser Absenkung der Fachpflegequote eigentlich plant.
Die SPD-Bundestagsfraktion wendet sich entschieden gegen die Absichten, das Angebot an Fachpflegekräften von 50 Prozent als Mindeststandard aufzugeben. Wir befinden uns dabei in einem breiten Bündnis mit den Wohlfahrtsverbänden, mit den Beschäftigten in den Pflegeheimen und vor allem mit den Pflegebedürftigen selbst sowie mit ihren Angehörigen.
Am 16. März hatte die „Süddeutsche Zeitung" dankenswerterweise auf der ersten Seite groß über die Pläne der Bundesregierung berichtet und damit zumindest in Bayern ganz neue Bündnisse gegen die Absichten von Blüm, Seehofer und Nolte zustande gebracht. Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude, SPD, und die Bayerische Staatsregierung, CSU, das Bayerische Rote Kreuz, die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, die Diakonie und viele Pflegeinitiativen, die Regierung von Oberbayern als Heimaufsicht und die ÖTV, alle Berufsverbände der Altenpflege, alle Ausbildungseinrichtungen rufen zum Widerstand gegen die Absenkung der Fachpflegequote auf.
Heute hat hier in Bonn eine Kundgebung der ÖTV mit einem schönen Button mit etwa tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern unter dem Motto „Qualität statt Verwahrlosung" stattgefunden. Es wären sicher noch sehr viel mehr gewesen, wenn die Pflegekräfte als verantwortungsvolle Pflegende nicht in den Altenpflegeheimen zur Pflege der Pflegebedürftigen hätten bleiben müssen.
Warum empören sich denn so viele gegen eine höchst bürokratisch klingende Formel zum Wegfall der Fachpflegequote? Weil alle wissen, die nicht nur unter der Käseglocke in Bonn Politik machen: Wenn dieser Mindeststandard von 50 Prozent Fachpersonal in den Altenpflegeheimen für eine fachlich gute Pflege aufgegeben oder verwässert wird, dann wird ein fataler Wettlauf um Kostensenkung durch Absenkung des Fachpersonalanteils einsetzen. Dann droht, wie der Vertreter des Bayerischen Roten Kreuzes auf
einer Protestversammlung in München erklärt hat, „gefährliche Pflege".
Nun sagt Norbert Blüm immer wieder, daß bei der Pflege in der Familie auch keine Fachpflegekräfte tätig sind, sondern die Familie mit persönlichem Engagement pflege und niemand die Qualität dieser Familienpflege anzweifle. Also warum nicht auch in Pflegeheimen auf Fachpflegekräfte verzichten und Geld mit 620-DM-Hilfskräften sparen?
Herr Minister Blüm, Sie wissen, daß in den Pflegeheimen hochbetagte, häufig schwer kranke Menschen, die oft auch noch altersverwirrt sind, leben. Sie kommen in das Pflegeheim, weil die Pflege zu Hause nicht mehr geleistet werden kann, weil Spritzengeben, Absaugen der Luftröhre, der Umgang mit Kathetern und die Vermeidung von Wundliegen Fachpersonal erfordern. Selbst der 50 prozentige Fachpersonalschlüssel ist bei einem hohen Anteil von Schwerstpflegebedürftigen nicht ausreichend. Niemand will hoffentlich die Altenpflege in Deutschland auf den Standard „Satt, sauber, trocken" festschreiben. Das Ziel der Pflegeversicherung war humane und aktivierende Pflege. Das haben wir noch lange nicht erreicht!
Anstatt dafür zu kämpfen, daß die Mindestquote von 50 Prozent Fachpersonal nicht aufgegeben wird, müßten wir dafür sorgen, daß wir mehr gut ausgebildete Pflegekräfte in die Heime bekommen.
Das heißt auch: Wenn jetzt wegen des öffentlichen Drucks die Geltung der Übergangsregelung verlängert wird, dann können wir diesen Druck nicht vermindern, sondern müssen weiter dafür kämpfen, daß die Personalausstattung in den Heimen besser wird. Wir wissen doch, daß alte Menschen über eine Sonde ernährt werden, obwohl sie mit einiger Unterstützung noch selbst essen und trinken könnten. Wir wissen, daß Menschen mit Medikamenten ruhiggestellt und im Bett fixiert werden, weil nicht genug Pflegekräfte da sind, die mit altersverwirrten Menschen angemessen, fachlich orientiert umgehen können. Wir wissen, daß Menschen einen Katheter gelegt bekommen, weil das Zeit spart. Wir wissen auch um die Gefahr der völligen Überforderung von Pflegekräften, die ohne ausreichende fachliche Betreuung arbeiten müssen. Es gibt aus dem Ministerium von Frau Nolte Untersuchungen über Gewalt an alten, pflegebedürftigen Menschen, die uns aufschrecken lassen müßten.
Niemand, Herr Blüm - weder die Pflegebedürftigen noch ihre Angehörigen -, wird begreifen, warum angesichts einer Rücklage in der Pflegeversicherung, die doppelt so hoch ist wie im Gesetz vorgeschrieben, die Finanzierung der notwendigen Fachpflegekräfte nicht machbar sein soll. Das können Sie niemandem in der deutschen Öffentlichkeit mehr erklären.
Ulrike Mascher
Für mich bleibt der Maßstab, den ich bei der Diskussion um Pflegequalität anlege, ein sehr persönlicher: Wie sollen mein Vater und meine Mutter gepflegt werden? Vielleicht stellen sich die Vertreter der Bundesregierung, die den Fachpersonalschlüssel absenken wollen, auch einmal diese Frage. Die Antwort würde dann sicher anders ausfallen als bisher.
Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am 30. September dieses Jahres läuft die Frist aus, um die Fachkraftquote von 50 Prozent in Pflegeeinrichtungen umzusetzen. Tatsache ist, daß nicht alle Heime mit Ablauf der Übergangsfrist diese Vorgabe, die in der Heimpersonalverordnung verankert ist, vollständig erfüllen. Wenn die SPD jetzt Kritik übt, muß sie zunächst in die SPD-geführten Bundesländer schauen. Hier läßt sich feststellen, daß gerade sie das Ziel noch weit verfehlt haben.
Von daher ist es billig, über das Verfahren zu schimpfen, wenn man selbst die Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Die Bayerische Staatsregierung zum Beispiel hat sich frühzeitig mit den Beteiligten an einem „Runden Tisch Altenpflege" zusammengesetzt, um die Voraussetzungen zu erfüllen.
Wir stehen jetzt vor dem Problem, daß die Heime im Zweifel geschlossen werden müßten, weil sie die Quote nicht erreichen. Der grundsätzliche politische Handlungsbedarf ist bei dieser Sachlage klar.
Grundlage für die Qualität der Pflege in Heimen ist zunächst das Heimgesetz. Es ist unbestritten, daß durch die Pflegeversicherung wichtige Neuregelungen hinzugekommen sind, die stärker aufeinander abgestimmt werden müssen. Die von Ministerin Nolte und den Ministern Blüm und Seehofer vertretenen Vorschläge haben in der Öffentlichkeit für Aufregung gesorgt. Das ist so. Es ist auch klar, daß die Wohlfahrtsverbände deutlich machen, daß ein hoher Pflegestandard gesichert werden muß. Das ist auch ihr gutes Recht. Aber die plakativen Darstellungen in den Medien und die Überschriften in den Zeitungen der letzten Tage haben viele Menschen in einer Weise verunsichert, die nicht berechtigt ist. Ich will
klar sagen: Auch in Zukunft werden die Pflegestandards auf hohem Niveau gesichert bleiben.
Vorwürfe an die Bundesregierung, hier Abstriche machen zu wollen, sind fehl am Platze. Das oberste Ziel ist und bleibt die Sicherung der Qualität der Einrichtungen.
Welcher Weg dazu der richtige ist, dies muß frei von Vorwürfen und Unterstellungen erörtert werden.
Diese Bundesregierung war es, die durch die Einführung der Pflegeversicherung neue Maßstäbe in der Pflege gesetzt hat. Die Pflegebedürftigen sind durch das Heimgesetz mit seinen Verordnungen sowie durch die Pflegeversicherung klar geschützt. Zweck des Heimgesetzes ist es vor allem, die Interessen und Bedürfnisse der Heimbewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen, insbesondere die Selbständigkeit und Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren. Frau Nolte hat es auf den Punkt gebracht, indem sie sagte: Das Heimgesetz ist das Verbraucherschutzrecht für Heimbewohner.
Es ist für uns selbstverständlich, daß es auch in Zukunft so bleibt.
Gesetzliche Voraussetzungen für den Heimbetrieb sind unter anderem Zuverlässigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ebenso ist festgeschrieben, daß die Betreuung der Bewohner in Heimen in angemessener Weise gewährleistet sein muß.
Die Instrumente der Heimüberwachung, die Möglichkeiten der Heimaufsicht, Anordnungen zu erlassen, Bußgelder und Beschäftigungsverbote zu verhängen oder gar Heime zu schließen, sichern diese Vorgaben ab. In diesem Rahmen sind die Änderungsüberlegungen zu sehen.
Wir wollen und wir brauchen eine Pflege auf hohem Niveau. Das Vertrauen der Bürger in die hochwertige Betreuung ist für uns ganz besonders wichtig, und auch wenn Änderungen der Heimpersonalverordnung erfolgen, bleibt diese unsere Zielsetzung unbestritten.
Deregulierung spielt heute eine große Rolle. Die Kontrolle des Staates zurückzunehmen, um die Selbstverantwortung zu stärken, kann nicht der falsche Weg sein, wenn gleichzeitig die Qualität erhalten bleibt. Darum geht es, meine Damen und Herren.
Ich bin sicher, daß bei den Gesprächen, die heute mit den Wohlfahrtsverbänden geführt wurden - nächste Woche mit den Ländern -, die Mißverständnisse, die entstanden sind, ausgeräumt werden.
Maria Eichhorn
Da heute vorgeschlagen wurde, die Übergangsregelung zu verlängern, ist genügend Zeit, um mit den Beteiligten eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Präsident! Darf eine Gesellschaft wie die unsere es zulassen, daß alte und behinderte Menschen nur noch zum Kostenfaktor in betriebswirtschaftlichen Kalkülen werden?
Dürfen wir zulassen, daß die Bundesregierung den Niedergang der Pflege beschließt, der alte und behinderte Menschen wieder einer Satt-und-sauberPflege überantwortet?
Am 1. April wird das Kabinett darüber entscheiden: über die Zukunft der Pflege und der Menschen, die sie brauchen. Die Pflichtquote soll ausgehebelt werden, die mindestens 50 Prozent fachlich geschultes Pflegepersonal in Alten- und Pflegeheimen vorschreibt. Das betrifft 600 000 pflegebedürftige Menschen in diesem Land: in Altenheimen, aber auch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.
Innerhalb eines großzügigen Übergangszeitraums von fünf Jahren sollte Ende September 1998 in den Heimen die Hälfte des Personals aus Pflegefachkräften bestehen - ein Mindeststandard, um die Pflege zu sichern. Jetzt, da der Zeitpunkt naht, an dem es ernst wird, will die Bundesregierung von ihren eigenen Vorschriften nichts mehr wissen. Sie wittert Einsparungen in Milliardenhöhe.
Was wird passieren, wenn es so kommt? Wird die Quote gekippt, heißt das: Bahn frei für billiges Hilfspersonal. Eine massive Senkung der Pflegequalität ist vorprogrammiert. Denn viele gewerbliche Pflegeheime erfüllen die Quote bisher nicht und müssen sie dann auch gar nicht mehr erfüllen. Die Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege befürchten einen noch stärkeren Preisdruck von seiten der Pflegekassen, so daß auch hier mit weniger Fachkräften gearbeitet werden wird.
Daß die Bundesregierung dies alles dementiert, ist reiner Hohn: Die Vereinbarungen zwischen den Pflegekassen und den Heimträgern über die Qualität der Pflegeeinrichtungen haben es nicht vermocht, einen angemessenen Anteil an Fachpersonal zu schaffen. Denn gerade dort regiert ja das Prinzip der Kostensenkung.
Auch das Loblied auf die flexiblen Regelungen, das Frau Nolte und Herr Blüm jetzt anstimmen, ist nur wenig überzeugend. Denn die flexiblen Quoten sehen keinen Mindeststandard mehr vor. Auf der Strecke bleibt der Mensch. Daß sich die Bundesregierung vorstellen kann, alte und behinderte Menschen in ihren schwierigen Alters- und Krankheitsstadien von unausgebildetem, unqualifiziertem und häufig noch überfordertem Hilfspersonal betreuen zu lassen, ist, so finde ich, ein ziemlicher Skandal.
Denken Sie doch an die Einrichtungen, in denen schon jetzt alte Menschen vernachlässigt werden, sich wund liegen, in denen das „Füttern" in wenigen Minuten erledigt wird und Zuwendung ein Fremdwort ist. Es geht doch in diesem Berufsfeld nicht darum, an einem technischen Gerät irgendein Teil mehr oder weniger anzuschrauben. Es geht hier vielmehr entscheidend um die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit älterer Menschen, die ein hohes Maß an Professionalität erfordert, und das nicht nur bei den 430 000 schwerstpflegebedürftigen Menschen in Heimen. Pflege braucht generell Fachpersonal. Da nützt es auch nichts, Herr Minister Blüm, wenn Sie immer sagen: Pflegen kann jeder. Das ist ein Hohn, wenn Sie wissen, daß die Menschen immer älter werden, bevor sie in Altenheime kommen, und mit welchen Erkrankungen man dort zu tun hat.
Der zweite Skandal: Genau dieses ausgebildete Fachpersonal wird nun wahrscheinlich in hohem Maße entlassen werden müssen. Das heißt, daß es einmal-wieder vor allem die Frauen sein werden, die ihre Arbeitsplätze verlieren.
Denn der Anteil der Frauen im Pflegebereich beträgt bekannterweise 90 Prozent. Sie selbst, Frau Nolte, haben in einer Studie aus dem letzten Jahr errechnen lassen, daß der Anteil an Pflegefachkräften in Westdeutschland heute im Durchschnitt um die 47 Prozent beträgt. Wie kommen Sie dazu, das bisher Erreichte jetzt zu gefährden, frage ich Sie. Sie haben die Studie doch wahrscheinlich gelesen.
Für die Bündnisgrünen ist klar: Die Fachkraftquote darf nicht dem freien Fall überlassen werden. Sie muß bleiben; in einigen Bereichen muß sie erhöht werden. Eine Pflege zu Dumpingpreisen darf es nicht geben.
Ein Wort zum Schluß: Die Bundesregierung muß endlich auch ihren Widerstand gegen eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung aufgeben. Es kann doch nicht angehen, daß wir demnächst in der Europäischen Union eine einheitliche Währung haben, den Euro einführen, es aber in der Bundesrepublik 16 Länder mit 16 unterschiedlichen Pflegeausbildungen gibt. Diese Ausbildung zum Beruf der Altenpflegerin gibt es in ganz Europa nicht.
Irmingard Schewe-Gerigk
- Nein. Ich mache es Bayern zum Vorwurf, daß das immer blockiert wird. Aber ich denke schon, daß die Bundesregierung hier einen großen Einfluß hat.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie: Auch wenn die jetzige Regierung den Menschen, die der Pflege bedürfen, offenbar völlig gleichgültig gegenübersteht,
bitte tragen Sie dazu bei, daß es nicht dazu kommt, daß die Würde der Menschen derart mit Füßen getreten wird.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reaktionen und die bisherige Debatte erwecken den Eindruck, daß es manchem überhaupt nicht ernsthaft darum geht, sich mit der Frage, wie es mit der Heimpersonalverordnung und der 50prozentigen Fachkraftquote weitergehen soll, zu beschäftigen.
Daß es heftige Reaktionen auf die Überlegungen der Bundesregierung gegeben hat, ist ja richtig. Das ist nicht deshalb richtig, weil es zum Niedergang der Pflege kommt, sondern deshalb, weil es ja ein nicht ganz gewöhnliches Vorgehen war, ohne Beteiligung der Betroffenen, der Verbände und der Länder, die ja letztlich zustimmen müssen, diesen Vorschlag in die Öffentlichkeit zu bringen. Deshalb ist es richtig, daß es heute Gespräche von seiten der Bundesregierung mit den Vertretern der Verbände gab und solche in einigen Tagen wohl auch mit den Ministern der Länder stattfinden werden. Deshalb ist es auch richtig, daß wir uns hier mit dieser Frage beschäftigen.
Es geht darum, die unterschiedlichen Situationen in den Heimen, die nämlich nicht alle vergleichbar sind, auch künftig entsprechend zu berücksichtigen.
Auf der einen Seite gibt es Heime, in denen es wichtig ist, daß es 50 Prozent gelerntes Fachpersonal und 50 Prozent von nur angeleitetem, nicht in diesem Umfang ausgebildetem Fachpersonal gibt. Denn man muß sehen, daß das Durchschnittsalter in Heimen ansteigt und jetzt bei 85 Jahren liegt, daß es immer höhere Anforderungen in der medizinischen Behandlungspflege gibt und daß immer mehr Pflegebedürftige Demenzkranke sind. Aber es gibt auf der anderen Seite auch Heime, in denen die Situation so ist, daß eine gute und angemessene Pflege mit einem größeren Anteil von nur angelerntem Personal und einem entsprechend geringeren Anteil von Fachkräften genauso gewährleistet ist.
Ich finde die Untersuchung eines Institutes der AOK sehr beeindruckend, die zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die beste Fachkraftquote und die beste personelle Ausstattung in privaten Heimen bestehen soll.
Das zeigt, daß das, was die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen im Bereich der Pflegeversicherung und anderer Sozialversicherungen bisher geleistet haben, nicht zu einem niedrigeren Standard und zu einer Verringerung der Leistungen führen soll, sondern daß wir uns zu Recht den Kopf darüber zerbrechen, wie gerade auch angesichts der unterschiedlichen Situationen in den Bundesländern eine möglichst gute Pflege gewährleistet werden kann.
Es ist doch bezeichnend, daß Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bisher keine Zahlen geliefert haben, wie es dort mit der Erreichung der Fachkraftquote aussieht.
Wir wissen, daß es in den östlichen Bundesländern auf Grund des dort seit längerem vorhandenen Fachpersonals eine Erfüllung oder sogar eine Übererfüllung der Quote gibt. Wir wissen, daß auch in Bayern eine gute Quote - ich glaube, annähernd 50 Prozent - erreicht ist. Hat man in den anderen Ländern vielleicht nicht mit dem nötigen Nachdruck die vergangenen vierdreiviertel Jahre genutzt, um zu einer entsprechenden Ausstattung zu kommen?
Ich denke, daß es deshalb zu dieser Aufgeregtheit und der Form der Auseinandersetzung, wie sie bisher von der Opposition geführt worden ist, keine Veranlassung gibt. Ich finde es richtig, wenn es, wie es heute aussieht, zu einer Verlängerung der Über-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
gangsfrist kommt. Dann können Sie Ihre Hausaufgaben machen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Lüth, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich an den Anfang meiner Rede zwei Zitate stellen. Das erste ist in einer Erklärung des Deutschen Berufsverbandes für Altenpflege vom 18. März 1998 nachzulesen:
Wir haben uns gegen unser Gewissen bereit erklären müssen, Pflegebedürftige und altersbedingt verlangsamte Menschen zu nötigen, in drei Minuten ihre Notdurft zu verrichten, müssen sie in fünf Minuten ins Bett scheuchen und in einer Viertelstunde durchs Badewasser ziehen. So hatten wir Altenpfleger unseren Beruf nicht gelernt.
- Wenn Sie sich über diesen Punkt so erregen, dann lesen Sie doch bitte einmal in der Verordnung nach, wie der Medizinische Dienst diese Tätigkeiten nach Zeittakten unterteilt. Dann werden Sie genau diese Minuteneinteilung finden, und nur dieser Zeitaufwand wird bezahlt.
Am 7. November 1995 meldete sich das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zu Wort:
Die Heimpersonalverordnung ist in ihrer Kombination mit länderdeterminierten Personalschlüsseln im Ergebnis kostentreibend und begünstigt Unwirtschaftlichkeit. Sie überläßt die Bestimmung des Gesamtpersonals den Ländern und fügt mit ihrer schematischen Fachkraftquote, die überdies von den Ländern weiter ausgehoben werden kann, der pflegerischen Versorgung einen zusätzlichen Kostentreibsatz hinzu.
Es ist also kein Schnellschuß der Frau Ministerin Nolte, sondern ein Teil der Strategie der sozialen Dreifaltigkeit von Nolte, Blüm und Seehofer, mit Eiseskälte heute die Pflege- und Betreuungsqualität in den Heimen unter dem Deckmantel der Selbstverwaltung durch die Veränderung der Heimpersonalverordnung drastisch zu senken.
Der Mensch, auch der behinderte und der alte, ist uns lieb und teuer. Doch wenn seine Pflege zu teuer wird, wird er zum Kostenfaktor. Spätestens dann ist er eine Last.
Die Folgen dieser Veränderungen sind: Aushebelung der Schutzfunktion des Heimgesetzes; gravierende Verschlechterung der Qualität der Betreuung, also weg von einer menschenwürdigen Pflege nicht zuletzt jener 26,6 Prozent von Personen, die in die Pflegestufe III eingruppiert sind; Gefährdung von Arbeitsplätzen; Zunahme von 620- bzw. 520-DM-Jobs im Pflegebereich; Ausgrenzung vor allem von Frauen mit einer qualifizierten Ausbildung, wenn sie denn nicht bereit sind, zu Dumpinglöhnen zu arbeiten; Infragestellung des PflegeVersicherungsgesetzes, das ja die Situation pflegebedürftiger Menschen verbessern sollte.
- Wir in Sachsen haben einen Anteil von über 50 Prozent.
- Ich klage ja nicht. Interessant ist aber, daß vor allem die alten Bundesländer darunter liegen.
Treffend charakterisiert der VdK-Präsident, Herr Hirrlinger, den Gehalt des Pflege-Versicherungs-Änderungsgesetzes als „Demontage-Papier, stationäre Pflege ohne Rücksicht auf Verluste zu Lasten der Pflegebedürftigen".
Nun waren der Protest, der regelrechte Aufschrei von Verbänden, Organisationen, Initiativen aus Heimen und Bildungseinrichtungen und das klare Nein aus Bayern so stark, daß das Kabinett erst am 1. April beschließen will. Heute, am Tag der Aktuellen Stunde und am Tag des Protestes „Aktionstag Altenheim" , finden nun die Kompromißverhandlungen statt. Angepeilt aber bleibt das Ziel: still, sauber, satt. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die Veränderung der Heimpersonalverordnung würde dann mit der Aufhebung der Deckelung der Pflegesätze einhergehen.
Im gleichen Zeitraum - seit 1996 - blockieren die Bundesregierung und die Koalition die Anträge des Bundesrates, der Fraktionen und der Gruppe der PDS zu einer bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung, die dann ja wohl nicht mehr gebraucht wird. Die Kosten kann man sparen, wenn die Fachkompetenz nicht mehr gefragt ist. Darum erachten wir es für ganz besonders notwendig, daß das System der Ausbildung in den Altenpflegeberufen neu geordnet wird.
Wir meinen weiter: Nicht der Mensch, sondern der Kostenfaktor ist zur Grundprämisse für den Umgang mit der älteren Generation in Heimen geworden, zumal die meisten Menschen, die in Heimen leben und sich selber nicht mehr wehren können, 80 Jahre und älter sind. Daher sind die Vereine und die Verbände der Altenpflegerinnen und Altenpfleger und die Wohlfahrtsverbände ihre einzige Lobby.
Die PDS erhebt folgende Forderungen an die Regierung, die hier schon mehrfach von anderen gestellt worden sind: Hände weg von der Qualität der Pflege und keine Aushebelung der Heimpersonalverordnung, in welcher Form auch immer. Aufgabe der Bundesregierung muß es doch eigentlich sein - das
Heidemarie Lüth
wird ja beklagt -, Wege aufzuzeigen, wie die Forderungen der Heimpersonalverordnung überall erfüllt werden können, da die festgelegte Quote an Fachkräften von 50 Prozent bei weitem, vor allem in den neuen Bundesländern - Verzeihung, ich meine: in den alten Bundesländern; meist ist es genau umgekehrt, daher der Versprecher - noch nicht erreicht ist.
Obwohl ich es niemandem wünsche, muß ich sagen: Einigen, die sich hier so vehement mit Zwischenrufen äußern, würde ich manchmal wünschen, einen Dekubitus zu haben und von einer nicht ausgebildeten Pflegekraft ständig hin und her gewendet zu werden.
Danke.
Das Wort hat die Bundesministerin Claudia Nolte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir in den letzten Tagen erlebt haben und auch heute wieder hier erleben, ist für mich ein klassisches Beispiel, wie durch Uninformiertheit und durch Halbwahrheiten Unruhe und Stimmung erzeugt werden.
Leidtragende einer solchen Kampagne sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pflegeheimen und die zu Pflegenden nebst ihren Angehörigen, die vollkommen unnötig verunsichert werden.
Es ist entweder Torheit oder Boshaftigkeit, der Bundesregierung zu unterstellen, sie sei für eine Absenkung der Pflegequalität.
Das ist doch horrender Unsinn!
Um was geht es denn eigentlich? Wie ist der Sachverhalt? Sie alle wissen: 1993 ist die Heimpersonalverordnung verabschiedet worden. Es waren die Länder, die eine Fachkraftquote vorgesehen haben. Die Bundesregierung war schon damals skeptisch, ob eine starre Quote überhaupt etwas mit Qualitätssicherung zu tun haben kann. Da schon damals absehbar war, daß man diese Quote nicht in kurzer Zeit würde erreichen können, wurde eine Übergangsfrist vorgesehen, die bis zum 30. September dieses Jahres währt; das heißt, sie läuft bald aus.
Es ist doch Fakt, daß wir diese Fachkraftquote in vielen Heimen nicht bis zum 1. Oktober erreichen werden. Die Schätzungen gehen zwar auseinander; aber alle stimmen darin überein: Es gibt noch eine erhebliche Anzahl an Heimen, deren Fachkraftquote lediglich bei 35 bis 40 Prozent liegt.
Es ist absehbar, daß wir diesen Mangel bis zum 30. September nicht werden beheben können. Davor können wir doch nicht einfach die Augen verschließen und nichts tun; sondern wir müssen reagieren, gerade im Interesse der Heimträger, die eine Rechtssicherheit brauchen und wissen wollen, welche Regelung ab 1. Oktober gilt. Es kann doch niemand wollen, daß die Heimaufsicht Heime schließen muß, weil die Fachkraftquote nicht erfüllt ist.
Es ist ebenfalls wahr, daß sich durch die Einführung der Pflegeversicherung einiges verändert hat. Als die Heimpersonalverordnung eingeführt worden ist, gab es noch keine Pflegeversicherung. Tragendes Prinzip dieser neuen Versicherung ist nun einmal die Selbstverwaltung. Zwei gleichwertige Partner führen miteinander Verhandlungen über die Personalausstattung und die Qualitätssicherung, und zwar auf der Grundlage der konkreten Situation in dem jeweiligen Heim. Auch über die Kosten muß miteinander verhandelt werden.
Deshalb haben wir schon bei der Einführung der Pflegeversicherung innerhalb der Bundesregierung vereinbart, die Heimpersonalverordnung im Lichte der Erfahrungen der Pflegeversicherung zu überprüfen und entsprechend anzupassen. Genau das war der Auslöser dafür, im Rahmen des Auslaufens der Übergangsfrist über einen solchen Vorschlag nachzudenken.
Wir haben einen entsprechenden Vorschlag gemacht, dessen Ziel es ist - ebenso wie im übrigen bei der Krankenversicherung -, das Prinzip der Selbstverwaltung in der Pflegeversicherung ernst zu nehmen, zu stärken und auf die konkrete Situation in dem jeweiligen Heim, für das die Vereinbarung getroffen werden muß, abzustellen. Das heißt, in den Heimen, in denen Versorgungsverträge und Vereinbarungen nach dem Pflege-Versicherungsgesetz oder nach der Sozialhilfegesetzgebung bestehen, soll künftig nicht eine starre Quote entscheidend sein, sondern die Vertragspartner sollen miteinander aushandeln, wie hoch der Fachkräftebedarf ist und welches Zahlenverhältnis zwischen Fachkraft und Nichtfachkraft bestehen soll.
Das hat doch überhaupt nichts mit einem Abbau von Fachkräften zu tun.
Im Gegenteil: Sie müssen doch damit rechnen, in Verhandlungen immer wieder auf die 50-ProzentQuote gestoßen zu werden. Das kann sich auch zu einem Problem entwickeln - gerade dort, wo man mehr Fachkräfte braucht.
Es ist doch nicht wahr, daß allein eine Quote etwas über die Qualität aussagt.
Bundesministerin Claudia Nolte
Wir müssen uns fragen, um was es uns hierbei geht. Es geht uns um das Ordnungsprinzip. Ich frage mich: Warum soll Selbstverantwortung, warum soll Selbstvereinbarung weniger leisten als eine staatliche, starre Quote?
Das hat nichts damit zu tun, daß Qualität vermindert wird. Natürlich geht es uns um Qualität. Aber die Frage ist: Kann eine starre Quote das leisten? Es ist oft zu Recht gesagt worden: In manchen Heimen brauchen wir eine Fachkraftquote von 70 oder 80 Prozent. Es gibt aber auch Heime, in denen eine geringere Quote nötig ist.
Daß 50 Prozent Fachkräfte in einem Heim kein Mindeststandard sein können, zeigt doch die heutige Situation. Wer von Ihnen will ernsthaft behaupten, daß die Heime mit einer Fachkraftquote von 35 und 40 Prozent keine qualitativ gute Pflege leisten? Gegen diese Behauptung werden sich die Heimträger sicherlich zu Recht wehren.
Außerdem muß man doch sagen: Eine starre Quote sagt wenig über die Qualität und eigentlich nichts über die Fachkunde und die Fachkräfte aus.
- Ich habe gerade erklärt, warum es keine Mindestquote sein kann. Wissen Sie, ich erreiche eine niedrigere Fachkraftquote ganz einfach auch dadurch, daß ich unqualifiziertes Personal entlasse. An der Pflegequalität ändert sich dadurch nichts.
Ich habe dann lediglich weniger Personal zur Verfügung. Die Fachkraftquote ist erreicht, aber die Pflege wird nicht verbessert. Das zeigt, wie irrsinnig eine starre Quote ist, die keine Qualitätskriterien beinhaltet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, letztlich müssen wir uns im Sinne der Verantwortung auch der Heimträger für eine Regelung öffnen, die Rechtssicherheit schafft. Mir ist dabei wichtig, daß wir eine Lösung finden, die auf die Akzeptanz aller Beteiligten stößt. Ich halte überhaupt nichts davon, daß wir hier Fronten aufbauen, wo keine Fronten sein dürfen, da uns ja allen an der Pflegequalität gelegen ist. Wir alle sind in unseren Überlegungen gleichermaßen davon getragen, daß wir eine gute Qualität benötigen. Es geht nur um die Frage des Wie, um das Ordnungsprinzip.
Deswegen hatten wir heute vormittag das Gespräch mit den Wohlfahrtsverbänden, die zusammen mit den Berufsverbänden, den kommunalen Spitzenverbänden und den Pflegekassen meiner Einladung gefolgt sind. Es war ein sehr konstruktives, sehr gutes und sehr offenes Gespräch. Natürlich wurde auf Grund des Aufruhrs, der hier produziert worden ist, eine sachlich geführte Diskussion auf der Grundlage unseres Vorschlages sehr schwer gemacht. Aber um
deutlich zu machen, daß es mir darum geht, eine sachgerechte Lösung zu finden und sachlich miteinander zu diskutieren, habe ich heute vormittag den Vorschlag gemacht, die Übergangsregelung um zwei Jahre zu verlängern.
Dann haben wir Ruhe und können die Zeit nutzen - sie muß dann auch genutzt werden -, um die Pflegequalität in den Heimen sicherzustellen, um zum Beispiel auch gemeinsam über Bemessungskriterien für Pflegepersonal zu sprechen, die die Pflegekassen zusammen mit den Heimträgern und den Wohlfahrtsverbänden absprechen sollten, damit es gemeinsame Bewertungsmaßstäbe gibt.
Es gilt, auf dieser Grundlage miteinander zu reden. Wir müssen diese Zeit nutzen, um Heimgesetz und Pflegeversicherung besser aufeinander abzustimmen. Die Wohlfahrtsverbände waren mit diesem Vorgehen sehr einverstanden, auch die anderen am Gespräch Beteiligten. Deshalb habe ich auch die große Hoffnung, daß dies eine gute Grundlage für die Gespräche mit den Ländern ist, damit wir auch dort eine Zustimmung bekommen, um Zeit für eine sachgerechte Debatte im Sinne einer guten Pflegequalität zu gewinnen und um Zeit zu haben, eine feste Grundlage für eine Neuregelung zu finden.
In diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, empfinde ich die ganze Aufregung mehr als unnötig, sogar als schädlich, weil es völlig unnötig Verunsicherung geschaffen hat.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Edith Niehuis, SPD.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin ausgesprochen enttäuscht darüber, wie Sie, Frau Ministerin Nolte, als Bundesseniorenministerin auf die Strategie von Minister Blüm hereingefallen sind. Das muß ich Ihnen wirklich sagen.
Was Sie hier eben verbreitet haben, sagt mir, daß die Empörung der letzten Woche vollkommen angebracht war. Die Fristverlängerung bedeutet nur, daß das Aus des Fachkräfteschlüssels beschlossen ist.
- Ich habe sehr gut gehört, was Ministerin Nolte gesagt hat.
Dr. Edith Niehuis
Ich möchte begründen, warum ich gesagt habe, daß sie Minister Blüm auf den Leim gegangen ist. Wir wissen doch - Frau Lüth hat das eben schon gesagt -, daß nach der Verabschiedung der Pflegeversicherung Minister Blüm von Anfang an die Strategie betrieben hat, mit der Pflegeversicherung die Heimpersonalverordnung auszuhebeln. Frau Lüth hat vollkommen zu Recht einen Brief vom 7. November 1995 zitiert, der aus dem Bundesarbeitsministerium stammt und in dem steht, die Heimpersonalverordnung sei nur ein Kostentreibsatz und mehr nicht. Nun wollen Sie uns heute hier weismachen, Ihnen gehe es um die Qualität stationärer Pflege und Betreuung?
Das ist einfach nicht glaubwürdig.
Was ich Frau Nolte besonders übelnehme, ist, daß sie sehr gut wissen muß, daß der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Mai 1996 eine Anhörung zum Heimgesetz und zur Kurzzeitpflege durchgeführt hat, in der das Thema von heute schon eine große Rolle spielte. Damals hat die Caritas vollkommen zu Recht gesagt - ich zitiere aus der Anhörung -:
Nach unserer Vorstellung von der grundlegenden Bedeutung des Heimgesetzes sollte die Zielrichtung nicht sein, das Heimgesetz an das Pflege-Versicherungsgesetz anzupassen, sondern das Pflege-Versicherungsgesetz dahin zu überprüfen, inwieweit es mit den Anforderungen des Heimgesetzes kompatibel ist.
Genau das wäre der richtige Weg gewesen.
Ich möchte - das hat Frau Nolte vollkommen vergessen - ein wenig auf die Situation in den Altenheimen eingehen. Ich kann mir= nicht denken, daß die Bundesregierung nicht bemerkt hat, daß sich dort einiges getan hat.
Heute müssen zwei Punkte mehr denn je berücksichtigt werden: Erstens. Pflege ist eine hochqualifizierte Tätigkeit, die auch eine entsprechende Ausbildung erfordert. Zweitens. Dies gilt nicht weniger, sondern immer mehr auch für Altenheime.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie nicht gemerkt haben, daß das Netz von ambulanter und teilstationärer Hilfe nach der Einführung der Pflegeversicherung immer besser und breiter geworden ist und daß die Menschen immer mehr dazu übergegangen sind, behinderte und alte Menschen zu Hause zu pflegen.
Dies hat aber eine Folge, Herr Heinrich, nämlich daß der Anteil der Hoch- und Höchstbetagten, der Anteil der Pflegebedürftigen mit schweren körperlichen oder/und psychologischen Erkrankungen in den Heimen ständig wächst. Das ist eine Entwicklung, die eher mehr denn weniger fachliche Kompetenz in den Heimen erfordert.
Darum leuchtet es mir nicht ein - heute nicht und auch nicht in zwei Jahren -, daß gerade jetzt die Situation gekommen sein soll, den Fachkräfteschlüssel der Heimpersonalverordnung zu vernichten; gerade jetzt nicht.
Wenn Sie, Frau Nolte, seitens der Bundesregierung behaupten, die Heimpersonalverordnung sehe eine starre Quote vor, streuen Sie den Menschen Sand in die Augen. Dort ist keine starre Quote vorgeschrieben. Damit Sie wissen, welche Verordnung Sie in Ihrem Hause betreuen, lese ich einmal § 5 Abs. 2 der Heimpersonalverordnung vor. Darin steht, daß ein Abweichen von dieser Quote dann vorzusehen ist, wenn dies für eine fachgerechte Betreuung erforderlich oder ausreichend ist. Dies ist eine flexible und keine starre Quote. Sie behaupten das nur, um diese Quote zu vernichten.
Die Vorlage, die in Ihrem Hause, Frau Nolte, erarbeitet wurde, war eine Vorlage, die schlichtweg das Aus der Quote vorgesehen und dann als Auffanglösung im Heimgesetz folgende Regelung vorgesehen hat: Wenn trotzdem Mängel auftreten, muß die Heimaufsicht notfalls auch für mehr Personal in den Heimen sorgen. Sie wollen sehenden Auges in Kauf nehmen, daß in den Heimen, in der Pflege zunächst Mängel entstehen, und wollen diese Mängel dann nach einer zeitlichen Verzögerung eventuell beseitigen. Das ist keine gute Altenpolitik.
Sie müssen bei Ihrem Hinweis auf die Selbstverwaltung auch sehen, daß die Heimträger, die mit den Pflegekassen verhandeln, jetzt einem ungeheuren Druck ausgesetzt sein werden, insbesondere die Heimträger, die bisher die Fachquote eingehalten haben. Ihnen wird man von jetzt an sagen, daß sie billiger, daß sie mit unqualifiziertem Personal arbeiten müssen.
- Dann gehen Sie doch einmal in die Verhandlungen. Es läuft doch heute schon so. Es wird künftig noch viel häufiger so laufen. Wo sind Sie denn bei den Verhandlungen? Dann machen Sie doch mit!
- Dann sehen Sie doch einmal, was heute abläuft.
Achten Sie bitte auf die Zeit.
Ja. - Ich will Ihnen eines sagen: In der „FAZ" stand im letzten Jahr ein Artikel mit dem Titel: „Wenn ein Blick in die Augen zum Luxus wird" . Den ersten Absatz dieses Artikels will ich Ihnen vorlesen, weil ich hoffe, daß das nie die nationale Normalsituation wird.
Frau Kollegin, das kann ich nicht akzeptieren. Sie sind eine Minute und 20 Sekunden über der Zeit. Das ist zuviel.
Diesen einen Satz noch.
Einen Satz gebe ich Ihnen noch, und dann ist Schluß.
Es ist nur ein Satz, mein Schlußsatz, aus einem „FAZ"-Artikel vom letzten Jahr:
Die 87 Jahre alte Frau muß schon lange in ihrem Erbrochenen gelegen haben. Um Hilfe rief sie nicht. Starke Medikamente hatten sie in einen Dämmerzustand versetzt, Gurte schränkten sie in ihren Bewegungen ein.
Dies darf nicht die Normalsituation in unseren Heimen werden!
Das Wort hat der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand in diesem Deutschen Bundestag und auch niemand in der Bundesregierung will, daß in unseren Heimen die notwendige fachpflegerische und menschliche Kompetenz verlorengeht. Niemand! Auch deswegen halte ich es für unmöglich, daß hier Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition auftreten und ausgerechnet Norbert Blüm, dem Vater der Pflegeversicherung, vorhalten, er wolle, daß in den Pflegeheimen nicht mehr richtig gepflegt werde. Das weise ich ausdrücklich zurück.
Der Fall, der soeben von meiner Vorrednerin geschildert worden ist, ist ein typischer Fall mangelnder menschlicher Kompetenz. Zu merken, daß jemand in Erbrochenem liegt, ist keine Frage, die durch eine Fachpflegekraft geklärt werden muß; vielmehr kann
das jedermann machen. Es wäre richtig gewesen, wenn irgend jemand vorbeigekommen wäre.
Hier wird mit einem völlig falschen Beispiel Stimmung gemacht.
Es wird überhaupt nicht der Versuch unternommen, das zu tun, was die Bundesregierung hier in Angriff genommen hat, nämlich für eine differenzierte Aufgabe eine differenzierte Lösung zu finden. Wir sagen nicht, daß es mindestens 50 Prozent sein müssen, sondern sagen, daß es von der jeweiligen Einrichtung abhängt und daß die Einrichtung zusammen mit der Pflegekasse entscheidet, welche fachliche Kompetenz man in dem entsprechenden Heim braucht.
Ich kann mich nur wundern, daß gerade die Kolleginnen und Kollegen von der SPD ihren Mitgliedern in der Selbstverwaltung so wenig menschliche und fachliche Kompetenz zutrauen, diese Aufgabe vor Ort lösen zu können.
Wir haben Pflegesatzverhandlungen im Bereich der Krankenpflege, der Nachsorgekrankenhäuser. Dort hat noch niemand eine Quote eingefordert; vielmehr wissen die Krankenkassen und die Anbieter vor Ort ganz genau, was sie den Menschen schuldig sind, denen sie die Leistung anbieten. Dies wird mit hoher Verantwortung und hohem Verantwortungsbewußtsein gemacht. Warum soll dies nicht auch bei der Pflege passieren? Ich hätte da überhaupt keine Bedenken.
Ich möchte noch eines ansprechen: Ich bitte Sie von der Opposition herzlich, sich in Ihren Aussagen zu mäßigen,
um etwas nicht zu machen, was aus Ihren Worten eigentlich deutlich herausgehört werden muß. Wollen Sie etwa behaupten, daß in all den Pflegeheimen, in denen die Quote von 50 Prozent Fachpersonal nicht erreicht ist, die Qualität so schlecht ist, daß man dort möglichst niemanden mehr hinschickt? Die Pflegeheime, die noch keine 50 Prozent erreicht haben, leisten doch eine qualifizierte Arbeit.
Wir von der Regierungskoalition lassen auf keinen Fall zu, daß diejenigen Frauen und Männer, die keine fachliche Ausbildung haben und jetzt den 35 Prozent Fachleuten helfen, eine qualifizierte Pflege zu machen, hier beschimpft und diffamiert werden.
Volker Kauder
Wenn Sie sagen, ohne 50 Prozent Fachquote erreichen wir nicht die notwendige Qualität, dann bescheinigen Sie jetzt den Heimen, die diese nicht haben, daß dort die notwendige Qualität nicht erreicht ist.
- Wahrheiten werden auch dann Wahrheiten bleiben, wenn der Kollege Andres es gerne anders sehen würde. Ich nehme Sie, Herr Kollege Andres, gern einmal in eine Veranstaltung wie diejenige mit, die ich vor wenigen Tagen durchgeführt habe. Dort waren Leute, die seit 25 Jahren als Nichtfachkraft in Pflegeheimen arbeiten und die mir gesagt haben: Herr Kauder, sollen wir jetzt, wenn diese Verordnung am 1. Oktober in Kraft tritt, aus den Heimen herausgetrieben werden? Sollen wir arbeitslos werden? Wir leisten seit 25 Jahren unsere Arbeit und werden jetzt so hingestellt, als wenn wir bisher überhaupt keinen Beitrag erbracht hätten!
Sie liegen völlig falsch. In Ihrem Eifer, nach Wahlkampfthemen zu suchen, haben Sie sich ein falsches Feld - auf dem Rücken von alten Menschen und vor allem von Frauen, die ohne eine qualifizierte Ausbildung eine qualifizierte Arbeit leisten - ausgesucht.
Wir wollen, daß vor Ort von den Trägern der Einrichtungen und von den Pflegekassen, von den Heimbeiräten, die es auch dort gibt, festgestellt wird, welche fachliche und menschliche Kompetenz in welchem Verhältnis benötigt wird. Das ist der beste Weg zu einer richtigen Pflege in unseren Heimen. Die Bundesregierung ist hier auf dem richtigen Weg. Herr Minister Blüm, ich lasse nicht zu, daß Sie in dieser Frage so unqualifiziert, wie dies geschehen ist, angegriffen werden.
Das Wort hat die Kollegin Christa Lörcher, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kauder, ich habe in unserer Region eine Umfrage in Heimen zur Fachkraftquote durchgeführt. In dieser Umfrage war auch Ihr Kreis dabei. Die Fachkraftquote lag zwischen 20 und 60 Prozent. Ich möchte Ihnen gern sagen, wie viele Klagen ich aus Heimen von Betroffenen, von Angehörigen und vor allen Dingen von Pflegekräften bekomme. Sie hören das vielleicht nicht, aber so ist es. Wir haben gute Pflege, aber wir haben auch Pflege, die wirklich besser sein könnte.
Ich möchte jetzt ein paar Informationen zum Thema geben. Es gab bei uns einmal einen Pflegeschlüssel von 1 : 2,37 in den stationären Einrichtungen für alte und pflegebedürftige Menschen. Was bedeutet das? 1:2,37 meint: Auf einer Station mit 24 pflegebedürftigen Bewohnerinnen und Bewohnern sind 10 Pflegekräfte beschäftigt, wenn alle Stellen besetzt sind. Das klingt gut, aber was bedeutet das für den Alltag auf dieser Station?
Eine Schwester ist im Nachtdienst, eine im Urlaub, eine ist krank, eine auf Fortbildung. Das bedeutet, die restlichen sechs verteilen sich auf zwei Schichten, drei in der Frühschicht und drei in der Spätschicht.
Wenn das Haus vorbildlich ist, Herr Kauder, dann ist vielleicht in der Früh- und in der Nachtschicht eine Fachkraft dabei, und wenn es ganz gut ist, sind zwei Fachkräfte dabei, die sich um 24 pflegebedürftige ältere Menschen kümmern, jeder, jede mit gesundheitlichen Problemen, mit psychischen oder sozialen Schwierigkeiten, mit Diabetes, Herzinsuffizienz, Parkinson, mit Depressionen oder an einer Demenz leidend.
Dazu sagt der für die Pflegeversicherung zuständige Minister: Überlassen wir es doch den Heimen, den Trägern, den Verhandlungen mit den Pflegekassen, wie viele Menschen in der Pflege beschäftigt sein sollen und wie viele von ihnen eine qualifizierte Ausbildung haben sollen. Ich erinnere mich gut an die Worte von Ihnen, Herr Blüm, die in diesem Haus gefallen sind: „20 Prozent tun's auch. Zum ,Füttern' ' " - ich sage das in Anführungszeichen, wir würden das in der Pflege nie sagen - „eines alten Menschen braucht man keine acht Semester Psychologie, sondern ein großes Herz und eine ruhige Hand. " - Das, Herr Minister, zeugt nicht von großer Sachkenntnis der Situation in der Pflege.
Eine Längsschnittstudie in Mannheim über zehn Jahre hinweg zeigt, daß sich das Heimeintrittsalter in dieser Zeit um zwei Jahre erhöhte und die Dauer des Heimaufenthalts durchschnittlich etwa drei Monate länger wurde. Alle, die sich mit Alter und Pflege beschäftigen, wissen: Mit zunehmendem Alter wächst die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, und das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Viele der in Heimen lebenden älteren Menschen leiden nicht nur an einer, sondern an mehreren Krankheiten. Fachleute nennen das Multimorbidität.
Was muß eine Fachkraft lernen, um für die Pflege und Betreuung dieser Menschen - Frauen und Männer mit ganz unterschiedlicher Lebensgeschichte, mit verschiedenen Krankheiten, aber auch ganz verschiedenen Fähigkeiten - gut vorbereitet zu sein?
In 16 Bundesländern - das wurde bereits gesagt - haben wir 16 verschiedene Altenpflegeausbildungen mit unterschiedlichen Ausbildungszielen, Zugangsvoraussetzungen, Dauer, Schwerpunkten, Prüfungen und verschiedenen Ansprüchen auf Ausbildungsver-
Christa Lörcher
gütung. Seit Jahren ist eine bundeseinheitliche Regelung überfällig. Die Ministerin, die sich gerade gut unterhält,
hat am Anfang dieser Legislaturperiode versprochen; es war im „Spiegel" im letzten Sommer nachzulesen. Erreicht hat Frau Nolte nichts - sie braucht offensichtlich nicht zuzuhören -, weil die bayerische Regierung es nicht will.
Dabei hat eine Anhörung im November 1996 die Dringlichkeit einer bundeseinheitlichen qualifizierten Altenpflegeausbildung noch betont. Ich weiß nicht, ob sie dabei war. Der Vertreter aus Bayern war der einzige bei der Anhörung, der es anders sah, und Frau Nolte kann sich leider nicht gegen ihn durchsetzen.
Es gibt einen Entwurf des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur bundeseinheitlichen Regelung der Altenpflegeausbildung,
es gibt einen Gesetzentwurf aus Hessen, der den Bundesrat passiert hat, und es gibt Anträge von Bündnis 90/Die Grünen, von der PDS und von uns aus der SPD. Was tun die Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend? Mit einer Kampfabstimmung gestern morgen haben sie verhindert, daß der Tagesordnungspunkt „Altenpflegeausbildung" in unserem Ausschuß überhaupt diskutiert werden konnte.
Ein jämmerliches Bild von Unfähigkeit, von fehlendem Mut zu Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen mit einem Bundesland, das Scheuklappen trägt gegenüber Regelungen, die über die eigenen Grenzen hinausreichen könnten, ein erbärmliches Bild den Pflegebedürftigen und denjenigen gegenüber, die eine qualifizierte Ausbildung, mit Blick auf die Mobilität in Europa auch mit europäischen Standards, machen wollen!
Trotz unterschiedlicher Regelungen ist eine Ausbildung besser als keine, drei Jahre sind besser als zwei, zwei besser als eines, und eine einjährige Helferausbildung ist vernünftiger als gar keine Ausbildung.
Aber nur eine volle Ausbildung in Krankenpflege oder Altenpflege ermöglicht eigenverantwortliches pflegerisches Handeln, hilft, Ressourcen bei alten Menschen zu entdecken und zu fördern, ermöglicht qualifizierte Gespräche mit Angehörigen und mit dem therapeutischen Team und bereitet auf die laufend umfangreicher werdenden Aufgaben bei Pflegedokumentation und -management vor.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Uhr.
Ja. - Die Zunahme der Zahl der Älteren über 65 in den nächsten Jahren von etwa 13 auf 20 Millionen Menschen - das ist bekannt - wird eine entsprechende Zunahme der Zahl der im Gesundheitswesen Beschäftigten zur Folge haben. Für diese Menschen wollen wir eine qualifizierte Ausbildung. Für sie müssen wir bessere Voraussetzungen und Rahmenbedingungen schaffen.
Frau Kollegin, nur noch einen Satz, bitte.
Kein Unternehmer würde auf die Idee kommen, an einer teuren CNC-Maschine einen Beschäftigten arbeiten zu lassen, der nichts davon versteht. Ein Mensch ist komplexer als jede Maschine;
ein Mensch hat Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, die Möglichkeit zur Kommunikation.
Um damit umgehen zu können, brauchen wir mehr Kenntnisse und Fähigkeiten als für den Umgang mit jeder technischen Innovation.
Ich bitte Sie, das bei den kommenden Entscheidungen zu bedenken.
Das Wort hat Herr Bundesminister Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lasse mich in der Sorge für die Pflegebedürftigen von niemandem hier im Saal übertreffen.
Es geht aber gar nicht darum, daß die einen für eine qualitativ befriedigende Pflege und die anderen dagegen sind. Liebe Frau Mascher, wir haben in den Pflegeheimen Pflegebedürftige mit ganz unterschiedlichem Hilfebedarf: Wir haben Schwerstpflegebedürftige, Schwerpflegebedürftige und leichter Pflegebedürftige; erheblich Pflegebedürftige nennen wir sie. Diese drei Gruppen sind über die Pflegeheime in Deutschland nicht gleichmäßig verteilt. In einem Heim gibt es sehr viel Schwerstpflegebedürftige, in einem anderen mehr Pflegebedürftige mit weniger Pflegebedarf.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Erklären Sie mir bitte einmal, was das Schema F - Sie wollen nämlich das Schema F: 50 Prozent - mit Qualitätssicherung zu tun hat.
Ich bin der Meinung, es gibt Heime, die 80 oder 90 Prozent Fachkräfte brauchen werden. Es wird auch Heime geben, die mit 20 Prozent zurechtkommen. Sie aber wollen das Schema F.
Sie sagen, das sei eine Mindestausstattung. Was hilft einem Pflegeheim, das Schwerstpflegebedürftige hat, eine Mindestquote von 50 Prozent, wenn es 90 Prozent Pflegekräfte braucht?
Wir streiten eigentlich nur darum, wie wir Qualität sichern. Da bin ich gegen schematische, bürokratische Lösungen, weil sie den Menschen nicht gerecht werden.
Fachkraftquote: Das ist ein relativ bürokratisches Herangehen. Frau Nolte hat schon gesagt: Stellen wir uns einmal ein Heim mit zehn Pflegekräften vor, in dem vier Fachkräfte und sechs Helfer sind. Wenn die Verordnung käme, könnte das Heim die Fachkraftquote dadurch erreichen, daß es zwei Heller entläßt; dann hätten sie eine Quote von 50 Prozent. Man bräuchte noch nicht einmal zu entlassen. Man könnte Arbeiten, für die man kein pflegerisches Fachpersonal braucht, zum Beispiel in der Küche oder in der Wäscherei, einfach auslagern.
Sehen Sie nicht, daß eine Quote über die Intensität der Pflege gar nichts aussagt?
Darum aber geht es doch; es geht doch um Zuwendung.
Wenn es so ist, wie Sie sagen, daß die Quote Qualität sichert: Warum haben Sie dies dann, Frau Mascher, in den Krankenhäusern mit Zustimmung der Länder abgeschafft? In Krankenhäusern gibt es keine Fachkraftquoten, noch nicht einmal für die Intensivstation - trotzdem werden da natürlich Fachkräfte gebraucht -,
weil der Bedarf eben unterschiedlich ist. Eine Universitätsklinik hat einen anderen Bedarf als ein Kreiskrankenhaus.
- Es geht um Menschen. Wollen Sie sagen, im Krankenhaus ginge es nicht um Menschen?
Es geht um Menschen, im Krankenhaus und im Pflegeheim. Sie wollen die Frage der Menschlichkeit durch eine starre Quote regeln, während ich sage: Fachkräfte sind um so mehr dort nötig, wo sie gebraucht werden. 90 Prozent - ich sehe doch, daß teilweise ein hoher Bedarf an Fachkräften besteht.
Wenn Sie mich fragen, wo das eigentliche Problem liegt, dann antworte ich, es liegt, so meine ich, eher darin, daß wir zuwenig Personal, zuwenig Pflegekräfte haben.
Sie haben gesagt: Ein Mensch hat Gefühle. Wollen Sie sagen, nur eine Fachkraft könne auf Gefühle eingehen? Ich muß einmal alle in Schutz nehmen, die in Pflegeheimen arbeiten,
die ein großes Herz und möglicherweise kein Diplom haben. Was ist das eigentlich für eine Welt, in der die Mitmenschlichkeit von Diplomen abhängig gemacht wird? In welcher Welt leben Sie eigentlich?
- An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig. Ich will jetzt nicht an die Pflegeheime der DDR erinnern.
Wen ich auch noch in Schutz nehmen muß, das ist die Pflegeversicherung. Sie ist doch auch der Anwalt der Pflegebedürftigen. In der Selbstverwaltung sitzen übrigens Gewerkschaften. Wollen Sie sie alle unter den Verdacht stellen, sie wären an der Qualität nicht interessiert? Wollen Sie das wirklich tun? Da gibt es einen Sozialmedizinischen Dienst; er kann im Streitfall helfen. Darin sind Mediziner und Pflegekräfte. Da gibt es eine Schiedsstelle.
Im übrigen: Die Pflegekasse hat gar keine finanziellen Interessen daran; denn sie zahlt für jeden 2000, 2500, 2800 DM. Sie verdient an diesen Verhandlungen nicht. - Sie ist aber auch Anwalt der Versicherten und der Pflegebedürftigen, wenn sie über Heimentgelte verhandelt. Je höher nämlich das Heimentgelt ist, um so mehr muß der einzelne hinzuzahlen. Sie ist doch auch Anwalt der Pflegebedürftigen!
Frau Mascher, Sie werden das Pflegeheim kennen, wo mehrere Pflegepersonen „ausgetrocknet" sind. Da hätte eine Fachkraft gereicht. Das hat mit 50 Prozent Fachkräften überhaupt nichts zu tun. Es hat damit zu tun, welcher Geist in dem Heim herrscht, möglicherweise auch mit der Überlastung von Pflegekräften.
Ich stimme Ihnen in einem zu: Ich bin für eine Aufwertung des Pflegeberufes als eines hochqualifizierten Berufs, vielleicht auch abgestuft.
Ich kämpfe seit Jahren dafür; ich werde das auch weiterhin tun. Ich wehre mich aber dagegen, alles nur von Diplomen und Quoten abhängig zu machen. Ich glaube, daß es viel wichtiger ist, den Beruf aufzuwerten.
Wir haben in den Ländern 17 Altenpflegeberufe; Hamburg hat sogar zwei. Es macht doch keinen
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Sinn: eine bundesweit einheitliche Quote, aber unterschiedliche Definitionen in den Ländern?
Eines will ich hier nur einmal klarstellen, denn so werden wir die Diskussion hoffentlich nicht führen. Da lese ich von dem Geschäftsführer der Rheinischen Gesellschaft für Innere Mission, unser Vorschlag - eine differenzierte Lösung und keine Lösung nach Schema F - sei eine moderne Form von Euthanasie.
Das sollten wir gemeinsam zurückweisen, und zwar nicht meinetwegen.
Unsere Diskussion löst in den Heimen eine ungeheure Angst aus. Hier wird der Eindruck erweckt, als wären wir für - wie haben Sie gesagt? - das Motto „Satt, sauber! " , als ginge das alles nicht mehr mit Herz. Das sind hilflose Menschen. Und „Euthanasie": Eine solche Debatte habe ich schon einmal bei der Gesundheitsreform gehabt. Da hat die Pharmaindustrie gesagt: Keine Medikamente mehr für Krebskranke! - Hört auf, politische Diskussionen mit der Angst um den Tod zu führen!
Stimmen wir darin überein!
Ich werbe dafür, die Diskussion behutsam zu führen. Der Unterschied besteht lediglich darin: Soll es eine flächendeckende Schema-F-Quote für Fachkräfte geben - bei höchst unterschiedlichen Heimen, mit hohem Pflegebedarf, weil schwerstpflegebedürftig, mit niedrigem Pflegebedarf, weil weniger pflegebedürftig? Ich werbe sehr dafür, auch das gute Herz der Menschen und den guten Willen der Menschen in den Heimen zu sehen, die kein Diplom haben und doch Menschen helfen wollen. Auch die Frauen, die nach der Erziehungsphase ins Berufsleben zurückkehren, werden nicht alle Examen machen.
Trotzdem brauchen wir sie.
Keiner hier sagt, es gebe vernünftige Pflege ohne hochqualifiziertes Personal. Aber, so frage ich Sie, wer soll darüber entscheiden? Ich glaube, eine Verhandlungslösung - eine differenzierte Lösung, selbst eine mit Schiedsstellen - ist besser als eine SchemaF-Regelung. Deshalb: Hören Sie auf, Angst zu machen! Wir wollen eine befriedigende, qualitativ hochwertige Pflege. Wir wollen den Pflegeberuf aufwerten, weil es, so glaube ich, einer der schönsten und wichtigsten Berufe ist, Menschen zu dienen. Darin stimmen wir völlig überein.
Nur, ich teile nicht die Ansicht, Bürokratie bedeute in jedem Fall Sicherung von Humanität. Den Glauben habe ich nicht.
Ich glaube vielmehr, man muß den guten Willen der Beteiligten mobilisieren. Die Pflegeversicherung hat es nicht verdient, in den Verdacht zu geraten, mit ihr wolle man die Qualität der Pflege drücken.
- Soll ich es Ihnen noch einmal ganz ruhig erklären? Für die Pflegeversicherung bringt das doch gar nichts.
Sie zahlt einen Zuschuß ans Heim, ohne Rücksicht darauf, welche Entgelte das Heim hat.
Ich bin durchaus für eine Übergangsregelung. Es gibt nämlich noch mehr offene Fragen in dem Bereich. Laßt uns sachlich, ruhig und ohne Emotionen - schon gar ohne den Versuch, hier Wahlkampf zu betreiben - eine befriedigende Lösung im Sinne der Humanität suchen und finden!
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Hermann Haack, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Blüm, Sie haben hier die entsprechende Verordnung für die Krankenhäuser zitiert, die Krankenhauspersonalverordnung. Ich muß Ihnen ein bißchen aufhelfen, damit Sie begreifen, daß dies der Weg wäre, mit dem man dieses Problem sachgerecht lösen könnte.
Wir hatten verabredet, die Personalausstattung der Krankenhäuser mit Fachkräften in vier Stufen zu regeln: Stufe 1 - realisiert. Stufe 2 - realisiert. Stufe 3 - realisiert. Aufwuchs an Fachpersonal in den deutschen Krankenhäusern: 20 000. Die Stufe 4 ist nicht realisiert worden, weil die Fachleute, die dies wissenschaftlich begleitet haben, zu dem Ergebnis kamen, der Aufwuchs an Fachpersonal sei ausreichend.
Genau dies wäre auch für die Realisierung der Fachkraftquote von 50 Prozent in unseren Einrichtungen der richtige Weg. Das Problem, das Sie hier beklagen - was die Opposition hierzu vertritt, sei Brunnenvergiftung -, hat seine Ursache eigentlich bei Ihnen selbst.
Sie haben diesen Vertrauensbruch doch in einer Nacht-und-Nebel-Aktion provoziert.
Ich will, da ich mir immer alles aufschreibe, im Datenkranz der Beratungen bleiben: Im Zuge der Um-
Karl Hermann Haack
setzung der Pflegeversicherung haben wir dieses Thema immer mit diskutiert. Demnächst, so wurde da gesagt, gibt es eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung; die jeweiligen Länder stellen die Ausbildungskapazitäten bereit; für den Bereich der Umschulung werden Mittel aus der Bundesanstalt für Arbeit bereitgestellt. Das war die große Linie.
Wir konnten immer davon ausgehen, daß die Quote von 50 Prozent Fachpersonal Sinn macht, auch deswegen, weil die gemeinsame Selbstverwaltung in zunehmendem Maße versagt, wie man im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung nachvollziehen kann, und weil wir zunehmend darauf angewiesen sind, die Rahmenbedingungen selbst zu setzen, wenn wir unsere politische Verantwortung wahrnehmen wollen.
In der Sitzung des Arbeits- und Sozialausschusses am 4. März ist der Pflegebericht vorgestellt worden. Es ist gesagt worden, wie die Lage zur Zeit ist. Zu der Frage der Veränderung der Fachkraftquote und der Frage der Heimpersonalverordnung ist kein Ton gesagt worden. Man hat aber den Kollegen Fuchtel dazu bewegt, exakt dies in einer schriftlichen Frage an die Bundesregierung zum Thema zu machen. In der sitzungsfreien Woche vom 9. März lag die Antwort vor. Das ist in der Drucksache 13/10121 nachzulesen. Dort steht genau das, was Sie uns hier erzählen, nämlich warum die Fachkraftquote geändert werden muß. Statt den zuständigen Ausschuß bei der Vorstellung des Pflegeberichts über das zu informieren, was bei der Pflegeversicherung beabsichtigt ist, statt die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen im Vorfeld über das, was geplant ist, zu unterrichten, machen Sie eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Dieser Vertrauensbruch Nummer drei macht die Umsetzung der Bestimmungen über die Pflegeversicherung in unserem Land so schwierig.
Den ersten Vertrauensbruch, den Sie begangen haben, hat der Kollege Waigel zu verantworten. Als er nämlich die Schuldenquote senken mußte, weil er die Maastrichter Kriterien einhalten wollte, versuchte er, nach den Überschüssen der Pflegekasse zu greifen.
Wir haben dann einen öffentlichen Aufschrei organisiert; daraufhin hat Herr Waigel seinen Finger zurückgezogen, wie seinerzeit auch im Falle des Goldes der Deutschen Bundesbank. Der zweite Vertrauensbruch ereignete sich, als die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen zu uns gekommen sind und uns vorgetragen haben, was alles geändert werden müßte - Stichwort: Demente. Da ging es um ein Mehr an Betreuung. Wir haben ihnen gesagt: Wartet doch den Pflegebericht ab; wir werden auf der Grundlage des Pflegeberichtes Änderungen vorschlagen. Wir haben bei den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden dafür geworben, daß wir nur ein kleines Paket in einem Umfang von 260 Millionen DM machen. Dabei konnte es
sich nur um das Notwendigste handeln. Das ist dann an der F.D.P. gescheitert. Daraufhin haben uns die Wohlfahrtsverbände gefragt, welchen Wert ein Gespräch zwischen der Politik und den Verbänden überhaupt noch hat, wenn anschließend in einer solchen Weise verfahren wird.
Es wäre richtiger gewesen, dann, wenn Sie die Absenkung der Fachkraftquote planen - wir haben vor Jahren schon einmal darüber diskutiert, ob es richtig ist -, bei der Vorstellung des Pflegeberichts zu sagen: Hier gibt es noch Klärungsbedarf; wir müssen mit den Verbänden reden, wenn das WIDO-Gutachten vorliegt. Dieses WIDO-Gutachten liegt vor. Man hätte sagen müssen: Bei Vorlage dieses Gutachtens machen wir im zuständigen Ausschuß eine Anhörung. Dann werden wir auf der Grundlage dieser Anhoning entscheiden, wie weiter verfahren werden soll. Das wäre der normale Gang der Dinge gewesen. Dies haben Sie nicht getan. Vielmehr versinkt der Erfolg der Pflegeversicherung in zunehmendem Maße im Sumpf der Götterdämmerung der Koalition.
Das Wort hat die Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was wir gerade zum Schluß gehört haben, klingt wie ein Witz.
Denn ich glaube, es war eine enorme Leistung dieser Regierung und von Minister Norbert Blüm, diese Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen.
Wie Sie dem Bericht entnehmen können, ist es ein Bombenerfolg. Daß Sie uns diesen Erfolg nicht gönnen, kann ich verstehen. Ich kann auch verstehen, daß Sie damit schlecht umgehen.
Sie reden jetzt dauernd von 50 Prozent. Wenn Sie sich die Quote anschauen, dann werden Sie feststellen, daß diese Quote von den SPD-regierten Ländern noch lange nicht erreicht wird.
Baden-Württemberg und Bayern haben sie erfüllt.
Herr Minister Blüm, ich habe natürlich auch Verständnis dafür, daß die Verbände, vor allem aber die Heimträger etwas hellhörig waren und sich Sorgen gemacht haben. Ich erinnere mich noch an das Pflegestandardmodell, das ja für sehr viel Unruhe gesorgt hat und das, wenn man es umgesetzt hätte, zu
Erika Reinhardt
einer erheblichen Absenkung geführt hätte, vor allem in Baden-Württemberg und Bayern. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich damals dafür eingesetzt haben, daß dieses Modell so nicht umgesetzt wurde.
Aber über was wir heute sprechen, ist - da sind wir uns einig -, daß wir den Pflegestandard erhalten müssen. Dies ist im Pflegegesetz auch so festgehalten. Bei allen Diskussionen ist es uns wichtig, daß wir die nicht vergessen, die in der Pflege sind und unsere Hilfe brauchen.
Es ärgert und stört mich schon sehr, wenn Sie sich hier hinstellen und so tun, als wären nur die rechtlichen Fachkräfte - es sind ja nur rechtlich sogenannte Fachkräfte - gute Kräfte,
während diejenigen, die schon zehn Jahre zu Hause oder auch in einem Altenheim pflegen, so hingestellt werden, als wären sie keine Fachkräfte. Hier muß man unterscheiden.
Deshalb ist es richtig, wenn wir hier nicht in ein Schema verfallen, sondern eine Lösung finden, die die Qualität sichert.
Ich lege großen Wert darauf,
daß wir die Qualität in unseren Heimen sichern. Aber es muß auch Möglichkeiten geben, das Ganze flexibel zu gestalten.
Das Wort hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann nur hoffen, daß viele betroffene Menschen heute dieser Diskussion zugehört haben und sich ihr Urteil bilden.
Durch Handauflegen, meine Damen und Herren, ist dieses Problem nicht zu lösen.
Vor gerade einmal - ich glaube - drei Monaten hat der Arbeitsminister, Herr Blüm, der Öffentlichkeit eine erste Bilanz der Pflegeversicherung vorgestellt.
Sie haben dabei die Einführung der neuen Sozialversicherung als erfolgreiche Punktlandung gefeiert und freudestrahlend betont, daß die Pflegebedürftigen nun gut versorgt sind und sich - zumindest der Umfrage zufolge - auch gut versorgt fühlen. Ihr Fazit war, die Pflegeversicherung sei ein voller Erfolg.
Diese Erfolgsmelodie, Herr Minister, wurde aber bereits damals von erheblichen Mißtönen begleitet. Ich nenne nur die Debatte um die Unzulänglichkeiten bei der Abgrenzung der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung bei behinderten Menschen in Behindertenheimen, die zu großen Unruhen geführt hat. Ich nenne nur das Debakel in Ihrer Koalition bei den bereits fest verabredeten Verbesserungen bei Leistungen wie der Urlaubs- und Nachtpflege. Diese wichtigen Nachbesserungen sind ja bekanntlich an koalitionsinternen Grabenkämpfen gescheitert, meine Damen und Herren.
Schon diese Punkte machen deutlich: Die Bundesregierung ist zwar bemüht, ihren Stolz über das Kind Pflegeversicherung zu zeigen. Die auftretenden Kinderkrankheiten und die richtige Entwicklung dieses Kindes liegen Ihnen aber anscheinend viel weniger am Herzen. Herr Minister, man könnte Sie, der Sie - wir haben es ja gerade gehört - als Vater der Pflegeversicherung bezeichnet werden, mit einiger Berechtigung auch zum Rabenvater der Pflegeversicherung ernennen.
Frau Nolte, Ihnen will ich sagen: Man hat Sie in dieser Frage bisher immer noch im Tal der Ahnungslosen gelassen oder man hat Sie schlecht beraten. Das wird auch wieder in der aktuellen Diskussion um die Heimpersonalverordnung deutlich.
- Doch, wir haben zugehört. Ich habe gut zugehört, was sie gesagt hat.
Eines, meine Damen und Herren, muß doch unumwunden zugegeben werden: Je weniger Fachkräfte sich in den Pflegeheimen um die Pflegebedürftigen kümmern, desto schlechter ist auch die Qualität der Pflege. Hoffentlich sind wir in diesem Punkt wenigstens einig.
Wenn sich nun aber in der Praxis zeigt, daß die angestrebte Fachquote nicht erreicht werden kann, dann kann man als Gesetzgeber doch nicht hingehen und diese Verordnung einfach außer Kraft. setzen. Heben wir denn die Schulpflicht auf, weil sich nicht alle Eltern daran halten?
Oder wird die Gurtpflicht abgeschafft, weil sich einige Autofahrer nicht anschnallen? Bezüglich der Pflegeversicherung scheint Ihnen eine solche Art der Politik jedenfalls sehr angebracht zu sein.
Eine Aufhebung der Fachkraftquote würde einen Teufelskreis in Gang setzen, an dessen Ende eine unwürdige Schmalspurpflege stehen würde, meine Damen und Herren. Wer oder was spricht denn dage-
Regina Schmidt-Zadel
gen, einem Heim zu sagen: In fünf Jahren müssen 50 Prozent erreicht sein? Ihr habt jetzt 30 Prozent, also wird in jedem Jahr 5 Prozent Fachpersonal zugelegt. Eine solche Stufenregelung könnte dann in den Pflegesatzverhandlungen mit den Heimen verbindlich festgelegt werden und würde die Verlängerung der Ausnahmeregelung für alle akzeptabel und das Erreichen der Quote für alle Einrichtungen kalkulierbar machen.
Meine Damen und Herren, es gibt noch eine ganze Reihe von Argumenten, die für die Fachkraftquote sprechen: zum Beispiel die Tatsache, daß die Altenpflege einer der wenigen Bereiche ist, in denen die Arbeitsämter noch Arbeitsplätze vermitteln können,
oder die Tatsache, daß eine qualifizierte Fachpflege in den Pflegeeinrichtungen die Verweildauer in den Krankenhäusern verringern und damit auch die Kosten für die GKV spürbar entlasten würde. Das wäre doch ein Signal gewesen. Ich hätte mich gefreut, wenn der Herr Bundesgesundheitsminister heute etwas zu diesem Thema gesagt hätte und nicht nur im Hintergrund die Fäden zöge.
Mein Appell an Sie alle: Wir haben die Pflegeversicherung gemeinsam gewollt und eingeführt; wir müssen auch gemeinsam dafür sorgen, daß diese Versicherung im Sinne der pflegenden und der zu pflegenden Menschen angewendet wird.
Eine hochwertige Pflege mit ausreichend Fachpersonal muß unser zentrales Anliegen sein. Ich kann all denen, die jetzt Angst haben, daß ihre Pflege nicht mehr gewährleistet ist, versichern: Wir lassen das nicht zu und werden ab Oktober ohnehin andere Maßstäbe setzen. Auch das ist im Sinne der Humanität, Herr Minister.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst hat diese Debatte eindeutig die Behauptung, hier würde mit der Abrißbirne gegen die Pflegeversicherung vorgegangen, widerlegt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Pflegeversicherung wird nicht abgerissen, sondern aufgebaut.
1700 000 Menschen profitieren von der neuen Pflegeversicherung.
Wir wollen, daß alle Pflegebedürftigen die benötigten Hilfen und Leistungen erhalten.
Wir wollen eine fachlich hochwertige Pflege, die menschliche Zuwendung einschließt.
Wir wollen eine sorgsame und behutsame Fortentwicklung der Pflegeversicherung.Wir wollen aber nicht, daß die Menschen, die Pflegeleistungen erhalten, damit geängstigt werden, sie würden in Zukunft nur noch unzureichend versorgt. Mit den Besorgnissen der über 1,3 Millionen Senioren, die Pflegeleistungen erhalten und von denen viele Krieg und Not mitgemacht haben, spielt man nicht und kocht damit vor allen Dingen kein politisches Süppchen.
In den letzten Monaten geschieht doch etwas Merkwürdiges. Wir haben in schwieriger Zeit trotz einer schwierigen Haushaltssituation und trotz hoher Arbeitslosigkeit eine neue, fünfte Säule der Sozialversicherung geschaffen. In Intervallen von wenigen Monaten wird versucht, das neue gemeinsame Werk schlechtzureden. Der erste Akt war die Kampagne vor einigen Jahren, die unter dem Motto „Start ins Pflegechaos" stand. Sie ist gescheitert. Die Pflegeversicherung funktioniert. Dann wurden die berufsmäßigen Schwarzseher mit ihren Vorhaltungen, daß es einen Antragsstau gebe und 500 000 Anträge unbearbeitet seien, widerlegt.
Wenige Monate später lösen sich alle Behauptungen, drei Feiertage müßten zur Kompensation aufgegeben werden, in Luft auf. Schließlich kehrten sich alle Unheilsprophezeiungen über ein Milliardendefizit ins Gegenteil. Jetzt wird über die Zukunft der Überschüsse in Höhe von 9 Milliarden DM diskutiert.
Nun kommt nach wenigen Wochen der Pause ein neues Katastrophenszenario: Vor allem ältere Mitbürger sollen nicht mehr sachgerecht versorgt werden - so heißt es. Ich sage Ihnen hier klipp und klar: Wir wollen eines nicht, nämlich schlechte Leistungen statt ehrlichem Dank für ein arbeitsreiches Leben. Mit uns nicht!
Der Münchner Oberbürgermeister Ude spricht in einer Presseerklärung vom 16. März 1998 von einer drohenden Katastrophe und von einem Gesetz, das heute, am 26. März, an diesem Donnerstag, im Deutschen Bundestag durchgepeitscht werden soll. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nichts von
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20496 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998
Johannes Singhammerdem wird eintreten, weder eine Katastrophe noch ein Durchpeitschen ist angesagt. Wir werden mit den Bundesländern und den entsprechenden Wohlfahrtsverbänden eine gemeinsame Lösung erreichen, und diese Gespräche werden in sachlicher und ruhiger Atmosphäre geführt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer Schlichtlösungen in diesem Bereich vorgaukelt, der wird bald spüren, daß er den komplizierten Sachverhalten der Pflegeversicherung nicht gerecht wird. Ein Pauschalsatz an Fachkräften ist noch keine Garantie für den Pflegehimmel.
Wir meinen - ich glaube, was jetzt geplant ist, ist richtig -, daß eine Fortsetzung der Übergangsregelung über den 30. September 1998 hinaus sicherlich nicht die schlechteste Lösung wäre. Dafür sprechen eine Reihe guter Gründe.Den Menschen, die draußen zuhören und diese Debatte verfolgen, möchte ich sagen: Die Leistungen der Pflegeversicherung stimmen; sie sollen sich nicht unnötig in Sorge bringen lassen. Wir wollen weder, daß die Pflegeversicherung kaputtgespart noch daß sie kaputtgeredet wird.Lassen Sie mich ganz zum Schluß noch eines sagen: All denjenigen, die heute sozusagen die Hauptpersonen waren, das Personal in den Pflegeheimen, möchte ich an dieser Stelle zunächst einmal sehr, sehr herzlich für die Leistung danken, die sie vollbracht haben.
Das ist mir besonders wichtig. Und ich möchte, daß eines nicht passiert: daß ein Keil zwischen Fachkräfte und Nichtfachkräfte getrieben wird. Denn nur gemeinsam können sie ihre schwierige Aufgabe meistern. Dazu wünsche ich allen viel Glück.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Pflanzenschutz- und zum Urheberrechtsgesetz zu erweitern. Über die Vorlagen soll jetzt gleich abgestimmt werden. Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Dann rufe ich jetzt den Zusatzpunkt 12 auf:Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des PflanzenschutzgesetzesBerichterstatter ist der Kollege Michael Müller . Das Wort zur Berichterstattung wird aber nicht gewünscht. Erklärungen? - Auch nicht. Dann kommen wir zur Abstimmung.Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/10199? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.Dann rufe ich den Zusatzpunkt 13 auf:Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zur Änderung des UrheberrechtsgesetzesBerichterstatter ist unser Kollege Dr. Jürgen Warnke. - Das Wort zur Berichterstattung wird aber nicht gewünscht. - Auch keine Erklärungen. Dann kommen wir zur Abstimmung.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/10200? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Dann rufe ich jetzt die Tagesordnungspunkte 6a bis 6 g sowie den Zusatzpunkt 6 auf:6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Schönberger, Elisabeth Altmann , Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Castor-Transporte in die Zwischenlager Ahaus, Gorleben und Greifswald- Drucksache 13/9851 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Verkehrb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Schönberger, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), Gila Altmann (Aurich), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBeendigung der Castor-Transporte - Drucksachen 13/6997, 13/9755 - Berichterstattung:Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Dietmar Schütz Michaele HustedtDr. Rainer Ortlebc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ursula Schönberger, Steffi Lemke, Elisabeth Altmann (Pommels-
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998 20497
Vizepräsident Hans-Ulrich Klosebrunn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, Reinhard Weis , Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEndlager für radioaktive Abfälle in Morsleben- Drucksachen 13/5921, 13/7132, 13/8720, 13/9753 -Berichterstattung:Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Michael Müller Michaele HustedtDr. Rainer Ortlebd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Schönberger, Gila Altmann , Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAusstieg aus der Atomenergie und Lösungsansätze für das Atommüllproblem statt Absicherung des Weiterbetriebs- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Köhne, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDSAusstieg aus der Atomenergie- Drucksachen 13/7008, 13/7062, 13/9754 - Berichterstattung:Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Wolfgang BehrendtMichaele HustedtDr. Rainer Ortlebe) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 246 zu Petitionen
- Drucksache 13/8665 -f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 247 zu Petitionen
- Drucksache 13/8666 -g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 248 zu Petitionen - Drucksache 13/8667 -ZP6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.Castor-Transporte- Drucksache 13/10184 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für VerkehrEs liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD sowie drei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ursula Schönberger, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Merkel, Ihre Rechnung ist nicht aufgegangen.
Ahaus ist eine beschauliche Stadt, in der sich in den letzten Jahren ein großer Teil der Bevölkerung mit der Existenz eines Zwischenlagers für Brennelemente in einer regional begrenzten Funktion arrangiert hatte. Dann sind Sie, Frau Merkel, gekommen und haben den Münsterländern gesagt: Da sie nicht so aufmüpfig seien wie die Wendländer, könnten sie auch gleich noch den Müll aus dem Rest der Republik aufnehmen. Das, Frau Merkel, war ein nicht wiedergutzumachender Affront gegen die Ahäuser und deren Vernunft. Ihre Rechnung ist nicht aufgegangen.
Die Auseinandersetzung um den Castor-Transport nach Ahaus hat sich substantiell in nichts von den Transporten nach Gorleben unterschieden. Es geht den Betroffenen eben nicht nur um einen bestimmten Standort, zum Beispiel weil man dort selbst lebt oder weil er besonders symbolträchtig ist wie Gorleben, sondern darum, daß Ihre Politik, Frau Merkel, den Atommüll sinnlos hin- und herzuschieben, prinzipiell abgelehnt wird. Viele der Ahäuser und Ahäuserinnen, die auf ihrem Grundstück ein großes gelbes X aufgestellt und Plakate in die Fenster gehängt haben, haben sich jetzt zu diesem Vorgehen entschlossen, weil sie gemerkt haben, daß Ihre Politik, Frau Merkel, eben gar nichts mit Entsorgung zu tun hat und daß es Ihnen nur darum geht, Dumme zu finden, die den Müll hinnehmen.
Atommüll zu verschieben ist keine Lösung. Jeder Transport, der mit staatlicher Gewalt gegen die Bevölkerung durchgesetzt wird, zehrt an der Substanz des sozialen Friedens in der Gesellschaft.
Nun haben nicht Sie, Frau Merkel, das Demonstrationsverbot und die Taktiererei gegenüber der Bevöl-
Ursula Schönberger
kerung zu verantworten gehabt, sondern die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen.
Das ist, offen gesagt, bedrückend. Doch die Frage ist eine andere: Welche Handlungsfreiheit hat denn eine Landesregierung heute überhaupt, wenn ihr solche Transporte aufgezwungen werden?
Sobald die erste Kettenreaktion in Gang gesetzt wird, entsteht ein Bedrohungs- und Gefahrenpotential, das dann mit aller Gewalt geschützt werden muß. Das ist, Herr Möllemann, keine Frage der Partei oder der Bewertung der Risiken dieser Technik. Das ist vielmehr eine Frage, die mit der Atomtechnik an sich einhergeht.
Ihr Kollege Hirsch erinnert sich sicher noch an den Herbst 1977, als zigtausend Menschen gegen den Bau des Schnellen Brüters in Kalkar demonstriert haben. Er ließ damals als nordrhein-westfälischer Innenminister Kalkar großräumig absperren, Anreisende bereits im Vorfeld stoppen und Polizeieinheiten von Hubschraubern zwischen den Demonstrantinnen und Demonstranten absetzen.
Das, was Robert Jungk seinerzeit als Atomstaat prognostizierte, ist eben keine Frage von guten oder schlechten Politikerinnen und Politikern, sondern des Sachzwanges, der dieser Technik immanent ist. Genau diese Sachzwänge wollen wir nicht vertreten müssen. Darum ist der Ausstieg aus der Atomenergie ein wichtiger politischer Schritt, um gesellschaftliche Handlungsfreiheit zurückzugewinnen.
Wie begründet unsere sachliche Kritik ist, hat sich vor wenigen Tagen in Großbritannien gezeigt, als endlich einmal ein realer Test mit den Castor-Behältern, den Typ-B-Behältern, gemacht wurde. Das erschreckende Ergebnis war: Der Behälter wurde beschädigt; die Deckelstoßdämpfer wurden so verformt, daß mehrere Schrauben ausrissen. Wir können den konsequenten Schritt der rotgrünen Landesregierung Schleswig-Holsteins nur begrüßen, alle Transporte aus dem AKW Krümmel, die bis dato genau mit diesem Behälter durchgeführt wurden, sofort zu untersagen. Schon auf Grund dieser evidenten Sicherheitsmängel darf es keine weiteren Castor-Transporte geben.
Noch ein Wort zum nationalen Entsorgungskonsens, auf den die SPD in ihrem Antrag abstellt. Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es ohne Wenn und Aber eine nationale Verantwortung für den Atommüll, der in Deutschland produziert worden ist. Gerade wir, die in besonderer
Weise und Hartnäckigkeit immer wieder auf die reale Gefährlichkeit dieses Mülls hinweisen, wären die letzten, denen egal wäre, was mit diesem Müll passiert. Um sich dieser Frage nähern zu können, gibt es jedoch zwei Voraussetzungen: Erstens. Es muß eine ernsthafte Bereitschaft zur sozialen Verständigung geben. Zweitens. Es muß um die Abwicklung der atomaren Altlasten gehen.
Das ist nur schwer möglich, solange diese Politik so weitergeht.
Ich hoffe, daß es für eine solche verantwortungsbewußte Politik ab Herbst eine Chance gibt.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Castor-Transporte berühren nicht nur die Energie- und Umweltpolitik; sie berühren in grundsätzlicher Hinsicht auch die Wirtschaftspolitik. Investoren brauchen verläßliche Rahmenbedingungen. Es wird kein neuer Arbeitsplatz geschaffen, wenn sich der Investor nicht auf Zusagen und Genehmigungen, auch durch Landesregierungen, verlassen kann.
Wie sieht es nun mit der Verläßlichkeit einer rotgrünen Landesregierung wie der in Nordrhein-Westfalen aus? In Nordrhein-Westfalen ist Garzweiler II noch nicht vergessen, da liefert Rotgrün mit Ahaus ein weiteres negatives Beispiel.
Mit Beschluß vom 28. September 1979 haben sich die Bundesregierung, damals noch mit einem SPD-Bundeskanzler, und die Ministerpräsidenten in einem gemeinsamen Beschluß auf ein Entsorgungskonzept geeinigt. Unter anderem haben die Ministerpräsidenten zugesichert, die Errichtung und den Betrieb externer Zwischenlager ordnungsgemäß durchzuführen und zu gewährleisten.
Auch Ministerpräsident Rau hat am 28. September 1979 diesem Entsorgungskonzept zugestimmt.
Mit dem Schreiben vom 9. Oktober 1990 - jetzt der Hinweis auf 20 Jahre - an den Chef des Bundeskanzleramtes hat der damalige Chef der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen, Herr Clement, die weitere Bereitschaft der Landesregierung betont, ein externes Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente aus Leichtwasserreaktoren zu übernehmen. Darüber hinaus war die nordrhein-westfälische Landesregierung
Dr. Peter Paziorek
und damit auch Minister Clement sowohl an der Genehmigung für die Zwischenlagerung abgebrannter Brennelemente in Ahaus durch das Bundesamt für Strahlenschutz vom November 1997 wie auch an der Genehmigung der jetzt laufenden Castor-Transporte beteiligt.
Herr Kollege Paziorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wülfing?
Ja.
Herr Kollege Paziorek, sind Sie eigentlich mit mir der Meinung, daß zu der Vorgeschichte der Transporte nach Ahaus auch der Kohlekompromiß gehört, den die Bundesregierung mit der Landesregierung Nordrhein-Westfalen dahin gehend geschlossen hat, daß, wenn die weitere Subventionierung der Kohle stattfinden soll, dann auch die Landesregierung mit Kernenergie und Ahaus einverstanden ist? Ich denke, die Äußerungen von Minister Kniola und Minister Clement passen ganz sicherlich nicht zu diesem Kohlekompromiß. Sind Sie auch dieser Meinung?
Frau Wülfing, ich stimme Ihnen zu. Denn das Entsorgungskonzept von 1979 hatte nicht nur die Regelung, daß die Zwischenlagerung in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen stattfinden soll, hatte nicht nur die Regelung, daß das Endlager in Gorleben wissenschaftlich erforscht werden soll, hatte nicht nur den Inhalt, daß die Wiederaufbereitungsanlage nach Bayern, Süddeutschland, kommen sollte,
sondern war eine ganz wichtige politische Geschäftsgrundlage auch dafür, daß ab 1980 die entscheidende Voraussetzung für die Einführung eines Kohlepfennigs geschaffen wurde, so daß ich Ihnen in politischer Hinsicht voll und ganz zustimmen kann, Frau Wülfing. Leider kann die SPD in NordrheinWestfalen das heute so nicht mehr öffentlich äußern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Michael Müller?
Ja. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte.
Erstens: Würden Sie mir einmal das Papier zeigen, in dem eine solche Koppelung steht? Zweitens: Wollen Sie ernsthaft behaupten, daß die Kohlefinanzierung von Ihnen nur benutzt wurde, um die Landesregierung unter Druck zu setzen?
Lieber Herr Müller, das habe ich an keiner Stelle so gesagt, so daß ich Ihre Frage mit einem klaren Nein zurückweisen kann. Aber ich weiß natürlich, daß Sie in Sachen Kohlepolitik in Nordrhein-Westfalen in der SPD völlig isoliert waren und daß Sie dort keine Unterstützung für Ihre Antikohleäußerungen gefunden haben. Ich kann nur sagen: Die Geschäftsgrundlage für einen Kohlekompromiß im Jahre 1980 war unter anderem auch hierdurch erreicht. Es ist sehr erstaunlich, daß die SPD diese politische Geschäftsgrundlage in Nordrhein-Westfalen heute nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Sie haben in dieser Frage ein kurzes Gedächtnis.
Die Landesregierung war auch 1997 an der Genehmigung der laufenden Castor-Transporte beteiligt. Diese Vorgeschichte hält Herrn Clement nicht davon ab, die Castor-Transporte als Provokation oder als nicht zu verantwortenden Unsinn zu bezeichnen. Aber eines geht doch nur: Entweder ist diese Äußerung zu einem nach Recht und Gesetz abgelaufenen Verfahren eine Amtspflichtverletzung, oder ich habe vorher bei den Genehmigungsverfahren eine Amtspflichtverletzung begangen, indem ich nicht auf die Bedenken hingewiesen habe. Eines geht nur, und die Linie muß von Herrn Clement zukünftig sauber durchgehalten werden.
Aber was noch viel schöner ist: Mit dieser Äußerung hat Herr Clement auch den Kanzlerkandidaten der SPD kompromittiert. Bei einem Gespräch der Bundesregierung mit der SPD und den Energieversorgungsunternehmen am 17. April 1997 wurde über die Entsorgungssituation der deutschen Kernkraftwerke diskutiert. Bei diesem Gespräch wurde von dem Ministerpräsidenten Schröder und von Herrn Müntefering die Notwendigkeit der Castor-Transporte in die Zwischenlager nicht in Zweifel gezogen. Dabei war klar, daß ein Transport nach Ahaus auch kurzfristig erfolgen könne. Die deutschen Elektrizitätsversorgungsunternehmen, die nicht nur im Vertrauen auf Recht und Gesetz, sondern auch im Vertrauen auf das Wort der Landesregierungen von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen in Gorleben und in Ahaus in ein externes Zwischenlager investiert haben, müssen von ihrem verfassungsrechtlich geschützten Recht Gebrauch machen können.
Mit seiner Wechselpolitik zerstört Clement aus koalitionsinternen und opportunistischen Gründen mutwillig Vertrauenskapital bei möglichen Investoren. Blumige Bekenntnisse zur Notwendigkeit der Schaffung neuer Arbeitsplätze reichen nicht aus. Arbeitsplätze, auch die in Nordrhein-Westfalen, brauchen Investitionssicherheit. Diese können und wollen SPD und Grüne nicht gewährleisten.
Dr. Peter Paziorek
Niemand ist in dieser Frage vor dem rotgrünen Harakirikurs mehr sicher.
Herr Müller, daß es ein Harakirikurs ist, kann sehr gut mit einer Pressemeldung belegt werden, die Sie für die SPD-Bundestagsfraktion am 29. Januar herausgegeben haben. Darin sprechen Sie mit einer erstaunlichen Wortwahl vom Widerstand des Landes Nordrhein-Westfalen gegen die atomsüchtigen Landesregierungen in Bayern und Baden-Württemberg.
Diese Wortwahl disqualifiziert die Fraktion, in deren Namen Sie hier eine Erklärung abgegeben haben. Das muß heute ganz deutlich herausgestellt werden.
Von welchen Maximen sich dabei auch die grüne Politik leiten läßt, hat die grüne Vizepräsidentin des Landtages in Nordrhein-Westfalen, Frau Grüber, vor kurzem noch einmal schriftlich belegt. In einem Schreiben an den Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen findet sich ein - aus meiner Sicht - entlarvender Satz. Ich möchte ihn zitieren, Herr Präsident:
Ich bin nach wie vor der Meinung, daß es zu respektieren ist, wenn Menschen in aller Öffentlichkeit eine Handlung begehen, die geeignet sein kann, gegen bestehendes Recht zu verstoßen, wenn sie verhältnismäßig erscheint, ihr Ziel ein ehrenwertes ist, wenn dies friedlich geschieht und wenn sie bereit sind, die Folgen auf sich zu nehmen.
Das stand in einem Schreiben der Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landtages.
- Auch ich halte das wirklich für ungeheuerlich.
Jeder hat das Recht, an friedlichen Demonstrationen teilzunehmen. Jeder hat auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wir lassen aber nicht zu, daß durch gewaltbereite Gegner der friedlichen Nutzung der Kernenergie die rechtsstaatliche Freiheit zu Verkehrsgefährdungen und Blockaden, zum Widerstand gegen die Staatsgewalt, zu Nötigungen und anderen Straftaten mißbraucht wird.
Die völlig verquere Sichtweise der Grünen wird dadurch deutlich, daß der Bundestagskollege Nachtwei das Vorziehen der Transporte als einen politischen Betrug darzustellen versuchte, weil die Demonstranten um ihr Demonstrationsrecht gebracht worden seien. Die Frage der Zwischenlagerung hat ja nun wirklich nichts mit spätpubertären Sandkastenspielen zu tun. Aber grüne Ideologen scheinen das wohl so zu sehen.
Im übrigen ist die Position der Bundesregierung ganz klar und eindeutig: Ahaus ist für uns nur ein externes Zwischenlager und bleibt ein Zwischenlager;
es wird kein Endlager. In Niedersachsen muß alles getan werden, damit die Arbeiten am Endlager in Gorleben im Jahre 2003 endlich beendet werden können, so daß Gorleben tatsächlich ein Endlager werden kann und Ahaus ein Zwischenlager bleibt.
Eines ist wohl ganz deutlich: Die Debatte um den Castor-Transport nach Ahaus mit den wirklich unsinnigen Äußerungen aus dem rotgrünen Regierungslager in Düsseldorf zeigt: Immer da, wo Rotgrün regiert, verliert das Bündnis letztlich an politischer Strahlkraft.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Hans-Peter Kemper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Castor-Transport am 20. März hat einen jungen Polizeibeamten das Leben gekostet, ohne daß dafür irgend jemandem die Schuld gegeben werden könnte. Dieser junge Polizeibeamte des Bundesgrenzschutzes hat seinen Dienst versehen ohne Rücksicht auf die Fragen: Bin ich für oder gegen Atomenergie? Bin ich für oder gegen Atomkraftwerke? Er hat seinen Dienst in einer demokratischen Polizei versehen, weil es seine Aufgabe war. Er ist seiner Pflicht nachgekommen. Ich denke, ihm gebühren unser Dank und unsere Anerkennung. Seiner Familie, seinen Angehörigen, seinen Freunden und Kolleginnen und Kollegen im Bundesgrenzschutz bringen wir unser tiefstes Mitgefühl entgegen.
Der am 20. März 1998 durchgeführte Castor-Transport aus Bayern und Baden-Württemberg nach Ahaus ist eine neue Etappe auf dem langen Weg der verfehlten Energiepolitik dieser Bundesregierung, der verfehlten Entsorgungspolitik dieser Bundesregierung.
Es ist eine Etappe auf einem völlig falsch angelegten Weg. Nicht zuletzt der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister, Wolfgang Clement, hat diesen Transport völlig zu Recht als „politische Provokation" bezeichnet. Ich kann ihm in diesem Punkt ausdrücklich zustimmen.
Die Menschen in Ahaus, im Kreis Borken und in der gesamten Region haben bei den Sonntagsspaziergängen und am 20. März ein friedliches, kraftvolles Zeichen gegen die Atomenergie, für den Ausstieg aus der Atomenergie und gegen unsinnige Castor-Transporte quer durch die Bundesrepublik gesetzt. Sie haben friedlich gegen diese unerträgliche Provokation einer zur Atomlobbyistin mutierten Umwelt-
Hans-Peter Kemper
ministerin protestiert. Sie haben die Grenzen des legalen Widerstandes eingehalten.
Wie anders als unerträgliche Provokation sollte man das Verhalten der Umweltministerin Merkel nennen, wenn sie wenige Tage nach dem Transport nach Gorleben in der noch aufgeheizten Atmosphäre sagt: Die Widerstände für solche Transporte nach Gorleben sind viel zu groß; demnächst werden die Transporte nach Ahaus gehen? Was soll man dazu sagen, wenn sie in ihre öffentlichen Überlegungen die Verlagerung der fabrikneuen Brennelemente von Kalkar nach Ahaus einbezieht? Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, soll man von einer Bundesumweltministerin halten, die den Menschen in der Region, in Ahaus, im Kreis Borken, im Münsterland den Eindruck vermittelt, daß ihnen zum Dank für ihr bisheriges friedliches und zurückhaltendes Verhalten nun der gesamte atomare Dreck der Bundesrepublik vor die Tür gekippt wird?
Wir Sozialdemokraten verfolgen einen anderen Weg. Wir wollen den Ausstieg aus der Atomenergie, und wir wollen die unsinnigen Transporte quer durch die Bundesrepublik verhindern.
Im übrigen ist nicht einzusehen, daß Bayern und Baden-Württemberg Atomkraftwerke betreiben, und Gorleben und Ahaus müssen die Folgen dieser unverantwortlichen Politik auf unbegrenzte Zeit tragen.
Es hat aber noch einen anderen Aspekt gegeben: Nicht nur die Bürger haben friedlich und sehr besonnen gegen Atomenergie protestiert, sondern auch die Polizeibeamten, die vor Ort waren, haben sehr besonnen reagiert. Das Konzept der nordrhein-westfälischen Politik und die Besonnenheit der vor Ort eingesetzten Polizeibeamten haben dazu beigetragen, daß es zu einem friedlichen Protest ohne schwerwiegende Zwischenfälle gekommen ist. Das zeigt, meine Damen und Herren: Auf die sozialdemokratische Innenpolitik ist Verlaß. Nicht die Devise „Knüppel raus und drauf ", sondern ein Deeskalationskurs, wie er in Nordrhein-Westfalen seit Jahren gefahren wird, war das Gebot der Stunde und ist mit Erfolg umgesetzt worden.
Ich habe mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem Münsterland an den Konfliktlinien gestanden. Ich habe gesehen, wie die Emotionen hochgingen. Ich habe gesehen, wie sich beide Seiten immer wieder zurückgenommen haben, um Eskalationen zu vermeiden. Ich denke, den Menschen, die da friedlich demonstriert haben, gebührt unser Dank ebenso wie den Politikern und den dort eingesetzten Polizeibeamten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte meine Rede zu Ende führen.
Es ist schon erstaunlich, mit welchen Argumenten Frau Merkel - Herr Paziorek, auch Sie haben das eben getan - den verfehlten Kurs rechtfertigen will. Sie beziehen sich auf die Bund-Länder-Vereinbarung von 1979, zitieren einen Teil daraus - aber eben nur einen Teil. Sie verschweigen einen anderen - ganz wichtigen - Teil, nämlich daß eine Einlagerung in die Zwischenlager, eine Einlagerung in Ahaus nur erfolgen kann, wenn die Endlagerung gesichert erscheint.
Wie sichert man die Endlagerung? Frau Merkel steht auf und sagt: Ich erkläre die Endlagerung für gesichert. Kein Fachmann, keine Fachfrau hat sich zu einer solchen These verstiegen, nur Frau Merkel macht das. Die Bund-Länder-Vereinbarung ist von einer völlig anderen Grundkonzeption ausgegangen.
Das hat Frau Merkel bisher immer verschwiegen. Aber mit dem „ungeheuren Wissensschatz", den sie dargetan hat, steht sie völlig alleine. Tatsache ist, daß es bundesweit kein funktionierendes Endlager gibt und daß auch keines in Sicht ist. Das ist die Wahrheit.
Wir Sozialdemokraten werden ein anderes Konzept fahren. Wir werden kurz- und mittelfristig die kraftwerksnahe Zwischenlagerung anstreben und am Ausstieg aus der Atomenergie festhalten.
Es ist völlig klar, daß es einen riesigen Unterschied ausmacht, ob Transporte und Einlagerungen dem Ausstieg aus der Kernenergie oder dem Weiterbetrieb dienen. Die Transporte, die Sie vornehmen lassen, dienen ausschließlich dem Weiterbetrieb. Nicht ansatzweise dienen sie dem Ausstieg aus der Atomenergie. Deshalb bekommen Sie auch den gesellschaftlichen Konsens, den Konsens mit den Bürgerinnen und Bürgern, nicht hin. Wer aussteigen will und dabei den Konsens mit den Bürgerinnen und Bürgern sucht, bekommt das hin. Sie aber haben eine Konstellation herbeigeführt, bei der ein Konsens nicht mehr erreichbar ist. Wie soll auch der Konsens mit einer Bundesumweltministerin und einer Bundesregierung erreicht werden können, die uneinsichtig am Weiterbetrieb der Kernkraftwerke und an völlig überflüssigen und völlig dummen Transporten quer durch die Republik festhalten? Das ist schlechterdings unmöglich.
Wir wollen eine andere Politik. Wir werden das im Konsens mit der Bevölkerung machen. Eine Bundesregierung, der nichts anderes einfällt, als Entsorgungsfragen gegen große Teile der Bevölkerung mit
Hans-Peter Kemper
dem Polizeiknüppel lösen zu lassen, hat Zukunftschancen verspielt.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Jürgen Möllemann.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 28. September 1979 traf sich hier in dieser Stadt der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt - Kanzler der sozialliberalen Koalition - mit den damaligen Ministerpräsidenten der alten Bundesländer; für Nordrhein-Westfalen war es der damalige und heutige Ministerpräsident Johannes Rau. Sie verabredeten bestimmte Maßnahmenpakete zur friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Eines davon war, die Zwischenlagerung von Brennelementen in Nordrhein-Westfalen in einem externen Zwischenlager zu ermöglichen.
Richtig ist, daß damals gesagt wurde, wie es der Vorredner gerade erwähnte, daß außerdem von da an alles für die Verwirklichung eines Endlagerkonzeptes getan werden solle.
- Es heißt, es solle alles dafür getan werden, „daß zum Zeitpunkt der ersten Einlagerung von abgebrannten Brennelementen die Aufnahmefähigkeit des Salzstockes in Gorleben gesichert erscheint".
Sie erscheint gesichert. Damals wie heute wurde nicht gesagt, daß das Konzept bis dahin verwirklicht sein müsse. Das konnte zum damaligen Zeitpunkt niemand definieren. Aber weder Helmut Schmidt noch Johannes Rau wollten deswegen auf die Nutzung der Kernkraft verzichten. Beide wußten, daß die Brennstäbe auch dann, wenn Gorleben als Endlager vorhanden ist, dort nicht direkt eingelagert werden können, sondern daß sie zum Abklingen irgendwo zwischengelagert werden müssen.
Verehrter Herr Kollege, worin liegt denn die größere Sinnhaftigkeit eines Transports von abgebrannten Brennelementen nach Ahaus, wenn nach 40 bis 80 Jahren dann in Gorleben endgelagert werden kann? Tun Sie doch nicht so, als ginge es Ihnen um diese Frage! Es geht Ihnen darum, sich klammheimlich aus Verträgen und Vereinbarungen davonzuschleichen, die Helmut Schmidt und Johannes Rau unterschrieben haben.
Es geht Ihnen darum, einen Hofknicks nach dem anderen zu machen.
- Nein, zu Hofknicksen bekommen Sie mich nicht. Sie machen sie vor den Damen und Herren, die wissen, daß sie selbst dann, wenn sie morgen einen Ausstiegsbeschluß faßten - ich habe ja deren Programm gelesen und weiß, wann sie was anstreben wollen -, weiterhin zwischenlagern müssen.
Sie werden dort zwischenlagern müssen, wo das Zwischenlager ist, nämlich in Ahaus. Sie können sich doch jetzt nicht hier hinstellen und sagen: Wir haben damals an eine regionale Lösung gedacht. - Das haben Sie überhaupt nicht. Sie haben damals dezidiert gesagt: Wir wollen nicht, daß die Zwischenlager über die ganze Bundesrepublik verteilt werden. Wir wollen sie an zwei Plätzen, um es kontrollierbar zu halten. Sie haben das mit uns gemeinsam beschlossen.
Heute, nachdem Sie zwischenzeitlich auch die Bestimmungen des Atomrechts mit uns gemeinsam formuliert haben, reden Sie davon
- nein, ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen -, man könne dezentralisieren und die Brennelemente bei den Kernkraftwerken belassen. Das ist wieder so eine Schlickefängerei, die Sie hier betreiben. Sie wissen, daß Kernkraftwerke nach dem geltenden Atomgesetz nur betrieben werden dürfen, wenn sie Verträge zur Zwischenlagerung nachweisen können. Sie wären doch die ersten, die die Stilllegung dieser Kernkraftwerke vor Ort verlangen würden, wenn die Betreiber sagen würden: Wir halten uns nicht an das geltende Recht, wir lagern die Brennelemente am Ort zwischen. - Nein, Sie sind in sich widersprüchlich. Sie sind nicht ehrlich. Sie verstoßen gegen die geschlossenen Verträge und wollen sich davonstehlen. Das ist keine seriöse Argumentation.
Ich frage mich im übrigen, wie es mit der Seriosität des von mir in der Debatte der letzten Monate sehr geschätzten Kollegen Wolfgang Clement aussieht, der genau weiß, daß sein Ministerpräsident Johannes Rau die Vereinbarung getroffen hat, der genau weiß, daß sich sein Koalitionspartner unmöglich verhält. Beim Thema Garzweiler ist das wirklich hinreichend vorgeführt worden.
Herr Kollege?
Nein. - Jetzt hören wir von der Sprecherin der Grünen, daß sich die nordrhein-westfälische Landesregierung im Umgang
Jürgen W. Möllemann
mit den Protesten der Bürger unmöglich benommen habe. Frau Kollegin, Sie vergaßen, darauf hinzuweisen, daß Sie selber in der nordrhein-westfälischen Landesregierung sitzen.
Sie wollten also Selbstkritik üben.
Ich finde es hervorragend, wie Innenminister Kniola zwei vernünftige Ansätze gleichzeitig verfolgt hat. Erstens hat er dafür gesorgt, daß keine verschwommenen Debatten darüber aufkommen, was Gesetzesbruch ist und was nicht. Er hat klargestellt: Wer sich auf Gleise setzt und diese blockiert, verstößt gegen das geltende Recht und muß bestraft werden.
Der Koalitionspartner geht hin und erklärt durch die grüne Vizepräsidentin des Landtages und durch den Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag, Herrn Appel, diesen Robin Hood in Strumpfhosen
- das macht die Sache nicht besser, das war sozusagen der zweite Irrtum -, man könne sich natürlich auf die Gleise setzen, das seien doch interessante Happenings. Wie soll sich denn das Verständnis der Bürger von Recht und Gesetz festigen, wenn selbst die Gesetzgeber sagen: Ihr könnt ruhig gegen das Gesetz verstoßen, das ist ein interessantes Happening?
Herr Kniola hat klar Position bezogen. Mich hätte es nur gefreut, wenn der Regierungschef nicht segnend seine Hand über die beiden dort offiziell vertretenen Positionen gehalten, sondern erklärt hätte: Ich stehe voll und ganz und ausschließlich hinter der Position von Herrn Kniola. Das war ihm im Blick auf spätere Ambitionen offenbar ein bißchen zu wagemutig. Schade!
Meine Damen und Herren, ich fand das zweite, das Herr Kniola gemacht hat, auch gut: Er hat den hanebüchenen Denkansatz, man habe die operativen Maßnahmen gefälligst so zu gestalten, daß sie möglichst aufwendig und teuer seien, zurückgewiesen und gesagt: Wir machen es so, wie es zweckmäßig ist.
Das am meisten Erheiternde war, die betretenen Gesichter der Damen und Herren zu erleben, die offenbar ihre Dienstpläne nicht mehr schnell genug umstellen konnten. Eine Demo von Dienstag auf Freitag der Vorwoche vorzuziehen, ist natürlich auch schwer. Das kann man wirklich nicht hinbekommen.
Bei allem Respekt, Frau Kollegin: Es waren 20 000 Demonstranten da, 10 000 an dem einen und 10 000 an dem anderen Tag. Mein Dank gilt denen, die dort friedlich demonstriert haben und sich nicht von denen, die es anders wollten, haben aufrühren lassen. Mein Dank gilt aber auch den 79 980 000 deutschen Bürgern, die der Auffassung gewesen sind, es sei besser, auf dieses merkwürdige Spielchen der Grünen gar nicht einzugehen und dort nicht hinzugehen.
- Herr Nachtwei, hier in Bonn haben 400 000 Menschen für eine entschlossene Friedenspolitik demonstriert. Nun tun Sie doch nicht so, als wenn Sie aus der Präsenz von 10 000 Leuten an einem Tag und 10 000 an einem anderen Tag eine moralische Legitimation gegen den politischen Willen der Mehrheit dieses Hauses ableiten könnten. Das ist schwer erträglich.
Zum letzten Punkt, den ich hier ansprechen will: Ich möchte ausdrücklich dem Polizeipräsidenten von Münster, Herrn Wimber, danken. Er ist einer, der derzeit noch der grünen Partei angehört.
Er hat dafür gesorgt, daß die abenteuerlichen Formulierungen der grünen Vizepräsidentin des nordrhein-westfälischen Landtags und des Fraktionsvorsitzenden der Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag nicht ansatzweise zur Handlungsmaxime werden konnten. Er hat dafür gesorgt, daß Recht und Gesetz zur Geltung gebracht wurden. Das ist in Ordnung. Daß er sich dafür in den verschiedensten Versammlungen von Grünen-Sprechern schwere Vorwürfe hat anhören müssen, zeigt mir nur, verehrte Kollegen von der SPD, auf welchem Weg Sie sind. Die Äußerungen Ihres sehr geehrten Herrn Ministerpräsidenten Schröder zeigen mir, daß auch er ahnt, was Ihnen blüht.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Rolf Köhne.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Paziorek, Herr Möllemann, es ist fast unerträglich, wie borniert Sie hier die Atomkraft verteidigen und an ihrer Nutzung festhalten.
Dabei berufen Sie sich immer auf einen Energiekonsens zwischen Bund und Ländern, den es 1979 sicherlich gegeben hat.
Doch dieser Energiekonsens liegt 20 Jahre zurück. In
der Zwischenzeit hat die Reaktorkatastrophe von
Rolf Köhne
Tschernobyl stattgefunden; das sollten Sie auch einmal bedenken. Diese Reaktorkatastrophe hat aller Welt vor Augen geführt, welches Risikopotential die Atomenergie hat.
Rund 125 000 Menschen sind bisher an den Folgen von Tschernobyl vorzeitig gestorben. Rund ein Fünftel der Fläche von Weißrußland ist noch immer radioaktiv verseucht. Gucken Sie sich das mal an!
Und selbst Kühe in Weißrußland erkranken noch immer an Leukämie.
- Ich sage Ihnen, Herr Möllemann: Auch in der Bundesrepublik ist ein schwerer Kernschmelzunfall möglich. Bis zu 1 Million Menschen müßten in diesem Lande im Notfall evakuiert werden. Sie wissen ganz genau, daß das nicht möglich sein wird.
Bis zu 20 Millionen Menschen müßten schlimmstenfalls umgesiedelt werden. Das müssen Sie sich einmal überlegen. Was hat denn das mit der Sicherung des Standortes Deutschland zu tun? Das ist die Gefährdung des Standortes Deutschland, die Sie hier betreiben!
Kein Gewerbebetrieb, der ein solches Risiko in sich birgt, würde zugelassen; aber die Atomenergie lassen Sie zu.
- Herr Möllemann, seit Tschernobyl gibt es in dieser Republik keinen Konsens mehr über die Atompolitik, weder in diesem Deutschen Bundestag noch in der Bevölkerung.
Viele Menschen sehen ihr Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrheit bedroht. Dadurch wächst ihre Bereitschaft, sich gegen die Nutzung der Kernenergie zur Wehr zu setzen. Das ist der Hintergrund für die Proteste gegen die Castor-Transporte.
Diese Transporte sind erstens gefährlich und zweitens unsinnig.
Solange es kein Entsorgungskonzept gibt, also nicht
klar ist, wo der Atommüll irgendwann einmal bleiben
soll, können die abgebrannten Brennelemente ebensogut in Castor-Behältern direkt bei den Atomkraftwerken gelagert werden, und das wäre vernünftig.
- Herr Möllemann, Sie sollten einmal den Mut haben, hier eine Zwischenfrage zu stellen, damit ich Ihnen eine gebührende Antwort geben kann.
Herr Kollege, Ihr Wunsch geht in Erfüllung. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Ja.
Könnten Sie mir eine Chronologie des Einsatzes Ihrer Partei und Ihrer Vorgängerpartei gegen die Nutzung der Kernkraft in Greifswald darstellen und mir die Frage beantworten, wie Greifswald zu seinem Namen kommt?
Meine Vorgängerpartei - das sage ich hier ganz offen - war die Deutsche Kommunistische Partei. Ich bin erst 1990 in die PDS gegangen. Ich kann Ihnen daher nur Auskunft über meine Vergangenheit geben; das tue ich ganz offen. Ich war früher - das gebe ich gern zu - nicht in dem Maße Gegner der Atomkraft, wie ich das heute bin. Ich habe erst durch den Reaktorunfall von Tschernobyl gelernt - das gebe ich offen zu -, aber ich erwarte, daß auch alle anderen Menschen lernfähig sind. Ich habe jedoch meine Zweifel, Herr Möllemann, ob Sie lernfähig sind.
Eine Regierung, die trotz der zahlreich vorgebrachten und gut begründeten Argumente, die gegen die Verantwortbarkeit der Atomenergie sprechen, an diesem Irrsinn festhält, kann sich zwar auf die Mehrheit berufen, aber sie verhält sich letztendlich wie ein Autofahrer, der absichtlich einen Unfall herbeiführt, indem er auf seiner Vorfahrt beharrt. Wenn Sie so weitermachen, meine Damen und Herren von der Regierungsbank, dann gefährden Sie absichtlich die Demokratie und verwandeln diese Bundesrepublik schleichend in einen Polizeistaat.
- Natürlich, darauf hat die Kollegin Schönberger bereits hingewiesen. Es gibt einen Sachzwang, der aus der Atomenergie herrührt. Sie müssen die Transporte ständig schützen. Damit setzen Sie das Demonstrationsrecht und das Recht auf Freizügigkeit in unverhältnismäßiger Weise außer Kraft. Das sollten Sie einmal bedenken.
Herr Kollege Köhne, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer Kollegin Bulling-Schröter?
Ja.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Köhne, können Sie bestätigen, daß das Kernkraftwerk in Greifswald vom selben Typ ist wie das in Mochovce, das jetzt mit Hermes-Krediten und mit Unterstützung der Bundesregierung hochgerüstet wird, und können Sie mir erklären, warum es in Deutschland abgestellt wird, während es in einem anderen Land als sicher gilt?
Fakt ist, liebe Kollegin Bulling-Schröter, daß die Reaktorblöcke in Greifswald nach den deutschen Sicherheitsstandards nicht genehmigungsfähig sind und daß es von daher unwirtschaftlich wäre, sie so aufzurüsten, daß sie nach dem geltenden deutschen Atomrecht und den Sicherheitsbestimmungen genehmigungsfähig gewesen wären. Es ist von daher ein Widerspruch der Politik dieser Bundesregierung in sich, auf der einen Seite Greifswald dichtzumachen, aber auf der anderen Seite HermesBürgschaften für Mochovce zu gewähren.
Die PDS ist aus den genannten Gründen für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. Angesichts der Überkapazitäten in der Stromerzeugung ist dies ohne weiteres möglich. Die meisten Atomkraftwerke entsprechen nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik und sind längst abgeschrieben. Einem Entzug der Betriebsgenehmigung steht aus unserer Sicht deshalb nichts entgegen.
Ich hoffe, daß wir in der nächsten Legislaturperiode in dieser Frage weiterkommen. Allerdings gibt es da ein paar Wermutstropfen. Wenn ich in der „Wirtschaftswoche" von Joschka Fischer lesen muß, daß er mit einem Wirtschaftsminister aus der Vorstandsetage von Siemens liebäugelt, ist das schon etwas komisch.
Aber nichtsdestotrotz, vor allem an Ihre Seite gerichtet: Wer die Atompolitik und die Atomtransporte politisch angreift, der gefährdet den Profitstandort Deutschland, aber er schützt den Lebensstandort Deutschland. In diesem Sinne fordere ich Sie auf, unserem Antrag sowie den Anträgen der Grünen zuzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Rolf Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand in diesem Haus bestreitet besorgten Gegnern der Kernenergie das Recht, für ihre Überzeugung friedlich zu demonstrieren. Auch wenn ich diese nicht teile, so verstehe ich deren Verunsicherung, deren Besorgnisse. Für Meinungs- und Demonstrationsfreiheit einzutreten ist die Pflicht eines jeden Abgeordneten.
Aber klar muß auch dies sein: Wer mit Hakenkrallen die Oberleitung der Bahn zerstört, wer Schienen blockiert, den Bahndamm untertunnelt oder gar Schienen ansägt und Molotowcocktails einsetzt und damit Menschenleben gefährdet, der ist kein Demonstrant, der ist ein krimineller Gewalttäter.
Wo immer wir politisch stehen, wir alle haben als Abgeordnete die Pflicht, dem Rechtsbruch, der organisierten Rechtsverletzung und dem Mißbrauch des Demonstrationsrechtes durch fanatisierte Gewalttäter mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten.
Wir haben unsere Energiepolitik immer wieder sorgfältig geprüft. Keine Regierung - ich glaube, das ist schon deutlich geworden; das ist die Wahrheit - könnte heute auf diese Transporte verzichten. Wohin kämen wir, wenn Parlament und Regierung in unserem Land nicht mehr in der Lage wären, den notwendigen und absolut nach Recht und Gesetz ablaufenden Castor-Transport durchzuführen?
Wer heute bei Grundsatzentscheidungen unserer Energiepolitik vor Gewalttätern zurückweicht, der ermutigt sie, morgen mit Gewalt gegen andere Entscheidungen von Parlament und Regierung vorzugehen, vielleicht gegen die Gentechnik durch die Zerstörung von Feldversuchen gegen den Bau des Transrapid oder mit Kasernenblockaden gegen den UN-Einsatz unserer Soldaten.
Herr Kollege Olderog.
Wenn ich das noch zu Ende sagen darf, Herr Präsident.
Nein, vor Rechtsbruch und Gewalt, selbst vor tausend Gewalttätern darf der Rechtsstaat nicht in die Knie gehen.
Herr Kollege Olderog, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nachtwei?
Ja, Herr Kollege, bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie soeben in Ihrer Aufzählung von verschiedenen Delikten friedliche Sitzblockierer ebenfalls zu kriminellen Gewalttätern erklärt haben?
Lesen Sie denn nicht die Zeitung? Haben Sie nicht vor kurzem gelesen, daß das höchste Gericht festgestellt hat: Wer sich auf die Schienen setzt, begeht einen Rechtsbruch und macht sich strafbar.
Sie nehmen die Wirklichkeit des Rechts in unserem Land überhaupt nicht zur Kenntnis. Das ist Ihr Problem.
Sie haben ein Rechtsverständnis, das mit dem wirklichen Gesetz in Deutschland nichts zu tun hat.
Meine Damen und Herren, das müssen wir uns bewußt machen: Es sind doch vor allem glückliche Umstände und taktisches Geschick gewesen, daß sich das kriminelle Gewaltpotential, das in gleichem Umfang wie beim letzten Gorleben-Transport vorhanden war, nicht entfalten konnte. Können wir ausschließen, daß durch einen Anschlag auf Bahnschienen das nächste Mal ein Zug entgleist und Menschen schwer verunglücken? Man kann doch geradezu froh sein, daß bei all den Anschlägen auf die Bahnstrekken so etwas bisher noch nicht passiert ist.
Herr Kollege Olderog, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, ich möchte das jetzt zu Ende bringen.
Ist den Gewalttätern eigentlich bewußt, was sie dort tun und welch ein Maß an Gefährdung für Menschen damit verbunden ist?
- Ich habe ja gerade gesagt, daß wir Glück gehabt haben. Auch darüber ist vorhin schon geredet worden.
Ich finde es unerhört, daß Abgeordnete dazu beitragen, das Klima der Auseinandersetzung noch zu verschärfen und anzuheizen.
- Hören Sie einmal zu: Die Vizepräsidentin des Landtages in Nordrhein-Westfalen, Frau Gräber, Bündnis 90/Die Grünen, hat diesen Leuten, diesen Gesetzesbrechern, die sich dort auf die Schienen setzen, die, wie sie bewundernd sagt, mit Mut zivilen Ungehorsam begehen, ausdrücklich ihren Respekt erwiesen. Sie hat sie sogar aufgefordert, noch mehr zivilen Ungehorsam zu leisten. Und sie hat sie dazu aufgefordert, sich auf die Schienen zu setzen, was ein Rechtsverstoß ist - eindeutig, da gibt es unter Juristen keine zwei Meinungen.
Ähnlich hat sich der Herr Appel geäußert; ich will das nicht weiter vertiefen.
Es ist schon unerhört, daß die Grünen Polizeibeamte, die ihre Pflicht tun, als „Berliner Schlägertrupps" bezeichnet haben.
Lieber Herr Möllemann, ich muß auch die Minister Clement und Kniola kritisieren. Wenn man in einer solch angespannten Situation erklärt, der Castor-Transport sei eine „Provokation",
und er sei „Unsinn", dann heizt man die Stimmung an und dann ist jedes Wort von Deeskalation unberechtigt. Das ist doch die Wahrheit.
Wer öffentlich so redet, der sorgt nur dafür, daß die Stimmung höher kocht und mehr Gewalttaten begangen werden.
Meine Damen und Herren, Anerkennung verdient die besonnen und situationsgerecht handelnde Polizei. Ich danke namens meiner Fraktion allen Polizeibeamtinnen und -beamten des Bundes und der Länder, die durch ihren Einsatz das Recht und damit auch die Entscheidungsfreiheit und Handlungsfähigkeit unseres Rechtsstaates schützen.
Unsere Polizeibeamten haben mit Besonnenheit und, wenn nötig, mit Entschlossenheit
ihren Auftrag erfüllt. Ich finde, das war vorbildlich.
Ich kenne noch nicht jedes Detail des Einsatzes der Berliner Beamten. Es gibt noch einzelne Punkte, die geprüft werden. Nach meinen Recherchen aber kann man sagen, daß die Berliner Beamten insgesamt vorbildlich und eindrucksvoll ihre Pflicht erfüllt haben.
Dr. Rolf Olderog
Es ist doch empörend, daß der Innenminister von Nordrhein-Westfalen die Berliner Beamten an dem heißesten Brennpunkt der Konfrontation einsetzt
und ihnen hinterher vorwirft, sie hätten nicht genügend für die Deeskalation getan. Das kann doch wohl nicht anständig sein.
Ich komme zum Schluß. Wir trauern um einen Polizeibeamten. Der junge BGS-Beamte Christian Lang ist auf der Bahnstrecke auf tragische Weise ums Leben gekommen. Gestern ist er unter großer Anteilnahme seiner Kollegen und hoher politischer Vertreter beigesetzt worden. Trägt wirklich niemand Verantwortung für diesen Tod, Herr Kemper? Vielleicht denken jene, die gewaltbereit an die Transportstrecke zu kommen pflegen, einmal darüber nach, wer denn moralisch für diesen Tod Verantwortung und Mitverantwortung trägt.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Ursula Schönberger.
Herr Kollege, ich möchte es ganz kurz machen. Auch wir trauern um den Polizeibeamten, der sein Leben lassen mußte. Ich finde es aber völlig unerträglich, diese Tatsache zu einem Gegenstand der politischen Argumentation hier im Haus zu machen.
Herr Köhne, handelt es sich um eine Kurzintervention zu derselben Rede? - Bitte schön.
Herr Kollege Olderog, nachdem Sie den tragischen Tod eines Polizisten angesprochen haben, muß ich natürlich auch für unsere Seite sagen, daß dies eine traurige Angelegenheit ist. Ich weise aber darauf hin, daß das genausogut bei einer Autobahnkontrolle oder ähnlichem hätte passieren können. Das hat mit dem Castor-Transport, also mit dem politischen Hintergrund, nichts zu tun.
Ich gebe der Abgeordneten Jutta Müller das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter dem heutigen Tagesordnungspunkt, der sich mit den Castor-Transporten beschäftigt, sind auch drei Petitionen zusammengefaßt, die in unserem Ausschuß behandelt worden sind. Es sind Petitionen, die sich mit der Nutzung der Kernenergie befassen, Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern, die zum Teil durch viele Unterschriften getragen werden und die uns zeigen, daß die Nutzung der Kernenergie immer mehr an gesellschaftlicher Akzeptanz verliert. Neben dem generellen Ausstieg aus der Atomenergie befassen sich zwei Petitionen mit der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente und dem Dauerbrenner Morsleben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn, wie im vorigen Jahr passiert, in La Hague erhöhte Radioaktivität festgestellt wird, wenn die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern dieser Region um das Fünffache steigt, dann ist das nicht nur ein französisches, sondern auch ein deutsches Problem. Jahr für Jahr werden 230 Millionen Liter radioaktiver flüssiger Atommüll in La Hague ins Meer abgelassen. Mindestens ein Drittel davon stammt aus Deutschland.
Wir reden heute über Castor-Transporte nach Ahaus und Gorleben. Aber wir müssen heute auch - deshalb passen diese Eingaben sehr gut zu diesem Tagesordnungspunkt - über die Transporte nach La Hague und Sellafield reden. Als im vorigen Jahr die erhöhte Radioaktivität bei der Greenpeace-Messung bekannt wurde, meinte ein Vertreter der französischen Betreiberfirma Cogema, die dort verantwortlich ist, dies sei alles halb so schlimm, da das Abflußrohr, aus dem die Radioaktivität ausströme, unterhalb des Wasserspiegels liege; außerdem würden die Schleusen nur dann geöffnet, wenn die Strömung vor der Küste am stärksten sei, also immer ein bis zwei Stunden nach der Flut.
Nun, das ist wirklich beruhigend. Es ist beruhigend, daß ein Großteil der Wiederaufarbeitung von deutschem Atommüll in so verantwortungsvolle Hände gelegt ist. Die Bundesregierung hat damals dazu geschwiegen; sie schweigt zu diesen und anderen Störfällen in der französischen Atomindustrie, aber auch in Sellafield, obwohl sie als Hauptkunde dieser Anlagen einen politischen Hebel in der Hand hätte.
Ich denke, allein aus der moralischen Verantwortung gegenüber den Menschen in La Hague und Sellafield und entlang der Transportstrecken sollten wir unseren Atommüll im eigenen Land lagern. Aber wenn wir uns hier über Lagerung unterhalten, dann muß auch klar sein, über welche Mengen wir sprechen. Ich bin der Auffassung, daß verantwortungsvoller Umgang mit radioaktiven Abfällen zunächst einmal damit beginnt, daß man die Produktion weiterer solcher Abfälle stoppt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Friedrich?
Ja. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön.
Frau Kollegin, nachdem Sie die Entsorgung im Ausland kritisieren, frage ich Sie: Teilen Sie inzwischen meine Auffassung, daß es besser gewesen wäre, die Wiederaufarbeitung in Wackersdorf durchzuführen?
Lieber Herr Kollege Friedrich, diese Auffassung teile ich natürlich nicht, weil ich das ganze Projekt der Wiederaufarbeitung für Blödsinn halte.
Was ich teile, ist die Ansicht, daß wir nationale Lagerstätten finden müssen, weil es unverantwortlich wäre, den Dreck, den wir hier produzieren, ins Ausland zu bringen. Darüber können wir uns sicherlich einigen. Aber über das Unterfangen der Wiederaufarbeitung brauchen wir, denke ich, gar nicht mehr zu reden. Wir haben für diese Form der Energie in diesem Land keine Akzeptanz mehr. Sie finden doch kein einziges großes EVU, das überhaupt auf die Idee käme, einen neuen AKW-Standort auszuweisen. Sogar im atomfreundlichen Land Bayern sind Sie doch mit Wackersdorf ganz böse auf die Schnauze gefallen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann? - Bitte schön.
Frau Kollegin, weil ich Ihre Einschätzung teile - ohne daß ich sie begrüße -, daß es ungeheuer schwer ist, in diesem Zusammenhang neue Standorte zu definieren, frage ich Sie: Wie würde denn nach Ihrer Meinung ein politischer Konsens aussehen können, der an Stelle von drei zentralen Zwischenlagern in Ahaus, Gorleben und Greifswald viele dezentrale in der ganzen Republik vorsähe und der dann überall akzeptiert würde? Haben Sie nicht mit mir die Besorgnis, daß das eine Potenzierung des Widerstandes, und zwar immer mit denselben Leuten, mit denselben Gruppen, an ganz vielen Orten ergäbe?
Jetzt reden wir über zwei Probleme. Sie fragen selbst: Wo wird das akzeptiert? Ich finde es nur etwas merkwürdig, daß man in den Bundesländern, wo sich die Landesregierungen sehr für die Kernenergie stark machen, sagt: Aber den Müll, den wir produzieren, schicken wir den anderen, den schicken wir den Rotgrünen; die sollen sehen, wie sie mit dem Dreck fertig werden.
Das ist kein sonderlich feines Verhalten.
Wenn Herr Stoiber und Herr Teufel auf Kernenergie setzen, dann müssen sie sich auch einmal über Zwischenlagerstätten in ihren Ländern Gedanken machen.
Über die Endlagerfrage müssen wir ganz anders reden. Herr Möllemann, wenn wir über Endlagerung reden, dann müssen wir auch einmal konkret darüber reden, welche Mengen das umfassen soll. Wenn wir uns nicht auf einen Ausstieg verständigen und wissen, wann mit der Produktion des Atommülls Schluß ist, können wir sehr schlecht über Endlagerstätten reden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Möllemann? - Bitte.
Ich finde das großzügig. Vorhin habe ich meinerseits keine Zwischenfrage gestattet. Vielen Dank.
Wenn Herr Schröder in bezug auf das Kernkraftwerk in Lingen, in dem Atomstrom produziert wird, der zu 80 Prozent nach Nordrhein-Westfalen geht, also in ein Land, in dem zweifellos nicht die CDU regiert
- ich führe das nur an, weil ich es interessant finde, wenn jemand abgebrannte Brennelemente in ihrer Qualität danach beurteilt, wer in dem betreffenden Land regiert -, den Wunsch hätte, daß auch die abgebrannten Brennelemente logischerweise nach Nordrhein-Westfalen, nämlich nach Ahaus, gehen sollten, würden Sie dem dann zustimmen?
Ich finde, wir führen hier langsam eine Hasendiskussion. Darum geht es doch im Endeffekt gar nicht mehr.
Es geht doch jetzt darum, daß auf Weisung der Frau Merkel speziell aus den süddeutschen Ländern Atommüll nach NRW gefahren wird mit der Begründung: Jetzt haben wir die Niedersachsen geärgert und die haben uns Arger gemacht, und nun karren wir den Dreck nach Nordrhein-Westfalen, weil die Nordrhein-Westfalen so geduldig und so ruhig sind. Damit hat man die Bevölkerung dort ja enorm provoziert. Das halte ich politisch für falsch. Ich halte es politisch immer für falsch, wenn man eine Politik gegen den Willen der Bevölkerung macht. Ich denke, es gibt doch in der Bevölkerung einen Konsens dar-
Jutta Müller
über, daß wir ein Ende der Atomenergie wollen. Der ist doch da.
Damit, daß es dann immer noch Müll gibt - Gott sei es geklagt -, müssen wir zurechtkommen. Wenn wir einen Konsens über das Ende erzielen können, dann können wir ebenfalls einen Konsens darüber herbeiführen, was wir mit den Müllmengen machen sollen. Dazu sind wir bereit. Es haben ja auch Gespräche stattgefunden. Es gab Konsensgespräche.
- Das hat doch jetzt damit überhaupt nichts zu tun.
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Friedrich?
Ich gestatte noch eine eines bayerischen Kollegen, nachdem wir bis jetzt fast nur solche von nordrhein-westfälischen hatten.
Bitte.
Frau Kollegin, nachdem Sie uns unterstellt haben, wir entsorgten nur in SPD- oder Grün-regierte Länder: Ist Ihnen bekannt, daß vereinbart wurde, Gorleben zum Standort zu machen, als dort ein CDU-Ministerpräsident regiert hat?
Ja, das ist mir bekannt. Aber Gott sei Dank regiert er heute dort nicht mehr. Nur, ich warte auf einen Standort in Bayern oder Baden-Württemberg. Vielleicht können Sie einmal einen entsprechenden Vorschlag machen.
Ich will jetzt zu den Petitionen zurückkommen, die uns erreicht haben. Wenn wir über Zwischen- oder Endlager reden, dann müssen wir ebenfalls darüber reden, wo denn zwischen- oder endgelagert werden soll. Wir müssen doch feststellen, daß das einzig existierende Endlager in Deutschland Morsleben ist. Es gab in den vergangenen Jahren sehr viele Eingaben. Es verhält sich eben nicht so - wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion darzustellen versuchte -, daß das
Atomendlager Morsleben sehr sicher sei. Die Einlagerung von Atommüll ohne geprüften Langzeitsicherheitsnachweis und ohne umfassende Sicherheitsüberprüfung ist ein erhebliches Risiko für die Bevölkerung. Deshalb haben wir immer gefordert, daß das Endlager in Morsleben durch ein Stilllegungsverfahren zügig begrenzt und zeitlich befristet wird.
Im vorigen Jahr konnte auch jeder, der das wollte, ein Gutachten lesen, aus dem hervorgeht, daß in Morsleben auch die bisher für unbedenklich gehaltenen Bereiche deutliche Sicherheitsmängel aufweisen. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß auch der Schacht „Bartensleben" undicht gegen Wassereintritte aus dem darüberliegenden Gebirge ist. Bisher galt übrigens nur der Schacht „Marie" wegen Zuflüssen aus dem Deckgebirge als undicht und daher zur Atommüllagerung nicht geeignet. Damit ist nun einmal mehr bewiesen, daß im einzigen deutschen Endlager für Atommüll keine Langzeitsicherheit gegeben ist.
Man kann nicht darauf bauen, daß es ein besonderes Vertrauen in der Bevölkerung für eine solche Politik gibt, wenn wir deutschen Atommüll in „Merkelschen" Tropfsteinhöhlen einlagern. Diese Expertise stammt noch nicht einmal von Greenpeace oder vom BUND, sondern sie stammt von der Betreibergesellschaft selbst. Trotzdem wurde mit einer Novelle zum Atomgesetz - übrigens gegen unsere Stimmen - ermöglicht, daß in Morsleben fünf Jahre länger, als im Einigungsvertrag festgelegt, Atommüll eingefahren werden darf.
Im Atommüllager Morsleben wird aber nicht nur gestopft und geflickt, sondern es wird auch das Hohlraumvolumen unter Tage ausgebaut. Die Einlagekapazität für Atommüll im Westfeld ist ausgeschöpft, so daß ein Weiterbetrieb nur Sinn macht, wenn, wie vom BfS beim Bergamt Staßfurt beantragt, die Erweiterungsarbeiten im Ostfeld voranschreiten.
Dieser Antrag stellte nach Auffassung des Umweltministeriums des Landes Sachsen-Anhalt eine wesentliche Änderung der Atomanlage dar und bedarf der atomrechtlichen Genehmigung und Planfeststellung. Der Bund teilte diese Auffassung natürlich nicht. In solchen Fällen arbeitet die Umweltministerin mit Weisungen. Es wird nicht mit den Ländern diskutiert oder verhandelt, es wird nicht erörtert. Das Land Sachsen-Anhalt wurde angewiesen, einer Ostfelderweiterung zuzustimmen.
Der Entsorgungsschuh scheint Frau Merkel mittlerweile so sehr zu drücken, daß sie wider besseres Wissen an einem Weiterbetrieb von Morsleben festhält. Wir halten ein solches Verfahren für skandalös. Daß dies die Menschen vor Ort beunruhigt, ist eigentlich normal. Die Bürgerinnen und Bürger schreiben unserem Ausschuß ja nicht, weil sie sonst nichts zu tun hätten. Sie demonstrieren auch nicht, weil sie sonst nichts zu tun hätten. Sie tun dies in großer Sorge. Sie tun es in großer Sorge um das Leben und die Gesundheit nachfolgender Generationen.
Jutta Müller
Von daher fordern wir Sie auf, Frau Merkel: Hören Sie auf, Energiepolitik gegen den Willen der Menschen zu machen. Beschäftigen Sie sich mit den Eingaben der Bürgerinnen und Bürger, die Ihnen ihre Sorgen hier mitteilen. Vollziehen Sie eine Wende in der Energiepolitik, damit Sie wenigstens, falls Sie nicht mehr an der Regierung sind, als Umweltministerin und nicht als Atomministerin in die Geschichte eingehen.
Nun spricht als Mitglied des Bundesrates die Ministerin für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Bärbel Höhn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer seine Politik mit Zehntausenden von Polizisten gegen den Willen der Bevölkerung und gegen den Willen der betroffenen Landesregierung notfalls auch durchprügeln lassen will, der hat gezeigt, daß seine Politikkonzepte in die Sackgasse geraten sind, der hat gezeigt, daß seine Politik gescheitert ist.
Gescheitert ist damit auch die Energiepolitik der Bundesregierung; denn sie ist eine reine Atompolitik.
Es gibt gute Gründe, gegen die Nutzung der Atomkraft zu sein. Sie sind selten deutlicher gewesen als in den letzten Wochen. Wir haben zum einen den Normalbetrieb von Atomkraftwerken, wir haben die Gefährdung der Umwelt, und wir haben die Gefährdung der Gesundheit. Wir haben nicht nur Unfälle in Atomkraftwerken. Dafür steht nicht nur Tschernobyl, dafür steht auch Harrisburg. Man sollte nicht immer nur sagen, die in der Sowjetunion, damals die Ukrainer, oder in Rußland, können es nicht. Vielmehr gibt es auch in den USA Probleme mit Atomkraftwerken.
Es gibt auch Probleme mit Atomtransporten. Ich möchte da nur auf den Atomtransport vor einem Jahr in Frankreich verweisen, wo ein Zug mit deutschem Atommüll zu einer Gefahr der radioaktiven Verseuchung beigetragen hat.
Auch das sind Probleme, die mit dem Transport verbunden sind.
Insofern sage ich: Jeder Castor-Behälter, der hier auf dem Zug gestanden hat, hatte die Radioaktivität des Unfalls von Tschernobyl. Wenn etwas passiert wäre, hätten wir enorme Probleme in diesem Land gehabt.
Deshalb ist es dickköpfig, was diese Bundesregierung macht, gerade auch was die Wirtschaftspolitik angeht; denn es ist eben gesagt worden: Aus wirtschaftspolitischen Gründen müßten Sie hier die Investitionssicherheit gewährleisten.
Ihre Atompolitik schadet den Arbeitsplätzen in diesem Land.
Alle Millionen, die Sie hier einsetzen, und jede Milliarde fehlen am Ende für erneuerbare Energien und für zukunftsfähige Arbeitsplätze.
Sie haben doch dafür gesorgt, daß die Solarenergie in die USA abgewandert ist. Das war die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland. Als Sie gemerkt haben, daß die Zahl der Windkraftanlagen durch das Stromeinspeisungsgesetz immer größer wurde, haben Sie versucht, das Stromeinspeisungsgesetz zu ändern und wieder zurückzufahren,
weil Sie nicht wollten, daß erneuerbare Energien in diesem Land einen Fuß auf den Boden bekommen. Wir haben mittlerweile zehntausend Arbeitsplätze im Bereich der Windkraftenergie. Das ist der Punkt. Und Sie versuchen immer noch auf die veraltete und risikoreiche Atompolitik zu setzen.
Deshalb sage ich Ihnen sehr deutlich und klar, was eine Landesregierung besser machen kann, als es momentan die Bundesregierung macht. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wird allein in das REN-Programm, in Bauinvestitionen bei Gebäuden, in erneuerbare Energien und in energietechnische Verbesserungen in dieser Legislaturperiode 500 Millionen DM stecken. Das sind Möglichkeiten, um etwas zu tun. Wenn das eine Landesregierung kann, dann kann das eine Bundesregierung auf Bundesebene noch viel eher. Sie verschenken durch Ihre Politik zukunftsfähige Arbeitsplätze. Das sage ich Ihnen deutlich.
Die Vorwürfe, die Sie gegen meine Kabinettskollegen Kniola und Clement ausgesprochen haben, sind absurd, weil sie weit an dem vorbeigehen, was momentan in der Bevölkerung gedacht wird. Sie von der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag haben ja gar keinen Bezug mehr zur Bevölkerung.
Die Haltung der Landesregierung, nicht nur die von
Herrn Clement und Herrn Kniola, sondern des gesamten NRW-Kabinetts - das sage ich Ihnen deutlich -,
Ministerin Bärbel Höhn
ist folgende: Ein schneller Ausstieg aus der Atomenergie ist dringend erforderlich und dringend geboten. In Nordrhein-Westfalen ist jetzt schon - das mag ein Vorbild für Sie sein - kein kommerzielles Atomkraftwerk mehr am Netz.
Das muß in Zukunft auch in der übrigen Bundesrepublik so sein.
Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat sich eindeutig dafür ausgesprochen, daß die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente generell nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in der gesamten Bundesrepublik verboten und aus dem atompolitischen Konzept der Bundesrepublik gestrichen werden muß. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat gesagt, daß sie Atommülltransporte quer durch die gesamte Bundesrepublik ablehnt. Das ist die Haltung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möllemann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber sicher, Herr Möllemann. Nordrhein-Westfalen dürfen immer fragen.
Frau Kollegin, Sie haben es für zweckmäßig gehalten, der Koalition vorzuhalten, sie habe keinen hinreichenden Bezug mehr zur Bevölkerung. Halten Sie es für einen Ausweis Ihres Bezuges und des Bezuges Ihrer Partei zur Bevölkerung, wenn Sie ihr künftig für jeden Liter Sprit 5 DM
und für Auslandsreisen Aufschläge aufbrummen wollen? Ich habe das Gefühl, daß die Bevölkerung dazu einen ganz anderen Bezug hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Möllemann, anders als Sie haben gerade die Grünen eine ökologische Steuerreform vorgeschlagen. Dabei sind die 5 DM für den Liter Benzin ein kleiner Baustein.
Allein mit der ökologischen Steuerreform werden Sie die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen können. Die Konzepte der F.D.P. sind so hinterwäldlerisch, daß Herr Westerwelle schon sagen mußte, es sei gut, daß die Grünen endlich diesen Beschluß gefaßt hätten, denn damit erscheine für die F.D.P. wieder ein Hoffnungsschimmer am Horizont. Das ist doch Ihre Situation. Sie wissen gar nicht mehr, was Sie tun, weil Sie so an die Wand gedrückt wurden.
Eine Bereitschaft zur ökologischen Steuerreform besteht bei Schäuble und bei weiten Teilen der CDU. Für diese gibt es einen Grundkonsens bis in die Industrie hinein. Die einzigen, die sie nicht wollen, sind die F.D.P. und Teile der Industrie. Die Massenarbeitslosigkeit in diesem Land muß man über die ökologische Steuerreform bekämpfen.
Nur so wird es gehen, denn Sie müssen die Lohnnebenkosten senken. Wo wollen Sie das Geld hernehmen? Sie müssen es durch eine Belastung der Ressourcen bekommen. Das ist der Weg, den die Grünen gehen werden. Das wird auch die Bevölkerung verstehen.
Wo Ihr Bezug, Herr Möllemann, zur Realität ist, habe ich vorhin an Ihrem Einwurf gemerkt. Sie haben auf den Beschluß von 1979 zur Zwischenlagerung in Ahaus hingewiesen und erwähnt - das haben Sie zum Glück noch einmal zitiert -, daß die Endlagerung gesichert sein muß.
- Gesichert erscheinen muß. - Daß Sie heute immer noch glauben, daß die Endlagerung gesichert erscheine, zeigt, wie weit Sie von der Realität in der Bundesrepublik Deutschland entfernt sind.
Ja, wir brauchen einen neuen Energiekonsens, wir brauchen ihn auch im Konsens mit der Bevölkerung.
Gerade deshalb sage ich Ihnen sehr deutlich: Wir werden ihn nur schaffen, wenn wir ihn mit dem Ausstieg aus der Atomenergie verbinden. Nur dann werden wir ihn hinbekommen.
Daß die Menschen in Ahaus 50 Transporte nach Ahaus ohne Murren und ohne Demonstrationen hingenommen haben, ist dem Umstand zu verdanken, daß diese 50 Transporte für die Stillegung des AKW Hamm-Uentrop notwendig waren. Das ist der Grund. Die Leute haben dafür Verständnis, wenn man damit gleichzeitig den Ausstieg aus der Atomenergie verbindet. Unser Konzept lautet daher, daß man das nicht gegen die Bevölkerung machen darf, sondern nur mit der Bevölkerung zusammen. Das werden auch wir tun.
- Das hat auch eine Menge mit der Sicherheit der Bevölkerung zu tun.
Ministerin Bärbel Höhn
Denn solange man auf die Atomkraft setzt, ohne die Endlagerung sicher zu haben, und den Ausstieg überhaupt noch nicht mal in die Reichweite der Gedanken bringt, solange man sogar noch neue Atomkraftwerke installieren will, solange setzt man die Bevölkerung über Jahrzehnte einem Sicherheitsrisiko aus, das wir nicht wollen. Gerade deshalb muß man den Ausstieg aus der Atompolitik damit verbinden.
Ich sage Ihnen: Daß wir, die wir von Anfang an immer gegen die Atompolitik und den Atommüll gekämpft haben, nach dem 27. September,
dafür verantwortlich sein werden, ihn wegzubringen, das ist in der Tat eine Ironie des Schicksals. Man braucht eine lange Zeit, bis man eine solche Regierung abgelöst hat. Aber wir werden es schaffen. Das werden Sie sehen.
Noch einmal zu den Demonstrationen vor Ort. Ich weise auch die Vorwürfe gegen meine Kollegin Grüber zurück und sage Ihnen sehr deutlich: Katrin Grüber hat aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitiert, das sehr deutlich aussagt, daß klar differenziert werden muß zwischen Ordnungswidrigkeiten bei dem offenen Symbolakt, sich auf eine Schiene zu setzen, und heimlichen Straftaten. Wer das hier vermischen will, der schürt die Eskalation.
Deshalb: Gehen Sie da doch mal hin!
Ich sage Ihnen: Die Abgeordneten des Bundestages und des Landtages, die dort waren und zu einer Deeskalationsstrategie beigetragen haben, haben eine Menge damit zu tun, daß die Demonstrationen gegen die Transporte friedlich waren. Ohne diese Abgeordneten wäre es, glaube ich, sehr viel schwieriger gewesen, das hinzubekommen.
Die Polizisten insbesondere aus Nordrhein-Westfalen haben dort an vielen Stellen gute Einsätze gemacht. Sie haben es auch demonstrativ gesagt. Herr Kniola - und da bin ich mit ihm einer Meinung - hat das Verhalten einiger Polizisten sehr deutlich kritisiert, insbesondere das von Polizisten von außerhalb Nordrhein-Westfalens, insbesondere aus Berlin.
Da kann ich mit ihm nur übereinstimmen. Diese
Punkte werden wir auch von Nordrhein-Westfalen
aus überprüfen. Das lassen wir uns nicht so einfach bieten.
Am Ende vielleicht folgendes: Sie haben soeben hier in vielen Reden sehr deutlich gemacht, daß Sie ein Recht hatten, diesen Transport durchzusetzen. In der Tat, Sie hatten ein Recht, diesen Transport durchzusetzen, und haben ihn deshalb eben auch gegen die Landesregierung durchgesetzt. Aber ich sage Ihnen: Genausogut hat die Bevölkerung in diesem Land, haben die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland das Recht, eine Bundesregierung abzuwählen, die eine verfehlte Atompolitik gemacht hat. Das erwarten wir am 27. September.
Vielen Dank.
Es liegen Wünsche nach zwei Kurzinterventionen vor. Ich gebe das Wort zur ersten Kurzintervention dem Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe zwei Bemerkungen in Ihrer Rede zum Anlaß genommen, mich zu melden. Die erste: Sie sind auf die 5 DM für einen Liter Benzin lediglich deshalb angesprochen worden, weil Sie behauptet haben, daß Sie besonders nahe an der deutschen Bevölkerung seien. Sie haben darauf geantwortet, daß die ökologische Steuerreform, die ja so, wie Sie sie vorschlagen, de facto nichts anderes ist als ein höheres Abkassieren, schließlich bis zu Herrn Schäuble in den Reihen der Union besonders beliebt sei.
Also, wir haben innerhalb der Koalition manche unterschiedliche Auffassung. Aber in einem Punkt, meine ich, muß man die Kollegen von der Union in Schutz nehmen: Man kann die Union wirklich nicht für den Beschluß 5 DM für einen Liter Benzin in Haftung nehmen. Es ist sogar so, daß Ihnen dafür von der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten, Herrn Schröder, der „Jagdschein" ausgestellt wird. Tun Sie also nicht so, als seien Sie nahe an der Bevölkerung! Sie sind mit solchen Beschlüssen weit weg, auf dem Mond.
Die zweite Bemerkung, die Sie gemacht haben, ist meines Erachtens viel entscheidender. Sie haben am Anfang davon gesprochen, es sei - sinngemäß - ein starkes Stück, daß die „Politik hier mit den Polizisten durchgeprügelt" werden müsse. Das entlarvt ein Rechtsstaatsverständnis, das wirklich skandalös ist.
Wer Recht und Gesetz in Deutschland durchsetzt,
der ist kein Prügler, meine Damen und Herren. Wer
Recht und Gesetz durchsetzt, der prügelt Recht und
Dr. Guido Westerwelle
Gesetz nicht durch, sondern der sorgt dafür, daß die Prinzipien unserer Verfassung, unseres Rechtsstaates zur Geltung kommen.
Ihr gestörtes Verhältnis zum Gewaltmonopol des Rechtsstaates und zu Recht und Gesetz steht in Kontinuität zu einer weiteren Diskussion, die ja mittlerweile auch vielen Kolleginnen und Kollegen der SPD nicht gefällt. Sie weisen beispielsweise darauf hin, daß ein gigantischer finanzieller und materieller Aufwand nötig sei, um diese Transporte zu ermöglichen. Die Transporte sind aber von der Politik, den Parlamenten und der Exekutive genehmigt worden. Die Gerichte haben diese Transporte bis in die obersten Instanzen genehmigt. Es ist ein Stück rechtsstaatliche Sensibilität, dann auch klarzumachen, daß das Durchsetzen von Recht keine Kostenfrage ist. Sonst müssen wir nämlich bei allen Dingen fragen, wie teuer die Durchsetzung des Rechts in Deutschland eigentlich sein darf. Es ist ein skandalöser Ansatz, den Sie hier verfolgen.
Eine dritte Bemerkung ist hier notwendig. - Auch das ist entlarvend für Sie, die Grünen, und Ihr Rechtsstaatsbewußtsein.
Es ist wirklich lobenswert, daß Sie, Frau Höhn, das Wort hier ergriffen haben. Gerade Sie sollten möglichst oft hier im Hause vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit sprechen. -
Ich muß Ihnen folgendes sagen: Ihr Verhalten steht in Kontinuität zu Aufrufen von Grünen des Deutschen Bundestages und des Europaparlaments in der deutschen Presse, Schienen zu demontieren und zu zersägen.
Wenn Abgeordnete dieses Hauses zur Brechung des Rechts aufrufen, das sie selber gesetzt haben, ist das ein Skandal. Das muß auch so genannt werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ein letzter Satz, bitte. Daß das nicht einzelne Entgleisungen sind, das zeigt der Brief, den die Vizepräsidentin des Landtages von Nordrhein-Westfalen, Ihre Parteikollegin Grüber, Herrn Kollegen Linssen geschrieben hat. Dort wird wieder einmal das Brechen des Rechts als besonders moralische, höherwertige Tat benannt und begründet.
Die Grünen sind nicht liberal; sie sind gefährlich für die Liberalität in diesem Lande.
Frau Ministerin Höhn, Sie können darauf antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Westerwelle, nur eines dazu. Das, was Sie hier sagen, wird nicht dadurch besser, daß Sie Worte von mir hier verdrehen. Deshalb wiederhole ich deutlich das, was ich am Anfang meiner Rede gesagt habe - das wird man im Protokoll auch nachlesen können -: Wer seine Politik mit Zehntausenden von Polizisten gegen den Willen der Bevölkerung und gegen den Willen der betroffenen Landesregierung notfalls durchprügeln lassen muß,
dessen Politikkonzepte sind an der Wand. Das ist auch so. Denn worauf Sie sich berufen - auch das habe ich sehr deutlich in meiner Rede gesagt -, ist das Recht. Deshalb haben diese Transporte ja auch stattgefunden. •
Aber ich sage Ihnen: Nach dem, was hier ausgeführt worden ist, habe ich den Eindruck, Ihnen wäre es lieber gewesen, die Transporte wären nicht so friedlich abgelaufen, wie sie am Ende abgelaufen sind.
Denn warum macht man so etwas gegenüber einer rotgrünen Landesregierung gerade im Bundestagswahlkampf?
Gerade deshalb sage ich: So wie das Recht hier auf Ihrer Seite steht, deshalb dieser Transport auch stattgefunden hat und die Landesregierung alles getan hat, um diesen Tansport stattfinden zu lassen - das haben wir getan -, gibt es ebenso das Recht der Bevölkerung, die Bundesregierung zu wählen. Von diesem Recht wird die Bevölkerung, auch was die Atompolitik angeht, sehr wohl Gebrauch machen und sich am 27. September dieses Jahres für eine andere Atompolitik entscheiden.
Bezüglich der von Ihnen angesprochenen Bemerkungen der Vizepräsidentin Karin Grüber stelle ich fest - aus dem Brief, aus dem Sie zitiert haben, geht das ja deutlich hervor -: Sie zitiert hier aus einem
Ministerin Barbel Höhn
Bundesverfassungsgerichtsurteil. In diesem Urteil wird sehr differenziert, daß man, wenn man sich symbolhaft auf Schienen setzt, sehr offen eine Ordnungswidrigkeit begeht, und im Unterschied dazu stehen Straftaten, die heimlich verübt werden. Auf nichts anderes hat die Vizepräsidentin des Landtages in Nordrhein-Westfalen hingewiesen. Auch das ist nach Recht und Gesetz.
Wenn man hingeht wie Sie, Herr Olderog, und sagt, daß man sie alle in einen Topf werfen könne, wenn man also die, die sich symbolisch hinsetzen, mit heimlichen Straftätern zusammenpacken will, dann trägt man zur Eskalation bei.
Was Sie hier immer gesagt haben, nämlich daß da nur die Chaoten sein würden - -
Frau Ministerin, eine Sekunde. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie auf die Intervention des Kollegen Westerwelle und nicht auf die Rede des Kollegen Olderog antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das mache ich ja gerade.
Das, wovon Sie eben gesprochen haben, Herr Westerwelle, der Sie deutlich die Berufsdemonstranten erwähnt haben, hat sich in Ahaus überhaupt nicht bewahrheitet. Es ist doch ein Widerspruch, wenn Sie auf der einen Seite sagen, sie konnten sich so schnell nicht mehr freinehmen, und auf der anderen Seite, es seien Berufsdemonstranten. Berufsdemonstranten haben immer frei. Sie wären die ersten gewesen, die hätten dasein können. Deshalb stimmt das so nicht.
Im Münsterland hat die Bevölkerung selber dieser Bundesregierung die Quittung gegeben. Frau Merkel ist hingegangen und hat gesagt: „In Ahaus wird schon nichts passieren, da können wir die CastorTransporte rollen lassen", und die Münsterländer haben gesagt: „Das lassen wir uns von Frau Merkel nicht bieten. Wir wissen, wo und wann wir demonstrieren wollen. " Die Demonstranten waren aus der Region und haben ihren Protest deutlich gemacht. Das ist ein Unterschied zu dem Verhalten bei allen anderen Castor-Transporten, die vorher stattgefunden haben.
Frau Ministerin Höhn, ich muß Sie auf zwei Dinge ansprechen. Die Antwort auf eine Kurzintervention von drei Minuten dauert nach den Regeln dieses Hauses maximal drei Minuten.
- Eine Sekunde. - Sie haben als Mitglied des Bundesrates das Recht, jederzeit und ohne Zeitbegrenzung zu sprechen. Wenn Sie das tun, hat das aber Folgen für die Redezeit der Fraktionen, die ihre Redezeit bereits ausgeschöpft haben. Wenn wir also in diesem Sinne fortfahren, wird es eine nicht unerhebliche Verlängerung der Debatte geben. Darauf möchte ich Sie aufmerksam machen.
Das zweite. Der Bundesrat achtet bei Reden im Bundesrat darauf und fordert mit Recht, daß der besonderen Situation Rechnung getragen wird, daß man im Hause eines anderen Verfassungsorgans spricht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie bei der Wortwahl und der Argumentation nicht anders verfahren würden, als Sie es von Mitgliedern dieses Hauses im Bundesrat erwarten.
Damit gebe ich das Wort zur zweiten Kurzintervention dem Abgeordneten Dr. Peter Paziorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu den Ausführungen der Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen drei Bemerkungen machen.
Erstens. Ich finde es schon merkwürdig, daß Frau Höhn hier einfach behauptet, die Münsterländer hätten in Ahaus gegen die Transporte demonstriert. Ich wohne im Münsterland und finde es sehr erstaunlich, daß Sie eine pauschale Behauptung von sich geben und so tun, als ob das gesamte Münsterland Ihre Position, die Sie heute hier vorgetragen haben, trägt. Ich weiß gar nicht, wie Sie zu einer solch anmaßenden Haltung kommen.
Zweitens. Ihre Ausführungen müssen in diesem Hause auf Widerspruch stoßen, und zwar aus folgendem Grunde: Sie haben auf den Transportunfall in Frankfurt hingewiesen und diesen als einen Beleg für die Gefährlichkeit von Transporten anführen wollen. Sie sind überhaupt nicht darüber informiert, was gerade aus dem rotgrünen Lager in diesem Hause hier immer wieder zu diesen Transporten gesagt wird. Es kann nämlich nicht angehen, daß Transporte einmal - wie Sie es gerade getan haben - als Risiko und als gefährlich bezeichnet werden, wodurch letztlich auch rechtswidrige Proteste - zwar nicht in Ahaus, aber woanders - moralisch legitimiert werden und daß es zum anderen die Äußerung gibt - wie von Ihrer Kollegin Schönberger bei uns im Umweltausschuß -, daß diese Transporte wohl durchgeführt werden könnten, wenn vorher feststehe, ob ein Ausstieg aus der Kernenergie erfolge oder nicht. An solchen Beispielen wird deutlich, welchen argumentati-
Dr. Peter Paziorek
ven Schlingerkurs sowohl Grüne als auch Rotgrüne fahren.
Es ist nämlich nicht möglich, den Ausstiegsbeschluß zur Voraussetzung dafür zu machen, ob ein Transport als gefährlich angesehen werden kann oder nicht. Ich sage ganz klar und deutlich: Wir halten diese Transporte für sicher und nicht gefährlich.
Ein dritter Punkt. Wenn Sie davon sprechen, daß durch Polizeieinsatz die Transporte notfalls durchgeknüppelt werden würden, dann kann ich überhaupt nicht verstehen, daß die SPD-Bundestagsfraktion gegen diese unmöglichen Worte keinen Widerspruch erhebt, so wie es die SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen hinsichtlich der Äußerungen der Grünen zu Recht getan hat.
Herr Kemper stellt sich hierhin und tut so, als ob die Deeskalation in Nordrhein-Westfalen hervorragend gelaufen sei. Das haben Sie doch gesagt, Herr Kemper.
Aber gleichzeitig tut eine Ministerin aus Nordrhein-Westfalen mittels einer scharfen Wortwahl und Tonart so, als ob die Bereitschaft aus nordrhein-westfälischer Sicht bestanden hätte, notfalls etwas durchzuknüppeln. Wo ist denn die gemeinsame Linie von Rotgrün in dieser Frage? Hier wird mit unterschiedlichen Zungen gesprochen. Daß Sie als Ministerin in Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, diesen Kurs mitmachen, obwohl sich die SPD anders dazu stellt, zeigt, daß Sie unredlich argumentieren. Das soll nach meiner Meinung in diesem Haus nicht weiter fortgeführt werden.
Vielen Dank.
Auch darauf können Sie antworten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich gebe eine sehr kurze Antwort darauf. Erst einmal muß ich sagen, Herr Präsident, daß ich es gewohnt bin, wenn Äußerungen im Parlament kritisiert werden, daß diese konkret genannt werden. Deshalb bitte ich, mir eine konkrete Äußerung vorzuwerfen und nicht pauschal zu sagen, ich verhielte mich dem Hohen Hause nicht angemessen. Das kann man so pauschal nicht sagen.
Werfen Sie mir bitte eine Äußerung vor, die ich gemacht habe!
Der zweite Punkt. Herr Paziorek, ich habe vorhin nicht von einem Unfall in Frankfurt, sondern in Frankreich gesprochen.
Dieser Unfall ist vor einem Jahr passiert und hat in der Tat zu erheblichen Problemen geführt.
Der dritte Punkt. Sie kommen aus dem Münsterland. Das habe ich eben dem Abgeordnetenverzeichnis entnommen. Ich war in Ahaus vor Ort und sage Ihnen:
Auf der Straße dort waren - das werden Sie bestätigen können, wenn Sie da waren - die Münsterländer. Es waren Münsterländer Bauern, die den größten Umzug mit über 200 Treckern durchgeführt haben. Ich bin stolz darauf, als Landwirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen.
Das war eine kraftvolle Demonstration insbesondere von Wählerinnen und Wählern der CDU und - das behaupte ich - nicht der Grünen und der Sozialdemokraten.
Gerade deshalb muß es Ihnen besonders weh tun, wenn Sie sehen, was diese Menschen dort unternehmen.
In diesem Sinne wünsche ich mir für die Bundesrepublik Deutschland eine andere Atompolitik, und diese wird es auch geben.
Vielen Dank.
Nach § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung gebe ich dem Abgeordneten Möllemann das Wort für eine Rede von zwei Minuten.
Frau Ministerin, Sie haben erneut versucht, die Äußerungen der Landtagsvizepräsidentin und inzidenter auch die von Herrn Appel zu relativieren und zu bagatellisieren, indem Sie auf hier nicht näher zitierte Ausführungen von Verfassungsorganen abgehoben haben.
Ich akzeptiere nicht, wie Sie hier argumentieren, und frage Sie: Wie lange soll eigentlich der Bürger im Land noch verstehen, daß der dem gleichen Kabinett wie Sie angehörende, für die innere Sicherheit zuständige Innenminister Kniola erklärt, die Besetzung
Jürgen W. Möllemann
von Gleisen sei eben keine Bagatelle oder kein Happening, sondern eine Straftat? Wie soll ein Bürger diesem Innenminister und seinem Rechtsverständnis folgen, wenn im Deutschen Bundestag eine Landesministerin für den Bundesrat seine Auffassung relativiert?
Morgen kann schon der nächste Widerspruch auftauchen. Das ist es, was nicht akzeptabel ist. Ihre Fraktionskollegin und Ihr Fraktionssprecher haben dezidiert dazu aufgerufen, etwas zu tun, wovon der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen sagt, das sei Rechtsbruch.
Zweitens. Sie setzen damit eine Argumentation fort, die allmählich wirklich Verblüffung auslöst. Als Ihr Kabinettskollege Clement die Genehmigung für einen Braunkohletagebau vorlegte, haben Sie erklärt, dies sei teilweise rechtswidrig. Wie will eigentlich eine Landesregierung das Vertrauen in Recht und Gesetz beim Bürger einfordern und ihn auffordern, sich daran zu halten, wenn eine Ministerin fortlaufend mitteilt, daß etwas rechtlich einwandfrei sei, wovon aber der Innenminister sagt, es sei Rechtsbruch, und wenn eine Ministerin eine Genehmigung, die der angehende Ministerpräsident erteilt, als rechtswidrig bezeichnet? Ich halte es für unerträglich, wie die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hier im Hohen Hause argumentiert.
Ich gebe nun das Wort dem Abgeordneten Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Höhn, ich habe den Eindruck, daß Sie wieder versuchen, aus Tätern Opfer zu machen.
Ich weise Ihre bösartigen Unterstellungen zur Rolle der Bundesregierung im Zusammenhang mit den Transporten nachdrücklich zurück. Davon ist nicht ein Wort wahr. Sie handeln nach der Methode: „Don't confuse me with facts! " Ich will das einmal an dem aufzeigen, was Sie hier vorgetragen haben.
Erstens. Es ist unverschämt, wenn sich jemand aus Nordrhein-Westfalen - die Kohle wurde in Nordrhein-Westfalen und im Saarland mit 100 Milliarden DM subventioniert - in einer solchen Art und Weise über eine Energieart ausläßt, die für den wirtschaftlichen Standort Deutschlands wirklich einen enormen Beitrag geleistet hat.
Zweitens. Auch Ihre Zahlen zu erneuerbaren Energien sind relativ lächerlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß die Grünen - ich habe es hier immer wieder vorgetragen - angesichts der streikenden Bergarbeiter 2 Milliarden DM von den erneuerbaren Energien in die Steinkohlesubventionen im Bundeshaushalt umschichten wollten. Das ist die Realität der Auseinandersetzung.
Drittens. Sie sollten sich mit dem Vorbild „Energiepolitik Nordrhein-Westfalen" wirklich zurückhalten. Wer praktisch null Kernenergie hat und 100 Prozent CO2 emittiert, nimmt auf andere genausowenig Rücksicht, wie Sie das hier von denen, die die Kernenergie nutzen wollen, behaupten.
Auf diese Klemme komme ich noch zurück.
Aber ich will mich der SPD zuwenden. Ich stelle fest, daß das einzige, was sowohl an der Presseerklärung von Müller, Catenhusen und Genossen als auch an dem Antrag, den die SPD hier heute vorgelegt hat, stimmt, die Rechtschreibung ist; denn Frau Schwall-Düren, Herr Kemper, Herr Müller und alle anderen, die diesen Antrag unterschrieben haben, Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, daß das, was in dem Antrag steht, richtig ist.
Ich widerlege Ihnen das mit Fakten. Sie gehen von vollkommen falschen Voraussetzungen aus bei dem Versuch, der Bundesregierung und der Bundesumweltministerin ständig die alleinige Verantwortung für die Entsorgung der Kernenergie und für die Kernkraftwerke in Deutschland zuzuschieben. Sie wissen ganz genau, daß Sie gegen die Verhältnisse, gegen die Realitäten, gegen Ihre eigene Mitverantwortung reden. Ich werfe Ihnen vor, was Sie draußen tun; Sie instrumentalisieren nämlich die Ängste der Menschen.
Ich werfe Ihnen auch folgenden Widerspruch vor: Sie konnten sich in der ganzen Zeit, in der Sie die nuklearen Entsorgungen unmittelbar mitzuverantworten hatten, darauf verlassen, daß sich die CDU - ich denke etwa an Niedersachsen 1976/77 unter Ernst Albrecht - der gesamtstaatlichen Verantwortung stellte, die der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt dem Land Niedersachsen auferlegt hatte; aber Sie haben sich in dem Augenblick, in dem Sie aus der Macht in Bonn ausgeschieden sind, von dieser gesamtstaatlichen Verantwortung verabschiedet. Sie haben im Grunde genommen aus dem Verlust der Macht eine unverantwortliche Politik konstruiert. Diesen Wechsel haben Sie vorgenommen.
- Nein, das hat vor Tschernobyl angefangen, Herr Schütz. 1984 in Essen haben Sie sich aus der Wiederaufbereitung verabschiedet. Der Versuch, die Grünen zu überholen, scheiterte dennoch an der Realität und an Gerhard Schröder.
Keine der auf die Wünsche der SPD zurückgehenden Anlagen - ich weise Ihnen das dezidiert nach - ist in der konkreten Anwendung sicher, daß Sie noch zu dem stehen, was Sie mit dieser Bundesregierung und mit den Ländern verabredet haben. Das ist das eigentliche Problem.
Ich will einige Beispiele nennen. Sie setzen auf die direkte Endlagerung. Dazu gehört die langfristige
Kurt-Dieter Grill
Zwischenlagerung; dazu gehört die Frage der Pilotkonditionierungsanlage. Sie verweigern aber all das im konkreten Fall.
Den Entsorgungskonsens von 1990, der mit der Bestätigung des Zwischenlagers in Ahaus und der Aufforderung an den Bund, schnellstmöglich ein Endlager für nicht wärmeentwickelnde Abfälle zu errichten, auf Wunsch von Johannes Rau und Wolfgang Clement zustande gekommen ist, setzen Sie nicht um. Sie verweigern den Vollzug und behaupten anschließend noch, diese Beschlüsse seien das Ergebnis einer nicht weitsichtigen Politik gewesen.
So sagte es Wolfgang Clement im Nordrhein-Westfälischen Landtag.
Meine Damen und Herren, wer wie Wolfgang Clement im Februar 1997 im Hinblick auf die Nutzung des Zwischenlagers in Ahaus noch dazu aufforderte, daß der Innenminister die Genehmigung erteilen solle, damit die Transporte überhaupt laufen können, und es im Landtag anschließend fertigbringt, innerhalb von fünf Minuten zwei Thesen gegensätzlicher Natur zu vertreten, indem er am Anfang sagte, die Bundesregierung handle unverantwortlich, wenn sie die Züge durchpeitsche, und am Schluß, im übrigen könne er als Mitglied der Landesregierung garantieren, daß die Transporte sicher seien - genauso hat dies Frau Griefahn bestätigt -, der muß sich die Frage vorwerfen lassen, warum er die Geister auf die Straße rief, um anschließend mit relativ bescheidenen Mitteln zu versuchen, die Dinge wieder einzufangen.
Es gibt eine Fülle von Fällen, bei denen die SPD in Niedersachsen den Rechtsbruch als Mittel eingesetzt hat. Schröder hat die Leute aufgefordert, auf die Straße zu gehen, und anschließend mußte Herr Glogowski mit der Polizei dieses Problems Herr werden. Monika Griefahn mußte 100 Millionen DM aus der Steuerkasse nehmen, um nach einem Rechtsbruch den Schaden wiedergutzumachen. Wer Rechtsbruch als Mittel einer Landesregierung gegenüber dem Bund einsetzt, der muß sich doch nicht wundern, wenn die Menschen Rechtsbruch als legitimes politisches Mittel ansehen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme gleich zum Schluß, Herr Präsident. Aber Frau Höhn hat ebenfalls erheblich überzogen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Dann möchte ich zum Schluß noch eine Bemerkung zu den Petitionen machen, Herr Präsident.
Frau Müller, was Sie hier zu den Petitionen vorgetragen haben, zeigt das, was ich im Kern meine. Sie haben hier erklärt, Sie befürworteten die Petitionen gegen La Hague und Sellafield.
- Ja, gegen die Wiederaufarbeitung. Wenn Sie jetzt aber sämtliche sozialdemokratisch geführten Landesregierungen, die darauf setzen, daß die Transporte nach La Hague stillschweigend akzeptiert werden, aufforderten, diese Transporte sofort einzustellen, dann bekämen wir wirklich ein Problem in Deutschland. Genau dies ist der Widerspruch in Ihrer Politik.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Schütz das Wort.
Danke sehr, Herr Präsident. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Grill, Sie haben gerade der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und auch der Landesregierung von Niedersachsen Rechtsbruch vorgeworfen. Das ist ein ziemlich starkes Wort, ein ziemlich starker Tobak angesichts der Situation, mit der wir uns hier auseinanderzusetzen haben.
Es geht hier um die politische Bewertung des Tatbestandes, daß es aus den süddeutschen Kernkraftwerken permanent Transporte zu den Zwischenlagern in Gorleben und in Ahaus gibt. Wir müssen hier über Akzeptanzverhalten reden. Die Rechtsbewertung ist eine Sache, die Akzeptanzbewertung eine andere Sache, und das haben wir zu unterscheiden. Es ist legitim, in der politischen Diskussion auch möglicherweise unter dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu bewerten, ob es immer sinnvoll und politisch geboten ist, diese Position mit Polizeigewalt durchzusetzen, oder ob wir nicht langsam dazu kommen müssen, in Süddeutschland Lagerkapazitäten vorzuhalten, um derartige Einsätze zu vermeiden, was wir immer gefordert haben. Das ist der Kern der Auseinandersetzung. Wir wehren uns dagegen, daß Sie diese Transporte von Süddeutschland nach Ahaus oder nach Gorleben immer wieder durchführen, und unterstützen auch Demonstrationen dagegen. Dabei kann es nicht hingenommen werden, daß Sie uns sagen, das sei rechtlich anders zu bewerten. Es besteht wirklich ein Unterschied, ob man hier eine Rechtsbewertung oder eine Akzeptanzbewertung bzw. eine politische Bewertung vornimmt. Darum geht es in dieser Auseinandersetzung, daß Sie das immer durcheinanderwerfen.
Wenn wir uns daran erinnern - Sie haben das vorhin angesprochen -, wie es war, als Albrecht vor der Situation stand, daß es politisch nicht mehr durchsetzbar war - Sie kennen die Situation aus Ihrer Nachbarschaft noch sehr gut -, dann müssen wir uns
Dietmar Schütz
doch einmal fragen: Ist es politisch durchsetzbar, daß wir permanent diese Transporte aus Süddeutschland durchführen? Oder müssen wir nicht erst aus der Kernenergie aussteigen, um so die Akzeptanz für Lagerkapazitäten an den verschiedenen Orten - auch in Süddeutschland - zu schaffen? Das ist der politische Kern unserer Auseinandersetzung. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Herr Kollege Grill, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schütz, ich bin Ihnen ausgesprochen dankbar für diese Intervention, weil sie mir Anlaß gibt, auf einige Zusammenhänge hinzuweisen.
Erstens. Am 8. Mai 1989 hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, die Bundesregierung gebeten, einen neuen Entsorgungskonsens in Deutschland zu erreichen. Die Bundesregierung ist dieser Bitte nachgekommen. Es ging dabei auch um das Zwischenlager Ahaus und die Castor-Behälter.
Ich sage Ihnen folgendes: Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen hat dann am 31. Oktober 1990, nachdem alle Ministerpräsidenten der alten Bundesländer dem Beschluß zugestimmt haben, nämlich einem Entsorgungsbeschluß, in dem externe Zwischenlager expressis verbis enthalten sind, mit der Zustimmung von Herrn Schröder, mit der Zustimmung von Frau Griefahn, mit der Zustimmung des grünen Staatssekretärs Bulle die Aufforderung an den Bund gerichtet, schnellstmöglich ein Endlager für nicht wärmeentwickelnde Abfälle zu errichten. Das Genehmigungsverfahren ist dann anschließend in Niedersachsen contra legem, wie ich meine, von Frau Griefahn auf sechs Jahre hinausgezögert worden.
Das ist genau das, was ich meine: Sie setzen das Recht nicht so ein, wie es gemeint ist, nämlich daß man prüft, ob die Genehmigung zu erteilen ist. Sie setzen das Recht ständig als Verhinderungsinstrument ein und kehren damit letztendlich den Sinn des Gesetzes um. Das ist das eine, ganz abgesehen von den Kosten.
Ich möchte Ihnen noch eines sagen, weil das, was hier passiert, wirklich schlimm ist: Frau Griefahn hat mit ihrem Ministerium und ihrem Staatssekretär sogar versucht, die Genehmigung von Schacht Konrad gegen die Zustimmung von Frau Merkel für den Nationalpark Elbetal einzusetzen. So viel ist Ihnen Sicherheit wert.
Zweitens. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen: Die Landesregierung hat erst vor kurzem in einem Gerichtsverfahren über Schadensersatzforderungen für die Pilot-Konditionierungsanlage einen Vertrag mit der GNS unterschrieben, in dem steht: Die Landesregierung Niedersachsen hält sich in Zukunft an Recht und Gesetz. Daraus ist zu schließen, daß sie es bisher nicht getan hat.
Der tiefere Hintergrund, Herr Schütz, ist - das wissen Sie -: Wenn die Landesregierung diesen Vertrag nicht unterschrieben hätte, hätte das Landgericht Hannover die Landesregierung, und zwar Herrn Schröder und Frau Griefahn, für Amtspflichtverletzungen zu einer Schadensersatzleistung in Höhe von 15 Millionen DM verurteilt. Das ist die Realität.
Deswegen sage ich Ihnen: Frau Griefahn hat für Rechtsbruch 60 Millionen DM aus der Steuerkasse Niedersachsens zahlen müssen. Wenn das keine Politik ist, in der instrumentalisiert wird, in der Sie im Grunde genommen der Verfassung nicht mehr gerecht werden, dann weiß ich nicht, welche Beweise ich Ihnen noch vorlegen sollte, es sei denn, ich muß davon ausgehen, daß Sie Fakten nicht akzeptieren.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Angelica Schwall-Düren.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich bin erschrokken darüber, welches Niveau diese Debatte teilweise hat. Ich empfinde es als Hohn, wie Sie von seiten der Koalition hier in der Debatte und auch in Ihrem Antrag zunächst einmal auf Gewalthandlungen im Zusammenhang mit Demonstrationen abheben. Wenn Sie auf diese Weise die Bürgerinitiativen, die kirchlichen Gruppen, die Naturschutz- und Umweltverbände, die Landwirte und die vielen Menschen vor Ort diffamieren, dann beweisen Sie in der Tat nur, daß Sie weder Einfühlungsvermögen haben noch etwas von den Sorgen der Menschen verstehen.
Lassen Sie es sich gesagt sein: Der Protest ist weitgehend friedlich und ohne dramatische Vorkommnisse verlaufen. Herr Paziorek, im Gegensatz zu Ihnen waren die Münsterländer SPD-Abgeordneten vor Ort, haben mit den Leuten dort gestanden und können das deswegen beurteilen.
Die Menschen im Münsterland haben nicht vergebens demonstriert. Sie haben mit ihrem Protest und ihrem Widerstand gegen die unsinnigen Verschiebungen des Atommülls ein wichtiges und ein großes Zeichen gesetzt. Wir Politiker und Politikerinnen und gerade Sie, meine Damen und Herren aus der Koalition, werden daran erinnert, daß man nicht nur in Sonntagsreden davon sprechen darf, daß wir die Verantwortung für die kommenden Generationen zu übernehmen haben; denn, so lesen wir es in ei-
Dr. Angelica Schwall-Düren
nem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" vom 21. 3. 1998:
Aber die mit ausgedienten Brennelementen gefüllten Abklingbecken und die sich langsam füllenden Zwischenlager bieten ein geradezu überwältigendes Bild vom Gegenteil, von versäumter Verantwortung.
In der Tat, bei der Diskussion um die Zwischenlager in Ahaus und Gorleben, um das sogenannte Endlager in Morsleben geht es nicht um rein regionale Probleme. Man kann den Menschen nicht unterstellen, daß sie nach dem Sankt-Florians-Prinzip handeln. Zwar hätten die Bürger und Bürgerinnen Grund genug dazu, da sie im Münsterland jede Menge Belastungen zu tragen haben. Ich erinnere an die Uran-Anreicherungsanlage in Gronau, an die Sondermülldeponie in Ochtrup, an das Kraftwerk Lingen - an schönen Tagen zum Greifen nahe.
Die Bundesregierung verstärkt mit ihren erzwungenen Transporten die räumliche Ungleichverteilung der Risiken und Lasten; das wurde schon mehrfach gesagt. Trotzdem haben sich die Bürgerinnen und Bürger im Münsterland, die entlang der Bahnstrekken demonstriert haben, nicht nur quergestellt, um die Castoren am Erreichen ihres Ziels zu hindern. Die Menschen haben erkannt, daß mit der Beschikkung der Zwischenlager die Befürworter der Kernenergienutzung darüber hinwegtäuschen wollen, daß bis heute, Herr Grill, die Entsorgungsfrage für die Jahrtausende strahlenden Altlasten eben nicht gelöst ist. Das wird bedeuten, daß Ahaus zu einem vorläufigen Endlager werden muß.
Die Demonstrierenden wollten mit ihrer Verweigerung auch deutlich machen, daß sie diese gefährliche und teure Form der Energiegewinnung ablehnen. Deshalb sind sie auch nicht allein geblieben; deshalb sind Menschen auch von weither gekommen, um deutlich zu machen, was Sie eigentlich auch längst wissen sollten: Die Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land will den Ausstieg aus der Atomenergienutzung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grill?
Bitte schön, Herr Grill.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin SchwallDüren, Sie haben soeben gesagt, daß möglicherweise aus Ahaus ein Endlager werden könnte. Dem widerspreche ich entschieden. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang denn den Vorschlag des niedersächsischen Ministerpräsidenten, den er gemeinsam mit Wolfgang Clement und anderen gemacht hat, aus dem ersten Energiekonsens, an Stelle der Endlager die Zwischenlager als Entsorgungsnachweis zu nehmen?
Dieser Vorschlag kann so nicht stehenbleiben; er ist immer im Zusammenhang mit einer sicheren Endlagerung gesehen worden. Auch die Beschickung war mit dieser Endlagerung verknüpft, und - das ist das Entscheidende, auf das ich auch noch kommen wollte - es macht alles nur einen Sinn, wenn wir zum Ausstieg aus der Atomenergie kommen.
Das ist klar, Frau Merkel - das haben Sie sehr deutlich gemacht; insofern muß man sich wirklich fragen, ob Sie als Umweltministerin oder eher als Atomministerin in die Geschichte eingehen werden -: Sie wollen ja nicht über das reden, was in 10 oder in 20 Jahren sein wird.
Sie gehen in die Geschichte als Atomministerin ein. Wenn Sie das als Lob auffassen, dann verstehe ich das nicht.
Das Zwischenlager Ahaus nämlich, Herr Grill - hören Sie gut zu -, sollte erst in Betrieb genommen werden, wenn eine sichere Endlagerung gegeben ist. In NRW wurde es nun dazu genutzt, durch die Stilllegung des THTR in Hamm den Ausstieg aus der Atomenergie einzuleiten. Ich finde, es ist ein untauglicher Versuch, von der eigenen Verantwortungslosigkeit abzulenken, wenn Sie Minister Clement angreifen, weil er richtigerweise ausspricht, was auch Sie wissen sollten, nämlich, daß die Castor-Transporte nach Ahaus derzeit nicht nur unnötig, sondern auch ökologisch, ökonomisch und sozial unsinnig sind.
Für eine Lastenteilung gibt es nur mit einer sicheren Endlagerung und dem Ausstieg eine gesetzliche Grundlage.
Der Ausstieg bringt den Atommüll - da haben Sie recht - zwar noch nicht zum Verschwinden - die Sünde ist nun einmal in der Welt -, aber das kann und darf nicht heißen, daß man die nicht zu beseitigenden Lasten noch weiter anhäuft. Wir haben derzeit eine Überkapazität in Höhe von einem Drittel im Strombereich, deswegen kann die wirtschaftliche Bedeutung inzwischen in Frage gestellt werden. Die Überkapazität ist so hoch, daß wir aus Bedarfsgründen sofort aus der Atomnutzung aussteigen könnten.
Auch Ihre CO2-Argumentation verfängt nicht. Wir haben bereits jetzt so viel technisches Wissen, um weiter Energie einsparen zu können. Alle Studien haben bisher belegt, daß wir weit mehr CO2 einsparen könnten, wenn wir nur annähernd so viele Mil-
Dr. Angelica Schwall-Düren
harden in Energiesparprogramme stecken würden wie in die Atomenergie.
Außerdem können wir Know-how weiterentwikkeln und weitergeben, wie durch Einsatz regenerierbarer Energien und durch Steigerung der Energieeffizienz auch der noch ansteigende Energiehunger der Länder des Südens befriedigt werden kann.
Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten keine falschen Schlußfolgerungen aus dem friedlichen Protest der Münsterländer Atomgegner ziehen. Zwar sagte eine Bürgerin aus meinem Wahlkreis, durch deren Dorf der Castor rollte: „Fassungslos, sprachlos, mit Tränen in den Augen können wir hier nur stehen und den Castor an uns vorbeirollen lassen. " Die momentane Ohnmacht der Bürger ist aber nur eine Seite.
Ich stimme dieser Bürgerin zu, wenn sie sagt: „Aber er hat gestoppt, zwar nur für eine Stunde, aber ich bin sicher: Wir werden ihn einmal für immer stoppen. "
Die SPD wird dazu beitragen; denn nur das ist vernünftig und verantwortungsbewußt. Die meisten Menschen in diesem Land wollen den Ausstieg aus der Atomenergie.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Dr. Peter Paziorek das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Bemerkungen: Erstens. Es kann nicht angehen, daß unsere kritischen Worte gegen Aufrufe zu Gewalt, auch zu Gewalt gegen Sachen, jetzt in Verbindung mit dem durchaus friedlichen Protest vieler Münsterländer Bürgerinitiativen gebracht werden.
Aber ich muß klar und deutlich sagen: Es kann auch nicht angehen, daß jetzt so getan wird, als ob es im Vorfeld von Ahaus nicht zu Aufrufen bedenklicher Art gekommen sei. Für mich ist es schon bedenklich, wenn wenige Tage vor dem vorgesehenen Castor-Transport Mitglieder dieses Hauses demonstrativ im Beisein der Medien Sitzblockaden proben und der Öffentlichkeit andeuten, so könnte man sich eventuell rechtswidrig verhalten.
Gleichzeitig, Frau Schwall-Düren, findet eine akademische Diskussion auf Veranstaltungen - wir haben zum Beispiel an einer gemeinsam teilgenommen - zu der Frage statt, ob man eventuell zu Gewalt gegen Sachen greifen dürfe, weil der Staat in Sachen Castor-Transport zu Gewalt gegen friedliche Bürger greift.
Wir haben bei einer Veranstaltung die Diskussion darüber erlebt, ob es zulässig sei, auf das Gelände des BZA, des Zwischenlagers, zu marschieren, weil dort eventuell Rechtsverstöße nicht stattfinden würden, ganz im Gegensatz zu einer Sitzblockade auf öffentlichem Gelände. Man kann jetzt, nachdem das Ganze friedlich ablief, weil gewaltbereite Gruppen zu spät gekommen sind, da der Castor-Transport auf Grund einer guten Strategie vorgezogen wurde, nicht so tun, als hätten all diese Diskussionen vorher nicht stattgefunden. Es kann doch nicht unter den Teppich gekehrt werden, daß diese Diskussion maßgeblich und in unverantwortlicher Weise von Mitgliedern der Grünen-Fraktion im Vorfeld hochgepuscht worden ist.
Zweitens. Sie sprachen von Ahaus als vorläufigem Endlager. Sie müssen wissen, daß bei allen Überlegungen von Anfang an bekannt war, daß die Abklingphase und damit auch die Aufstellphase für die Castor-Behälter in Ahaus wie bei anderen Zwischenlagern im Schnitt 30 bis 40 Jahre dauern wird. Das war bekannt. So war das Zwischenlager auch genehmigt und konzipiert.
Wenn jetzt Frau Griefahn bzw. - sie ist ja nicht mehr Ministerin - ihr Nachfolger Gorleben weiter unterstützt, können wir durchaus schon im nächsten Jahrzehnt zu einer definitiven Entscheidung in Sachen Endlager Gorleben kommen.
Wieso kommt überhaupt der Widerspruch zustande, daß bei einer Entscheidung, die schon im nächsten Jahrzehnt möglich ist, gleichzeitig gesagt wird: „Ahaus wird definitiv ein Endlager" , wenn wir von vornherein wissen: Die Aufstellzeit für Castoren im Zwischenlager beläuft sich auf 30 bis 40 Jahre nach der Genehmigung? Auch hier zeigt sich wieder, welch argumentativer Schlingerkurs von Ihnen gewählt wird, um zu verunsichern und Bürger in Angst zu versetzen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist beendet.
Wir haben eines im Münsterland festgestellt: Oft wird mit der Angst argumentiert, um politische Abhängigkeiten zu erhalten. Das halte ich für ganz schlecht.
Vielen Dank, daß ich das noch sagen durfte.
Frau Kollegin Schwall-Düren, Sie können darauf antworten.
Herr Paziorek, es ist eine Sache, Verständnis für Menschen zu äußern, die durch Sitzblockaden darauf aufmerksam machen möchten, daß sie sich in ihren Menschenrechten beeinträchtigt fühlen. Das war der Punkt in jener Veranstaltung; das wollen wir hier nicht vertiefen.
Das zweite ist die Frage, welche Gewichtung Aussagen zu Gewalthandlungen bekommen. Ich habe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ihren Antrag vorliegen. Dort wird am Anfang in drei Spiegelstrichen über Gewalthandlungen im Zusammenhang mit den Castor-Transporten gesprochen. Die Debattenbeiträge hier waren davon geprägt, daß Sie von der Koalition permanent darauf abhoben, daß hier Gewalttäter am Werke gewesen sind. Ich kann das nur als eine Diffamierung der friedlich demonstrierenden Menschen vor Ort verstehen.
Ein weiteres: Meine Aussage, daß Ahaus zum faktischen Endlager wird, ist durchaus begründet, wenn man weiß, welche Probleme es in Gorleben gibt. Ich darf nur ein Stichwort nennen: Laugenzuflüsse. Es gibt dort nach wie vor einen großen Unsicherheitsfaktor.
Ich möchte noch einmal betonen: Die Plausibilität von Transporten, von Burden sharing, von Verteilung der Lasten, macht für die Menschen nur dann Sinn, wenn sie auch erkennen können: Es wird mit dem ganzen Unsinn Schluß gemacht, und es gibt einen geordneten Ausstieg aus der Atomenergienutzung.
Das ist der ganz entscheidende Punkt, den Sie immer wieder vergessen.
Nun gebe ich das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Höhn, es ist schon beschwerlich, muß ich sagen, wenn Sie erklären, das einzige, worauf Sie sich berufen könnten, sei das Recht. Das Recht habe ich zum Beispiel in Teilen meines Lebens wirklich vermißt, zumal demokratisch legitimiertes Recht.
Es ist doch einer der großen Vorzüge - das gilt doch auch, wenn Sie Gesetze machen -, daß das Recht gilt, demokratisch legitimiert ist und nicht von jeder politischen Einzelmeinung wieder außer Kraft gesetzt werden kann.
Wenn wir uns darüber nicht mehr einigen können, dann, meine Damen und Herren, müssen wir ganz andere Debatten in diesem Lande führen. Aber das wäre außerordentlich bedauerlich. Man muß nur leider feststellen: Wir sind in dieser Debatte fast schon wieder auf dem Grundschulniveau angekommen.
Natürlich gibt es neben dem Recht auch die Frage der politischen Einigung. Recht läßt sich besser durchsetzen, wenn es eine politische Einigung gibt. Diese Einigung gab es zum letztenmal 1979; darüber ist heute gesprochen worden.
Damals war der Leiter der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei und spätere langjährige Innenminister Schnoor in Ahaus. Er hat den Ahausern erklärt, warum die Landesregierung das Zwischenlager als notwendig ansieht, nämlich weil Nordrhein-Westfalen aus politischen, aus gesamtstaatlichen Gründen seinen Beitrag leisten muß. Die Landesregierung hat dann den Ahausern erklärt, daß mit der Ansiedlung des Zwischenlagers für die Stadt Ahaus keine wirtschaftlichen, strukturellen und finanziellen Nachteile verbunden sein werden. Das scheint sich auch bewahrheitet zu haben. Die Frage ist nur: Wie lange stehen Sie zu einer solch gesamtstaatlichen Verantwortung?
Das, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Punkt, weshalb ich nicht begreifen kann, daß der gleiche Ministerpräsident, den demnächst Herr Clement sozusagen beerbt, heute insofern desavouiert wird, als sein Nachfolger erklärt, das Ganze sei nichts weiter als „politische Provokation" und „Unsinn".
Was sollen die Polizisten, die dort im Einsatz sind, eigentlich von ihrer Landesregierung denken?
Und das Minimum, das ich erwarte, wenn man so etwas äußert, ist, daß man eine machbare, vernünftige Alternative vorlegt.
Ich habe zweimal mit denen zusammengesessen, die zu einer solchen Alternative in der Lage gewesen wären. Man muß sagen, daß sich Herr Schröder zweimal in seiner eigenen Partei mitnichten irgendwie durchsetzen konnte. Das ist ein Charakteristikum zumindest seiner früheren politischen Tätigkeit. Zum anderen muß man sagen, daß die SPD im Jahre 1994 insofern für eine Novelle zum Atomgesetz eingetreten ist, als sie gesagt hat: Wir wollen raus aus der Wiederaufarbeitung und rein in die direkte Endlagerung.
Diesem Wunsch ist Rechnung getragen worden. Damals war klar, daß dies für die schon genehmigten bzw. noch zu genehmigenden Zwischenlager Ahaus und Gorleben zu gelten hat.
- Frau Schwall-Düren, hören Sie mir noch eine Sekunde zu!
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Im letzten Jahr ist Herr Müntefering auf die Idee gekommen, daß nunmehr die Lagerung an den Kernkraftwerken, die immer abgelehnt wurde, weil gesagt wurde: „Wir wollen keine Dezentralisierung", der Lösung letzter Versuch sein sollte. Als wir dann zusammensaßen - Herr Rexrodt, Herr Bohl, Herr Schröder, Herr Müntefering und ich - und uns gemeinsam von der Wirtschaft haben vorlegen lassen, welche der Transporte - es gibt ja nicht zu viele Transporte - von Kernkraftwerken, die keine Verträge mehr mit La Hague und Sellafield haben, auf der Grundlage des neuen, 1994 geänderten Atomgesetzes mit politischer Billigung der SPD, für das Jahr 1997 unabdingbar notwendig sind. Alle haben schweigend zugehört und gesagt: Jawohl, ein Transport muß stattfinden. - Wir haben viele Nachfragen gestellt; aber es stand überhaupt nicht zur Debatte, daß dies notwendig ist. Es hat sich auch keinerlei Widerspruch geregt.
Dann ist der Transport in Gang gesetzt worden, und plötzlich stellt sich Herr Clement hin - Herr Müntefering hat es nicht persönlich gemacht - und sagt: Das ist Unsinn.
Ich sage: Das ist Populismus,
nichts weiter als Populismus und Scheinfrieden. Das ist eine Verwirrung der Bürger. Hinzu kommt, daß diese Menschen zum Teil Angst haben. Sie spielen mit der Angst der Leute.
Und wenn Sie argumentativ in die Enge getrieben werden, dann sagen Sie, es gehe gar nicht um Fragen der Sicherheit, sondern eigentlich - das sagen Sie heute schon den ganzen Nachmittag - um den Ausstieg aus der Kernenergie.
Meine Damen und Herren, Sie haben das 1986 auf einem Parteitag beschlossen; über die zeitlichen Fristen gibt es auch innerhalb Ihrer Partei noch völlig verschiedene Vorstellungen. Sie haben bis heute, bis 1998, keine politische Mehrheit für diesen Ausstieg bekommen. Wir sind doch nicht per Daffke an der Macht, sondern durch demokratische Wahlen immer wieder auch wegen unseres Energiemixes in der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Sie müssen das schon akzeptieren.
Deshalb sage ich: Wenn Herr Schröder sagt: „Energiepolitik in Deutschland muß parteiübergreifend definiert werden", dann ist das sicherlich den Versuch wert. Dann muß man es aber auch machen und darf nicht Chimären aufbauen, daß man Transporte vermeiden könnte, indem man Lagerungen an den Kernkraftwerken durchführt, obwohl man genau weiß, daß jede dieser Genehmigungen, selbst wenn es darüber theoretisch eine Einigung mit den Bundesländern gäbe, acht bis zehn Jahre dauern würde. Selbst Ernst Ulrich von Weizsäcker hat neulich im
„Deutschlandfunk", danach befragt, auf meine Äußerung mit einem schlichten Ja geantwortet.
- Er genehmigt es nicht, er kandidiert aber für die SPD für den Bundestag und ist zudem ihr Umweltexperte.
- Lassen Sie es in sieben Jahren gehen, Herr Müller. Sie wissen doch ganz genau, daß die Genehmigung des Zwischenlagers in Lubmin sieben Jahre gedauert hat. Sie sind für die Beteiligung der Öffentlichkeit, auch ich bin dafür. Es wird 20 000 Einwendungen geben. Selbst wenn man es machte, würde es lange dauern. Und bis dahin muß transportiert werden.
Wenn wir uns anscheinend alle gemeinsam, aber offensichtlich doch mit sehr unterschiedlichen Einstellungen, für den Wirtschaftsstandort einsetzen, dann sage ich hier ganz klar: Viele wollen - das sage ich für unsere Koalitionsfraktion -, daß Deutschland ein Energiestandort bleibt. Das heißt, daß Energie wirtschaftlich und umweltverträglich erzeugt werden muß, und nicht, daß wir den Strom aus der Steckdose nehmen und uns nicht dafür interessieren, woher er kommt.
Wenn wir das wollen, dann brauchen wir Berechenbarkeit für die Wirtschaft.
Denn das Kapital ist ein scheues Gut.
Verläßlichkeit: Sie kämpfen mit den Grünen in Nordrhein-Westfalen um die Genehmigung für Garzweiler. Um genau dasselbe geht es bei den Hunderten von Millionen, die von den Kernkraftwerken in die Zwischenlager für 500 Stellplätze investiert wurden. Deshalb sage ich Ihnen: Man kann über vieles sprechen. Man kann aber nicht Rechte in Kraft setzen und wieder außer Kraft setzen. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln: Das ist eine Politik, die mit Sicherheit die Wirtschaft aus Deutschland vertreibt. Wir wollen das nicht.
Herzlichen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/9851 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Vizepräsident Dr. Burkhard HirschWir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Beendigung der Castor-Transporte, Drucksache 13/9755. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6997 abzulehnen.Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/10189 vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD zustimmt, den bitte ich urn das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS gegen die Stimmen der Fraktion der SPD abgelehnt worden ist.Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Ausschusses. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu der Großen Anfrage der Fraktion der SPD zum Endlager für radioaktive Abfälle in Morsleben, Drucksache 13/9753. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/8720 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einem Ausstieg aus der Atomenergie und zu Lösungsansätzen für das Atommüllproblem, Drucksache 13/9754 Nr. 1, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7008 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Gruppe der PDS zum Ausstieg aus der Atomenergie, Drucksache 13/9754 Nr. 2, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7062 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/8665; das ist die Sammelübersicht 246. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10207 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses. Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/8666; das ist die Sammelübersicht 247. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10208 vor, über den zunächst abgestimmt wird. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses selbst. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/8667; das ist die Sammelübersicht 248. Dazu liegt wiederum ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10209 vor. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses. Wer ihr zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen angenommen worden ist.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/10184 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
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20524 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschSie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Bericht und Fortschreibung des Aktionsprogramms zur weiteren Steigerung von Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Bundesverwaltung
- Drucksache 13/9980 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Finanzausschuß
Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
„Schlanker Staat": Die nächsten Schritte - Drucksache 13/10145 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhard Schultz , Joachim Poß, Wolf-Michael Catenhusen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine schrittweise, sachgerechte, regional-und sozialverträgliche Neuordnung der Bundesfinanzverwaltung
- Drucksache 13/9758 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß Haushaltsausschuß
Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Herr Bundesminister Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Auf dem Weg zum schlanken Staat voranzukommen ist ein ganz wesentliches Ziel der Innenpolitik der Bundesregierung. Ganz gezielt haben wir zugepackt. Zunächst einmal haben wir mit der Kommission „Schlanker Staat" in einem erstaunlichen Maße Aufgeschlossenheit für dieses Thema geweckt. Selten ist ein Begriff so zum geflügelten Wort geworden wie dieser. Das zeigt, daß es in der Bevölkerung, aber auch in der Staatsverwaltung Verständnis dafür gibt, dieses Ziel anzustreben und ihm näherzukommen. Denn eine gute, eine rechtstreue, schnelle und zuverlässige Verwaltung gehört mit zu den Standortbedingungen für unser Land, die wir selbst bestimmen können. Andere Standortbedingungen hängen sehr von dem ab, was andere tun - diese nicht.
Mit dem am 18. März durch das Kabinett verabschiedeten „Maßnahmepapier Schlanker Staat" haben wir nun einen zukunftsorientierten Baustein für dieses Thema gesetzt. In dieser Legislaturperiode sind viele Dinge, insbesondere immer wieder ausgehend von den Beratungen der Kommission „Schlanker Staat" unter dem Vorsitz von Professor Scholz, schrittweise vorangekommen. Wir haben Genehmigungsverfahren beschleunigt. Zahlreiche Gesetzesnovellierungen sehen Vereinfachungen und Verbesserungen vor. Das hilft Investoren, das sichert Arbeitsplätze von morgen.
Es liegt in der Hand der Länder und Kommunen, von neuen gesetzgeberischen Möglichkeiten stark Gebrauch zu machen. Wir haben Deregulierung vorangebracht. Als Beispiele seien die großen Sektoren Telekommunikation, Post und Bahn zu nennen. Die Öffnung der Energiemärkte für mehr Wettbewerb wird folgen.
Die Normenflut einzudämmen ist ein wesentlicher Aspekt dieses umfassenden Programms. Die Bundesregierung hat ihre Geschäftsordnung geändert und ganz neue Begründungszwänge für die Notwendigkeit eines Gesetzentwurfes geschaffen. Die Notwendigkeitsprüfung beinhaltet heute für die Bundesregierung eine konsequente Gesetzesfolgenabschätzung, die nicht nur wie bisher den Mehrbedarf an Haushaltsmitteln ausweisen, sondern auch die Frage beantworten muß: Was kostet der Gesetzesvorschlag nachgeordnete Verwaltungen, Länder, Kommunen? Was kostet er die Wirtschaft oder den Bürger?
Einen Freiraum für Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen heißt, energisch die Verwaltungsverpflichtungen zu reduzieren. Ich erinnere nur an unser Programm zur Verminderung von Statistiken. Es bringt alles nichts, wenn man nur Sprüche macht. Es müssen auf dem Weg zum schlanken Staat Taten folgen.
45 Kürzungsmaßnahmen im Bereich der Statistik, die Streichung von 15 Statistiken, und der Steuerzahler spart 15 Millionen DM jährlich. Der Abbau von Bürokratie bedeutet, daß nicht alles staatlich geregelt werden muß, vieles von der Wirtschaft selbst organisiert werden kann und der Staat nur noch die Erreichung des vorgegebenen Ziels kontrolliert. Das Beispiel Öko-Audit weist hier den richtigen Weg.
Die konsequente Fortsetzung der Privatisierungspolitik - nicht durch die Abgabe von Wirtschaftsunternehmen in den Markt, sondern auch durch die Privatisierung öffentlicher Aufgaben - ist ein weiterer Schwerpunkt dieser Politik. In diesem Zusammenhang sind zum Beispiel die Privatisierung von Servicebereichen der öffentlichen Verwaltung - etwa der Ministerien, mit Blick auf den Umzug nach Berlin - sowie die Fortschreibung des Aktionsprogramms zur weiteren Steigerung der Effizienz und Effektivität der Bundesverwaltung zu nennen. Wir werden, so
Bundesminister Manfred Kanther
hoffe ich, keine ressorteigenen Druckereien mehr in Berlin unterhalten, weil die Aufgaben kostengünstiger an Private abgegeben werden können; gleiches gilt für den ärztlichen Dienst, die Gebäudebewirtschaftung, die Fahrbereitschaft.
- Ich höre schon den Zuruf: „Na toll!"
- Das ist ja gar nicht schlimm, ich habe ihn halt gehört.
Ich weiß doch, daß das Kleinigkeiten sind, Herr Kollege Körper. Das sind kleine Dinge. Unter Tausenden von Statistiken sind 45 reduzierte oder 15 eingesparte natürlich nicht viel, aber der Steuerzahler spart 15 Millionen DM. Wenn man die Druckereien für ein Drittel weniger Kosten betreiben kann, spart der Steuerzahler dieses Drittel. Deshalb müssen wir mit Verwaltungskönnern an das Problem herangehen. Die Sprüche führen nicht weiter.
Wir wollen, daß die Ministerien fit und schlank nach Berlin umziehen.
Wir führen neue Steuerungselemente . ein, nichtministerielle Tätigkeiten werden auf vollzugsnähere nachgeordnete Behörden verlagert. Ich nenne zum Beispiel Bereiche wie Personalkostenberechnungen oder die Kontrolle von Verwendungsnachweisen. Die Anzahl der Stellen in den Bundesministerien ist seit 1991 um 13 Prozent zurückgegangen. Das macht uns so schnell keine andere Regierung in unserem Land nach.
An diesem Punkt wird deutlich, daß zu dem Projekt „Schlanker Staat" die Reform und die Straffung der öffentlichen Verwaltung entscheidend dazugehören. Eine leistungsfähige und tüchtige Verwaltung - ich sage es noch einmal - ist ein Lebenselexier für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Mit dem Kabinettsbeschluß vom 7. Februar 1996, der zur Verringerung und Straffung von Bundesbehörden geführt hat, sind wir auf diesem Wege, der für viele Verwaltungen sehr ungewohnt ist, wesentlich weiter gekommen. So wurden Behörden wie das Bundesausgleichsamt neu organisiert und mit dem Bundesverwaltungsamt verbunden. Reorganisiert wurden das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, das Eisenbahn-Bundesamt, das Bundesamt für Güterverkehr. Die Aus- und Fortbildungseinrichtungen werden in ihrer Arbeit in neuer Form koordiniert. Durch die Auflösung des Bundesverbands für den Selbstschutz und die Reduzierung des Zivil- und Katastrophenschutzes konnten auf der Basis der hinsichtlich der Bedrohung von außen glücklicherweise veränderten Sicherheitslage unseres Landes seit 1992 1,8 Milliarden DM eingespart werden.
Die Bundesverwaltung ist von 381 000 Stellen im Jahr 1991 auf 315 000 sozialverträglich reduziert worden, das heißt um 17 Prozent, bei einem Einsparvolumen von rund 4,8 Milliarden DM. Politisches Ziel ist die weitere Rückführung der Stellenpläne auf den Stand vor der Wiedervereinigung, das heißt auf rund 300 000 Bedienstete. Moderne Bundesverwaltung bedeutet schließlich modernes Personalmanagement. Ganz entscheidend für den Reformprozeß ist die Mitwirkung der Beschäftigten.
Alles dies wäre ohne die Mitwirkung der Beschäftigten nie möglich gewesen. Aber die Politik, vor allem die politische Führung in der Leitung der Ministerien, ist immer zur Stichwortgebung und zum ersten Schritt verpflichtet.
Mit dem Dienstrechtsreformgesetz ist ein erster grundlegender Schritt in Richtung zu mehr Effizienz, Leistung, Mobilität und Führungsverhalten gemacht worden. Führungsverhalten ist ein besonders wichtiges Stichwort für eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung. Da kann uns sicher noch manches zuwachsen. Der hiermit eingeführte Maßstab setzt neue Zeichen, die in manchen Verwaltungen sicher ungewohnt sind, die auch an Besitzstände und Gewohnheiten rühren. Es ist immer schwer, wenn sich Menschen neu gewöhnen müssen.
Die Veränderungen, die sich überall im Arbeitsleben und im gewerblichen Bereich abspielen, können am öffentlichen Dienst nicht vorbeigehen. Dazu gehört auch, daß wir das Stichwort „Wirtschaften statt Verwalten" verstärkt in die Finanzwirtschaft der öffentlichen Hände einführen. Mit dem Haushaltsrechts-Fortentwicklungsgesetz haben wir dies angepackt. Budgetierung, die Einführung von Kosten- und Leistungsrechnung, das Erstarken von Kostenbewußtsein in der öffentlichen Verwaltung sind einige Stichworte, die dazugehören.
All dies ist keine Aufgabe, die man mit einem Donnerschlag unter das Volk bringen kann, sondern hier entsteht ein Mosaik von Maßnahmen, die zwar nicht überall gleich greifen, weil sie stark von den Menschen abhängen. Aber dann, wenn sie von der politischen Führung entschlossen in Angriff genommen werden, werden sie uns allen, den Bürgern - dafür sind die Verwaltungen ja da -, sowohl eine effizientere und zukunftsorientiertere wie auch eine kostengünstigere Verwaltung bescheren. Deshalb ist dies eine Daueraufgabe für Politik. Manchem mag sie un-spektakulär erscheinen. Ich glaube, daß sie zur Wohlfahrt unseres Landes wesentlich beitragen kann.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kanther, wie spektakulär dieses Thema ist, sieht man insbesondere daran, wie viele Kolleginnen und Kollegen im Plenum des Deutschen Bundestages weilen.
Dabei sind wir im Vergleich mit der CDU/CSU-Fraktion immerhin noch überproportional vertreten.
Meine Damen und Herren, ich habe mir mal einen Überblick verschafft, ob es überhaupt schon einmal eine Grundsatzdebatte zu der Frage Modernisierung von Verwaltung, Modernisierung von staatlichem Handeln gegeben hat. Da war in den letzten 15 Jahren leider Fehlanzeige, obwohl immerhin der noch amtierende Bundeskanzler 1982 erklärte: Wir wollen den Staat auf seine ursprünglichen und wirklichen Aufgaben zurückführen, zugleich aber dafür sorgen, daß er diese zuverlässig erfüllen kann.
- Darauf komme ich noch. - Auf eine entsprechende Anfrage wurde geantwortet:
In jedem einzelnen Bereich wird sorgfältig zu prüfen sein, wo staatliches Handeln notwendig ist, wo der Staat lenkend eingreifen und Rahmenbedingungen setzen soll und wo ihm Aufgaben zugewiesen worden sind, die unnötig zu regulieren sind und den einzelnen nur gängeln und einengen. Die Entscheidung darüber kann nicht pauschal getroffen werden; dazu hängt zu viel vom Einzelfall ab.
Das waren mit Sicherheit keine schlechten Absichten.
Aber wie war die Reaktion? Es wurde 1983 zunächst einmal eine Kommission eingesetzt. Sie hatte die Aufgabe, Rechts- und Verwaltungsvereinfachung herbeizuführen. Sie wurde begleitet von einer interministeriellen Arbeitsgruppe zum Thema Gesetzes- und Ausführungskosten. Das ist vor 15 Jahren angekündigt und in Angriff genommen worden.
Wie waren die Ergebnisse, meine Damen und Herren? Ich zitiere den Sachverständigenrat „Schlanker Staat", Seite 48: „Die Aufgaben der staatlichen Stellen haben inzwischen ein Übermaß angenommen." Oder: „Die Flut der Gesetzgebung steigt." Das wird dort so festgehalten.
Wir haben seit 1983 immerhin sage und schreibe 1 518 Gesetzesvorlagen, und davon waren 1064 Regierungsvorlagen. Es wird weiter festgehalten: „Der öffentliche Dienst wurde zunehmend ausgedehnt." - Eigentlich ein bißchen was anderes als das, was Herr Kanther hier dargelegt hat. Und wir haben nach wie vor beispielsweise im Bereich des Personals noch nicht wieder den Stand von 1989, vor den einigungsbedingten Erhöhungen, erreicht. Herr Kanther, wenn ich den gesamten Bereich Bundeswehr einmal abziehe, dann sieht die Bilanz noch ein bißchen schlechter aus. Ich will hierum keinen Streit, ich will im Grunde nur die Fakten klarstellen.
Der Bundesrechnungshof stellt fest: Während die Gesamtstellenzahl der Ministerien im gehobenen und höheren Dienst seit 1983 um rund 30 Prozent gestiegen ist, beträgt der Stellenzuwachs im Leitungsbereich nahezu 50 Prozent.
Das ist offensichtlich Verschlankung à la Manfred Kanther.
Es ließe sich hier weiter fortsetzen, was die Kommission „Schlanker Staat" hierzu sagt: „Alle Gesetzgebung muß sich endlich und vor allem auch ernsthaft auf ihre jeweilige Erforderlichkeit überprüfen lassen." Herr Kollege Scholz wird ja darauf noch eingehen. Und es wird auch geschrieben: „Eine wirksam und ernsthaft betriebene Gesetzesfolgenabschätzung fehlt bisher in Gänze. " Es wird vor allem eine endlich ernsthafte Vollzugskostenprüfung angemahnt. So sind die Urteile in diesem Bericht. Ich denke, da klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Daran sollte sich auch die Bundesregierung messen lassen.
Sie ist mit den Schlagworten „Weniger Staat", „Weniger Bürokratie ", „Abbau der Gesetzesflut" angetreten. Aber ich denke, das haben Sie offensichtlich nicht ganz so ernst gemeint.
Was haben Sie getan? Sie haben insbesondere privatisiert.
Sie haben eine Privatisierungspolitik sowie einen Personalabbau von einem vereinigungsbedingten hohen Niveau betrieben. Zu dem Standard habe ich bereits etwas gesagt.
Was wächst, ist die Flut der Papiere zum Thema Verschlankungspolitik. Aber dies ist immer vor dem Hintergrund der großen finanziellen Schwierigkeiten der öffentlichen Haushalte zu sehen. Das heißt, hier geht es um eine Sparpolitik, um einen rein fiskalischen Ansatz. Den halten wir gerade im Rahmen der Debatte um eine Modernisierungsstrategie für zu einseitig.
Unserer Auffassung nach müßten zuerst die Aufgabendefinition und die Aufgabenkritik kommen, nach dem Motto: Was soll zukünftig eigentlich noch öffentliche Aufgabe sein? Was soll der öffentliche Dienst zukünftig noch leisten dürfen, sollen und können? Das muß an den Anfang gestellt werden. Denn bei Ihrer Vorgehensweise besteht die Gefahr, daß zunächst erst dort gespart wird, wo es bequem ist, wo es schnell geht und wo es relativ wenig Widerstand gibt. Oder es werden lukrative Aufgaben abgebaut,
Fritz Rudolf Körper
weil die private Wirtschaft daran interessiert ist. Beispiele kennen wir. Es wird zum Beispiel beim Personal pauschal gespart, ohne daß eine ausreichende Aufgabenkritik vorausgegangen ist. Es fehlen nach unserem Dafürhalten die politischen Schwerpunkte für einen zukunftsorientierten Modernisierungsprozeß.
Die Forderung nach einem schlanken Staat ist ein Stück Wiederkehr des alten liberalen Kredos, demzufolge weniger Staat gleichzeitig mehr Freiheit und damit mehr Vorteile für den einzelnen bedeutet. Was diese Forderung in Konsequenz beispielsweise für den Bereich der inneren Sicherheit bedeuten würde, wäre ein interessantes und abendfüllendes Thema.
Der handelnde, der handlungsfähige, der ausgleichende Staat scheint bei Ihnen am Pranger zu stehen, scheint nicht hoch im Kurs zu stehen. Dieser Staatsbegriff reicht aber als Leitbild für die Modernisierung unseres Staates nicht aus, weil er die wirklichen Aufgaben unseres Staates in einer zunehmend komplizierter werdenden Welt nicht beschreibt. Deshalb wird es der Bundesregierung auch nicht gelingen, auf der Grundlage dieses Staatsbegriffes staatliche Aufgaben treffsicher zu bestimmen sowie Staat und Verwaltung so zu modernisieren, daß die vielfältigen und schwierigen gesellschaftlichen Probleme wirksam gelöst werden können.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß es nicht so sehr an Ideen und Konzepten, sondern daß es ganz wesentlich an Umsetzungsstrategien mangelt. Hier scheint das eigentliche Defizit zu liegen. Die Bundesregierung nimmt nach meinem Dafürhalten nicht zur Kenntnis, daß es bei der Umsetzung von Reformen nicht zuletzt auch um Machtfragen geht. Anders ausgedrückt: Keiner soll, keiner darf glauben, Reformen ließen sich ohne handfeste Auseinandersetzungen erreichen. Ebenso sollte man nicht dem Trugschluß unterliegen, Modernisierung ließe sich gegen die Betroffenen von oben anordnen. Einem zukunftsorientierten Modernisierungsprozeß liegt zugrunde, daß man ihn mit den Betroffenen und nicht gegen sie gestaltet.
Wir haben in unseren früheren Vorlagen und in unserem Entschließungsantrag, den Vorschlag einer Leitstelle unterbreitet - ein Vorschlag, gegen den man auch Kritik einwenden kann.
Wir haben nämlich festgestellt, lieber Wolfgang Zeitlmann, daß relativ schnell, bestimmte Ideen und Konzepte zum Spielball unterschiedlicher Interessen werden.
Das haben auch Sie schon leidvoll erfahren müssen. Es ist das Ziel, mit einer solchen Leitstelle reformerische Fachkompetenz und politische Durchsetzungskompetenz zu bündeln. Fehlt es daran, leidet entweder die Durchsetzungsmöglichkeit oder die inhaltliche Qualität der Vorschläge.
Den Bundesministerien kommt im Politikprozeß eine aktive Rolle zu. Ihnen obliegt die Lösung von Zukunftsproblemen. Wir schlagen deshalb vor, die Beratungs- und Gestaltungsfunktion der Ministerien deutlicher von den ausführenden Verwaltungsaufgaben zu trennen und letztere den Oberbehörden zu übertragen. Ich denke, das wäre ein sinnvolles Konzept. Der bevorstehende Umzug der Bundesregierung nach Berlin böte für diese Organisationsmaßnahmen eine einmalige Chance. Sie sollte am Schopfe gefaßt werden.
Es ist schon erstaunlich, wie wenig die Bürgerinnen und Bürger dem Staat und der Politik heute noch zutrauen. Das hat sicher verschiedene Ursachen. Wer sich aber für unzuständig erklärt, darf sich nicht wundern, wenn er letztendlich für inkompetent gehalten wird.
Frau Margaret Thatcher, die Ihnen bekannt ist, hat einmal so schön gesagt: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. - Für sie war jeder für sich selbst verantwortlich. Ich glaube, daß sie, wie alle konservativen Regierungen der letzten Zeit - die Bundesregierung muß man da mit einschließen -, mit dieser Philosophie gründlich gescheitert ist.
Bundeskanzler Kohl kündigte - damit komme ich zum Schluß; ich habe damit begonnen und ende damit - 1982 unserem Land die geistig-moralische Wende an. Heute ist gewiß, daß die Wende vollzogen ist: Werte, die klugen Konservativen etwas gelten, sind mehr als ramponiert. Der Gemeinsinn droht auf der Strecke zu bleiben. Was wir, auch in der Frage von Verwaltungsmodernisierung, dringend brauchen, ist ein neuer gesellschaftlicher Grundkonsens.
Dazu sollten wir alle in den Diskussionen, wo auch immer wir sie führen, beitragen.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Professor Dr. Rupert Scholz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man so will, kann man natürlich sagen: Wir diskutieren heute hier über den schlanken Staat, und das
Dr. Rupert Scholz
Parlament leistet einen ersten, insofern fragwürdigen Beitrag, indem es zu schlank besetzt ist. Da bin ich mit Herrn Körper einig.
Das Thema, das wir heute auf der Grundlage des Maßnahmenkataloges der Bundesregierung besprechen, ist wichtig. Es ist ein zentrales Thema. Ich möchte sehr deutlich vor allem dem Bundesinnenminister für dieses Papier danken, das sich im Grunde systematisch an die Maßnahmen anfügt, die diese Bundesregierung und diese Koalition bereits, von der Dienstrechtsreform bis hin zu den Beschleunigungsgesetzen - Herr Kanther hat darauf im einzelnen hingewiesen -, ergriffen haben, und im Ergebnis sehr klar belegt: Diese Koalition nimmt die Verschlankung des Staates ernst,
im Unterschied, Herr Penner, zu vielen der von Ihnen geführten Landesregierungen.
- Darauf komme ich noch zu sprechen.
Was heißt Verschlankung des Staates? Natürlich heißt Verschlankung des Staates zunächst - Herr Körper, da bin ich mit Ihnen sogar einig - Überprüfung der Staatsaufgaben, substantielle Aufgabenkritik. Die substantielle Aufgabenkritik muß allerdings ernst genommen werden. Sie muß natürlich auch in eine Gesetzesfolgenabschätzung einmünden. Diese Gesetzesfolgenabschätzung ist von der Bundesregierung umgesetzt worden, und sie beginnt zunehmend zu greifen. Man muß natürlich sehen, daß das im Einzelfall schwierig ist, aber ohne eine Gesetzesfolgenabschätzung wird man eine wirksame Aufgabenreduzierung angesichts der Dynamik unserer Gesetzgebung nicht erreichen.
Verschlankung des Staates bedeutet, Subsidiarität ernster zu nehmen. Verschlankung des Staates bedeutet mehr Freiheit, aber auch mehr Eigenverantwortung des einzelnen. Da hinkt es in unserem Land in einer schwierigen Situation natürlich oft bei schwierigen Bewußtseinslagen. Insofern bedeutet Verschlankung des Staates ganz entscheidend auch Bewußtseinsbildung in der Gesellschaft.
Verschlankung des Staates bedeutet Rückführung der Staatsquote. Dieser Bundesregierung ist es gelungen, die Staatsquote wieder auf 48,6 Prozent zurückzuführen, obwohl Sie sich bei der Steuerreform verweigert haben. Das ist ein ganz entscheidender Fortschritt. Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man daran denkt, daß wir im Zuge der Lasten des Aufbaus Ost, also bedingt durch die Wiedervereinigung, zunächst auf über 50 Prozent gehen mußten.
Wenn ich mir das Papier der SPD ansehe - ich räume gerne ein, daß es vieles aus den Arbeiten des Sachverständigenrates nicht nur verstanden, sondern auch sorgfältig und vernünftig aufgenommen hat; das freut mich alles sehr, Herr Körper -, dann muß ich feststellen, daß darin ein Satz verräterisch ist. Sie lehnen nämlich den Ausdruck „schlanker Staat" ab.
Sie wollen nämlich in Wahrheit gar keine Verschlankung des Staates.
Sie wollen am omnipotenten Staat und am Transferstaat festhalten. Sie wollen ferner an dem festhalten, was nicht auf eine Reduzierung des öffentlichen Dienstes hinausläuft.
Der Bundesinnenminister hat auf die herausragenden Entwicklungszahlen im öffentlichen Dienst im Bereich des Bundes hingewiesen. Er hat darauf hingewiesen, daß es eine Rückführung um 17 Prozent gegeben hat.
Ich verweise nur auf das, was in den von Ihnen regierten Ländern geschieht. 1998 wollte Herr Schröder laut seiner ausdrücklichen Ankündigung 8000 von 172 000 Stellen im öffentlichen Dienst mit einem Einsparvolumen von 900 Millionen DM abbauen. Was ist passiert? Es hat kein Minus, sondern ein Plus von 9700 Stellen gegeben, das inzwischen zu einem Personalkostenanteil von 42,6 Prozent am Haushalt des Landes Niedersachsen geführt hat.
Das ist der höchste Personalkostenanteil in allen Bundesländern. Der Bund hat es geschafft, auf 10,7 Prozent zu kommen. Der Durchschnitt der Länder liegt bei 39 Prozent. Das von Herrn Schröder regierte Land liegt aber definitiv vorn.
Wenn wir das Saarland betrachten - das gehört dazu, damit die Gleichheit zwischen Schröder und Lafontaine gewahrt bleibt -, dann kann man erkennen, daß dort die Personalausgaben des öffentlichen Dienstes pro Einwohner bei 2258 DM liegen. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 2071 DM. Hier liegt Schröder vorn; dort liegt Lafontaine vorn. Die Gleichheit ist also gewahrt. Mit der Verschlankung des Staates hat dies allerdings nichts zu tun.
- War das eine Zwischenfrage, Herr Bürsch, oder war das ein Zuruf? Sie können mir gerne eine Frage stellen, dann antworte ich darauf. Aber ein Zwischenruf in einem so dünn besetzten Haus kommt viel zu laut an. Ich würde an Ihrer Stelle so nicht vorgehen. Es stört.
Aufgabenkritik und Reduzierung der Staatsaufgaben bedeutet weiterhin, daß man es mit der Privatisierung in der Tat ernst meint. Privatisierung ist nötig. Wir haben eine Fülle von Aufgaben, die eben nicht mehr in öffentlicher Hand zu halten sind, weil dieser Staat - Bund, Länder und Gemeinden - finanziell an die Grenze seiner Kapazitäten gelangt ist. Wenn der Staat wirtschaftliche Aufgaben und Dienstleistungsfunktionen übernimmt oder weiterführt, muß er sich dem Wirtschaftlichkeits- und dem
Dr. Rupert Scholz
Wettbewerbstest stellen. Es geht dann natürlich nicht, daß man wieder eine Verstaatlichungspolitik einführt, wie es wiederum Herr Schröder mit der Preussag gemacht hat. Das hat mit der Verschlankung des Staates nichts zu tun; das ist genau das Gegenteil. Sie meinen es nicht ernst. Im Gegenteil: Sie gehen auf den alten, ausgetretenen Pfaden weiter.
Das ist schlimm.
Wir brauchen eine Verwaltungsreform. Verschlankung des Staates heißt Verwaltungsreform. Es ist notwendig, daß wir die Strukturen der Verwaltung und auch das Bewußtsein des öffentlichen Dienstes auf vielfältige Weise ändern. Der Sachverständigenrat „Schlanker Staat" hat formuliert - ich denke, das ist die richtige Formel -: von der traditionellen Ämterverwaltung zur modernen Dienstleistungsverwaltung. Das ist nicht von heute auf morgen zu leisten. Das muß von den Menschen und von den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst mitgetragen werden. Insofern wird jede Verwaltungsreform, jede substantielle Verschlankung des Staates und jeder Abbau von Bürokratie - das unterstreiche ich - nur mit den Mitarbeitern und nicht gegen sie zu leisten sein. Das ist richtig.
Wir haben nach den Berechnungen des Instituts für Mittelstandsforschung Bürokratiekosten für die Wirtschaft von 58 Milliarden DM im Jahr, von denen der Mittelstand allein 56 Milliarden zu tragen hat. Dies ist ein Faktor, der den Wirtschaftsstandort Deutschland schon kostenmäßig im Übermaß belastet.
Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist auch im übrigen durch Überregulierung vielfältig belastet, wie wir sehr wohl wissen. Diese Koalition hat schon vieles über Beschleunigungsmaßnahmen in Planungs- und Genehmigungsverfahren ins Werk gesetzt. Aber schauen Sie einmal in die Verwaltungsverfahrensgesetze auf Landesebene. Dann stellen Sie fest: In viele ist das gar nicht aufgenommen worden. Das große Land Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat überhaupt noch nicht daran gedacht. Große Sprüche hören wir dort. Aber es passiert nichts.
Ich darf auch in diesem Sinne darauf hinweisen: Wir leben in einem Bundesstaat: Das Schwergewicht der Gesetzgebung liegt beim Bund, der Vollzug, die Verwaltung bei den Ländern. In diesem Sinne ist Deregulierung, ist Entbürokratisierung, ist mehr Effektuierung bis hin zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland natürlich eine echte Gemeinschaftsaufgabe - hier paßt der Begriff einmal - von Bund und Ländern. Wenn sich die Länder im Bereich der Verwaltung dem aber verweigern und wenn sie, wie beispielsweise in Niedersachsen - wie hier genannt -, sogar den gegenteiligen Kurs steuern, dann muß einem angst und bange werden um das, was so notwendig ist wie niemals zuvor in der Geschichte unseres Landes.
Meine Damen und Herren, wir haben - das hat die Bundesregierung in ihrem Maßnahmenkatalog deutlich gemacht - ein neues Paket, wir haben neue Eckwerte, die Grundlegendes in der Verwaltungsreform leisten und bewegen werden, wenn sie ernstgenommen und aufgenommen werden. Der Schritt zu Auditierungsverfahren, der Schritt zu Projektmanagements - alles das kann uns unendlich weiterhelfen und kann in entscheidender Weise zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. Der Bundesinnenminister hat darauf hingewiesen.
Meine Damen und Herren, wir müssen unsere Verwaltungen modernisieren, natürlich. Darüber sind wir uns einig. Modernisierung der Verwaltung heißt aber ebenso - auch das muß man begreifen - Stärkung der Eigenverantwortung in vielen Bereichen der Verwaltung. Eine vom Gesetzgeber fast strangulierend bürokratisierte Verwaltung ist keine Verwaltung, die motiviert, leistungsbewußt, effektiv und wirtschaftlich arbeiten kann.
Diesen Satz möchte ich ausdrücklich auch an uns, an den Gesetzgeber, adressieren. Ich weiß dabei sehr wohl, daß wir als Gesetzgeber vor allem durch Verfassungsgerichtsjudikatur mitunter im Übermaß zur gesetzgeberischen Regelung verpflichtet werden.
Aber wir haben solche Entwicklungen auch im Bereich unserer Verwaltungsgerichtsbarkeit zu verzeichnen. Es gibt immer mehr Verwaltungen, die Gesetze nicht nur im Sinne der Umsetzung von Rechtsfragen vollziehen, sondern die bei der breiten Masse ihrer Aufgaben im Grunde - so kann man es formulieren - metajuristische, außerjuristische Funktionen wahrzunehmen haben: von der Technik über die Wirtschaft bis hin zu pädagogischen Entscheidungen, beispielsweise bei Lehrern. Alles das sind doch nur sekundär Rechtsfragen.
Über die Rechtsprechung unserer Verwaltungsgerichte sind Beurteilungsspielräume mit eingeschränkter Justitiabilität auf den Stand von Null gebracht worden. Das, was man Ermessen nennt, was im Grunde gerade jene außerjuristischen Entscheidungsbereiche und Parameter für die Entscheidungsfindung umschreibt, ist immer weiter zusammengeschrumpft im Lichte auch überzogener - ich formuliere das ganz bewußt so - Justitialisierungen. Auch hier ist dringend Umkehr, ist eine Korrektur angesagt.
Auch hierzu hat die Bundesregierung in ihrem Maßnahmenkatalog unter den Stichworten „Fachgesetze" und „Verwaltungsgerichtsordnung" die entscheidenden Daten genannt. Wir werden sie gemeinsam diskutieren. Es sind schwierige, es sind sensible Fragen. Aber diese Fragen müssen beantwortet werden, wenn wir es mit einer modernisierten Verwaltung ernst meinen, die hier und dort von bestimmten - ich will es einmal so formulieren - vom Gesetzgeber überregulierend angelegten Fesseln befreit werden muß.
Es geht darüber hinaus natürlich um die weitere Reform des öffentlichen Dienstes. Wir haben die Dienstrechtsreform verabschiedet. Wir haben damit erste maßgebende Schritte vollzogen. Aber auch dies ist wie alles, was mit Modernisierung und Verschlan-
Dr. Rupert Scholz
kung zusammenhängt, nur ein erster Schritt. Weitere Schritte müssen folgen. Die Verschlankung des Staates ist ein grundlegender Prozeß, der natürlich Zeit braucht. Es sind Mosaiksteine - wie der Bundesinnenminister mit Recht ausgeführt hat -, die sich weiter zu einem Gesamtmosaik eines wiederum auch international wettbewerbsfähigen Gemeinwesens fügen müssen. - Meine Damen und Herren, weitere wichtige Daten können Sie dem Maßnahmenkatalog der Bundesregierung im einzelnen entnehmen.
Ein großes Problem der Überregulierung liegt in dem Übermaß an Standards, die wir inzwischen haben. Sie waren einmal als eine qua Typisierung effektuierende Maßnahme gedacht. Inzwischen sind diese Standards aber auch zu Hemmnissen allerersten Ranges geworden. Sie haben zu Verkrustungen und auch zu Kartellierungen in der Form geführt, daß diejenigen, die die Standards zum Teil formulieren, im Grunde protektionistische Interessen verfolgen. Hier formuliere ich ganz ausdrücklich auch ein kritisches Wort an bestimmte Teile der Wirtschaft. Das muß man aufbrechen. Das, was hier vorgeschlagen ist, bricht auf und schafft über Öffnungsklauseln die Wege, hier wieder mehr Eigeninitiative und mehr Eigenverantwortung möglich zu machen.
Meine Damen und Herren, Verschlankung des Staates umschreibt ein ganz breites Programm. Es beginnt bei finanziellen Fragen. Vielleicht sind mitunter leere Staatskassen sogar eine Chance. Volle Staatskassen sind in aller Regel verführerisch; das ist eine Feststellung, die wohl jeder in diesem Haus unterschreiben kann. Die Zeit der leeren Kassen muß auch zur Besinnung genutzt werden, auf das eine oder andere einmal zu verzichten, das eine oder andere einmal zurückzuführen und unser Gemeinwesen in seiner Gesamtheit wieder stärker der Freiheit und Eigenverantwortung, stärker dem Subsidiaritätsprinzip, stärker der Modernität und stärker dem zu verpflichten, was die Bundesrepublik Deutschland dringend braucht.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Bürsch das Wort.
Herr Scholz, damit ich das nicht so laut dazwischenrufe, führe ich jetzt in aller Ruhe ein paar Punkte aus, um Ihnen noch einmal deutlich zu machen, was wir unter einem schlanken Staat verstehen, weshalb wir diesen Begriff ablehnen und was bei Ihnen sonst alles dem widerspricht, was Herr Kanther zu Recht gesagt hat, daß nämlich nicht Sprüche, sondern nur Taten weiterhelfen.
Punkt eins, schlanker Staat: Sie haben unsere Vorlage gelesen. Ziel der Modernisierung ist nicht der schlanke Staat, der weniger Aufgaben und Personalabbau um jeden Preis anstrebt, sondern der effiziente Staat, der seine Aufgaben wirtschaftlich, gerecht und bürgernah erfüllt. Sie dagegen - das kann man Ihren Vorlagen auch entnehmen - betreiben Personalabbau um jeden Preis. Nirgendwo, in keinem Ministe-
rium und in keiner nachgeordneten Behörde, findet der Personalabbau in Höhe von 2,4 Prozent pro Jahr, worauf Sie in Ihren Kabinettsvorlagen stolz hinweisen, nach irgendeinem Personalentwicklungskonzept statt. Es gibt keine personalpolitischen Vorgaben, die diesen Namen wirklich rechtfertigen. Es ist, wie gesagt, Personalabbau um jeden Preis. Es entstehen Löcher, die nicht gestopft werden. Das ist das Entscheidende, wogegen wir uns wenden. Schlanker Staat heißt für Sie Personalabbau, und darauf allein kann man nicht stolz sein.
Punkt zwei, Mitwirkung der Beschäftigten: Darüber hat Herr Kanther vorhin auch mit Stolz gesprochen. Aber sie findet nicht statt. In einem Ministerium, im Verkehrsministerium, ist das einmal halbwegs geschehen. Betrachten Sie dagegen die Aufgabenkritik in den Ländern: Im Land Schleswig-Holstein haben in allen Ministerien alle Beschäftigten von A bis Z an der Aufgabenkritik teilgenommen; vom Boten über die Sekretärin bis zum Staatssekretär haben sich alle daran beteiligt. Diese Aufgabenkritik hat ihren Namen verdient. Aber das ist bei Ihnen nicht geschehen, und es wird bei Ihnen nicht geschehen.
Punkt drei, Vorschriftenabbau: Herr Scholz, Sie wissen selbst, was mit Ihren schönen blauen Prüffragen passiert. Sie stehen in Ihrem Bericht und liegen überall in den Ministerien aus. Zunächst wird gefragt, ob überhaupt etwas geschehen soll. Das beantwortet ein Referent mit „Ja, wir brauchen ein Gesetz" . Aber diese blauen Prüffragen werden entweder ignoriert oder lächerlich gemacht. Sie werden jedenfalls nicht von einer Instanz, die es kann, kritisch bewertet. Sie haben in Diskussionen selbst gesagt, wir bräuchten eine Instanz im Kanzleramt, damit dieses Instrument überhaupt greift.
Diese Instanz gibt es nicht im Kanzleramt. Das heißt, die blauen Prüffragen werden von denen, die diese Gesetze machen, selbst mit Ja beantwortet, weil damit ihre Existenzberechtigung erbracht wird.
Punkt vier: Es wird immer so schön von 800 Modernisierungsprojekten gesprochen; darüber gibt es auch viele Papiere. Das geht wirklich nach dem Prinzip „Masse statt Klasse". Sehen Sie sich nur einmal an, welche Projekte da aufgeführt sind: Einstellung der Produktion von Gelbfieberimpfstoff durch das Robert-Koch-Institut. Das ist ja ein hervorragendes Verwaltungsreformprojekt! Genannt ist auch die weitgehende Streichung von Nachkuren und Schonzeiten für alle Beamten des öffentlichen Dienstes.
Herr Kollege Bürsch, die Redezeit bei einer Kurzintervention beträgt drei Minuten. Sie müssen zum Schluß kommen.
Diese Projekte - gehen Sie einmal die Liste der 800 durch - sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Sie belegen nicht das, was Herr Körper für unsere Fraktion zu Recht beantragt hat, nämlich daß es systematische Aufgabenkritik gibt.
Dr. Michael Bürsch
Ich sage Ihnen - Punkt 5 -, woran es entscheidend fehlt.
Nein, Herr Kollege Bürsch. Es ist wirklich nicht möglich, daß Sie hier einen ganzen Debattenbeitrag halten. Die Zeit für eine Kurzintervention beträgt drei Minuten. Die sind vorbei. Ich muß Sie bitten, jetzt aufzuhören.
Frau Präsidentin, ich bin in der Sache engagiert. Deshalb sage ich: Es ist keine Chefsache. Der Kanzler schert sich kein Stück um diese Verwaltungsreform. Deshalb kann sie auch nicht gelingen.
Danke schön.
Bitte, Herr Scholz.
Herr Bürsch, ich möchte kurz etwas auf das erwidern, was Sie gerade gesagt haben. Noch einmal: Sie sprechen von Effizienz. Effizienz ist richtig, davon sprechen wir auch. Aber wir wissen, daß Effizienz nicht ohne Verschlankung denkbar ist. Das andere, was Sie sagen, nämlich daß wir Verschlankung nur im Sinne von Abbau von Personal verstehen, ist abenteuerlich. Das weise ich mit Nachdruck zurück. Das ist das Rasenmäherprinzip, das man von einigen Ihrer Ministerpräsidenten hört, etwa von Frau Simonis, die bei dem Thema „Verschlankung des Staates" nur von Reduzierung des öffentlichen Dienstes spricht.
Die Reduzierung des öffentlichen Dienstes ist notwendig. Aber das setzt voraus - das können Sie sehr deutlich bei uns nachlesen -, daß die Verwaltungsstrukturen und die Aufgaben stimmiger werden, die Verwaltungsstrukturen effizienter werden. Kein öffentlicher Dienst kann besser und effizienter sein als die Verwaltungsstrukturen, in und mit denen er zu arbeiten hat. Das ist unser Grundprinzip und nicht das, was Sie erzählen.
Im übrigen hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie etwas zu Herrn Schröder sagen, etwas zu den Zahlen, die ich genannt habe. Sagen Sie einmal etwas Kritisches. Haben Sie den Mut, zu kritisieren. Aber das tun Sie nicht.
- Jetzt sind Sie wieder beim Zwischenruf.
Ich komme noch kurz auf die Gesetzesfolgenabschätzung zu sprechen. Ich habe eben sehr deutlich gesagt - wenn Sie wollen: eingeräumt -, daß es schwierig ist - das ist mir völlig klar -, wenn sich Ministerialbürokratien mit solchen zusätzlichen Prüfaufgaben und Fragestellungen, die man regelungsmäßig ins Auge faßt, selber in Frage stellen müssen. Dies setzt ein Stück Bewußtseinsbildung voraus. Das ist völlig richtig. Daß das in der Praxis nicht von heute
auf morgen vollständig funktionieren wird, weiß ich auch.
Die Normprüfungsstelle, die der Sachverständigenrat Schlanker Staat, angesiedelt beim Kanzleramt, vorgeschlagen hat, ist in der Tat vorerst nicht realisiert. Ich sage: vorerst. Die Bundesregierung hat gesagt - das akzeptiere ich -: Änderung der Geschäftsordnung. Zunächst einmal sollen die einzelnen Häuser selber zeigen, ob sie in der Lage und - ich füge hinzu - bereit sind, dies zu leisten.
Schauen Sie in die Gesetzesvorlagen, die in der letzten Zeit auf den Tisch des Hauses gekommen sind. Es beginnt in einer sehr erfreulichen Weise. Aber was mich wundert, ist, daß die Opposition in solche Dinge nicht einsteigt. Manchmal denke ich, die Opposition könnte eigentlich in solche Prüffragen und Prüfabwägungen einsteigen. Das tut sie nicht, weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, nun wiederum überregulierende Gesetzesvorschläge von Ausbildungsabgaben bis zu dieser fabelhaften Bürokratiemaschine Gleichstellungsgesetz zu machen. Es lassen sich beliebig viele Beispiele anführen.
Kommen Sie an den Tisch vernünftiger Prüfungen. Machen Sie das mit! Das ist eine Chance nicht nur für die Opposition, nicht nur für das Haus insgesamt, sondern für das ganze Land.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Oswald Metzger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weil wir eine kleine Runde sind, kann das Thema in dem Kreis offensichtlich durchaus differenziert behandelt werden.
Ich möchte mit einem Paukenschlag beginnen. Wenn das Wort „schlanker Staat" nicht nur Rhetorik sein soll, muß man sich den Berlin-Umzug und das ansehen, was wir daraus gemacht haben, seit der Sachverständigenrat eingesetzt worden ist.
Herr Scholz, ich habe nachgelesen, was auf Seite 51 Ihres Abschlußberichtes zum Berlin-Umzug zu strukturellen Änderungen der Ministerialbürokratie steht, nämlich daß beispielsweise nur etwa 40 Prozent der Aufgaben in den Ministerien genuin politisch sind und der Rest im Prinzip nachgeordnete Bereiche darstellt. Trotz dieser Erkenntnis sind wir - alle zusammen, von links bis rechts in diesem Haus, auch der Innenminister - nicht in der Lage, zu sagen: Diese Kombinationslösung, die der Bundestag in bezug auf den Umzug beschlossen hat, nämlich sechs Ministerien hier mit Bonner Dienstsitzen zu belassen, den Rest nach Berlin zu verlagern, ist das Gegenteil von schlanker, unbürokratischer Organisation der Bundesverwaltung. Daß sich in diesem Bereich fast
Oswald Metzger
nichts getan hat, zeigen alle Berichte des Rechnungshofes der letzten 12 oder 14 Monate.
Der letzte Bericht des Rechnungshofs, der sich zur Organisationsstruktur der Ministerien geäußert hat, stammt von Dezember 1996. Er besagt - ich zitiere frei aus der Erinnerung -, daß der Rechnungshof bei seinen Prüfungen in den Ministerien keinen leitenden Mitarbeiter und keine leitende Mitarbeiterin gefunden hat, der oder die dem Kombinationsmodell eine dauerhafte Existenz bescheinigt hätte; vielmehr gehen alle vom Rutschbahneffekt aus, der durch das Kombinationsmodell sehr teuer wird und die Verwaltungs- und Betriebskosten des Unternehmens Bundesrepublik Deutschland ab Herbst 1999 erhöhen wird. Das ist eine traurige Tatsache.
In unserem Entschließungsantrag, den wir heute vorlegen, haben wir wenigstens in der Analyse darauf hingewiesen, daß in diesem Haus ein absolutes Defizit in dieser Frage herrscht, weil bestimmte Leute aus politischen Gründen an diesem Kombinationsmodell nicht mehr herumdoktern wollen, da sie meinen, sie würden damit eine alte Bonn-Berlin-Diskussion wiederholen.
Allein das, was wir an Investitionskosten in Berlin eingespart hätten, wenn die Aufgabenkritik in den Ressorts und die entsprechenden Gebäudezuschnitte in bezug auf neue Ressortstrukturen bemessen worden wären, hätte sich im Bereich von satten 1,5 bis 2 Milliarden DM bewegen können. Die laufenden Mehrkosten für die Zeit bis zum Abschluß des Rutschbahneffektes, also des endgültigen Umzugs aller Ressorts von Bonn nach Berlin, werden noch viele hunderte Millionen DM jährlich an Friktionen, Kommunikations- und Reisekosten betragen. Auch das ist traurige Realität. Ich glaube, die Menschen in diesem Land spüren, daß im Bereich des Berlin-Umzugs vieles nicht gemacht wurde, was in rhetorischen Floskeln zum Thema „schlanker Staat" von vielen so gern gesagt wird.
Das ist der eine Bereich.
Zum zweiten Bereich. Ich möchte dem Innenminister, mit dem ich politisch in vielen Bereichen über Kreuz liege, sehr wohl sagen, daß, wenn ein Ministerium in Teilbereichen tatsächlich strukturell seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwas an Veränderungsbereitschaft zumutet, sich dieses relativ nachdrücklich zum Beispiel im Bereich des Innenministers niederschlägt. Das muß man konzedieren. Veränderungspotentiale in der Bundesverwaltung hängen von der Bereitschaft von Akteuren in der Verwaltungsspitze ab, in dieser Frage tatsächlich auch politisch zu denken, strukturelle Einsparungen zu erzielen und eben nicht nur den eigenen Apparat zu schonen.
Wir besitzen aber in der Bundesverwaltung kein übergeordnetes Ressort mit der Kompetenz, den anderen Ministerien zu sagen: Aufgabenkritik heißt auch, daß ihr Hierarchien verschlankt, Stellen reduziert, Projektmanagement einführt, die durch Kleinstreferate fragmentierte Arbeitsweise in den Ministerien auflöst und dadurch einen entsprechenden Druck ausübt. Vielmehr setzt sich jeder Ressortchef gem mit den Leitern seiner Abteilungen hin und schützt sein Ressort vor Angriffen im Hinblick auf Personaleinschnitte oder strukturelle Reorganisationsmaßnahmen.
Es ist ein Kernfehler des Systems, daß in keinem Ressort der Bundesregierung die entsprechende Zuständigkeit für die Verwaltungsreform gebündelt ist. Ich meine, das BMF wäre dazu eigentlich prädestiniert, weil es die Haushaltsführung des Bundes insgesamt, die tatsächliche Finanzierung, steuern sollte. Von dieser zu schaffenden Stelle aus müßte auch in Teilbereiche, in die Organisationshoheit von fremden Ressorts, im Hinblick darauf eingegriffen werden können, daß nachhaltige Einsparerfolge erzielbar sind.
Dazu bräuchten wir allerdings zum Beispiel auch flächendeckend die Kosten- und Leistungsrechnung.
Diese ist bisher im Haushaltsgesetz nur fakultativ enthalten, nämlich als Soll-Bestimmung und nicht als Muß-Bestimmung. Ohne daß ich meine Kosten kenne, ohne daß ich als Haushaltsgesetzgeber auch politische Ziele dahin gehend definiere, was ich eigentlich von meiner Verwaltung will, kann ich weder eine Personalmengensteuerung zustande bringen, noch kann ich irgendwelche Budgets organisieren, noch kann ich Verantwortung und Kompetenz an bestimmten ausführenden Stellen paaren; damit wird eine öffentliche Verwaltung nie und nimmer effektiv.
Vor dem Hintergrund meiner früheren Tätigkeit als Kommunalpolitiker habe ich in den dreieinhalb Jahren, die ich jetzt hier in Bonn bin, eines gemerkt: Wir reden zwar in Bonn inzwischen wesentlich mehr über Verwaltungsmodernisierung und Verschlankung von Strukturen. Aber in der Praxis sind uns eine Vielzahl von Gemeinden und Landkreisen in diesem Land weit voraus, weil den Kommunen in dieser Republik natürlich schon länger durch den Zangengriff von Bund und Ländern finanzpolitisch das Wasser bis zum Hals steht und in der Not wirklich für viele eine Chance liegt, tatsächlich strukturelle Neuordnungen anzugehen.
Eines dürfen wir zum Abschluß nicht machen: in dieser gesamten Debatte den öffentlichen Dienst schlechtreden. Wir haben in den öffentlichen Verwaltungen mit Sicherheit nicht weniger qualifizierte Leute als in der Privatwirtschaft. Die Strukturen sind teilweise dafür verantwortlich, daß sich die guten Leute in der öffentlichen Verwaltung nicht durchsetzen können, sondern mit der Zeit zu einem Laisserfaire-Verhalten, einem Absitzen ihrer Dienstzeit kommen, so wie es sich auch im Dienstrecht in den
Oswald Metzger
Dienstalterstufen niederschlägt, daß man eben alle zwei oder drei Jahre mehr Gehalt bekommt, ohne daß es leistungsorientiert ist. Hier müssen wir Abschied von der Haltung nehmen, daß die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst schlecht sind. Das Problem ist vielmehr: Die Strukturen belohnen gute Leute nicht belohnen.
In diesem Sinne ist auch Privatisierung für uns keine Ideologie, die als Alternative zum öffentlichen Dienst in jeder Form vorgezogen werden sollte. Da unterscheiden wir uns auch mit Sicherheit von der F.D.P.
Aber wir wollen, daß der öffentliche Dienst in einem Leistungsvergleich mit der Privatwirtschaft tatsächlich seine Leistungsstärke beweisen kann und dadurch unter Beweis stellt, daß öffentliche Leistungserbringung auch effektiv vonstatten gehen kann.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Max Stadler.
Gleich! - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion nimmt die beiden uns vorliegenden Berichte der Bundesregierung mit Zustimmung zur Kenntnis, entsprechen sie doch einem jahrelangen Grundanliegen liberaler Innenpolitik. Für uns sind Zielsetzungen wie Privatisierung, Deregulierung und Bürokratieabbau keine leeren Worte, sondern wir sorgen dafür, daß der sogenannte schlanke Staat nach und nach Wirklichkeit wird.
Daß der schlanke Staat freilich nicht von heute auf morgen zu erreichen ist, ist mittlerweile Allgemeingut. Deshalb ist es wichtig und zu begrüßen, daß die Bundesregierung in regelmäßigen zeitlichen Abständen über den Stand der Umsetzung des Aktionsprogramms zur weiteren Steigerung von Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Bundesverwaltung berichtet.
Das Maßnahmepapier „ >Schlanker Staat<: Die nächsten Schritte" zeigt zudem als Konsequenz aus dem Bericht konkret auf, was als nächstes zu tun ist, um Wirtschaftswachstum, Wohlstand und soziale Sicherheit im Deutschland des 21. Jahrhunderts zu erhalten.
Lassen Sie mich kurz näher auf die drei entscheidenden Stichworte Privatisierung, Deregulierung und Bürokratieabbau eingehen. Punkt 1: Wir haben in den letzten Jahren große Privatisierungsprojekte wie die Privatisierung des Post- und Telekommunikationssektors, der Bundesbahn und der Lufthansa durchgeführt.
Ich weiß sehr wohl, daß in Teilen der Öffentlichkeit diese Projekte bisweilen mit Skepsis betrachtet werden. Gerade das Beispiel der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes wird aber zeigen, daß der Verbraucher daraus die Vorteile zieht; denn Privatisierung ist für uns kein Selbstzweck, sondern ein erster Schritt der Überführung eines Monopolbereichs in den Wettbewerb. Sobald sich die Anfangsverwirrung über die verschiedenen Tarife gelegt haben wird, wird sich allgemein die Bewertung durchsetzen: Das Telekommunikationsgesetz führt zu mehr Wettbewerb und daher zu besserem Service und günstigeren Tarifen für die Verbraucher.
Dieselbe Bewertung wird sich eines Tages einmal niederschlagen, wenn der Energiemarkt liberalisiert sein wird. Allerdings sind wir hier mit der Gesetzgebung noch nicht ganz zu Ende, sondern das Projekt hängt bekanntlich im Vermittlungsausschuß.
Völlig zu Recht ist von mehreren Vorrednern, von Professor Scholz und Oswald Metzger, darauf hingewiesen worden, daß es gerade die Finanzknappheit der Kommunen gewesen ist, die dort zu einem gewissen Reformschub geführt hat. Kommunen, die sich jahrelang gegen jede Privatisierung gesperrt haben, sind jetzt bereit, ernsthaft darüber nachzudenken oder haben dies schon in die Tat umgesetzt. Ich meine aber, während bei der Verwaltungsreform die Kommunen die Nase vorn hatten, liegt bei der Privatisierung der Bund wesentlich günstiger. Das Potential in den Kommunen scheint mir hier noch gewaltig zu sein. Richtig ist, daß bei der Verwaltungsreform in den Kommunen vielfältige Ansätze schneller als bei den Ländern und beim Bund angegangen worden sind.
Aber, Herr Kollege Metzger, die Probleme liegen natürlich auch hier im Detail. Sie haben zu Recht die Notwendigkeit der kaufmännischen Buchführung angesprochen, die Notwendigkeit, über die konkreten Kosten wirklich Bescheid zu wissen, die eine Verwaltung für jede einzelne Dienstleistung verursacht, damit man in den Vergleich etwa mit anderen Verwaltungen eintreten kann, um Schwachstellen der eigenen Verwaltung festzustellen, und in den Vergleich mit den Angeboten der Privatwirtschaft, damit man überhaupt sieht, wo sinnvoll gespart werden kann.
Meine Erfahrung aus der Kommunalpolitik sagt aber, daß die Bewertung der einzelnen Kosten außerordentlich schwierig ist und einen großen Zeitraum in Anspruch nimmt. Insofern verwundert es nicht, daß der Bund, der mit seinen Pilotprojekten etwas später begonnen hat, mittlerweile aber kräftig nachzieht, hierbei vielleicht noch Erfahrungsbedarf hat. Es stünde dem Bund durchaus gut an, wenn er aus den praktischen Erfahrungen, die in den Kommunen gerade gesammelt werden, seine Lehren ziehen würde.
Dr. Max Stadler
Punkt zwei. Deregulierung bedeutet für uns Liberale auf Bundesebene vor allem die Verringerung der Normenflut und - immerhin kann man es als Programmsatz nennen, der immer wieder anzustreben ist - die leichtere Lesbarkeit und Verständlichkeit von Gesetzen. So verständlich, daß die Anwaltszunft arbeitslos würde, werden sie im Endeffekt doch nicht ausfallen. Insofern braucht man keine allzugroße Besorgnis um diesen Berufsstand zu haben.
Neue Gesetze müssen einer Bedürfnis- und Wirtschaftlichkeitsprüfung unterzogen werden. Wir haben dafür gesorgt, daß Verwaltungsverfahren bereits vereinfacht worden sind. Dies muß übrigens keineswegs auf Kosten der Bürgerbeteiligung gehen; denn das sind ja immer die beiden Pole: rasche Verwaltungsverfahren einerseits, aber die Notwendigkeit der Bürgerbeteiligung und die Individualrechte von Bürgern andererseits. Das schließt sich nicht aus. Vielmehr können Verwaltungsverfahren optimal so organisiert werden, daß all diese Ziele erreichbar sind.
Sie dürfen aber aus unserer Sicht auch keine Investitionshemmnisse sein. Insofern ist es doch zufriedenstellend, was der Präsident der Industrie- und Handelskammer von Oberbayern, Dieter Soltmann, kürzlich gesagt hat. Er hat gemeint, schon auf Grund der Gesetzesänderungen, die in jüngster Vergangenheit vorgenommen worden sind, würde heute eine rasche Ansiedlung etwa eines Automobilwerkes wie BMW, die bekanntlich in Spartanburg sehr schnell abgelaufen ist, durchaus auch in seinem Bereich, in München, möglich sein. Dieses Urteil eines Praktikers aus der Wirtschaft zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind.
Punkt drei. Für die F.D.P. hat der Standort Deutschland nur dann Zukunft, wenn neben Privatisierung und Deregulierung auch der Bürokratieabbau Maßstab deutscher Innenpolitik bleibt. Wir sind der Auffassung, daß das Dienstrechtsreformgesetz, das vielleicht in vielen Einzelheiten umstritten gewesen sein mag, sehr wohl ein wesentlicher Schritt von der Personalverwaltung zum Personalmanagement ist. Es bringt die Bediensteten zu mehr Eigenverantwortung. Mehr Eigenverantwortung schafft mehr Motivation. Mehr Motivation bedeutet größere Leistungsbereitschaft. Größere Leistungsbereitschaft führt zu einer effizienteren Verwaltung.
Dies alles - das richte ich bewußt an die Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen - ist erreichbar innerhalb der herkömmlichen Grundsätze des Berufsbeamtentums, innerhalb der Grundstrukturen, die sich nach unserer Auffassung bewährt haben, und ohne umwälzende Änderungen des Beamtenrechts, wie Sie sie andauernd vorschlagen.
Gleichwohl bleibt viel zu tun. Ich nenne einige Stichworte aus dem Bereich der Justiz, die im Bericht der Bundesregierung noch nicht enthalten sind, die mir aber gleichwohl diskussionswürdig erscheinen.
Erstens. Es ist zu denken an die Bildung von Rechtspflegeministerien im Bund und in den Ländern, in denen dies bisher noch nicht geschehen ist. Das heißt, die Zuordnung von Verwaltungs-, Arbeits-
und Sozialgerichtsbarkeit sollte zu den Justizministerien erfolgen; denn da, wo dies bereits realisiert worden ist, hat man damit gute Erfahrungen gemacht.
Zweitens. Ich bringe das Stichwort Abschaffung des Oberbundesanwalts an. Er ist eine aus unserer Sicht entbehrliche Behörde.
Drittens. Wir regen als Pilotprojekt die Zusammenlegung der ordentlichen Gerichte und der Arbeitsgerichte an, freilich unter gleichzeitiger Bildung von spezialisierten Spruchkörpern für die Arbeitsgerichtsbarkeit, aber mit dem Ziel der Verringerung der Gerichtszweige und der Verwaltungsvereinfachung.
Meine Damen und Herren, ich stelle zum Schluß fest: Wir wollen Deutschland nicht nur für in- und ausländische Unternehmen attraktiver machen und damit neue Arbeitsplätze schaffen. Wir wollen unseren Staat auch für seine Bürger attraktiver machen. Die Verwaltung ist Dienstleister für den Bürger; der Bürger ist Kunde, nicht Bittsteller. Eine bürgerorientierte Verwaltung hat einen wesentlichen Anteil an der Akzeptanz des Staates durch seine Bürger.
Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung mit dem vorgelegten Aktionsprogramm auf dem richtigen Weg ist, und werden diese Politik weiterhin unterstützen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicherlich ist es richtig, daß nach Wegen gesucht wird, Staat und Verwaltung effizienter und bürgerfreundlicher zu gestalten. Das muß selbstverständlich auch für die Bundesverwaltung gelten. Wenn der Königsweg allerdings die radikale Privatisierung auf allen staatlichen Ebenen sein soll, so wird am Ende nicht der schlanke, sondern der amputierte Staat stehen.
Das DIW hat errechnet, daß in den 90er Jahren über eine halbe Million Arbeitsplätze bei Bund, Ländern und Gemeinden verlorengegangen sind, der größte Teil davon in den Kommunen, denen im Gegenzug immer mehr Aufgaben übertragen wurden. Wie diese Art Verschlankung dem Nutzen der Bürgerinnen und Bürger dienen soll, ist schlicht nicht nachvollziehbar.
Da auf kommunaler Ebene die Verwaltungsreform schon viel weiter gediehen ist als auf Bundesebene - das wurde heute schon angesprochen -, kann aus den entsprechenden Zwischenbilanzen schon manche Schlußfolgerung gezogen werden, die sich auf andere Bereiche übertragen läßt.
Das Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltung dagegen hat sich nicht verbessert. Im Gegenteil: Aus Bürgerinnen- und Bürgersicht wirkt die Verwaltungsreform eher negativ, da Reform offenbar vor allem Einsparung bedeutet.
Maritta Böttcher
Spürbar sind solche Auswirkungen auch im Bildungsbereich, wenn durch Personaleinsparungen die Betreuungsrelation in den Schulen verschlechtert wird, Stundentafeln gekürzt und Klassenfrequenzen erhöht werden. Das DIW weist in diesem Zusammenhang auf die gefährlichen Folgewirkungen der Vergreisung im öffentlichen Dienst hin: Überaltertes Personal in Ausbildung und Forschung wird immer mehr zum Hemmschuh für qualifizierte Aktivitäten. Im Bildungs- und Wissenschaftsbereich kann es nicht nur um die Erhaltung des Status quo gehen. Hier sind zusätzliche Ausgaben notwendig, um Leistungsfähigkeit zu sichern.
Am wenigsten vom Stellenabbau betroffen sind offenbar die Ministerien, womit wir wieder beim Thema wären. Eben in diesem Bereich hätte die Bundesregierung schon sehr viel früher praktisch tätig werden müssen und können. Massive Kritik wurde in den letzten Jahren vom Bundesrechnungshof hinsichtlich der überproportionalen Personalaufstokkung in den Leitungsbereichen der Ministerien, der Zunahme von Kleinreferaten oder der Einstufung des Personals geübt. Daß es hier kein Wissens-, sondern ein Handlungsdefizit gibt und in welche Richtung gehandelt werden muß, macht der SPD-Antrag deutlich.
Wie die Verringerung und Straffung von Behörden im konkreten Fall des Prestigeobjekts ,,Umstrukturierung der Bundesabteilungen der Oberfinanzdirektionen" aussieht, wird am Beispiel Chemnitz deutlich, das ich kurz skizzieren will.
1994 wurde die Stadt Dresden als Sitz der Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung der Oberfinanzdirektion Chemnitz festgelegt. Vor dieser Entscheidung war das Thema Verlegung durch eine speziell eingesetzte Arbeitsgruppe geprüft worden, die allein die Verlegungskosten auf einen Betrag von über 1 Million DM schätzte. Inzwischen kommen zu diesen Kosten weitere 4 Millionen DM getätigter Bauausgaben im Bereich des Dresdner Dienstgebäudes hinzu. Unter Beachtung weiterer Kosten für Beschäftigte, denen ein Ortswechsel nicht zugemutet werden kann und die auf kw-Stellen geparkt werden müssen, würden die Gesamtverlegungskosten die 10-MillionenDM-Grenze überschreiten, zumal in Chemnitz ein neues Dienstgebäude beschafft werden muß.
Die 160 betroffenen Beschäftigten wehren sich zu Recht gegen diese verwaltungsökonomisch unsinnige Verschleuderung von Steuergeldern und den zynischen Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei solchen Sandkastenspielen nur noch wie Verschiebemasse behandelt werden.
Die Ergebnisse der Privatisierungsstrategie der Bundesregierung lassen sich am Beispiel Post und Telekommunikation sehr gut deutlich machen. Während die Post ihr Netz von Außenstellen von 1996 bis zur Jahrtausendwende um fast die Hälfte reduziert, was nicht nur einen Verlust von Arbeitsplätzen, sondern auch eine Verschlechterung des Dienstleistungsangebots bedeutet, bewegt sich der Verwaltungsaufwand des Bundes in diesem Bereich 1998 nicht etwa nach unten, sondern nach oben. Die Stellenpläne von Wirtschaftsministerium und Regulierungsbehörden bleiben ein Eldorado für Spitzenverdiener, deren Ausgaben weitestgehend unklar sind. Die Verschlankung des Staates erfolgt vor allem dort, wo er gebraucht wird, nämlich vor Ort.
Im Bericht ,,,Schlanker Staat': Die nächsten Schritte" ist von einer Steigerung der Effizienz der Verwaltung durch Einsatz von Informationstechnik die Rede. Auch das ist ein Bereich, der weder Lenkungsausschüsse noch Sachverständigenräte erfordert. Ein Blick in den Bericht des Bundesrechnungshofes genügt. Dort erfahren wir beispielsweise, daß beim Kraftfahrt-Bundesamt Datenhaltung, Anwendungssoftware und Verfahrensabläufe dem Entwicklungsstand der 70er Jahre entsprechen und im Zentralen Fahrzeugregister jährlich 200000 Fehler durch doppelte Datenhaltung entstehen, die durch 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichtigt werden müssen. Damit ist natürlich kein Staat zu machen. All diese Dinge sind seit 1980 bekannt und sollen immerhin bis 1999 beseitigt werden.
Das ist nur ein Beispiel. Es macht jedoch sehr gut deutlich, daß es um grundlegende Dinge geht, wenn Organisationsstrukturen wirklich optimiert werden sollen. Da wird keine Privatisierung von Servicebereichen und auch kein Lenkungsausschuß etwas ändern können. Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung sind über Jahre hinweg versäumt worden. So wird wohl auch der Berlinumzug - dazu ist schon einiges gesagt - nicht viel Neues bringen.
Wir brauchen kein Konglomerat von Einzelmaßnahmen, sondern ein abgestimmtes Reformprogramm, wie es im Antrag der Grünen umrissen wird, dem wir ausdrücklich zustimmen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte hier - sozusagen als Fallbeispiel für die Art und Weise, wie sich Verwaltungsreformen unter der Bundesregierung vollziehen - etwas über eine randständige Erscheinung im Verwaltungsaufbau, die Einnahmeverwaltung von Bund und Ländern, nämlich die Oberfinanzdirektionen, die nachgeordneten Behörden, sagen.Das Finanzverwaltungsgesetz hat ausdrücklich und als sinnvolle Ausnahme von den ansonsten üblichen Trennungen von Bundes- und Landeszuständigkeiten im Behördenaufbau festgelegt, daß die Mittelinstanz der Finanzverwaltung in Gestalt der Oberfinanzdirektionen in der Regel eine Gemeinschaftsverwaltung des Bundes und der Länder ist. Das hatte gute Gründe. Die Einnahmeverwaltung des Bundes und der Länder sollte in der mittleren Führungsebene miteinander verknüpft sein, um bundeseinheitlichen Vollzug, wechselseitige Information über die Einnahmeentwicklung bei Steuern und Zöl-Reinhard Schultz
len, gemeinsame Einschätzung regionalwirtschaftlicher Trends und jenseits der natürlichen Konkurrenz von Bund und Ländern in finanzwirtschaftlichen Fragen eine Politik des Konsenses durch Transparenz gewährleisten zu können.Eine Änderung dieses Grundsatzes ist nicht über den Verordnungsweg im Rahmen der Organisationshoheit des Bundesfinanzministers einseitig für die Bundesabteilungen der Finanzverwaltung möglich. Sie bedarf nach unserer Auffassung der Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes. Eine solche Änderung bedürfte wiederum der Zustimmung des Bundesrates. Nun hat aber der Bundesfinanzminister mit seinem Konzept „Straffung der Bundesabteilungen" die gemeinsame Mittelinstanz zur Ausnahme gemacht, ohne die Bundesländer in diese Überlegungen angemessen einzubeziehen. Natürlich - da stimme ich einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu - könnte, wie auch bisher, an dem einen oder anderen Standort eine reine Landes- oder eine reine Bundesoberfinanzdirektion gebildet werden, wenn der Grundsatz der gemeinsamen Verwaltung dadurch nicht gefährdet wird. Diesen Grundsatz hat jedoch die Bundesregierung wider alle Vernunft mißachtet. Sie überschreitet damit die Grenzen des Grundgesetzes auf eine für die Zukunft des Föderalismus und die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bedrohliche Art und Weise.Natürlich wandeln sich Aufgaben der Bundesfinanzverwaltung. Natürlich ist eine Straffung von Aufgaben auch hier erforderlich. Auch wir wissen, daß in absehbarer Zeit die Eigentumszuweisung und die Verwertung ehemaliger Militärgelände durch die Bundesvermögensabteilungen erledigt sein werden. Auch wir wissen, daß die Aufgaben der Zollverwaltungen sich immer mehr an die Außengrenzen der EU und an die Schnittstellen des internationalen Luftverkehrs verlagern, während wir auf der anderen Seite feststellen, daß die Verwaltung der Umsatzsteuern in Zukunft eher an Bedeutung zunehmen wird.Auch wir wissen, daß mit modernen Führungsmethoden und im Zeitalter moderner Kommunikationsmittel eine Rationalisierung sinnvoll und möglich ist. Mir geht es vielmehr darum, daß fachlich und sachlich korrekt zum richtigen Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der Interessen des Personals, der Länder und der betroffenen Regionen der richtige Weg zur Reform dieser Mittelinstanz beschritten wird. Davon kann leider keine Rede sein.Der Bundesfinanzminister hat ein holzschnittartiges Acht-zu-acht-zu-acht-Modell an den Anfang seiner Überlegungen gestellt - das sollte ein Markenzeichen sein -, bevor er die Inhalte festgelegt hat. Damit war er eigentlich von vornherein verhandlungsunfähig. Er hat dieses Modell gegenüber den Präsidenten der Oberfinanzdirektionen und den Personalvertretungen geradezu in einem Kasernenhofton verkünden lassen, Alternativen, wie das Modell der Bundesabteilungen zur flexiblen Aufgabenwahrnehmung und Personalbewirtschaftung, das die Finanzpräsidenten selbst vorgeschlagen haben, ohne jede Prüfung verworfen. Er hat die Personalvertretung mehrfach in die Irre geführt, zum Beispiel durchVortäuschung eines politischen Zeitdrucks, der dann jedoch nicht bestand. Er hat die Bedenken und die Bitten der Länder um eine Konsenslösung ignoriert. Und er hat - das ist das Schlimmste - weder die personalwirtschaftlichen noch die finanziellen Folgen seiner Bemühungen auch nur annähernd nachvollziehbar dokumentiert. Damit verstößt er in diesem konkreten Fall gegen alle Grundsätze, die Herr Professor Scholz in seinem dicken Werk zur Neuordnung von Verwaltungen aufgestellt hat.Wenn Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Antwort auf unsere Kleine Anfrage - Drucksache 13/ 9893 - einmal anschauen, finden Sie keine Informationen, die uns weiterhelfen könnten. Der Finanzminister verordnet ein Grobkonzept ohne Beteiligung der Länder, seiner Oberfinanzpräsidenten und der Personalvertretung und erwartet dann, daß diese ihm maßgeschneiderte Feinkonzepte wenige Wochen und Monate vor der Wahl auf den Tisch legen. Das funktioniert natürlich so nicht. Bis Ende August wird es kein abgestimmtes Feinkonzept geben. Die Verwirklichung des Ziels, die Bundesabteilungen der Oberfinanzdirektionen neu zu ordnen, wird an der Wirklichkeit scheitern.Wer zum Beispiel die Situation an den Grenzen nach Osten kennt, der weiß, daß wöchentlich die Bundesabteilung Zoll kleine Grenzverkehre eröffnet, daß täglich abfertigungstechnische Regelungen mit Polen und der Tschechischen Republik vereinbart werden müssen, daß selbst nach einer Osterweiterung der EU die Grenzen nur schrittweise geöffnet werden können und daß es im Übergang eher komplizierter sein wird und daß der Abstimmungsbedarf mit den Stellen vor Ort besonders intensiv sein wird. Wer das weiß, wird sich davor hüten, zum jetzigen Zeitpunkt zu versuchen, Bundeszollabteilungen ausgerechnet aus Ostdeutschland abzuziehen.
Wer weiß, daß die Drehkreuze des internationalen Flugverkehrs die zollpolitischen Brennpunkte der Zukunft sein werden, der wird sich bei Großflughäfen wie zum Beispiel Frankfurt nicht ohne Not nur auf ein Zollamt beschränken wollen.Wer glaubt, daß die Vermögenszuordnung und Vermarktung von ehemaligen militärischen Liegenschaften bis zum Jahr 2005 weitgehend erledigt sein kann, der kennt dieses schwierige Geschäft nicht. Natürlich sind dann Innenstadtobjekte oder stadtnahe Großflächen vermarktet, aber die Truppenübungsplätze, die Depots, die Raketenstationen und andere schwierige Liegenschaften sind nach wie vor in der Hand des Bundes, der noch eine lange Zeit brauchen wird, bis sie vermarktet worden sind. Wer jetzt stolz in bezug auf die Vermögensabteilungen ein Datum 2005 setzt, schafft lediglich Unruhe, löst aber leider nicht das Problem.
Wieso nun im Zusammenhang mit dem Zusammenlegen von Standorten ausgerechnet die einnahmestärkste Verbrauchsteuerabteilung in Münster mit etwa 30 Prozent der Gesamteinnahmen des Bundes
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998 20537
Reinhard Schultz
aufgelöst und nach Köln verlagert werden soll, ist völlig schleierhaft.Ich erkenne an, daß auf Grund der Informationsarbeit der Opposition und der von uns begleiteten Widerstände vor Ort der Bundesfinanzminister im letzten Moment, im Februar, Korrekturen vorgenommen und Aufweichungen seines strafffen Konzeptes vorgeschlagen hat. So soll die Frage der Existenz einer Bundes-OFD in Rostock erst nach Wegfall der Aufgaben der Vermögenszuordnung entschieden werden; das schafft dort vor Ort sicherlich Luft. So bleibt zunächst offen, ob die Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung der OFD Chemnitz nach Hannover oder nach Erfurt verlagert wird - unabhängig davon, ob das sinnvoll ist. So ist zu begrüßen, daß durch Erhalt der Bundesvermögensabteilung in Münster - wenn auch als Außenstelle der OFD Köln - der Bund in Westfalen präsent bleibt und der Standort durch Zuordnung von Sonderfunktionen, zum Beispiel durch die geplante Zentralstelle für Risikoanalysen, gestärkt wird. Alle diese von uns erzwungenen Gesten des Entgegenkommens können nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Reform mit der heißen Nadel gestrickt ist und daß sie weder rechtlich noch tatsächlich in der vorgesehenen Form Bestand haben kann.Wir haben die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag aufgefordert, die Neuordnung der gemeinsamen Finanzverwaltung des Bundes und der Länder durch Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes auf dem dafür vorgesehenen Wege zu regeln. Wir möchten, daß die Kriterien der Einheitlichkeit des Verwaltungshandelns, der Effizienz, des flexiblen Personaleinsatzes sowie der Regional- und Sozialverträglichkeit zur Anwendung kommen. Wir möchten alternative Lösungsansätze, die vorliegen, geprüft sehen. Darüber hinaus möchten wir eine partnerschaftliche Abstimmung mit den Ländern und den Betroffenen.Wenn bei einem solch komplizierten Sachverhalt schon kein externer Sachverstand hinzugezogen wird, dann würden wir uns wünschen, daß wenigstens der Bundesrechnungshof die alternativen Vorschläge - einschließlich der Vorschläge der Bundesregierung - unter den Gesichtspunkten der Kosteneffizienz, der Einheitlichkeit des Verwaltungshandelns und der Zukunftsfähigkeit im Hinblick auf den ständigen Wandel von Aufgaben der Finanzverwaltung gutachterlich bewertet und dem Deutschen Bundestag berichtet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden nach den Wahlen, da bis dahin tatsächlich nichts passiert sein wird, alles, was vorliegt, kritisch überprüfen und da neu einsteigen, wo neu einzusteigen ist.Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/9980, 13/ 10 145 und 13/9758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf den Drucksachen 13/ 10 190 und 13/10204 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Bericht der Bundesregierung. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Drucksache 13/10155 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits am 6. Februar 1998, nur wenige Minuten nach dem Beschluß des Bundesrates, haben wir uns hier in einer, wie ich finde, völlig überflüssigen Aktuellen Stunde inhaltlich mit dem Entwurf des Bundesrates eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes beschäftigt. Heute nun wird dieser Entwurf offiziell eingebracht.
Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen haben eine emotionale Springflut ausgelöst, die nach unserer Auffassung sachlich völlig unbegründet ist. Kirchliche Gruppen und Wohlfahrtsverbände haben sich offensichtlich durch die Verbände der Flüchtlinge und Bündnis 90/Die Grünen instrumentalisieren lassen.
Bereits vor der Verabschiedung im Bundesrat hat der Bundesvorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Jürgen Trittin, den Inhalt des Gesetzes - ich zitiere aus der „Westfälischen Rundschau" - als „Ausdruck eines institutionalisierten Rassismus" bezeichnet.
Die Entgleisung von Herrn Trittin wird verständlich, wenn man bedenkt, daß vor dem Hintergrund des bevorstehenden Bundestagswahlkampfes ein Thema hochgeredet werden soll, von dem man sich Pluspunkte bei der vermeintlich einzig moralischen Kompetenz verspricht.
Meine Damen und Herren von den Grünen - sie sind
es noch -, Ihr grünes Ü, das Sie jetzt ständig plakatieren, steht auch beim Asylbewerberleistungsgesetz
Wolfgang Lohmann
für Übertreibung. Was ist denn eigentlich so skandalös an diesem Gesetzentwurf des Bundesrates? Wir meinen: nichts.
Drei Personengruppen, die bislang uneingeschränkt Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten haben, sollen künftig nur noch Leistungen bekommen, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Zukünftig sollen also Ausländer von den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgenommen werden, die nur nach Deutschland einreisen, um diese Leistungen zu erlangen, aber keinen Asylantrag stellen.
Auch Ausländer, die die Durchsetzung der Ausreisepflicht beispielsweise durch Paßzerstörung verhindern oder die nicht ausreisen, obwohl sie freiwillig ausreisen könnten, sollen zukünftig keine Leistungen mehr erhalten.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf einige Angleichungen des Gesetzes an bereits gültige Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes vor. Bedauerlich an den Regelungen ist eigentlich nur, daß die SPD-Mehrheit im Bundesrat im April 1997 noch nicht den Mut gehabt hatte, diese Änderungen im Rahmen der Beratung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes in den Vermittlungsausschuß einzubringen. Warum nicht gleich so, muß man eigentlich fragen.
Doch zurück zur Gegenwart: Interessensgruppen, Bündnis 90/Die Grünen, leider auch Sie, Frau Sonntag-Wolgast, wenden sich gegen die Regelungen. Von Aushungern, unmenschlichen Behandlungsmethoden und der Verletzung der Menschenrechte ist die Rede. Auch der üble Begriff Ausländerfeindlichkeit wird teilweise in diesem Zusammenhang gebraucht. Kein Kommunalpolitiker, kein Landespolitiker und auch keiner von uns Bundespolitikern würde einer Regelung das Wort reden, die tatsächlich einen solchen Charakter hätte. Wir garantieren in Deutschland in einem großen politischen Konsens, manifestiert im Grundgesetz, das Asylrecht. Wir eröffnen in unserem Land jedem Asylbewerber nach der Ablehnung im Verfahren den Rechtsweg. Wir haben in Deutschland zu Zeiten des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere europäische Land. Das sind Fakten, die Kritiker an dieser Stelle einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen.
Auf diesen Rechtsrahmen sind wir stolz und werden ihn auch verteidigen. Wir und auch der Kanzler und die Bundesregierung wollen keine ausländerfeindlichen Regelungen, und, wie ich überzeugt bin, auch die Ministerpräsidenten, ob sie nun Teufel, Lafontaine oder Schröder heißen, wollen das nicht.
Wir Befürworter des Gesetzentwurfes wollen lediglich den Schlepperbanden den finanziellen Anreiz
nehmen, um diesen ihr wirklich menschenverachtendes und schmutziges Geschäft kaputtzumachen. Das wollen wir.
Wir wollen auch Leistungsmißbrauch zu Lasten unserer Gemeinschaft erschweren. Dies haben wir bei vielen Sozialleistungen leider tun müssen; warum nicht jetzt auch in diesem Bereich? Schließlich wollen wir auch den Menschen, deren Gastrecht in Deutschland abgelaufen ist und die jetzt in ihre Heimat zurückkehren müssen und dies auch können, Anreize für ihre Rückkehr geben.
Ich persönlich kann zum Beispiel Personen aus Bosnien verstehen, die nicht in ihre Heimat zurück wollen. Ihre derzeitige Versorgung hier ist staatlich gesichert. Zu Hause müßten sie eigenverantwortlich ein neues Leben beginnen. Wer hätte für diese Menschen nicht mehr Verständnis als Personen, die beispielsweise wie ich als Kind noch die Flüchtlinge und ausgebombten Menschen erlebt haben. Aber auch diese Menschen haben sich nach dem menschenverachtenden Zweiten Weltkrieg an neuer oder an alter Stelle eine Existenz aus dem Nichts aufgebaut.
Ist es deshalb unmenschlich, wenn wir den Bosniern jetzt deutlich machen, daß es Zeit ist, daß auch sie in ihre Heimat zurückkehren und wir ein längeres Bleiben in Deutschland nicht befürworten, sie aber nicht durch staatliche Gewalt gegen ihren Willen zum Ausreisen zwingen? Ich denke: Nein. Niemand wird gerade der zuletzt erwähnten Gruppe von Menschen die Unterkunft verweigern oder die notwendige Ernährung einschränken, wie die übertriebenen Schlagworte dauernd heißen.
Aber müssen diese Menschen weiterhin Taschengeld, Geld für Kleidung, Geld für andere Ge- und Verbrauchsgüter oder für Miete erhalten? Ich meine, wie Bundesrat und auch Bundesregierung: Nein.
Nur damit nicht morgen wieder von den Grünen behauptet wird, die CDU/CSU wolle Flüchtlinge nackt herumlaufen lassen: Es gibt schon sehr lange sehr gut ausgestattete Kleiderkammern in den Städten und Gemeinden.
Auch das füge ich hinzu: Die wirklich unseriöse Politik betreiben doch Sie. In Nordrhein-Westfalen, in jenem rotgrünen Möchtegern-Musterländle, lassen Sie seit dem 1. Januar dieses Jahres die Kommunen mit den finanziellen Lasten der Bürgerkriegsflüchtlinge allein und verschleppen die Abschiebungen. Gleichzeitig versuchen Sie im Deutschen Bundestag, überfällige Leistungskürzungen zu verhindern, die direkt den Kommunen zugute kommen sollen.
Wolfgang Lohmann
Geld übrigens, das viele Kommunen liebend gerne auch in eine verbesserte Betreuung von ausländischen Jugendlichen, bessere Integrationsmaßnahmen von anerkannten Asylbewerbern oder Asylbewerberheime stecken würden, wie mir Kommunalpolitiker immer wieder versichern.
Unterstellt man, daß auch nur ein Drittel der insgesamt 600 000 vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer von den Einschränkungen betroffen sein würden, ergäben sich direkte Einsparungen von 250 bis 300 Millionen DM im Jahr. Würden diese Anreize nur 10 Prozent der Betroffenen bis 1999 zur Ausreise bewegen, würden die Kommunen im nächsten Haushaltsjahr um etwa 600 Millionen DM entlastet.
Inhaltlich wird die CDU/CSU-Fraktion trotz der generellen Befürwortung des Gesetzentwurfs des Bundesrates im weiteren Verfahren natürlich sorgfältig prüfen, ob nicht an der einen oder anderen Stelle Konkretisierungen, zum Beispiel beim Leistungsumfang, in den Gesetzentwurf aufgenommen werden sollten. Wir werden jedoch auch prüfen, ob nicht der weitergehende Vorschlag der Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern wieder aufgegriffen werden sollte, nämlich die Ausweitung der Einschränkung auf alle Personen, die sich unerlaubt in den Geltungsbereich des Gesetzes begeben haben.
Grundsätzlich, meine Damen und Herren, bleibt festzuhalten: Wir können doch nicht in einer Zeit, in der wir angesichts der weltweiten Globalisierung vor die deutschen Bürger treten und ihnen erklären müssen, warum wir Leistungen teilweise einschränken und Leistungsmißbrauch bekämpfen - weil er unsozial ist -, gleichzeitig tatenlos zusehen, wie sich ein kleiner Teil - ich sage bewußt: ein kleiner Teil - der Ausländer durch rechtswidriges Verhalten einen Leistungsanspruch sichert.
Herr Kollege, denken Sie an die Zeit!
Übrigens: Dieses Verhalten ist auch sehr vielen Ausländern gegenüber ungerecht, die sich an Recht und Gesetz in unserem Land halten.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brigitte Lange.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihre Rede, Herr Lohmann, macht es mir wirklich sehr schwer, das durchzuhalten, was ich mir vorgenommen habe: zu beachten, daß wir hier über ein sehr sensibles Thema reden, dessen Auswirkungen in der Öffentlichkeit wir einschätzen können und bei dem jedes Wort auf Mühlen geraten könnte, die wir nicht haben wollen.
Ich denke, wir sollten bei allem, was wir sagen, im
Auge behalten und überprüfen, ob es den Menschen
hilft, um die es heute geht. Wir sollten von hier aus
signalisieren, daß es dabei bleibt, daß bei uns Schutzsuchenden, die vorübergehend Aufnahme in unserem Land finden, eine menschenwürdige Versorgung garantiert wird.
Ich bin von Schulkindern gefragt worden: „Müssen Entscheidungen bei euch immer so lange dauern?" Ich habe versucht, ihnen zu erklären, warum Entscheidungen manchmal sehr lange dauern müssen. Hier haben wir ein Beispiel dafür, daß die Kürze der Beratung nicht unbedingt ein Ausweis dafür sein muß, daß ein Gesetz gelingt.
Ich bin mir sicher - das ist aus den Erklärungen der Länder auch abzulesen -, daß sie eigentlich etwas anderes gewollt haben
und daß sie im Gestrüpp der Formulierungen hängengeblieben sind. Das zu vermeiden ist ja auch nicht ganz einfach. Denn so, wie das Gesetz angelegt und gestrickt ist, kann es schon passieren, daß jemand, der sich in dem Recht nicht so auskennt, möglicherweise einer Sache zustimmt, die er so nicht wollte. Lesen Sie, was Bürgerkriegsflüchtlinge anbetrifft, Äußerungen nach!
Insofern danke ich - im Gegensatz zu Ihnen, Herr Lohmann - allen Organisationen, den Kirchen, den Gewerkschaften, die uns geschrieben
- wenn der uns geschrieben hätte, hätte ich ihm auch gedankt - und uns auf das Problem aufmerksam gemacht haben. Übertreibungen sind für diejenigen, die Anwälte der Flüchtlinge sind, erlaubt. In unserer Gesellschaft, so sage ich einmal, sind sie erst recht erlaubt.
Nur, in der Frage der Bürgerkriegsflüchtlinge, meine
Damen und Herren, haben sie sich leider nicht geirrt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ja.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir heute die erste
Ulrich Heinrich
Lesung haben - weil Sie eben gerade die Kürze der Beratung kritisiert haben?
Das Mißverständnis läßt sich leicht aufklären. Ich meine die Kürze der Beratung im Bundesrat.
- Ich kann doch nicht jemanden meinen, der es nicht gemacht hat. Das war eindeutig. Es ist etwas schwierig.
Aber wenn Sie schon das schlechte Gewissen packt, habe ich Hoffnung.
- Wäre es möglich, daß Sie mir ganz kurz zuhören? Dann geht es nämlich schneller.
Ich möchte Ihnen kurz den Bundesratsentwurf erläutern, der bei Enthaltung der rotgrün geführten Länder und bei der Gegenstimme Schleswig-Holsteins eine mehrheitliche Zustimmung gefunden hat. Das macht Ihnen deutlich, daß ihm nicht alle Länder zugestimmt haben, sondern daß bereits Bedenken bestanden haben.
Die Bedenken werden in diesbezüglichen Erklärungen, Briefen und Stellungnahmen deutlich. Ich empfehle Ihnen, die Stellungnahme des UNHCR zu lesen. Müssen wir in einer so sensiblen Debatte wirklich auf diese Weise miteinander umgehen?
Ich bitte doch herzlich darum, mir zuzuhören. Ich referiere Ihnen jetzt einfach, was im Gesetzentwurf steht. Hören Sie erst einmal zu. Vielleicht stimmen Sie mir dann zu.
Hauptziel dieses Gesetzentwurfes ist, Mißbrauch zu verhindern. Das wollte man durch Leistungseinschränkungen erreichen. An dieser Stelle füge ich hinzu - damit keine falsche Vorstellung entsteht -: Die hier angesprochenen Leistungen, die bereits unterhalb der Sozialhilfe liegen, also nur 80 Prozent der Sozialhilfe betragen, sind wahrlich nicht üppig
und stellen ein Minimum an Versorgung sicher. Nur
damit nicht immer der Eindruck entsteht, die Betroffenen hätten so viel, daß man davon noch etwas wegnehmen könnte.
Es ist gerade das Minimum an Versorgung. Einmal im Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz nachzulesen könnte Ihnen helfen - Herr Lohmann, da kennen Sie sich ja aus -: Da wird das Unerläßliche als das um 20 Prozent gekürzte Regelsatzgeld definiert.
Da wären wir bei dem, was ein Betroffener jetzt erhält.
Es wird sehr schwierig sein, tatsächlich zu beschreiben, was man mit dem Gesetzentwurf vorhat. Von der Leistungseinschränkung sind zwei Gruppen betroffen: diejenigen, die man nachträglich bei der letzten Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes dessen Geltungsbereich hinzugefügt hat, nämlich Personen, die nach § 55 des Ausländergesetzes eine Duldung besitzen, und Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Ich will Ihnen gern einmal diejenigen Gruppen nennen, die von dieser Duldung nach § 55 betroffen sein werden:
Darunter fallen unter anderem bosnische Kriegsflüchtlinge ohne Rücksicht auf Herkunft und Rückkehrmöglichkeiten, darunter auch Lagerinsassen, Opfer von Kriegsverbrechen, Vergewaltigungen und Folter; auch Zeugen des Haager Kriegsverbrechertribunals und deren Familienangehörige. Darunter fallen auch Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen und wegen Gefahr für Leib und Leben eine Duldung erhalten, zum Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia oder Algerien. Darunter fallen Flüchtlinge, die eine Duldung erhalten, weil sie nicht abgeschoben werden können, zum Beispiel Flüchtlinge aus dem Kosovo, Palästinenser aus dem Libanon und Kurden aus der Türkei.
Das zu der Erklärung, welcher Personenkreis hier im Gesetzentwurf beschrieben wird.
- Nein, nicht theoretisch. Es steht ausdrücklich in dem Gesetzentwurf, nämlich „Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5". Ich empfehle Ihnen, das Asylbewerberleistungsgesetz von 1997 nachzulesen.
Brigitte Lange
Diese Gruppe soll Leistungseinschränkungen erhalten.
Das bedeutet praktisch keine Leistungen mehr, wenn sie sich erstens in unser Land hineinbegeben haben, um Sozialleistungen zu empfangen - diese Regelung ist aus dem BSHG übernommen; wenn Sie sich erkundigen, werden Sie herausfinden, daß dieser Paragraph selten angewendet werden kann und Schwierigkeiten machen wird -, oder wenn sie zweitens aus von ihnen zu vertretenden Gründen nicht ausreisen oder abgeschoben werden können. Da, Herr Lohmann, könnte ich mir vorstellen, daß das die Gruppe ist, bei der man sagt, sie könne nicht bei uns bleiben, weil sie selber ihre Ausreise verhindert, um weiter Leistungen zu erhalten. Es ist richtig, daß das Gesetz vollzogen werden muß und daß sie unser Land verlassen müssen. Aber wir als Sozialpolitiker müssen ganz grundsätzlich fragen: Welche Mittel nehmen wir? Es bleibt die Frage, ob man dazu das Sozialrecht oder das Ausländerrecht nimmt. Es muß für uns als Politiker zwingend sein, darüber nachzudenken: Was machen wir? Welche Konsequenzen haben wir, wenn wir ein Sozialrecht dahin gehend erweitern, daß wir es als Ordnungsrecht gebrauchen, quasi als Ersatz für die Unmöglichkeit eines Ordnungsrechts? Wir werden darüber nachdenken müssen.
Das zweite ist - insbesondere da hat der Protest angesetzt -, daß geduldete Flüchtlinge praktisch keine Leistung erhalten sollen, wenn sie nicht ausreisen, obwohl ihrer Ausreise in den Herkunftsstaat oder einen anderen zur Aufnahme bereiten Staat keine rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisse entgegenstehen. Wir alle, die wir zu Hause Flüchtlinge aus Jugoslawien haben, wissen, wie schwer es für die Familien ist, zurückzukehren. Herr Lohmann, der Vergleich mit der Situation nach dem Krieg zieht nicht.
Er zieht nicht, weil die Flüchtlinge damals nicht an Leib und Leben bedroht waren, wie manche es jetzt noch sind.
Ich bin auf Einladung Ihres Verteidigungsministers Rühe in Sarajevo gewesen. Die Generäle haben uns den Zustand der Region dort geschildert. Sie haben uns gesagt: Wenn unser Aufenthalt hier einen Sinn haben soll, wenn es uns gelingen soll, diese Gegend von Minen freizuräumen, wenn es uns gelingen soll, den Frieden in dieser Region einigermaßen zu bewahren, dann sagt bitte zu Hause, daß die Rückkehr
von Flüchtlingen nur behutsam und nur in bestimmte Gegenden erfolgen kann.
Wir wissen, daß in manchen Regionen, in die man reisen kann, die Häuser zerstört sind, daß zum Teil andere Familien in den nicht zerstörten Häusern wohnen, daß Flüchtlinge wieder in Lagern aufgenommen werden und daß Flüchtlinge nicht auf Anerkennung stoßen. Der Prozeß wird nur langsam fortschreiten. Ich bitte Sie, einmal darüber nachzudenken, ob man hier wirklich so argumentieren kann.
Ich denke, daß wir uns - nach der geplanten Anhörung, in der wir auf all diese Fragen Antworten bekommen - bemühen und unsere ganzen Anstrengungen dareinsetzen sollten, mit den Ländern zusammen dieses Gesetz so zu verändern, daß die Menschlichkeit, der Anspruch auf Menschenwürde und auch der Rechtsstaat nicht auf der Strecke bleiben.
Vielleicht erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung: Das ist jetzt die dritte Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Jedesmal hat es eine Verschlechterung gegeben. Wir suchen hier nach den richtigen Mitteln, um die Flüchtlingsfrage zu lösen. Ich würde mir wünschen, wir würden uns mindestens so engagieren und so viel Phantasie aufwenden und Mittel ersinnen, die es erlauben, daß die Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, in ihren Heimatländern bleiben können. Dann wäre es wirklich möglich, menschlich miteinander umzugehen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Amke Dietert-Scheuer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als das Asylbewerberleistungsgesetz 1993 beschlossen wurde, hieß es: Für ein Jahr, auf keinen Fall länger, sollen Asylsuchenden die Leistungen im Vergleich zu deutschen Sozialhilfeempfängern gekürzt werden. Vergangenen Sommer wurde der Personenkreis erweitert. Die Bürgerkriegsflüchtlinge und die Geduldeten kamen hinzu. Außerdem wurde die Kürzung um zirka 20 Prozent im Verhältnis zu den Sozialleistungen auf drei Jahre verlängert.
Der Gesetzentwurf, um den es heute geht, ist nicht mehr nur eine Kürzung, sondern die Aufkündigung jedes sozialstaatlichen Konsenses. Einem Teil der hier lebenden Bevölkerung - die Bundesregierung redet von zirka 600 000 Menschen - soll jeglicher Versorgungsanspruch und damit im Prinzip das Lebensrecht verweigert werden.
Das dürfen wir nicht hinnehmen!
Amke Dietert-Scheuer
Erinnern wir uns an die von uns beantragte Aktuelle Stunde zum Asylbewerberleistungsgesetz am 6. Februar. Wir haben aufgezeigt, wer von diesen Maßnahmen betroffen wäre: bosnische Kriegsflüchtlinge, Flüchtlinge aus Algerien, aus dem Kosovo und afghanische Frauen.
Was wurde uns da nicht alles vorgeworfen: Greuelszenarien, Unkenntnis des Gesetzestextes.
Der Debatte vom 6. Februar war aber auch zu entnehmen, daß es auch in den Reihen der Koalitionsfraktionen Bedenken gegen das Gesetz gibt. Zumindest wurde die Auffassung geäußert, daß bosnische Flüchtlinge und Personen, die auf Grund von Abschiebungshindernissen geduldet werden, nicht davon betroffen sein dürften. Bei Ihnen, Herr Lohmann, klang das vorhin schon wieder deutlich anders.
Der vorliegende Gesetzentwurf erfüllt aber nicht einmal diese Voraussetzungen. Nach wie vor sind auch bosnische Kriegsflüchtlinge und Geduldete, bei denen Abschiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes festgestellt wurden, weil ihnen Gefahr für Leib und Leben, Folter oder Todesstrafe drohen, von dem Leistungswegfall betroffen. Eine Klarstellung in einem Referentenentwurf aus dem Gesundheitsministerium, die diese Personen ausgenommen hätte, wurde von der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme nicht übernommen. Dies und auch die von der Bundesregierung geschätzten 600 000 Betroffenen machen deutlich, daß gerade auch diese Personengruppen unter diese Regelung fallen sollten.
Die Bundesregierung will den Entwurf des Bundesrates sogar noch weiter verschärfen. Was im Plenum des Bundesrates noch verworfen wurde, will sie wieder einführen. Von Leistungen ausgeschlossen soll auch werden, wer unerlaubt in die Bundesrepublik eingereist ist. Gerade Personen, die vor politischer Verfolgung oder auf Grund von Gefahr für Leib und Leben fliehen, ist es so gut wie unmöglich, legal in die Bundesrepublik einzureisen. Genau deswegen schließt die Genfer Flüchtlingskonvention in Art. 31 eine Bestrafung wegen illegaler Einreise ausdrücklich aus. Es ist ein Verstoß gegen den Geist des Völkerrechts, wenn hier bei uns nun eine Bestrafung über das Sozialrecht vorgenommen werden soll.
Nach wie vor unklar ist, was es zu bedeuten hat, wenn diejenigen Personen, die keinen Anspruch mehr haben, nur noch Leistungen erhalten, „soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. " Sollen alle Sozialleistungen gestrichen werden, also die ca. 600 000 Betroffenen auf die Straße gesetzt werden? Sollen sie medizinisch notversorgt werden? Sollen ihre Kinder vom Schulrecht ausgeschlossen werden? Sollen sie lediglich eine Rückfahrkarte und ein Butterbrot erhalten? Diese
und andere Vorschläge kursieren. Es ist völlig offen, wie verfahren werden soll.
Was bedeutet der Gesetzentwurf für die konkrete alltägliche Praxis auf dem Sozialamt? Werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialämter nun in jedem Fall feststellen müssen, ob eine Familie freiwillig ausreisen könnte, ob ein krankes Kind zum Arzt darf oder nicht? Nicht zuletzt sollten wir uns die absehbaren Nebeneffekte dieses Gesetzes vor Augen führen.
Von mehreren Seiten kamen Warnungen, daß dieser Gesetzentwurf die Asylbewerberzahlen in die Höhe treiben wird. Flüchtlinge aus Kriegen und Bürgerkriegen haben im Asylverfahren so gut wie keine Anerkennungschancen. Mit dem leider nie umgesetzten § 32 Ausländergesetz sollte daher vermieden werden, daß sie ins Asylverfahren gedrängt werden. Dieser gewünschte Effekt wird nun mit der Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes hintertrieben.
Die vorgesehene Regelung wird ein enormes Maß an bürokratischen Einzelfallprüfungen und Gerichtsverfahren nach sich ziehen. Was sollen Personen, die auf Grund von Gefahr für Leib und Leben nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, anderes tun, als den Klageweg zu beschreiten, um sich nicht durch diese Politik des Aushungerns aus dem Land treiben zu lassen?
Nicht zuletzt ist es der soziale Sprengstoff, den dieser Gesetzentwurf enthält, über den wir uns ernsthaft Gedanken machen sollten. Sollen etwa die betroffenen Menschen in die Illegalität gehen, um ihren Lebensunterhalt anderweitig zu beschaffen?
Wir werden Kriminalität produzieren, wenn wir diesem Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben. Oder ist etwa gerade das gewollt: Flüchtlinge in die Kriminalität zu treiben, um weiterhin Angst und Vorurteile zu schüren?
Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Unklarheiten und Ungereimtheiten. Eines ist jedoch vollkommen klar: Mit diesem Gesetz verläßt die Bundesregierung den Boden des Sozialstaates.
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird einer Gruppe von Menschen das pure Existenzrecht abgesprochen. Nach dem Willen der Bundesregierung werden Hunderttausende von Menschen gezwungen sein, auf der Straße zu leben und zu hungern. Dies kann man nur als einen Rückfall in die Barbarei bezeichnen.
Die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und der UNHCR laufen - vollkommen zu Recht - dagegen Sturm. Ich hoffe, daß Sie sich bei der geplanten An-
Amke Dietert-Scheuer
hörung zu dem Gesetzentwurf wenigstens von deren Argumenten überzeugen lassen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Lühr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zwei Bemerkungen am Anfang: Daß der Bundesrat bei der Debatte seines Gesetzentwurfs, der über das Schicksal von vielen Menschen durchaus wichtige Entscheidungen treffen wird, nicht angemessen präsent ist, empfinde ich als eine Zumutung für unser Hohes Haus.
Zweite Bemerkung: Auch ich werde versuchen, mich in meinem Diskussionsbeitrag differenziert zu dem Gesetzentwurf zu äußern. Ich möchte aber zunächst darauf hinweisen - speziell mit Blick auf die Rede der Kollegin Lange -, daß der Bundesrat diesem Gesetzentwurf mehrheitlich zugestimmt hat. Nun ist die SPD ja kampferprobt, was die Blockade von Gesetzen im Bundesrat angeht, die nach Meinung der SPD unvollständig sind.
Es wäre sinnvoll gewesen, diesen Gesetzentwurf, der in meinen Augen wirklich nicht ausreichend ist, zu blockieren.
Meine Damen und Herren, in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs des Bundesrates möchte ich kurz beleuchten, wie es zu dem jetzt diskutierten Gesetzentwurf gekommen ist.
Ausgegangen war das Verfahren von einem Antrag des Landes Berlin, daß Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz dann beschränkt werden sollten, wenn Menschen in das Bundesgebiet einreisen, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erhalten. Dieser Antrag, der eine Regelung des Bundessozialhilfegesetzes aufgreift, war als solcher inhaltlich zweifellos sinnvoll. Allerdings hat sich durch das Plenum des Bundesrates die Möglichkeit einer erheblichen Erweiterung ergeben. Diese Erweiterung hat aber in keiner Weise dazu beigetragen, inhaltliche Verbesserungen oder gar klare Regelungen zu erreichen. Im Gegenteil: Die bisherige Diskussion hat zu einer Verunklarung, Verschärfung und damit aus meiner Sicht zu einer „ Verschlimmbesserung " geführt.
Mittlerweile hat die Bundesregierung Stellung genommen. Diese Stellungnahme zeichnet sich durch eine große Offenheit, aber auch durch Interpretationsmöglichkeiten nach allen Seiten aus. Das hat den Vorteil, daß sie für weitere Interpretationen offen ist.
Allerdings besteht auch die Gefahr, daß in die falsche Richtung weitergedacht wird.
Nach wie vor nicht befriedigend geklärt ist, wen genau die vorgesehenen Kürzungen treffen sollen. Handelt es sich um diejenigen, die mehrfach Sozialhilfe beziehen und somit zweifellos Sozialleistungen mißbrauchen? Sind es diejenigen, von denen wir annehmen, daß sie ausreisen könnten, es aber nicht tun? Oder sind es eventuell auch diejenigen, die illegal eingereist sind, weil sie vor Folter oder Todesstrafe fliehen mußten?
Zumindest läßt sich zunächst feststellen, daß sich derjenige, der eine ausländerrechtliche Duldung besitzt, legal im Bundesgebiet aufhält. Jede Abgrenzung innerhalb dieser Gruppen ist ausgesprochen schwierig.
Diese Arbeit, denke ich, liegt noch vor uns. Nehmen wir beispielsweise die Gruppe der sogenannten illegal Eingereisten, die der Bundesrat mit Bedacht nicht in die Neuregelung einbezogen hat. Gleichwohl formuliert die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme, den Antrag zu „prüfen", ob auch die illegale Einreise für Leistungseinschränkungen herangezogen werden sollte.
Meine Damen und Herren, illegal ist jeder eingereist, der bei seiner Einreise nicht über die notwendigen Ausweisdokumente verfügt. Dies betrifft völlig unterschiedliche Personengruppen. Da ist zum einen derjenige, der nach Deutschland gekommen ist, weil er sich hier ein besseres Leben verspricht, und der gefahrlos ins Herkunftsland zurückreisen könnte. Hier spricht nichts, aber auch gar nichts dagegen, ihm hier in Deutschland das Leben so ungemütlich wie möglich zu machen, damit er wieder ausreist.
Es betrifft aber auch Bürgerkriegsflüchtlinge und Menschen aus Ländern, in denen staatliche Verfolgung herrscht. Diese Menschen können die erforderlichen Dokumente zum Zeitpunkt ihrer Flucht oft nur schwer oder gar nicht beschaffen.
Man muß sich gerade im Hinblick auf Bürgerkriegsflüchtlinge oder auf Menschen aus Ländern, in denen staatliche Verfolgung herrscht, klarmachen, daß solche Papiere nicht oder nur unter ganz großen Schwierigkeiten zu beschaffen sind. Wir haben es deswegen mit einer zahlenmäßig recht umfangreichen Gruppe zu tun. Was ist mit Flüchtlingen, in deren Heimatländer - wie beispielsweise Afghanistan - keine Rückflüge möglich sind? Viele der illegal Eingereisten erhalten nach § 53 oder § 54 Ausländergesetz zu Recht eine Duldung im Bundesgebiet, weil ihnen im Heimatland Tod oder Folter drohen. Diese Flüchtlinge sind nicht etwa gekommen, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen, sondern weil sie Schutz begehren und den Schutz brauchen.
Uwe Lühr
Die Genfer Flüchtlingskonvention legt dazu international geltende Maßstäbe fest, an die sich alle Staaten und damit auch die Bundesrepublik Deutschland zu halten haben. Diesen Menschen kann man doch nicht auch noch die Leistungen beschneiden!
Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es Mißbrauchsfälle, in denen der Staat den Mißbrauch nicht dulden darf und einschreiten muß. Das sollte uns aber nicht Anlaß geben, eine ganze Gruppe pauschal mit Leistungseinschränkungen zu belegen, so daß es auch die Falschen treffen kann. So sehr ich für Verwaltungsvereinfachung bin: Hier ist es unumgänglich, klare und präzise Regelungen zu treffen und genaue Voraussetzungen zu schaffen, nach denen eine Leistungseinschränkung im Einzelfall beurteilt werden kann.
Es geht nicht an, im Schnellverfahren noch ein so wichtiges Gesetz vor der Bundestagswahl durch die Gremien zu peitschen. Es könnte uns dann sehr leicht passieren, daß wir die Fortentwicklung der unzureichenden Gesetzesregelungen der Rechtsprechung überlassen müssen, die die Einzelfälle individuell beurteilen wird, was sich über Jahre hinwegziehen würde. Die Sozialbehörden vor Ort, die mit diesem Gesetz umgehen müßten, dürften mit den Regelungen, wie sie derzeit vorgeschlagen werden, überfordert sein - und das zu Recht. Die Behörden, die mit dem Gesetz umgehen sollen, müssen wissen, wann genau Mißbrauch vorliegt. Der Personenkreis, der mißbräuchlich Leistungen beansprucht, muß klar definiert sein.
Es wäre zudem auch wichtig, zu erfahren, wie andere europäische Länder mit Asylbewerbern und Flüchtlingen umgehen.
Kaum ein anderes europäisches Land verfügt über so ausgefeilte und differenzierte Regelungen zum Ausländerrecht wie die Bundesrepublik. Nach Auskunft des UNHCR behandeln manche europäische Länder Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber einfach einheitlich als Flüchtlinge. Auch im Hinblick auf die Erteilung von Arbeitserlaubnissen sind andere Länder großzügiger. Wenn aber eine legale Arbeitsaufnahme nicht möglich ist, muß der Staat Flüchtlingen in anderer Weise ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern, wie zum Beispiel bei uns durch Geld- oder Sachleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Ich sehe sehr wohl, daß soziale Leistungen des Staates finanzierbar bleiben müssen. Das darf aber nicht auf Kosten solcher Menschen gehen, die wirklich schutzbedürftig sind. Darauf legen wir wirklich Wert. Solchen Menschen darf auch nicht von vornherein unterstellt werden, sie seien gekommen, um sich an Leistungen des deutschen Sozialstaats zu bereichern. Das kann nicht Sinn der Übung sein. Ich bin hier dringend dafür, daß wir uns noch eingehend
mit den genauen Voraussetzungen dieser Regelungen befassen.
Meine Fraktion hat sich deswegen dafür ausgesprochen, daß wir im Rahmen der Ausschußberatungen unbedingt eine Anhörung mit den beteiligten Verbänden, insbesondere dem UNHCR und anderen Organisationen, durchführen sollten.
Das hat der Gesundheitsausschuß dankenswerterweise auch so beschlossen.
Es handelt sich um eine so schwierige und verzweigte Materie, daß wir uns nicht anmaßen sollten, auf den Sachverstand und das Detailwissen dieser Verbände zu verzichten. Wir müssen hinterher mit den negativen Konsequenzen dieser Entscheidung leben. Bevor wir uns nicht restlos über die Konsequenzen klar sind, habe ich und hat meine Fraktion deutliche Vorbehalte gegen den Gesetzentwurf, jedenfalls wie er jetzt aussieht.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wird Sie nicht in Erstaunen versetzen, wenn ich Ihnen gleich zu Beginn sage, daß die PDS den Gesetzentwurf der großen Länderkoalition ablehnt. Dieser Bundesratsentwurf bestätigt unsere Befürchtungen, die wir bereits 1993 bei der Verabschiedung des Asylbewerberleistungsgesetzes hatten.
Wer einmal von dem Grundsatz abweicht, daß die Menschenwürde unteilbar ist, wer einmal eine Gruppe von Menschen unter diskriminierendes Sonderrecht stellt, der wird bei passender Gelegenheit weiter an dieser Schraube drehen. Aus welchen Gründen auch immer: Finanzkalkül und Ausländerfeindlichkeit ergänzen sich hier auf bedrohliche Weise.
Erst im vergangenen Jahr hat eine Mehrheit im Bundestag und auch im SPD-dominierten Bundesrat dafür gesorgt, daß die obligatorische Leistungskürzung um 20 bis 25 Prozent im ersten Jahr des Aufenthaltes von Asylantragstellern noch einmal für drei Jahre fortgeführt wird und daß das ausgrenzende und diskriminierende Sachleistungsprinzip verschärft angewandt wird. Und nun - so jedenfalls die Intention des Bundesrates - versuchen SPD und CDU erneut, sich im Kampf gegen die sogenannte miß-
Dr. Heidi Knake-Werner
bräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Ausländer zu übertreffen.
Gegen die Bekämpfung von Mißbrauch kann niemand ernsthaft etwas einwenden.
- Hören Sie mir doch einfach einmal zu, Herr Lohmann. - Aber da liegt gar nicht das Problem. Hier geht es nicht um die Verhinderung von Mißbrauch, sondern hier soll der Verdacht des Leistungsmißbrauches dazu herhalten, Sozialleistungen für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen zu kürzen
und auf das unabweisbar Lebensnotwendige - Sie sollten einmal erklären, was das ist - zusammenzustutzen.
Dabei spielt neben Bayern auch Niedersachsen wieder eine besonders unrühmliche Rolle. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich will es noch einmal deutlich sagen: Diese Aufgabenteilung zwischen Bundesrat und Bundestagsfraktion macht Ihre Flüchtlingspolitik wirklich nicht glaubwürdiger.
Das Sozialrecht wird zur Regulierung von Asyl- und Flüchtlingsfragen mit der bösen Konsequenz instrumentalisiert, Flüchtlinge durch Aushungern zu vertreiben - man kann es nicht anders nennen, Herr Lohmann -,
wenn der, der wohnen will, der essen will, der eine medizinische Versorgung haben will, ausreisen muß, weil ihm nichts anderes mehr bleibt. Auf diesen skandalösen Vorgang ist in der Tat in den vielen Stellungnahmen hingewiesen worden, die wir in den letzten Wochen erhalten haben.
Die Frage, ob jemand Sozialleistungen bekommt oder nicht, wird nicht mehr danach entschieden, ob der- oder diejenige für den Lebensunterhalt selbst sorgen kann oder nicht, sondern danach, ob das alles ins ausländerpolitische Konzept paßt. Das stellt in der Tat das Sozialstaatsprinzip komplett auf den Kopf.
Betrachtet man die Regelungen im einzelnen, verstärkt sich natürlich dieser Eindruck: Erstens. Die Leistungseinschränkung soll Personen treffen, deren Asylverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist und bei denen der Verdacht besteht, daß sie eine Abschiebung verhindern, um Sozialleistungen zu erhalten. Daß diese Menschen einfach von der Angst um ihr Leben getrieben sein könnten, hat wohl in solchen Gehirnwindungen keinen Platz mehr.
Zweitens. Die Leistungseinschränkung soll Leistungsberechtigte treffen, die nicht freiwillig ausreisen.
Dabei spielt bei der Auslegung der Freiwilligkeit das, was die Menschen nach ihrer Rückkehr erwartet, überhaupt keine Rolle. Sich darüber hinwegzusetzen ist zutiefst unmoralisch.
- Sie können mir und auch meinetwegen der DDR viel vorwerfen, aber nicht, daß sie keine Flüchtlinge aufgenommen hat.
- Selbst dieses Thema ist Ihnen nicht ernst genug, um es für solche Schoten zu nutzen.
Drittens. Die Leistungseinschränkung soll schließlich Leistungsberechtigte betreffen, die eingereist sind, „um Leistungen zu erhalten", wie es wörtlich heißt. Darunter können alle Flüchtlinge fallen, die ausländerrechtlich weiterhin geduldet oder zumindest aktuell nicht abgeschoben werden können, zum Beispiel Frauen und Männer, die in ihrem Heimatland von Folter und Tod bedroht sind, oder jene, die auf Grund eines Abschiebestopps geduldet werden; auch solche, die auf Grund ethnischer Konflikte aus ihren Ländern fliehen.
All diesen Menschen wird die Existenzgrundlage entzogen, egal, ob sie aus dem Kosovo, aus Algerien, aus dem Libanon oder aus Afghanistan kommen. Mit einem Butterbrot und einer Fahrkarte werden sie dorthin zurückgeschickt. Und sie sagen, diese Menschen sollen Rechtsmittel einlegen. Auf welcher Grundlage denn eigentlich, Herr Lohmann? Wie sollen die denn in dieser Zeit hier leben?
Aber man geht ja auch noch viel weiter: Die Bundesregierung begrüßt die Initiative des Bundesrates und möchte sie darüber hinaus noch verschärfen. Herr Bundesminister Seehofer geht davon aus, daß 600 000 im Lande lebende Ausländerinnen und Ausländer für die Leistungseinschränkung in Betracht kommen können.
Natürlich wollen Sie auch diejenigen erfassen, die illegal eingereist sind. Das können sich wirklich nur Bürokraten ausdenken, in deren Vorstellungswelt es nicht paßt, daß Menschen, die vor gesundheits- und lebensbedrohenden Situationen in ihrem Heimatland fliehen, nicht auch noch Anträge in fünffacher Ausfertigung ausfüllen können. Nein, in Ihre Köpfe geht so etwas nicht hinein.
Dr. Heidi Knake-Werner
Der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, hat für diese Menschen nur eine Botschaft: Raus, aber schnell! Das halten wir für einen unerträglichen Verstoß gegen den Sozialstaat und gegen die Menschlichkeit. Ich versichere Ihnen: Die PDS wird den breiten Widerstand gegen dieses unsoziale und rassistische Gesetz unterstützen.
Ich erteile jetzt das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts so vieler Falschbehauptungen möchte ich mit dem beginnen, worum es heute nicht geht. Es geht nicht darum, daß Leistungen für Menschen eingeschränkt werden, die sich in einer Notlage befinden und denen deshalb der Aufenthalt in Deutschland gestattet ist, zum Beispiel Asylbewerbern während des Asylverfahrens oder anerkannten Asylbewerbern. Es geht auch nicht darum - das immer wieder bemühte Beispiel -, einem durch Folter traumatisierten Menschen, der in Deutschland die erforderliche medizinische Hilfe erhält, Leistungen zu kürzen; denn diesen Menschen wird es nicht zumutbar sein, in ihre Heimat zurückzukehren.
Herr Minister, ich schlage vor, daß Sie jetzt mit Ihrer Rede von vorne beginnen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte angesichts vieler Falschbehauptungen noch einmal feststellen, worum es heute nicht geht. Es geht nicht darum, Leistungseinschränkungen für Menschen vorzusehen, die in einer Notlage sind, und sich hier berechtigterweise aufhalten. Es geht auch nicht um Menschen - um das noch einmal zu sagen -, die durch Folter traumatisiert sind, die hier in Deutschland die erforderliche medizinische Hilfe erfahren und denen man nicht zumuten kann, in ihr Heimatland zurückzukehren.
Worum geht es eigentlich bei diesem Bundesratsentwurf? Nach der aktuellen Rechtslage haben Ausländer einen Rechtsanspruch auf uneingeschränkte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz selbst dann, wenn sie diese Leistungen rechtsmißbräuchlich in Anspruch nehmen. So ist heute die Rechtslage. Deshalb hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem Leistungen für Ausländer eingeschränkt werden sollen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig aufhalten, die also rechtlich verpflichtet wären, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Das ist der Grundtatbestand.
Zu diesem Grundtatbestand muß eine von drei Fallgruppen hinzutreten - und nur eine dieser drei Fallgruppen. Es ist nicht so, wie in der Öffentlichkeit immer behauptet wird. Wenn eine dieser Fallgruppen vorliegt, dann kann es zu Leistungseinschränkungen kommen.
Erste Fallgruppe: Die Leistungseinschränkung soll für diejenigen Ausländer gelten, die nach Deutschland gekommen sind, um Leistungen zu erhalten. Leistungsberechtigte Ausländer nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollen nämlich rechtlich nicht anders behandelt werden als leistungsberechtigte Ausländer nach dem Bundessozialhilfegesetz. Wir haben seit eh und je die Bestimmung im Bundessozialhilferecht, wonach Ausländer, die nur zum Zweck des Leistungsbezugs nach Deutschland gekommen sind, eingeschränkte Leistungen erhalten.
Nun gibt es keinen einleuchtenden Grund, warum die Rechtsbestimmung, die seit Jahrzehnten für Ausländer nach dem Sozialhilferecht gilt, nämlich daß Ausländer, die nur zu uns kommen, um Sozialhilfe zu beziehen, Leistungseinschränkungen hinnehmen müssen, nicht auch für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gelten soll. Das versteht doch niemand in der Öffentlichkeit.
Die zweite Fallgruppe: Unter die Leistungseinschränkungen sollen auch die ausreisepflichtigen Ausländer fallen, die selbst dafür verantwortlich sind, daß sie nicht ausreisen und nicht abgeschoben werden können. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sie ihre Identität oder Nationalität verschleiern oder wenn sie ihre Ausweispapiere weggeworfen haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Schuster.
Sie können doch in der Öffentlichkeit niemandem erklären, daß uneingeschränkt Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erforderlich sind, wenn jemand vorsätzlich die Feststellung seiner Identität verhindert.
Eine dritte Personengruppe, die unter die Leistungseinschränkung fallen soll, sind ausreisepflichtige Ausländer, die zwar aus bestimmten Gründen nicht abgeschoben werden können, aber ohne weiteres freiwillig in ihr Herkunftsland oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat ausreisen könnten und es nicht tun. Darunter - das wissen Sie - fallen Personen, zum Beispiel Vietnamesen, für die von seiten
Bundesminister Horst Seehofer
der Bundesrepublik Deutschland kein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen werden konnte, weil die zuständige Regierung dazu nicht bereit war, die aber ohne weiteres freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren könnten.
Um diese drei Personengruppen geht es. Ausschließlich in den drei hier genannten Fällen sollen ausreisepflichtige Ausländer künftig nur noch einen Anspruch auf eingeschränkte Leistungen haben; nur in diesen drei Fällen, wo es in der Person des Ausreisepflichtigen liegt und er es zu vertreten hat. Das ist weder inhuman noch stellt es eine soziale Härte dar. Ich sage, es ist eine Notwendigkeit. Es ist schon gar nicht ausländerfeindlich.
Wir vollziehen jetzt im Asylbewerberleistungsgesetz lediglich etwas, was für Deutsche und Ausländer seit eh und je nach dem Bundessozialhilfegesetz gilt. Auch Deutsche, die sich rechtsmißbräuchlich verhalten, haben nach dem Bundessozialhilfegesetz keinen Anspruch auf Sozialhilfe.
Wenn wir diesen Grundsatz im Asylbewerberleistungsgesetz in drei ganz konkreten Fallgruppen konkretisieren und hinzufügen, daß wir von diesen Leistungseinschränkungen nicht Menschen erfassen wollen, die sich hier in einer Notsituation aufhalten, zum Beispiel wegen Folter traumatisiert und hier in medizinischer Behandlung sind, dann kann man nicht ernsten Gewissens sagen, daß dies inhuman oder gar ausländerfeindlich ist.
Dieser generelle Leitgedanke, daß man dann, wenn man gegen Recht und Gesetz verstößt, mit Leistungseinschränkungen rechnen muß, gilt auch für deutsche Staatsbürger in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich darf erinnern, weil Sie, Frau Lange gesagt haben, daß wir zu schnelle und zu häufige Änderungen vornehmen: Vor genau einem Jahr haben wir langwierige Verhandlungen im Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat zum Asylbewerberleistungsgesetz geführt. Sie haben sich ein Jahr lang dagegen gesträubt. Wir haben über diese Dinge auch in der zuständigen Arbeitsgruppe im Vermittlungsausschuß gesprochen. Es ist damals von der SPD abgelehnt worden. Jetzt kommt die große Überraschung: Die SPD-regierten Länder machen plötzlich bei Vorhaben mit, über die sie vor einem Jahr mit uns noch nicht einmal diskutiert haben.
Nachdem es fast einhellige Zustimmung in den Bundesratsausschüssen gab, hat es schon ein erstes unklares Stimmverhalten im Plenum des Bundesrates bei Rot und Rotgrün gegeben. Es ist ein Novum in der Parlamentsgeschichte, daß parallel zur Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs im Bundesrat - von einer Mehrheit, die zur Zeit nicht die Union stellt - die Grünen hier eine Aktuelle Stunde beantragen. Ich weiß bis jetzt nicht, welche Haltung die SPD dazu hat, weil sich die Fraktionsführung bisher in betretenes Schweigen hüllt.
Wir sind sehr dafür, daß man den Gesetzentwurf diskutiert - ich komme noch einmal darauf zurück -, auch im Detail. Aber eines lassen wir nicht durchgehen, Frau Lange: Hier als SPD links reden, als Schröder im Bundesrat rechts handeln und das Ganze als Politik der Mitte ausgeben.
Das ist keine Politik der Mitte, das ist eine Politik der Täuschung. Die lassen wir im Bundestag nicht durchgehen. Da werden wir Sie stellen. Das ist ein Bild von Uneinigkeit und Zerfahrenheit bei SPD und Grünen, das Sie nicht nur in dieser Frage bieten. Das zeigt deutlich, daß es nicht im Interesse dieses Landes wäre, wenn die deutsche Politik von Ihren Entscheidungen abhängig wäre.
In Deutschland leben 7,4 Millionen Ausländer, darunter nicht wenige, die berechtigt wegen Verfolgung und Folter bei uns Schutz suchen. Diese Tatsache ist Ausdruck der Hilfsbereitschaft der Deutschen gegenüber ihren ausländischen Mitbürgern. Diese Hilfsbereitschaft läßt sich nur aufrechterhalten, wenn sich die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland darauf verlassen können, daß es bei der Gewährung von Hilfe und Schutz gerecht zugeht.
Dazu gehört, daß unterschieden wird zwischen Ausländern, die sich zu Recht hier aufhalten, und Ausländern, die Deutschland verlassen müßten, dies aber rechtsmißbräuchlich nicht tun und dadurch Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Dazwischen müssen wir schon unterscheiden; denn sonst zerstören wir jede Akzeptanz, wenn es darum geht, jenen Menschen, die anders glauben oder politisch anders denken, bei uns Schutz zu gewähren, weil sie in ihren Herkunftsländern um ihre Gesundheit oder gar ihr Leben fürchten müssen. Wir brauchen die Akzeptanz der deutschen Bevölkerung. Wir werden sie nur aufrechterhalten, wenn wir da, wo es in der Person des Ausländers liegt, in Gründen, die er zu vertreten hat, die Sozialhilfeleistungen drastisch einschränken, und zwar in den drei Fallgruppen, die ich genannt habe.
Ich bin sehr dafür, Herr Kollege Lühr, daß wir im zuständigen Ausschuß des Deutschen Bundestages manche Dinge noch griffiger zu formulieren versuchen, um eine klare und saubere Anwendung in der Praxis zu gewährleisten.
Wer aber Rechtsmißbrauch akzeptiert, muß wissen, daß das die Fundamente der Solidarität mit Ausländern zerstört, und zwar gerade im Hinblick auf die Ausländer, die als Opfer von Verfolgung und Folter dringend auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Das Wort hat die Abgeordnete Cornelie Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jahr und Tag ist in der Diskussion, in welchem Maße Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik finanziell unterstützt werden sollen. Volkes Stimme ist da im allgemeinen mit dem Urteil schnell fertig: So gering wie möglich, heißt es da. Weiter heißt es, viele kämen nur her, um Geld zu kassieren. Wer als Asylsuchender abgewiesen sei, der müsse so schnell wie möglich raus.
Aber so simpel, so einfach liegen die Dinge nun einmal nicht. Zweifellos sind es hohe Kosten, die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen von uns allen fordern. Zweifellos gibt es solche, denen es vorwiegend darum geht, unter besseren wirtschaftlichen Bedingungen zu leben, als es in ihrer Heimat der Fall war. Aber es gibt eben auch die anderen. Es gibt diejenigen, die nicht nach den strengen Kategorien unseres Asylrechts politisch verfolgt sind und dennoch aus humanitären Gründen vorerst hier bleiben dürfen. Die gesamte Problematik entzieht sich simplen Lösungen.
Nun zu Ihrem Beitrag, Herr Minister Seehofer. Dieser Bundesratsentwurf für dieses Zweite Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes war noch nicht Gegenstand unserer parlamentarischen Beratungen. Es gab lediglich seinerzeit die Aktuelle Stunde, als noch der Disput in der Länderkammer lief. Eine differenzierte Auseinandersetzung war damals, Anfang Februar, nicht möglich.
Wohl aber hat die Initiative ein überaus lebhaftes und höchst kritisches Echo in den Medien, in den Kirchen, bei den Wohlfahrtsverbänden, Flüchtlingsorganisationen und natürlich auch bei uns Parlamentariern erzeugt. Selbstverständlich gab es einige überhitzte Formulierungen, denen ich mich nicht anschließe. Trotzdem begrüße ich diesen Disput ausdrücklich. Er hat übrigens auch in Kreisen des Bundesrates Nachdenklichkeit ausgelöst. Das stärkt die Chancen einer Korrektur.
Ich erkläre Ihnen mit aller Deutlichkeit: So, wie der Gesetzentwurf jetzt vorliegt, kann er unsere Zustimmung nicht finden. Das will ich an einigen Punkten begründen. Herr Kollege Lohmann, offenbar sind Sie in die Details und die Formulierungen nicht richtig eingestiegen, die in diesem Gesetzentwurf stecken.
Die geplanten Leistungsabstriche - das hat der Herr Minister eben durchaus noch einmal bestätigt - sollen auch Ausländer betreffen, die nicht freiwillig ausreisen, obwohl es ihnen tatsächlich und rechtlich möglich wäre. Genau diese Formulierung halte ich so für nicht akzeptabel.
- Ich will das erklären. - Denn bei dieser Formulierung wird nicht danach gefragt, ob den Betroffenen eine Heimkehr in ihr Land zumutbar ist oder ob sie nicht weiterhin den Schutz des Aufnahmelandes Deutschland brauchen. Das gilt zum Beispiel für Flüchtlinge, die wegen einer Härte von der Rückführung bis auf weiteres ausgenommen sind, oder für eine Frau aus Afghanistan, die davor zurückschreckt, sich dem Unterdrückungsapparat der Taliban auszusetzen, oder für Flüchtlinge aus Algerien oder Somalia; für Menschen, die ungeachtet der rein rechtlichen und tatsächlichen Lage mit unserer Fürsorge und unserem humanitären Verantwortungsbewußtsein rechnen dürfen. Soweit diese Gruppe.
Ich gebe noch ein weiteres Argument zu bedenken. Nach den Plänen des Bundesrates sollen diejenigen keine vollen Leistungen mehr erhalten, die nur einreisen, um finanzielle Unterstützung einzustreichen. Das leuchtet erst einmal jedem ein, ist aber in der Realität kaum zu praktizieren. Dieser Grund muß dem einzelnen nämlich jeweils als prägendes Motiv für seine Ankunft nachgewiesen werden. Das ist in den zurückliegenden Jahren in verschwindend geringen Fällen überhaupt gelungen. Außerdem erfordert die Beweisführung dann einen hohen Verwaltungsaufwand. Beim Bürger, der solche Bemühungen sicherlich mit Beifall begleitet, erweckt es Erwartungen, die in der Praxis überhaupt nicht erfüllt werden. Auch das halte ich für bedenkenswert.
Nachvollziehbar - das will ich ganz ehrlich sagen - halte ich allerdings die Absicht, ausreisepflichtigen Ausländern die Gelder zu kappen, wenn sie wirklich mit allen möglichen Tricks versuchen, ihre Rückführung zu verhindern, etwa dadurch, daß sie ihre Papiere vernichten oder mit anderen Mitteln ihre Identität verschleiern. Das ist, zugegeben, in vielen Städten, besonders zum Beispiel in Hamburg, ein großes Problem.
Meine Damen und Herren, wir sind bereit, zu einem Konsens bei dieser schwierigen Thematik zu kommen. Das setzt aber - ich sage es noch einmal - deutliche Korrekturen vor allem zugunsten des Status der Geduldeten und der Bürgerkriegsflüchtlinge voraus. Übrigens, einen Teil unserer Sorgen wären wir los, wenn der in § 32 a des Ausländergesetzes vorgesehene Status für Bürgerkriegsflüchtlinge mit einer gerechten Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern jemals Wirklichkeit geworden wäre.
Wenn ich das Meinungsbild in dieser Diskussion noch einmal Revue passieren lasse, gibt es ja interessante unterschiedliche Beurteilungen, etwa zwischen den Sprechern der CDU und dem Sprecher der F.D.P., die wir eben gehört haben. Deswegen kann ich uns allen nur eine gründliche Beratung, eine sorgfältige Anhörung vor den beteiligten Ausschüssen und einen behutsamen, differenzierten Umgang mit der Thematik empfehlen. Dem dienen im übrigen Auftritte, wie wir sie eben hier oben auf der Empore erlebt haben, nicht.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Aber was der Stammtisch fordert, darf ebensowenig Richtschnur unserer politischen Handlung sein.
Danke schön.
Als letzter im Rahmen dieser Debatte spricht der Abgeordnete Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Wolgast, Ihre Aufforderung, sich über eine solche Frage vernünftig zu verständigen, können wir ohne weiteres akzeptieren. Dem dient es allerdings nicht sehr, wenn Frau Lange zum Abschluß ihrer Rede sagt, man solle durch Änderungen des Gesetzes dafür sorgen, daß die Menschlichkeit nicht auf der Strecke bleibe,
zumal dies gar kein Gesetzentwurf der Bundesregierung oder der Regierungskoalition im Deutschen Bundestag ist. Vielmehr reden wir über einen Gesetzentwurf des Bundesrates, und zwar in erster Lesung.
Diesem Gesetzentwurf des Bundesrates hat das Land Niedersachsen mit dem Kanzlerkandidaten der SPD zugestimmt. Diesem Gesetzentwurf hat der Parteivorsitzende der SPD für das Saarland zugestimmt.
Herr Abgeordneter Lühr, auch das Land Rheinland-Pfalz mit einer Regierung aus SPD und F.D.P. hat diesem Gesetzentwurf im Bundesrat zugestimmt, so daß wir uns heute mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen.
Der Umsetzung der Aufforderung, sich vertieft damit auseinanderzusetzen und eine schwierige Materie miteinander ordentlich zu behandeln, dient deshalb die Aussage, Menschlichkeit sei nur gewahrt, wenn man es anders mache als hier, nicht sehr. Das muß ich ganz offen sagen.
- Das ist doch ganz klar, Frau Sonntag: Weil es doch heißt, wenn man den Gesetzentwurf in dieser Fassung verabschiede, diene man der Menschlichkeit nicht. Das heißt es doch. Was denn sonst?
Lassen Sie uns deshalb eine andere Tonart wählen, damit wir mit dem Problem richtig umgehen können.
Ein Zweites. Sie sagen immer, daß 600 000 Menschen von diesem Gesetzentwurf betroffen wären. Das stimmt nicht. Tatsache ist vielmehr - worauf der Bundesgesundheitsminister aufmerksam gemacht hat -, daß es 600 000 Menschen gibt, die vollziehbar ausreisepflichtig sind oder eine Duldung nach § 55 des Ausländergesetzes besitzen. Aber die sind ja
nicht alle betroffen, sondern nur diejenigen, die unter die drei Fallgruppen fallen: diejenigen, die eingereist sind, um Sozialleistungen zu erhalten, diejenigen, bei denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen deshalb nicht vollzogen werden können, weil sie zum Beispiel ihre Ausweispapiere vernichten, und diejenigen, die ausreisen könnten, die aber nicht ausreisen, obwohl „keine rechtlichen oder tatsächlichen Hindernisse" dem entgegenstehen. Davon sind natürlich sehr viel weniger als 600 000 betroffen. Deshalb sollten Sie diese Zahl nicht so in den Raum stellen.
Ich gebe sehr wohl zu, daß wir uns über die Fragestellung, was „rechtliche oder tatsächliche Hindernisse" sind, im Ausschuß vertieft unterhalten müssen. Denn es ist uns doch klar: Wir wollen und können nicht erwarten, daß mit einem Male 200 000 Bosnier in ihre Heimat zurückkehren. Das erwartet auch niemand. Deshalb müssen wir in den Ausschußberatungen, in dem Hearing genau klären, wie in diesen Fällen zu verfahren ist, damit nicht jedes Sozialamt für sich entscheidet: Dieser Bosnier kann, jener Bosnier kann nicht. Das muß natürlich geklärt und klargestellt werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schuster?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Fink, im vollen Bewußtsein, daß Sie mit dem Satz recht haben, daß der Entwurf aus dem Bundesrat stammt, will ich doch Ihre Aufforderung hinterfragen, mit Fingerspitzengefühl gegebenenfalls das eine oder andere zu ändern. Ich bin Entwicklungspolitiker. Ich kenne Fälle, die viele von Ihnen nicht kennen: Nigerianer, die in Nigeria verfolgt werden, nach Benin flüchten - Benin ist unbestritten ein sicheres Drittland dorthin zurücküberwiesen werden. Aber nur Insider wissen, daß wegen der Tatsache, daß Benin ein so kleines Land ist, und wegen seiner Nachbarschaft mit Nigeria die Behörden Benins keine Chance haben, wenn nigerianische Truppen in das Land kommen und die Personen verschleppen.
Dazu sagt der UNHCR am Schluß seiner Stellungnahme: Der Gesetzentwurf macht erforderlich, daß Sozialbehörden komplexe ausländerrechtliche Sachverhalte beurteilen. Was entgegnen Sie dem UNHCR auf eine solche, wie ich meine, berechtigte Forderung?
Herr Abgeordneter Schuster, ich habe gerade zum Ausdruck gebracht, daß es sich in der Tat um eine schwierige Materie handelt. Deshalb darf man nicht mit Schlagworten arbeiten.
Ulf Fink
Der Bundesrat versucht hier, einem erkennbaren Mißbrauch entgegenzutreten. Ich selber war Sozialsenator in Berlin. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe mich über acht Jahre lang exakt mit diesen Themen beschäftigt. Es gibt in der Tat Menschen, die zu Recht bei uns Zuflucht suchen, aber es gibt auch andere, die - so sage ich es einmal - in geradezu schamloser Art und Weise das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland ausnutzen. Gegen die Letztgenannten soll vorgegangen werden, nicht gegen die Erstgenannten.
Deshalb sage ich zum Abschluß: Auch wir sind der Auffassung, daß gar keine Rede davon sein kann, daß etwa der Versuch unternommen werden soll, Menschen, die sich zu Recht bei uns aufhalten, über das Sozialhilferecht auszuhungern. Nein, das ist nicht die Absicht. Ausländerrecht, Aufenthaltsrecht und Sozialrecht müssen natürlich parallel laufen.
Aber es darf auf der anderen Seite auch nicht sein, daß man sich nicht bemüht, den Mißbrauch zu beseitigen. Dieser Mißbrauch trifft ja letztendlich in seinen finanziellen Konsequenzen nicht etwa die Reichen. Vielmehr verhält es sich dann, wenn Mißbrauch getrieben wird, regelmäßig so, daß die Allerärmsten nicht mehr die für sie vorgesehenen Leistungen der Kommunen und der Länder empfangen können. Deshalb sollte es, finde ich, unser gemeinsames Bemühen sein, auf der einen Seite dafür zu sorgen, den Mißbrauch zu beseitigen, aber auf der anderen Seite Menschen, die sich zu Recht bei uns aufhalten und zu Recht zu uns geflüchtet sind, einen angemessenen Aufenthalt zu ermöglichen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/10155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Kleinert (Hannover), Norbert Geis, Reinhold Robbe und weiterer Abgeordneter
Rechtschreibung in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 13/7028, 13/10183 -Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Peter Enders
Volker Beck
Detlef Kleinert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die nicht teilnehmen wollen, den Saal ruhig zu verlassen.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Joachim Gres, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Sprache gehört dem Volk. Dieser eigentlich selbstverständliche Kernsatz des heute zur Abstimmung anstehenden Gruppenantrags gehört an den Anfang unserer heutigen Diskussion und bedarf der ausdrücklichen Betonung, da diese Erkenntnis offenbar nicht überall verbreitet ist.
Die deutsche Sprache ist jedenfalls keine Verfügungsmasse der Kultusbürokratie, die sich beliebig der Sprache bemächtigen könnte; denn das Regelwerk der deutschen Sprache entspringt der Übereinstimmung in der Sprachgemeinschaft, was als gebräuchlich und richtig anzusehen ist.
Die danach richtige deutsche Sprache - dazu zählt selbstverständlich auch die Schriftsprache und damit auch die Rechtschreibung - läßt sich nicht von einer wie auch immer gearteten Amtsautorität von oben herab verordnen. Der Konsens der Sprachgemeinschaft kann von einer dazu berufenen Institution nur nachgezeichnet, festgestellt und - falls notwendig - behutsam fortentwickelt werden, indem sie sprachliche Tendenzen auffängt und systematisch stimmig macht.
Bei der Rechtschreibreform, über die wir heute diskutieren müssen, ist aber genau das Gegenteil geschehen. Die Kultusbürokratie hat nach jahrzehntelangem Hin und Her und verschiedenen Modellwechseln den Kulturministern ein Regelwerk zur Billigung vorgelegt, das der deutschen Sprache eine Neuordnung aufzwingt und bei ihren Anwendern nicht die notwendige breite Akzeptanz findet. Bar jeglicher öffentlicher Rückkopplung wurde auf dem linguistischen Reißbrett festgelegt, wie in Zukunft richtig zu schreiben sei.
Um in der Öffentlichkeit keine breiter angelegte Diskussion über die sprachliche Sinnhaftigkeit der sogenannten Reform aufkommen zu lassen, sollte die Rechtschreibreform in den Schulen in einer höchst intransparenten Form über kultusministerielle Erlasse eingeführt werden, im Vertrauen auf die normative Kraft des Faktischen.
Aber genau hier ist die Grenze des rechtsstaatlich Hinnehmbaren erreicht bzw. überschritten, eine Grenze, die den Deutschen Bundestag auf den Plan rufen muß. Ich möchte dabei allerdings gar keinen Zweifel daran lassen, daß es nicht unsere Aufgabe sein kann, im Bundestag über sprachliche Einzelhei-
Joachim Gres
ten der Reform zu debattieren. Dazu haben soeben erst 51 renommierte Sprach- und Literaturwissenschaftler eine deutliche Erklärung abgegeben, die einem Verriß nahekommt.
Eine vernünftige Systematik der Rechtschreibung ist jedenfalls auch für mich nicht zu erkennen, wenn zum Beispiel in Zukunft aus dem Begriff des „Schwarzen Brettes" als Anschlagtafel durch Kleinschreibung ein schlichtes schwarzes Brett wird, während bei dem Begriff des „Schwarzen Meeres" alles beim alten bleiben soll. Ähnliches gilt für den Begriff des „Hohen Hauses", also unseres Parlaments, das nach den Reformüberlegungen mittels Kleinschreibung am Ende nur noch ein räumlich hohes Haus ist. Oder versteht irgendeiner der hier Anwesenden, warum zukünftig „eislaufen" in zwei Worten geschrieben werden soll, aber „seiltanzen" ein Wort bleiben soll?
Heute geht es jedoch nicht um diese Inhalte. Wir sollten das lassen; damit müssen sich die Fachleute beschäftigen. Uns interessiert heute vor allen Dingen die Unrichtigkeit des von den Länderkultusministern gewählten Verfahrens. Heute geht es darum, daß wir dazu beitragen, vom Verfahren her den Prozeß einer Rechtschreibreform auf eine rechtsstaatlich gesicherte einwandfreie Basis zu stellen; denn inzwischen laufen gegen die jetzige Rechtschreibreform verschiedene Volksbegehren. In Schleswig-Holstein fehlen für die Herbeiführung eines Volksbegehrens noch 15 000 Stimmen.
Außerdem liegen in Sachen Rechtschreibreform inzwischen zirka 30 verwaltungsgerichtliche Entscheidungen vor, die meisten im Eilverfahren, aber auch bereits zwei in der Hauptsache, nämlich vom Verwaltungsgericht Berlin und vom Verwaltungsgericht Hannover. Diese beiden Urteile gehen mit unabweisbarer Begründung davon aus, daß die Einführung jedenfalls dieser Rechtschreibreform an den Schulen nur durch ein förmliches Gesetz erfolgen kann; denn nach der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie müssen alle wesentlichen Entscheidungen im normativen Bereich vom Parlament getroffen werden. Dazu zählen insbesondere Eingriffe in grundrechtliche Freiheiten, im vorliegenden Fall in die Grundrechte von Eltern, Schülern und Lehrern. Das kann nicht durch einen kultusministeriellen Erlaß erledigt werden. Das Bundesverwaltungsgericht ist mit der Angelegenheit in dem Berliner Fall bereits befaßt.
Die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht findet am 12. Mai dieses Jahres statt. Das Verfassungsgericht will seine Entscheidung noch vor Beginn des neuen Schuljahres verkünden. Dem heutigen Votum des Deutschen Bundestages kommt daher große Bedeutung zu. Wir stehen insoweit in einer besonderen Verantwortung.
Die Kultusminister haben in einer kaum nachvollziehbaren Beharrlichkeit an der ihnen letztlich von den eigenen Bürokraten als Kuckucksei unterschobenen Rechtschreibreform festgehalten.
Sie sind Opfer der Geister geworden, die sie riefen, aber jetzt nicht mehr loswerden. Es geht deshalb darum, den Länderkultusministern zu helfen, aus dem von ihnen selbst zu verantwortenden Dilemma wieder herauszukommen.
Einige Mitglieder des Rechtsausschusses haben unter dem Vorsitz von Horst Eylmann viele Gespräche mit Vertretern der Kultusministerkonferenz geführt. Ich möchte Horst Eylmann hierfür an dieser Stelle herzlich danken.
Ich habe den Eindruck, daß bei gutem Willen auf allen Seiten am Ende eine tragfähige Einigung möglich ist. Hierbei ist aber an folgendem festzuhalten, und zwar unvoreingenommen und ohne falsches Prestigedenken: Mitglieder der zwischenstaatlichen Kommission unter dem Vorsitz von Herrn Augst haben die Rechtschreibreform ursprünglich auf die Räder gesetzt. Im Januar dieses Jahres hat dann die Kommission Vorschläge zur Reparatur von eklatanten Mängeln ihres Reformvorschlags unterbreitet, die auch das Regelwerk betreffen und damit die Unzulänglichkeit dieser ursprünglichen Reform authentisch nachgewiesen haben.
Doch die Kultusminister wollen jetzt in einer Art Kopf-durch-die-Wand-Mentalität an der ursprünglichen Fassung festhalten, obwohl die Erfinder dieser ursprünglichen Fassung den sprachlichen Totenschein ausgestellt haben.
Dies ist für sich allein schon ein grotesker Zustand. Wenn dann auch noch zwei der bedeutendsten Mitglieder dieser Kommission, nämlich Professor Munske und Professor Eisenberg, unter Protest ihren Austritt aus der Kommission erklären, ist das Chaos komplett. Deshalb kann es im Ergebnis nicht bei den Inhalten der Rechtschreibreform in der jetzt angekündigten Form bleiben.
Wie soll es weitergehen? Als Ausweg und Brücke bietet sich meiner Meinung nach allein der Beschlußvorschlag des Gruppenantrages an, wie er heute zur Abstimmung steht: Ein unabhängiges Gremium der Unterzeichnerstaaten der Wiener Absichtserklärung, dem neben Sprachwissenschaftlern auch Praktiker der Sprache angehören, soll mit der Beobachtung der Sprachentwicklung beauftragt werden, um nachzuzeichnen und festzustellen, was in der Sprachgemeinschaft als Konsens gelten kann. In die Prüfungen und Beratungen ist die vorliegende Rechtschreibreform einschließlich der bereits in die Schulpraxis übernommenen Teile einzubeziehen. Bis das Überprüfungsergebnis vorliegt - was hoffentlich möglichst rasch geschieht -, bitten wir die Bundesregierung, die hergebrachte Amtssprache des Bundes beizubehalten.
Wegen ihrer von der Kultusministerkonferenz proklamierten Vorbildfunktion hat die Rechtschreibreform auch eine gesamtgesellschaftliche Relevanz,
Joachim Gres
der sich der Bundestag heute stellen muß. Die unterbreiteten Verfahrensvorschläge sind geeignet, die Verunsicherung nicht nur der betroffenen Schüler, Eltern und Lehrer, sondern aller Schreibenden und Sprechenden im deutschen Sprachraum möglichst bald zu beenden und vor allen Dingen auch die Justitialisierung der Sprach- und Rechtschreibreform zu stoppen.
Ziel unseres Antrages ist damit, das zu verwirklichen, was die zwischenstaatliche Kommission als ersten Auftrag hatte, nämlich auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hinzuwirken. Wenn der Vorschlag von 1996 nicht spürbar verbessert wird, kommt es zu einer Spaltung in den Schreibweisen der Sprachanwender, zu Hausorthographien der Verlage, zu einem heillosen Durcheinander in einer Frage, die bislang nie ein Problem war. Nur ein Vorschlag, der von der Mehrheit der Bürger der schreibenden Zunft akzeptiert werden kann, begründet die Aussicht, daß die Einheit der Schriftsprache erhalten bleibt, die wir - dank Konrad Duden - seit 1902 als selbstverständlich ansehen. Es wäre eine gesamtstaatliche Groteske, wenn wir zum Ausgang unseres Jahrhunderts hinter diese Maxime zurückfallen würden.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Enders, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich bedauere ich es, daß der Antrag überhaupt gestellt wurde. Er hat nämlich die Verunsicherung in der Bevölkerung erhöht, besonders weil Hunderttausende von Eltern der vorzeitigen Einführung der Rechtschreibreform bereits zugestimmt hatten und sich aus guten Gründen eigentlich darauf verlassen konnten, daß die Reform vom Inhalt und vom Verfahren her in Ordnung war.
Gleichwohl bin ich froh, daß der Bundestag die Beschäftigung mit diesem leidigen Antrag heute abschließt. Eines höre ich aus der Basis im Wahlkreis immer wieder: Habt ihr nichts Besseres zu tun? Dem kann ich wirklich nur zustimmen. Es gibt viel wichtigere Themen als dieses.
Im übrigen können wir heute sowieso beschließen, was wir wollen. Das Bundesverfassungsgericht wird so oder so urteilen müssen, obwohl ich persönlich eigentlich eine abschließende Lösung auf politischem Wege immer bevorzugen würde.
Wollte der Antragsverfasser, der Kollege Kleinert, ursprünglich die Regeln sowohl in der Amtsschreibung wie auch in der Schule verhindern, so wird in der Beschlußempfehlung unter der Ziffer 3 akzeptiert, daß die Reform im Schulbereich nun bereits eingeführt ist. Das ist auch gut so. Jede andere Lösung wäre geeignet gewesen, Zweifel an der Zuverlässigkeit von Politik zu erzeugen.
- Den Eindruck hatte ich beim Kollegen Gres auch; das muß ich ganz ehrlich sagen.
In mehreren Berichterstattergesprächen und im Rechtsausschuß habe ich immer wieder gefordert, daß nach einigen Jahren überprüft werden soll, welche neuen Regeln sich bewährt haben. Ich war nämlich nie ein Freund davon, daß die neuen Regeln automatisch im Jahre 2005 allein gültig werden. Insoweit kann ich den Kern der Formulierung des dritten Absatzes akzeptieren, nämlich nachzuzeichnen und festzustellen, „was als Konsens in der Sprachgemeinschaft gelten kann".
An dieser Stelle will ich durchaus zugestehen, daß auch mir manche neue Regel und manche Wortschreibung völlig gegen den Strich geht. Insoweit bin ich kein blinder Anhänger der neuen Schreibung, aber mich stört der Populismus, der hinter diesem Antrag steckt.
Wer im Alltag die neuen Schreibweisen nicht verwenden will, ist damit nicht ungebildet - das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt -, sondern ist lediglich ein „Altschreiber".
Es geht aber bei der Rechtschreibreform vor allen Dingen um die Jugend. Aus den Schulen wird mir glaubhaft versichert, daß die Menge der Fehler zurückgeht. Dies war das Ziel der seit Anfang des Jahrhunderts eingeforderten Reform.
Ich bin sehr wohl dafür, erst einmal abzuwarten, ob die Rechtschreibreform an den Schulen dauerhafte Erfolge bringt. Das sage ich aber gerade als engagierter Berufsbildungspolitiker.
Ich will an dieser Stelle kurz begründen, weshalb ich den Einführungsweg im Schulbereich für rechtlich akzeptabel halte. Bei der Anhörung des Rechtsausschusses hat sich ja ergeben, daß es entscheidend darauf ankommt, wie Professor Löwer ausführte, daß die Regeln für die Schreibenden etwas völlig Neues sind. Wenn das der Fall sein sollte, benötigt man selbstverständlich ein Gesetz. Allerdings habe ich Texte in der neuen Schreibung problemlos gelesen.
Also gilt im Umkehrschluß, daß die vorliegende Reform einer gesetzlichen Regelung nicht bedarf. Insoweit ist der Erlaßweg in allen Bundesländern, und
Peter Enders
zwar in den A- und in den B-Ländern, korrekt. Die Landtage sind zu dem Thema auf dem laufenden gehalten worden. Das ist mehrfach bestritten worden. Bezüglich des Schulbereichs machen wir heute eigentlich das gleiche: Wir beschäftigen uns mit dem Thema, aber wir können nichts abschließend entscheiden. Das hat natürlich auch etwas mit Kompetenzen zu tun.
Im übrigen noch eine Bemerkung zu den deutschen Schulen im Ausland. Inhaltlich werden sie über die KMK und nicht durch den Bund gesteuert - auch das ist mehrfach falsch übergekommen -, obwohl der Bund die Schulen finanziert.
Ich persönlich bin optimistisch, daß das Bundesverfassungsgericht bis zu den Sommerferien das Verfahren der Kultusminister im Prinzip bestätigt. Dort, wo es um Umstellung von Inhalten ging, zum Beispiel bei der Einführung der Mengenlehre und der Ganzheitsmethode - ich muß sagen, ich habe beides als Vater noch in schlimmster Erinnerung -,
war ein Gesetzesbeschluß nicht erforderlich. Ausgerechnet der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat dies im Fall der Mengenlehre so entschieden.
Mit einem anderen Märchen möchte ich an dieser Stelle gleich mit aufräumen: Von den Antragstellern wird immer so getan, als wäre der Bund nicht beteiligt gewesen. Der BMI hat die Wiener Übereinkunft mit unterschrieben. Es bleibt also der Vorwurf, daß der BMI den Bundestag nicht rechtzeitig von seiner Mitwirkung in Wien unterrichtet hat, obwohl das BMI in allen Phasen der Neuregelung dabei war. Im übrigen verweise ich da auf eine Antwort von Dr. Waffenschmidt auf eine Frage des Abgeordneten Jüttner am 10. März 1997; das können Sie nachlesen. Es gibt einen Kabinettsbeschluß vom April 1996, mit dem der BMI beauftragt worden ist, diese Absichtserklärung mit zu unterschreiben. Ich frage also die Antragsteller, warum sie ihre Attacken nicht gegen den BMI richten.
Ich wiederhole an dieser Stelle: Es ist eine kleine Reform, und die ist Sache der Exekutive. Ich muß allerdings auch die Kritik anbringen: Warum hat man uns nicht früher informiert?
Hieraus ergibt sich, daß man rechtliche Argumente nur vorschiebt, um die Reform inhaltlich zu kippen. Wenn es den Antragstellern wirklich um das Verfahren und nicht um das inhaltliche Ergebnis gegangen wäre, hätte man sehr viel früher die Beteiligung des Bundestages einfordern müssen. Viele der Mitunterzeichner des Antrages sind ja nicht in der ersten Periode hier im Bundestag. Ich kann bei dem Antrag und bei der Beschlußempfehlung nur erkennen, daß da eine Kommission gebraucht wird, bei der Fachleute ein Gesamtkonzept entwickeln. Denn keiner von uns will doch wirklich über mehrere tausend Wörter und Dutzende von Regeln abstimmen, wenn möglich - ich überspitze es jetzt - in Einzelabstimmung und - man kann ja noch einen draufsatteln - namentlich.
- In der Volksabstimmung.
Schlimm ist es natürlich, wenn Kollegen hier aus dem Haus sogar noch als Obergutachter auftreten. Hier geht es um eine politische Entscheidung, eine politische Wertung, und die ist erfolgt.
Dem Antragsverfasser - jetzt wende ich mich besonders an den Kollegen Kleinert - ging es ja nur darum, die Kultusminister öffentlich vorzuführen. Schließlich stellt die F.D.P. nicht mehr einen einzigen Kultusminister.
- Ihm gehört das Problem, mir nicht. - Ich darf die F.D.P. daran erinnern, daß ihr jetziger Parteivorsitzender, Herr Gerhardt, wie man mir sagte, in seiner Eigenschaft als KMK-Präsident von 1987 bis 1991 die Reform ganz wesentlich vorangetrieben hat. Das war noch die Zeit, als man „Kaiser" mit „e" schreiben wollte, „Boot" mit einem „o" und „Obst" mit „p". Das war Ihre Zeit, Herr Gerhardt. Das widerlegt vor allem das Argument von Herrn Kleinert, der seine späte Ablehnung häufig genug damit begründet, - -
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eylmann?
Bitte sehr.
Bitte, Herr Abgeordneter Eylmann.
Verehrter Herr Kollege, wenn Sie den Initiatoren des Antrags vorwerfen, es sei ihnen darum gegangen, die Kultusministerinnen und Kultusminister vorzuführen: Wie beurteilen Sie dann meine fast ein Jahr lang dauernden Bemühungen als Initiator des Antrages, mit den Kultusministerinnen und -ministern zu einem Kompromiß zu kommen?
Wenn Sie selbst, wie Sie hier ausgeführt haben, einiges an dieser Reform zu kritisieren haben, wie beurteilen Sie dann die jüngste Haltung der KMK, jegliche Änderungen der Reform,
die auch von der Kommission selbst vorgeschlagen worden sind, abzulehnen?
Herr Eylmann, zu Ihrer ersten Frage: Ich habe es sehr hoch angerechnet, daß Sie sich Mühe gegeben haben. Ich habe immer gesagt: Es gibt in dem Bereich Scharfmacher und solche, die
Peter Enders
den Kompromiß wollen. Sie wissen, wir haben uns oft genug darüber unterhalten. Meine Losung war ja eigentlich: Laßt es erst einmal laufen, und laßt uns nach drei oder vier Jahren schauen, was von dieser Reform sich wirklich bewährt hat. Denn ich bin in der Tat nicht überzeugt, daß sich diese Sache hundertprozentig durchsetzen läßt. Das war also die ganze Zeit über meine Position.
Zu Ihrer zweiten Frage: Ich bin nicht darüber glücklich, daß sich die Kultusminister so verhalten haben, weil das nämlich meine Intention, für eine begrenzte Zeit Varianten zuzulassen, im Grunde genommen konterkariert hat. Aber dazu können die anwesenden Kultusminister selbst etwas sagen.
Ich darf dann noch einmal auf das Thema Amtsschreibung zurückkommen. Herr Kleinert, Sie haben natürlich in Ihrem Interview im „Focus" dieser Woche - a'uf gut deutsch gesagt - ein neues Faß aufgemacht.
- Ich meine „neues Faß" im übertragenen Sinne. - Er zitiert in diesem Interview die Bundestreue. Die Bundesamtsschreibung als Verhinderungshebel gegen die Länder zu mißbrauchen ist völlig unangemessen, zumal diese sich ja einig sind. Er unterschlägt dabei wissentlich den Beschluß der Ständigen Konferenz der Innenminister und Innensenatoren der Länder vom Juni 1997. Dort heißt es im Kern, daß die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung im dienstlichen Verkehr ab 1. August 1998 in den Ländern anzuwenden ist. Bundestreue ist keine Einbahnstraße, indem die Länder zu springen haben, wenn der Bund etwas will. Da der BMI, wie vorhin bereits ausgeführt worden ist, bei der Wiener Übereinkunft mit unterschrieben hat, würde die Beschlußempfehlung eine Aufforderung zum Wortbruch sein.
Im übrigen, wo wollen Sie eigentlich die Rechtsgrundlage für eine solche Weisung hernehmen? Es gibt keine gesetzlichen Regelungen. Auch die wollen Sie ja nicht. Es herrscht doch wohl Einigkeit darüber, daß Sprache und Schreibung Teile der Kultur sind und daß die Kultur im Grundsatz Länderangelegenheit ist. Bundeseinheitlichkeit im Wege der Selbstkoordination - das haben gerade der Schulbereich und der Medienbereich gezeigt - kann auch durch die Länder selbst gewährleistet werden. Daß die Länderinnenminister ihren Beschluß bezüglich der Rechtschreibreform freiwillig zurücknehmen, ist nur denkbar, wenn das Bundesverfassungsgericht die Einführung an den Schulen stoppt.
Was passiert nun am 1. August 1998 in den deutschen Amtsstuben? Auf Grund der Tatsache - ich glaube, das machen Sie sich gar nicht klar -, daß die neuen Regeln vielerorts nicht nur an den Grundschulen, sondern auch an weiterführenden Schulen eingeführt wurden, ist es wahrscheinlich, daß ab 1. August 1998 Auszubildende für den Beruf des Verwaltungsfachangestellten, die die neuen Schreibweisen bereits in den Schulen gelernt haben, in die Amtsstuben drängen. Also ist zu erwarten, daß wir für eine gewisse Zeit Alternativschreibung - wohlgemerkt, nicht Beliebigkeit - bekommen, ob wir es wollen oder nicht.
Es ist noch einmal die Frage zu stellen, wie wir da herauskommen. Ich kann nur sagen: Wir sollten einige Jahre nach der Einführung der Rechtschreibreform noch einmal grundsätzlich überprüfen bzw. eine Kommission beauftragen, festzustellen, was sich bewährt hat. Insoweit finde ich es gut, daß in der letzten Beschlußempfehlung tatsächlich steht, daß nachgearbeitet werden muß bzw. eine Kommission das zu klären hat.
Abschließend möchte ich sagen, daß die Beschlußempfehlung sehr interpretationsfähig ist und das selbstgesteckte Ziel, der Verunsicherung entgegenzuwirken, nicht erreicht. Insoweit müssen wir doch auf das Karlsruher Urteil warten, wobei ich aus vielen vorhin ausgeführten Gründen sehr optimistisch bin.
Auch ich hätte mir gewünscht, daß in dem Antrag ein kurzer Vorschlag hinsichtlich des Verfahrens bei künftigen wirklichen Reformen enthalten wäre. Außer der Aufforderung an die Kultusminister, sich ein Verfahren auszudenken, wie man die Fortentwicklung der Sprache in den Griff bekommen will, und dem Bremsen bei der Amtsschreibung des Bundes ist in dem Antrag im Prinzip nur heiße Luft und viel Lyrik enthalten. Wichtig ist, daß die Schulen, die die neue Schreibung schon eingeführt haben, mit ihr unbesorgt weiterarbeiten können. Im übrigen sind somit die Ausgaben für die Schulbücher - das ist vor allen Dingen für die Eltern und die Kommunen wichtig - nicht umsonst gewesen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen.
Herr Gres, diesbezüglich kann ich Sie beruhigen: Wir haben in der Fraktion eine Probeabstimmung gemacht. Da gab es eine Stimme für Ihren Antrag. Ich denke, aus gutem Grund gab es nicht mehr.
Unsere Fraktion bejaht grundsätzlich das Ziel der Rechtschreibreform, die deutsche Schriftsprache zu vereinfachen und schwer einsehbare Regeln zumindest nicht mehr mit dem Rotstift in den Schulen durchsetzen zu wollen. Ich denke, das dient den Schülerinnen und Schülern beim Erlernen der Schriftsprache. Das macht die deutsche Sprache auch im Ausland wieder etwas attraktiver, die gemeinhin als viel zu schwer erlernbar gilt. Da gibt es einiges zu tun, damit die deutsche Sprache im inter-
Volker Beck
nationalen Verkehr nicht jegliche Bedeutung verliert. Deshalb bin ich dankbar dafür, daß man sich dieser Aufgabe der Rechtschreibreform gestellt hat.
Die Debatte, wie wir sie in den letzten Wochen hier im Bundestag geführt haben, geht eigentlich am Kern der Problematik vorbei. Ich hätte mir gewünscht, daß man in dem Antrag ein Verfahren vorschlägt und das auch an die Kultusministerinnen und Kultusminister heranträgt, das die Frage näher beleuchtet: Wie gehen wir mit den alten Schreibweisen um? Ich habe da, auch von den Befürwortern der Reform, Töne gehört, die mir nicht gefallen haben, weil sie illiberal sind. Ich plädiere dafür, daß wir sagen: Das, was heute richtig ist, kann künftig nicht falsch sein und soll auch in den Schulen nicht als veraltet oder unrichtig angestrichen werden.
Wenn man den Grundgedanken der Vereinfachung ernst nimmt, kann es nur so sein, daß die vereinfachte Schreibweise zukünftig gelehrt wird und die Schüler sie grundsätzlich schreiben, daß es aber selbstverständlich als richtig bewertet werden muß, wenn die Schüler, weil sie alte Bücher oder Literatur lesen, die die anderen Schreibweisen benutzen, dann diese Schreibweisen in ihren Aufsätzen und Diktaten verwenden.
Der Appell, die liberale Umsetzung der Reform an den Schulen zu befördern und auch zu sagen, daß die Wiener Absichtserklärung nicht das letzte Wort bezüglich des Ergebnisses sein kann, wie sich die deutsche Schriftsprache weiterentwickelt, wäre die richtige Aussage einer Beschlußempfehlung gewesen, weil sie tatsächlich die Diskussion weitergeführt hätte, die Ängste, die in der Bevölkerung bezüglich der weiteren Entwicklung der Schriftsprache bestehen, abgebaut hätte und wir trotzdem gemeinsam vorangekommen wären.
Aber darum ging es vielen Antragstellerinnen und Antragstellern bei der Sache nicht. Einige bemühten sich um Vermittlung; das erkenne ich auch an. Andere haben allerdings die Intention gehabt, daß es keine Rechtschreibreform geben soll, nicht diese und auch nicht irgendeine andere, weil sie hier stehenbleiben wollen, die Probleme, die sich hier stellen, einfach nicht wahrhaben wollen, immobil sind und programmatisch für den Reformstau in Deutschland stehen. Die F.D.P. hat sich in der Diskussion in dieser Richtung ganz besonders verdient gemacht. Sie ist die Antireformpartei in puncto Rechtschreibung.
Ich wundere mich, daß ich das am Thomas-DehlerHaus noch nicht lesen konnte; da steht noch immer ein anderer Spruch.
Worum geht es jetzt bei der vorliegenden Beschlußempfehlung, die wir heute verabschieden wollen? Da muß ich sagen: Da geht es nicht um viel. Da liegt etwas ganz anderes vor als der ursprüngliche Antrag. Es ist ein rechtliches und politisches Nullum. Was haben wir bei der Anhörung nicht alles über die wichtigen Rechtsfragen gehört und darüber, daß diese Reform auf unsicheren Füßen steht. Davon finde ich in der heute vorliegenden Beschlußempfehlung kein Wort. Allgemeine Erwägungen, gegen die man nichts sagen kann, wie „Die Sprache gehört dem Volk" - wer wollte das bestreiten? -,
finden wir da, viel mehr leider nicht.
Die Antragstellerinnen und Antragsteller haben den Rückzug in der Sache angetreten. Das möge die Wogen bei diesem Thema in den nächsten Wochen glätten. Sie haben einen konkreten Vorschlag gemacht, gegen den man auch nichts einwenden kann: Es soll ein Koordinierungsgremium zur Begleitung geben. Ich habe es aus der Ecke der Reformbefürworter und der Kultusminister so verstanden, daß man bei der Umsetzung der Reform in den nächsten Jahren durchaus eine fachliche Begleitung will. Daß man alle von Sprache besonders betroffenen Personengruppen und Berufsstände mit beteiligt, ist in unserer partizipativen Demokratie ohnehin eine Selbstverständlichkeit.
Ferner fordern Sie einen Bericht der Bundesregierung über die Fortentwicklung. In der Tat: Da gibt es allerdings Mängel. Wenn Sie - ich gehörte dem Haus nicht an, als das in der Exekutive zur Diskussion stand - damals nicht informiert wurden, dann wirft das allerdings ein bezeichnendes Licht auf Sie, weil Sie der Bundesregierung so ein Verhalten durchgehen lassen. Der Bundesinnenminister hat die Wiener Absichtserklärung unterschreiben lassen. Er hätte dem Parlament freilich vorher sagen sollen, was darin steht, und daß er beabsichtigt, diese Erklärung unterschreiben zu lassen. Das würde zum guten Ton zwischen Parlament und Exekutive gehören. Daß Sie anmahnen, daß das in Zukunft anders werden soll, ist positiv. Ich kann Ihnen versprechen: Die zukünftige rotgrüne Landesregierung - ich meine, Bundesregierung - wird sich daran halten.
- Ich wohne in einem Land, in dem die Landesregierung rotgrün ist. Deswegen bin ich den besseren Umgang zwischen Parlament und Regierung gewohnt und hoffe, daß dieser auch in Bonn bald einzieht.
Der Antrag ist im wesentlichen heiße Luft. Für heiße Luft mache ich mir die Schuhe nicht mehr zu. Deshalb wird unsere Fraktion den Antrag ablehnen. Aber es ist letztendlich einerlei, ob man ihn beschließt oder ablehnt. Für die Rechtschreibreform ändert sich in der Substanz nichts.
Der einzig gefährliche Satz, mit dem Sie versucht haben, Unruhe in die Debatte zu bringen, ist ein Satz am Ende der Antragsbegründung. Antragsbegründungen, das muß man vielleicht für die Öffentlichkeit hier feststellen, sind nicht Gegenstand der Beschlußempfehlung. Jeder kann mit jedweder Begründung einem Antrag zustimmen oder ihn ablehnen. Sie schlagen doch allen Ernstes vor:
Bis das Ergebnis dieser Überprüfung vorliegt, - die wir durchaus begrüßen -
ist die hergebrachte Amtssprache des Bundes beizubehalten.
Volker Beck
Sie haben vorhin von Hausorthographien gesprochen, Herr Kollege Gres. Das ist die Einführung der Kanzleisprache des Bundes. Das ist ein Rückschritt in mittelalterliche Verhältnisse und ist in der Sache völlig albern. Es darf nicht sein, daß der Bund eine andere Sprache als Amtssprache haben will als die, die wir an den Schulen haben. Deswegen muß das, was an den Schulen gilt, auch in der Amtssprache des Bundes umgesetzt werden. Ich hoffe, daß die Bundesregierung genau weiß, daß dieser Satz nur in der Begründung steht. Auch wenn der Antrag heute hier eine Mehrheit finden sollte, ist es deshalb nicht der Wille des Deutschen Bundestages, daß sie solche albernen Kapriolen zum Gegenstand des Handelns der Exekutive macht.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Detlef Kleinert, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ihnen geht die Reform nicht weit genug in Richtung auf die Beliebigkeit, Herr Beck. Das haben wir verstanden. Wir sind aber nicht der Meinung, daß das, womit wir uns alle verständigen, daß das, was uns letzten Endes verbindet und unsere Gedanken zum Ausdruck bringen soll, in beliebiger Form - mal so, mal so - gestaltet werden kann. Darum werden uns Ihre Wege schon überhaupt nicht weiterführen können.
Um sich zu erklären, warum Sie in einer so wichtigen Angelegenheit wie der unserer Muttersprache so handeln, muß man sehr viel Mühe aufbringen. Man muß von Anfang an wissen, daß es sich um etwas ganz Wichtiges und im Sinne der obergerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch um etwas sehr Wesentliches für Volk und Gesellschaft handelt. Das ist der Grund, warum wir unseren Antrag gestellt haben. Das ist der Grund, warum wir heute zum wiederholten Male diskutieren.
Diejenigen, die das viel zu spät begriffen haben und die jetzt liebenswürdigerweise angereist sind, Frau Kultusministerin und Herr Kultusminister, haben sich all den Bemühungen unseres Ausschußvorsitzenden, Herrn Eylmann, widersetzt, zu irgendeiner vernünftigen Regelung zu kommen. Sie haben insbesondere auf Punkt und Komma obsternatsch darauf beharrt - egal wie unsinnig die Kommas sein mögen -, daß an dieser von ihnen bzw. ihren Mitarbeitern ersonnenen, ihnen dann untergeschobenen Reform nichts mehr geändert werden darf, weil sie ansonsten einen Gesichtsverlust befürchten
und weil sie befürchten, daß die staatsrechtlich nun
wirklich ein Nullum darstellende Konferenz der Kultusminister bei dieser Gelegenheit etwas von der
Macht verliert, die ihr im Laufe der letzten 50 Jahre - das ist ja kürzlich anekdotisch gefeiert worden, weil die Inhalte nicht so viel hergegeben haben -
zugekommen ist und die möglichst erhalten werden soll.
Vereinfachen wäre ja ganz erstrebenswert, wenn es nicht mit Verwirrung erkauft würde und wenn - was noch schlimmer ist - Vereinfachen hier nicht mit Verarmen zusammenklingen würde.
Das, was wir überhaupt nicht gebrauchen können und was wir nicht wollen, ist eine Verarmung der deutschen Sprache, nur damit sie dem einen oder anderen Legastheniker die Sache etwas erleichtert. Das kann nicht das Ziel sein.
Wieso 16 Kultusministerien - alle mit kriegsstarken Rechtsabteilungen; obwohl sie das in den Justizministerien abfragen sollten, da würden sie vermutlich auch besser bedient -
nicht dahinterkommen, daß eine Reform von so umfassender, von so schwerwiegender Bedeutung wegen des Wesentlichkeitsgrundsatzes nicht ohne eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden kann, ist wirklich erstaunlich.
Es ist nicht nur erstaunlich, es ist auch sehr bedauerlich, daß diejenigen, die für die politische Bildung unserer Jugend ein großes Stück Verantwortung haben, mit Grundbegriffen unserer Demokratie so umgehen, wie das in diesem Falle geschehen ist.
Bei viel weniger gewichtigen Themen wird hier und später beim Bundesverfassungsgericht sehr sorgfältig abgewogen, ob die Regeln aus Art. 20 und 28 unseres Grundgesetzes eingehalten worden sind.
Sie sind hier keineswegs eingehalten worden. Da Herr Enders hoffnungsfroh auf das Bundesverfassungsgericht blickt, kann ich nur sagen: Es wird wohl so kommen.
Wir werden mit unserer Debatte, insbesondere mit der Anhörung herausragender Staatsrechtler, mit den Zeugnissen, die daraus für die weitere Debatte gewonnen worden sind, und mit dem, was wir dazu gesagt haben und was wir hier heute zu beschließen gedenken,
Detlev Kleinert
dazu beitragen, daß an dieser Stelle wieder klargemacht wird, daß in einer so wichtigen Frage die Macht wirklich vom Volke ausgeht - gerade dann, wenn es sich um die Sprache handelt, die dem Volk gehört.
Dieser Gegenstand ist eine sehr gute Gelegenheit, im Sinne des Hamlet-Monologs etwas gegen den Übermut der Ämter zu tun.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Heuer, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was Herr Gres und Herr Kleinert hier gesagt haben, erweckt den Eindruck, als ob die Sprache in größter Gefahr sei. Herr Gres hat gesagt, es gehe darum, daß hier etwas, was dem Volk gehöre, jetzt eine Verfügungsmasse der Kultusminister werde. Herr Kleinert hat entsprechend formuliert.
Ich möchte erst einmal sagen, daß Vertreter einer Koalition, die nicht bereit sind, Volksbegehren und Volksentscheid anzuerkennen, also dem Volk dieses Recht zu geben, in dieser Frage eigentlich schweigen sollten.
Es geht hier übrigens nicht um die Sprache; es geht um das Schreiben. Das ist doch wohl ein Unterschied. Ich persönlich kann mit der Rechtschreibreform leben. Sie ist nach meiner Meinung maßvoll. Ich sehe keine Gefahr, daß meine Enkel und die Ihren, wenn sie nach den neuen Regeln lernen, die Romane von Thomas Mann, die Stücke von Bertolt Brecht oder die Gedichte von Rainer Maria Rilke nicht mehr lesen können.
Die Gefährdung der Sprache liegt in meinen Augen vielmehr in dem Einfluß des Fernsehens und der Computer, liegt vielmehr in der bürokratischen Amtssprache. Im Vergleich zu dem, was dem Volk an unverständlichen Gesetzestexten zugemutet wird, ist die Rechtschreibreform ein heilsam-harmloses Unternehmen.
Nachdem allerdings die Gerichte und das Bundesverfassungsgericht damit befaßt worden sind, wollen nun die Antragsteller auch etwas dazu sagen. Sie hätten es lieber bleiben lassen sollen; denn die Kulturhoheit und damit auch die Sprachpflege sind Ländersache. Eine Bundeszuständigkeit ist nicht gegeben.
Was hier zur „Natur der Sache" und zum Wesensgehalt gesagt worden ist, halte ich, offen gesagt, für
Unsinn. Das Argument, das Herr Rupert Scholz im „General-Anzeiger" vom 21. Februar 1997 gebraucht hat, die 16 Länder könnten 16 verschiedene Sprachen einführen, ist doch wohl lächerlich. Die Rechtschreibreform zeigt ja wohl, daß sich 16 Länder über eine Schreibweise einigen können und auch geeinigt haben.
Die Beschlußempfehlung löst das Problem nicht; sie ist eher kontraproduktiv. Im Grunde läuft sie darauf hinaus, die Reform auf unabsehbare Zeit abzublasen. An der Schule müssen Regeln für das Schreiben gelten, gelehrt und gelernt werden, und Regeln und deren Änderungen müssen nun einmal erlassen werden. Große Sprüche über den Konsens der Sprachgemeinschaft helfen den Lehrern vor Ort nicht. Jetzt soll verzögert werden; im Grunde soll nichts passieren.
Nun wird erklärt, die Amtssprache sei bis zum Ergebnis einer Überprüfung beizubehalten. Die Verfasser haben sich nicht getraut, diesen Befehlston im Beschlußteil anzuschlagen. Aber sie sind offenbar der Meinung, daß zwischen Rechtschreibung im Amt und in der Schule kein Gleichklang herrschen muß.
Nach meiner Meinung wäre es vernünftig, wenn unter der Federführung der Kultusminister der Länder noch einmal über diese Fragen diskutiert und versucht würde, sich über eventuelle Modifikationen zu einigen. Im übrigen bin ich aber der Meinung, daß es bedeutsamere Dinge gibt, vor allem die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.
Ich erteile das Wort der Ministerin für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Anke Brunn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der schon mehrfach zitierte Satz aus Ihrem Antrag, die Sprache gehöre dem Volk, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wer wollte dem widersprechen? Aber das Problem beginnt ja dort, wo bei der geschriebenen Sprache der Staat ins Spiel kommt. Das ist seit alters her in der Schule und bei der sogenannten amtlichen Sprache der Fall. Lassen Sie es mich ganz schlicht sagen: Es muß eine Verständigung darüber geben, wo die Lehrerinnen und Lehrer ein meist rotes „f" oder ein Häkchen an einen Schülertext machen müssen. Diese Korrektur kann und darf nicht in das Belieben des einzelnen Lehrers gestellt werden, sondern hierfür muß es jedenfalls nach überwiegender europäischer Auffassung Spielregeln geben.
Die deutsche Rechtschreibung war jedenfalls in der Schule auch vor der Wiener Erklärung zur Neuregelung der Rechtschreibung im Juli 1996 nicht gerade unreglementiert. Im Gegenteil: Jeder, der die 136 Regeln der „Richtlinien zur Rechtschreibung, Zeichensetzung und Formenlehre" des Duden wirklich kennt, wird zugeben, daß man sich bei allen anzuerkennenden Bemühungen der Duden-Redaktion
Ministerin Anke Brunn
schon die Frage nach der Logik und nach der Systematik unserer Rechtschreibung stellen konnte. So ging es in der Reformdebatte auch um größere Überschaubarkeit der Regeln, um weniger Regeln und um weniger Ausnahmen von den Regeln. Es ging darum, daß Kinder und Jugendliche - das darf man auch in der Debatte im Bundestag nicht vergessen - die deutsche Rechtschreibung besser und einfacher lernen können. Das war der Ausgangspunkt.
Es ging ferner darum - meine Damen und Herren, das halte ich ebenfalls für wichtig -, daß die deutsche Sprachgemeinschaft auch bei der Schreibweise zusammenbleibt.
Deshalb hat sich die Kultusministerkonferenz, hier vor allem als Schulministerkonferenz verstanden, dieses Themas angenommen. Schon vor elf Jahren haben Bund und Länder - die Kultusministerkonferenz und der Bundesinnenminister - gemeinsam das Institut für die deutsche Sprache beauftragt, vereinfachte Rechtschreibregeln zu erarbeiten. Zunächst stand sogar eine große Reform zur Debatte, die auch die Groß- und Kleinschreibung einbezogen hätte. Um so mehr überrascht es jetzt, daß die nun gefundene kleine Reform so lange nach ihrer Beratung, nach Beschlußfassung und nach Unterzeichnung von Abkommen Aufsehen erregt.
Zu Recht hat der langjährige Leiter der Duden-Redaktion die Neuregelung als aktualisierte Pflege der Rechtschreibung bezeichnet. Manch spät aufgekommene Kritik überrascht besonders, weil die Fachverbände und die Öffentlichkeit von Anfang an nicht nur informiert, sondern auch beteiligt waren. Auch die Parlamente, jedenfalls die meisten Länderparlamente, waren einbezogen und haben sich dort, wo sie das für nötig erachtet haben, in Resolutionen und Beschlußfassungen dazu geäußert.
Nun mag man im nachhinein darüber streiten, ob die Einbindung wirklich breit genug war und ob sie immer in der richtigen Form geschehen ist. Auch über die Streitkultur im Laufe der Debatte möchte ich an dieser Stelle nicht richten. Das gebietet auch mein Respekt vor dem Bundestag.
Niemand kann bestreiten, daß es Verunsicherungen gab und daß auch verunsichert wurde. Was aber jetzt auf jeden Fall vermieden werden sollte und auch vermieden werden kann, ist eine neue und zusätzliche Verunsicherung. Darum bitte ich auch den Bundestag.
Die Verunsicherung würde darin bestehen, daß man ohne Not die Einführung der neuen Rechtschreibung zum 1. August 1998 wieder in Frage stellt. Ich denke, wir müssen nach vorn blicken. Wir müssen gemeinsam versuchen, die Unsicherheit, die durch die erneute öffentliche Debatte hervorgerufen worden ist, wieder auf eine sachliche Gesprächsebene zu bringen und einen konsensbildenden Prozeß in Gang zu setzen.
Wir sollten bis nach dem Ende der Übergangsfrist, also bis zum Jahre 2005, beobachten, wie sich die Neuregelungen in der Praxis bewähren. Wir sollten Kritik aufgreifen und feststellen, wo Korrektur- und Nachbesserungsbedarf besteht. Übrigens ist mir eben zumindest in einem Teil der Debatte aufgefallen, daß die Übergangsregelung, die in der Vereinbarung bis zum Jahre 2005 vorgesehen ist, übrigens sogar mit einer Verlängerungsmöglichkeit, hier so wenig eine Rolle gespielt hat.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gern.
Frau Kultusministerin, würden Sie uns liebenswürdigerweise mitteilen, in welcher Rechtschreibung die Erkenntnisse niedergelegt sind, die Sie uns gegenwärtig freundlicherweise mitteilen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich mache von der Möglichkeit Gebrauch, ganz in meiner traditionellen Rechtschreibung zu schreiben. Ich habe vor, das auch in Zukunft so zu machen.
Die traditionelle Rechtschreibung, Herr Kollege, wird keineswegs über Nacht ersatzlos abgeschafft; Sie haben sich mit Ihrer Zwischenfrage genau an der richtigen Stelle gemeldet. Diese ist nämlich nicht abgeschafft, sondern die gewohnte Rechtschreibung - da kann ich Sie alle trösten - bleibt weiterhin zulässig - und nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch.
Unabhängig von der aktuellen Debatte, unabhängig davon, was wir hier debattieren, werden sich Sprache und Schreibweise weiterentwickeln. Dem werden auch die Schreibregeln folgen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Übrigens gilt diese Übergangsregelung bis zum Jahre 2005 in den Schulen und Behörden. Bis zum Ablauf dieser Übergangsfrist kann man Erfahrungen sammeln und Rat einbringen.
Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages schlägt nun ebenso wie die Amtschefs der KMK vor - das halte ich für einen sehr wichtigen Schritt -, bei der weiteren Entwicklung der deutschen Rechtschreibung Schriftsteller, Journalisten, wissenschaftliche Institute und sonstige mit der Sprache und über die Sprache Arbeitende kontinuierlicher in die weitere Diskussion mit einzubeziehen. Ich finde, das sollte geschehen. Das ist ein entscheidender positiver Beitrag.
Die Arbeit der internationalen Kommission sollte damit nicht ersetzt, sondern konstruktiv begleitet werden. Denn sie haben unterschiedliche Sichtwei-
Ministerin Anke Brunn
sen. Darüber, wie das Verfahren vernünftigerweise ablaufen kann, wird man Regeln finden können. Wir wollen keine Reform hinter verschlossenen Türen. Das kann ich für alle Kultusminister sagen. Wir haben sie übrigens nie gewollt. Wir wollen die Erfahrungen mit der neuen Rechtschreibung offen austauschen und breit diskutieren, damit am Ende der Einführungsphase Regeln stehen, die eine breite Akzeptanz finden.
Schon bisher kann man nämlich feststellen - das sollte auch hier in der Debatte gesagt werden -, daß überall dort, wo die neuen Regeln in den Schulen praktiziert werden, außer den bekannten juristischen Interventionen nur selten praktische Probleme aufgetreten sind.
Unsere österreichischen Freunde, die die neuen Regeln schon etwas länger praktizieren, haben jedenfalls berichtet, daß die Schüler bei ihnen 50 Prozent weniger Kommafehler und 10 Prozent weniger Schreibfehler machen. Sie haben das positiv hervorgehoben.
Übrigens - das bitte ich Sie auch zu berücksichtigen -: Lehrerverbände, Bundeselternrat und Schulbuchverlage sind sich darüber einig, daß es unverantwortlich wäre, die Neuregelung jetzt zurückzunehmen. Das sollte im übrigen auch für die amtliche Schreibweise gelten.
Es ist deshalb gut, daß die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses nicht mehr verlangt, die Einführung in die Amtssprache des Bundes rückgängig zu machen.
- Ich weiß es nicht; ich habe es gelesen, Herr Kollege. - In gewissem Widerspruch dazu steht allerdings der letzte Satz in der Begründung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses,
wonach die hergebrachte Amtssprache des Bundes beizubehalten ist.
Nun weiß ich, daß eine Begründung nicht Bestandteil des Beschlusses ist; aber dieser Satz könnte jedenfalls zu neuen Mißverständnissen Anlaß geben. Zwar bleibt es der deutschen Bundesregierung vorbehalten, zu entscheiden, welche Schlußfolgerungen und Konsequenzen sie aus dem Beschluß des Bundestages zu ziehen gedenkt. Wenn sie aber die Neuregelung nicht zuließe, dann wäre sie die einzige Unterzeichnerin der Wiener Absichtserklärung vom 1. Juli 1996, die die damit eingegangenen Verpflichtungen nicht termingerecht einführte.
- Nein, die machen es auch zum 1. August - Österreich, das Fürstentum Liechtenstein und die Schweiz
beabsichtigen nach mir vorliegenden Informationen,
die Neuregelung zum 1. August 1998 auch in ihre Amtssprachen einzuführen. Einen Bleichlautenden Beschluß haben auch die Innenminister der deutschen Länder gefaßt.
Es könnte also die merkwürdige Situation eintreten, daß die Amtssprache unserer deutschsprachigen Nachbarländer ebenso wie die Länder der Bundesrepublik Deutschland die neuen Regeln der Rechtschreibung übernehmen, die Bundesregierung aber, die das Abkommen unterzeichnet hat, jedoch nicht. Das würde nur neue Unsicherheit auslösen.
Übrigens, auch überzeugte Vertreter der Reform sagen offen, daß die neuen Regeln noch verbessert werden können. Deshalb finde ich es so sinnvoll, gemeinsam mit unseren Nachbarn bis zum Jahre 2005 die in der Vereinbarung enthaltene Option für weitere Veränderungen und Verbesserungen dieser Reform offenzuhalten.
Bis dahin sollten wir einen konsensstiftenden Prozeß in Gang halten, in dem Schriftsteller, Journalisten, Publizisten, Verlage, Sprachforscher und Germanisten die Einführung der neuen Rechtschreibung in der Übergangszeit beobachten und begleiten.
Wir sollten dann das Gute und für richtig Erkannte bewahren, und dort, wo Korrekturbedarf besteht, sollten wir dann auch Verbesserungen vornehmen.
Ich appelliere wirklich an Sie, meine Damen und Herren: Blicken Sie nach vorne, und nehmen Sie diese Debatte als Anstoß zu einer neuen Konsensstiftung! Streckenweise habe ich das in der Debatte auch schon so erfahren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile jetzt das Wort dem Staatsminister für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen, Professor Dr. HansJoachim Meyer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute fiel schon das Wort „Groteske". In der Tat, der Sturm gegen die Neuregelung der Rechtschreibung wird einmal in die historische Erinnerung als eine der Grotesken der deutschen Geschichte eingehen.
- Herr Gres, Sie müssen nicht dazwischenschreien. Hören Sie doch zu, dann lernen Sie etwas!
Man muß sich einmal in aller Ruhe klarmachen, um was es hier geht. Seit 1950 wird in Deutschland
Staatsminister Dr. Hans-Joachim Meyer
über die Notwendigkeit gesprochen, die Rechtschreibung neu zu regeln.
Das kann ja auch niemanden verwundern, der sich klarmacht, daß die Regelung der Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt ein halbes Jahrhundert zurücklag.
Wie immer, wenn eine Reformnotwendigkeit besteht, sind Revoluzzer und Radikalinskis zur Stelle.
Ihre Vorschläge, die Vorschläge, die 1950 und in den Folgejahren gemacht wurden, hätten uns in der Tat von der kulturellen und literarischen Tradition abgeschnitten.
Die wildesten Vorschläge kamen übrigens aus jener akademischen Profession, aus der uns jetzt die lautesten Vorwürfe erreichen, wir würden die Einheit und Tradition der Schriftsprache gefährden. Es war die Kultusministerkonferenz, die 1984 - übrigens unter der Präsidentschaft von Georg Gölter - diesem Treiben einen Riegel vorschob. Es war die Kultusministerkonferenz, die bis zum endgültigen Beschluß über die Neuregelung sorgfältig darauf achtete, daß die Regelung folgenden Kriterien genügen muß: erstens: Augenmaß und Zurückhaltung, um die deutsche Schrifttradition zu bewahren, zweitens: Größere Handhabbarkeit und geringere Fehleranfälligkeit der neuen Regeln, und schließlich: ein Höchstmaß von Übereinstimmung mit allen Ländern des deutschen Sprachraums.
Genau dies bringt die neue Regelung: erstens eine größere Übersichtlichkeit und Systematisierung zwischen vielen Wörtern, die bisher nicht wenige Menschen wegen für sie nicht erklärbarer Widersprüche zur Verzweiflung brachten. Daß einige der neuen Schreibungen nicht der Etymologie, nicht dem geschichtlichen Ursprung dieser Wörter, entspringen, ist überhaupt kein Argument gegen die Reform. Das heutige Wortverständnis muß genutzt werden.
Ich will überhaupt nicht verhehlen, daß ich als Philologe nicht ohne Verständnis für diese Kritik und für diese Bedenken bin. Aber ich weiß auch, daß man diejenigen in Deutschland, für die es einen Sinn macht, daß man „behende" mit „e" statt mit „ä" schreibt, „Tolpatsch" nicht mit Doppel-1, daß man „Stengel" mit „e", „überschwenglich" mit „e", aber „Überschwang" mit „a" schreiben muß, bequem in diesem Saal versammeln kann.
Selbst unter den Germanisten ist es nur ein geringer Prozentsatz, für die dies noch einen Sinn ergibt. Für die übergroße Mehrheit der Sprachnutzer sind diese Schreibungen heute beziehungslos. Eine Orthographiestunde ist kein germanistisches Seminar. Da kann man lernen, welche Veränderungen es in der deutschen Schreibung gegeben hat.
Zweitens. Die Neuregelung führt bei einer größeren Anzahl von Fremdwörtern zu einer dem Deutschen näherstehenden Schreibung. Auch hier kann man sich durchaus auf den Standpunkt stellen, daß das dem Trend zur Internationalisierung zuwiderläuft. Aber wer von Ihnen schreibt denn Fremdwörter grundsätzlich so wie in der Ursprungssprache, so er es überhaupt könnte? Wer auch vor der Neuregelung „Foto" mit „f" oder „Komitee" mit dieser merkwürdigen englisch-französischen Mischung geschrieben hat
- ja, es ist eine Zumutung, sich einmal die Wahrheit anzuhören -, der kann gegen den Grundsatz der Eindeutschung überhaupt keine Einwände erheben. Was sich von diesen neuen Schreibungen bewähren wird, werden wir sehen.
Jedenfalls wird der Anteil der durch die erste und zweite Änderung erfolgten Veränderungen im deutschen Wortschatz maßlos überschätzt. Es sind 185 Wörter, gleich 0,5 Prozent des Wortschatzes.
Drittens. Die Neuregelung bringt segensreiche und längst überfällige Vereinfachungen im Bereich der Groß- und Kleinschreibung; denn die bisherigen Regelungen der Groß- und Kleinschreibung waren - freundlich gesagt - alles andere als stimmig. Was würde wohl dabei herauskommen, wenn wir die hier versammelten Gegner der Neuregelung der Rechtschreibung einmal dazu auffordern würden, in einem Diktat ihre sichere Beherrschung der Regeln der Groß- und Kleinschreibung nachzuweisen?
- Frau Präsidentin, ich bin ganz sicher, der Bundestag könnte hier eine Textsammlung zusammenstellen, die den deutschen Schulkindern zum Weihnachtsfest eine große Freude bereiten würde.
Wie schreiben Sie denn beispielsweise in dem Satz „Es wäre das beste, wir würden uns heute über wichtigere Themen unterhalten" „das beste" und warum, mit welcher Begründung?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westerwelle?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gerne, Herr Westerwelle. Für Sie tue ich immer etwas.
Es muß jetzt hier nicht jeder Redner unter Beweis stellen, daß er die deutsche Sprache beherrscht.
Herr Minister, Sie haben gesagt, man müsse über Wichtigeres sprechen. Finden Sie nicht auch, daß eine Kultusministerkonferenz, die die Frage, ob man „Schiffahrt" mit zwei oder drei „f" schreibt, für wich-
Dr. Guido Westerwelle
tiger als die Verkürzung der Ausbildungszeiten in Deutschland hält, ziemlich weit weg vom Leben ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Westerwelle, Ihre Feststellung in bezug auf die Ausbildungszeit zeugt von Unkenntnis der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz.
Was „Schiffahrt" mit zwei oder drei „f" anbetrifft, wäre es vielleicht ganz nützlich gewesen, Sie hätten das einem Abgeordneten Ihrer Fraktion rechtzeitig gesagt; denn der hat im Sturm auch die Neuregelung der Rechtschreibung auf den Weg gebracht, weil er der Meinung war, jetzt dürfe er Schiffahrt nicht mehr mit drei „f " schreiben.
Ich habe ja ein gewisses Verständnis für diese Auffassung; denn in der Tat: Wer in die Reichsverfassung von 1849 hineinsieht, der wird feststellen, daß „Schiffahrt" dort in der Tat mit drei „f" geschrieben wurde. Möglicherweise hat diese historische Erinnerung die Schulkenntnisse dieses Abgeordneten überlagert.
Herr Minister, es besteht der Wunsch zu einer zweiten Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Dr. Gerhardt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, jetzt mache ich weiter.
Viertens. Die Neuregelung räumt mit einer Marotte auf, die sich im Deutschen zum Schrecken der Schulkinder und der Ausländer immer mehr eingebürgert hat, nämlich, daß Begriffe und Vorstellungen, die durch mehr als ein Wort ausgedrückt werden, zusammengeschrieben werden müssen. Dafür gibt es überhaupt keinen zwingenden Grund. Ob ich nun sage „Wir müssen uns bald wiedersehen" oder „Wir sehen uns bald wieder": In beiden Fällen drücken die beiden Wörter „wieder" und „sehen" die gleiche Vorstellung aus. Aber nur in einem Fall, nämlich wenn die beiden Wörter unmittelbar nebeneinander stehen, muß man sie zusammenschreiben. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.
Heute habe ich in einem interessanten Papier, das Sie, Herr Gerhardt, in Umlauf gesetzt haben, gelesen, man könne „schwerfallen" und „schwer fallen" nicht mehr unterscheiden. Das macht überhaupt keine Mühe. „Er fiel schwer" und „Das fiel mir schwer" oder „Es fiel ihnen schwer, die Gründe für die Rechtschreibreform zu verstehen" ist ohne Mühe zu unterscheiden. In allen Fällen wird „fallen" und „schwer" auseinandergeschrieben. Wo sind da Ihre Probleme?
- Aber Herr Kleinert, das muß doch nicht gerade von Ihnen kommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie sich von einem Anglisten sagen: Im Englischen gibt es ähnliche Zusammensetzungen. Kein Mensch kommt auf die Idee, dort eine Regel aufzustellen, daß alle diese Wörter zusammengeschrieben werden müssen. Dadurch spart man sich im Englischen viele Schulstunden und sehr viele Tränen.
Herr Minister, darf ich Sie kurz unterbrechen! Es besteht der Wunsch nach zwei Zwischenfragen, des Abgeordneten Eylmann und des Abgeordneten Dr. Gerhardt. Wollen Sie die beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin gern bereit, die Frage des Abgeordneten Eylmann zu beantworten.
- Also gut, ich beantworte auch die Frage von Herrn Gerhardt.
Herr Minister, obwohl Vokabular und Diktion Ihrer Rede genau der unerträglichen Arroganz der Kultusministerkonferenz entspricht
und sich - den Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen - sehr zu Ihrem Nachteil von den Ausführungen Ihrer Vorrednerin unterscheidet,
will ich mir erlauben, Ihnen eine sehr sachbezogene Frage zu stellen, weil Sie so sehr auf den Vereinfachungseffekt abgestellt haben, der den Schülerinnen und Schülern und den Menschen überhaupt die Schreibung der deutschen Sprache ja angeblich erleichtern soll: Stimmen Sie mir zu, daß der Unterschied zwischen Aussprache und Schreibung in der englischen Sprache wesentlich größer ist als in der deutschen? Stimmen Sie mir des weiteren zu, daß die Regierungen in Großbritannien und den USA trotzdem nicht auf die Idee gekommen sind, die Schreibung des Englischen zu vereinfachen? Stimmen Sie mir ferner zu, daß diese großen Unterschiede zwischen Schreibung und Aussprache kein Hindernis
Horst Eylmann
dafür waren, daß sich die englische Sprache zu einer Weltsprache entwickelt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst zu Ihrer Einleitung, Herr Abgeordneter Eylmann: Ich weiß nicht, mit welchem Recht Sie uns hier Arroganz vorwerfen.
Sie haben die Anhörung des Rechtsausschusses zur Neuregelung der Rechtschreibung mit dem Satz begonnen, jetzt ginge es erst einmal darum, darzustellen, was die reaktionärste aller Einrichtungen, die Kultusministerkonferenz, vorgelegt hat.
Das war ein Höhepunkt der Unfairneß in bezug auf Ihre Stellung als Vorsitzender des Rechtsausschusses.
Nun zu Ihrer Sachfrage. In der Tat kann es solche Bemühungen im Englischen nicht geben, weil die Unterschiede zwischen Schreibung und Lautung inzwischen ein solches Maß erreicht haben, daß solche Systematisierungsansätze dort zu nichts führen würden. Aber eine solche Situation haben wir nicht. Mit dem von mir erwähnten Beispiel hat dieses überhaupt nichts zu tun; denn die Zusammen- oder Getrenntschreibung hat mit der Schreibung der einzelnen Wörter überhaupt keinen Zusammenhang.
Und nun, Herr Gerhardt.
Ich bitte um Ruhe, der Minister hat das Wort. Herr Minister, wollen Sie fortfahren, oder sind Sie mit Ihrer Rede am Ende?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich bin nicht zu Ende.
Die Rechtschreibung war derartig passend und behutsam angelegt sowie der Aufgabe gemäß, daß zunächst auch große Akzeptanz bestand. Es sind in den deutschen Zeitungen Texte in der neuen Rechtschreibung mit dem ausdrücklichen Hinweis erschienen: Dies war im übrigen gemäß der neuen Rechtschreibung, falls Sie es bemerkt haben sollten bzw. falls Sie es nicht gemerkt haben sollten. Die Zielstellung der Kultusministerkonferenz war also durchaus erreicht.
Aber dann kam der große Aufstand der Schriftsteller und Dichter. Diese hatten sich jahre- und jahrzehntelang um die Orthographiedebatte nicht gekümmert, aber dann ließen sie sich von einem Studienrat einreden, ihre literarische Freiheit sei bedroht. Sachargumente sind von den Dichtern und Schriftstellern nicht gekommen. Vielmehr liefen alle Proteste nur darauf hinaus, es dürfe überhaupt keine Regelung erlassen werden, jedenfalls keine Neuregelung. Das ist im Zusammenhang mit einer Rechtschreibungsdebatte kein Sachargument. Aber da die Debatte in Deutschland stattfindet, stehen mystische und irrationale Argumente in hohem Ansehen.
Wir haben heute schon mehrfach gehört: Die Sprache gehört dem Volk. Natürlich gehört die Sprache dem Volk, wem denn sonst? Nur, bei einer Rechtschreibregelung ist dies das abwegigste aller denkbaren Argumente. Es geht hier nämlich nicht um die Sprache. Es geht um die Schreibung, genauer gesagt um die Rechtschreibung. Es geht um Regeln, die feststellen, welche Schreibung richtig ist. Solche Schreibregeln, meine Damen und Herren, sind in jedem Land und zu jeder Zeit definiert, von einer Autorität vorgegeben und durchgesetzt worden. Es gibt keine Rechtschreibung, die aus dem Volk erwächst. Es kann keine Rechtschreibung geben, die aus dem Volk erwächst.
Ganz generell neigt jede Sprache zu einer ständig fortschreitenden Differenzierung. Selbst die gesprochene Sprache, die nun wirklich dem Volk gehört, bedarf gesellschaftlich anerkannter Normen oder doch zumindest prägender Vorbilder, wenn die Sprachgemeinschaft nicht zerfallen soll. Schreibnormen sind überhaupt nur von einem Punkt aus definierbar und müssen immer bewußt gelernt werden. Darum gibt es auch keine nachvollziehende Rechtschreibregelung.
Auch für eine einmal definierte Rechtschreibnorm gilt, daß sie durch Einzelentscheidungen immer differenzierter und komplizierter wird, wie die Entwicklung der deutschen Rechtschreibung seit 1901 zeigt. Einzelentscheidungen machen die Sache vielleicht für den konkreten Fall einfacher. Das System wird im allgemeinen aber komplizierter.
Wer also seine literarische Persönlichkeit durch die Neuregelung beschädigt sieht, wer meint, das Volk schaffe in einem spontanen Prozeß die Rechtschreibung, der mag ein angesehener Autor sein, aber dieser Ansatz ist falsch.
Nun, meine Damen und Herren, ein Wort zu den Professoren.
Wir erlebten das gleiche wie immer: Jeder tritt mit dem Modell auf, nach dem sich dann die Wirklichkeit zu richten hat. In eine jahre- und jahrzehntelange Debatte kann man nicht mit der Vorstellung hineingehen, jetzt gäbe es die einmal und alles erlösende
Staatsminister Dr. Hans-Joachim Meyer
Idee, und das hätten alle zu akzeptieren. Leibniz muß an deutsche Professoren der Geisteswissenschaften gedacht haben, als er in die Philosophie den Begriff der „fensterlosen Monade" einführte. Neu ist das Schauspiel im übrigen nicht. Schon 1876 flog die erste Konferenz zur Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung in erbittertem Gelehrtenstreit buchstäblich in die Luft. Über diesen Skandal hat die historische Erinnerung allerdings mittlerweile den Schleier mildtätigen Vergessens gebreitet; man ist wieder zu neuen Taten erstarkt.
Ich würde mir gern den Spaß machen, die 51 Germanistikprofessoren, die es im übrigen zu einer Protesterklärung von maximal drei Sätzen gebracht haben,
aber unlängst die mangelnden sprachwissenschaftlichen Grundlagen der Neuregelung der Rechtschreibung beklagt haben, jeweils getrennt in ein Zimmer' zu sperren. Sie sollen einmal die von ihnen vermißten Grundlagen zu Papier bringen!
Das Experiment würde nämlich erweisen, was jeder Philologe im Studium lernt oder jedenfalls lernen sollte: Es gibt gar keine einheitlichen Grundlagen für die Rechtschreibung. Jede Rechtschreibung ist ein Mixtum compositum aus einer Vielzahl unterschiedlicher Prinzipien. Darum ist auch die ganze Fehler- und Mängeldebatte völlig unsinnig.
Die jetzige Neuregelung der Rechtschreibung ist ja nicht, wie hier behauptet wurde, von der Kultusbürokratie ersonnen worden. Dies ist das Werk von Fachleuten.
Der einzige Eingriff von Kultusministern bestand darin, daß sie eine Vielzahl von Vorschlägen für die Neuregelung ablehnten, daß sie das Maß des Möglichen immer weiter einengten. Es sind Vorschläge von Fachleuten, und es gibt Kritik von Fachleuten, weil es nämlich darum geht, Möglichkeiten abzuwägen, weil man zwischen Alternativen entscheiden muß. Da kann man über Entscheidungen sprechen, aber nicht über Fehler und Mängel.
Darum wird es auch niemals ein Ende einer solchen Debatte geben. Es gibt keine Rechtschreibreform, zu der anschließend alle sagen: Das ist es, was wir gewollt haben. Ich bekenne freimütig, daß auch mich eine ganze Reihe von Punkten an dieser Rechtschreibreform stört. Aber es gibt keinen anderen Ansatz, und es kann auch keinen anderen geben, es sei denn, wir verzichten auf jeden Versuch einer Einführung neuer Rechtschreibregelungen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten uns darüber einig sein: Diese Debatte ist weniger
eine Debatte über Fachfragen als eine politische Debatte. Es geht um die Tatsache, ob dieses Land veränderungswillig und veränderungsfähig ist.
Die weitverbreitete Übellaunigkeit, weil dieses Land unübersehbar vor großen Veränderungen steht, der generelle Mißmut, weil Besitzstände auf den Prüfstand gehören, die Verdrossenheit über Politik und Politiker, das allgemeine Nörgeln gegen „die da oben", dazu noch die nie ausgelüfteten Ressentiments gegen Schule und Lehrer:
das alles ließe sich - ohne Gefahr, dafür geradestehen zu müssen - bequem bündeln und als Wurfgeschoß verwenden. Sie wissen doch ganz genau, daß die meisten, die sich an Unterschriftenaktionen beteiligen, nicht wissen, was der Inhalt dieser Neuregelung der Rechtschreibung ist,
sondern schlicht und ergreifend gegen Veränderungen sind.
Nicht um die Neuregelung der Rechtschreibung geht es in Wahrheit.
Es geht um die Frage, ob diese Gesellschaft veränderungsfähig und veränderungswillig ist.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, darf ich Sie um etwas Ruhe bitten! - Herr Minister, darf ich Sie vielleicht darauf aufmerksam machen, daß Sie als Mitglied des Bundesrates natürlich jede Menge Zeit zu reden haben; aber wenn Sie mehr als 20 Minuten reden, eröffnen Sie die Debatte neu.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich komme jetzt zum Ende, Frau Präsidentin.
Wenn es schon bei einem Reförmchen wie diesem zu solchen Reaktionen kommt, was soll dann erst geschehen, wenn es wirklich ernst wird mit Veränderungen in Deutschland?
Staatsminister Dr. Hans-Joachim Meyer
Daher, meine Damen und Herren: Setzen Sie ein positives Zeichen, daß dieses Land nicht veränderungsscheu ist! Lehnen Sie diesen Antrag ab!
Ich danke Ihnen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich darf Ihnen zur Geschäftslage folgendes mitteilen: Vor der Abstimmung haben wir noch zwei Kurzinterventionen und drei Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.
Erste Kurzintervention. Bitte schön, Frau Abgeordnete Erika Steinbach, CDU/CSU.
Herr Kultusminister! Frau Kultusministerin! Ein parlamentarisches Gremium ist allerlei gewöhnt. Allerdings muß ich eines sagen: Eine solche Arroganz und Überheblichkeit gegenüber einem Parlament ist mir in den sieben Jahren meiner Abgeordnetentätigkeit noch nicht vorgekommen.
Man soll Dinge nicht in statischer Weise auf sich beruhen lassen. Das Leben geht weiter, und die Dinge verändern sich. Man soll auch Veränderungen wollen. Nur, diese Veränderungen müssen am Ende einen Sinn ergeben, verehrter Herr Kultusminister Meyer.
Ich prophezeie Ihnen: Wenn Sie unter Zugrundelegung der Regeln der neuen Rechtschreibung, so wie Sie sie haben möchten, ein Diktat mit dem von Ihnen beschriebenen Personenkreis durchführen würden, das Ergebnis wäre kein anderes als das, das Sie vorher bei dem anderen Diktat erzielt haben. Aber wenn Sie, verehrter Herr Minister Meyer, einen Ihnen unbekannten Text, dessen Zeichensetzung nach den neuen Regeln erfolgte, vortragen müßten, ohne ihn vorher studiert zu haben, dann werden Sie eine glatte Bauchlandung erleben, weil Sie das nicht können werden.
Ich möchte Ihnen einen Rat mit auf den Weg geben - das ist jetzt scherzhaft gemeint -: Bitte überprüfen Sie im Zuge Ihrer Vereinfachung, ob man nicht alle Meyers gleich schreiben sollte.
Ich schlage vor, daß zunächst der Abgeordnete Gerald Häfner zu einer zweiten Kurzintervention das Wort erhält. Anschließend kommt eine dritte Kurzintervention, nämlich vom Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger.
Danach erhalten Sie, Herr Professor, Gelegenheit, darauf zu antworten.
Sehr verehrter Herr Minister! Auch ich fühle mich durch Ihre Rede angesprochen. Sie haben ja das, was hier läuft, als Groteske bezeichnet. Ich teile Ihre Meinung. Ich frage mich und ich frage vor allen Dingen Sie ganz ernsthaft, ob Sie angesichts des in Teilen doch sehr beklagenswerten Zustandes des Schulwesens in Deutschland, ob Sie angesichts der Situation an den Universitäten kein dringenderes Problem sehen als die Frage, ob wir zum Beispiel „ Schneewächte " in Zukunft nicht mehr mit „ä", sondern mit „e" schreiben dürfen. Es ist so lächerlich, so unglaublich und so absurd.
Seit Kaiser Wilhelms Zeiten hat sich Sprache im Gebrauch und Vollzug der Menschen entwickelt und verändert. Ich habe hier schon einmal gesagt: Daß ich „Foto" in meiner Schulzeit mit „ph" geschrieben habe und es heute mit „f" schreibe, verdanke ich keiner Anordnung eines Kultusministers. Vielmehr habe ich selbst das so entschieden. Sprache ist ein lebendiger Organismus, der sich ständig verändert, und Sprache ist eines von den Dingen - das bitte ich Sie nun wirklich ernst zu nehmen -, die der Politik vorausgehen.
Wir Politiker machen Sprache nicht; wir nutzen sie mehr oder weniger gut. Darüber kann man ja streiten. Wir leben in der Sprache; wir gestalten sie mit. Aber wer gibt Ihnen denn das Recht, sich als Kultusminister hinzustellen und zu sagen, daß das deutsche Volk in Zukunft dieses Wort so und jenes anders zu schreiben hat? Ist das nicht absolut absurd?
Nehmen Sie doch diesen Geßler-Hut von der Stange, ehe die Leute ihn herunterschießen. Es gibt im ganzen Land Prozesse über diese Frage; es gibt Volksbegehren über diese Frage. Ihrer eigenen Kommission laufen die vernünftigen Sachverständigen davon.
Nur die Kultusminister halten die Fahne hoch und sagen: Wir wollen Veränderungen in Deutschland. In Zukunft darf man „schlechtmachen" nicht mehr zusammenschreiben; man muß es auseinanderschreiben. Ja, wenn Sie diese Reform schlecht gemacht haben, Herr Minister, dann ist es etwas anderes, als wenn sie sie schlechtgemacht haben.
Die Behauptung, daß Schrift und Sprache nicht zusammenhängen, ist falsch. Lassen Sie doch den Deutschen ihre Sprache und ihre Schrift. Sie verändert sich sowieso ständig. Daß man in Amerika jetzt teilweise „You, too" als „U 2" schreibt und nicht so,
Gerald Häfner
wie die Grammatik es vorgibt, hat den Amerikanern niemand vorgeschrieben. Das machen einige so und andere anders. Auch in Deutschland werden sich die Dinge verändern, auch dann, wenn die Kultusminister ihre Finger davon lassen. Deshalb wäre ich sehr froh, wenn wir diesen Antrag beschlössen.
Ein Letztes noch zu den Kosten. Auch ich bin von den Schulbuchverlegern und anderen Verlegern angerufen worden. Ich will Ihnen erzählen, was sie mir erzählt haben. In meinem Bundesland zum Beispiel, in Bayern, dürfen seit dem Beginn des letzten Schuljahres nur noch Schulbücher zugelassen werden, in denen komplett die neue Rechtschreibung angewendet wird. Was ist passiert? - Sie haben für Physiklehrbücher, für Chemielehrbücher, für Mathematiklehrbücher Neuauflagen gemacht; sie sind auf den alten Auflagen in einem Wert von Millionen sitzengeblieben. Jetzt können sie die Neuauflagen nicht unter die Leute bringen, weil vieles von dem, was damals vorgeschrieben wurde, jetzt schon wieder verändert worden ist.
Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluß.
Herr Wernstedt hat mir, als wir zusammensaßen und ich ihn gefragt habe, wie es denn nun mit dem Fluch dieser bösen Tat, der Kommission und den Vorschriften weitergehen soll, gesagt: Wir werden natürlich eine ständige Kommission einsetzen müssen, die die deutsche Rechtschreibung begleitet und in regelmäßigen Zeitabständen Neuschreibungen verordnet. Dazu sage ich: Bitte nicht! Lassen Sie den Blödsinn. Deswegen bitte ich Sie: Stimmen Sie für den Antrag!
Wir haben eine Kurzintervention mehr und eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung weniger. - Bitte schön, Herr Abgeordneter Dr. Pflüger.
Herr Minister Professor Meyer, zu dem Politisch-Inhaltlichen möchte ich mich gar nicht äußern; denn es ist Ihr gutes Recht, Ihre Meinung zu haben. Wir hatten ja eine Debatte dazu. Ich möchte aber schon etwas zu der Art und Weise sagen, in der Sie hier vorgetragen haben.
Ich glaube, das ist etwas, was das ganze Haus angeht.
Ich weiß nicht, wie es im Sächsischen Landtag üblich ist. Aber einem Kollegen gleich in der ersten Minute Ihrer Rede zu sagen: „Hören Sie zu, dann lernen Sie etwas! ", und eine Diskussion, die in der gesamten Öffentlichkeit geführt wird - bei mir im Wahlkreis zum Beispiel gibt es eine Bürgerinitiative -, als Groteske zu bezeichnen ist ein Stil, den wir im Deutschen Bundestag jedenfalls nicht hinnehmen werden.
Das zweite, was ich sagen will, ist folgendes: Sie haben gesagt - auch das ist eine Stilfrage -, die Schriftsteller hätten nichts beigetragen, sie hätten keine Sachargumente gehabt. Ich kann mich an den Vortrag von Reiner Kunze auf dem letzten Bundesparteitag der CDU in Leipzig erinnern und kann nur sagen: Ich fand, das war ein glänzender Vortrag mit vielen sachlichen Argumenten. Sein zentraler Punkt war, daß es hierbei um eine Sprachnivellierung geht, die er unerträglich findet. Ich weiß nicht, ob man es, wenn deutsche Schriftsteller so etwas sagen, einfach als Groteske abtun kann. Sie würden sich selbst einen größeren Gefallen tun, wenn Sie auf die Inhalte eingehen und sie debattieren würden, anstatt in dieser Weise Leute abzuwerten.
Dritter Punkt. Wir haben uns, Herr Professor Meyer, um einen Konsens bemüht. Der Kollege Eylmann war einigungs- und gesprächswillig. Wenn etwas grotesk ist, dann ist es die Tatsache, daß darauf nicht eingegangen worden ist, sondern auch das abgebügelt worden ist.
Letzter Punkt. Sie sprachen davon, bei dem Ganzen handele es sich in Wirklichkeit um die Frage, ob Reformwillen bestünde oder nicht. Ich kann Ihnen nur sagen: In meinem Wahlkreis hat mich in den acht Jahren, in denen ich im Bundestag bin, noch nie irgendein Mensch angesprochen, um mir zu sagen, daß eine Reform auf diesem Gebiet notwendig sei. In bezug auf alle anderen Gebiete tun sie das. Diesbezüglich hat es keiner getan.
Herr Minister, möchten Sie darauf antworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte es sehr kurz machen. Den Vorschlag von Frau Kollegin Steinbach nehme ich gern an, wenn ich meine eigene Schreibung behalten kann.
Ihre Forderung in bezug auf das Zurücktreten der Kultusministerkonferenz hätte zur Folge, daß das bleibt, was jetzt ist, nämlich daß die Dudenredaktion, also eine private Institution, das festlegt, was für das
Staatsminister Dr. Hans-Joachim Meyer
gesamte Land verbindlich ist. Das ist der entscheidende Punkt.
- Es wäre insofern gut, als Sie im Bundestag darauf dann keinen Einfluß hätten.
Aber Sie müssen sich doch einmal überlegen, was Sie tun. Sie halten es für richtig, daß eine zufällig zusammengesetzte Dudenredaktion generelle Verbindlichkeiten festlegt. Dagegen protestieren Sie nicht. Aber wenn im Ergebnis eines langen Diskussionsprozesses ein solcher Vorschlag erarbeitet wird, dann halten Sie das für einen staatlichen Eingriff. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Dann kommen wir zu den Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Ich will in Übereinstimmung mit vielen Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.-Fraktion') zur Abstimmung folgendes erklären: Der Deutsche Bundestag wird in der vorgesehenen Beschlußvorlage die Kultusminister der Länder bitten, an der Entwicklung eines Verfahrens mitzuarbeiten, in dem Fortentwicklung der Sprache behutsam nachgezeichnet und festgestellt wird, was als Konsens in der Sprachgemeinschaft gelten kann. An dieser Aufgabe sollen alle, die durch ihre beruflichen und wissenschaftlichen Bezüge der Sprache besonders verpflichtet sind, beteiligt werden. Damit macht der Bundestag auf einen kardinalen Fehler bei der bisherigen Arbeit aufmerksam, nämlich auf den Verzicht der Beteiligung der Träger deutscher Schriftkultur, von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung bis zu Schriftstellern, Journalisten und vielen anderen.
Herr Kultusminister, es ist doch nicht die Frage, ob man Thunfisch ohne „h", plazieren mit „tz" und Necessaire mit zweimal „ss" schreibt, es geht doch nicht um die Frage der Eindeutschung und Kommasetzung. Es geht um die Frage des kulturellen Verlustes der deutschen Schriftsprache im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung; das macht die große Thematik aus.
Deshalb sind Ihnen führende Germanisten aus der
Kommission davongelaufen. Der Potsdamer Germa-
*) siehe Anlage 8
nist Eisenberg sagt, er wolle sich nicht länger zum Narren halten lassen. Angesichts Ihrer Ansprache hier möchte auch ich das nicht. Wir als F.D.P.-Fraktion hätten gerne einer weitergehenden Beschlußfassung zugestimmt.
- Zur Abstimmung: Wir hätten gerne einer weitergehenden Beschlußfassung zugestimmt. - Es ist aus unserer Sicht keine Schande, wenn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sagt, die Rechtschreibreform solle so nicht mehr eingeführt werden, die Kultusministerkonferenz solle innehalten, nach einem neuen Konsens suchen und zu neuen Einsichten gelangen.
Dem schließen wir uns inhaltlich voll an.
Wir fordern Sie auf, mit Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag innezuhalten, die Reform zu überprüfen, die Träger der deutschen Schriftkultur zu beteiligen, den Schulen nicht eine Einführung zuzumuten, die so ungeordnet vonstatten geht.
Wir hegen die Erwartung, -
Herr Abgeordneter, bitte sprechen Sie zur Abstimmung.
- daß ein Innehalten nicht Ausdruck von Reformfeindlichkeit ist, sondern Ausdruck des Verantwortungsbewußtseins gegenüber der deutschen Sprachgemeinschaft. Deshalb fordern wir Sie dazu auf.
Das ist eine klare Erklärung zum Abstimmungsverhalten vieler Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.-Fraktion. So werden wir jetzt entscheiden und verbinden damit diesen politischen Wunsch.
Das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung hat die Frau Abgeordnete Dr. Liesel Hartenstein.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, Ihre Geduld ist sehr schnell am Ende. Ich werde mich deshalb bemühen, mich kurz zu fassen. Wenn man manche dieser Debattenbeiträge heute verfolgt hat, konnte man sich nur wundern. Das gilt auch, Herr Staatsminister, in bezug auf Ihren Beitrag. Ich will darauf aber nicht eingehen, weil ich etwas zur Abstimmung sagen will.
Dr. Liesel Hartenstein
Ich möchte aber vorausschicken, daß man offensichtlich zwei selbstverständliche Dinge nicht sehen bzw. nicht wahrhaben will:
Erstens. Jede Reform braucht Akzeptanz in der Gesellschaft.
Diese Rechtschreibreform hat aber nicht die nötige breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.
Zweitens. Man will auch nicht sehen, daß sich gerade an diesem Punkt die Grundsatzfrage stellt, wie man denn überhaupt mit der Sprache umgehen kann und wie nicht. Man muß einfach wissen, daß es sich nicht um ein hölzernes Instrument handelt, das man nach Belieben zurechtschnitzt, oder um etwas, das man in ein Paragraphenkorsett einschnüren könnte. Wenn man Veränderungen an der Sprache vornimmt, kann das nicht als Verwaltungsakt geschehen und darf nicht von oben her übergestülpt werden. Das wird nicht funktionieren.
Zur Abstimmung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich möchte dem Antrag auch in dieser zugegebenermaßen abgeschwächten Form zustimmen.
Mit ihm soll eine gründliche Überarbeitung und Korrektur des Regelwerkes erreicht werden; die Kultusminister werden ausdrücklich darum gebeten. Ich halte es für unerläßlich, daß dies geschieht. Das ist nämlich der Kerngehalt dieses Antrages. Damit verbunden ist der dringende Appell an den Herrn Bundesinnenminister, die neue Schreibweise doch nicht vor dieser Überarbeitung in die Amtssprache des Bundes zu übernehmen.
Ein zweiter Gesichtspunkt ist für mich wichtig: Für eine solche sprachadäquate Überarbeitung sollte ein unabhängiges Gremium eingesetzt werden, in das auch Schriftsteller, Journalisten und Pädagogen einbezogen werden.
Das ist nämlich bisher versäumt worden. Ich freue mich, Frau Ministerin Brunn, daß Sie den gleichen Gedanken zum Ausdruck gebracht haben. Ich möchte allerdings, daß diese Personengruppen, deren eigentliches Handwerkszeug ja die Sprache ist, nicht nur angehört, sondern in diese Kommission aktiv einbezogen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht einfach ums Rechthaben gehen. Dafür ist mir und vielen von uns das Thema Sprache zu wichtig. Es kann nicht darum gehen, wer im Kampf letztlich obsiegt hat. Es kann nicht nur um einen fruchtlosen Streit um Bundes- und Länderkompetenzen gehen. Deshalb bitte ich darum, daß wir uns darauf besinnen, daß die Sprache wirklich zum Urbesitz aller menschlichen Individuen gehört. Deswegen müssen wir behutsam mit ihr umgehen. Deswegen sollte sich
ein Konsens herausbilden, daß Rechtschreibung nur durch eine sorgsame Nachzeichnung des tatsächlichen Sprachgebrauchs verändert werden kann. Für den Staat ist hier Zurückhaltung geboten. Ich möchte klarstellen: Keiner von uns hat gesagt, daß wir ein Bundesgesetz oder 16 Ländergesetze bräuchten. Das muß man doch bitte zur Kenntnis nehmen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Reform ist nicht abgeschlossen. Sie wird erst beginnen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Kleinert , Norbert Geis, Reinhold Robbe und weiterer Abgeordneter zur Rechtschreibung in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 13/10183. Dazu darf ich noch sagen, daß ich eine Liste von Erklärungen zur Abstimmung der die Rechtschreibreform unterstützenden Abgeordneten habe, die ich zu Protokoll gebe.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7028 in der Ausschußfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
- Nach Ansicht des gesamten Präsidiums ist die Mehrheit eindeutig gewesen. Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Siegfried Vergin, Helga Kühn-Mengel, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Europäisches Jahr gegen Rassismus 1997 - Drucksachen 13/7711, 13/9667 -Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach Siegfried Vergin
Cern Özdemir
Cornelia Schmalz-Jacobsen Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion, der ich zu ihrer ersten Rede viel Glück wünsche.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Europäische Jahr gegen Rassimus 1997 ist vorbei. Der Antrag der SPD hierzu kommt nun endlich im Bundestag zur Sprache, ein Vierteljahr nach Ablauf des Europäischen Jahres gegen Rassismus. Das ist vielleicht beschämend spät, aber besser jetzt als nie.
Der Antrag löste, wenigstens, so hoffe ich, während er durch die Arbeitsgruppen und Ausschüsse lief, fruchtbare Diskussionen aus. An Aktualität hat er bis heute nichts verloren; denn bekanntlich ist der Kampf gegen rassistische Tendenzen und Fremdenfeindlichkeit für uns eine Daueraufgabe.
In Deutschland haben wir allen Anlaß, uns mit dem alltäglichen Rassismus in all seinen Erscheinungsformen, den subtilen und den offen ausgelebten, und vor allem mit seinen Ursachen zu befassen. Fast täglich lesen wir von Ausschreitungen gegenüber Schwarzafrikanern oder von schändlichen Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen. Noch öfter kommt es vor, daß junge Musliminnen angepöbelt werden.
Während man in manchen unserer europäischen Nachbarländer das Europäische Jahr gegen Rassismus bereits genutzt hat, um ein konkretes Signal für Fairneß und Partnerschaft zwischen den Menschen verschiedener Herkunft zu setzen, hat der zuständige Bundesinnenminister Kanther diese Chance für einen Beitrag der deutschen Bundesregierung über das Jahr 1997 hinweg praktisch verstreichen lassen.
Selbst in der Woche der ausländischen Mitbürger wurde die Gelegenheit von seiten der Bundesregierung nicht genutzt, der europäischen Menschenrechtspolitik im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Rassismus Ausdruck zu verleihen.
In Frankreich gingen führende Politiker und Politikerinnen an der Spitze von landesweiten Demonstrationen gegen Rassismus mit. In Griechenland wurde eine große Toleranzwoche auf die Beine gestellt und das Thema Einwanderung in eine Regierungsagenda aufgenommen. Dänemark führte Veranstaltungen direkt auf kommunaler Ebene durch, und in Österreich hat man auf nationaler Ebene einen zusätzlichen Haushaltstopf geschaffen, um Projekte zu ermöglichen.
In der deutschen Bundesregierung wurde hierüber I noch nicht einmal ernsthaft nachgedacht.
Die Art, mit der der zuständige Bundesinnenminister das Europäische Jahr gegen Rassismus gehandhabt hat, kann man wohl als äußerst kühl bezeichnen. Zur Ehrenrettung Deutschlands haben allerdings die klaren Worte von Bundespräsident Roman Herzog beigetragen, mit denen er am 4. März letzten Jahres das Europäische Jahr gegen Rassismus eröffnet hat. Er forderte Toleranz und den Dialog zwischen den Kulturen und traf damit die Stimmungslage vieler Menschen, die Aktivitäten gegen Rassismus ergreifen wollen.
So hat es auch in der Bundesrepublik Deutschland auf lokaler Ebene eine Fülle von Aktivitäten zum Europäischen Jahr gegen Rassismus gegeben, wenn auch nicht immer mit der gewünschten Medienpräsenz. Das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an diesem Thema kann man vielleicht nicht zuletzt daran ablesen, daß es hierzu allein im deutschsprachigen Raum 668173 Treffer im Internet gibt. Sehr bedauerlich ist, daß der Deutsche Bundestag erst im Jahre 1998 die Zeit findet, die Initiativen zum Europäischen Jahr gegen Rassismus 1997 öffentlich zu befürworten.
Aber gut, daß es die vielen Schüler- und Studentengruppen, die Vereine und Verbände gibt. Von ihnen, den NGOs, kamen, wie mein Fraktionskollege Siegfried Vergin bei anderer Gelegenheit feststellte, die spannendsten Projekte. Von der Bundesregierung kam wenig, und kosten durfte es auch nichts. Eigenmittel vom Bund für die Finanzierung von Projekten über die EU-Mittel hinaus waren nicht vorgesehen.
Natürlich ändert allein die Ausrufung eines solchen Jahres gegen Rassismus überhaupt nichts. Auch markige und einstimmig gefaßte Bundestagsbeschlüsse bewegen für sich genommen noch nichts. Dennoch sind klare Worte und Strategien gefordert. Ausschreitungen mit rassistischem Hintergrund auch in den Nachbarländern und die Zunahme der elektronisch verbreiteten rassistischen Propaganda machen deutlich, daß diese Phänome grenzüberschreitend bekämpft werden müssen. Einzelne Staaten können hier nur noch wenig ausrichten.
Mit unserem Antrag unterstützt der Bundestag die europaweite Initiative zur Bekämpfung von Rassismus, Rechtsextremismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit, eine Initiative, die den Schutz der Menschenrechte als zentralen Wert europäischer Identität betont.
Unser Antrag enthält konkrete Bitten an verschiedene gesellschaftliche Gruppen, die Initiativen gegen Rassismus zu unterstützen. Vor allem setzt sich der Deutsche Bundestag in unserem Antrag nach-
Helga Kühn-Mengel
drücklich für die Einrichtung einer Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus ein. Diese ermöglicht Datenvergleiche und die Erarbeitung spezifischer Strategien im Kampf gegen Rassismus. Nur eine solche europäische Beobachtungsstelle hat die Möglichkeit, die Entwicklung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Europäischen Union aufmerksam zu verfolgen. Sie hilft, konkrete politische Maßnahmen vorzubereiten. Diese Stelle ermöglicht erstmals, Daten verschiedener Länder Europas aufzuarbeiten und für geeignete Strategien im Kampf gegen Rassismus nutzbar zu machen.
Das alles darf aber nicht heißen, daß wir über die Ereignisse in unserem Lande hinwegsehen oder uns auf öffentlich vorgetragene Empörung beschränken, wenn wieder einmal rassistische Vorfälle die Schlagzeilen bestimmen. Diese reißerischen Berichte künden oft auch von der weitverbreiteten Irrmeinung, man brauche nur einen ordentlich funktionierenden Polizei- und Justizapparat, um rassistischer Ausschreitungen Herr zu werden. Der Ruf nach Polizei und harten Strafen ist natürlich viel bequemer als die Erforschung und Bekämpfung von Ursachen.
Wir werden aber nicht darum herumkommen, uns der Tatsache zu stellen, daß Rassismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit auch etwas mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen, mit hoher Arbeitslosigkeit, vor allem mit Jugendarbeitslosigkeit und Jugendhoffnungslosigkeit, zu tun haben. Wer sich getreten fühlt, der tritt selber auch. Wer zum Verlierer gemacht wurde, der sucht sich andere, die er seinerseits zum Verlierer stempeln kann. Wer sich ausgegrenzt sieht, der entwikkelt eine größere Bereitschaft, sich auf einfache Erklärungsmuster und entsprechende politische Konzepte einzulassen.
Auch darauf zielt unser Antrag: ins Bewußtsein zu rufen, daß die Bekämpfung des Rassismus nicht nur den direkt Betroffenen helfen soll, sondern daß er in unser aller Interesse liegt. Wir sind uns mit der Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen aus den Ländern der Europäischen Union einig, daß die kulturelle und ethnische Vielfalt in den Gesellschaften europäischer Staaten einen positiven und bereichernden Faktor darstellt.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen in der Europäischen Union begrüßt das Diskriminierungsverbot, wie es die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vorsieht. Aber es ist auch immer wieder wichtig, daß wir uns in der Öffentlichkeit mit diesem Thema befassen, das Bewußtsein für die Ursachen und Erscheinungsformen von Diskriminierung und Rassismus schärfen und uns über geeignete Gegenmaßnahmen verständigen.
Ich hätte mir eine inhaltlich weitergehende Erklärung zum Europäischen Jahr gegen Rassismus vorstellen können.
Ich hätte mir im vergangenen Jahr einen breiten politischen Diskurs über eine moderne Einwanderungspolitik gewünscht. Wir hätten im Zusammenhang mit dem Thema Bekämpfung von Rassismus auch über eine Liberalisierung des Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts diskutieren können.
Der Antrag zum Europäischen Jahr gegen Rassismus 1997 fordert unter anderem die Bundesregierung dazu auf, die Einbürgerung zu erleichtern. Um dem Antrag eine breite Zustimmung zu sichern, wurde in der vorliegenden Ausschußfassung aber darauf verzichtet, die Forderung zu den umstrittenen Bereichen der Einbürgerung näher zu konkretisieren. So enthält der Antrag in der jetzigen Fassung des Innenausschusses zum Beispiel nichts Konkretes zum Thema der doppelten Staatsbürgerschaft und zum Anspruch auf Einbürgerung von in der Union geborenen Kindern. Der Antragstext ist weitgehend auf den Kern des Menschenrechtsschutzes reduziert worden. In diesen Kernfragen sind wir uns, so hoffe ich, alle einig.
Über die Fraktionsgrenzen hinweg können wir denjenigen Unterstützung geben, die sich vor Ort für Integration und gegen rassistische Ausgrenzung engagieren. Mit einem Beschluß des Deutschen Bundestages wird zudem ein deutliches Zeichen gesetzt, daß sich die demokratischen Parteien gegen den Rechtsextremismus stellen und diesen Kampf als eine ständige Aufgabe betrachten.
Ich bitte Sie daher um Zustimmung zum Antrag.
Frau Kollegin, Sie hatten als Nachrückerin erst jetzt Gelegenheit, im Bundestag zu sprechen. Zu Ihrer ersten Rede möchte ich Ihnen nach der Sitte des Hauses herzlich gratulieren.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Erika Steinbach.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Europäischen Jahr gegen Rassismus 1997 wurde der Leitgedanke von Toleranz und mitmenschlichem Verständnis zentral in das Bewußtsein der Völker Europas gerückt. Der Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten ist ein zentraler Wert in der europäischen Identität. Rassismus darf in den Ländern der Europäischen
Erika Steinbach
Union keinen Platz erlangen. Vor diesem Hintergrund war das Jahr gedacht.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. " Mit dieser Kernaussage unseres Grundgesetzes ist der Geist der deutschen Haltung zum Europäischen Jahr gegen Rassismus vollständig beschrieben. Wir Deutsche wissen ja um die Notwendigkeit, daß Würde und Rechte des einzelnen und das friedliche Zusammenleben aller immer und immer wieder im Bewußtsein der Menschen gehalten werden müssen.
Alle Staaten der Europäischen Union haben ihre Bürger im vorigen Jahr daran erinnert, daß Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in diesem Europa nicht toleriert werden. In Deutschland wird darüber hinaus seit vielen Jahren, bevor dieses Jahr ausgerufen wurde, sehr engagiert in Informationskampagnen für einen menschlichen Umgang miteinander geworben.
Das Bewußtsein dafür ist in der breiten Öffentlichkeit mehr - so behaupte ich voller Überzeugung - als in vielen anderen Ländern sensibilisiert. Und das ist gut so.
Die Öffentlichkeitsarbeit von Bund und Ländern gemeinsam mit der Aktion „Fairständnis" - fragen wir einmal nicht nach, wie dieses Wort nach der Rechtschreibreform geschrieben würde - hat Früchte getragen. Die Zahl der ausländerfeindlichen Gewalttaten ist in Deutschland seit dem Höchststand 1992 um 70 Prozent zurückgegangen. Dazu haben unter anderem die konsequente Strafverfolgung der Gewalttäter und empfindliche Freiheitsstrafen beigetragen. Aber auch andere staatliche Maßnahmen wie der Erlaß von Vereins- und Versammlungsverboten zeigten ihre Wirkung. Potentielle Gewalttäter mußten so erkennen, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland Gewalt, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nachdrücklich ablehnt.
Darüber hinaus muß aber auch festgestellt werden, daß ohne die Änderung des Asylrechtes 1993 die Entwicklung mit Sicherheit anders verlaufen wäre.
Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber Zuwanderung war bis 1993 mehr als nur latent ein Nährboden für Fremdenfeindlichkeit. Jeder hier im Lande muß sich deshalb auch darüber im klaren sein, daß die verträgliche Ausgestaltung des Ausländer- und Asylrechtes unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches Miteinander in Deutschland ist. Eine weitere Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes - vorhin wurde ja hier darüber diskutiert - ist notwendig, um den Nährboden für fremdenfeindliches Verhalten unfruchtbar zu machen. Sie müssen das wissen.
und ohne, wie immer, den falschen Leuten die Schuld für das in die Schuhe zu schieben, was wir hier in Deutschland haben. Das sind beileibe keine paradiesischen Zustände. Das Jahr gegen Rassismus ist nämlich mit einer großen Zahl fremdenfeindlicher und rassistischer Straf- und Gewalttaten zu Ende gegangen. Wir alle wissen, daß die Dunkelziffer gerade in diesem Bereich immens ist und die offiziellen Zahlen den wirklichen Zustand nur unzureichend widerspiegeln.
In einigen Teilen des Landes, das Sie eben so gelobt haben, Frau Steinbach, werden „ausländerfreie Zonen" oder „national befreite Zonen" propagiert. Auch wenn ich diese Unwörter sehr ungern in den Mund nehme, können wir doch vor dieser Realität die Augen nicht verschließen. Die bittere Realität im Europäischen Jahr gegen Rassismus ist, daß sich Menschen, die nicht deutscher Herkunft sind, in einigen Regionen dieses Landes nicht mehr angstfrei in der Öffentlichkeit bewegen können.
Kein Zweifel, hier sind die Handelnden Neonazis und ihre Anhänger. Es wäre aber allzu billig - so billig können wir das hier nicht machen, auch Sie nicht, Frau Steinbach -, den gesellschaftlichen Zusammenhang außer acht zu lassen. Zu den Brandstiftern gehören die Biedermänner, die sogenannte Mitte der Gesellschaft, die den Tätern das Gefühl gibt, im Einklang mit den Ansichten vieler zu handeln; denn neonazistische und rassistische Gewalt richtet sich meist gegen diejenigen Menschen, die auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Hier müßte die Politik gegensteuern, hier hätte auch der Bundestag Vorbild- und Signalfunktion.
Wir hätten gerne dem ursprünglichen Antrag der SPD zugestimmt, weil er wenigstens einige konkrete Schritte in die richtige Richtung enthielt, zum Beispiel die Forderung nach doppelter Staatsbürgerschaft oder den Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Bei dem Antrag in seiner jetzigen Form werden wir uns als Bündnisgrüne aber enthalten, weil wir der Meinung sind, daß den schönen Worten auch Taten folgen müßten und die schönen Worte nicht verdekken können, daß die Regierungspolitik in dem nun
abgelaufenen Europäischen Jahr gegen Rassismus eine recht traurige Bilanz vorzuweisen hat, weil sie eben genau jene Ausgrenzung fördert, durch die die Neonazis sich in ihrer Gewalt bestätigt sehen.
Zur Bilanz dieses Jahres gehört der Visumszwang für Minderjährige. Dazu gehört eine pauschale und diskriminierende Kampagne des Innenministeriums gegen die islamische Kultur. Dazu gehört eine panische Angstkampagne, deren Anlaß einige wenige Kurden waren, die in Italien Schutz vor Verfolgung gesucht haben. Zu dieser Bilanz gehört auch der Vorschlag für eine weitere Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes - leider mit angeregt von der SPD -, mit dem Flüchtlinge jeden Anspruch auf Leistungen verlieren, ausgehungert und auf kaltem Wege vertrieben werden sollen. Eine solche Politik verschärft die bestehende Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten in der Bundesrepublik und trägt nicht zu ihrer Integration bei.
Wenn Sie wirklich etwas gegen den Rassismus in dieser Gesellschaft unternehmen wollen, dann beenden Sie endlich diese Ausgrenzung und Diskriminierung und hören Sie damit auf, Opfer zu Tätern zu machen und diejenigen zu legitimieren, die zur Selbsthilfe gegen die sogenannte Asylantenflut greifen.
Erkennen auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, endlich die Realität an, und bekennen Sie sich zu einer solidarischen Gesellschaft, zu der alle hier lebenden Menschen gehören und die selbstverständlich Asyl für Verfolgte bietet - als letztes Menschenrecht, wenn alle anderen Menschenrechte gebrochen sind, als Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus. Bekennen Sie sich dazu, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist!
Ich gebe der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Nachdem das Europäische Jahr gegen Rassismus bereits seit drei Monaten zu Ende ist, ist es an der Zeit, im Namen des Deutschen Bundestages all jenen Dank zu sagen, die mit ihren Initiativen und Projekten in den Vereinen, in den kleinen und großen Verbänden und in den Behörden eine ganze Menge auf die Beine gebracht haben. Das ist nicht selbstverständlich, und es kann nicht nur die Politik sein, die etwas tut.
Solche Jahre und solche Wochen wie die Woche der ausländischen Mitbürger haben sicher ihren Sinn. Sie hinterlassen aber auch eine Menge Zwie-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
spältigkeit. In der letzten Woche traf ich in Brandenburg einen Mann - er ist Vietnamese -, der dort seit 20 Jahren lebt und mir gesagt hat: Ich denke überhaupt nicht daran, mich an der Woche der ausländischen Mitbürger selber zu beteiligen. Das ganze Jahr über darf ich angepöbelt werden, und dann dürfen wir eine Woche lang Geige spielen. - Ich habe großes Verständnis dafür.
Ich möchte einige Dinge aus dem Antrag hervorheben. Mir scheint die Erarbeitung sinnvoller Unterrichts- und Informationsmaterialien durch die Bundeszentrale für politische Bildung besonders wichtig. Wir müssen noch sehr viel stärker an die Kinder herankommen, die zur Schule gehen. Sie sollten dort nicht nur Toleranz lernen, sondern auch die Achtung und den Respekt vor Kindern, die aus anderen Kulturen kommen, und mehr Verständnis für sie haben. Hier kann man sich noch eine Menge einfallen lassen.
Es reicht nicht, wenn wir nur an die Medien appellieren, den Zugang zu ethnischen Minderheiten stärker zu thematisieren, statt Leute nur entweder als Opfer oder als Täter zu zeigen. Diejenigen von uns, die Mitglieder in entsprechenden Gremien sind, können dazu das Nötige tun, und zwar mehr als das, was jetzt geschieht.
Ich möchte ausdrücklich begrüßen, daß die Bundesregierung inzwischen hat erkennen lassen, daß das Jahr gegen Rassismus keine Sonderveranstaltung ohne Fortsetzung ist. In der letzten Woche hat sich das Forum gegen Rassismus konstituiert. Es ist ein Nachfolgegremium des letztjährigen Koordinierungsausschusses.
Ziel muß es auch sein, daß die Arbeit der Europäischen Beobachtungsstelle in Wien bald aufgenommen wird und wir uns dort informieren. Denn dort - das ist hier schon gesagt worden - können Fakten gesammelt und sicherlich Anregungen gegeben werden. Der falscheste Weg wäre, zu sagen: Wir haben diese Beobachtungsstelle eingerichtet, und das war's dann. Das kann es nicht sein.
Die Gewaltstatistik scheint zu zeigen, daß die schlimmsten Zeiten von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland vorbei sind. Aber mir geht sehr nach - ich denke wie die Kollegin, die in der vergangenen Woche bei der kleinen Expertenanhörung im Innenausschuß dabei war -, daß - -
- Ja, es ist schade, daß doch relativ wenige Kollegen dabei waren. Das bringt einen schon sehr zum Nachdenken.
Der Organisationsgrad rechtsextremer Gruppen, sowenig strukturiert er bisher sein mag, nimmt zu. Das muß uns sehr unruhig machen. Die Netzwerke werden ja nicht nur in Hinterzimmern geknüpft, sondern Rechtsradikale rotten sich - ich sage das ganz bewußt so - im Internet zusammen. Die Bedeutung
des Internets für die Kooperation und Kommunikation der Rechtsextremen ist außerordentlich hoch. Hier scheinen die Hemmschwellen zusehends zu sinken. Immer offener und immer dreister wird agiert. Die „national befreiten Zonen", die eigentlich „national besetzte Zonen" heißen müßten, sind hier genannt worden.
Wir sollten uns nicht täuschen. Diese Entwicklung ist ebenso brisant wie rechtsextreme Gewalt oder Aufmärsche rechter Gruppen auf unseren Straßen. Über das Internet laufen längst schon Kontakte rechtsextremer Gruppierungen auf europäischer Ebene. Wir haben sicher keinen Anlaß, die Dinge über Gebühr zu dramatisieren; aber wir haben auch ganz und gar keinen Anlaß, sie herunterzuspielen.
Lassen Sie mich noch zwei Gedanken ansprechen. Wir werden morgen über das Thema der Staatsangehörigkeit reden. Die Dinge ernsthaft betrachtend, glaube ich nicht, daß die Doppelstaatsbürgerschaft oder eine erleichterte Einbürgerung oder ein Einwanderungskontrollgesetz die Fremdenfeindlichkeit in diesem Lande im Kern treffen könnten. Die Leute, die sich da zusammentun, haben eine andere Philosophie. Sie würden sich davon nicht abschrecken lassen. Ich glaube, das muß man sagen.
Das zweite ist folgendes: Wir haben auch in der Anhörung gehört, daß ein Klima der Arbeitslosigkeit, ein Klima der Sorge sicherlich geeignet ist, so etwas zu befördern. Aber der Umkehrschluß, daß die Gewalttäter vor allen Dingen unter arbeitslosen oder ausbildungslosen Jugendlichen zu suchen sind, ist schlicht falsch. Wir brauchen einen politischen Konsens, der über den heutigen Konsens hinausgeht. Wir müssen den Rechtsextremismus ernst nehmen. Wir müssen besonders darauf achten, was in den neuen Bundesländern passiert und wie dort die Gemengelage aussieht. Wir dürfen uns nicht einfach zurücklehnen und gegenseitig beruhigen.
Danke.
Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Henen! Die Bundesregierung war von Anfang an bemüht, das Europäische Jahr gegen Rassismus zu einer Farce werden zu lassen. Frau Schmalz-Jacobsen, auch Sie gehören zur Bundesregierung. Dieses Jahr begann nämlich mit der Einführung des Kindervisums, es wurde fortgesetzt mit dem Arbeitsverbot für Asylsuchende, es ging weiter mit der Verschärfung des Ausländer- und Asylverfahrensgesetzes, der Abschiebung von bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen in Chaos und Gewalt und der von der Union angezettelten Kampagne zur sogenannten Ausländerkriminalität. Der hier zur Debatte stehende Antrag spielte jedoch keine Rolle.
Ulla Jelpke
Gerade eben haben wir die Debatte um das Asylbewerberleistungsgesetz verfolgen können. Bürgerkriegsflüchtlingen, geduldeten oder illegalisierten Menschen sollen nur noch der Proviant zur Rückfahrt verbleiben. Finden Sie es nicht beschämend, jetzt einen Antrag zu verabschieden, in dem die Würde und die Rechte des einzelnen als unsere grundlegenden Werte bezeichnet werden? Die Würde des Menschen haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, erst vor wenigen Minuten mit Füßen getreten.
Sie wollen das Asylbewerberleistungsgesetz hier zweifellos durchsetzen.
In Bayern strengt beispielsweise der CSU-Politiker Gauweiler ein Volksbegehren zur Änderung der Landesverfassung an, mit dem er feststellen will: Bayern ist kein Einwanderungsland. Das entspricht vornehm umschrieben der Formulierung: Ausländer raus! Das ist mit dem Anspruch dieses Antrags, Rassismus bekämpfen zu wollen, nicht zu vereinbaren.
Dem ursprünglichen Antrag der SPD hätten wir, wenn auch mit Bauchschmerzen, zugestimmt. Den Antrag, den Sie heute vorlegen, können wir allerdings nicht mehr unterstützen. Im ursprünglichen Antrag war nämlich noch die Forderung nach der doppelten Staatsbürgerschaft und dem erweiterten Rechtsanspruch auf Einbürgerung enthalten. Jetzt finden wir nur noch die unverbindliche Aufforderung an die Bundesregierung, die Einbürgerung zu erleichtern.
Sie und ich, werte Kolleginnen und Kollegen, wissen genau, daß die Bundesregierung, daß die Koalition selber ihrer eigenen Forderung nicht nachkommen wird. Wir werden es morgen früh an dieser Stelle erleben, wenn wir erneut über die Reform der doppelten Staatsbürgerschaft und des Staatsbürgerschaftsrechts debattieren.
Hunderttausende von Migrantinnen und Migranten, die hier seit Jahren leben, warten dringend auf ein Signal der Politik. Sie wollen hören: Ihr gehört zu uns, zu dieser Gesellschaft. Das wäre ein weiterer Beitrag zur Bekämpfung von Rassismus. Doch das einzige, was diese Koalition unseren ausländischen Bürgerinnen und Bürgern vermittelt, ist, daß sie auch nach Jahrzehnten immer noch als Gäste behandelt werden, daß sie eine Bedrohung sind, daß sie Fremde bleiben.
Geradezu verhöhnend ist die Aussage in dem neuen Antrag - ich zitiere -: „Der Deutsche Bundestag begrüßt, daß die Bundesregierung in ihrem Verantwortungsbereich Ausländer beschäftigt." In der Ursprungsfassung der SPD forderte der Bundestag die Bundesregierung immerhin noch auf, den öffentlichen Dienst einschließlich BGS verstärkt für Nichtdeutsche zu öffnen.
Ich frage mich wirklich, warum Sie von der SPD eine solche Verhohnepipelung unserer im öffentlichen Dienst drastisch unterrepräsentierten Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft mitmachen. Sie wissen, daß sie hauptsächlich bei der Müllabfuhr und bei der Straßenreinigung beschäftigt sind. 1995 betrug der Anteil ausländischer Beschäftigter im gesamten öffentlichen Dienst 3,4 Prozent.
Ich meine, daß ein Antrag, der den Kampf gegen den Rassismus fordert, mehr beinhalten muß. Deswegen können wir ihm leider nicht zustimmen.
Für die Bundesregierung spricht der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte damit beginnen, daß die Bundesregierung dem Europäischen Jahr gegen Rassismus von Anfang an und das ganze Jahr hindurch einen hohen Stellenwert gegeben hat. Deutschland steht hier in besonderer historischer Verantwortung. Es hat sich dieser Verantwortung gestellt und wird dies auch künftig tun.
Nicht nur in diesem Jahr hat sich die Bundesregierung mit diesem Problem befaßt, sondern schon viele Jahre vorher, so wie Frau Kollegin Steinbach es hier eben eindrucksvoll geschildert hat. Dieser Einsatz war in den vergangenen Jahren nicht ohne Erfolg. Offensichtlich ist man hier nicht bereit, auf Fakten einzugehen. Diese Erfolge sind hier eben schon genannt und mit Prozentzahlen belegt worden. 6721 fremdenfeindlich motivierte Straftaten sind in unserem Land im Jahre 1993 begangen worden. Diese Zahl ist bis 1996 kontinuierlich auf 2232 zurückgegangen. Das ist in der Tat ein Rückgang um mehr als zwei Drittel. Man kann auch sagen: 1996 ist gegenüber dem Jahre 1993 nur noch ein Drittel dieser Fälle zu verzeichnen gewesen. Das war ein großartiger Erfolg all derer, die sich an der Bekämpfung dieser Straftaten beteiligt haben. Man braucht nicht nach Ausreden zu suchen und Vorwürfe zu erheben, sondern wir sollten uns darüber freuen, daß dieser Tatbestand festgestellt werden kann.
Schade und schwierig zugleich ist es, festzustellen, daß 1997 ein leichter Anstieg auf 2952 Fälle stattgefunden hat. Aber man bedenke, daß wir noch vier Jahre vorher 6721 Fälle hatten. Der Anstieg muß ernst genommen und darf nicht hingenommen werden. Wir fordern alle gesellschaftlichen Gruppen auf, an der Lösung dieses Problems mitzuwirken; denn es handelt sich doch um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Bundesregierung ist gefragt, selbstverständlich. Aber auch die Landesregierungen, die Kirchen, andere gesellschaftliche Gruppen und im Grunde jeder Bürger unseres Landes sind gefragt, hier mitzumachen.
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
Es ist angenehm, bei empirischen Untersuchungen feststellen zu können, daß es auch ganz erfreuliche Ansätze gibt, nach denen man durchaus auch zuversichtlich sein darf. Zum Beispiel ist durch solche Umfragen - ich nenne die Shell-Studie - bekannt, daß rechtsextremistische Gruppierungen auf größte Ablehnung bei Jugendlichen stoßen. Ober 80 Prozent der Jugendlichen geben an, solche Gruppierungen abzulehnen. Diese empirischen Untersuchungen zeigen auch regelmäßig, daß der Anteil der Jugendlichen, die sich selbst der rechtsextremistischen Szene zuordnen, bei maximal 1 bis 2 Prozent, und der Anteil derjenigen, die mit der Szene sympathisieren, deutlich unter 5 Prozent dieser Altersgruppe liegen.
Wir haben bei unseren Initiativen - von der Aufklärungskampagne der Innenminister von Bund und Ländern ist ja eben schon die Rede gewesen - auch festgestellt, daß es einen gesellschaftlich breit getragenen Konsens gegen extremistische Ideologien und Fremdenfeindlichkeit gibt.
Die wieder wachsende Gewaltkriminalität von Jugendlichen führt uns aber erneut zu der Frage nach den Ursachen und nach den Hintergründen hierfür. Die Ursachen sind vielschichtig. Sie werden in der Politik- und Sozialwissenschaft, aber auch in der Publizistik breit erörtert. Ein umfassendes, konsistentes und allgemein anerkanntes Analyse- und Erklärungsmodell liegt bislang nicht vor. Eine wichtige Rolle spielen aber sicher eine zunehmende Orientierungs- und Bindungslosigkeit, ein zunehmender Werteverlust, Medieneinflüsse und in den neuen Bundesländern sicher auch der totale gesellschaftliche Umbruch.
Die Bundesregierung hat sich selbstverständlich auch um die Erforschung der Ursachen bemüht. Auf den Bericht zu dem Forschungsprojekt „Analyse fremdenfeindlicher Straftäter" möchte ich besonders hinweisen. Darüber hinaus führt die Bundesregierung vielfältige Maßnahmen sowohl im gesetzgeberischen und administrativen als auch im Bereich der Prävention durch. Ich weise insbesondere auf die „Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit" hin, in der auf Beschluß der Bundesregierung vom 2. Dezember 1992 alle einschlägigen Maßnahmen und Planungen der Bundesregierung zusammengefaßt worden sind. Zuletzt wurde dieser Bericht im Mai 1997 aktualisiert. Auch die Maßnahmen der Bundesregierung im Bildungsbereich sind hier aufgeführt.
Nun noch einiges zum Europäischen Jahr gegen Rassismus: Hier hat sich die Bundesregierung sehr stark engagiert, anders als es die Rednerin der SPD eben zum Ausdruck gebracht hat. Mit der Umsetzung dieser Initiative in Deutschland war am 7. Oktober 1996 ein nationaler Koordinierungsausschuß beauftragt worden, dem sowohl Vertreter von Regierungsstellen als auch von Nicht-Regierungsorganisationen angehörten. Vorsitz und Geschäftsführung lagen beim BMI. Die nationale Eröffnungsveranstaltung fand am 4. März 1997 mit dem Bundespräsidenten als Hauptredner statt. Wir haben auf Initiative des BMI zum Beispiel im Rahmen dieses Jahres ein Poster mit dem Motto „Sportler gegen Rassismus -
und Du?" produziert und finanziert, um die Öffentlichkeit für diese Problematik zu sensibilisieren.
Dann haben Bund, Länder und Gemeinden - Frau Schmalz-Jacobsen hat es eben schon gesagt und dafür Dank ausgesprochen, dem ich mich anschließen möchte - und viele Nicht-Regierungsorganisationen der Geschäftsstelle im BMI eine Fülle von Projekten gemeldet und durchgeführt, die zur Zeit dokumentiert werden. Sie werden sich allesamt darüber wundern, wieviel in diesem einen Jahr in unserem Land, in Deutschland, zu diesem Thema getan worden ist: mehr als in allen anderen Ländern Europas, wage ich zu behaupten.
Dieses Europäische Jahr gegen den Rassismus ist nun aus kalendarischer Sicht beendet; doch alle Beteiligten haben sich dafür entschieden, daß der begonnene Dialog zwischen Nicht-Regierungsorganisationen und Regierungsstellen in einem Nachfolgegremium, dem Forum gegen den Rassismus, fortgeführt wird. Das Gremium hierfür ist schon am 19. März in Frankfurt konstituiert worden.
Letzte Ausführung: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine auf Deutschland beschränkten Erscheinungen. In praktisch allen Ländern der Europäischen Union, in denen in den letzten Jahren ein starker Zuzug von Ausländern stattgefunden hat, sind sie zu beobachten. Zur Zeit leben über 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland. Das spricht nicht für Fremdenfeindlichkeit.
Die damit verbundene Begegnung verschiedener Kulturen und Traditionen kann die Lebensverhältnisse der Bürger bereichern, aber auch zu Spannungen führen. Einheimische wie Zuwanderer sind aufgefordert, solche Spannungen nicht durch Mißachtung und Provokation zu verstärken, sondern durch Offenheit und Toleranz, Verständnis und Respekt abzubauen.
Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zum Europäischen Jahr gegen Rassismus, Drucksache 13/9667. Der Innenausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/7711 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltung? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen worden ist.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a und b sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
16. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim, Anke Fuchs , Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Milchmarktpolitik ab dem 1. April 2000 - Drucksache 13/9761 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Milch- und Margarinegesetzes
- Drucksache 13/9535 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- Drucksache 13/10077 - Berichterstattung:
Abgeordnete Jella Teuchner
ZP7 Erste Beratung es von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Vorschriften der Land- und Forstwirtschaft
- Drucksache 13/10187 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht ersparen kann, daß Sie sich jetzt die Bilanz von 14 Jahren Milchgarantiemengenverordnung anhören müssen und wir uns nicht auf das Nachlesen beschränken können.
Ich denke, die Bilanz ist so, daß es schon würdig ist, diese hier einmal ausführlich zu diskutieren. Nach meiner Auffassung kann man sie vielleicht am besten mit dem Satz zusammenfassen: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Zumindest kommt man zu dem Ergebnis, wenn man einmal nachliest, was für Ziele bei der Einführung so formuliert wurden. Bundesminister Ignaz Kiechle hat dazu am 29. März 1984 im Deutschen Bundestag erklärt - ich zitiere:
Mir geht es darum - das ist der Hintergrund der ganzen Politik, die ich in diesem Jahr eingeleitet habe -, z.B. die Milchmarktordnung und ihren garantierten Mindestpreis langfristig zu erhalten.
An anderer Stelle heißt es:
Ich bin lieber bereit, hinsichtlich der Menge Konzessionen zu machen als hinsichtlich des Preises.
Die SPD hat schon damals gewarnt. Der uns unvergessene Jan Oostergetelo hat in der gleichen Debatte ganz frei nach Schiller ausgeführt:
Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fort-zeugend, Böses muß gebären!
Leider behielt er recht.
- Herr Hornung, lesen Sie einmal die Reden von damals nach. Es ist eine sehr interessante Lektüre.
- Ja, ich habe Ihren Beitrag auch gelesen.
Die Garantiemengenverordnung hat mittlerweile 34 Änderungen. Sie ist dadurch nicht besser geworden. Im Gegenteil: Es sind Fehlwirkungen eingetreten, die man sich damals - zumindest, wenn man die Debatte nachliest - nicht hätte vorstellen können.
Das Einkommen der Milchviehbetriebe ist trotz Quote heute tief wie nie zuvor; an Altverpächter, die nie selbst gemolken haben, sind Quotengelder zu zahlen; die aktiven Milcherzeuger, denen als Reaktion auf fallende Milchpreise das Betriebswachstum empfohlen wurde - Herr Kollege Deß, Sie sollten an dieser Stelle ruhig einmal zuhören -, müssen die Mehrarbeit, die damit verbunden war, heute teuer bezahlen. Viele Milcherzeuger müssen von dem Milchpreis, den sie pro Liter einnehmen, 10 Pfennig und mehr für Quotenpacht und Quotenkauf ausgeben.
Das wird dann mit dem Argument gerechtfertigt - das ist mehrfach ausgeführt worden -, die Idee sei ja gut; man habe sie nur nicht richtig umgesetzt. Da muß ich Ihnen sagen: Das Gerede habe ich gelegentlich schon in der DDR gehört,
sowohl solange sie existierte als auch danach.
Die Frage, die man heute stellen muß, lautet: Ist die Mengenbegrenzung heute noch dafür geeignet, Einkommenspolitik zu machen?
- Das gilt sowohl für die aktuelle Situation bei 20 Prozent mehr Produktion als Verbrauch als auch erst
recht im Hinblick auf die Agenda 2000. Sie wissen
Dr. Gerald Thalheim
alle: Die Quotenmenge in Europa soll um weitere 2 Prozent ausgeweitet werden, und der Interventionspreis soll um 15 Prozent abgesenkt werden.
Herr Hornung, da kommen wir zum eigentlichen Kernpunkt der ganzen Debatte. Die einzige Schlußfolgerung aus dieser europäischen Agrarpolitik ist: Die Kommission hat das Ziel, mit Mengenbegrenzung Preispolitik zu machen, längst aufgegeben - ich füge hinzu: mit Recht.
- Sie hat es nie verfolgt; das ist noch schlimmer.
Erst recht in Zeiten der Globalisierung - die Osterweiterung steht vor der Tür; die nächste GATT-Runde, die vielen bilateralen Abkommen eröffnen immer mehr Zugang zu den Märkten der Europäischen Union - muß diese Politik scheitern. Die Leidtragenden sind die Milchbauern, die nicht nur mit sinkenden Milchpreisen fertigwerden müssen, sondern auch durch hohe Quotenkosten einen zusätzlichen Preis zahlen.
- Herr Hornung, es geht ja nicht um das, was im Osten ist. Ich komme darauf zurück: Die künftigen Lösungen werden da noch schlimmer.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation und der Ungleichgewichte muß es wenigstens darum gehen, die Milcherzeuger von diesen zusätzlichen Kosten und Belastungen zu befreien.
Wir haben mit unserem Antrag, der heute zur Debatte steht, wichtige Eckpunkte für eine künftige Milchpolitik vorgeschlagen.
Erstens. Den aktiven Milcherzeugern wird ab dem 1. April 2000 ein Lieferrecht in Höhe ihrer im Wirtschaftsjahr 1999/2000 abgabenfreien Anlieferungsmenge eingeräumt.
Zweitens. Die nicht genutzten Lieferrechte sollen ab diesem Zeitpunkt an die nach Landesrecht zuständige ausgebende Stelle fallen.
Drittens. Diese freiwerdenden Lieferrechte werden in einem festzulegenden Rahmen zur Saldierung verwendet.
Von diesem System würden alle Milchbauern profitieren.
Mit dieser Lieferrechtsregelung wäre eine ganze Reihe von Vorteilen verbunden.
Erstens. Es würde gelingen, die unsägliche Altpachtregelung aus der Welt zu schaffen.
Zweitens. Die aktiven Milcherzeuger würden von den erheblichen zusätzlichen Kostenbelastungen befreit, die - man höre und staune; Herr Hornung, jetzt können Sie einmal besonders zuhören -
die Bundesregierung auf eine Frage, die von mir am 17. März gestellt wurde, nicht einmal annäherungsweise beziffern konnte. Ich kann mir das nicht vorstellen: Wie will man an dieser Stelle sachliche Politik machen, wenn, wie gesagt, nicht einmal eine annäherungsweise Festlegung oder Bezifferung dieses Betrages möglich war?
Ein drittes wichtiges Argument. Unser Vorschlag würde es ermöglichen, die Lieferrechtslösung in den neuen Ländern beizubehalten. Jede Kapitalbindung, die es in den neuen Ländern gäbe, würde eine wesentliche Verschlechterung darstellen. Sie hätte negative Konsequenzen. Die Quoten würden in den Westen verkauft; die Milchviehhaltung in den neuen Ländern ginge weiter zurück, und wir bekämen eine neue Nachfolgedebatte, weil sich vermutlich die Falschen das Geld in die Tasche stecken würden. Das ist festzuhalten.
- Das werden wir ja sehen. Gehen Sie auf unseren Vorschlag ein, der wichtige Ansatzpunkte für eine ordentliche Lösung bietet.
Natürlich wird es schwierige Anpassungsprozesse geben, vor allem im Sozialbereich. Hier muß man über die Härtefälle nachdenken. Im Grundsatz bleibt natürlich eines festzuhalten - das kann man auch in den Protokollen von 1984 nachlesen -:
Die Milchgarantiemengenverordnung ist nicht als Teil der Agrarsozialgesetzgebung eingeführt worden, sondern sie sollte eine Stärkung für die Milcherzeuger sein und ihnen hohe Preise sichern. Davon sind wir weit entfernt. Ich kann Sie nur auffordern, unserem Vorschlag, dem Übergang zum Bewirtschafterprinzip , zuzustimmen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Albert Deß.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon auffällig, daß die SPD-Fraktion einen Kollegen sprechen läßt, der aus
Albert Deß
einem Gebiet kommt, in dem es weder „Sofamelker" noch Kosten für die Milchquote gibt.
Wenn heute im Deutschen Bundestag das Thema Milchquote auf der Tagesordnung steht, wissen wir, daß dieses Thema auch draußen bei den Landwirten heiß diskutiert wird. Spreche ich mit zehn Berufskollegen über die Vorschläge zur Ausgestaltung der Milchmengenregelung ab dem 1. April 2000, höre ich mindestens zehn verschiedene Vorschläge - von jedem Gesprächspartner gerade so, wie es für seinen eigenen Betrieb am günstigsten ist. Eine Lösung, die auf die Wünsche jedes Betroffenen Rücksicht nimmt, wird es nicht geben.
Wir Politiker werden unserer Verantwortung nicht gerecht, wenn wir nur auf diejenigen Rücksicht nehmen, die zur Zeit am lautesten schreien.
Wir werden unserer Verantwortung nur gerecht, wenn wir nach Abwägung aller Interessenlagen einen Weg beschreiten,
der zum einen politisch umsetzbar und rechtlich haltbar ist und zum anderen den überwiegend bäuerlich strukturierten Milchbetrieben eine Perspektive für die Zukunft bietet.
Keine Perspektive bieten Schaufensterreden und Schauanträge, die in ihren Auswirkungen nicht zu Ende gedacht sind. Der SPD-Antrag ist in diese Kategorie einzuordnen.
Er weckt Hoffnungen, die wie Seifenblasen zerplatzen werden.
Die grundsätzliche Frage ist: Soll es nach dem Auslaufen der jetzigen Milchmengenregelung weiter eine Milchmengenregelung in der EU geben oder nicht? Es gibt in der EU, aber auch unter den Bauern sehr unterschiedliche Meinungen. Landwirte, die für eine Abschaffung der Quotenregelung eintreten, begründen dies damit, daß der Milchpreis trotz Mengenbegrenzung in den Jahren 1989 bis 1996 rückläufig war. Dazu ist aber anzumerken, daß dies nicht am System der Garantiemengenregelung lag, sondern an der unvollständigen Anwendung des Systems.
Wenn die Kommission in Brüssel die laut GATT-Vertrag möglichen Exportmengen unvollständig ausschöpft, bedeutet dies Preisdruck auf den innereuropäischen Märkten.
Aber auch das Verhalten von Vertretern meines eigenen Berufsstandes hat eine Entlastung des Milchmarktes mit der Folge positiverer Milchpreise verhindert. Als Ignaz Kiechle Ende der 80er Jahre europaweit die Milchquoten gegen eine Entschädigung von 1,26 DM pro Kilogramm Milch um 2 Prozent kürzen wollte, gab es heftigste Proteste. Auf Grund dieser Proteste wurde der Vorschlag leider nicht umgesetzt.
Eine Quotenregelung kann aber nur zu steigenden Milchpreisen führen, wenn durch eine Verknappung der Produktion eine bessere Marktsituation erreicht wird. Es schadet dem Marktgeschehen auch, wenn Landwirte über ihre Quote hinaus Übermengen an die Molkereien abliefern. Die gleichen beschweren sich hinterher, weil der Milchpreis nicht hoch genug ist. Beides geht nicht: Mehr Menge und besserer Preis schließen sich aus.
Weltweit wird nur in Kanada eine Milchquotenregelung dem Marktbedarf konsequent angepaßt mit der Folge, daß dort der Milchpreis über dem EU- Milchpreis liegt. Es war natürlich auch ein jahrelanges Versagen der Brüsseler Administration, in Italien ein Unterlaufen der Milchquotenregelung zu dulden.
In der Frage, ob ab dem 1. April 2000 das Milchmengenbegrenzungssystem abgeschafft oder weitergeführt werden soll, bin ich eindeutig der Meinung, daß wir gut beraten sind, im Interesse der bäuerlichen Milcherzeuger ein Quotensystem weiterzuführen.
Eine Abschaffung der Quotenregelung hätte dramatische Auswirkungen auf viele bäuerliche Betriebe. Würde das Mengenbegrenzungssystem abgeschafft, könnte durchaus die Situation eintreten, daß Italiens Landwirte den Bedarf für den italienischen Markt zu 100 Prozent selbst erzeugen. Auf welchem Markt dann vor allem die bayerischen Übermengen untergebracht werden sollen, die jetzt über den Brenner transportiert werden, wird von den Befürwortern der Quotenabschaffung nicht beantwortet.
Auch das von Initiativgruppen befürwortete A/Boder A/C-Quotenmodell ist nicht zu Ende gedacht.
Ein solches Stufenmodell sieht auf den ersten Blick ganz attraktiv aus. Es ist aber mehr Wunschdenken, was hier den Milcherzeugern vorgeschlagen wird. Die Folge eines solchen Stufenmodells, bei dem der A-Quotenmilchpreis in der EU auf dem hohen Niveau abgesichert werden soll und die B-Quoten mit unbegrenzter Produktion zu Weltmarktpreisen verkauft werden sollen, wäre eine Ausweitung der Milchproduktion in der Europäischen Union.
Wenn hierdurch 10 Millionen Tonnen Milch mehr
produziert werden, können diese nur am Weltmarkt
abgesetzt werden. Bereits jetzt stammen von den
Albert Deß
zirka 30 Millionen Tonnen Milch, die am Weltmarkt gehandelt werden, zirka 14 Millionen Tonnen aus der Europäischen Union. Wenn weitere 10 Millionen Tonnen dazukommen würden, würde dies einen dramatischen Preisverfall bei Milchprodukten auf dem Weltmarkt verursachen, der auch dazu führen würde, daß der A-Quotenpreis in Deutschland nicht mehr gehalten werden könnte.
Ihr Vorschlag, meine Kollegen von der SPD, bietet keine Lösung; das tut mir leid. Der heutige Antrag der SPD zur Milchmarktpolitik ab dem 1. April 2000 ist eine Milchmädchenrechnung. Wer glaubt, daß man mit diesem Lieferrechtsmodell die aktiven Milcherzeuger stärken kann, hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ein solches Lieferrecht würde bei vielen Betrieben dazu führen, daß die Entscheidung über die Aufgabe der Milchviehhaltung bei einer entschädigungslosen Abgabe der Quote in einen Pool mit Sicherheit oft hinausgezögert würde - mit entsprechenden Auswirkungen auf den Strukturwandel.
Wird ein Poolsystem eingeführt, müssen diese Mengen - vorausgesetzt, es kommen überhaupt Mengen in diesen Pool - verteilt werden. Wer verteilt diese Mengen, die Politik, der Berufsstand oder die Molkereien?
Die Politik ist gut beraten, dies nicht zu übernehmen. Würde diese Aufgabe dem Bauernverband übertragen, würde ich sofort den Kreisvorsitz niederlegen, da ich auch in Zukunft in meinem Dorfwirtshaus ein Bier ohne Personenschutz trinken möchte.
Tatsache ist: Es kann keine gerechte Verteilung geben. Wird eine Milchmenge - von wem auch immer - durch einen Bescheid verteilt, kann auch dagegen geklagt werden. Eine Flut von Prozessen würde dann unsere Gerichte beschäftigen.
In Wirklichkeit würde aber in diesem Pool nur selten Milch zum Verteilen vorhanden sein. Sollte ein solches Lieferrechtssystem beschlossen werden und befaßt sich ein Landwirt dann mit dem Gedanken, seine Milchviehhaltung mit zum Beispiel 200 000 Kilogramm Lieferrecht aufzugeben, wird er mit einem Landwirt einen GbR-Vertrag abschließen und so die Milchquote am Pool vorbei übertragen.
- Herr Präsident, ich komme zum Schluß, obwohl mir der Herr Staatssekretär Hauser signalisiert hat, daß er bereit ist, mir eine Minute abzutreten.
Wir haben rechtlich keine Möglichkeiten, solche Betriebszusammenführungen zu verhindern. Ich bin der Meinung, daß das Lieferrechtssystem in der Praxis überhaupt nicht umsetzbar ist, weil es Umgehungstatbestände gibt, so daß in diesen Pool überhaupt keine Menge hineinkäme, die zu verteilen wäre.
- Das Lieferrecht funktioniert in Ostdeutschland, solange dort die 100 Prozent nicht erreicht sind. Wenn Sie nach Mecklenburg-Vorpommern gehen, dann werden Sie feststellen, daß dort Milchmengen über Verträge von einem LPG-Nachfolgebetrieb auf den anderen LPG-Nachfolgebetrieb übertragen werden, ohne daß Sie etwas dagegen machen können.
Ich bin also der Meinung, daß wir über das Jahr 2000 hinaus die Milchmengenregelung beibehalten sollten. Sie hat sich bewährt. Ich darf, Herr Präsident, noch die Milchpreise meiner Molkerei mitteilen: Wir haben im Dezember 1997 im Durchschnitt einen Milchpreis -
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
- von 71,34 Pfennig bezahlt. Das ist ein durchaus attraktiver Milchpreis, mit dem die Bauern zufrieden sind. Die Molkereien sollen sich anstrengen, daß sie für ihre Bauern einen guten Preis erreichen.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Ulrike Höfken.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wäre ja wirklich einmal interessant, zu hören, wenn alle Modelle schon nichts taugen, was denn bitte schön die Bundesregierung vorlegt.
Es gibt bis jetzt keinen einzigen konkreten Vorschlag außer irgendwelchen Absichtserklärungen, nach denen die Einkommen der Milchbauern erhöht und die aktiven Bewirtschafter gestärkt werden sollen und die Entwicklung in Richtung einer Börse gehen soll.
Aber das Was und das Wie ist beim besten Willen nicht klar. Das ist doch nun wirklich weit von einer Konkretisierung entfernt - und das zwei Jahre vor dem Auslaufen der Quotenregelung. Das muß man sich wirklich einmal vorstellen.
Trotz der bestehenden Überproduktion hat die EU- Kommission im Rahmen der Agenda 2000 vorgeschlagen - das halte ich übrigens für ein großes Problem, Herr Thalheim -, die Milchquoten global um 2 Prozent anzuheben. Für die deutschen Milchbauern wären es 1,3 Prozent. Ich habe nichts dagegen,
Ulrike Höfken
daß Junglandwirte und Bergbauern beim Verteilen der Quoten bevorzugt werden sollen, aber insgesamt hat diese Entscheidung katastrophale Auswirkungen, weil sie schlicht und ergreifend die Preise noch weiter herunterdrückt, das Überangebot erhöht und die Lagerungshallen wieder füllen wird. Das alles geht mit einer Senkung des Stützpreises um 15 Prozent einher. Ich finde, das ist eine unmögliche Entscheidung. Sie wird im Prinzip nur deswegen getroffen, weil man sich vor den politischen Entscheidungen drückt wie Sie, Herr Deß, eben auch.
Nach unserer Auffassung sollte die zukünftige Milchmarktpolitik die bisherigen Eigentumsansprüche nicht aktiver Milcherzeuger an der Quote beenden. Das ist der ganze Sinn des Poolsystems,
weil es mit keinem anderen Modell funktioniert. Alle anderen Vorschläge, auch Ihre Börse, behalten die Eigentumsbindung und die Kapitalansprüche bei. Dann haben Sie über kurz oder lang genau das gleiche „Sofamelkerproblem" wie bisher.
Schon heute wirken sich die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen in Ost und West negativ auf die Kostenstruktur aus.
Wenn der Euro eingeführt wird und die Regierungen europaweit noch stärker in Konkurrenz stehen, ist eine Kostenbelastung der Milcherzeugung in Deutschland durch Quoten, Leasing oder Handel überhaupt nicht mehr hinzunehmen.
Ziel von Bündnis 90/Die Grünen ist, die Nutzung der Milchquoten ausschließlich den aktiven Bewirtschaftern zu ermöglichen, wie es auch die SPD möchte,
die Hofnachfolge bei einem Generationenwechsel problemlos zu ermöglichen und die regionale Bindung der Milchproduktion aufrechtzuerhalten. Hierzu gibt es einen Punkt im SPD-Antrag, der mich doch etwas irritiert. Sie sagen ganz einfach: Den Regionen soll ermöglicht werden, eine regionale Bindung einzuführen. Das ist für mich aber ein grundsätzlicher Unterschied zu der Aussage, daß diese regionale Bindung so gestaltet werden soll, daß die heutige Bewirtschaftung des Grünlandes auch tatsächlich gesichert ist.
Man kann sich darüber auseinandersetzen, ob das in Form von Molkereiquoten, wie es früher einmal diskutiert wurde, oder ähnlichem geschieht.
Die neuesten anderen Punkte, die Sie, Herr Thalheim, vorgeschlagen haben, unterstützen wir.
Es gibt allerdings noch einen Punkt,
der für uns wichtig ist: die Anpassung der Milchmenge an den Verbrauch in Europa. Wir sind schon der Auffassung, daß die Milchmenge in Europa bei Beibehaltung der nationalen Mengenverteilung an den tatsächlichen Verbrauch in der EU angepaßt werden sollte. Dieser Punkt kommt im SPD-Antrag nicht vor. Eine Kürzung und nicht eine Erhöhung der Milchmenge muß das Ziel sein. Und bei einer solchen Kürzung und der Umverteilung, die damit verbunden ist, müssen nach unserer Auffassung Betriebe unter einer Referenzmenge von 150 000 kg ohne Abzug bleiben. In den neuen Bundesländern sind die vorläufig zugeteilten Referenzmengen aufrechtzuerhalten und ein unrechtmäßiger Verkauf oder Handel durch wirksame Kontrollen zu verhindere.
Ich möchte noch ein paar Sätze zu dem Punkt verlieren, der heute hier wohl auch aufgerufen ist, nämlich die Anpassung steuerlicher Vorschriften in der Landwirtschaft. Ich finde die Anhebung der Vorsteuerpauschale, diese Zelebrierung, die die Bundesregierung damit betreibt, nicht in Ordnung.
Helmut Kohl stellt sich beim Jubiläum des Deutschen Bauernverbandes hinter das Rednerpult und erklärt den Bauern, die Vorsteuerpauschale werde angepaßt.
Ich finde es eine Frechheit, daß diese Anpassung an die Erhöhung der Mehrwertsteuer als politische Leistung verkauft wird.
Mit der Änderung der Vieheinheitenstaffel macht die Bundesregierung einen Schritt in die genau falsche Richtung, indem sie nämlich die Intensivierung der Produktion und einen hohen Tierbesatz steuerlich belohnt, statt genau das Gegenteil zu tun, nämlich die Leistungen für mehr Tierschutz und geringere Bestandsdichten finanziell zu begünstigen.
- Sie können gern eine Zwischenfrage stellen. Dann kann ich Ihnen antworten. Aber so geht das nicht.
Angesichts des hohen Mißtrauens in der Bevölkerung und der Abwendung der Bevölkerung vom Fleischverbrauch finden wir das natürlich einen Schritt in genau die falsche Richtung, eine Intensivierung statt einer Qualitätsproduktion zu unterstützen. Es ist dann kein Wunder - das sage ich Ihnen als Agrarpolitikerin; da werden Sie sich noch umgucken -, daß die Forde-
Ulrike Höfken
rungen nach der Abschaffung steuerlicher Sonderbegünstigungen für die Landwirtschaft immer lauter werden. Was die Bauern brauchen, sind nicht undurchsichtige Steuerbegünstigungen, sondern eine bessere Agrarpolitik. Die Änderung der Vieheinheitenstaffel lehnen wir ab.
Danke.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Günther Bredehorn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal, diesmal auf Grund des vorliegenden SPD-Antrags, diskutieren wir über die Zukunft des EU-Milchmarktes. Eines möchte ich vorweg sagen: Die Vorschläge der SPD zur Milchmarktpolitik ab dem 1. April 2000 sind zur Problemlösung in sich ungeeignet. Ich muß das so deutlich sagen. Das bedeutet in diesem Sektor nämlich noch mehr Planwirtschaft - nach all den negativen Erfahrungen, die wir damit haben. Und insbesondere der vorgesehene Lieferrechtspool, den Sie vorschlagen, wirft neue Fragen auf. Wer soll die Lieferrechte verteilen? Nach welchen Kriterien wollen Sie diese Lieferrechte verteilen?
- Wir haben sehr viel Phantasie; das sage ich Ihnen gleich noch.
Es wird dann immer noch so dargestellt - für die Landwirte, die dort wirklich unter Druck und in Not sind -, das könne, wenn man ein solches System machte, alles kostenlos gehen. Ich sage hier nochmals für uns alle - nicht nur für die SPD - eines: Solange wir eine solche Regelung haben, ob das Lief er-recht oder Quotenregelung heißt, wird dieses Lief er-recht oder diese Quote einen Wert haben, und der wird sich auch irgendwo auf dem Markt bilden. Da können Sie machen, was Sie wollen. Dann müssen Sie konsequent sein und die Sache auslaufen lassen. Dann hat sie natürlich keinen Wert mehr.
Es ist richtig und notwendig - deswegen ist der SPD-Antrag durchaus positiv zu sehen -, daß wir jetzt über die Neugestaltung der Milchgarantiemengenregelung ab dem 1. April 2000 diskutieren. Unsere Landwirte, unsere Milcherzeuger und die Milchwirtschaft brauchen rechtzeitig Klarheit und Sicherheit über den künftigen Milchmarkt. Sie brauchen Sicherheit für ihre Planungen, betrieblichen Entscheidungen und Investitionen.
Die Bilanz der bisherigen Garantiemengenregelung gibt ja nun leider wenig Anlaß zum Jubeln. Nach wie vor haben wir - das ist hier erwähnt worden - erhebliche strukturelle Überschüsse von rund 20 Prozent. Diese Mengen sind nur mit Exporterstattungen auf dem Weltmarkt oder Beihilfen auf dem EU-Binnenmarkt unterzubringen. Mit Marktwirtschaft hat das alles wenig zu tun.
Die aktuellen Milcherzeugerpreise liegen rund 20 Prozent unter denen des Jahres 1989. Obwohl wir zur Zeit ja erfreulicherweise - der Kollege Deß hat es gesagt - wieder im Aufwärtstrend sind, muß man ganz klar sagen: Die Philosophie, die hier seinerzeit verkündet worden ist - Mengen herunter, Preise herauf -, hat sich ja nun endgültig
als nicht machbar erwiesen. Wir sollten auch weiterhin diesen Eindruck hier nicht zu erwecken versuchen.
Positiv muß man sicher anmerken, daß es heute keine Butterberge und Milchseen mehr gibt. Trotzdem verursacht die EU-Milchmarktpolitik nach wie vor erhebliche Kosten. Mit großer Sorge sehe ich insbesondere, daß sich gerade in der Bundesrepublik im letzten Jahrzehnt die Struktur der Milcherzeugerbetriebe gegenüber unseren Mitkonkurrenten eher verschlechtert hat. Das betrifft gerade auch die Struktur unserer Molkereiwirtschaft. Auch hier gibt es noch einiges zu tun. Auch hier ist die Politik gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Am gravierendsten ist natürlich: Ein erheblicher Teil der Quoten ist inzwischen nicht mehr in der Hand von Landwirten, die selber melken.
Die aktiven Milcherzeuger und hier insbesondere die jungen, gut ausgebildeten, tüchtigen Landwirte, die sich eine Existenz aufbauen und ihren Betrieb entwickeln wollen, müssen immer mehr für den Zukauf oder die Zupacht von Quoten zahlen, um ihre Betriebe fortentwickeln zu können. Ich meine, dies darf sich so nicht fortsetzen. Wir müssen einfach auch einmal sehen, für wen wir unsere Agrarpolitik machen. Für die Quotenbesitzer oder für aktiv melkende Landwirte?
Wir brauchen also möglichst bald einen klaren Grundsatzbeschluß zur Neuregelung des Milchmarktes ab dem 1. April 2000. Die F.D.P. hat bereits im Mai 1996 ihre Vorschläge zur Fortentwicklung der Milchgarantiemengenregelung vorgelegt, die auch noch heute gültig und aktuell sind.
Man muß ja deutlich sehen, daß sich im Grundsatz sowohl der Deutsche Bauernverband als auch das BML und andere unserem Modell angeschlossen haben.
Ich darf das hier noch einmal erläutern: Kernpunkt ist ein Bewirtschafterbörsenmodell. Ich sage hier
Günther Bredehorn
ganz klar: Mit der F.D.P. ist eine abrupte Beendigung des Garantiemengensystems nicht zu machen. Wir müssen nämlich sehen, daß sich viele Betriebe im Vertrauen auf diese Politik auf diese Regelung verlassen und investiert haben. Die würden eine solche kurzfristige, abrupte Abschaffung wirtschaftlich schwer oder nicht überstehen. Wir wollen aber eine marktwirtschaftliche Weiterentwicklung der Milchgarantiemengenregelung. Unser Ziel ist die Flexibilisierung, Deregulierung und Liberalisierung des Milchmarktes.
Nun komme ich zu unseren Vorschlägen:
Erstens. Ab dem 1. April 2000 wird ein Lieferrecht eingeführt. Jeder melkende Betrieb erhält ein Lieferrecht, das der Quote in den alten Ländern - bzw. dem Lieferrecht in den neuen Ländern - entspricht, über die der Betrieb am 31. März 2000 verfügt hat. Das betrifft sowohl die selbst ermolkene Quote wie auch die Pachtquote.
Die Zuweisung der Milchquote an den Bewirtschafter erfordert allerdings für die bisherigen Pachtquoten eine Entschädigungsregelung zugunsten der ehemaligen Quoteninhaber. Da behauptet der Deutsche Bauernverband etwas anderes. Ich kann das ja verstehen, wenn man sich draußen einer emotionalen Diskussion mit den Berufskollegen stellen muß. Aber es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, hier auch zu sagen - das ist eben der Vertrauensschutz, der sich dort gebildet hat -, daß wir das nicht ohne eine gewisse Entschädigung tun können. Damit werden wir juristisch nicht durchkommen. So ehrlich muß man dann auch sein.
Zweitens. Die Flächenbindung der Quote wird aufgehoben. Da können wir unseren Minister Jochen Borchert nur unterstützen - wir tun das -, damit das in Brüssel dann auch durchgesetzt wird.
Drittens. Die Lieferrechte sind frei handelbar. Sie können jedoch nicht verpachtet werden.
Viertens. Der Handel von Lieferrechten erfolgt über eine Milchbörse, die mehr Markttransparenz schafft und auch preisdämpfend wirkt, zumindest wenn man es denn will und diese Milchbörse bundesweit installiert.
Fünftens. Lieferrechte, die nicht mehr beliefert werden, müssen über die Börse verkauft werden - also Verkaufsgebot.
Herr Kollege Bredehorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Höfken?
Ja, wenn es nicht von meiner Redezeit abgeht. Bitte.
Nein, das kommt ja noch zu Ihrer Redezeit hinzu. - Ich kann mir folgende Frage nicht verkneifen: Was tun Sie denn, wenn Sie erstens feststellen, daß der Quotenpreis nach oben steigt - Sie gehen ja davon aus, daß mit einem solchen Börsenmodell der Quotenpreis nach unten geht -, sich also in die andere Richtung entwickelt? Was machen Sie zweitens, wenn Sie feststellen, daß die Grünlandregionen nun überhaupt nicht mehr bewirtschaftet werden und daß die Milchviehhaltung von dort weggeht in Gunstlagen? Das dritte: Warum eigentlich ist ein Börsenmodell so viel weniger verwaltungsaufwendig als ein Pool? Flurbereinigungsverfahren, die viel komplizierter und komplexer sind als ein solcher Pool, wie er beispielsweise vom DLV vorgeschlagen wurde, funktionieren doch auch. Was ist nun eigentlich das Argument dagegen?
Genau: Das hat nichts miteinander zu tun. Ich habe das zu Anfang schon gesagt: Wer will beim Pool verteilen? Die Molkerei, der Berufsverband, der Staat? Nach welchen Kriterien will man verteilen? Ich erinnere mich an einen Vorschlag, der seinerzeit im Land Niedersachsen verwirklicht worden ist. Da hat das Ministerium nämlich erklärt: Allen „Landwirten", die unter 60000 Kilo Quote haben, teilen wir jetzt ein paar tausend Liter zu. Dann kann es sein, daß der Landwirtschaftsminister in Sachsen-Anhalt sagt: Alle, die unter 300 000 Kilo Quote haben, bekommen nichts, sondern nur die, die darüber liegen. Nach welchen Kriterien also soll verfahren werden? Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Dies will ich nicht, dies wollen wir nicht.
Denn es ist falsch - leider glauben und behaupten das noch immer einige Politiker; auch das ist noch eine Antwort auf Ihre Frage -, daß mit Hilfe der Garantiemengenregelung regionalpolitische, sozialpolitische, strukturpolitische - -
Herr Kollege Bredehorn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Gerne.
Herr Kollege Bredehorn, gehe ich richtig in der Annahme, daß das Börsenmodell durchaus eine regionale Steuerung ermöglicht? Es muß nicht zwangsläufig eine Bundesbörse sein, sondern es können auch Länderbörsen - oder wie auch immer strukturiert - eingerichtet werden, um der Entwicklung, die Kollegin Höfken hier angesprochen hat, nämlich einem Leerlaufen der Quoten in den Grünlandgebieten, entgegenzuwirken.
Schönen Dank, Herr Kollege, für die Zwischenfrage. Es ist ohne weiteres möglich, daß wir die Börsen regional einrichten.
- Da sind wir uns völlig einig.
- Nein, Herr Kollege Thalheim, hier müssen wir schon fair miteinander umgehen. Sie wissen, daß wir die Handelbarkeit bereits jetzt regional begrenzt haben und daß die regional begrenzte Handelbarkeit dazu geführt hat, daß aus den schwierigen Standorten keine Quoten abfließen, sondern wir die Milchproduktion an schwierigen Standorten in Bayern und in anderen Regionen gesichert haben. Wer dann behauptet, bei einer regional begrenzten Handelbarkeit gebe es in den neuen Bundesländern einen Ausverkauf der Quoten, schürt Ängste, für die es keine Begründung gibt.
Meine Damen und Herren, ich habe bereits gesagt, daß das, was die Kommission vorgeschlagen hat, ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung ist. Er reicht aber bei weitem nicht aus. Deshalb werden wir unsere Forderung weiter mit allem Nachdruck verfolgen. Wir brauchen Vorschläge, die für unsere Bauern akzeptabel sind. Wir wollen, daß unsere Bäuerinnen und Bauern in der Lage sind, ein ausreichendes Einkommen über den Markt zu erwirtschaften. Wir wollen aber mit der regionalen Handelbarkeit gleichzeitig erreichen, daß eine flächendeckende Landbewirtschaftung aufrechterhalten wird. Wir brauchen in Deutschland eine Landwirtschaft, eine Milchwirtschaft, die unternehmerisch, leistungsfähig und umweltverträglich wirtschaftet. Dafür werden wir in Brüssel weiter kämpfen.
Der Vorschlag der SPD, den Herr Thalheim heute vorgetragen hat, ist völlig unakzeptabel. Dieses System von Lieferrechten mit einem Pool ist nicht praktikabel. Die Produzenten sollen ein Lieferrecht erhalten, das weder verkauft noch verpachtet oder
verleast werden kann. Bei Aufgabe der Produktion sollen die Rechte in den Pool zurückfließen.
Für mich verblüffend - das ist neu an dem Vorschlag, aber eigentlich eine weitere Verschlechterung dieses Modells - sollen die Mengen im Pool zur Saldierung der Überlieferungen dienen. Damit liefern Sie die produzierenden Betriebe einem Lotteriespiel aus. Die Betriebe wissen nie, wieviel sie zusätzlich produzieren können.
Sie können mehr produzieren, sind aber darauf angewiesen, welche Mengen im Pool zur Saldierung zur Verfügung stehen.
Wenn Sie dann weiter sagen: Darüber hinausgehende Quoten sollen an Junglandwirte verteilt werden, ist dies eine Luftnummer. Hier werden Quoten versprochen, die schon bei der Saldierung nicht mehr ausreichen, die nicht vorhanden sind.
Herr Thalheim, Sie verweisen auf Erfahrungen in anderen Mitgliedstaaten. Wir haben Erfahrungen in Wallonien in Belgien gesammelt. Dort standen den Betrieben im Jahre 1996 pro Betrieb 3130 Kilogramm aus dem Pool zur Verfügung. Diese Menge reicht nicht einmal aus, um damit eine halbe Durchschnittskuh einzustallen.
Das heißt, Sie müßten eine Kuh einstallen, für die Sie eine Hälfte aus dem Pool bekommen. Die andere Hälfte der Kuh müßten Sie stillegen.
Dies ist sicher keine Perspektive.
Ich behaupte darüber hinaus, Herr Thalheim: Sie bekommen überhaupt keine Quote in den Pool. Unterschätzen Sie doch nicht die Cleverneß der Bauern. Ein Landwirt weiß, daß er dann, wenn er die Produktion aufgibt, keine Quote bekommt. Er weiß, daß im Nachbardorf ein Bauer ist, der seinen Betrieb aufstocken möchte, der aber nicht weiß, was er aus dem Pool bekommt. Also werden die beiden eine GbR bilden. Das, was er bisher an Pacht gezahlt hat, zahlt er in Form von Anteilen an die GbR. Ihr Vorschlag ist also eine Luftnummer. Dadurch gibt es keine Verbesserung der melkenden Betriebe.
Herr Thalheim, darüber hinaus habe ich den Eindruck gehabt, daß der erste Teil Ihrer Rede entweder zu einem anderen Zeitpunkt oder von einem anderen Redenschreiber geschrieben worden ist als der zweite Teil. Im ersten Teil haben Sie kritisiert, daß die Mengensteuerung, die Mengenbegrenzung im Zeitalter der Globalisierung versagt. Dann aber haben Sie mit dem Lieferrecht wiederum eine Mengenbegrenzung vorgeschlagen - im Zeitalter der Globalisierung.
Bundesminister Jochen Borchert
Auch das Lieferrecht ist eine Mengenbegrenzung. Sie müssen offen sagen, daß Sie die Quote ab dem Jahre 2006 aufgeben wollen. Sie müssen sagen, zu welchen Bedingungen Betriebe dann in Europa und in Deutschland produzieren können.
Das wäre das Ende der Milchproduktion an benachteiligten Standorten. Das wäre das Ende der Erhaltung der Kulturlandschaft an den benachteiligten Standorten. Wir werden alles tun, um zu verhindern, daß ein solches Modell Wirklichkeit wird.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Matthias Weisheit.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Merkwürdigerweise sind wir uns ja manchmal einig, auch wenn das hier heute abend nicht so deutlich wird. Es gibt nur einen Punkt, für den das nicht gilt: Wenn Sie das Wort vom Bewirtschaftermodell in den Mund nehmen und gleichzeitig das Kapital aus dem Modell nicht herausnehmen, dann ist das Wort Bewirtschaftermodell eine Mogelpackung; davon zu sprechen ist verlogen.
Nichts anderes ist es. Dann muß man konsequent sein.
Wenn Sie unseren Antrag richtig gelesen hätten, Herr Minister, dann würden Sie wissen, daß als dritter Punkt angeführt wird, daß die Quote noch übergangsweise bis zum Jahre 2006 und keinen Tag länger Bestand haben kann. Das steht da drin. Darin sind wir uns ja einig.
Eigentlich hatte ich vor, heute abend noch etwas ganz anderes zu sagen. Die Grünlandregion, aus der ich komme - dazu gehört natürlich auch ein großer Teil von Bayern -, ist seit 500 Jahren eine sehr ruhige Region. Vor knapp 500 Jahren gab es dort einmal einen ordentlichen Aufstand. Die Bäuerinnen und die Bauern dort hatten sich nämlich von ihrer Obrigkeit ziemlich hinters Licht geführt gefühlt. Sie litten unter höheren Abgaben, immer niedrigeren Einkommen, Verarmung, und sie wurden, wie wir heute sagen würden, in ihrer Menschenwürde nicht ernst genommen. Das war der Grund für den Aufstand dort im Allgäu, in Baltringen, am Bodensee, überall.
Wenn Sie in den letzten Monaten die Zeitungen richtig gelesen haben, dann haben Sie feststellen können, daß unter den Bauern in der Region dort, in Oberschwaben, im bayerischen Allgäu, überall der Teufel los ist, und zwar ganz ordentlich. Außerdem haben Sie feststellen können, daß der Zorn auf die Obrigkeit - dieses Mal ist es die Bundesregierung und die Koalition - ganz gewaltig ist. Gewaltig ist auch der Zorn auf den Deutschen Bauernverband. Plötzlich sind dort Veranstaltungen mit vielen hundert Leuten voll besucht, auf denen diejenigen Leute Beifall bekommen, die sagen, daß die ganze Landwirtschaftspolitik der Bundesregierung gescheitert ist. Sie sei vergeblich und schlecht gewesen.
In Wangen im Allgäu im Kreisbauernverband - man muß sich das einmal vorstellen - sind kreuzbrave Bauern, die normalerweise immer schön anständig schwarz gewählt haben,
hergegangen, haben in einem Antrag mit Mehrheit gefordert, daß dem Ehrenpräsidenten des Deutschen Bauernverbandes die Würde seines Amtes aberkannt werden muß, weil er die Milchbauern dort verraten habe. Das sind die Vorgänge, die dort zur Zeit stattfinden. Bekommen Sie das gar nicht mit?
Wir haben es hier nicht mit Brüssel zu tun.
Der springende Punkt ist ganz einfach folgender: Diese vor allen Dingen relativ jungen und gut ausgebildeten Bauern haben alles das gemacht, was ihnen Politiker, Agrarwissenschaftler und Betriebswirtschaftler in den letzten Jahren erzählt haben. Diese Ratschläge haben sie brav und fleißig befolgt. Sie haben von ihren Eltern die Betriebe übernommen und haben sie auf die doppelte Größe aufgestockt. Dazu mußten sie eine Quote kaufen. Anstatt 25 waren inzwischen 50 Kühe in den Ställen. Diese Bauern stehen jetzt bei fallenden Preisen und bei ständig steigenden Betriebskosten mit dem Rücken an der Wand. Sie haben im Prinzip keine Überlebenschance mehr, wenn es so weitergeht und die Quote nicht entkapitalisiert wird. Es handelt sich um die eigentlich guten Betriebe, die auch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären. Diese eigentlich guten Betriebe gehen durch diese Kapitalisierung der Quote über den Jordan.
Das ist eine Entwicklung, die wir stoppen müssen.
Genau das ist der Punkt: Die Betriebe, die nichts getan haben, die wenig investiert haben, die keine neuen Ställe gebaut haben, die weiterhin ihre 20 Kühe haben, können mit dieser Situation leben. Aber diejenigen, die in den letzten Jahren ihre Betriebe ausgebaut und die Größe erreicht haben, die sie angeblich haben sollten, die wirklich konkurrenzfähig produzieren können, mit ihrer Arbeitskraft aber an einer Grenze angelangt sind, wo eine weitere Aufstockung nichts mehr bringt, sind über die Quotenkosten inzwischen an einen Punkt gekommen, mit dem sie rechnerisch belegen können, daß sie von der Substanz leben und nicht mehr von ihrem Einkommen.
Deswegen müssen die Kapitalkosten aus der Quote herausgenommen werden. Es ist doch Unfug,
Matthias Weisheit
wenn jemand, der aufstocken will, zwischen 10 und 20 Prozent allein für Quotenkosten ausgeben muß.
- Das würdest du nicht machen; das ist wunderschön. Du kannst diesen Stall mit 50 Milchkühen, den du hast, und den Fortschritt, den du durch die Zucht besitzt, nicht erlangen, wenn du die Quote im Gegenzug nicht bekommst. Dann hast du deinen Stall umsonst gebaut. So einfach ist das.
Diejenigen, die gefolgt und eigentlich die zukunftsfähigen Betriebe sind, stehen jetzt mit dem Rücken an der Wand. Die Kapitalkosten müssen aus der Quote heraus. Das ist überhaupt keine Frage. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann glauben Sie es doch der Landwirtschaftsministerin von Baden-Württemberg. Sie steht Ihnen doch politisch sehr nahe. Sie fordert genau dasselbe: keine Handelbarkeit von Quoten mehr. Sie will kein Modell mit Poolen. Sie will es bei den Molkereien angesiedelt haben. Darüber kann man diskutieren. Es ist völlig gleichgültig, ob das einen Pool ergibt oder ob das bei der Molkerei angesiedelt ist. Entscheidend ist, daß die Kapitalkosten aus der Quote herauskommen. Das ist einzig und allem entscheidend und nichts anderes.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eine letzte Bemerkung machen.
- Daß die Kapitalkosten aus der Quote herauskommen und um nichts anderes.
- Wieso denn? Die Kapitalkosten müssen aus der Quote heraus. So wie die Leute ihre Quote ohne jegliche Kosten bekommen haben, so haben sie sie auch wieder abzugeben. Genau das ist der Punkt.
- Das hat mit Sozialismus nichts zu tun. Hör doch auf!
Jetzt will ich Ihnen noch eine Konsequenz klarmachen. Das Modell mit zwei Milchquoten oder zwei Arten innerhalb der Bundesrepublik läßt sich über das Jahr 2000 nicht fortführen. Das haben wir gerade eben gehört. Das heißt, in den neuen Ländern bekommen die Betriebe, die vor ein paar Jahren Millionen an Kontingenten kostenlos zugeteilt bekommen haben, plötzlich in dieser Höhe Kapitalwerte. Ich weiß gar nicht, wie das mit eurer sonstigen Politik zusammenpaßt. Das geht doch überhaupt nicht. Sie bekommen Millionen an Kapitalwerten zugeschustert. Wenn das kommt, dann weiß ich eins: Dann brennt es ganz anständig im Allgäu, und der nächste Bauernkrieg steht vor der Tür.
Ich gebe dem Abgeordneten Norbert Schindler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weisheit, was uns guttut und auch in Süddeutschland verbindet - wir haben vorhin über die Rechtschreibung und die deutsche Sprache geredet -, ist, daß wir in diesem Parlament die deutsche Sprache in ihrer Unterschiedlichkeit gerne pflegen.
- Jawohl. - Deswegen aus der süddeutschen Empfindlichkeit heraus ein Wort zur Milch, obwohl ich bei diesem Tagesordnungspunkt zur Steuerfrage rede.
Wenn der Teufel in Baden-Württemberg regiert - das ist eine Feststellung - -
- Jawohl, und der ist gut. - Wenn wir aber in dem Bezug in einer Rede Entkapitalisierung dreimal wiederholen und nicht sagen, wie wir das machen, dann besitzen wir nur Schlagworte.
Ich bin Vertreter regionalen Bezugs von Lieferrechten und Quoten. Wenn wir es sozialpolitisch sehen, dann haben die Altquotenbesitzer in Deutschland ein Besitzstandsrecht auch vom Gericht zugesprochen bekommen. Dies ist in Zukunft nicht zu Höchstpreisen zu finanzieren, aber wir müssen im ländlichen Raum einen Mittelweg mit viel Vernunft fahren. In dieser Verantwortung stehen wir alle. Dies gilt nicht nur für den „Sofamelker" - für ihn weniger -, sondern vor allem für den Zukunftsbetrieb. Deswegen ist es vielleicht ein bißchen wenig, dies nur dreimal zu wiederholen.
Wir haben heute unter anderem den Gesetzentwurf zur Anpassung der steuerlichen Vorschriften der Land- und Forstwirtschaft zu beraten. Die Anpassung der Vieheinheitenstaffel zur Abgrenzung der Landwirtschaft vom Gewerbe im Bereich der Tierhaltung ist der erste Teil. Dies ist ein vernünftiger Weg. Hier müssen wir unbedingt auch im steuerlichen Bereich für die Strukturentwicklung in der Landwirtschaft eine Antwort geben. Dazu müssen wir § 13 des Einkommensteuergesetzes und § 51 des Bewertungsgesetzes anpassen bzw. ändern.
Der zweite Fall - hier wird seitens der Opposition Zustimmung signalisiert, wenn ich das richtig verstanden habe - ist die Durchschnittssatzanpassung der Vorsteuerpauschale von 9,5 auf 10 Prozent für landwirtschaftliche Erzeugnisse und die Anhebung von 5 auf 6 Prozent für forstwirtschaftliche Erzeugnisse.
Norbert Schindler
- Dieses Lob nehme ich nicht allein an; wir sind alle dabeigewesen. Wir haben aber auch lange genug dafür gekämpft.
- Es wäre gut, wenn sich auch die Abgeordneten der eigenen Fraktion mit undisziplinierten Zwischenrufen zurückhalten würden.
Bei der Anhebung der Vorsteuerpauschale geht es natürlich um Gerechtigkeit in der Forstwirtschaft und in der Landwirtschaft insgesamt. Daß wir hier keine Neiddiskussion führen, dafür bin ich allen Kolleginnen und Kollegen im Parlament dankbar. Daß wir auch die Pauschalregelung so behalten, begrüßt der gesamte Berufsstand. Ich betone ausdrücklich: der gesamte Berufsstand. Es dient der steuerlichen Vereinfachung.
Ich mache hier gerne noch einmal ein Rechenbeispiel auf. Bei 300 000 DM Umsatzerlös in einem mittleren landwirtschaftlichen Betrieb sind 9,5 Prozent - nach der derzeitigen Pauschalregelung - 28 500 DM. Ab dem 1. April 1998 muß der Betrieb beim Einkauf im Durchschnitt Kosten von 232 000 DM inklusive 16 Prozent zu zahlender Umsatzsteuer - das sind etwa 37 000 DM - berappen. Dies ist ein Unterschied von 28 500 DM zu 37 000 DM. Wir wollen hierbei - so wie bei diesem Beispiel ist es sehr oft in der Republik zu sehen - eine Angleichung der Differenzen.
Daß wir trotzdem nicht in die Optierung gehen, wie das manchmal gern vom Bundesrechnungshof vorgerechnet und gefordert wird, liegt daran, daß man bei diesem Beispiel den Vorteil von 2000 DM Steuern in der Gegenrechnung bei der Optierung nicht in Anspruch nimmt, weil man diesen Mehrertrag bei weniger zu zahlender Umsatzsteuer dem Steuerberater als Gebühren zahlen müßte. Herr Minister Borchert hat in den letzten Tagen noch einmal deutlich gemacht, daß bei der Veröffentlichung der markroökonomischen Daten unsere berechtigten Forderungen auch belegt sind.
Nebenbei müßte bei den forstwirtschaftlichen Umsätzen die Vorsteuerpauschale fairerweise nicht nur auf 6 Prozent, sondern auf 7 Prozent angehoben werden. Aber das ist leider auch in den eigenen Fraktionen der Koalition nicht durchsetzbar.
Trotzdem bin ich insgesamt dankbar - das sage ich auch für die Klientel -, daß wir auf diesem Weg sind. Ich sage auch ein Dankeschön, wenn die Opposition
- wie heute angedeutet - dafür sorgt, daß dies auch im Bundesrat ohne großes Wenn und Aber durchgeht. Dann haben wir schnell ein Gesetz verabschiedet, mit dem wir Gerechtigkeit in der Landwirtschaft und der Forstwirtschaft in diesem Staat erhalten.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Kurt Palis.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Hornung, Gratulation dem Herrn Bundeskanzler, der es möglich gemacht hat, den Landwirten einen erhöhten Ausgleich für eine Höherbelastung insgesamt zu avisieren.
Vergessen Sie bei dem ganzen Geschäft bitte nicht, daß wir die Bevölkerung insgesamt vorweg mit einer Mehrwertsteuererhöhung „beglücken" mußten.
- Ja, das ist richtig.
Lassen Sie mich aber zu Beginn meiner Ausführungen - ich spreche nur zum Thema steuerrechtliche Änderungen - kurz auf die Vorgeschichte dieses Gesetzentwurfes eingehen. Das Bekanntwerden der äußerst kurzfristigen Einbringung - fast kann man sagen: im Hauruckverfahren - dieses Gesetzentwurfes zur Anpassung steuerlicher Vorschriften der Land-und Forstwirtschaft wurde - das merkt man, wenn man die Zeitungsmeldungen dieser und der letzten Woche durchblättert - von erheblichem Mißtrauen begleitet. So meldete eine Regionalzeitung in meinem Wahlkreis, die „Walsroder Zeitung", vor genau einer Woche: „Die Bundesregierung will in letzter Minute ein Wahlgeschenk an die Bauern durch den Deutschen Bundestag peitschen" . Sie meinte damit diesen heute hier eingebrachten Gesetzentwurf.
Sie, lieber Herr Minister Borchert, sollen nach diesen Presseberichten in einem Brief an Ihren Kollegen Finanzminister die Notwendigkeit einer gesetzlichen Neuregelung damit begründet haben, „daß Bauernverbände sonst in den bevorstehenden Wahlen die fehlende Hilfe thematisieren würden" . Dies mag zur Vorgeschichte genügen, die einem unbelasteten Bürger schon etwas merkwürdig erscheinen kann.
Schauen wir uns den Gesetzentwurf kurz an. Da geht es zunächst einmal um die Anhebung der Vorsteuerpauschale zum 1. Juli 1998. Hinsichtlich der Notwendigkeit dieser Maßnahme besteht - das ist mit Recht von Herrn Schindler betont worden - zwischen der SPD-Fraktion und der Regierungskoalition grundsätzlich Einigkeit.
Wir hatten uns in der gemeinsamen Erörterung im Ausschuß zu dieser Frage am 29. Oktober des vergangenen Jahres, als wir - um zu vermeiden, daß wir den Rentenbeitrag von 20,3 auf 21 Prozent anheben müssen - über die Erhöhung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung diskutierten, dazu entschlossen, die Mehrwertsteuer als Kompensation anzuheben. Es war in der Tat so, daß die Anhebung von uns als die logische Konsequenz dieser Erhöhung zum 1. April diesen Jahres gesehen wurde.
Kurt Palis
Es handelt sich nach unserer Meinung nicht um eine Subvention, sondern um eine notwendige Anpassung. Auch wir sehen keinen Anlaß, an dieser Stelle in die alte Grundsatzdiskussion um die Durchschnittsbesteuerung oder Pauschalierung der land-und forstwirtschaftlichen Einkünfte neu einzusteigen; bei dieser Gelegenheit weiß Gott nicht. Dennoch gebe ich hier den Hinweis, daß im Rahmen einer großen Steuerreform auch das Thema allgemeine Buchführungspflicht für landwirtschaftliche Betriebe auf den Prüfstand muß.
Herr Staatssekretär Hauser, der noch hier ist, hat in einem Papier an den Finanzausschuß darauf hingewiesen, daß auch die land- und forstwirtschaftlichen Subventionen - so heißt es dort sogar - bei einer großen Steuerreform, die ja noch hängt, auf den Prüfstand müssen.
- Ja, das ist eine allgemeine Feststellung. Ich will sie in Erinnerung rufen, weil die Steuerreform hängengeblieben ist und ein bißchen vergessen wurde.
- Herr Schindler, ich kann Sie zwar nicht verstehen, aber ich weiß ganz genau, was Sie meinen. Sie wollen wieder Blockade sagen. Richtig. Es ist gut, daß wir das blockiert haben, was unsinnig ist.
Wie steht es nun mit dem zweiten Teil des Gesetzentwurfes, der Anpassung der Vieheinheitenstaffel zur Abgrenzung zwischen Landwirtschaft und Gewerbe im Bereich der Tierhaltung? Hier ist, meine Damen und Herren, ein sorgfältiger Blick auf den zu verändernden Tatbestand notwendig. Wo liegen, zunächst aus der Sicht der Bundesregierung, die Gründe für den Veränderungsbedarf? Einmal sei die zu verändernde Vieheinheitenstaffel auf das Jahr 1970 zurückzuführen. Sie sei bisher nicht verändert worden, also veraltet. Zweitens. Eine Veränderung biete die Chance, bäuerliche Veredelungsbetriebe zu stärken, insbesondere im europäischen Wettbewerb. Sie ermögliche weiterhin eine Anpassung an einen bereits vollzogenen Strukturwandel in den alten Bundesländern und die vorhandenen Strukturen in den neuen Bundesländern.
Die Anreize - darauf sollten wir bei den Beratungen achten - für Betriebsteilungen müssen allerdings bedacht werden. Ob die neue Staffelung das in genügender Weise berücksichtigt, steht für mich noch nicht fest. Hier muß im Rahmen der Ausschußberatungen noch geprüft werden.
Dringend notwendig ist aber auch die Anpassung des Vieheinheitenschlüssels. Dieser Schlüssel beruht auf Futterbedarfsnormen zum Zeitpunkt der Hauptfeststellung 1964. Da ist es also allerhöchste Zeit, daß insbesondere im Bereich der Schweine- und Geflügelhaltung eine Reformüberlegung angestellt wird. Hier besteht weiterer Handlungsbedarf, der allerdings wegen der neuen Einheitsbewertung an einen neuen Termin, an einen neuen Hauptfeststellungszeitpunkt gebunden ist.
Insgesamt gesehen besteht bei diesem Teil des Gesetzentwurfes aus Sicht der SPD-Fraktion noch erheblicher Erläuterungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen einer Staffelveränderung, zum Beispiel auf die Düngeverordnung, wo andere Staffeln vorhanden sind und wir die Frage nach der Vereinbarkeit mit dieser Vorschrift überprüfen müssen. Insofern sei hier nur die Frage erlaubt, ob eine Trennung - das ist jetzt für unsere Fraktion wichtig, meine Herren - der beiden Gesetzesteile im Interesse einer schnellen Regelung bei der Vorsteuerpauschale nicht sinnvoll wäre. Wir kündigen an, daß wir den zweiten Punkt stärker thematisieren werden. Ob die Zeit dafür ausreicht, ist die Frage.
Herr Kollege Palis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ich gestatte die Zwischenfrage, Herr Heinrich.
Herr Kollege Palis, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Bewertungsrecht, das auch Sie im Grundsatz begrüßt haben, eine steuerliche Abgrenzung beinhaltet und mit der Viehhaltung und mit der Düngeverordnung überhaupt nichts zu tun hat?
Herr Heinrich, mir ist schon klar, daß die zwei Vorschriften zwei verschiedene politische Ziele haben. Aber wir müssen mindestens die Frage gründlich untersuchen, ob nicht doch innere Zusammenhänge beachtet werden sollten, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Ich kann mir beispielsweise vorstellen, daß eine bestimmte Staffelung im Gewerbebetrieb und im landwirtschaftlichen Betrieb durchaus unterschiedlich gehandhabt wird. Ich kündige das an; das Ergebnis am Ende der Prüfung kann sein, daß die zwei Dinge in der Tat nichts miteinander zu tun haben. Vielen Dank.
Zum Schluß noch ein ganz kurzes Wort zur Kostenfrage. Da heißt es in der Vorlage der Koalitionsfraktionen zu § 24 des Umsatzsteuergesetzes, eine Anhebung der Durchschnittsätze und Vorsteuerpauschalsätze verursache keine Kosten. Zur Änderung der Vieheinheitenstaffel heißt es: Die Kosten „lassen sich ... nicht beziffern, dürften jedoch nicht ins Gewicht fallen".
Ob dem so ist, wird bei den nun anstehenden Ausschußberatungen ebenfalls zu klären sein. Allerdings
steht eines für mich fest: Wenn es zutrifft, daß beide
Kurt Palis
Gesetzesänderungen keine Kosten verursachen, dann sollten die Bauern sich auch nicht allzusehr über dieses Wahlgeschenk freuen; denn dann kommt nicht viel auf sie zu.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Palis, Sie haben sehr richtig den Ausdruck verwendet, die Steuerreform sei hängengeblieben. Sie ist nämlich im Bundesrat hängengeblieben; sie wurde dort blokkiert. Daß Sie sich jetzt langsam an die Zahlen heranpirschen, die wir vorgelegt haben, und Vorschläge machen, zeigt sehr deutlich, daß wir eigentlich doch ein ganz gutes Konzept hatten und daß Sie aus reinem Machtstreben heraus ein Trauerspiel verursacht und diese so wichtige Reform blockiert haben.
Wir verlieren hier leider drei Jahre. Das wird uns noch bitter weh tun.
Meine Damen und Herren, in der jetzigen Debatte geht es, wie gesagt, um die Änderung steuerlicher Vorschriften für land- und forstwirtschaftliche Betriebe im Bereich der Abgrenzung der landwirtschaftlichen von der gewerblichen Tierhaltung und bei den Umsatzsteuerdurchschnittsätzen. Wir brauchen diese Anpassungen, weil aus der wirtschaftlichen Entwicklung und aus dem stärkeren europäischen Wettbewerb heraus die Fortschreibung der Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft notwendig ist.
Nun zunächst zur Abgrenzungsproblematik. Wie Sie wissen, grenzen wir im Steuerrecht - ich möchte, Herr Heinrich, noch einmal ausdrücklich betonen, daß es sich hier um steuerrechtliche Vorschriften handelt und nicht um irgendwelche anderen Dinge; Herr Palis, Sie sollten das nicht schon wieder vermischen und hier irgendwelche Vorwände produzieren, damit Sie nicht zustimmen müssen -
seit jeher die bodengebundene landwirtschaftliche Tierhaltung von der gewerblichen Tierhaltung ab. Das geschieht, weil es unsere Überzeugung ist, daß die bäuerliche Tierhaltung auf einer sicheren Flächengrundlage auch mit den Mitteln der Steuerpolitik gegenüber der gewerblichen Massentierhaltung gefördert werden muß.
Die landwirtschaftliche Tierhaltung bietet den bäuerlichen Betrieben nicht nur wichtige Einkommenschancen; sie dient auch einer umweltverträglichen und ökologisch sinnvollen Landbewirtschaftung sowie der Erzeugung gesunder Nahrungsmittel für den Markt.
Die geltende Abgrenzungsregelung ist ja schon fast 30 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich die Durchschnittsgröße landwirtschaftlicher Betriebe mittlerweile von 11,7 auf 32,7 Hektar fast verdreifacht. Die Ertragsleistung landwirtschaftlicher Nutzflächen ist auf das Doppelte angestiegen. Angesichts dieses Strukturwandels erweist sich die geltende Abgrenzungsregelung zunehmend als Hemmnis für die weitere Entwicklung der bäuerlichen Betriebe.
Auch im europäischen Vergleich erscheint eine Verbesserung der Chancen für unsere Veredelungsbetriebe, das heißt vor allem für die bäuerlichen Schweinemast- und Geflügelhaltungsbetriebe, geboten. Denn trotz der relativ günstigen Gewinnentwicklung in den letzten Wirtschaftsjahren besteht nicht nur ein erheblicher Einkommensrückstand gegenüber der gewerblichen Wirtschaft, sondern es gibt auch einen deutlichen Strukturnachteil bei der Tierhaltung gegenüber den wichtigen europäischen Wettbewerberländern, wie beispielsweise den Niederlanden und Dänemark.
Der vorliegende Gesetzentwurf will eine maßvolle Anhebung der Tierbestände für Betriebe über 30 Hektar unter Beibehaltung der degressiven Staffelung verbessern, so daß je Betrieb bis zu 1200 Mastschweine - das sind also umgerechnet 500 Stallplätze - oder 7500 Legehennen mehr erzeugt oder gehalten werden können. Wir sehen dieses Vorhaben nicht als Lockerung der notwendigen Flächenbindung, sondern als vertretbare Verbesserung der Produktions- und Marktchancen der bäuerlichen Betriebe.
Herr Palis hat auf die Auswirkungen für den Haushalt hingewiesen. In der Tat können diese Größenordnungen vernachlässigt werden. Der aus unserem Vorschlag resultierende Wegfall der Gewerbesteuer kann vernachlässigt werden, da die wenigen gewerbetreibenden Tierhaltungsbetriebe die derzeitigen Tierbestandsgrenzen in der Regel erheblich überschreiten. Sie bleiben deshalb von den Änderungen des Gesetzentwurfes weitgehend unberührt. Deshalb können wir sagen: Es gibt kaum Auswirkungen.
Auch im Bereich der Umsatzsteuer lassen wir die Land- und Forstwirte nicht im Regen stehen. Wie ich bereits ausführte, hat sich deren wirtschaftliche Situation zwar in einigen Bereichen befriedigend entwickelt. Aber insgesamt ist sie eben noch nicht stabil genug. In diesem Zusammenhang von einem Wahlgeschenk zu reden ist - so glaube ich - mit Sicherheit vollkommen unangebracht. Sie haben ja selber betont, daß sich das aus den wirtschaftlichen Notwendigkeiten ergibt. Deswegen ist es vollkommen abwegig, von einem Wahlgeschenk zu sprechen. Sie haben ja Ihre Äußerung zum Schluß relativiert. Was soll es, darüber groß zu streiten?
Nach den Berechnungen des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ist die Entwicklung der mit den Verkaufserlösen und Betriebsausgaben in der Land- und Forstwirtschaft anfallenden Umsatzsteuer ansteigend. Die zur Zeit gel-
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
tenden Sätze von 9,5 Prozent für die Landwirte und 5 Prozent für die Forstwirte reichen ihnen zur pauschalen Abdeckung der tatsächlichen Vorsteuerbelastungen nicht mehr aus, wenn wir zum 1. April 1998 den allgemeinen Umsatzsteuersatz von 15 auf 16 Prozent anheben. Die Notwendigkeit dieser Anhebung ist ja bereits erwähnt worden. Ich darf in diesem Zusammenhang doch noch einmal sehr deutlich sagen, daß es eine Anhebung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes nicht geben wird. Dieser Satz bleibt bei 7 Prozent. Die Grundnahrungsmittel werden also nicht teurer.
Da Mieten nicht mit der Umsatzsteuer belastet werden, ergibt sich auch hier keinerlei Veränderung. Für einen Durchschnittshaushalt bleibt die Änderung sehr geringfügig.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Anpassung der Umsatzsteuerdurchschnittsätze wirkt dieser nicht kostengerechten Abdeckung entgegen: Die Durchschnittsätze sollen daher - wie bereits erwähnt - auf 10 Prozent für die Landwirte bzw. 6 Prozent für die Forstwirte angehoben werden. Damit entsteht für die meisten Landwirte, deren Umsätze nach einem pauschalierten Verfahren besteuert werden, auch künftig keine Zahllast. Die Land- und Forstwirte dürfen nach diesem System ihren Abnehmern Umsatzsteuer in Rechnung stellen - künftig eben mit 10 Prozent bzw. 6 Prozent -, brauchen jedoch keine Umsatzsteuer an das Finanzamt abzuführen. Dabei wird natürlich davon ausgegangen, daß sich pauschalierte Vorsteuerbelastung und in Rechnung gestellte pauschalierte Umsatzsteuer ausgleichen - Kollege Schindler hat ja hier eine solche Rechnung aufgemacht -, so daß die Zahl-last also jeweils null DM beträgt.
Beide Maßnahmen sind geeignet, durch sinnvolle Anpassung der geltenden Vorschriften an geänderte Rahmenbedingungen positive Akzente für die weitere Entwicklung der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland zu setzen. Ich glaube, wir leisten hier einen wichtigen Beitrag für die wirtschaftliche Besserstellung der Land- und Forstwirte.
Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/9761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist diese Überweisung so beschlossen.Wir treten dann in die Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Milch- und Margarinegesetzes auf Drucksache 13/9535 ein. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 13/10077, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mitden Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.Wir treten dann in diedritte Beratungund Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/10187 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung und die Beratung der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes zu erweitern. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe also den Zusatzpunkt 14 auf:Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Änderung des Tierschutzgesetzes.Berichterstatterin ist die Abgeordnete Anke Fuchs. Eine Berichterstattung wird nicht gewünscht.Erklärungen zu Protokoll geben die Abgeordneten Meinolf Michels, Marianne Klappert, Ulrike Höfken, Ulrich Heinrich und die Abgeordnete Bulling-Schröter.*) - Ich sehe, daß Sie damit einverstanden sind, daß die Erklärungen zu Protokoll genommen werden.Dann treten wir in die Abstimmung ein. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/10198 zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist.Ich rufe die Zusatzpunkte 8 a bis 8 d auf:a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung- Drucksache 13/9817 -
*) Anlage 9
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 224. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 26. März 1998 20591
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschBeschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
- Drucksache 13/10197 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Gernot ErlerAngelika BeerDr. Olaf Feldmannb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zum Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung vom 3. Dezember 1997- Drucksache 13/10116 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. September 1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen- Drucksache 13/10075 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Vertrag vom 24. September 1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen- Drucksache 13/10076—Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß
RechtsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitEs liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Die Kollegen Bierling, Zapf, Feldmann, Beer, Graf von Einsiedel und Herr Staatsminister Schäfer haben, das Einverständnis des Hauses voraussetzend, ihre Reden zu Protokoll gegeben' ). - Ich stelle fest, daß das Haus damit einverstanden ist. Dann schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem genannten Übereinkommen auf Drucksache 13/9817. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/10197, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden ist.s) Anlage 10Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10206. Wer dem Entschließungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/10116, 13/10075 und 13/10076 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner und der Gruppe der PDSÜberstunden abbauen und die Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden begrenzen - Das Arbeitszeitgesetz beschäftigungsorientiert novellieren- Drucksache 13/10 015 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitHaushaltsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache.Ich kann dazu mitteilen, daß die Kollegen Heiderich, Thönnes, Marieluise Beck und Lühr ihre Reden mit dem Einverständnis des Hauses zu Protokoll gegeben haben.*)Ich gebe nun noch das Wort der Abgeordneten Dr. Knake-Werner.
Das habe ich mir fast gedacht, Herr Irmer, aber ich möchte mich jetzt nicht so beliebt machen.
Frau Kollegin, bitte, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Stunde ist ja
*) Anlage 11
Dr. Heidi Knake-Werner
sehr geeignet, über den Überstundenabbau zu reden, insofern machen wir das jetzt einfach einmal.
Die PDS legt also einen Antrag zum Abbau von Überstunden und zur Arbeitszeitverkürzung vor. Wir beabsichtigen damit eine Novellierung des bestehenden Arbeitszeitgesetzes vor allen Dingen aus zwei Gründen.
Erstens denken wir, daß es ein unverzichtbares Mittel zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist. Ich betone ausdrücklich: ein Mittel im Rahmen eines Katalogs von Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, aber immerhin ein wichtiges Mittel.
Zweitens wollen wir die Arbeitszeitverkürzung und auch den Abbau von Überstunden nicht alleine den Tarifvertragsparteien überlassen, zumal sie ein Arbeitszeitgesetz im Rücken haben, das mit seinen Gummiparagraphen im Prinzip jede Arbeitszeitüberschreitung bis zu 60 Stunden in der Woche zuläßt. Genau das wollen wir einschränken. Außerdem - das will ich auch dazu sagen - wollen wir es deshalb nicht den Tarifvertragsparteien allein überlassen, well immerhin ein Drittel der abhängig Beschäftigten in Unternehmen arbeitet, die nicht tarifvertraglich gebunden sind. Auch denen wollen wir die Chance zu Arbeitszeitverkürzung und Überstundenabbau einräumen.
Die PDS will also deshalb zukünftige Tarifauseinandersetzungen unterstützen und die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen, um die Überstunden deutlich zu reduzieren und auch die Arbeitszeitverkürzung mit großen Schritten zu unterstützen. Ich finde, daß wir damit ganz gut in die politische Landschaft passen, denn gerade vor wenigen Tagen hat ja das IAB seine neuesten Studien veröffentlicht und deutlich gemacht, welchen Umfang die Überstunden im Jahr 1997 einnahmen. Es sind immer noch 1,8 Milliarden Überstunden im Jahr. Das entspricht dem Wert, der auch 1996 registriert worden ist.
Der Direktor des IAB - das sage ich hier noch einmal - sagt, daß es dringend erforderlich und auch möglich ist, die Überstunden um mindestens 40 Prozent zu reduzieren. Er hofft, daß die Politik nach der Bundestagswahl ihre Reform- und Handlungsfähigkeit hoffentlich wiedererlangt.
Ich habe den Eindruck, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, daß sich hier wieder ein Institut zu Wort meldet, dem Sie künftig möglicherweise die Mittel kürzen wollen.
Nun aber zur gegenwärtigen Ausgangslage. Sie haben einen Überstundenumfang von 1,8 Milliarden. Das entspricht rein rechnerisch etwa 1,2 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. Eine solche Umwandlung gelingt uns nicht, aber es wäre ja schon toll, wenn wir
die Hälfte sozusagen in neue Arbeitsplätze umsetzen könnten; das wären immerhin schon 400 000 bis 500000. Das wäre ja etwas. Das würde die politische Aussage, die Arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende zu halbieren, deutlich unterstreichen.
Allein wenn wir die Arbeitszeit Ost an die Arbeitszeit West angleichen würden, brächte das rechnerisch 135 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Die Diskussion über die Einführung der 35-Stunden-Woche hat sich auch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre durchaus bewährt. Immerhin sind durch Arbeitszeitverkürzung in dieser Zeit 700 000 bis 1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen worden.
Auch der internationale Vergleich zeigt, daß wir uns mit der Diskussion um die 35-Stunden-Woche in einer sinnvollen Diskussion bewegen. Frankreichs Regierung hat sie gerade beschlossen, und heute hat auch Italien die 35-Stunden-Woche beschlossen. Wenn wir nur um soviel reduzierten, wie es die Franzosen gegenwärtig beabsichtigen, dann bestünde die Chance, 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Dies alles ist für die PDS Anlaß genug, ihren Antrag einzureichen. Wir wollen in diesem Antrag die 35-Stunden-Woche festschreiben. Wir wollen natürlich auch Ausnahmen und Flexibilisierungsmöglichkeiten zulassen, bis 40 Stunden in der Woche. Wir wollen das auf einen möglichst kleinen Ausgleichszeitraum begrenzen: Innerhalb eines halben Jahres muß diese Art von Überstunden ausgeglichen werden. Aber wir wissen auch, daß es noch andere Ausnahmesituationen gibt, auf die man Rücksicht nehmen muß. Deshalb haben wir in unserem Antrag eine Jahresarbeitszeit festgelegt, so daß auch von daher eine größere Flexibilität möglich ist.
Wir fordern natürlich den vollen Lohnausgleich bis zu einem Nettojahreseinkommen von 60 000 DM. Ich sage Ihnen auch: Ich habe damit absolut kein Problem, weil die Lohn- und Gehaltsquote derzeit auf dem niedrigsten Stand seit den 60er Jahren ist. Wir können uns eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich schon allein wegen der Binnenkonjunktur überhaupt nicht leisten.
Ich sage Ihnen auch: Ein Lohnausgleich, der möglicherweise die Gewinnquote bei den Unternehmen senkt, wäre eine Teilkorrektur der enormen fast 20jährigen Umverteilung zugunsten der Gewinne. Ich finde, daß das durchaus zumutbar ist.
- Ach du lieber Gott! Sie müssen mal ab und zu ein bißchen in die Vermögensumverteilungsstatistik gucken, dann wüßten Sie, wovon ich rede.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit! Die ist nämlich abgelaufen.
Ich bin auch am Ende. Vielen Dank.
Ich sage zum Abschluß: Der Kollege Zwickel von der IG Metall hat heute gesagt, daß er die 35-Stunden-Woche zum Wahlkampfthema machen wird,
daß er allerdings befürchtet, daß sich keine Partei dieser Forderung stellt. Ich kann ihm jetzt von dieser Stelle aus sagen: Wir trauen uns und hoffen auf seine Unterstützung.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/10015 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Angelika Köster-Loßack, Elisabeth Altmann und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Beziehung zwischen Indien und der Bundesrepublik Deutschland - aktueller Stand und Entwicklungsmöglichkeiten
- Drucksache 13/8914 -
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sechs Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst bekannt, daß die Kollegen Wimmer, Niehuis, Irmer und der Staatsminister Schäfer ihre Reden zu Protokoll gegeben haben ). Dieses vorausgeschickt, gebe ich das Wort der Kollegin Angelika Köster-Loßack.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im letzten Jahr feierte Indien
*) Anlage 12
50 Jahre Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft. Davon ist in Deutschland wenig wahrgenommen worden, insbesondere was die zentrale Rolle Indiens in Asien angeht. Im Gegenteil: In den letzten Wochen wurden in erster Linie die negativen Bilder eines durch ethnische und religiöse Konflikte bestimmten Wahlkampfes hervorgehoben. Aber gerade angesichts der Herausforderungen, die sich auf Grund der politischen Wachablösung in Indien ergeben, ist es um so dringender geboten, daß von unserer Seite die bilateralen Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden.
Bisher spielte Indien nur eine untergeordnete Rolle in der Asienpolitik der Bundesregierung. Dies wird auch daran deutlich, daß ein solches Thema bis an das Ende der Tagesordnung geschoben worden ist. Ich finde es im Grunde genommen problematisch, daß Südasien bisher so wenig in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen gestellt worden ist - gerade auch angesichts der Entwicklungen, die sich im mittleren Osten abspielen, wo Indien eine zentrale geostrategische Rolle spielt. Dies erfüllt mich mit Besorgnis.
Interessanter erschienen bisher China und andere Nationen in Asien, die als wichtige Wirtschaftspartner angesehen werden. Dort wird großzügig über die sehr beklagenswerte Menschenrechtssituation und autoritäre Regime hinweggesehen. Doch Indien - nicht weniger wirtschaftskräftig, mit einer breiten Mittelschicht und nicht zuletzt mit seinen enormen menschlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungspotentialen - kommt nur am Rande vor.
Auch wenn es bei den Menschenrechten nach wie vor Probleme gibt, so muß doch anerkannt werden, daß die indische Regierung sehr wichtige Schritte unternommen hat, um diese Probleme zu lösen. Dazu gehörte die Einsetzung einer nationalen Menschenrechtskommission und die Verabschiedung von wichtigen Gesetzen zum Beispiel gegen Kinderarbeit.
Angesichts der Tatsache, daß in Indien seit 50 Jahren demokratische Regierungen gewählt werden, ist es mir unverständlich, warum die Bundesregierung in ihrem Asienkonzept nur am Rande auf dieses große Land eingeht. Es fehlt zusätzlich - wie auch in anderen Bereichen der Außenpolitik - ein wirklich kohärentes Konzept, das eine zukunftsweisende, auf Dialog und Partnerschaft beruhende Politik formuliert. Statt dessen fließen zum Beispiel im Bereich der Entwicklungspolitik weiterhin die meisten Gelder in ökologisch bedenkliche Großprojekte.
So wurde zum Beispiel das Braunkohlekraftwerk Neyveli 1997 noch mit insgesamt 375 Millionen DM im Rahmen der Verbundfinanzierung unterstützt, während kaum etwas für die Unterstützung nachhaltiger Energieerzeugung getan wird. Die eigenen Schwerpunktsetzungen des BMZ, wie Armutsbe-
Dr. Angelika Köster-Loßack
kämpfung, Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit, wurden hier nicht ausreichend beachtet.
Der Vater der indischen Unabhängigkeit, Mohan-das Karamchand Gandhi, hat bis heute gültige grundlegende Konzepte einer ökologisch nachhaltigen und sozial gerechten Entwicklung formuliert. Es wäre wichtig, auch über diese Konzepte als Grundlage für heutige Entwicklungen zum Beispiel im Bereich der Agenda 21 in beiden Ländern zu diskutieren. Es gibt in Indien eine sehr lebendige Bewegung sozialer ökologischer Art, die auch auf soziale Gerechtigkeit setzt. Diese Konzepte warten auf ihre Umsetzung.
Konsequente Unterstützung für stark benachteiligte Gruppen, wie die Dalits, die sogenannten Unberührbaren, und die Adivasis, die indigenen Völker Indiens, finden auch in den bisherigen Konzepten des BMZ zu wenig Beachtung.
Im Bereich der präventiven Konfliktlösung und zivilen Konfliktbearbeitung ist es dringend geboten, daß die Bundesregierung klare, mit europäischen Partnern abgestimmte Konzepte in ihrer Indien- und auch Südasienpolitik insgesamt verfolgt. Denn die ungelösten Konflikte in dieser Region sind ein gefährliches Risikopotential. Deutschland muß aktiv dazu beitragen, daß der Politikdialog in dieser Region, vor allem natürlich zwischen Indien und Pakistan, nicht abreißt, sondern - im Gegenteil - ausgebaut und vertieft wird.
Außerdem müssen wir im bilateralen Dialog darauf einwirken, Indien zu einem Verzicht auf Atomwaffen und zur Unterzeichnung des Minenprotokolls zu bewegen. Die Region Südasien braucht stabile Netze der regionalen Kooperation auf der Grundlage von Gegenseitigkeit. Natürlich ist der Konflikt mit China einer der Konflikte, die von der Region aus bearbeitet werden müssen. Das ist nichts Akutes wie der Konflikt mit Pakistan, aber er ist mittelfristig jederzeit wieder heraufzubeschwören. Das ist auch mir klar.
Schließlich müßte auch der Politikdialog auf Regierungsebene und auf Parlamentsebene durch eine sehr viel stärkere Förderung von kultureller und wissenschaftlicher Zusammenarbeit dringend ergänzt werden. Hierfür sind institutionelle Verbesserungen vorzunehmen. Ich denke auch daran, daß es nicht ausreicht, daß im Südasien-Institut in Heidelberg, das zwar seit über 30 Jahren vorbildliche Austauscharbeit leistet, immer nur einige wenige Stipendiaten ausgetauscht werden. Da könnte mehr getan werden. Die Begegnung zwischen Menschen aus Indien und Deutschland muß stärker als bisher gefördert werden, auch im Bereich der Studierenden, denn das ist eine notwendige Ergänzung zu Expertenrunden.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluß. Im Kontext eines
neuen außenpolitischen Aufbruchs wird die Region Südasien mit Indien als Kernland eine zunehmend wichtige Partnerin werden. Wenn wir diese Entwicklung nicht verschlafen wollen, sollten wir diese Region auf der Basis der prinzipiell vertrauensvollen Beziehungen mit Indien ernst nehmen und die Vertiefung der Beziehungen als eine Chance für beide Seiten begreifen.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Willibald Jacob.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte die Zeit für diese Debatte nach Mitternacht zu diesem Thema
- ich berichtige mich, Verzeihung: kurz vor Mitternacht -,
Herr Kollege, in dieser Hinsicht eilen Sie der Zeit etwas voraus.
- zu unseren Beziehungen zur Republik Indien, für unangemessen. Wir Abgeordneten signalisieren damit ein großes Unverständnis einem Subkontinent mit einer Milliarde Menschen gegenüber, der wachsende Bedeutung gewinnt.
Die Realisierung des Entschließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage würde die Beziehung Deutschland/Indien tatsächlich verbessern und weiterentwickeln. Die PDS macht darauf aufmerksam, daß wir dabei wahrlich auf dem guten Verhältnis aufbauen könnten, das Indien zu beiden deutschen Staaten hatte. Indien interessiert sich nach wie vor für die Entwicklungen in allen Bereichen in Ost- und Westdeutschland.
Da muß nichts neu entwickelt werden. Fehler, die in der Kooperation gemacht wurden, können zukünftig vermieden werden. Niemand kann und wird Indien von außen entwickeln oder ihm Entwicklungskonzepte aufpfropfen können. Die Zusammenarbeit muß konzentriert werden. Dazu jedoch bedarf es einer Überprüfung des bisherigen Konzeptes deutschindischer Zusammenarbeit.
Indien erwirtschaftet ein sehr hohes Bruttosozialprodukt. Es ist damit im letzten Jahrzehnt in die Reihe der potentesten Wirtschaftsnationen aufge-
Dr. Willibald Jacob
rückt. Es hat hervorragende Fähigkeiten zu wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und technischer Entwicklung und zu Investitionen. Es braucht aber unsere Unterstützung bei seinem Hauptproblem, der Massenarmut. Die akuten Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen haben letztendlich sozialökonomische Ursachen. Es handelt sich um Verteilungsprobleme. Wie zu beobachten ist, haben die Spannungen nach der Öffnung Indiens gegenüber dem Weltmarkt noch zugenommen und die Spaltung der indischen Gesellschaft weiter vertieft.
Entsprechend der Schwerpunktsetzung deutscher Entwicklungszusammenarbeit sollten sich deutsche Möglichkeiten für Kooperation und Hilfe ausschließlich auf Armutsbekämpfung konzentrieren. Diese kann und muß natürlich verschiedene Formen haben. Ich möchte hier nur in Kürze zwei ansprechen:
Erstens. Frauen und Mädchen müssen entsprechend der indischen Gesetzgebung vollen Zugang zu Bildung und Ausbildung haben. Sie müssen motiviert und unterstützt werden bei der Selbstorganisation, bei Aufklärung, Information und schließlich bei den Schritten, sich aus Unterprivilegierung, Diskriminierung, einseitigen Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen zu befreien.
Zweitens. Die mehr als 140 Millionen Adivasis und Dalits brauchen Rahmenbedingungen, um sozial und kulturell zu überleben. Ich selbst habe mehr als drei Jahre unter Adivasis gelebt und weiß, daß es oft der Traktor ist oder die kleine Solaranlage, die nötig sind, um das Überleben zu sichern oder ein Mehrprodukt zu schaffen und auf dem lokalen Markt zu verkaufen. Es bedarf keiner gigantischen Großprojekte, die die natürliche Umwelt, den Lebensraum für Tausende Adivasis zerstören und nachhaltige Schäden für die Umwelt hervorrufen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist bei weitem abgelaufen.
Gleichzeitig bereichern sich einige wenige durch Marktdominanz und Korruption. Die Adivasis müssen nicht aus ihrem dörflichen Umfeld herausgelockt werden.
Herr Kollege, bitte schließen Sie Ihre Rede ab.
Ich bin sofort fertig. - Sie brauchen Unterstützung, um in einem vernünftigen Maße lokalen und regionalen Austausch zu betreiben.
Die Idee, Beziehungen auf Länderebene zu fördern, kann ich auf Grund positiver Erfahrungen im Besucheraustausch zwischen Indien und Mecklenburg-Vorpommern nur unterstützen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern unterhält seit Jahresfrist ein Büro in Kalkutta. Auf diese Weise lassen sich sehr gut kultureller, wirtschaftlicher und geistiger Austausch intensivieren.
Herr Kollege, ich habe Sie mehrfach aufgefordert, zu stoppen.
Danke, ich bin am Ende meiner Rede.
Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/10205 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß, zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, an den Verteidigungsausschuß und an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich denke, daß sich aus der Überweisung an zahlreiche Ausschüsse dieses Hauses eindeutig erkennen läßt, daß von einer Geringschätzung dieses Themas überhaupt keine Rede sein kann.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Lage in Kambodscha
- Drucksache 13/10185 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich kann Ihnen mitteilen, daß alle Kollegen - Dr. Kansy, Herr Schanz, Herr Koppelin, Herr Schmitt, Staatsminister Schäfer und Dr. Mahlo - Ihre Reden dankenswerterweise zu Protokoll gegeben haben.*)
Wir kommen damit zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 13/10185. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit allen Stimmen des Hauses angenommen worden ist.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. März 1998, um 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.