Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich auf der Ehrentribüne ganz herzlich den Präsidenten der namibischen Nationalversammlung, Herrn Dr. Mosé Tjitendero, und seine Delegation begrüßen.
Aus historischer Verbundenheit zollen wir Namibia Respekt und Anerkennung für den hart erkämpften Weg in die Unabhängigkeit. Wir wissen, wie schwierig die Verstetigung der Demokratie und vor allen Dingen einer wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung im Lande ist, die Perspektiven nach vorne gibt. Wir sind aber überzeugt, daß Namibia insbesondere auch in enger Kooperation mit den Deutschen und in Ausrichtung auf die südafrikanische Region diesen Weg erfolgreich gehen wird. Wir wünschen Ihnen für Ihren Besuch in Deutschland gute Kontakte und Erfahrungen, die Sie sehr zuversichtlich für die Zukunft stimmen. Herzlich willkommen im Bundestag!
Ich möchte Ihnen mitteilen, daß die Kollegin Steffi Lemke ihr Amt als Schriftführerin niederlegt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Dr. Uschi Eid vor. Sind Sie mit dem Vorschlag einverstanden? - Dann ist die Kollegin Dr. Uschi Eid als Schriftführerin gewählt.
Die Fraktion der CDU/CSU möchte bei zweien ihrer Mitglieder im Beirat bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post einen Tausch vornehmen. Der Kollege Dr. Michael Meister, der bisher stellvertretendes Mitglied ist, soll ordentliches Mitglied werden, und der Kollege Wolfgang Schulhoff, bisher ordentliches Mitglied, soll nunmehr stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie auch mit diesem Vorschlag einverstanden? - Dann sind der Kollege Dr. Michael Meister als ordentliches und der Kollege Wolfgang Schulhoff als stellvertretendes Mitglied in den Beirat bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post berufen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen mit einer Zusatzpunktliste vorgelegten Punkte zu erweitern:
1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Ratifizierung der Beitrittsprotokolle zum Nordatlantikvertrag und weitere Umsetzung der NATO-Rußland-Akte - Drucksache 13/ 9858 -
2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Margareta Wolf , Halo Saibold, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wettbewerbspolitik für Innovationen, Umweltschutz und Arbeitsplätze - Drucksache 13/ 9305 -
3. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksachen 13/8035, 13/9212, 13/9540, 13/9770-
4. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Neunten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Neuntes SGB V-Änderungsgesetz -9. SGB V-ÄndG) - Drucksachen 13/8039, 13/9212, 13/9541, 13/9640 -
5. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes - Drucksachen 13/1439, 13/8917, 13/9544, 13/9639-
6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege, zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften und zur Anpassung anderer Rechtsvorschriften - Drucksachen 13/6441, 13/7778, 13/8180, 13/ 8268, 13/9638, 13/9837, 13/9838-
7. Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage im Irak
8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung des Bundestages zum Schwangerschaftskonfliktgesetz und zur beabsichtigten Neuordnung der kirchlichen Beratungstätigkeit
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Helmut Wilhelm und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unbefristete Verlängerung der 20 %-Kappungsgrenze für ältere Wohnungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 Miethöhegesetz) - Drucksache 13/9836-
10. - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften - Drucksache 13/9388-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Margareta Wolf und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung — Drucksachen 13/8846, 13/9875 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Vereinbart worden ist ferner, die Tagesordnungspunkte 4 a und b „Soziale Lage" sowie den ursprünglich in verbundener Debatte mit dem Urheberrechtsgesetz vorgesehenen Tagesordnungspunkt 10b und die Ohne-Debatte-Punkte 19k bis n abzusetzen.
Sodann soll nach der kulturpolitischen Debatte die Beratung der Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 6, die sich mit der Pflegeversicherung befassen, aufgerufen werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. Dezember 1997 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich zusätzlich dem Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Amke Dietert-Scheuer, Angelika Köster-Loßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Genitalverstümmelungen ächten, Mädchen und Frauen schützen — Drucksache 13/9335 —
überwiesen:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Der in der 214. Sitzung des Deutschen Bundestages am 16. Januar 1998 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Verteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung des Versorgungsberichts — Drucksache 13/9527 —
überwiesen:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Der in der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. Februar 1998 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich zusätzlich dem Sportausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen — Drucksache 13/9720 —
überwiesen:
Ausschuß für Wirtschaft
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: Kulturpolitische Debatte
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Dr. Rupert Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Uwe Lühr, Cornelia Schmalz-Jacobsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Innerstaatliche Kulturpolitik
- Drucksache 13/8625 —Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Gerald Häfner, Albert Schmidt , Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des Stiftungswesens (StiftFördG)
- Drucksache 13/9320 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt , Antje Vollmer, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Die Neuorientierung und Weiterentwicklung der Kulturpolitik des Bundes ist überfällig
- Drucksache 13/9796 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thomas Krüger, Otto Schily, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kulturförderung des Bundes - Drucksache 13/9806 -
Überweisungsvorschlag :
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Steinbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" - gerade das macht uns, den Homo sapiens, aus. Kultur ist in unserer Menschheitsgeschichte ein unverzichtbares Bindemittel jedweder Zivilisation.
Mit großer Fürsorge haben deshalb sowohl die Koalitionsfraktionen als auch die Bundesregierung in der Vergangenheit schützend die Hand über die Kulturförderung des Bundes gehalten. In den Zahlenschichtungen unseres Haushaltes und im humosen Unterholz des politischen Schlagwortwaldes der alltäglichen Debatten führt die blaue Blume der Kultur ein höchst vitales Leben. Kürzungen im Gesamtansatz des Kulturhaushalts, wie sie bei nahezu allen Etatposten zu verkraften sind, hat es in diesem Bereich trotz enormer finanzieller Engpässe glücklicherweise nicht gegeben, und das ist gut so.
Selbstverständlich ist allerdings eine solche Haltung im politischen Leben leider Gottes nicht überall. Wenn Sie sich in Deutschland umschauen, dann finden Sie allzuoft in den Bundesländern und in vielen Gemeinden die Tatsache, daß der Kulturetat Schlachtopfer Nummer eins ist, wenn gespart werden muß. Politiker aller Ebenen, ob in Gemeinden, in den Bundesländern oder im Bundestag, haben aber die Verantwortung, mit unserem kulturellen Erbe sehr pfleglich und behutsam umzugehen und es zu hegen, um für lebendige Kultur in all ihren Facetten den Weg in die Zukunft am Ende nicht ungangbar zu machen.
Darüber hinaus aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehe ich als ganz akute, ja geradezu brennende Herausforderung unsere Aufgabe darin, überhaupt die Kulturfähigkeit der nachwachsenden Generation zu erhalten.
Hier ist insbesondere den Medien und da den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine herausragende Bedeutung zugewachsen, die sie, wie ich meine, verantwortungsvoller als bisher wahrnehmen sollten, und zwar zu besten Sendezeiten und nicht in Senderandzonen, wie geplant und beschlossen.
- Ich stimme Ihnen zu: Auch die privaten Sender haben dort eine große Verpflichtung.
Unserem reichen kulturellen Erbe und der enormen Mannigfaltigkeit des aktuellen kulturellen Geschehens sind mehr als bisher ein angemessener Platz und Zeitraum gegenüber Talkshows und seichter Unterhaltung einzuräumen.
Auf der anderen Seite führt unzulänglicher Unterricht in den Fächern Musik und bildende Kunst sowie in der Literaturvermittlung dazu, daß heute schon gravierende Defizite zu erkennen sind. Das muß einer Kulturnation Sorge bereiten; denn vieles
von dem, was unser christlich-abendländisch geprägtes nationales Kulturerbe ausmacht, ist bereits heute im Wissen und im Bewußtsein der jungen Generation nur noch in Fragmenten, in Bruchstücken, vorhanden. Es wird weiter versickern, wenn hier nicht deutlich entgegengesteuert wird.
Wer Literatur erst ab Bertolt Brecht - so wichtig dieser ist, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen -
erlebt und kennenlernt, der ist am Ende von den geistigen Wurzeln europäischer und deutscher Aufklärung abgetrennt. Lessings „Nathan" und seine Ringparabel als wesentliches Symbol deutscher Dichtung für Toleranz und humanen Umgang miteinander sind in doppelter Weise unverzichtbar: zum einen, um in Kontinuität für die Zukunft kulturfähig zu sein, zum anderen aber auch, um nach jener schrecklichen Zäsur von 1933 bis 1945, in der all das ausgelöscht erschien, was uns die Aufklärung mit auf den Weg gegeben hatte, mit uns selber ins reine zu gelangen.
Die Liebe, mit der Carl Zuckmayer noch in der Emigration von Deutschland sprach, war doch in der Liebe zur großen kulturellen Tradition seines, unseres Vaterlandes begründet. Trotz allem, was ihm widerfahren war, trennte er sich in seiner Autobiographie „Als wär's ein Stück von mir" nicht von seinen kulturellen Wurzeln. Ja, er fand am 12. März 1944 in New York als Emigrant unter den Augen des amerikanischen Geheimdienstes am Ende seiner Trauerrede für Carlo Mierendorff die folgenden ergreifenden und glühenden Worte, die ich zitieren will:
Deutschland ist schuldig geworden vor der Welt. Wir aber, die wir es nicht verhindern konnten, gehören in diesem Weltenprozeß nicht unter seine Richter. Zu seinen Anwälten wird man uns nicht zulassen. So ist denn unser Platz auf der Zeugenbank, auf der wir Seite an Seite mit unseren Toten sitzen, und bei aller Unversöhnlichkeit gegen seine Peiniger und Henker werden wir Wort und Stimme immer für das deutsche Volk erheben.
Um diese Worte Zuckmayers zu begreifen, ja heute überhaupt ermessen zu können, warum er imstande war, sein Land immer noch zu lieben, trotz der Barbarei im Nazideutschland, bedarf es der Kenntnis unseres gesamten kulturellen Erbes. Insbesondere unsere junge Generation braucht doch für ihre eigene Zukunft dringend das Wissen um das vollständige Woher, um dann überhaupt das Wohin abstecken zu können.
Die Vollkommenheit und die Dichte etwa der Bachschen Solosonaten oder der Beethovenschen späten Streichquartette, die Eindringlichkeit einer Riemenschneider-Madonna, die kulturelle Synthese eines Balthasar Neumann und Giovanni Batista Tiepolo in der Würzburger Residenz, die steinernen romanischen Zeugnisse oder der Kölner Dom und die Wieskirche, die philosophischen Menschheitsbilder der Ostpreußen Kant und Herder, des Danzigers Schopenhauer und des Breslauers Schleiermacher, sie sind für uns genau so nötig wie Händels Messias oder Bachs H-Moll-Messe, Beethovens 9. Sinfonie,
Erika Steinbach
Mendelssohns Elias oder auch die pulsierende Erotik Wagnerscher Musikdramen. Mit Goethes „Faust" oder Kleists „Prinz von Homburg", Hauptmanns „Webern", der Lyrik eines Eichendorff oder eines Heine, eines Uhland oder Adalbert Stifter, den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg" eines Fontane sind sie genauso Teil unserer Identität wie die Werke Albrecht Dürers, Ernst Barlachs Oder Käthe Kollwitz', die Musik Carl Orffs oder Paul Hindemiths.
Das alles, meine sehr geehrten Damen und Herren auch aus der SPD, muß man wissen, man muß wenigstens davon gehört haben oder unserer jungen Generation die Chance geben, sich mit diesem Erbteil auseinanderzusetzen.
Das alles macht am Ende unsere Kultur aus.
Die Fähigkeit zur eigenen Kreativität schöpft auch aus dem, was uns vorangegangen ist. Ich sage das, weil Kultur allein mit dem Aufzählen von Zahlen aus dem Bundeshaushalt mit Sicherheit zu dürftig abgehandelt ist.
„Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen" , läßt Goethe seinen Faust sagen, und dieser Satz ist heute so wahr, wie er auch damals wahr gewesen ist. Schule und Kirchen, Medien, gedruckte und flimmernde, sind dazu aufgefordert, unser kulturelles Erbe in Gänze weiterzutragen. Aber auch die Kultureinrichtungen selber und alle Künstler wirken natürlich an der Zukunft dessen mit, was wir an Kultur weitergeben und auch lebendig weiterreichen wollen.
Keine Gesellschaft, kein Volk, kein Staat kann es sich auf Dauer leisten, allein auf Wirtschaftskraft zu setzen. Denken und Handeln nur an der kommerziellen Verwertbarkeit auszurichten, das bedeutet am Ende geistige und kulturelle Verödung. Insofern ist der Umgang eines Staates mit seiner Kultur und den kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten seiner Künstler ein wichtiger Indikator für die Zukunftsfähigkeit.
Der Bundestag hat den Haushalt für innerstaatliche Kultur mit den jetzigen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. von 1982 bis heute mehr als verdreifacht. Kein Einzeletat des Bundeshaushaltes ist so gewachsen. Im Jahre 1982 wurden 346 Millionen DM bereitgestellt; heute sind es 1,3 Milliarden DM.
Rund 3,3 Milliarden DM sind darüber hinaus von 1991 bis 1993 für die Übergangsfinanzierung für kulturelle Maßnahmen in den neuen Ländern aufgewendet worden.
Das „Leuchtturm-Programm Kultur" und das Denkmalschutz-Sonderprogramm „Dach und Fach"
bewahren bedeutsame Kultureinrichtungen und Baudenkmäler für die Zukunft.
Darüber hinaus wird mit großem Verantwortungsbewußtsein durch gesonderten Etat das kulturelle Erbe Deutschlands aus den Vertreibungsgebieten und in den Vertreibungsgebieten gepflegt; dafür haben wir eine besondere Verantwortung.
Die grundgesetzliche Kulturpriorität zugunsten unserer Bundesländer könnte in Zeiten knappen Geldes eine Verlockung und leichte Ausrede für den Bundestag sein, sich aus der Kulturförderung Schritt für Schritt zurückzuziehen und den Ländern die Verantwortung freundlich vor die Füße zu legen. Das, meine Damen und Herren, ist - gottlob! - in der Vergangenheit und bis heute nicht der Fall gewesen, im Gegenteil: Eher haben die Länder die Neigung, ihre Anteile zu verringern.
Wir können in Deutschland auf eine gesamtstaatliche kulturelle Verantwortung und auch Repräsentanz so wenig verzichten wie andere Nationen auch.
Wenn es eines beredten Beispiels dafür bedurfte, wie nötig eine stärkere kulturpolitische Leitfunktion des Bundes ist, so mag die babylonische Rechtschreibverwirrung als wirklich umwerfender Beleg dafür dienen. Schilda läßt hier grüßen.
Unabhängig von staatlicher Kulturförderung sind aber kulturelles Mäzenatentum und Kultursponsoring eine wichtige Ergänzung. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen hierfür sind inzwischen deutlich verbessert worden. Großspenden ab 50 000 DM für als besonders förderungswürdig anerkannte kulturelle Zwecke können, auf acht Jahre verteilt, steuerlich abgezogen werden. Die Befreiung von der Erbschaftsteuer ist möglich, wenn das durch die Erbschaft Erworbene innerhalb eines Zeitraums von 24 Monaten einer gemeinnützigen Stiftung zugeführt wird, die kulturellen Zwecken dient; das ist wesentlich. Die ertragsteuerliche Behandlung beim Sponsoring ist deutlich verbessert worden. Inzwischen sind auch die steuerbürokratischen Interpretationen für die empfangenden Kultureinrichtungen korrigiert worden.
- Erfreulicherweise und „Gott sei Dank".
Ich freue mich zum einen, daß unser kulturpolitischer Antrag, der auch die Initialzündung zu einer deutschen Kulturstiftung enthält, die anderen Frak-
Erika Steinbach
tionen bewogen hat, sich selbst ebenfalls mit Kultur zu beschäftigen, wie ja die spontanen Anträge der vorigen Woche deutlich machen. Unser Antrag stammt vom September; Ihre Anträge sind vorige Woche auf den Tisch gekommen.
Also, das hat Frucht getragen, und das ist erfreulich. Ich möchte dies hier doch anmerken.
Zum anderen freue ich mich auf fruchtbare Diskussionen im Innenausschuß. Unumwunden füge ich aber hinzu, daß es besser wäre, wenn wir einen eigenen Kulturausschuß hätten.
Unser kulturelles Erbe ist voller Substanz und tiefer Kraft. Es hat über eine unmenschliche Mauer und Grenze hinweg - trotz Stacheldraht, trotz Tellerminen und trotz Schießbefehl, trotz zweier Gesellschaftssysteme - über Jahrzehnte hinweg unsere gemeinsame nationale Identität getragen.
Dieses Erbe hat uns den Weg aus der Isolation und dem Abseits nach 1945 sehr erleichtert. Mit weitem Herzen und offenen Sinnen müssen wir unserer Kultur schöpferischen Raum für die Zukunft lassen und den nachfolgenden Generationen die Fähigkeit zum Erkennen und Erleben dieser Werte weiterreichen.
Als nächster spricht der Kollege Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kulturpolitische Debatten im Bundestag sind selten, so selten, daß man sich vor Verwunderung fast die Augen reibt, wenn man in einer solchen Debatte reden kann. Man komme mir nicht mit der mangelnden Bundeskompetenz für Kulturfragen. Bei allem berechtigten Respekt vor dem Föderalismus: Die Bundesregierung und vor allem dieses Parlament haben eine Gesamtverantwortung für den Kulturstaat Deutschland.
Die kulturpolitische Askese des Bundestages - um mich vornehm auszudrücken - ist der wirklichen Bedeutung der Kultur und der Künste in unserer Gesellschaft gänzlich unangemessen. Wir sind gewiß mitten in dramatischen und schwierigen Umwälzungsprozessen, in Zeiten rasanten technologischen, ökonomischen und sozialen Wandels. Aber machen Globalisierung und Entwicklung zur Informationsgesellschaft, die Bewältigung der Probleme der deutschen Einigung, die Schaffung des gemeinsamen Europa, die Einführung des Euro und die Krise der Arbeitsgesellschaft und der Sozialsysteme, machen diese Probleme und Entwicklungen, unter welchen Schlagworten wir sie auch immer fassen mögen, die Kultur und die Künste weniger wichtig? Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Sie gewinnen an lebensweltlicher Bedeutung, weil - um nur einige Gründe zu nennen - Phantasie und Visionen gefragt sind angesichts so großer alltäglicher, auch politisch-intellektueller Phantasielosigkeit, weil sinnliche Wahrnehmung, ästhetischer Wahrnehmungsreichtum ein offensichtlich kräftiges Bedürfnis sind, das sich gerade angesichts bestimmter Tendenzen der Entsinnlichung in der Arbeitswelt der modernen Technologien verstärkt. Man beobachte nur den wachsenden Erfolg von Kunstausstellungen, die Feste ästhetisch gestalteter sinnlicher Anschauung sind.
Kultur und Kunst gewinnen an Bedeutung, weil wir Menschen offensichtlich auch zweckfreier oder wenigstens zweckentlasteter Kommunikation bedürfen angesichts der Instrumentalisierung unserer sozialen Beziehungen, unserer Kommunikation. Kultur und Kunst gewinnen an Bedeutung, weil das Verlangen nach historischer Vergewisserung groß ist, nach Identifikationsmustern, nach Identitätserprobung inmitten eines so großen sozialen, ökonomischen und politischen Umbruchs und auch inmitten von soviel Entwertungserfahrungen von Menschen.
So, wie die Kultur zu Zeiten der staatlichen Trennung der Deutschen ein einigendes Band war, so wichtig, so unersetzlich ist sie heute, wenn die Einigung gelingen soll.
Kultur und Kunst gewinnen an Bedeutung, weil Kultur nicht bloß Kompensation ist und sein darf, sondern zugleich immer auch kritische Reflexion des Fortschritts,
lebenswichtige, befreiende Distanz zu erstickenden ökonomischen, politischen und ideologischen Zwängen ermöglicht. Ich als ehemaliger DDR-Bürger weiß, wovon ich rede.
Kultur ist nach meiner Überzeugung der Raum, der Erfahrungsort, die Erlebnisspanne menschenverträglicher Ungleichzeitigkeit, einer Ungleichzeitigkeit, die wir um unseres Menschseins willen brauchen. Deswegen darf sie nicht auf Quotenkultur, also auf den massenmedial organisierten Publikumserfolg, reduziert werden, ebensowenig auf bloße Eventkultur, die gewiß auch sein muß, weil sie Unterhaltungs- und Erlebnisbedürfnisse befriedigt. Deswegen muß es bei der öffentlichen Verantwortung für Kultur, bei ihrer öffentlichen Finanzierung bleiben, so wichtig
Wolfgang Thierse
private Stiftungen, privates Sponsoring und alle Formen privater Förderung sind.
Ich will daran erinnern: Bisher sind es nur wenige Prozente, die die private Kulturförderung ausmachten. Es können und sollen mehr werden, und all das, was private Förderung fördert, sollten auch wir fördern.
Aber dies ersetzt nicht die öffentliche Verantwortung. Diese Verantwortung meint auch den Bund, meint ihn sowohl finanziell wie ordnungspolitisch, wie in seiner Koordinierungsaufgabe gegenüber Europa.
Bundesverantwortung, staatliche Verantwortung für Kultur zielt dabei nicht - damit kein Mißverständnis aufkommt - auf Staatskultur etwa im Sinne des vor allem Repräsentativen oder gar Affirmativen. Öffentliche Kulturförderung muß vielmehr Unterstützung sein für das Gefährdete, das Empfindliche, das Neue, das nicht schon und selbst kommerziell Erfolgreiche,
wobei ich kommerziellen künstlerischen Erfolg absolut nicht verdammen will. Im Gegenteil: Es ist gut, daß es ihn immer wieder gibt. Öffentliche Kulturförderung zielt - wenn ich es in einer mir etwas fremden Sprache sagen darf - auf die Sicherung der kulturellen Qualitäten unseres Lebensstandortes Deutschland.
Dabei hat der Bund bereits viele Aufgaben übernommen, die er trotz und gerade angesichts knapper Kassen - die der Länder und Kommunen sind ja wahrlich nicht weniger knapp; teilweise geht es ihnen noch schlechter, besonders in Ostdeutschland - großzügig zu lösen hat. Ich nenne einige dieser Aufgaben: Die Künstlersozialversicherung darf nicht gefährdet, sie muß finanziell weiterhin gestützt werden;
denn vielen Künstlern geht es deutlich schlechter.
Wir müssen den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Kunstwerke beibehalten und sollten darüber hinaus Ausstellungshonorare einführen.
Ich hoffe, die Besteuerung der Empfänger von Kultursponsoring ist wirklich und endgültig erledigt. Ausgaben für Kultur dürfen übrigens steuerrechtlich nicht schlechtergestellt werden als die für Sport und Wissenschaft. Das wäre schlicht unsinnig.
Wenn ich dann an die Verpflichtungen des Bundes bei der Förderung zeitgenössischer Kunst wie des kulturellen Erbes, bei der Sicherung der kulturellen Substanz in Ostdeutschland, bei der Förderung der Hauptstadtkultur Berlins, bei der Erhaltung und Pflege der Gedenkstätten der Nazidiktatur und der SED-Diktatur - sie sind teilweise in beklagenswertem Zustand; hier ist der Bund in der Pflicht - und wenn ich an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz usw. denke, dann ist das Spektrum dessen, was der Bund an tatsächlicher Kulturpolitik gut oder weniger gut betreibt, nur vage umrissen.
Die Kulturpolitik bedarf der parlamentarischen Begleitung. Deswegen sollten wir einen Kulturausschuß haben, so wie wir einen Sportausschuß haben, oder wenigstens wieder einen Unterausschuß Kultur. Wir waren uns darin doch einmal einig.
- Auch ich meine, der Sport ist eine außerordentlich wichtige gesellschaftliche Erscheinung.
Ich will nicht das eine gegen das andere ausspielen. Aber wir sollten uns darin einig sein: Wenn es denn schon einen Sportausschuß gibt, dann brauchen wir vernünftigerweise auch einen Kulturausschuß.
Denn das, was wir jetzt haben, ist eine deutliche parlamentarische Diskriminierung der kulturpolitischen Aufgaben.
Meine Damen und Herren, eine Schlußbemerkung: Vermutlich sind die schönen Zeiten für etwas längere Zeit vorbei, in denen Hilmar Hoffmann, einer der wichtigen Kulturpolitiker in Deutschland, sagen konnte: „Kulturpolitik heißt Ermöglichen" - ein wunderbares Wort. Es ist nicht mehr alles möglich. Deshalb bedeutet Kulturpolitik wieder, Entscheidungen, Wertentscheidungen zu treffen. Diese verlangen und setzen den kulturellen Diskurs, die Anstiftung des Politikers, dem sie sich auszusetzen haben, voraus.
Üben wir uns in diesem Hause nicht wieder so lange in kulturpolitischer Schweigsamkeit!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer.
Kein Wort gegen den Sportausschuß; ich bin ja selbst ein Fußballfan. - Das war nur ein Spaß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da wir alle meinen, daß die Debatten über Kultur zu selten sind, möchte ich vorweg eine Bemerkung und dann noch einen Vorschlag machen. Zum einen fällt mir die Leere der Bundesratsbank auf.
Kulturpolitik ist ein wichtiger Bestandteil des Föderalismus. Die Vertreter der Länder haben bei einer solchen Debatte hier anwesend zu sein.
Zum anderen möchte ich vorschlagen, daß wir in der nächsten Legislaturperiode über Kunst und Kultur nicht schon im Schatten des Wahlkampfs, sondern am Anfang der Legislaturperiode diskutieren. Dann können wir noch Konsequenzen ziehen, was wir allerdings auch noch heute tun können.
Tatsächlich nämlich sind Kulturdebatten Selbstverständigungsdebatten eines Parlaments, aber auch einer Gesellschaft. Darin könnte und kann man sehr viel erfahren, zum Beispiel über die innovativen Potentiale einer Gesellschaft, über die Reformfähigkeit, auch über den Umgang mit Gewalt, über die Friedensfähigkeit. Selbst über den Stand der deutschen Einheit und vor allen Dingen auch über den Stand der europäischen Einheit kann man in einer Kulturdebatte sehr viel mehr erfahren als in manchen Chefetagen.
Wir haben wenig Zeit. Ich möchte Ihnen deswegen unseren Gesetzentwurf zum Stiftungswesen vorstellen. Damit wollen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, und der Regierungskoalition helfen, ein Versprechen der Koalitionsvereinbarung zu erfüllen. Am 11. November 1994 nämlich haben Sie, verehrte Kollegen, folgendes beschlossen: In bezug auf die Förderung von Kunst und Kultur soll ein „besonderer Schwerpunkt der Politik in den nächsten Jahren ... darauf gerichtet sein, die Rahmenbedingungen für die Aktivierung privater Bereitschaft zu verbessern. In diesem Sinne soll das Stiftungsrecht weiterentwickelt werden." So das Versprechen auch gegenüber den Stifterverbänden. Der Bundeskanzler und der Finanzminister haben das bei zahlreichen Gelegenheiten wiederholt.
Jetzt stehen wir am Ende der Legislaturperiode, und es ist noch kein Vorstoß erfolgt, wie wir die Bedingungen von Stiftern und Stiftungen verbessern können. Dabei ist es doch gerade in einer Zeit, in der
wir über Globalisierung diskutieren, wichtig, etwas gegen die Globalisierung privater Vermögen zu tun. In einer Zeit, in der privat 300 Milliarden DM im Jahr vererbt werden, muß auch die Politik darum kämpfen, daß diese Gelder nicht in Aktienspekulationen oder nur in Ostimmobilien gehen, sondern daß man sich hier vor Ort engagiert zum Besten unserer Gesellschaft.
Die Zeit drängt. Darum haben wir jetzt einen eigenen Entwurf vorgelegt. Wir haben die Debatte in den Verbänden, den Stiftungen und der Wirtschaft unter den Juristen und Praktikern gesucht. Unser Entwurf ist bewußt einfach, pragmatisch und konsensorientiert. Es geht uns in der Stiftungsdebatte nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern nur darum, die Vorschläge aus der Praxis sehr schnell aufzunehmen und hier möglichst konsensorientiert umzusetzen.
Wir wollen Anreize schaffen, neue Stifter zu gewinnen. Dafür haben wir - das ist auf Grund unserer Tradition eher erstaunlich - die Debatte in den eigenen Reihen geführt und darin manche Ressentiments gegen die Stellung von Stiftern in der Gesellschaft überwunden. Ich glaube, daß das ein wichtiger Beitrag unseres kulturellen Milieus war, damit die Bereitschaft zu stiften öffentlich gefördert wird.
Unser Entwurf beinhaltet im wesentlichen zwei Teile: eine Reform des § 80 ff. BGB und einen steuerlichen Teil. Im BGB geht es uns um drei Grundsätze:
Erstens. Das bestehende Genehmigungsverfahren, das Konzessionssystem, wird durch ein Stiftungsregister ersetzt. Bei Einhaltung formeller Kriterien besteht also so etwas wie ein „Recht auf Stiftung", ein Recht auf die Eintragung ins Register.
Das Stiftungsregister beseitigt meines Erachtens ein Relikt aus einer Zeit, die ein anderes, nämlich ein obrigkeitsstaatliches Verständnis hatte: Der Staat war tendenziell immer mißtrauisch gegenüber eigenständigem bürgerlichem Engagement. Dieses Mißtrauen gab es sowohl von oben, von staatlicher Seite, als auch von der extremen Rechten und von der extremen politischen Linken. Das aber war im Kern immer ein Mißtrauen gegenüber bürgerlichem Selbstverständnis. Im übrigen war es in unserer Geschichte nicht nur mit antibürgerlichem, sondern auch mit antisemitischem Ressentiment verbunden; denn ein guter Teil der Stifter, die wir hatten, waren jüdische Bürger.
Der Staat muß dieses Mißtrauen aufgeben.
Die letzten Reste ideologischer Vorbehalte wollen wir versuchen unter uns aufzuheben. Der Staat soll nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die Zulässigkeit, die Form und die Ausstattung einer Stiftung zu prüfen und eine Genehmigungspflicht zu unterlegen. Wir sind der Meinung, daß er es nicht mehr nötig hat, zu prüfen, welche Zwecke die Bürger, die dafür sehr viel Geld investieren, für gut und richtig halten. Wichtig ist allerdings, daß er die Frage der Gemein-
Dr. Antje Vollmer
nützigkeit überprüft. Das aber wird weiterhin vom Finanzamt gemacht.
Zweitens. Unser Entwurf sieht keine Stiftung vor, deren Zweck hauptsächlich auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ausgerichtet ist. Das ist auch nicht der eigentliche Sinn von Stiftungen. Familienstiftungen aber wollen wir erhalten. Sie müssen alle 30 Jahre von allen Erbberechtigten ausdrücklich verlängert werden. Das heißt, sie können nur dann weitergeführt werden, wenn alle Erbberechtigten nach 30 Jahren zustimmen. Wir wollen keine Feudalisierung großer Vermögen auf ewig. Ich denke, das ist auch gerecht.
Unser Hauptziel ist also die Stärkung gemeinnütziger Stiftungen. Der Begriff „Stiftung" muß ein Markenzeichen sein für eben dieses gemeinnützige bürgerschaftliche Engagement.
Drittens schaffen wir mehr Transparenz und damit, so denke ich, auch mehr Akzeptanz von Stiftungen. Die Stiftungen werden analog zu anderen Körperschaften zu einer ordentlichen Buchführung und zur Erstellung eines Jahresabschlußberichtes verpflichtet, genauso wie das in den USA der Fall ist. In den USA wurde die hohe gesellschaftliche Akzeptanz nicht zuletzt wegen dieser Durchsichtigkeit erreicht.
Der zweite Teil unserer Vorschläge betrifft die steuerlichen Voraussetzungen. Da wollen wir folgendes neu: Zuwendungen an gemeinnützige Stiftungen bis zu einer Höhe von 50 000 DM - das ist keine unermeßliche Summe - werden abzugsfähig; das gilt auch für die Einbringung von Betriebsvermögen. Wenn zum Beispiel ein Maler seine Bilder einer Stiftung zuführen will, soll das nicht mehr als verdeckte Gewinnentnahme versteuert werden müssen.
Erbschaftsteuerrechtlich dehnen wir die Befreiung von der Steuer bei der Weiterleitung ererbten Vermögens an eine Stiftung auf a 11e gemeinnützigen Zwecke aus. Das heißt, wir bleiben im Rahmen der jetzigen Regelung, wollen aber, daß dies für alle gemeinnützigen Zwecke gilt. Damit wenden wir uns gegen eine zusätzliche Konzession oder eine Hierarchisierung guter Zwecke.
Wir haben überlegt, das Gemeinnützigkeitsrecht - es wäre eigentlich auch an der Zeit -, insgesamt einmal zu reformieren. Manches gehört heute nicht mehr hinein, manches müßte neu hinein. Dies ist aber über das Stiftungsrecht wirklich nicht zu leisten. Wir wollen uns nicht übernehmen. Vor allen Dingen aber wollen wir in der Sache, wo wir uns schnell einigen können, bald ein Ergebnis.
Für die bestehenden Stiftungen erhöhen wir den Anteil des Ertrags auf Kapital, der als vermögenssichernde Rücklage genutzt werden kann, auf ein Drittel. Das ist neu und entspricht der Forderung des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen und des Kulturkreises des BDI. Es gab auch andere Vorstellungen, zum Beispiel, die Rücklagenbildung ganz freizugeben. Das haben wir nicht übernommen. Denn der Sinn von Stiftungen ist ja, daß sie ihre gemeinnützigen Zwecke verfolgen und ihnen möglichst viele Mittel zukommen. Die Sicherung des Vermögens ist zwar auch wichtig - eine Stiftung möchte ja
sehr lange existieren, und die bestehende Regelung ist zu eng gefaßt -, aber mit einem Drittel müßten die Stiftungen ausreichend wirtschaften können, meine ich.
Wir haben uns übrigens auch überlegt, besondere Regelungen für Sammel-, Gemeinschafts- und Gemeindestiftungen zu verfassen, gerade deswegen, weil wir nicht nur an die Erben großer Vermögen heranwollen, sondern auch Menschen mit kleinem Vermögen ermutigen wollen, sich - vielleicht mit Unterstützung der Kommune - für einen solchen Stiftungszweck zu engagieren. Aber im Moment sind die Dinge noch sehr im Fluß, und man würde die Praxis eher behindern, wenn man zu schnell gesetzgeberisch eingreifen würde. Deswegen lassen wir das offen. Aber irgendwann gibt es vielleicht eine Möglichkeit, in bezug auf diese „matching funds" etwas zu machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe sehr, daß Sie alle mit uns ein Interesse daran haben, die Reform des Stiftungsrechts schnell, wenn möglich noch in dieser Legislaturperiode, auf den Weg zu bringen. Deswegen wollen wir auf jeden Fall in den Ausschüssen sehr bald eine Anhörung durchführen. Das ist der beste Weg, um die noch offenen Fragen und die alternativen Vorstellungen zu klären. Sie wissen noch besser als ich, daß die Stifterkreise und die Wirtschaft darauf schon sehr ungeduldig warten, weil sie eine gesetzgeberische Initiative wollen. Arbeiten Sie doch mit uns zusammen, so daß wir schnell zu einem Ergebnis kommen! Darum bitte ich auch besonders Sie, Herr Bundeskanzler, weil ich weiß, daß Sie in dieser Sache eigentlich etwas machen wollten.
Nun noch ein Wort zu unserem Finanzminister - er ist heute nicht anwesend -, an dem es, so glaube ich, im Moment wirklich hakt. Sein Wirken im Bereich von Kunst und Kultur in der letzten Zeit war, um es vorsichtig zu sagen, nicht besonders glücklich. Es gab nicht nur über den Erlaß zum Kultursponsoring enorme Unruhe - den er, wie ich hörte, in einem Faschingsgespräch mit Herrn Everding und im Wege einer Presseerklärung der verehrten Kollegin Steinbach korrigiert hat -, sondern auch wegen der Besteuerung ausländischer Künstler.
Damals war er lernbereit; wir haben die Sache korrigiert. Ich meine aber, die ganze Geschichte wäre nicht passiert, wenn wir wirklich den gemeinsam gewünschten Kulturausschuß hätten.
In diesem hätte man Ihnen nämlich fachkundigen Rat zur Verfügung stellen können.
Meine Damen und Herren, die Kulturpolitik des Bundes muß generell eine neue Ausrichtung erhalten. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, den ich Ihnen aus Zeitgründen jetzt nicht mehr vorstellen kann. Ich bitte Sie nur, ihn zu überprüfen.
Dr. Antje Vollmer
Ich möchte noch eine Bemerkung zu den Fördergeldern des Bundes machen: Ich glaube wie der Kollege Thierse, daß wir nach den Vorschriften unseres Grundgesetzes die jetzige Förderung überhaupt nicht unterschreiten können. Ich aber glaube wiederum, daß eine Gesellschaft, die sich als Bürgergesellschaft versteht und bereit ist, selbst viel für die Weiterentwicklung und die Reform im sozialen und kulturellen Bereich zu stiften, die beste ist, um auch die Kulturetats zu verteidigen. Diesen Druck von unten braucht man auf jeden Fall.
Ein ganz kleines konkretes Beispiel liegt mir noch sehr am Herzen; das möchte ich Ihnen am Ende noch zum Vorschlag bringen. Es geht darum, wie der Bundesgesetzgeber auch in kleinen Schritten etwas tun kann, um die Situation von Künstlern schnell zu verbessern. Schon lange kämpfen die Künstler - Herr Kollege Thierse hat es gesagt - um eine Austellungsvergütung, ähnlich der Vergütung, wie sie etwa den Musikern durch die GEMA zukommt; darüber hat es lange Diskussionen mit den Galeristen gegeben. Das wäre zwar eine kleine Verbesserung, die aber gerade den bildenden Künstlern ungeheuer viel bedeuten würde. Ich bitte Sie, daß wir auch diese kleine Verbesserung gemeinsam schnell durchführen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ina Albowitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschheit des 21. Jahrhunderts bewegt sich in virtuellen Welten und schickt ihr Wissen im Sekundentakt auf Datenautobahnen rund um den Globus. Handys, Emails, das Internet, Fernsehprogramme 24 Stunden lang sind längst Bestandteil unseres Alltags geworden. Wo aber Information zum Überfluß verfügbar ist, wo der Zeitgeist sich aus Soap operas speist, gerät Orientierung zum Imperativ der menschlichen Existenz.
„Die Zeit ist aus den Fugen", läßt Shakespeare Hamlet sagen. Die demographische Forschung bestätigt uns im achten Jahr der Einheit Deutschlands, daß die Menschen in unserem Land auf der Suche nach neuen Wegen sind. Deshalb sind Kunst und Kultur noch viel stärker als bisher gefordert, der Gesellschaft Identität zu geben. Das stellt die Kulturschaffenden, aber auch die verantwortlichen Kulturpolitiker vor neue große Herausforderungen.
Dabei ist die Pflege des kulturellen Erbes nur ein Aspekt zukunftsorientierter Kulturpolitik. Die Fortentwicklung des Heutigen und Visionen für die Zukunft sind ebenso unverzichtbar.
Schon immer hat die Kultur der Gesellschaft wichtige
Impulse gegeben. Sie ist Avantgarde und Tradition
zugleich und gehört damit zu den Lebensgrundlagen eines Volkes.
Kulturpolitik darf Nestwärme erzeugen und muß Menschen in eine Gesellschaft integrieren, und zwar alle: junge und alte, arme und reiche, kunstbeflissene und eher kritisch distanzierte. Für uns Liberale hat Kultur eine besondere Bedeutung, weil die kulturellen Grundlagen einer Gemeinschaft auch die Basis aller Verständigung sind. Wir wollen, daß sich Kreativität und Phantasie in einem Klima der geistigen Freiheit entfalten können; denn es entspricht unseren liberalen Überzeugungen, daß nur so die besten Möglichkeiten des Menschen entdeckt werden und auch zum Tragen kommen.
Leider wird die zentrale Bedeutung der Kultur als Bindeglied der Gesellschaft heute allzuoft verkannt. In unserer Zeit dominieren die materiellen Werte. Kunst wird meistens auf das Feuilleton reduziert, und Kulturmagazine werden auf die hintersten Sendeplätze abgedrängt, wie es derzeit wieder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu beobachten ist.
Dabei haben gerade wir Deutschen über Jahrhunderte hinweg von unserer kulturellen Vielfalt gezehrt. Sie war das Licht, durch das uns selbst die dunklen Zeiten unserer Geschichte nichts anhaben konnten. Im Zeitalter der Globalisierung und des verschärften internationalen Wettbewerbs aber ist die deutsche Kultur heute schließlich auch zu einem Entscheidungskriterium für die Wirtschaft geworden.
Aber der Nachlaß von Goethe und Schiller, von Kopernikus und Kant, von Kokoschka und Käthe Kollwitz ist noch viel mehr. Er ist die Klammer, die uns in den langen Jahren der Trennung mit unseren Landsleuten jenseits der Grenzen verbunden hat. Vor allem aber ist er ein Teil unseres kulturellen Erbes und unserer gemeinsamen Zukunft im vereinten Europa.
Meine Damen und Herren, Zukunftsvisionen können einen realistischen Blick auf das Hier und Heute nicht ersetzen. Ich weiß: Was ich jetzt sage, ist nicht neu, aber leider aktuell. Das Hautproblem der Kulturpolitik ist -gleichgültig ob beim Bund, bei den Ländern oder in den Gemeinden - das liebe Geld. Jeder Intendant, jeder Kulturdezernent und die große Mehrheit aller Kulturschaffenden können ein Lied davon singen. Die Kassen sind leer und die öffentlichen Aufgaben groß. Bedrückende Arbeitslosigkeit, hohe Soziallasten und sinkende Staatseinnahmen lassen die Kulturetats nicht ungeschoren.
Allerdings kann sich der Bund in diesem schwierigen Umfeld sehr gut sehen lassen. Insgesamt gibt er die stolze Summe von 4,5 Milliarden DM für Kunst und Kultur im Inland und für die auswärtige Kulturpolitik aus. Dabei ist die Förderung eigentlich Ländersache. Die Zuständigkeiten des Bundes beziehen sich in diesem Kontext auf gesamtstaatliche und internationale Angelegenheiten.
Ina Albowitz
Als Haushaltspolitikerin weiß ich, wie hoch das große Engagement des Bundes gerade in einer vom Sparen geprägten Zeit einzuschätzen ist. Als kulturpolitische Sprecherin meiner Fraktion kenne ich aber auch die andere Seite der Medaille, nämlich das für eine Kulturnation Notwendige und Wünschenswerte zu fördern. Nicht selten kommt es einem Spagat gleich, beides zu verbinden.
Doch wenn die öffentlichen Hände die Mark zweimal umdrehen, bevor sie sie für Kultur ausgeben, muß in der Konsequenz verstärkt nach Alternativen gesucht werden. Deshalb bemühen wir uns um bessere Bedingungen für private Geldgeber. Sponsoring und Mäzenatentum heißen die Stichworte, die einst wie Zauberformeln herumgereicht wurden. Inzwischen mußten wir leider feststellen, daß auch diese Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Wir werden noch viel mehr tun müssen, damit vorhandenes Potential durch indirekte Kulturförderung besser genutzt werden kann.
Wenn man die Instrumente richtig einsetzt, lassen sich erstaunliche Effekte erzielen. Umgekehrt kann allerdings durch falsches Agieren sehr viel Porzellan zerschlagen werden.
Frau Albowitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Ja, gerne.
Kollegin Albowitz, Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß wir mehr private Förderung der Kultur brauchen, und Sie haben vorhin erwähnt und beklagt, daß die öffentlich-rechtlichen Anstalten kulturelle Sendungen immer mehr an den Rand drängen. Meine Frage deshalb: Wieso unterstützen Sie dann die Forderung der Medienkommission Ihrer Partei, die gerade private Finanzmittel für öffentlich-rechtliche Anstalten streichen will und damit ihnen die Möglichkeit für kulturelle Arbeit weiter entzieht? Wie paßt das zusammen?
Ich glaube, das paßt überhaupt nicht zusammen. Ich kenne diesen Beschluß nicht.
So ist das auch nicht bei uns beschlossen worden - nur damit das ganz klar ist.
- Noch einmal: Ich denke, Sie verwechseln da irgend etwas, Herr Kollege. Da bin ich ziemlich sicher.
Meine Damen und Herren, ein plakatives Beispiel, wie sich das ursprünglich gut Gemeinte ins Gegenteil verkehren kann, war der von Bund und Ländern 1997 erarbeitete Sponsoringerlaß. Er sollte mehr Klarheit in das Dickicht der steuerrechtlichen Behandlung bringen und die Rahmenbedingungen für das Sponsoring verbessern. Dieses Ziel wurde durch eine viel zu enge Auslegung des Erlasses durch die Finanzbehörden konterkariert. Monatelanger Einsatz war nötig, um eine Rücknahme dieser unsinnigen Auslegung zu erreichen, was Anfang dieser Woche geschehen ist. Damit kann der Erlaß nun endlich zum Vorteil der Kulturschaffenden wirken.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat im Bereich der Steuerpolitik in dieser Legislaturperiode einiges geschafft, wenn auch der ganz große Wurf am Widerstand der Opposition gescheitert ist.
- Sie müssen es sich halt anhören.
Aber so manche Verbesserung im Spenden- und Gemeinnützigkeitsrecht können wir uns zugute halten. Wir werden diesen Weg weitergehen und die Rahmenbedingungen Stück für Stück verbessern.
Was private Stiftungen leisten, zeigen aufsehenerregende Beispiele wie die Paul-Getty-Stiftung in den USA. Hier haben wir in der Bundesrepublik noch Nachholbedarf.
Deshalb setzt sich auch die F.D.P. für eine Novellierung des Stiftungsrechtes ein. Stiftungen sind gerade für die Generation der Erben eine hervorragende Form privaten Engagements für Kunst und Kultur.
Wir wollen bürokratische Hemmnisse abbauen und Anreize für die Einrichtung von Stiftungen schaffen. Deshalb unterstützen wir auch den Gedanken, eine große Kulturstiftung zu gründen, bei der der Bund den Grundstock legt. Darauf aufbauend, könnten sich weitere öffentliche Institutionen, aber auch Privatleute in die Kulturförderung einbringen.
Ina Albowitz
Parallel zum Stiftungsrecht muß das Stiftungssteuerrecht verbessert werden. Dasselbe gilt auch für das Spendenrecht. Es gibt viel unnötigen Ballast, der leider manchmal allzufest im Gewohnten verankert ist. Zähes Ringen war zum Beispiel notwendig, um - hoffentlich in Kürze - das kulturschädliche Durchlaufspendenverfahren zu Fall zu bringen.
Herr Staatssekretär, wir bitten Sie sehr herzlich darum, daß wir bald zu einem erfolgreichen Abschluß kommen können.
Auch der Bund selbst muß seine Kräfte bündeln und effizienter arbeiten. Durch die deutsche Einheit sind ihm zahlreiche neue nationale und internationale Aufgaben zugefallen. Ich denke an die gewaltigen Wiederaufbauleistungen in den neuen Bundesländern oder an das große kulturpolitische Engagement des Bundes in der Hauptstadt Berlin und in der Bundesstadt Bonn. Dieses Ziel muß auch bei den anstehenden Verhandlungen deutlich zum Ausdruck kommen. Beide Städte sind und bleiben wichtige Fixpunkte in der Kulturlandschaft Deutschlands.
Die veränderten Rahmenbedingungen haben zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten in der Kulturpolitik geführt. Nicht weniger als elf verschiedene Ministerien geben Geld für Kultur aus. Das bedeutet: elfmal Verwaltungsaufwand, vermutlich zwölf verschiedene Interpretationen der Kulturpolitik und nichtqualifizierte Doppelarbeit. Ich will auch nicht ausschließen, daß sich so manches gegenseitig in die Quere kommt. Einen solchen großzügigen Umgang mit knappen Ressourcen können wir uns nicht mehr leisten.
Deshalb fordere ich die Konzentration der Kompetenzen und Zuständigkeiten. Obwohl wir enorme Summen in Kunst und Kultur investieren, gibt es bei der Bundesregierung keinen wirklich zuständigen Ansprechpartner in kulturpolitischen Fragen.
Trotz aller föderalistischen Problematik muß ich sagen, daß ich das nicht mehr für angemessen halte.
Wenn der Bund den Ländern als Zahlmeister willkommen ist, muß er diese Verantwortung auch politisch wahrnehmen.
Gleichzeitig muß der Bundestag in der nächsten Wahlperiode wieder einen Kulturausschuß einrichten,
damit er die parlamentarische Kontrolle über die Aktivitäten der Regierung ausübt.
Frau Albowitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Albowitz, Sie haben mit Ihrem letzten Satz die Frage, die ich stellen wollte, schon beantwortet. Ich danke.
Wunderbar. Manchmal muß man bis zum Ende warten.
Zu den vordringlichen Aufgaben, die wir in den nächsten Wochen noch erledigen müssen, gehört die Umsetzung einer EG-Richtlinie zum Umgang mit Kulturgütern. Brüssel schreibt uns vor, wie wir die Rückgabe von unrechtmäßig exportierten Kulturgütern regeln sollen. Hier ist die Bundesrepublik in Verzug und bereits vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Das wäre nicht nötig gewesen, denn auch wir wollen - wie unsere westlichen Nachbarn - die Richtlinie umsetzen. Wenn aber auf die Richtlinie draufgesattelt wird, können wir dem nicht folgen. Die Sammler, der Leihverkehr, der Handel und die Museen müssen wissen, woran sie sind. Es geht nicht, daß sie noch Jahre nach dem Erwerb eines Gemäldes oder einer Skulptur mit dem Risiko leben, daß der Gegenstand nachträglich zum nationalen Kulturgut erklärt wird und ins Ausgangsland zurückgebracht werden muß.
Wir brauchen eine allgemein liberale Neuordnung des deutschen Kulturgutschutzgesetzes. Deregulierung und schlanker Staat sind dabei gefordert. Das läßt sich aber nicht übers Knie brechen. Hier ist eine breite öffentliche Diskussion erforderlich.
Eines möchte ich heute schon sagen: Die Kirchen und die anerkannten Religionsgemeinschaften können sicher sein, daß ihre Autonomie auch in kulturellen Angelegenheiten gewahrt bleibt. Der Staat hat sich hier nicht einzumischen.
Ziel unserer Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert ist es, ein taugliches System staatlicher und privater Kulturförderung zu unterstützen. Dabei sind wir nicht nur auf die Künstlerinnen und Künstler selbst, sondern auch auf die Hilfe und den Einsatz der unzähligen privat und ehrenamtlich Tätigen, der Unternehmen, Verbände und Vereine angewiesen. Sie
Ina Albowitz
investieren viel Zeit und viel Geld. Ohne sie wäre unsere Kulturlandschaft nicht das, was sie ist.
Ihnen möchte ich herzlich danken und sie ermutigen, nicht in ihrem Engagement nachzulassen. Gemeinsam mit ihnen, dem Staat und der Gesellschaft werden wir auch in Zukunft für ein farbiges und vielfältiges Kulturleben in Deutschland und in Europa sorgen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Ludwig Elm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte, die dazu vorliegenden Anträge und der vorliegende Gesetzentwurf bieten die Gelegenheit, die kulturpolitische Situation insbesondere mit Blick auf die Verantwortung und den Beitrag des Bundes zu bilanzieren. Es geht uns um ein weites Verständnis von Kultur, die nicht hauptsächlich als Teilfunktion des Wirtschaftsstandortes begriffen werden sollte. Barthold C. Witte schrieb gerade in den letzten Tagen von „Kulturpolitik, ja Kultur in der Krise" - in einer doppelten Krise der Finanzen und der Legitimation. Er schreibt, der Markt gewinne immer mehr Vorrang vor der staatlichen Intervention und Förderung. Kaum jemand traue sich noch, zu sagen, daß Kultur an sich förderungswürdig sei.
Tatsächlich bedarf der Sozialstaat der Ergänzung durch den Kulturstaat. Es sind die gleichen oder auch verwandten Gefährdungen, denen sie seitens einer konservativ-neoliberalen Politik der Privatisierung und Kommerzialisierung ausgesetzt sind. Sie haben ihnen gemeinsam zu widerstehen.
Das wurde in Debatten zur Ausbildungssituation und zu den Lebenschancen junger Menschen ebenso sichtbar wie in denen zur Reform der Hochschulen. Alternativen zur jetzigen Arbeitsmarktpolitik weisen neben sozialen und ökologischen Aufgaben auch ein weites Spektrum geistig-kultureller Aufgaben und Erwartungen an anspruchsvolle Angebote zur Freizeitgestaltung auf, das heißt Leistungen der Gesellschaft, die beispielsweise wesentlich von einem dauerhaft öffentlich geförderten Beschäftigungssektor wahrzunehmen wären. Auch die Auseinandersetzung um die soziale Grundsicherung schließt die Frage nach dem soziokulturellen Minimum jener ein, die in Armut leben.
Der Antrag der Regierungsparteien schreibt im wesentlichen in einer intellektuell dürftigen Weise Bisheriges fort. Die Appelle zur Innovationsfähigkeit haben auf diesem Feld offenbar noch nichts bewirkt. Dagegen sehen wir in dem grundsätzlichen kulturpolitischen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen eine fundierte Problembeschreibung mit neuen Ansätzen für die Kulturpolitik des Bundes bis zu verbesserten materiellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Kulturförderung. Stärker als es darin artikuliert ist, sehen wir den Staat angesichts der gesellschaftspolitischen Komplexität der Herausforderungen auf allen Ebenen des föderalen Systems gefordert, darunter auch den Bund bei künftigen Aufgabenschwerpunkten wie der Hauptstadtförderung, der Denkmalpflege und der Förderung ausgewählter Kulturinstitute. Die europäische und globale Dimension auch der kulturpolitischen Prozesse verstärkt diese Erwartung, wie die Kontroversen um die Buchpreisbindung zeigen.
Deutschland ist nicht mehr - wie im Antrag der Regierungsparteien behauptet - als inselhaft existierende Kulturnation christlich-abendländischer Tradition zu begreifen, die anderen Kulturen hauptsächlich äußerlich gegenübertritt. Das Morgenland ist längst in der Mitte Europas angekommen. Kulturpolitik hat die bereits gegebene Offenheit und Pluralität zu bejahen sowie auf ihre menschliche und zukunftsfähige Ausgestaltung hinzuwirken.
In auffälligem, aber nicht zufälligem Widerspruch zur Ignoranz gegenüber anderen Kulturen im eigenen Lande ist dem genannten Antrag zu entnehmen, daß deutsche Kulturlandschaften im Osten und Südosten Europas unter „innerstaatlicher Kulturpolitik" vereinnahmt werden. Warum nicht auch deutsches Kulturerbe in Elsaß-Lothringen, in Namibia und anderswo in der Welt?
Die ebenso anachronistische wie politisch zwielichtige Zuordnung zum Innenminister muß beendet werden. Wir unterstützen die entsprechenden Forderungen im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und im wesentlichen - etwas halbherziger formuliert - auch im Antrag der SPD.
Bündnis 90/Die Grünen unterbreiten auch ein konstruktives Angebot zur kulturpolitischen Komponente des inneren Einigungsprozesses in unserem Land. Der Streit um ostdeutsche Beiträge zur künstlerischen Ausgestaltung des Berliner Parlamentsgebäudes ist symptomatisch für andauernde intellektuelle und moralisch subjektive Blockaden beim Zusammenwachsen.
Kurt Masur hatte es schon vor einiger Zeit als deprimierend bezeichnet, daß Menschen mit dem Finger aufeinander zeigen und sich gegenseitig Schuld zuweisen, anstatt zu sagen - wie er es formulierte -:
Wir haben ein gemeinsames Schicksal, auch wenn wir aufgrund äußeren Zwanges andere Wege gehen mußten.
Vielleicht könnte die bundesweite und durchaus kontroverse Debatte zu Werk und Wirken von Bertolt Brecht ein Ausgangspunkt neuer, differenzierter gegenseitiger Kenntnisnahme und eines langfristig wirksamen besseren gegenseitigen Verstehens werden.
Herr Professor Elm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Bitte sehr.
Herr Abgeordneter, Sie haben gerade die Ausstattung des Reichstages mit Kunst und den Streit darum angesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß die PDS die einzige Gruppe in diesem Haus ist, die ihr Mandat in diesem Kunstbeirat nicht wahrnimmt? Haben Sie in Ihrer Fraktion schon einmal darüber nachgedacht, wie Sie das in der Zukunft abstellen wollen?
Herr Kollege, ich nehme Ihre Aussage zur Kenntnis. Ich kann sie in bezug auf unseren Platz und die Gründe der Nichtwahrnehrnung im Augenblick nicht stichhaltig erwidern, werde aber darauf reagieren. Ich würde es aber ebenso wie Sie, muß ich hier sagen, für kritikwürdig halten.
Ich möchte nach den Bemerkungen zu dem Beitrag der Grünen zu dem inneren Einigungsprozeß und seiner kulturpolitischen Komponente in meiner Rede fortfahren.
Um so befremdlicher und durchaus gegen solche Ansätze gerichtet ist der Versuch im Antrag der SPD, beispielsweise Gedenkstättenarbeit vorrangig und durchgängig unter die penetrante Parallelisierung von NS-Diktatur und DDR zu stellen. Wird dabei mit dem Zynismus spekuliert, daß Dutzende Millionen Opfer der faschistischen Eroberungs- und Ausrottungspolitik außerhalb deutscher Staatsgrenzen ihre letzte Ruhestätte fanden und dort vor allem ihrer gedacht wird?
Aber auch ohne eine solche Erwägung müssen diese Analogien und faktischen Gleichsetzungen von der Mehrzahl der Ostdeutschen als unerträglich empfunden werden. Es ist zu fragen, welche politischen oder gar kulturellen Zielsetzungen solche Konstruktionen rechtfertigen könnten und wer im Lande schließlich davon profitieren wird.
Bezüglich der Überlegungen und Vorschläge zu Stiftungswesen, Sponsoring und Mäzenatentum können wir hier nur die grundsätzliche Ausgangsposition skizzieren, die in den Ausschußberatungen auch von unserer Seite zu präzisieren ist. Wir unterstützen es, wenn durch steuerpolitische Förderung und Entbürokratisierung größere Anteile am gesellschaftlichen Reichtum der Literatur, der Kunst, der Bildung und dem Wissen zugute kommen und wenn diese Anteile helfen, sie zu fördern und spürbarer zu verbreiten.
Herr Professor Elm, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Bitte sehr.
Herr Kollege, Sie haben eben die Gedenkstätten angesprochen und dabei das Wort „Gleichsetzung" benutzt. Sind Sie bereit, anzuerkennen, daß es einen radikalen und für unser Land sehr wichtigen Unterschied zwischen Vergleichen und Gleichsetzen gibt?
Herr Kollege, ich gestehe Ihnen das zu. Mir ist diese Unterscheidung auch aus den Diskussionen im Lande über diese Probleme bekannt. Ich möchte aber hinzufügen, daß die Art und Weise, wie diese Parallelisierung in den Medien, in der Politik, in der Publizistik erfolgt, nämlich ununterbrochen, nach meinen Begriffen und nach dem Urteil einiger ausländischer Kollegen relativ leichtfertig und ohne sonderliche Hervorhebung der Wesensunterschiede, dazu beiträgt, tendenziell entgegen den Absichten mancher, die an dieser Diskussion beteiligt sind, faktisch eine solche Gleichsetzung in den Augen der Öffentlichkeit herbeizuführen. Diese Problematik steht für mich weiter zur Diskussion.
Großer Aufmerksamkeit und wirksamer sozial- und rechtspolitischer Vorkehrungen bedürfen die sozialen Probleme und Belange der Künstlerinnen und Künstler. Die Mehrzahl von ihnen hat im härter werdenden Konkurrenzkampf und in den existentiellen Auseinandersetzungen keine Trümpfe in der Hand. Das gilt bundesweit und zugleich in besonderem Maße für Ostdeutschland, wo die Umbrüche und Zäsuren auch abrupt in Lebens- und Berufsläufe, in Anwartschaften für Alterssicherung von Künstlerinnen und Künstlern eingegriffen haben.
Leistungen des Künstlersozialversicherungsgesetzes müssen gewahrt und gemäß neuer Erfordernisse ausgestaltet werden. Die Vorschläge von Gewerkschaften und berufsständischen Gruppen zur Arbeitsmarkt-, Steuer- und Rentenpolitik sind sorgfältig zu prüfen und bestmöglich zu berücksichtigen.
Abschließend möchte ich bemerken, daß wir die Vorschläge zur Wiedereinrichtung eines Kulturausschusses, die mit der Konstituierung des 14. Deutschen Bundestages erfolgen könnte, unterstützen und mit der Arbeitsaufnahme dieses Ausschusses zur Verwirklichung der bundespolitischen Verantwortung auf diesem wichtigen Feld unseres Gemeinwesens seitens der künftigen Fraktion der PDS im Bundestag unseren bestmöglichen Beitrag leisten wollen.
Danke schön.
In der Debatte spricht jetzt der Innenminister Manfred Kanther.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag will mit dieser Debatte zur besten Tagungszeit der Woche etwas deutlich machen. Er will den Menschen überall im Lande zurufen: Kultur findet in diesem Parlament eine starke Lobby,
Bundesminister Manfred Kanther
und wir sind dankbar für die Arbeit, die in ungezählten kulturellen Vereinigungen und Verbänden in unserem Land geleistet wird.
Es ist doch ein ganz entscheidender Gesichtspunkt, daß wir die Debatte nicht auf all die vielen wichtigen Haushalts-, Steuer-, Finanz- oder Verwaltungsfragen verengen,
sondern daß wir deutlich machen, daß die Beschäftigung mit Kultur uns allen ein Herzensanliegen und für unser Volk ein unentbehrliches Ferment ist und daß das nur gelingt, wenn das kulturelle Erbe von den Tausenden von Gruppen, die sich damit befassen, und von den vielen Freiwilligen, die es in Gesangsvereinen, in den Volkshochschulen, in den Brauchtumsgruppen und bei den Vertriebenen tragen, bewahrt wird.
In diesen Zusammenhang rücke ich diese Debatte und das, was der Bund dazu beitragen kann. Natürlich bleibt es dabei, daß die herausragende Verantwortung für die Kultur in unserem Land in ihrer ganzen enormen Breite bei den Ländern und Kommunen liegt. Der Bund ist für die Ereignisse, für die Organisationen, für die Objekte und die Denkmäler von nationaler Bedeutung zuständig, die insbesondere die finanziellen Kräfte einzelner Standorte überfordern würden. Er ist für besondere geschichtliche Ereignisse zuständig, die das ganze Volk angehen, etwa, wenn wir 1999 50 Jahre und 10 Jahre deutsche Demokratie miteinander begehen können.
Der Bund ist für die bedeutsamen Ereignisse, Veranstaltungen und Organisationen im Kulturbereich zuständig, die eine nationale Ausprägung haben. Er ist nicht der Ersatzfinanzier für alles und jedes. Es ist wichtig, daß wir das sagen. In Zeiten knapper Kassen kommt diese Bitte ständig an uns heran, sie ist aber nicht leistbar, wenn nicht anderes notleiden soll. Wir werden uns also auch in Zukunft nicht zu ungezählten Mischfinanzierungen verstehen, sondern zur Bewältigung der Aufgaben, die dem Bund tatsächlich aufgetragen sind.
Es ragt dabei heraus, daß der Bund in Zeiten knapper Kassen überall und beachtlicher Streichungen gerade von kulturellen Aufwendungen seine Kulturförderung mit 1,2 Milliarden DM - nur im Inland - aufrechterhält. Dabei bin ich guten Mutes, daß uns das weiter gelingt. Ich habe viel Anlaß, insbesondere den Berichterstattern und den an kulturellen Fragen besonders interessierten Kollegen, aber im Ergebnis natürlich dem ganzen Parlament, zu danken.
Ich habe immer ein offenes Ohr für die wichtigen Fragen der Kultur gefunden, wenn es darum ging, sie zu finanzieren. Dabei gibt es ein paar Dinge, die genannt werden müssen; denn wir müssen in diesem Land auch von dem sprechen, was uns gelingt, und
nicht nur immerfort von dem, was uns noch nicht gelungen ist und besser gemacht werden kann.
Wir haben Denkschmalschutzaufwendungen wie noch nie in der Republik. Sie steigen im Jahre 1998 von 35 Millionen DM auf 45 Millionen DM. Wir haben es geschafft, daß der Betrag für die einzige Position, die die Ministerpräsidenten bei der Verteilung des SED-Unrechtsvermögens sachlich zugeordnet haben, in Höhe von 50 Millionen DM dem Denkmalschutz über die Stiftung zukommt, und zwar in acht Raten von je 6,25 Millionen DM.
Wir haben das Programm „Dach und Fach" ausgebracht, dessen Namensvater der Kollege Gerhardt aus unserer früheren gemeinsamen Zeit ist. So sind wir schon einmal im Andreasviertel in Erfurt miteinander angetreten, um erstklassige Bauwerke vor dem Verfall zu retten, nicht um sie einer Nutzung zuzuführen - das kann man mit wenig Geld nicht schnell machen -, sondern um sie vor weiterem Verfall zu retten.
Ich habe grundsätzlich keine Lust, mich mit PDS- Tiraden auseinanderzusetzen. Aber es gehört schon eine beachtliche Chuzpe dazu, den Zustand von Kulturgütern in den neuen Bundesländern aus PDS-Mund anzuführen.
Tausende von Denkmälern - ich bleibe bei den Baudenkmälern; die Fachleute sagen, bis zu 20 000 kleine Baudenkmäler - sind dort in den nächsten Jahren vom Verfall bedroht, und zwar nicht in erster Linie deshalb - das mache ich gar nicht als erstes geltend -, weil kein Geld da war, sondern weil Zeugnisse der Geschichte platt gemacht werden sollten und auch platt gemacht worden sind.
Deshalb werden wir jetzt mit viel Geld antreten, um in den neuen Bundesländern diese Zeugnisse der Geschichte zu erhalten. Die kleinen Ortskerne, die kleinen Kirchen, die kleinen Gutshäuser, Hunderte solcher Kristallisationspunkte dörflichen und kleinstädtischen Lebens drohen zu verfallen, wenn wir jetzt nicht eingreifen. Deshalb ist das „Dach und Fach"-Programm, mittlerweile auf den beachtlichen Betrag von 15 Millionen DM ausgeweitet, von so herausragender Bedeutung.
Wir werden in diesem Jahr allein mit diesem Programm und dem Geld der Stiftung, das aus dem SED-Vermögen abfließt, bis zu 350 kleine Denkmäler von oben und unten gegen Wasser schützen und sie so für die Zukunft erhalten. Daran zeigt sich, wie man mit verhältnismäßig geringen Beträgen große Wirkungen herbeiführen kann.
Bundesminister Manfred Kanther
In diesem Bereich werde ich auch unter schwierigen Verhältnissen nicht zögern, mich erneut mit der Bitte um großzügige Berücksichtigung an den Finanzminister und den Haushaltsausschuß zu wenden.
Der Bund ist zuständig für die großen nationalen Ereignisse, Veranstaltungen, Denkmäler, zum Teil auch Museen und Orchester oder Theaterereignisse in unserem Land. Er ist in besonderem Maße dafür zuständig, daß wir Berlin zu einer Weltkulturstadt, zum kulturellen Fenster unseres Landes machen, was es in weiten Teilen immer war, aber sicherlich in noch stärkerem Maße werden kann.
Die überwältigende Mehrzahl der Aufwendungen des Bundes geht nach Berlin mit seinem reichen Erbe beim preußischen Kulturbesitz, in die Umgebung Berlins, die preußischen Schlösser und Gärten. Die besondere Förderung von 60 Millionen DM im Wege der Hauptstadtkulturfinanzierung läuft 1999 aus und muß verlängert werden.
- Gerne, Herr Kollege.
Herr Kollege Kanther, Sie haben eben die Hauptstadtkulturfinanzierung angesprochen. Es geht darum, den Vertrag mit dem Land Berlin zu verlängern bzw. einen neuen, erweiterten Vertrag zu schließen. Wir geraten langsam in eine gewisse Zeitnot. Die Frage, die ich Ihnen stellen möchte, ist: Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung zur Ausfüllung eines neues Hauptstadtkulturvertrages? Gibt es Vorstellungen über die Höhe der finanziellen Aufwendungen? Vor allem: Gibt es Vorstellungen über die inhaltliche Konzeption bei dem Engagement in der Hauptstadt?
Ich antworte gerne. Die Förderung mit den 60 Millionen DM läuft jetzt aus. Es ist ein offenes Geheimnis, daß es darum manche Auseinandersetzung gegeben hat. Wenn die Kassen leer sind, dann gibt es eine gewisse Tendenz, alles, was man von woanders herbekommen kann, in der Kasse zu vereinnahmen. Dies ist nicht die Haltung des Bundes. Der Bund finanziert in Berlin im Rahmen der Hauptstadtkulturförderung herausragende Ereignisse und Einrichtungen und nicht beliebig Berliner Kulturpolitik, die in München oder Düsseldorf genauso gemacht werden könnte. Darum hat es mancherlei Auseinandersetzung gegeben. Ich denke mir, das wird auch so bleiben.
Wir müssen darauf bestehen, daß es um eine Förderung herausragender Ereignisse, um das Schaufenster unserer Hauptstadt für die Welt geht. Das knüpfe ich an besondere Institutionen - das sind fünf oder sechs, nicht zuletzt die großen Theater - oder besondere Ereignisse, wofür es einen speziellen Fonds in Höhe von 5 Millionen DM gibt. Ich denke mir - die Verhandlung darüber ist mit dem Finanzminister noch nicht geführt -, daß wir in Berlin auch weiterhin so antreten müssen. Das Berliner Kulturleben - einschließlich des in Monumenten, in Denkmälern, in Sammlungen und in Museen festgefrorenen Kulturbesitzes - sprengt die Möglichkeiten einer Stadt und eines Landes. Da muß der Bund mit antreten. Über die Höhe ist naturgemäß noch nicht verhandelt.
Da muß der Bund antreten, aber nie mit dem Ziel der Ersatzfinanzierung des Berliner Haushaltes, sondern mit dem Ziel der Hauptstadtkulturfinanzierung.
- Genau, das ist eigentlich zwischen denjenigen, die es in diesem Lande mit Kultur zu tun haben, ziemlich unstreitig. Es gibt aber nicht nur die; auch das wissen wir in diesem Hause.
Wir müssen bei dieser Gelegenheit natürlich in manchen Bereichen des Kulturlebens etwas betriebswirtschaftlicher denken. Doppelnutzen ist nicht verboten. Wenn wir in Berlin mit Blick auf das Jahr 1999 große Ausstellungsanstrengungen unternehmen oder große Theaterereignisse doch noch hinbekommen sollten - ich nenne einmal „Faust" von Stein -,
dann müssen wir schon darauf achten, daß wir die hierfür geschaffenen Ressourcen 1999 in Berlin, 2000 zur Expo und auch noch ein Stück danach weiterverwenden könnten. Die Konzentration von Ressourcen ist etwas, was auch am Kulturbereich nicht vorbeigehen darf.
Damit sind, Frau Präsidentin, noch einige Stichworte angesprochen. Im Zusammenhang mit der Expo ist ungeheuer wichtig, was dort im deutschen Pavillon in kultureller Hinsicht geschieht und was dezentral an die Expo in dem ja doch föderal geprägten Kulturstandort Deutschland angeleint werden kann - so will ich es einmal nennen. Das ist ja unsere Besonderheit. Große glanzvolle Hauptstädte haben ja viele Länder, aber die vielen kleinen Konzentrationspunkte von Kultur, die uns glücklicherweise aus der Geschichte überkommen sind, müssen gepflegt und vorgezeigt werden. Das kulturelle föderale Deutschland zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe.
Das darf sich nicht in 16 Länderecken erschöpfen. Dort muß es eine großzügige, werklich gut gemachte und diese kulturellen Traditionen unserer Landschaften aufnehmende Darbietung geben. Das Gespräch darüber ist nicht zu Ende. Ich bin vorige Woche bei der Expo-Leitung gewesen, um mich darüber besonders auch mit Herrn Everding zu unterhalten. Eine schnelle Weiterführung des Gespräches ist notwendig. Wir machen das, auch ohne eine direkte Kompetenz dafür zu haben. Denn daß die Expo das Schau-
Bundesminister Manfred Kanther
fenster Deutschlands ist und sich deshalb die Bundesregierung um die Expo in all ihren Facetten kümmert, ist eine Selbstverständlichkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ja nie möglich, in einer solchen Debatte ein so gewaltiges Thema zu erschöpfen. Es geht - so verstehe ich es heute hier - darum, diesem Thema seinen Rang zu bestätigen und auch nach außen hervorzuheben, daß bei allen Schwierigkeiten, die wir haben, die Kulturpolitik das notwendige Geld erhalten wird. Wir haben ja trotz aller Schwierigkeiten, die wir nicht selten thematisch und politisch miteinander haben, in diesem Hause bei Fragen der Förderung der Kultur - da gerinnt schließlich einiges auch in Geld - eine dankenswert breite Basis. Ich würde mir wünschen, daß beides erhalten bleibt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Albert Schmidt.
Herr Minister, Sie haben in Ihrer Rede mehrfach darauf hingewiesen, daß in einer Zeit knapper oder sogar leerer Kassen alle kulturpolitisch sinnvollen Wünsche, die mit zusätzlichen finanziellen, fiskalischen Ansprüchen verbunden sind, nicht ohne weiteres erfüllbar sind. Ich glaube, über alle Grenzen hinweg sind wir uns in dieser Einschätzung einig. Ich war aber doch sehr enttäuscht, daß Sie zu zwei konkreten Projekten, die auch schon debattiert wurden, keine Antwort gegeben haben und nicht darauf eingegangen sind, obwohl gerade diese Projekte den Bundeshaushalt mit keiner einzigen Mark mehr belasten würden.
Der erste Punkt betrifft die Frage der Ausstellungsvergütung oder Ausstellungshonorare für bildende Künstlerinnen und Künstler. Darüber gab es nun wirklich eine jahrelange Debatte mit allen Fachleuten. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch, zum Beispiel in Gestalt des Diskussionspapiers für eine Ausstellungsvergütung aus dem Kulturforum der Sozialdemokratie vom Frühjahr 1995, wo sich Fachleute parteiübergreifend aus verschiedenen Verbänden usw. zu Wort gemeldet haben. Hier geht es nicht um eine Sozialhilfe oder ein Almosen für Künstler, sondern hier geht es um die Begründung eines Rechtsanspruches für Autorinnen und Autoren. Genauso wie es dies bereits für Komponisten, Textverfasserinnen und -verfasser gibt, so muß es auch für bildende Künstlerinnen selbstverständlich werden, daß, wenn Kunstwerke öffentlich ausgestellt und präsentiert werden, dafür in angemessener Form der Rechtsanspruch einer Vergütung geschaffen werden muß. Das würde den Bundeshaushalt nichts kosten, sondern unmittelbar über die Kulturszene und den Kunstmarkt finanziert werden. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie im Rahmen Ihrer weiteren Politik konkret überprüfen würden, ob wir nicht ganz schnell zu
einer solchen Änderung des Urheberrechts kommen können.
Der zweite Punkt, bei dem ich etwas enttäuscht bin, betrifft die Frage des Stiftungsrechts, das Kollegin Vollmer angesprochen hat. Sie haben gesagt, Sie wollten nicht so konkret werden, haben aber gleichwohl von Gesangsvereinen und der Brauchtumspflege in Vertriebenenverbänden gesprochen. Ich selbst habe zu lange in einem Gesangsverein, besser gesagt, in einem Kirchenchor gesungen, als daß ich das geringschätzen möchte.
Ich hätte aber erwartet, daß Sie zu der zentralen Frage, wie wir künftig das Stiftungsrecht besser organisieren, um privates Geld in die Kulturförderung zu bringen und damit den Bundeshaushalt sowie kommunale Haushalte zu entlasten, wenigstens ein paar wegweisende Sätze gesagt hätten.
Herr Minister Kanther.
Herr Kollege, zum ersten: Die Sache ist nicht ganz ausdiskutiert. Ich stehe Ihrem Gedanken nahe, möchte aber durch weitere Arbeit an dem Projekt verhindern, daß wegen des allerorten vorhandenen Interesses an besonders renommierten Projekten, was vermutlich auch hohe Ausstellungsvergütungen mit sich bringt, in den Etats der Ausstellungshallen für die jüngeren Künstler, deren Name noch nicht soviel gilt und die nicht die Massen der Zuschauer anziehen, nichts mehr übrig bleibt.
Da gibt es einen heiklen Punkt, und damit sind wir noch nicht ganz zu Ende. Ich glaube nicht, daß wir uns darüber zerstreiten müssen, sondern hoffe, daß wir einen mittleren Weg finden.
Der zweite Punkt, Herr Kollege: Weil die Bundesregierung und ich diese Frage so wichtig finden, bekommen Sie dazu heute sogar eine Antwort vom zuständigen Minister, nämlich dem Finanzminister, und nicht nur von dem Verbraucher Kulturminister, der natürlich immer gerne mehr hätte, als andere ihm geben können. Deshalb wird der Kollege Hauser nachher die Fragen nach Stiftungs- und Steuerrecht beantworten.
Auf der Rednerliste habe ich jetzt den Kollegen Thomas Krüger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese vierte kulturpolitische Debatte in der Geschichte des Deutschen Bundestages ist eine Chance, das Bewußtsein für eine lebendige und innovative Kulturpolitik wachzurufen. Ich zitiere:
Die Entwicklung der neuen Medien, das Zusammenspiel neuer Technologien, das Aufkommen neuer Ideen, die Jahrtausendwende: All das bedeutet, daß sich die Rolle der Kultur in unserer Gesellschaft verändert. Wir haben eine neue Situation. Die Kultur bricht durch die Fenster, bringt neue Herausforderungen und eröffnet neue Chancen. Ihr Potential füllt nicht allein unsere Kassen, sie bereichert unser Leben.
So hörte sich das bei Tony Blair kurz vor seiner Wahl an. Seine praktische Politik fährt in rasanter Weise auf diesem Weg fort. Die gravierenden Veränderungen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktstruktur unserer Tage eröffnen der Kultur, dem künstlerischen Schaffen und dem Kunsterlebnis völlig neue und zum Teil auch überraschende Spielräume. Es gilt, sie zu nutzen.
Meine Damen und Herren, ich halte jetzt die Koalitionsvereinbarung daneben und zitiere aus ihr:
Die Kultur gehört zu den Lebensgrundlagen eines Volkes. Kunst und Kultur leisten im Prozeß der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur Europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Der Bund wird dazu in dem ihm gesetzten Rahmen weiterhin seine Verantwortung wahrnehmen.
Nun haben sich Koalitionen und Parteien noch nie oder jedenfalls selten zu ästhetischen Höhenflügen in ihren Formulierungen aufgeschwungen. Aber es ist doch bemerkenswert, wie schwerfällig sich diese Formulierung gegenüber der Formulierung von Tony Blair ausnimmt, wie schlaff das geradezu im Vergleich zu dem kulturellen Anspruch der Briten und der Franzosen in Europa dasteht.
Was das bedeutet, hat Jack Lang als Vorsitzender der Jury der Berlinale bei seinem Auftritt im letzten Jahr gezeigt.
Gestern hat die cineastische Elite dieser Welt bei der Eröffnung der Berlinale die kulturpolitische Selbstdarstellung der Bundesregierung erlebt und dabei noch Glück gehabt. Ich darf Ihnen, Herr Kanther, gratulieren, denn Sie haben sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre auf drei knappe Sätze beschränkt und uns damit die Angst genommen, daß der deutsche Film mit einem Exportartikel des Bundesgrenzschutzes verwechselt werden kann.
Es ist kein Wunder, daß der deutsche Film so wenig Chancen im Ausland hat und auch so wenig Respekt genießt.
Bei der Repräsentation im politischen Raum fängt die Kulturpolitik an. Es ist darum schlicht ein ästhetisches Problem, den Bundesinnenminister mit den Fragen der innerstaatlichen Kulturpolitik zu betrauen. Herr Kanther, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, wenn ich die Anregung von Frau Albowitz aufgreife, daß wir einen Sonderbeauftragten für kulturelle Angelegenheiten brauchen. Wir brauchen ihn in dieser oder besser gleich in einer neuen Regierung.
„Kultur kann eine verkrustete Politik unterspülen", so Jürgen Habermas schon 1990. Statt dessen hat uns diese Regierungskoalition gleich zu Beginn dieser Legislatur den Kulturausschuß genommen. Man muß es an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen: Gegen die Stimmen der Opposition ist der Unterausschuß Kultur in die ewigen Jagdgründe geschickt worden. Dies rückgängig zu machen, Herr Solms und Herr Schäuble, fordern wir im Interesse dieses Hauses wieder ein.
Wir brauchen diesen Kulturausschuß; das sage ich auch für die Verbände, die sich im Vorfeld dieser kulturpolitischen Debatte geäußert haben.
Sie hören richtig: Es geht um Bundeskulturpolitik. Es wird ja ohnehin allgemein kolportiert, daß nur die Länder im Rahmen ihrer verfassungsrechtlich verbrieften Kulturhoheit zuständig seien. Ich bin deshalb froh, daß hier heute von allen Rednern auf die Kompetenz des Bundes hingewiesen worden ist und die entsprechend breite Zuständigkeit deutlich geworden ist.
Die aktuellen Herausforderungen stellen im Grunde sogar die Frage nach einer erweiterten und klarstellenden Kulturkompetenz. Föderalismus: ja; aber eine kleingeistige Kleinstaaterei ist sicherlich nicht im selbstbewußten Interesse der Deutschen.
Wenn ich die Koalitionsvereinbarung richtig verstehe, dann sehe ich, daß die Koalition ihre Zuständigkeit auch gar nicht bestreitet. Zum besseren Verständnis darf ich die drei wichtigen Punkte, die Sie sich in dieser Legislatur vorgenommen haben, zitieren:
Ein besonderer Schwerpunkt der Politik in den nächsten Jahren muß darauf gerichtet sein, die Rahmenbedingungen für die Aktivierung privater Bereitschaft zu verbessern. In diesem Sinne soll das Stiftungsrecht weiterentwickelt werden. Eine Bundesbeteiligung an Kultureinrichtungen von nationaler und europäischer Bedeutung soll geprüft werden. Dabei wird eine besondere Akzentsetzung auf die neuen Bundesländer entsprechend dem Einigungsvertrag gelegt werden.
Thomas Krüger
Nach dreieinhalb Jahren sei hier ein Resümee erlaubt. Die Weiterentwicklung des Stiftungsrechts - Ergebnis: Totalausfall. Wir haben ein entsprechendes Papier immer noch nicht auf dem Tisch, sieht man einmal von dem Antrag der Grünen und unserer Großen Anfrage ab. Wir brauchen im Kontext der Steuerreform ein vernünftiges, verbessertes und verändertes Stiftungsrecht,
um dem bürgerschaftlichen Engagement für die Kultur in Deutschland mehr zu entsprechen, als das bisher der Fall ist.
Sie haben die Leute hier schlicht belogen und betrogen.
Wenn ich diese Formulierung nun etwas großzügiger interpretiere und das Steuerrecht einbeziehe, dann komme ich sofort auf die einzige Glanztat in dieser Legislaturperiode, den Sponsorenerlaß. Es ist zwar richtig, daß der auch etwas Positives gebracht hat: Den Unternehmen wird nämlich eingeräumt, ihre Aufwendungen in vollem Umfang als Betriebsausgaben abzuziehen, wenn sie damit wirtschaftliche Vorteile erzielen wollen, die das unternehmerische Ansehen in der Öffentlichkeit sichern und verbessern; statt dessen haben die Beamten im Haus des Bundesfinanzministers die Idee gehabt, 42 Prozent Körperschaftsteuer zu verhängen. Das geht nicht. Ich bin deshalb froh, daß sich Herr Waigel eine Lektion von Herrn Everding hat geben lassen und diese Sache am Dienstag zusammen mit den Ländern korrigiert worden ist.
Allein das Anstoßen dieser Diskussion über die Steuerreform hat deutlich gemacht, wo es noch gravierende Punkte und überraschende Attacken gibt. Ich nenne ein Beispiel: In ihrem ersten Entwurf hat die Bundesregierung vorgeschlagen, den halben Mehrwertsteuersatz für bildende Kunst zu kassieren; dieser Vorschlag war zwischen Regelungen über den Vertrieb von Blumenkohl und Margarine versteckt. Es war nicht einfach, das herauszufinden. Der Druck der Opposition und der Verbände hat das verhindern können.
Die Rahmenbedingungen für eine kulturvolle Gesellschaft und bürgerschaftliches Engagement im tertiären Sektor setzt nun einmal der Bund. Nur so kann die öffentliche Kulturfinanzierung, an der wir alle ausdrücklich festhalten wollen, sinnvoll ergänzt und belebt werden. Schauen wir uns das derzeit wichtige Urheberrecht an; auch das gehört zu den ordnungspolitischen Fragen: Seit 1985 sind die Vergütungen für analoge Vervielfältigungen an die Preisentwicklung angepaßt und die durch die digitale Technik erleichterte Herstellung von Vervielfältigungen nicht mehr berücksichtigt worden. Ein Gesetzentwurf zum Urhebervertragsrecht liegt immer noch nicht vor.
Bei der Umsetzung von EU-Richtlinien ist die Koalition untätig oder hat verzögert, abgesehen von dem neuen Trend in der F.D.P., die Urheber zugunsten der wirtschaftlich orientierten Verwerter zu benachteiligen - das ist eine verhängnisvolle Diskussion, die auf der Ebene der Europäischen Union geführt wird. Sie versuchen offenbar, das in nationales Recht umzusetzen.
Immerhin haben Sie die Notwendigkeit einer Novelle der Künstlersozialversicherung erkannt. Darüber steht etwas in Ihrem Antrag; ich bin sehr froh, daß Sie diese Impulse aufgegriffen haben. Sie brauchen keine Angst zu haben, dabei von uns blockiert zu werden. Wir blockieren nur politischen Unsinn, deshalb werden wir Ihre Bemühungen und Ihre Entwürfe voll unterstützen. Legen Sie etwas zur Novelle der Künstlersozialversicherung vor!
Aber ich erlaube mir, darauf hinzuweisen: Sie sind in der politischen Verantwortung. In Ihrem Antrag lesen wir immer wieder: „Wir begrüßen", „Wir wünschen" . Demgegenüber sage ich: Sie sind in der politischen Verantwortung; Sie können die Initiative ergreifen.
Warum haben Sie in dieser Legislaturperiode kulturpolitisch nichts gemacht? Sie feiern die Plafondierung des Etats des Bundesinnenministers als größtmöglichen Erfolg dieser Kulturpolitik. Das kann es doch wohl wirklich nicht sein! Wir haben eine Menge zu tun, gerade in bezug auf diese ordnungspolitischen Aufgaben.
Ich komme zum zweiten Versprechen: der Prüfung von weiteren Bundesbeteiligungen. Die Prüfung der Hauptstadtkulturfinanzierung - wir lesen ja in Ihrem Antrag, daß immer sehr viel geprüft wird - hat bisher noch nichts ergeben. Daran ist auch der CDU-Kultursenator in Berlin schuld. Auch von ihm kommen zu wenig konkrete Vorschläge; das gebe ich zu. Ich hoffe, daß sich der Bund und das Land Berlin endlich über die Zukunft des Hauptstadtkulturvertrages verständigen. Das gehört zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur in Berlin.
Herr Kanther, ich stimme Ihnen hinsichtlich der Lückenfinanzierung zu: Es kann nicht sein, daß der Bund die Haushaltslücken Berlins schließt. Aber wir brauchen Planungssicherheit für die kulturelle Infrastruktur in Berlin, insbesondere für die „Leuchttürme". Ich möchte endlich eine Diskussion darüber anregen, welches konkrete Engagement der Bund in Berlin zeigen will. Derzeit engagiert er sich in Bonn im Rahmen eines Hauptstadtvertrages für Bonn mit 130 Millionen DM, in Berlin dagegen mit 60 Millionen DM. Da stimmt etwas nicht. Ich möchte den Bonnern kein Geld wegnehmen. Sie, Herr Minister, sollen uns
Thomas Krüger
ja auch sagen, wie die Finanzierung für die Bundesstadt Bonn in Zukunft aussehen soll.
Ich komme zu einem weiteren Problem. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die ja derzeit mit ihrer Personalfrage die Feuilletons bestimmt, wollen Sie erhalten. Das wollen auch wir,
aber wir wollen etwas mehr. Wir wollen eine Reform dieses kulturellen Kapitals und Gedächtnisses, die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, bei der der Bundesanteil immer noch zu niedrig ist, eingeschlossen. Immerhin sind hier 40 Prozent des Etats des Bundesinnenministers betroffen.
Es kann doch aber - um ein Beispiel zu nennen - nicht sein, daß der größte Teil der Afrikaausstellung, die vor kurzem mit Bundesmitteln und Berliner Mitteln finanziert wurde - dabei handelte es sich um eine Produktion aus London -, aus den Beständen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz kam. Wir kaufen für teures Geld eine Ausstellung ein - in diesem Fall aus Großbritannien -, und die Ausstellungsstücke - so habe ich gehört - kommen zu 80 Prozent aus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz!
Wir brauchen in dieser Einrichtung ein professionelles Management und eine Strukturreform. Wir bieten Ihnen dazu parteiübergreifende Gespräche an, weil es uns nicht egal sein kann, wie die Zukunft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aussehen wird.
Da muß frischer Wind hinein. Ich darf hier also zu Gesprächen einladen, wie es sie auch ansonsten gibt. Ich denke zum Beispiel an die Arbeit über das zukünftige Filmförderungsgesetz, die interfraktionell ganz gut geleistet wurde, oder an die sehr produktive und konstruktive Arbeit im Kunstbeirat, für die ich der Präsidentin hier ausdrücklich danken will. Es gibt in bezug auf die Kulturpolitik Möglichkeiten einer interfraktionellen Kooperation; sie möchte ich hier ausdrücklich unterstreichen. Ich möchte natürlich auf der anderen Seite mit Kritik an Ihnen nicht sparen.
Jetzt haben Sie eine neue nationale Kulturstiftung gefordert. Eine Kulturstiftung der Länder aber gibt es bereits. Das ist ja auch eine jener Ressourcen, über die wir hier diskutieren können. Prüfung hin, Prüfung her: Hier muß gehandelt und weiterentwickelt werden. Im Stiftungsgesetz - ich habe mir das einmal durchgelesen; das können auch Sie machen - ist die Möglichkeit der Zustiftung aufgeführt. Ich frage: Warum müssen wir denn neue Stiftungen gründen, wenn wir von einem solchen Instrument Gebrauch machen können? Das heißt, wir könnten eine Zustiftung bereits jetzt an die Kulturstiftung der Länder, die ja im Auftrag des Bundes und der Länder tätig wird, vornehmen. Ich glaube, daß es Sinn macht, auch darüber zu diskutieren, daß ein kleiner Anteil der Gelder aus den Vermögensverkäufen des Bundes hier angelegt werden kann. Es geht hier ja nicht darum, Geld auszugeben, sondern darum, einen Kapitalstock in der Kulturstiftung anzulegen, dessen Zinserträge der kulturellen Förderung dienen können. Das wäre eine sehr moderne und fortschrittliche Politik. Ich finde, daß diese Impulse aufgenommen werden sollten.
Zur Europapolitik darf ich hier nur an die großen Worte des Bundeskanzlers 1996 erinnern. Ich spare mir das Zitat, weise aber auf folgendes hin: Erstens. Die Buchpreisbindung ist nicht gehalten worden. Zweitens. Die Interessenvertretung deutscher Kulturschaffender in ordnungspolitischer Hinsicht ist nach wie vor unzureichend. Die deutsche Film- und Medienwirtschaft hat drittens eine katastrophale politische Außenvertretung, wie das Präsidium und der Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt wiederholt bekräftigt haben. Die vom Kanzler versprochene Bund-Länder-Koordinierung in Sachen Kultur funktioniert schließlich - nehmen wir einmal die Blockade der A-Länder aus - selbst mit Bayern und Baden-Württemberg nicht.
Das dritte Versprechen schließlich bezieht sich auf die neuen Bundesländer. Der Einigungsvertrag sah eine Übergangsfinanzierung vor, der der Bund in beträchtlicher Höhe nachkam. Ich will das hier ausdrücklich würdigen. Ich erwähne die Interpretation des Art. 35 des Einigungsvertrages, der neue Spielräume für das kulturpolitische Handeln des Bundes einräumt, sowohl was die Stiftung Kulturfonds, Art. 6, als auch was die Mitfinanzierung von Einrichtungen in den neuen Bundesländern betrifft. Aus unserer Sicht ist die Übergangsfinanzierung viel zu früh beendet worden. Es ist deshalb wichtig, darüber nachzudenken, wie die kulturelle Infrastruktur über das Leuchtturmprogramm und die sehr lobenswerten Initiativen beim Denkmalschutz hinaus in der Zukunft unterstützt werden können.
Ich finde, daß wir auch darüber diskutieren müssen, was mit dem Ertrag aus dem Verkauf der Mauergrundstücke passiert. Das ist bisher nicht thematisiert worden. Der Finanzminister sitzt noch immer auf dem Geld.
Ihre zurückhaltende, fast melancholische Haltung in Sachen Kulturpolitik kann und will ich nicht begreifen. Sie fangen nicht einmal den Ball auf, den Ihnen die Parlamentarier bei der deutschen Einheit zugeworfen haben, ganz zu schweigen von den Ansätzen, die auch in den Ausführungen von der Konferenz der Amtsleiter der Kultusminister zu lesen sind.
Herr Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin TitzeStecher?
Ja.
Herr Kollege Krüger, Sie haben mir mit dem Wort „Mauergrundstücke" das Stichwort geliefert. Sind Sie mit mir der Meinung, daß der Neubau des Museums der Bildenden Künste in Leipzig, der auch eine Folge der Beschlüsse der
Uta Titze-Stecher
Föderalismuskommission zur Aufteilung von Bundesinstitutionen auf die neuen Länder ist, ein angemessenes finanzielles Engagement des Bundes und nicht nur des zuständigen Landes und der Stadt erfordert?
Frau Abgeordnete, ich kann Ihnen da wirklich nur zustimmen.
Ich muß die Geschichte erzählen: Wir haben in einem wirklich sehr komplizierten Verfahren mit der Koalition einen gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht. Es ist schon ein kleines kulturpolitisches Schauerstück, Frau Kollegin Steinbach, wie weich die Formulierung dann zum Schluß war. Es ist immerhin ein Prüfauftrag geworden. Diesen Prüfauftrag muß man allerdings irgendwann einmal mit Ergebnissen versehen. Es ist ein hervorragendes Engagement der Stadt Leipzig, selber finanzielle Rückstellungen für einen solchen Neubau zu bilden, der im Zusammenhang mit den Umzügen von Regierung und Parlament zu sehen ist, und auch der Landesregierung Sachsen. Aber die beiden können das nicht alleine. Deshalb sollten wir in aller Sachlichkeit darüber nachdenken, wie diese Initiative unterstützt werden kann. Ich finde, daß sie die Unterstützung verdient und daß sich die Haushälter hier einen Ruck geben sollten - auch Sie, Frau Abgeordnete.
Das kleine Resümee der Kulturpolitik des Bundes fällt dürftig aus. Sie können noch so vorlaut über Länder und Kommunen schimpfen, manchmal sogar zu Recht. Heute aber ist der Blick auf Sie gerichtet. Wir müssen leider konstatieren, daß Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Statt dessen feiern Sie den Bundesinnenminister für den Stillstand in seinem Etat. Ordnungspolitisch hat die Koalition in dieser Legislaturperiode nichts geleistet. Das müssen wir einfordern und auf den Weg bringen. Sie haben einen erheblichen Anteil daran, daß die praktische Arbeit kultureller Einrichtungen Schaden nimmt.
Quälen Sie uns in der Zukunft nach gebrochenen Versprechen bitte nicht mit kulturpolitischen Banalitäten und Glaubensbekenntnissen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun. Lesen Sie nur einmal die Stellungnahmen der Verbände. Sie drehen Pirouetten, um nicht in die Schwierigkeiten von Wahlkämpfen hineinzukommen, und versuchen, sich vorsichtig kritisch zu äußern.
Wir haben deshalb eine Große Anfrage eingebracht, um dieser Bundesregierung einen kulturpolitischen Kassensturz abzufordern. Die Abgeordneten dieses Hauses und die Fachöffentlichkeit brauchen endlich verläßliche Daten und eine klare Stellungnahme der Exekutive, um Perspektiven entwickeln zu können und um notwendige Initiativen notfalls selber auf den Weg bringen zu können.
Das Klima und die Rahmenbedingungen kulturellen Schaffens müssen verbessert werden. „Geist und Macht", also Kultur und Politik, dieses - ich zitiere
Herrn Enzensberger - „Rentnerehepaar, das seit Menschengedenken miteinander gestritten hat", müssen wieder eine Plattform bekommen, um den Stillstand in unserem Land zu überwinden. Dazu müssen in der Tat alle Parteien, Bund, Länder und Kommunen gemeinsam mit einer kulturell engagierten Bürgergesellschaft ihren Beitrag leisten. Wir sind dazu bereit.
Ich rufe den Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz auf.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wichtig und gut, daß wir uns heute mit der innerstaatlichen Kulturpolitik befassen, selbst wenn hier vieles - von jedem Redner - natürlich nur stichwortartig angesprochen werden kann. Kultur, Kulturpolitik stehen im Zentrum einer jeden Gesellschaft, einer jeden Nation und auch einer jeden individualen Existenz und Persönlichkeit. Kultur, kulturelle Identität, kulturelle Schöpfung bestimmen das Menschenbild unserer Werteordnung, unseres Grundgesetzes in ebenso besonderer wie selbstverständlicher Weise. Eben deshalb enthält unser Grundgesetz, selbst wenn dies aus bestimmten föderativen Gründen nicht ausdrücklich gesagt worden ist, das Kulturstaatsprinzip natürlich als eine ganz zentrale verfassungsrechtliche Maxime - eine Maxime, die auf den tragenden Säulen unserer kulturstaatlichen Tradition und Überzeugungen basiert.
Deutschland gehört zu den großen Kulturnationen Europas. Gerade aus dem Grundverständnis und dem entsprechenden Selbstverständnis als Kulturnation haben die Deutschen seit jeher die Kraft zur eigenen Identität und auch zum eigenen nationalen Zusammenhalt geschöpft. Wenn es uns über Jahrzehnte deutscher Teilung gelungen ist, das Bewußtsein für die Einheit der Nation zu bewahren, so basiert dies ganz entscheidend auch mit darauf, daß die Einheit der deutschen Kulturnation von den kommunistischen Ideologen in der ehemaligen DDR nicht aufgebrochen, nicht aufgekündigt werden konnte. Um so dreister klingt manches, was man hier vorhin von Vertretern der PDS hören mußte.
Versuche in diese Richtung gab es bekanntlich viele, einmündend vor allem in den schon unter Stalin in der Sowjetunion gescheiterten Versuch, an die Stelle einer sich vor allem kulturell verstehenden und selbstbestimmenden Nation die ideologische Schimäre einer sozialistischen Nation, also einer rein ideologisch definierten und oktroyierten Deformation, zu setzen. Gerade in diesem Sinne bleiben das grundgesetzliche Kulturstaatsprinzip und sein verbindlicher Verfassungsauftrag auch für die weitere Entwicklung der inneren Einheit unseres Vaterlandes von herausragender Bedeutung. Die schweren kulturellen Defizite und Deformationen, die die Diktatur der SED im östlichen Teil Deutschlands angerichtet hat, gilt es ebenso rasch wie wirksam zu überwinden. Vieles ist heute angesprochen worden; vie-
Dr. Rupert Scholz
les ist geleistet worden. Mit Recht haben wir hierzu eine verbindliche Verantwortlichkeit im Einigungsvertrag formuliert.
Hier ist mit Dank und mit Anerkennung der Bundesregierung zu bestätigen, daß sie vieles geleistet hat. Mit Dank und Anerkennung verweise ich vor allem auf das, was vorhin der Innenminister hier ausgeführt hat.
Die Koalition und die Bundesregierung setzen in ihrer Kulturpolitik nach wie vor entscheidende Prioritäten namentlich auf die Restaurierung, den Wiederaufbau sowie die Wiederbelebung unseres gemeinschaftlichen deutschen kulturellen Erbes, das nicht nur im Westen, nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern in ganz Deutschland besteht, das ein Teil unserer nationalen Gesamtidentität ist und das - das füge ich ausdrücklich hinzu - ein kulturelles Erbe ist, das natürlich auch in Schlesien, in Pommern und in Ostpreußen lebt. Deutsche Kultur, deutsches Kulturerbe ist Teil der deutschen Kulturnation, die wiederum ihrerseits ein wesentlicher Teil der Kulturnationen Europas insgesamt ist, bleibt, gewesen ist und sich als solche auch in Zukunft zu verstehen hat.
In diesem Sinne haben wir auch die Aufgabe, kulturelles Erbe etwa in Schlesien mitzubewahren. Das sind kulturpolitische Grundsätze, die niemand mißdeuten und mißverstehen darf. Es ist gerade das Große, das Einige und - das sage ich auch - das Schöne an Europa, daß Kultur buchstäblich nie an Grenzen haltgemacht hat. Es gab nie etwas buchstäblich Grenzenloseres als europäische und damit auch deutsche Kultur.
Die Zuständigkeiten des Bundes in der Kulturpolitik sind, wie wir alle wissen, in unserem föderativen Staatsaufbau begrenzt. Die Kulturhoheit liegt prinzipiell bei den Ländern und nicht beim Bund. Dies ändert aber nichts daran, daß die große materiale Thematik des Kulturstaats Bundesrepublik Deutschland nicht im föderativen Klein-klein aufgelöst oder relativiert werden darf. Selbst wenn die Länder - dies entspricht maßgebend dem Subsidiaritätsprinzip - zuvörderst für die Pflege der Kultur verantwortlich sind, bleibt der Bund doch für die nur zentral wahrzunehmende Grundaufgabe der nationalen Kulturstaatlichkeit verantwortlich, jener Bereiche der Kulturstaatlichkeit also, die für die Identität, das Selbstverständnis und auch die Repräsentation der deutschen Kulturnation insgesamt maßgebend sind.
Gerade vor diesem Hintergrund ist die hier mehrfach angesprochene Kulturförderung des Bundes für die Hauptstadt Berlin, genauso aber natürlich für Bonn eine wesentliche, eine zentrale Aufgabe des Bundes. Dies bleibt sie auch in Zukunft.
Ich unterstreiche mit Nachdruck das, was hier gesagt worden ist, vor allen Dingen vom Bundesinnenminister, daß die Kulturförderung, für die Hauptstadt Berlin, für ein großes kulturpolitisches Schaufenster im Reigen der europäischen Kulturmetropolen insgesamt, natürlich schwerpunktmäßig zu begreifen ist und daß es nicht so sein kann - das sage ich ausdrücklich auch als Berliner -, daß dieser oder jener kulturelle Event immer gleich den Ruf nach einer Bundesfinanzierung rechtfertigt.
Die Hauptstadt Berlin muß an der richtigen Stelle und in der richtigen Weise gefördert werden. Kultur, kulturelles Wirken - sie gehören zu den Wesensmerkmalen des zivilisierten Individuums, sie wachsen aus der Gesellschaft selbst heraus. Daraus folgt, daß Kultur und Kulturpflege niemals primär staatliche, staatlich administrierte Aufgabe sein können,
Für wohl weniges gilt so klar und eindeutig das Subsidiaritätsprinzip wie für den Bereich Kultur, Kulturpflege und Kulturförderung. Kultur ist zunächst eine Aufgabe der Gesellschaft und erst subsidiär und in bestimmten Bereichen komplementär eine Aufgabe des Staates. Natürlich muß der Staat fördern, aber der Ruf nach staatlicher Förderung kann nicht am Anfang von Kulturpolitik, von Kulturpflege stehen.
Da gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was man in Anträgen der Opposition an vielen Stellen lesen kann,
und dem, was unseren Grundüberzeugungen entspricht und in unserem Antrag die maßgebende Richtlinie bestimmt.
Meine Damen und Herren, das Prinzip der Kulturhoheit der Länder und der gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes führt zu einem System eines kooperativen Kulturföderalismus. Das ist die Grundmaxime unseres Kulturstaats. Hier müssen Zuständigkeiten sorgfältig voneinander unterschieden werden. Die Länder müssen auf die gesamtstaatlichen Zuständigkeiten des Bundes ebenso Rücksicht nehmen wie der Bund auf die regionalen der Länder. Beides gehört zusammen. Es kann kein Gegeneinander, sondern nur ein Miteinander geben. Aber ein Miteinander in diesem kooperativen Sinne bedeutet auch, daß die Länder möglichst die Finger von manchem lassen sollen, was gesamtstaatliche Kulturbelange in einer identitätsbestimmenden Weise für unser Volk berührt.
Vermutlich weiß jedermann, was ich mit diesen Sätzen meine. Ich meine das erbärmliche, inzwischen ins Chaos abgleitende Spiel mit der Rechtschreibreform. Rechtschreibung ist Sprache, Sprache ist identitätsbestimmendes Kulturelement unseres ganzen Volkes. Das kann man nicht im Wege der Administration, auch nicht über 16 Bundesländer, im einzelnen festlegen, dirigieren, administrieren.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als letztes auch noch ein Wort über Europa verlieren. Ich habe davon gesprochen, daß Deutschland eine der großen europäischen Kulturnationen ist. Es ist rich-
Dr. Rupert Scholz
tig, daß wir im Vertrag von Maastricht nunmehr auch ein kulturpolitisches Mandat der Europäischen Union entwickelt haben. Aber auch hier ist das Subsidiaritätsprinzip zu betonen. Wenn dieses Europa weiter zusammenwächst, so wie wir es uns wünschen - ökonomisch und politisch sind wir auf dem Wege -, dann muß es auch kulturpolitisch und kulturell zusammenwachsen.
Wenn Charles de Gaulle vom „Europa der Vaterländer" gesprochen hat, so habe ich dies immer so verstanden, daß dieses Europa das Europa der Kulturnationen sein wird. Jedes Volk, jede europäische Kulturnation in ihrer Eigenart, in ihrer Geschichte, in ihrer Vielfältigkeit - das ist der Reichtum Europas, und das gilt es zu bewahren.
Dieses Europa kann kein kulturpolitischer Obermonolith werden.
Nein, es geht darum, die Kulturnationen Europas in ihrer Gesamttradition, in ihrem Gesamtmiteinander, in ihrer Vielfalt, hier und dort auch in ihrem Wettbewerb zu pflegen und sie als das zu begreifen, was wir alle sind, wo wir alle herkommen und worin wir alle bleiben wollen,
in diesem - ich nehme das auf, Frau Albowitz - großen gemeinsamen europäischen Kulturhaus. Das heißt aber nicht, daß wir eine gemeinsam nivellierte Kulturnation sind.
Herr Scholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krüger?
Bitte.
Herr Abgeordneter, ich habe Ihre letzten Ausführungen über die Dimension der europäischen Kulturpolitik mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Meine Frage: Sehen Sie einen erhöhten Koordinierungsbedarf des Bundes bei der Interessenvertretung auf der Ebene der Europäischen Union? Die Franzosen, die Briten, die Südeuropäer machen sehr stark Druck, um ihre kulturpolitischen Interessen dort zu vertreten. An diesem Verhandlungstisch sitzen immer 16 Ländervertreter. Macht es nicht mehr Sinn, wenn der Bund eine Koordinierungsfunktion übernimmt und sich stärker engagiert, als das bisher der Fall ist?
Herr Krüger, Föderalismus ist manchmal schwer; das ist wahr. Das spüren wir nicht nur in der Kulturpolitik, das spüren wir in vielen Bereichen. Föderalismus ist auf der anderen
Seite aber gerade in der Kulturpolitik - und natürlich auch in ihren Projektionen auf die europäische Dimension - etwas unendlich Bereicherndes.
Natürlich haben wir deswegen auch viele Schwierigkeiten. Die Bundesregierung aus Bonn kann nicht so auftreten wie die Regierung aus Paris im Einheitsstaat Frankreich. In Frankreich gibt es eine ganz andere politische Tradition und damit auch eine ganz andere Kompetenzstruktur. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir - auch wenn es hier und da zu Schwierigkeiten, zu Unzuträglichkeiten führt - unseren Föderalismus bewahren. Es gibt, so denke ich, kein Land in Europa, das über eine solche Fülle von wahrhaften Kulturmetropolen verfügt wie unser Vaterland. Von Berlin über München bis Dresden - und wo immer Sie hinschauen -, das alles sind große Kulturmetropolen, die auf der Basis unseres Föderalismus gewachsen sind.
Das gilt es auch nach Europa mitzunehmen, das gilt es auch in all dem zu artikulieren, was wir in Europa zu vertreten haben. Aber dann muß man manchmal - das ist wahr - mit 17 Stimmen sprechen, nicht nur mit einer.
Das Wort hat der Kollege Peter Conradi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ursprünglich war diese Debatte eine Woche früher geplant. Sie wurde wegen der Debatte über den Arbeitsmarkt verschoben. Dabei haben die beiden Themen - die Zukunft der Arbeit und die Kultur der Zukunft - viel miteinander zu tun. Darüber will ich heute reden, nicht - wie vielleicht der eine oder andere vermutet - über Baukultur. Ich will etwas über den Zusammenhang von Arbeit und Kultur sagen.
Zukünftig erfordern die Produkte und Dienstleistungen, die wir zum Leben brauchen, weit weniger Arbeit als heute. Auch wenn eine rotgrüne Regierungskoalition, im Unterschied zu der jetzigen Koalition, eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben wird, auch wenn es uns gelingt, die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken - beseitigen werden wir die Arbeitslosigkeit nicht. Das kann niemand; denn die Produktivität steigt auf allen Gebieten explosiv weiter an. Es wird in Zukunft weniger gearbeitet werden; die Arbeitszeit wird kürzer, die Freizeit länger. Viele Menschen werden nur noch Teilzeitarbeit finden, und eine wachsende Zahl von Menschen wird ohne bezahlte Arbeit leben.
Das löst auch Fragen an die Kultur aus. Wird der soziale Zusammenhalt unseres Gemeinwesens daran zerbrechen, läßt die zunehmende Individualisierung die Gesellschaft zerfallen? Den Arbeitslosen wird eingeredet, sie selbst seien an ihrem Schicksal schuld, sie seien nicht ausreichend qualifiziert, sie bemühten sich nicht ernsthaft genug um Arbeit - wobei auf eine offene Stelle 15 Arbeitslose kommen -, sie seien nicht bereit, sich endlich selbständig zu machen - eine zynische Aufforderung angesichts der 30 000 Konkurse im letzten Jahr.
Peter Conradi
Das Schreckliche ist: Viele Arbeitslose glauben das selbst und verlieren ihre Selbstachtung. Der Verlust der Selbstachtung und die gesellschaftliche Ausgrenzung bedrohen unser Zusammenleben. Sie können auch zu einer politischen Bedrohung werden, wenn die ausgestoßenen Menschen neuen Rattenfängern nachlaufen, so wie 1933 dem Hitler.
Wie kann ein Mensch, der nur noch Teilzeitarbeit oder gar keine bezahlte Erwerbsarbeit findet, würdig leben? Wird der Verlust der Erwerbsarbeit zur Befreiung der Menschen vom biblischen Fluch im ersten Buch Mose, wo es heißt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", oder wird der Verlust der Arbeit dazu führen, daß die Arbeitslosen in Unmündigkeit, in soziale Einsamkeit und in seelische Verwahrlosung geraten?
Christian Meier weist darauf hin, daß die Arbeits- und Leistungsbedingungen, die Vorstellungen und die Werte unserer heutigen Welt in einem langen, viele Generationen übergreifenden Prozeß die Gesellschaft durchdrungen haben. Wir leben von der Arbeit, wir leben für die Arbeit; die Arbeit bestimmt unser Leben. Jeder von uns will seinen Nutzen durch Arbeit beweisen.
Sind die Arbeitslosen nutzlose Menschen? Wie werden sie den Verlust der Erwerbsarbeit nutzen? Worauf werden sie ihren Selbstwert gründen in einer Gesellschaft, die sich beharrlich um das Tabu herumdrückt, daß es zukünftig nicht mehr für alle Menschen bezahlte Erwerbsarbeit geben wird?
Die Arbeitsgesellschaft hat ungeheure Fähigkeiten freigesetzt. Sie hat auch Fähigkeiten verkümmern lassen. Welche menschlichen, welche kulturellen Fähigkeiten werden zukünftig notwendig sein: Muße, Spiel, Selbsttätigkeit, Zuwendung zu anderen? Wo lernt man das? Das sind Fähigkeiten und Qualifikationen, die den Fähigkeiten unserer Wettbewerbsgesellschaft oft genug entgegenstehen.
„Die Erziehung zur Fabrikarbeit", schreibt Hardenberg 1817, gehe „auf Kosten der Erziehung zum Menschen und Staatsbürger" . Mir scheint, wir müßten in unseren Schulen und Hochschulen auch andere Fähigkeiten als bisher vermitteln, zur Kreativität und Selbsttätigkeit ermuntern, Verstehen und Aushalten fördern, Lesen, Sehen und Hören lehren, Gemeinsamkeit üben.
André Gorz spricht von neuen Formen der Geselligkeit, die nicht auf Konsum, die nicht auf Arbeit gründen. Er spricht vom Reichtum einer Fülle künstlerischer, sportlicher, handwerklicher, technischer, ökologischer und wissenschaftlicher Tätigkeiten, den es zu teilen gilt.
Kulturpolitik - ich versuche, den Bogen vom Verschwinden der Arbeit zur Kulturpolitik zu schlagen - muß Institutionen, muß Ressourcen, muß Möglichkeiten fördern, in denen Kreativität, Selbsttätigkeit und Gemeinsinn wachsen können. Die Finanzierung eines aktiven Lebens statt der Finanzierung von
Arbeitslosigkeit wird neue arbeitsrechtliche und steuerrechtliche Regelungen verlangen.
An die Stelle von Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wird über kurz oder lang ein Grundeinkommen ohne Arbeit treten.
Für die meisten von uns, die wir in der vorwiegend protestantisch geprägten Arbeitsgesellschaft aufgewachsen sind und die vielzitierten Sekundärtugenden verinnerlicht haben, ist es kaum vorstellbar, daß -
- Herr Dr. Schäuble, über die Sekundärtugenden können wir hier eine längere Debatte führen. Ich will doch nichts anderes sagen, als daß Sie und ich, daß wir alle hier diese Sekundärtugenden in einem hohen Maße verinnerlicht haben und daß es uns sehr schwerfallen wird, zu begreifen, daß das Leben kommender Generationen, unserer Kinder und Enkel, nicht mehr so von Arbeit geprägt sein wird wie unser Leben. Darauf wollte ich hinweisen.
Viele von uns werden die Freiräume, die sich da auftun, eher mit Angst als mit Zuversicht betreten. Wir müssen umdenken, wir müssen lernen, daß auch ein Leben ohne bezahlte Erwerbsarbeit Anspruch auf Würde, auf Selbstachtung hat und daß dieser Anspruch durch Kultur, durch Lebenskultur einzulösen ist.
Sagen Sie nicht, das sei Sache der Länder und Kommunen, nach der Verfassung sei der Bund nicht zuständig. Die Veränderungen, die vor uns stehen, werden die Gesellschaft tief erschüttern. Diese Veränderungen werden sich nicht an die vom Grundgesetz gezogenen Kompetenzzuweisungen halten. Sie werden Antworten in der Kulturpolitik auf allen Ebenen erfordern - wenn's denn diese Gesellschaft zusammenhalten soll.
Ich räume Ihnen ein: Das sind mehr Fragen als Antworten. Vielleicht sind solche Fragen heute notwendiger als die stereotype Antwort, es werde so schlimm wohl nicht kommen. Es gibt Zweifel, es gibt große Ängste, aber es gibt auch die Vorstellung von einer Zukunft, die befreit vom Zwang zur Erwerbsarbeit ganz neue Chancen eröffnet. Auch darüber sollten wir miteinander reden; denn Kulturpolitik muß auch über den Tag hinaus denken.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Freimut Duve.
Herr Kollege Conradi, ich fühle mich durch diesen Beitrag sehr angesprochen.
Am 9. November 1984 haben sich Herr Dr. Dregger, Herr Conradi und ich - ich glaube, wir sind die drei, die damals in der Kulturdebatte gesprochen haben - hier gestritten. Wir sind dann im Laufe der Jahre in vielen Punkten zu einer Gemeinsamkeit in der Kulturpolitik des Bundes gekommen. Wir sind insbesondere 1990 zu einer Gemeinsamkeit gekommen: in der ungeheuren Aufgabe, zu erhalten, was zu erhalten ist, und neu zu kreieren und anzuregen, was in den neuen Ländern neu zu machen war.
Ich bedauere außerordentlich, daß 1994 der Unterausschuß für Kultur abgeschafft worden ist. Ich denke, die Debatte heute hat gezeigt, daß er dramatisch vermißt worden ist. Man hätte ihn dringend gebraucht.
Letzte Bemerkung: Ich habe damals meine Rede mit folgenden Bemerkungen geschlossen: Die
neuen Kommunikationstechniken verändern nicht nur den Kulturbetrieb, sie verändern auch radikal unsere Arbeitskultur. ... Wie reagiert eine Gesellschaft darauf, daß ausgerechnet die technischen Geräte, die einst den Menschen bei der Arbeit entlasten sollten, heute zu Massenentlassungen führen?
Dieses Thema hat Peter Conradi eben angesprochen. Wir sind in diesem Bereich in den letzten 14 Jahren nicht sehr viel weitergekommen. Aber heute gibt es die Probleme, die Conradi angesprochen hat.
Ich will zum Schluß, Herr Präsident, eine persönliche Bemerkung machen: Ich habe mich geweigert, in der wichtigen Enquete-Kommission „Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" mitzuarbeiten, und zwar ausschließlich wegen des Begriffes „Informationsgesellschaft". Denn dieser Begriff gibt nicht das wieder, was unsere Verfassung meint, wenn wir von unserer Gesellschaft sprechen. Ich fand diesen Begriff für ein parlamentarisches Gremium falsch. Aber natürlich ist das ein wichtiger Begriff in der öffentlichen Debatte. Ich schlage vor, daß wir für das, was Conradi eben angesprochen hat und was ich voll unterschreibe, in der nächsten Legislatur eine Enquete-Kommission „Unser Land auf dem Weg zum Wiederfinden der Kulturgesellschaft" - die wir historisch gewesen sind und die zu zerbrechen droht - einrichten. Man kann das auch anders machen; das ist jetzt vielleicht auch nur ein Wortspiel mit dem Begriff „Enquete-Kommission".
Für uns alle muß und wird aber die dringliche Frage sein: Welche Kulturgesellschaft werden wir sein können? Das zu sehen ist wichtiger als die Informationstechnologien, die ohnehin dafür sorgen, daß sie Erfolg haben, manchmal auch über unsere Köpfe und über unsere Befindlichkeiten hinweg.
Danke schön.
Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte heute sind wieder einige Anmerkungen zu den Themen Stiftungsrecht und insbesondere Sponsoring gemacht worden, zu denen man leider feststellen muß, daß das, was in der Vergangenheit gemacht worden ist, offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Man muß sich schon ein bißchen in die Niederungen des Steuerrechts hinabbegeben, um an Hand der Fakten zu erkennen, was sich alles an Veränderungen ergeben hat.
Dies ist vor allem beim Thema Sponsoring der Fall. In einem Erlaß vom Juli letzten Jahres haben wir deutliche Verbesserungen in der steuerrechtlichen Bewertung des Sponsorings vorgenommen. Dieser Erlaß ist im Bereich der Wirtschaft und auch in der Kulturszene außerordentlich stark begrüßt worden. Ich darf einen „Focus"-Artikel vom letzten Jahr zitieren, in dem geschrieben wird, daß das Bundesfinanzministerium das Kulturengagement privater Unternehmen deutlich erleichtert habe. Der Artikel schließt:
Der neue Erlaß wird die Attraktivität des Kultursponsoring erheblich steigern - nicht zuletzt deshalb, weil er einen behutsameren Umgang der Sponsoren mit kulturellen Aktivitäten erlaubt.
Man muß also sagen: Was in den letzten Wochen in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist, insbesondere im Bereich der Kultur, war schlicht und einfach - ich sage es einmal vorsichtig - übertrieben. Zum großen Teil war es schlichtweg falsch.
Ich will eines deutlich feststellen: Dieser Erlaß vom Juli letzten Jahres ist weder ein „Waigel-Erlaß" noch ein Erlaß des Bundesfinanzministeriums. Er ist vielmehr ein Bund-Länder-Erlaß,
der von den Referenten von Bund und Ländern, die für die Körperschaftsteuer zuständig sind, gemeinsam erarbeitet worden ist.
Das muß ich einmal in aller Deutlichkeit sagen: Nachdem das Rauschen im Blätterwald so laut geworden ist, ist es natürlich für viele populär gewesen, auf diesen Zug aufzuspringen. Leider haben das auch einige Finanzminister aus den Ländern getan. Dazu besteht aber überhaupt kein Anlaß.
Lassen Sie mich kurz darstellen, was neu an dieser Regelung ist. Bisher gab es bei der Möglichkeit zu spenden den Nachteil, daß es für den Spender bei der Abzugsfähigkeit einen Höchstbetrag gab. Das andere Extrem ist die Werbung, deren Kosten für das Unternehmen voll abzugsfähig sind. Aber wenn der
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
Empfänger an der Werbung aktiv mitarbeitet, wird er in bezug auf diese Einnahmen als wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb behandelt. Aus Gleichheitsgründen müssen diese Empfänger dann genauso behandelt werden wie private Empfänger, zum Beispiel Sportler oder auch kulturelle Einrichtungen wie private Theater und private Museen. Für die kleinen Vereine spielte das keine Rolle, denn bis zu einem Betrag von 60 000 DM blieben die Einnahmen schon bisher immer steuerfrei. Die allermeisten Vereine waren von dieser Regelung also nicht betroffen.
Aber es gab eine Grauzone: Inwieweit darf der Empfänger der Sponsorengelder an diesen Werbeaktivitäten mitarbeiten? Das war das Problem, das diskutiert werden mußte. Ich denke, wir haben am Dienstag dieser Woche wiederum im Gremium der für die Körperschaftsteuer verantwortlichen Referenten aus Bund und Ländern eine sehr gute Lösung gefunden, als wir folgendes beschlossen haben:
Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb
- es geht also um die Steuerunschädlichkeit der empfangenen Sponsorengelder -
liegt auch dann nicht vor, wenn der Empfänger der Leistungen zum Beispiel auf Plakaten, Veranstaltungshinweisen, in Ausstellungskatalogen oder in anderer Weise auf die Unterstützung durch einen Sponsor lediglich hinweist. Dieser Hinweis kann unter Verwendung des Namens, Emblems oder Logos des Sponsors, jedoch ohne besondere Hervorhebung, erfolgen.
Das bedeutet ganz klar, daß der Hinweis überall gegeben werden kann. Er darf aber natürlich nicht im Vordergrund stehen, weil es sich dann um eine aktive Werbemaßnahme handeln würde, die, wie gesagt, unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten wäre.
Natürlich bleibt noch ein kleiner Bereich für die Auslegung offen. So etwas läßt sich auf dem Verwaltungswege und auf dem Gesetzeswege nicht bis ins letzte regeln. Aber ich denke, daß die Finanzämter vor Ort - sie liegen ebenfalls in der Zuständigkeit der Länder - mit diesem Erlaß nun über eine Handhabe verfügen, entsprechende Beurteilungen vorzunehmen. Mit unserem Beschluß ist klargeworden, was wir wollen.
Wir werden das heute abend auch mit den verantwortlichen deutschen Kulturmanagern besprechen und ihnen diese Auslegung erklären. Ich denke, daß das Thema Sponsoring dann für die Zukunft wirklich geklärt ist. Es ist ein wichtiger Beitrag, den man nicht unterschätzen darf. Auf diesem Wege werden etwa 3 Milliarden DM - natürlich vor allem für den Sport, aber auch etwa 1 Milliarde DM für Kultur, Umwelt und Soziales - aufgebracht. Deswegen ist es so wichtig, daß wir hier eine Regelung gefunden haben, mit der alle leben können.
Herzlichen Dank.
Ich gebe dem Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß, daß die Zeit für diese Debatte etwas knapp ist. Ich habe mich dennoch zu Wort gemeldet, weil ich noch einen gewissen Vorrat aus der „Raucherdebatte" habe. Dort habe ich nicht gesprochen, denn ich denke, es ist wichtiger, heute hier zu sprechen.
Bei allem Bemühen um ein vernünftiges Miteinander im Bereich des Rauchens meine ich, daß das, was wir heute besprechen, eine deutliche Nuance wichtiger ist.
Ich bin froh über diese Debatte, weil sie zeigt, daß wir ungeachtet der anderen großen und auch bedrückenden Probleme - die Arbeitslosigkeit ist angesprochen worden - den Kompaß für die Zukunft unseres Landes nicht aus den Augen verlieren. Ich will allerdings auch durchaus sagen, daß ich dann, wenn der Deutsche Bundestag hierüber - auch mit einer starken Präsenz der Bundesregierung - debattiert, schon erwarten kann, daß auch der Bundesrat hier in einer entsprechenden Weise vertreten ist.
Meine Damen und Herren, ich komme auf die Details, die angefragt wurden, noch zu sprechen. Es geht hier nicht um einen Streit zwischen Bund und Ländern. Es geht auch nicht darum, daß wir die Verfassung etwa aushöhlen und kippen wollen. Die Verfassung ist unser gemeinsames Grundgesetz. Wir, die tragenden politischen Gruppierungen, haben sie vor fast 50 Jahren gemeinsam auf den Weg gebracht. Wir haben sie im Prozeß der deutschen Einheit noch einmal ausdrücklich bestätigt.
Ich bleibe auch nach meinen täglichen Erfahrungen als Bundeskanzler, die etwas anders sind als die, die ich früher als Ministerpräsident in Mainz gemacht habe, dabei, daß die föderale Ordnung die beste Ordnung ist, die die Deutschen in ihrer Geschichte je hatten. Wir wollen daran festhalten. Darüber kann es keine Debatte geben.
Daß das keine bequeme Ordnung ist, ist auch wahr. Daß man darin nicht einfach, wie von einer Zentrale aus, bestimmen kann, hat sich in unserer Geschichte als gut erwiesen. Wenn Sie die Gleichschaltungstendenzen unter zwei Regimen - braun und rot - in diesem Jahrhundert betrachten, wissen Sie, daß die föderale Ordnung ihren tiefen Sinn hat. Für mich gehört es zu den ganz großen Erfahrungen, wie in den Monaten, Wochen, ja Stunden der deutschen Einheit die alten Länder in der damaligen DDR plötzlich über Nacht wiedererstanden waren
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
und wie deutlich das Bewußtsein zu spüren war, daß eine gewisse landsmannschaftliche Zugehörigkeit bestand, die gar nichts mit Enge und gar nichts mit Beschränktheit zu tun hat.
Die Geschichte unseres Volkes ist eine Geschichte von vielen Landschaften mit großen Traditionen, die sich gegenseitig befruchten. Auch wenn es manchen unserer Freunde und Partner in der EU schwerfällt, das zu verstehen: Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß nur dieses Modell im vereinten Europa eine Chance haben wird,
ein Modell, in dem die Subsidiarität wirklich gewahrt bleibt.
Ich bedaure immer noch, daß es allen Bemühungen zum Trotz nicht gelungen ist - auch nicht im Maastricht-Vertrag -, die drei Säulen Bund, Länder und Gemeinden, die damals auch im Parlamentarischen Rat diskutiert wurden, stärker - auch mit Blick auf die Gemeinden - auf europäischer Ebene zu verankern. Wir werden in diesem Europa keine gute Zukunft haben, wenn wir nicht das erhalten, was die Menschen als ihre Heimat empfinden. Das hat etwas mit Wärme, Tradition und Geschichte zu tun, es ist aufs engste mit dem Kulturerbe im besten Sinne des Wortes verbunden. Deswegen hat das, was wir hier debattieren, nichts mit dem Aufgeben von föderalen Strukturen zu tun.
Aber - dies muß man ebenso klar sagen -: Es gibt auch die nationale Kultur der Deutschen. Diese nationale Kultur der Deutschen hat eine spezielle Verbindung zu den Landschaften, zeigt sich aber auch in der Außenrepräsentanz. Das betrifft nicht nur die Frage, was die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes für deutschsprachige Schulen tut. Das ist ganz wichtig. Aber es betrifft zum Beispiel auch die Expo, über die wir eben geredet haben. Die Expo wird Deutschland an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert darstellen. Das geht über das Regionale und Föderale hinaus. Deswegen muß man hier vernünftigerweise aufeinander zugehen und darf das nicht in einer Weise betrachten, als wolle der eine dem anderen etwas wegnehmen.
Die europäische Entwicklung erzwingt auch von der Bundesrepublik Deutschland und ihren Bürgerinnen und Bürgern eine spezifische nationale Existenz im Bereich des Kulturellen. Es ist nicht einfach, das in Brüssel klarzumachen; denn die Lebenstraditionen unserer Partner sind völlig anders. Frankreich hatte zu allen Zeiten eine zentrale Hauptstadt, von der das kulturelle Geschehen ausgegangen ist. Wir sind stolz darauf, daß wir in unserem Land viele große Kapitalen haben. Wir wollen sie auch behalten. Deswegen wollen wir die alte und neue Hauptstadt Berlin so ausbauen, wie wir das gemeinsam wünschen: im Anschluß an eine große Tradition aus der Zeit vor der Nazibarbarei, als Berlin einer der ganz großen kulturellen Mittelpunkte der Erde, nicht nur Europas war.
Ich möchte hier eine kurze Bemerkung zu dem machen, was der Abgeordnete Krüger gesagt hat. Er hat
diese Debatte offensichtlich mit irgendeiner Wahlkampfveranstaltung verwechselt; denn ein Großteil dessen, was er hier gesagt hat, macht gar keinen Sinn.
Sie beklagen hier, daß der Bund nicht genug für Berlin tut; das war Ihre pauschale Äußerung. Ich vermisse allerdings Ihre Stimme, wenn es darum geht, den Umzug nach Berlin zu verteidigen. Beispielsweise habe ich von der SPD-Fraktion kein Wort gehört, als der Bundesrat im Zusammenhang mit dem Berlin-Beschluß entschieden hat, in Bonn zu bleiben. Jeder wußte, daß dies ein reiner Wahlkampfbeschluß war,
mit dem man den Leuten Sand in die Augen streute. Das muß ich Ihnen schon so sagen.
Als dann der bayerische Ministerpräsident, Edmund Stoiber, Bundesratspräsident wurde,
hat er den Antrag eingebracht, daß auch der Bundesrat nach Berlin ziehen soll. Die Länder Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland haben dagegen gestimmt.
- Das hat etwas mit Politik zu tun, und Politik hat auch etwas mit Kultur zu tun.
Ich rede hier von der kulturellen Dimension der neuen Hauptstadt. Das müssen Sie schon ertragen. Die Art und Weise, wie Sie den Bund in Berlin anklagen, mehr Geld fordern und zu Hause in den Bundesländern kneifen und sagen „Das ist eine Sache der Bundesregierung", ist ein absolut unerträgliches Verfahren.
Herr Abgeordneter Krüger, immerhin ist im letzten Jahr eine halbe Milliarde D-Mark unter der Überschrift „Förderung kultureller Einrichtungen - Vorhaben in Berlin" nach Berlin gegeben worden. Natürlich ist das eine Menge Geld.
Sehen Sie sich einmal in anderen Bundesländern um. Vorhin ist eine Kollegin aufgestanden und hat die Frage eines Baus in Leipzig angesprochen. Gehen Sie einmal nach Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern. Da höre ich - mir macht man die Vorwürfe! - unentwegt überall die Klage: Ihr tut viel zuviel für Berlin. - Bleiben Sie also bitte bei der Wahrheit.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Bundesminister Kanther tut das, was er kann. Er tut das in einer vorzüglichen Weise. Die billige Form, in der Sie ihn angesprochen haben, ist gänzlich inakzeptabel.
Ich will bei der Gelegenheit auch sagen: Natürlich vertreten wir auch in Brüssel unsere Interessen. Sie haben dazu ebenfalls Gelegenheit. Sie können beispielsweise eine Kommissarin, die Ihnen nicht gänzlich unbekannt ist, in Ihre Fraktion einladen und sich berichten lassen, wer in Brüssel in Sachen Buchpreisbindung kämpft.
Sie können dann von ihr hören, wer in Brüssel die jetzige Form der Buchpreisbindung total verändern und aufgeben will.
Bevor Sie hier solche Vorwürfe machen, sollten Sie sich erstens informieren und zweitens wenigstens einen Rest von Fairneß gegenüber jenen obwalten lassen, die es in Sachen Buchpreisbindung schwer haben.
Drittens möchte ich dazu sagen: Bei den Diskussionen, die ich - ich beschwere mich nicht, das ist meine Aufgabe - mit dem Ziel geführt habe, die Buntheit unseres kulturellen Geschehens durch Bestimmungen des Maastricht-Vertrags nicht beschädigen zu lassen, habe ich im Zusammenhang mit dem Abschluß dieses Vertrages nicht sehr viel Unterstützung erfahren.
Wir haben in ein paar Tagen - wenn ich das richtig sehe - die Debatte über den Amsterdam-Vertrag, und dann können wir über diese Punkte hier miteinander sprechen. Ich wäre dann sehr froh, wenn eine Dame oder ein Herr aus Ihrer Fraktion aufstehen und sagen würde: Wir danken der Bundesregierung, sie hat es gut gemacht. - Sie glauben gar nicht, was das für eine große pädagogische Erfahrung ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Ja, gerne, Herrn Kollegen Duve immer.
Herr Bundeskanzler, sind Sie bereit anzuerkennen, daß es in den beiden Fragen, die Sie soeben angesprochen haben - Buchpreisbindung und Kultur im Maastricht-Vertrag -, seit 1981 oder 1982 - ich weiß es nicht genau, aber da haben wir die erste gemeinsame einstimmige Entschließung zur Buchpreisbindung gefaßt - immer eine gemeinsame Position aller Fraktionen gegeben hat?
Lieber Kollege, ich bin mit Ihnen völlig einverstanden, Sie sind aber zu spät aufgestanden. Sie hätten vorhin bei Ihrem Redner aufstehen müssen.
- Sie hätten Ihrem Kollegen einfach sagen müssen, daß er - das kann einem ja passieren, das passiert mir auch - heute nicht gut informiert war. Mehr will ich gar nicht gesagt haben.
- Herr Abgeordneter, man kann gut in Form sein und trotzdem nichts wissen.
Das ist für den parlamentarischen Alltag keine gute Prognose.
Ich komme zu dem Thema zurück, das ich vor allem ansprechen will. Ich glaube nicht, Frau Kollegin Vollmer, daß wir in der Frage, die Sie mit Ihrer Vorlage aufgeworfen haben, im Grundsatz auseinander sind. Ich halte das für eine der ganz wichtigen Fragen. Ich mag das Wort „Standort" in diesem Zusammenhang nicht gebrauchen, weil es einseitig ökonomisch besetzt ist. Wenn ich von der Zukunftssicherung Deutschlands spreche, so gehört für mich die Frage der Kulturlandschaft der Deutschen im 21. Jahrhundert ganz selbstverständlich dazu.
Ich bin absolut sicher, daß wir mit unserem bisherigen Denken im Bereich des Stiftungsrechts nicht weiterkommen werden, wenn wir nicht berücksichtigen, daß sich die Gesellschaft enorm verändert hat. Das fängt - das hat viel mit den Stiftungen zu tun - mit der demographischen Situation an: Die zu vererbenden Vermögenswerte haben heute eine andere Größenordnung als früher.
Die Tatsache, daß wir Gott sei Dank 50 Jahre lang Frieden hatten, hat dazu geführt, daß enorme Vermögenszuwächse entstanden sind, und zwar auch in breiten Mittelschichten.
Der Gedanke „Was wird später aus dem, was ich erarbeitet habe, und wo kann ich für die Gesellschaft etwas Gutes tun?" - es gibt viel mehr Leute, die so denken, als gemeinhin angenommen wird - ist in unserem Stiftungsrecht mit Sicherheit nicht ausreichend berücksichtigt.
Ich glaube nicht daran, daß wir die mir sympathische Möglichkeit der Vereinigten Staaten bei uns haben werden. Das ist ein ganz anderes System mit völlig anderen steuerlichen Verhältnissen. Aber ich glaube
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
schon - das ist bereits von einem Redner gesagt worden -, daß man im Stiftungsrecht nur dann wirklich positiv und dauerhaft etwas tun kann, wenn man den Mut hat, diese Frage in die große Steuerreform einzubauen.
Ohne eine Grundsatzentscheidung in dieser Frage wird es nicht gehen.
Man kann die Förderungen auch nicht gegeneinander ausspielen, indem man sagt: hier Sportförderung, hier Kulturförderung und morgen soziale Förderung. Es gibt nicht wenige in unserem Land, die auf Grund sehr persönlicher Schicksale eine besondere Sympathie und die Bereitschaft haben, im sozialen Bereich etwas zu tun und dafür auch Opfer zu bringen. Die Beobachtungen, die ich bei der Arbeit meiner Frau auf diesem Gebiet machen kann - das war für mich früher ein völlig unbekanntes Gebiet -, bestärken mich in dieser Meinung. Deswegen glaube ich - das ist nicht ein Herunterreden dessen, was wir hier besprechen -, daß wir wirklich einmal überlegen müssen, ob wir den Mut haben an die Grundsatzfrage heranzugehen. Dann muß man allerdings vielleicht auch darüber reden, wie die Anteile zwischen Bund und Ländern an dem Geld sein sollen, und über vieles andere mehr. Alles wird am Ende in die Frage münden, daß wir etwas Vernünftiges zuwege bringen und finanzieren.
Ich setze darauf, daß die bürgerschaftliche Gesinnung in unserem Land viel weiter entwickelt ist, als daß sie nur unter rein fiskalischen Gesichtspunkten gesehen werden kann. Die menschliche Natur ist aber nun einmal so, wie sie ist. Es ist nichts Negatives, wenn jemand sagt, für die Zeit, in der er nicht mehr dasein werde, hätte er gern, daß sein Werk fortgeführt werde und man sich daran erinnere. Die Angelsachsen haben auf diesem Gebiet eine viel offenere Betrachtungsweise, weil sie bezüglich der Frage des Erwerbs von Vermögen ohnehin viele Komplexe nicht mit sich schleppen, die in Deutschland in der Neidgesellschaft jeden Tag erneut gepflegt werden.
Aber ich würde schon darum bitten, daß wir die Frage der Stiftungen, die Sie hier zu Recht aufgeworfen haben und die übrigens nicht neu ist, auch unter diesem Gesichtspunkt sehen.
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Wir waren in der Sache viel weiter. Das gebe ich gerne zu. Ich habe das aus guten Gründen in meiner ersten Regierungserklärung und in den Jahren danach gesagt. Wir sind im Jahre 1988 daran gegangen, die Zahlen zu addieren, und waren gerade auf dem Weg, als wir im Zusammenhang mit der deutschen Einheit vor völlig neue Herausforderungen gestellt worden sind. Es hätte damals kein Mensch verstanden - das will ich doch auch einmal sagen, weil Sie die damalige Zeit angesprochen haben -, wenn wir die Frage des
Stiftungsrechts anderen, lebenswichtigen Fragen vorgezogen hätten.
Ich schlage vor, daß wir jetzt zumindest ein vernünftiges Gespräch in dieser Frage miteinander führen. Ich bezweifle - das füge ich hinzu -, ob man angesichts der gegenwärtigen Finanzsituation schon bald eine Lösung finden kann. Aber vielleicht kann man sich doch einmal darauf verständigen, daß das ein Teil einer wirklichen Steuerreform sein muß. Da ich ganz sicher bin, daß die große Steuerreform, wie wir sie vorgeschlagen haben, von den Wählern akzeptiert wird, sage ich Ihnen gerne zu, daß wir dies dann auch vernünftig regeln werden.
Nach § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung kann die Debatte fortgesetzt werden. - Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, wenn in einer kulturpolitischen Debatte, in der grundsätzliche und sehr konkrete Überlegungen angestellt werden, auch sehr elementare, fundamentale Übereinstimmungen sichtbar werden. Es ist gut, das festzustellen, und deswegen will ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, zunächst ausdrücklich zustimmen und sagen: Dies ist auch unsere Position; Kultur ist eine gemeinsame Aufgabe von Ländern und Bund. Beide haben eine gemeinsame Verantwortung, wobei klar ist, daß der kulturelle Reichtum Deutschlands etwas mit seiner föderalen Tradition, seiner kulturellen Dezentralität zu tun hat.
Meine lebensgeschichtliche Erfahrung mit der SED-Diktatur, mit dem SED-Zentralismus läßt mich diesen kulturellen Reichtum und den Föderalismus auf eine besondere Weise schätzen.
Wir sind uns zugleich darin einig, daß der Bund ordnungspolitische Verantwortung hat, für die Rahmengesetzgebung zuständig ist und daß er auch - davon war in dem Beitrag des Kollegen Krüger die Rede - in der Außenvertretung von Kulturpolitik eine Koordinierungsaufgabe hat. Sie haben das bestätigt. Der Streit wird darüber sein und vielleicht auch bleiben, wie erfolgreich er diese Außenvertretung der deutschen Kulturpolitik wahrnimmt. Ich fände es falsch, wenn die Position von Thomas Krüger in der Weise mißverstanden würde, daß wir die Länder daran hindern wollten, auch künftig hin auf europäischer Ebene zu agieren. Es besteht also Einigkeit in dieser Grundüberzeugung, daß Kultur eine gemeinsame Aufgabe von Ländern und Bund ist.
Wolfgang Thierse
Eine zweite Bemerkung zum Thema Berlin: Ich weiß nicht, was in einer kulturpolitischen Debatte der Hinweis auf die Auseinandersetzungen um den Umzugsbeschluß des Bundesrates soll.
Daß auch hier - wie überhaupt bei den Umzugsbeschlüssen; daran werden Sie sich erinnern - die Fronten quer durch die Parteien verliefen und mancherlei Emotionen eine Rolle spielten, ist nicht verwunderlich.
Vielleicht sollten Sie als ehemaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz verstehen können, daß Ministerpräsidenten der Länder Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland, für die Bonn in ziemlicher Nachbarschaft liegt, stärker an Bonn hängen. Jedenfalls habe ich es als Berliner, der leidenschaftlich für diesen Umzug gekämpft hat, verstanden und respektiert. Man sollte daraus nicht im nachhinein ein ungerechtfertigtes Politikum machen.
Nun zum Thema Kulturförderung in Berlin. Da sind zwei Dinge zu unterscheiden:
Zunächst muß man von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz reden. Ich habe sie immer für eines der großen, positiven Beispiele für gemeinsame - auch finanzielle - Verantwortung von Bund und Ländern gehalten, als ein positives Beispiel dafür, wie Bund und Länder zusammenwirken und eine große kulturelle Aufgabe erfolgreich schultern.
- Bei allen Schwierigkeiten im einzelnen: Das ist doch geschenkt. - Ich finde das ist auch ein Appell an die Länder -, diese Arbeit in gemeinsamer Verantwortung sollte fortgesetzt werden.
Ein ganz anderes Thema ist die konkrete Förderung von außerordentlicher Kultur von nationaler Bedeutung in Berlin. Da habe ich als Berliner an dieser Stelle zunächst auch nicht so viel zu kritisieren und nur den Wunsch, daß diese Förderung von Kultur und Kunst von nationaler Bedeutung in Berlin stabil, verläßlich und längerfristig sein soll.
Das braucht Berlin in seinen Finanznöten und angesichts des Umstandes, daß die Größe der kulturpolitischen Aufgaben in Berlin - Herr Bundeskanzler, Sie haben es selber gesagt - das Land und die Stadt Berlin immer überfordern muß. So wie die Bundesrepublik Deutschland in Bonn kulturpolitische Verantwortung - auch finanziell - übernommen hat, muß sie in der größeren Stadt Berlin auch größere Verantwortung übernehmen. Ich hoffe, da sind wir im Grundsatz einig. Über jede einzelne Frage wird man miteinander reden, aber das ist, wie ich glaube, auch nicht auf ganz schlechtem Wege.
Eine dritte Bemerkung: Ich bin froh, daß wir insoweit Einigung erzielt haben, daß wir über eine wirkliche Reform des Stiftungsrechtes miteinander ins Gespräch kommen müssen. - Das ist wirklich ein positives Ergebnis dieser kulturpolitischen Debatte. - Selbstverständlich muß sie Teil einer großen Steuerreform sein. Das ist ganz klar. Darüber wird auch in den nächsten Monaten und Jahren noch viel zu streiten sein. Die Sozialdemokraten sind aber für eine solche Veränderung des Stiftungsrechtes, für eine kulturfreundlichere Fassung des Stiftungsrechtes.
Ich will einen Gedanken wiederholen, den ich heute früh schon gesagt habe: So wichtig private Kulturförderung ist - sie ist wichtig und kann angesichts der Tatsache, daß wir es mit einer Erbengeneration zu tun haben, noch wichtiger werden -, es bleibt bei der dominierenden öffentlichen Verantwortung für Kultur.
Der Hinweis auf Amerika ist verführerisch. Gewiß können wir manches in diesem Bereich lernen, aber die europäische Tradition ist die Tradition des Kulturstaates.
Die wollen wir beibehalten, auch wenn ich ausdrücklich zustimme: Die Bürgergesellschaft hat auf ganz neue Weise Verantwortung für Kultur zu übernehmen. Was der Staat tun kann - er kann es ja gegenwärtig gelegentlich auch nur unter finanziellen Schmerzen tun -, hängt davon ab, ob die Bürgergesellschaft dem zustimmt, es aktiv verlangt, es aktiv betreibt.
Zu einer Kurzintervention zur Rede des Bundeskanzlers gebe ich dem Abgeordneten Thomas Krüger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich habe hinsichtlich meiner Ausführungen nichts zurückzunehmen. Ich habe in einer Reihe von Punkten - das ist das gute Recht der Opposition - auf Defizite in der Kulturpolitik des Bundes in dieser Legislaturperiode hingewiesen und sie an den Versprechungen der Koalitionsvereinbarung gemessen.
Ich möchte das kurz in Erinnerung rufen. Es betrifft erstens die Initiativen zum Stiftungs- und Steuerrecht, die Sie ergreifen wollten, und zweitens die wichtigen Fragen des Urheberrechts, die überhaupt noch nicht thematisiert worden sind. In der Informationsgesellschaft ist das Urheberrecht der Schlüsselfaktor für kulturpolitische Initiativen, um die Rechte der Urheber zu schützen.
Zum dritten nenne ich die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler. In aktuellen Studien wird auf die Zuspitzung der sozialen Lage hingewiesen. Die Künstlersozialversicherung ist in diesem Bereich ein sehr gutes Instrument, und die Novellierung, die Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, in Ihrem Antrag angeregt haben, könnte ein Schritt auf dem
Thomas Krüger
richtigen Wege sein. Wir brauchen nur eine Vorlage, über die wir diskutieren können.
Viertens. Es werden kulturelle Einrichtungen vom Bund gefördert, Herr Bundeskanzler, über deren Output und Management wir diskutieren müssen. Es kann nicht sein, daß wir alles so weitermachen wie bisher. Die 500 Millionen DM, die Sie genannt haben, beziehen sich ja zum großen Teil auf die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Für meine Begriffe kann diese Stiftung wesentlich effektiver als bisher geführt werden. Ich habe vorhin ja das sehr problematische Beispiel der Afrika-Ausstellung erwähnt.
Fünftens. Bei der Diskussion um Berlin - da gebe ich Ihnen recht - brauchen wir eine klare Schwerpunktsetzung. Ich hoffe sehr, daß der Bundesinnenminister diese mit dem Land Berlin verabredet. Wir brauchen aber endlich auch eine Diskussion über Struktur und Umfang der Finanzierung des Engagements des Bundes.
Sechstens eine Bemerkung zu dem Thema Buchpreisbindung: Sie haben mich mißverstanden, wenn Sie meinen, ich hätte nicht auf die einheitliche Position von Bundesregierung und Parlament hingewiesen. Hier ist ja vor kurzem mit der großen Mehrheit des Hauses ein Antrag auf Erhaltung der Buchpreisbindung beschlossen worden. Ich habe auch nicht gesagt, daß Sie in Brüssel nicht dafür kämpften. Es gibt nur einen Unterschied: Es ist etwas völlig anderes, ob man sich einsetzt oder ob man sich durchsetzt. Bisher hat sich diese Bundesregierung beim Erhalt der Buchpreisbindung nicht durchgesetzt.
Eine letzte Bemerkung zur Außenvertretung im Zusammenhang mit der europäischen Kulturpolitik. Ich habe kürzlich in Gesprächen mit der Film- und Fernsehwirtschaft wiederholt zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Interessen der Film- und Fernsehwirtschaft im europäischen und internationalen Bereich viel zuwenig vertreten werden. Vom Präsidium der Filmförderungsanstalt ist ein Brief an Sie und an den Bundesratspräsidenten geschrieben worden, in dem es heißt, daß man sich um die Außenvertretung des deutschen Films bemühen solle. - Wer weiß, wie wichtig der Film im internationalen Bereich als Kulturgut ist, der kann auch die Bedeutung dieses Themas ermessen. Ich bitte also, diese Anregung aufzugreifen.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/8625, 13/9320, 13/9796 und 13/9806 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis g auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/9772 -
Überweisungvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/9773 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Andrea Fischer , Volker Beck (Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch (Drittes SGB XI-Änderungsgesetz -
3. SGB XI-ÄndG)
- Drucksache 13/8681 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
- Drucksache 13/9816 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 13/8941 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Andrea Fischer , Rita Grießhaber und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nichtanrechnung des Pflegegeldes als Einkommen der unterhaltsberechtigten Pflegeperson
- Drucksache 13/9219 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung
- Drucksache 13/9528 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Abgeordneten Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politik hat mit Kultur zu tun, hat der Bundeskanzler eben formuliert. Die Debatte um die Pflegeversicherung hat mich in den letzten Wochen daran erinnert; denn für mich war es ein absurdes Theater in zwei Akten.
Erster Akt: Das F.D.P.-Präsidium verlangt eine Beitragssatzsenkung um 0,2 Prozentpunkte. Kanzler Kohl sprach ein Machtwort: „Senkung der Pflegeversicherungsbeiträge kommt nicht in Frage. " Finanzminister Waigel warf der F.D.P. Profilierungssucht vor. CDU-Generalsekretär Hintze mußte der F.D.P. wieder einmal sagen, sie solle die Kirche im Dorf lassen.
Diese wenigen Beispiele kennzeichnen eine Aufführung, bei der die Lage der Pflegeversicherung, Beitragssatzsenkung oder -erhöhung, demographische Entwicklung und Leistungsverbesserung die Stichworte waren.
Zweiter Akt. Am Dienstag tagten die Koalitionäre, und Kanzleramtsminister Bohl erklärte, der Streit sei vom Tisch. Auch die F.D.P. sah das so. „Die Koalition hat ihren Streit über die Pflegeversicherung ohne Sieger und Verlierer für beendet erklärt", verkündete der F.D.P.-Fraktionsvorsitzende Solms der deutschen Öffentlichkeit.
Natürlich gibt es als Ergebnis dieser Auseinandersetzung Sieger und Verlierer. Gesiegt hat der Koalitionsfriede, verloren haben die Pflegebedürftigen und die Pflegeversicherung.
Das tatsächliche Ergebnis Ihres Streits ist Stillstand. Mit Politik oder Handlungsfähigkeit hat das nichts mehr zu tun; Handlungsunfähigkeit als Leitmotiv der Regierungspolitik ist das Ergebnis. Keine Sieger und keine Verlierer, Herr Solms? Offensichtlich sind Ihnen die betroffenen Menschen, um die es in erster Linie gehen sollte, völlig gleichgültig. Wieder einmal war die Pflege der F.D.P. ein Dorn im Auge.
Dabei sah es im vergangenen November noch so aus,
als könnten sich CDU/CSU, SPD, Grüne und F.D.P. auf eine gemeinsame Korrektur des Pflege-Versicherungsgesetzes verständigen, mit der zumindest kleinere Kinderkrankheiten, die bei Einführung jedes großen Sozialversicherungssystems auftreten, geheilt werden. In mehreren Verhandlungsrunden der sozialpolitischen Sprecher dieser Parteien waren kleinere, aber wichtige Korrekturen verbindlich verabredet worden. Beitragssatzsenkungen spielten dabei keine Rolle.
Die Koalition hat dieses Verhandlungsergebnis in der letzten Woche einseitig aufgekündigt. Deshalb bringen die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute zwei Gesetzentwürfe ein, die im wesentlichen das gemeinsame Verhandlungsergebnis beinhalten. So sollen zum Beispiel die Kosten der sogenannten Pflichtpflegekontrolleinsätze nicht mehr von den Pflegebedürftigen, sondern von den Pflegekassen übernommen werden. Unser Ziel ist es, die Akzeptanz der Pflichtpflegekontrolleinsätze zu erhöhen. Bei der Tages- und Nachtpflege werden die Leistungen angehoben, in Stufe II von 1500 auf 1800 DM, in Stufe III von 2100 DM auf 2800 DM.
Dies entspricht einer Vereinbarung, die bereits im Vermittlungsausschuß bei Einführung der Pflegeversicherung getroffen wurde. Schon damals bestand Einvernehmen, daß bei sich festigender Finanzlage in diesen Bereichen nachgebessert werden soll, weil wir alle die häusliche Pflege stärken wollten. Aus diesem Grund sind auch bei der Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und im Unterhaltsrecht Verbesserungen vorgesehen. So soll mit der vorgesehenen kostenneutralen Änderung zum Unterhaltsrecht sichergestellt werden, daß das Pflegegeld nicht nur dem Pflegebedüftigen selbst, sondern auch der Pflegeperson, die die häusliche Pflege unentgeltlich übernommen hat, möglichst ungeschmälert erhalten bleibt. Der klassische Fall, an den gedacht ist: Die von ihrem Mann getrennt lebende Mutter pflegt das gemeinsame pflegebedürftige Kind. In einem solchen Fall soll der Vater des Kindes bei seiner Unterhaltszahlung nicht das Pflegegeld als Einkommen der Ehefrau anrechnen können und seine Unterhaltszahlung dadurch mindern, wie dies zur Zeit möglich ist.
Die Änderungen bei der Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege sollen die bestehenden Regelungen praktikabler machen. So ist vorgesehen, die
Gerd Andres
zwölfmonatige Wartefrist zu streichen, die bisher eingehalten werden muß, um in Krisensituationen, zum Beispiel wenn die Pflegeperson einen Unfall hatte, Leistungen für die Unterbringung in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung zu erhalten.
Bei der sogenannten Verhinderungspflege, das heißt der vorübergehenden Übernahme der Pflege durch entfernte Verwandte oder Personen aus der Nachbarschaft, soll klargestellt werden, daß im Hinblick auf den Anspruch auf Ersatzpflege nicht von unentgeltlicher Pflege auszugehen ist. Der Höchstbetrag von 2800 DM kann dann ebenfalls beansprucht werden, wenn entsprechend hohe, notwendige Aufwendungen nachgewiesen werden. Daß das Pflegegeld im Sterbemonat zurückgefordert werden kann, ist schlicht pietätlos. Das muß unserer Auffassung nach geändert werden.
Am Rande sei noch erwähnt, daß sich die SPD ebenfalls für eine zeitliche Verlängerung der pauschalierten Leistungsbeträge nach Art. 49 des PflegeVersicherungsgesetzes ausgesprochen hat.
All diese Änderungen sind gemeinsam verhandelt und von CDU/CSU und F.D.P. gebilligt worden. Die Koalition hat es nicht geschafft, sich auf ihre Einbringung zu verständigen. Die Koalition, die immer wieder lächerliche Blockadevorwürfe in Richtung Bundesrat erhebt, hat damit erneut bewiesen, wie es um ihre Politikfähigkeit bestellt ist. Sie ist eine Koalition der gegenseitigen Blockierer.
Wir alle haben in den letzten Tagen die Diskussion über die Pflegeversicherung verfolgt. Die Schlagzeilen widersprachen sich. Die einen forderten Beitragssatzabsenkung, die anderen Beitragssatzerhöhung. Ich fand, diese Diskussion erinnerte eher an ein Tollhaus. Ich muß hinzufügen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die fünfte Jahreszeit hat in der Tat das Rheinland erreicht. Aber daß das viele Büttenreden in der Politik rechtfertigen kann, vermag ich so nicht einzusehen.
Sehr verehrte Frau Kollegin Dr. Babel, ich habe mich doch sehr über den Schwenk gewundert, den Sie hier vollzogen haben. Sie persönlich haben an den Gesprächen der sozialpolitischen Sprecher teilgenommen; Sie persönlich haben den jetzt vorgelegten Verbesserungsvorschlägen zugestimmt; Sie persönlich wissen auch, wie unsinnig die Forderung nach einer Beitragssatzabsenkung ist, und haben daher diese auch zu keiner Zeit in die Verhandlungsgespräche eingebracht. Unter allen Fachleuten besteht Übereinstimmung darüber, daß die Rücklagen der Pflegeversicherung zur Zeit für Ausgaben überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Jeder weiß, daß Betriebsmittel und Rücklagen in Höhe von 4 Milliarden DM gesetzlich vorgeschrieben sind und nicht ausgegeben werden können. Aber auch die verbleibenden rund 5 Milliarden DM stehen zur Zeit weder für umfangreiche Leistungsverbesserungen noch für Beitragssatzabsenkungen zur Verfügung. Ich will hier ganz deutlich sagen: Alle, die dort miteinander verhandelt haben, haben das unter der Prämisse der Beitragssatzstabilität und der Vermeidung von Leistungsausweitungen, die die Pflegeversicherung ganz schnell in große Schwierigkeiten bringen können, getan. Das gilt für Frau Dr. Babel; das gilt für Herrn Laumann, den ich hier nirgendwo entdecken kann;
das gilt für Frau Fischer, und das gilt auch für uns.
Ich sage ausdrücklich, daß es in der Pflegeversicherung Probleme gibt und daß es unbestreitbar künftig Risiken geben wird, die man im Auge behalten muß. So wissen auch Sie sehr genau, daß die Pflegeversicherung zum Beispiel ein finanzielles Polster als Sicherheitsreserve zur Abdeckung der zu erwartenden demographischen Entwicklung braucht. Auch Sie wissen, daß es einen deutlichen Trend zu teureren Sachleistungen gibt, dessen weitere Entwicklungen zunächst abgewartet werden müssen. Auch Sie wissen, daß die Pflegeversicherung gerade einmal ein Jahr lang die volle Leistung im ambulanten und stationären Bereich erbracht hat und eine solide Voraussage über die Einnahme- und Ausgabeseite seriös noch gar nicht möglich ist.
Schon diese kleine Liste von Unwägbarkeiten zeigt, daß jede verantwortliche Politik für Reserven sorgen muß, damit die Pflegeversicherung funktionsfähig bleibt.
Eine Beitragssatzsenkung um 0,2 Prozentpunkte gefährdet dieses Ziel. Auch dies wissen alle sehr genau. Es ist bekannt, daß die Pflegeversicherung bei einer Beitragssatzabsenkung um 0,2 Prozentpunkte sofort ins Defizit gerät.
Eine Senkung um 0,2 Prozentpunkte führt zu Mindereinnahmen in Höhe von 3,6 Milliarden DM. Bis Ende 1999 wären also die jetzigen Überschüsse fast bis auf die gesetzlich vorgeschriebene Reserve aufgebraucht. - Wenn Sie, Frau Dr. Babel, immer „NO, nö! " dazwischenbrüllen, sage ich Ihnen einmal: Man muß sich die Entwicklung genau anschauen. 1995 gab es einen Überschuß von 6,72 Milliarden DM. Das hatte seinen Grund darin, daß die Beitragszahlung früher begann, als die Leistungsgewährung einsetzte. 1996 war der Überschuß schon auf 2,3 Milliarden DM abgeschmolzen, und 1997, im ersten Jahr der vollen Leistungsgewährung, gab es noch einen Überschuß von 1,4 Milliarden DM. Wenn Sie das auf ein Haushaltsjahr beziehen und den Beitrag um 0,2 Prozentpunkte absenken, dann sehen Sie doch, daß die 3,6 Milliarden DM Mindereinnahmen deutlich mehr sind als der jährlich zu erzielende Über-
Gerd Andres
schuß von 1,4 Milliarden DM, der für dieses Jahr noch gar nicht garantiert ist.
Wer verantwortlich mit der Pflegeversicherung umgeht, der kann sich auf ein solches Spiel nicht einlassen.
Schlimmer noch ist, wenn diese Forderung mit der Aufkündigung von Vereinbarungen über Leistungsverbesserungen verbunden wird. - Das, Frau Dr. Babel, halte ich in der Tat für schäbig.
Ich muß schon die Frage stellen, welche Kompetenzen denn die sozialpolitischen Sprecher der Fraktionen hatten. Waren Sie sich eigentlich nicht darüber im klaren, worauf Sie sich in der Diskussion eingelassen haben? - Offenkundig werden diese Positionen nur von Leuten vertreten, die entweder von der Sache keine Ahnung haben oder die der Pflegeversicherung schaden wollen oder die durch Schauanträge Wählerstimmen gewinnen wollen.
Hier muß ich ganz eindeutig sagen: Die ganze Sache, die die F.D.P. hier abzieht, ist doch nur die Fortsetzung der Melodie „Steuersenkungspartei", mit der man nach außen Eindruck erwecken will. Man setzt jetzt die finanziellen Rücklagen der Pflegeversicherung aufs Spiel, verbrät sie in kürzester Zeit. Wenn wir dann in Zukunft in die Lage kämen, die Beiträge wieder erhöhen zu müssen, wären Sie doch garantiert die Partei, die eine solche Beitragserhöhung ablehnt.
Deswegen muß dies unseren Widerspruch finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß es Probleme in der Pflegeversicherung gibt. Über diese Probleme muß offen geredet werden, und es müssen Lösungsansätze gefunden werden. Wir haben große Probleme bei der Versorgung Behinderter, und wir haben Probleme bei der Versorgung Demenzkranker. Es gibt große Schwierigkeiten in den Abgrenzungen der Pflegeversicherung zum Bundessozialhilfegesetz und zur gesetzlichen Krankenversicherung. Jeder, der in der Debatte zu diesem Thema redet, muß das sehen und sich damit auseinandersetzen, daß wir es nicht zulassen können, daß wegen dieser Abgrenzungsprobleme betroffene Menschen durch den Rost fallen und die Konflikte auf ihren Knochen ausgetragen werden.
Alle im Deutschen Bundestag waren sich darüber einig, daß die Einführung der Pflegeversicherung nicht zu Lasten Behinderter gehen darf und. daß wir Strukturveränderungen in den Einrichtungen gemeinsam ablehnen. Was stellen wir fest? Die Umwidmung von Einrichtungen findet in großem Maße statt, so daß wir alle aufgefordert sind, in den nächsten Wochen bei den Beratungen des Pflegeversicherungsberichtes und der gesetzlichen Vorlagen entsprechend zu diskutieren. Ich fordere insbesondere die Abgeordneten der CDU/CSU auf, ihren Bewegungsspielraum zu nutzen und sich nicht von der F.D.P. in der Umsetzung von gemeinsam als notwendig erachteten Veränderungen behindern zu lassen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wir sind bereit, mit Ihnen diese Verbesserungen durchzusetzen.
Schönen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Volker Kauder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute werden im Deutschen Bundestag fünf Gesetzentwürfe zur Änderung der Pflegeversicherung eingebracht, die kleinere Korrekturen oder Ergänzungen am Pflege-Versicherungsgesetz vornehmen wollen. Dazu hat der Kollege Andres gerade gesprochen. Es wird aber zum erstenmal auch ein Bericht der Bundesregierung über die Pflegeversicherung, ihre Entwicklung und den Stand der Versorgung Pflegebedürftiger in Deutschland vorgelegt. Ich wundere mich, daß der Kollege Andres darüber überhaupt kein Wort verliert, sondern so tut, als ob die Pflegeversicherung im Augenblick schwerpunktmäßig als Reparaturbetrieb gesehen werden müßte.
Deswegen möchte ich zunächst einmal ein paar Hinweise darauf geben, was dieser Bericht der Bundesregierung über die Pflegeversicherung enthält.
Die Pflegeversicherung stößt bei den Betroffenen auf überwältigende Zustimmung.
Das ist in diesem Bericht festgehalten. Eine Befragung der Universität Hamburg hat ergeben, daß rund 80 Prozent der Befragten der Auffassung sind, daß die Pflegeversicherung gerade im häuslichen Bereich zu einer erheblichen Verbesserung der Situation geführt hat. Wo bekommen wir für gesetzliche
Volker Kauder
Maßnahmen noch eine 80 prozentige Zustimmung? Darüber können wir doch reden.
- Ich finde es nicht gut, daß, wenn hier ein Bericht zu einem Gesetz gegeben wird, das wir gemeinsam gemacht haben, ständig dazwischengeschrien wird. Jetzt warten Sie doch einmal ab! Das ist doch eine gemeinsame Arbeit, die wir gemacht haben.
Die Pflegeversicherung hat eine erhebliche Verbesserung für alle Beteiligten gebracht. Damit hat sie ihr wichtigstes Ziel erreicht. Die Pflegeversicherung hat erstmals auch einen Beitrag zur Alterssicherung ehrenamtlicher Pflegepersonen gebracht, also vor allem für Familienangehörige und, wie die Praxis zeigt, besonders für Frauen. Über 90 Prozent der ehrenamtlich tätigen Pflegepersonen sind Frauen. Sie bekommen für ihre Arbeit durch die Pflegeversicherung zum erstenmal einen eigenen Anspruch in der Rentenversicherung - eine großartige Leistung!
1997 werden 2 Milliarden DM von der Pflegeversicherung als Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt. Auch darüber müssen wir reden.
Die hohe Zahl ehrenamtlicher Pflegepersonen zeigt aber auch, daß der von uns gewünschte Vorrang der häuslichen Pflege vor der stationären Unterbringung greift. Entgegen manchen Befürchtungen sind die alten Menschen nicht in Heime abgeschoben worden. Das Engagement der Familien, ihre Angehörigen zu pflegen, hat hier vielmehr voll gegriffen. Auch dies ist eine großartige Leistung der Pflegeversicherung.
Die Heimunterbringungen sinken; die Wartelisten werden kürzer. Wir haben also Wort gehalten mit unserer Formulierung: Wir wollen den alten Menschen ihren Wunsch erfüllen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und von ihren Familien gepflegt werden zu können. - Die Pflegeversicherung hat zu einer enormen Qualitätsverbesserung für unsere älteren Menschen beigetragen.
Der vorliegende Bericht zeigt aber auch, daß die Pflegeversicherung in bezug auf ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Wort gehalten hat. In den etwas mehr als drei Jahren, die es die Pflegeversicherung gibt, wurden im Bereich der Pflege 70 000 neue Arbeitsstellen geschaffen. Wir haben Wort gehalten: Es hat sich durch die Pflegeversicherung etwas am Arbeitsmarkt bewegt.
Ich halte es für wichtig, daß Sie den Menschen erklären, was unsere Arbeit - das ist ja die gemeinsame Arbeit aller Fraktionen dieses Hauses - für sie bedeutet, daß Sie den Menschen deutlich machen, daß wir für sie etwas zustandegebracht haben. Wir sollten nicht sofort bei jeder Debatte und Diskussion die Probleme und den Korrekturbedarf in den Vordergrund stellen. Deshalb noch eine Erfolgsmeldung dieser Pflegeversicherung, und zwar diesmal für die neuen Bundesländer: Nach der Wiedervereinigung hat sich sehr schnell gezeigt, daß in den neuen Bundesländern der gesamte Bestand an Pflegebetten saniert bzw. ein neuer Bestand an Pflegebetten aufgebaut werden mußte.
Herr Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?
Nein - über 6,4 Milliarden DM wurden dafür vom Bund zur Verfügung gestellt, und weit über 5 Milliarden DM sind bereits für Maßnahmen gebunden. Dies ist ein Erfolg der Pflegeversicherung in den neuen Bundesländern.
Wenn mancher in den neuen Bundesländern versucht - vor allem auf Grund der verfälschenden Propaganda der PDS -, den früheren Zeiten das eine oder andere Positive abzugewinnen, dann sollte er gerade im Bereich der Pflege den Vergleich zwischen „früher" und „heute" anstellen. Er wird zu einem überzeugenden Ergebnis in der Zeit nach der Wiedervereinigung kommen.
Norbert Blüm hat recht, wenn er sagt: Die Pflegeversicherung hilft verläßlich und steht auf festem Fundament. - Dies gilt auch für die Finanzierung. Die Rücklage ist doppelt so hoch, wie sie zunächst einmal festgelegt worden ist. Heute liegen dazu Änderungsanträge vor. An den Diskussionen der letzten Wochen und Tage kann man sehr gut sehen, wie schwer sich die Politik damit tut, wenn es in einem Versicherungssystem Rücklagen gibt. Die einen wollen gleich die Beiträge senken, und die anderen wollen gleich die Leistungen ausweiten. Beides halte ich in diesem Fall nicht für richtig.
Eines muß ich Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, einmal ganz klar und deutlich fragen: Haben Sie eigentlich vergessen, worüber wir hier in der letzten Woche diskutiert haben? Wir haben über den Arbeitsmarkt diskutiert.
Volker Kauder
Dies bedeutet, daß wir die Arbeit von Kosten entlasten müssen. Da passen Leistungsausweitungen nicht in die Landschaft.
Deswegen habe ich sehr viel Verständnis dafür, daß all diejenigen, die Leistungsausweitungen befürchten, jetzt etwas bremsen. Trotzdem erkenne ich an, daß es notwendig ist, einige der Punkte, die hier vorgelegt worden sind, zu korrigieren. Dies war ja auch in der Koalition vereinbart.
Jetzt muß ich Ihnen aber eines sagen: Unterlassen Sie doch den völlig untauglichen Versuch, das, was Sie in Ihren Koalitionen auf Länderebene nicht zulassen, nämlich mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen, hier als ein Problem in den Deutschen Bundestag einzubringen. Lächerlich ist das!
Sie alle wissen, wie Koalitionen funktionieren. Ich sage Ihnen eines: An diesem Punkt der Pflegeversicherung werden Sie diese stabile Regierungskoalition überhaupt nicht auseinandertreiben.
Wir haben nun den Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung vorliegen. Diesen Bericht werden wir auswerten. Wir werden - da bin ich sicher - auch zu der einen oder anderen Korrektur kommen. Dann können wir miteinander, ohne ständig an der Pflegeversicherung herumbasteln zu müssen, einen gemeinsamen Entwurf einbringen. Ich stimme Ihnen zu: Das Problem mit dem Pflegegeld im Sterbemonat - und manch anderes - sehen auch wir so wie Sie. Aber dies ist im Augenblick bei uns nicht durchzusetzen.
Trotzdem, so glaube ich, heißt die Botschaft, die von dieser Debatte heute ausgehen muß: Die Pflegeversicherung hat sich bewährt, und sie hat vor allem für die Betroffenen eine erhebliche Qualitätsverbesserung gebracht.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten Andres das Wort.
Herr Kollege Kauder, ich will nur zu einem Punkt Stellung nehmen: Daß Sie hier so tun, als seien die Veränderungen allein Angelegenheit der Opposition und als hätten Sie nichts damit zu tun, halte ich für unglaubwürdig und unglaublich. Alle einzelnen Positionen sind vom Bundesarbeitsministerium durchgerechnet und auch mit Ihrer Frak-
tion, der F.D.P., abgestimmt worden. Das Gesamtkostenvolumen ist mit rund 260 Millionen DM veranschlagt worden; dies fand die Zustimmung aller. Daß Sie hier die Rolle eines Kulissenschiebers spielen, der über alle möglichen Probleme redet, nur nicht über die Probleme, die gerade die Republik bewegen, halte ich für einen unglaublichen Vorgang.
Herr Kollege Kauder, Sie können darauf antworten.
Herr Kollege Andres! Erstens. Nicht das, was Sie glauben, das die Republik bewege, bewegt sie tatsächlich. Deswegen nehmen Sie sich in der Debatte etwas herunter. Was die Republik bewegt, ist die Frage: Wie können wir wieder mehr Menschen in Arbeit bringen? Das geht nicht durch die Verteuerung der Arbeit. Das bewegt die Menschen.
Davon reden Sie überhaupt nicht.
Zweitens. Ich wundere mich sehr, Herr Kollege Andres, daß gerade Sie sich durch meinen Satz „Die einen wollen die Beiträge senken, die anderen wollen die Leistungen ausweiten" angesprochen fühlen. Ich habe Sie überhaupt nicht genannt.
Aber jetzt tue ich dies - da weiß ich genau, daß Sie so denken wie ich -: Es geht nicht an, daß wir das Problem, das Sie angesprochen haben und das ich aus Zeitgründen nicht ansprechen konnte, die Abgrenzung der Eingliederungshilfe von der Pflegeversicherung, so lösen, wie es in Briefen steht, die ich in den letzten Tages bekommen habe: Die Pflegeversicherung muß mehr Geld in die Einrichtung der Eingliederungshilfe stecken - so nach dem Motto: Ihr habt genügend Rücklagen, gebt ein bißchen mehr Geld in die Eingliederungshilfe! - Diejenigen habe ich gemeint. Das geht nicht, und da sind Sie meiner Meinung.
Wenn Sie sich aber als eine Partei, die typischerweise für Leistungsausweitungen ist und weniger danach fragt, wie dies finanziert wird, angesprochen fühlen, sind Sie selber schuld.
Nun gebe ich der Abgeordneten Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kauder, inzwischen bin ich nicht mehr ganz neu in diesem Parlament. Aber das, was Sie da machen, haut mich jetzt schon aus den Socken.
Andrea Fischer
Sie haben über den Pflegeversicherungsbericht gesprochen, als hätten wir ihn heute bekommen und daraus ganz neue Erkenntnisse gewonnen. Sie haben gemeint, wir müßten jetzt erst einmal kräftig die Pflegeversicherung loben. Das alles steht heute nicht zur Debatte. Zur Debatte steht, daß wir seit einem halben Jahr miteinander verhandeln und daß Sie hier Ihre eigenen Leute der Lächerlichkeit preisgeben, weil Sie nämlich sagen: Das, was ihr mit den anderen beredet, ist doch völlig irrelevant.
Wir hatten einen gemeinsamen Gesetzentwurf, einen Gesetzentwurf aller Fraktionen. Und wir erfahren aus der Zeitung, daß plötzlich ein Junktim hergestellt worden ist, von dem nie die Rede war.
Und wenn Sie von „was die Leute interessiert" reden: Meinen Sie, es hat die Leute in der letzten Woche interessiert, jeden Tag zu lesen, daß die Koalition neuen Krach hat? Wir kennen das doch: 620-DMJobs, Staatsbürgerschaft. Wir könnten doch lauter solche Sachen aufzählen. Nun ist es die Pflegeversicherung.
Die „Berliner Zeitung" hat es klasse geschrieben: Die Koalition einigt sich auf Stillstand. - That's it. Das haben Sie gemacht.
Damit haben Sie eine Woche lang die Zeitungen gefüllt, ohne daß sich irgend etwas geändert hätte.
Wir lassen uns doch von Ihnen nicht hinters Licht führen. Warum sollen wir denn mit Ihnen reden? Sie sind doch gar nicht geschäftsfähig. Was machen Sie denn da?
Sie sind inzwischen in einem Zustand fortgeschrittener Auflösung. Da braucht man mit Ihnen gar nicht mehr zu verhandeln. Bis zum 27. September geht gar nichts mehr.
Der Kollege Andres hat gerade gesagt, worum es in der Sache geht; ich will dies gar nicht wiederholen. Wir wollten mit Ihnen über einige Probleme, die in der Pflegeversicherung aufgetreten sind, reden. Es ging um etwas völlig Normales: Man verabschiedet ein großes neues Gesetz, und im Vollzug stellt sich heraus, daß es das eine oder andere Problem gibt. Darum geht es. Es waren nicht irgendwelche gierigen Sozialpolitiker dabei, mal wieder in irgendwelche vollen Kassen zu greifen. Hier ging es nur um die
Beseitigung von Mängeln, damit Sie nachher das Loblied der Pflegeversicherung um so lauter hätten singen können.
Wir haben darüber auch interfraktionell geredet, weil klar war: Es geht hier um so' feinziselierte Sachfragen, daß damit keine Seite einen Blumentopf hätte gewinnen können. Man kann aber eine Menge Porzellan zerschlagen, wenn man nach ein paar Monaten Verhandlung, als man es eigentlich gerade geschafft hat, sagt: Ätsch, das haben wir alles gar nicht so gemeint. Wozu machen wir das dann alles? Offenkundig ist die F.D.P. inzwischen an einem Punkt angelangt, wo sie jeden Strohhalm ergreift und dies als eine Art Politikersatz betreibt.
I Das kennen wir längst von den anderen Konfliktpunkten der Koalition: Die eine Seite sagt das, um diese Klientel zu befriedigen, die andere sagt das, um jene zu befriedigen. Passieren tut am Ende gar nichts, aber man hat einmal gesagt, was man meint, und hofft, daß die Botschaft irgendwie beim Wahlvolk angekommen ist.
Was mich daran so ärgert, ist: Die Aussicht, daß man noch weitere Sachen ändern kann, ist äußerst trist. So gibt es - wir haben schon davon geredet - ein riesiges Problem bezüglich der Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen. Darüber gibt es Gespräche auf der Fachebene, auch mit Abgeordneten aus der Koalition. Aber warum sollen sich denn die Verbände, die sich zur Zeit wirklich bemühen, über Lösungen nachzudenken, die nicht einfach purer Lobbyismus sind, und vernünftige, realitätstaugliche Vorschläge zu erarbeiten, noch die Mühe machen, mit Ihnen zu sprechen?
Da sitzt ein einzelner Abgeordneter; der mag vielleicht sogar den Titel eines sozialpolitischen Sprechers haben. Aber das ist doch eigentlich auch egal. Denn am Ende entscheidet irgendein Wahlkampfstratege in der F.D.P.-Zentrale, daß das jetzt gerade irgendwie nicht gut ankommt.
Sie sind inzwischen an einem Punkt angekommen, wo es um solche Fragen überhaupt nicht mehr geht. Deswegen kann man diesen 27. September wirklich nur noch herbeisehnen.
Ich will zum Schluß noch einmal in aller Deutlichkeit auf die Frage eingehen - damit tue ich Ihnen einen größeren Gefallen, als Sie es verdient haben -, ob eine Beitragssatzsenkung um 0,2 Prozentpunkte in der Sache sinnvoll wäre. Selbst die Kollegin Babel
mußte zugeben, daß bei hohen Einkommen bestenfalls ein Glas Wein im Monat herauskommt, das man
Andrea Fischer
sich dann offenbar hinter die Binde kippen muß, weil es ansonsten so triste ist. Sie wissen ganz genau: Wenn Sie das machen, ist das in keinem Fall arbeitsplatzwirksam. Vor allen Dingen haben Sie überhaupt nichts aus den Fehlern gelernt, die Sie im Vollzug der deutschen Einheit gemacht haben. Seit 1990 sind Sie an die Beitragssätze der Sozialversicherung herangegangen, haben hier einmal ein bißchen erhöht, dort einmal ein bißchen gesenkt, immer in der Hoffnung, es möge keiner merken, wohin es geht. Was ist das Ergebnis? Die höchsten Sozialversicherungsbeiträge der Nachkriegsgeschichte.
Das geht auf Ihr Konto, und trotzdem haben Sie daraus immer noch nichts gelernt. Wer heute in die Kasse greift, muß morgen feststellen, daß sie ein Loch aufweist. Und dann kommen die Krokodilstränen!
Ich kann nur sagen: Wenn es von Ihnen noch einmal jemand wagt, gegen die Opposition den Vorwurf der Blockade zu erheben, dann werden wir das mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Sie haben unseren Terminkalender - damit fing es an - blockiert. Wir haben mit Ihnen geredet, weil wir gedacht haben, mit Ihnen könne man in der Sache zu einer Einigung kommen. Selbst bei einer solchen Winzigkeit sind Sie dazu nicht mehr in der Lage.
Das hat die Pflegeversicherung nicht verdient: zur Kriegskasse einer verzweifelten F.D.P. zu werden.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über die Pflegeversicherung entzündet sich an einem eigentlich erfreulichen Tatbestand: Es ist Geld in der Kasse.
Damit hebt sich die Pflegeversicherung wohltuend ab von der Rentenversicherung - wir brauchten eine Mehrwertsteuererhöhung im Volumen von 15 Milliarden DM, um deren Beitragssatz zu stabilisieren - und von der Krankenversicherung, wo wir die Kosten nur durch eine Beitragssatzanhebung decken können.
Der Überschuß, der sich hier angesammelt hat, beträgt Ende dieses Jahres etwa 11 Milliarden DM, und die gesetzlichen Rücklagen belaufen sich hochgerechnet auf 4,5 Milliarden DM.
Dies ist um so erstaunlicher, als auch diese Sozialversicherung unter denselben Einflüssen - rückgehende Beitragseinnahmen - gelitten hat wie die Krankenversicherung und die Rentenversicherung.
Was also tun mit dem Segen? Auf diese Frage geben Sie ja keine Antwort. Die F.D.P. vertritt den Standpunkt: Runter mit dem Beitragssatz. Das Geld gehört den Beitragszahlern. Wir haben deswegen vorgeschlagen, den Beitragssatz um 0,2 Prozent zu senken. Das wären 3,6 Milliarden DM Entlastung gewesen,
eine Entlastung, die ich übrigens voll den Arbeitnehmern gelassen hätte, um nicht die Kompensationsdebatte neu zu entfachen.
Es gibt auch andere Auffassungen. Der Kollege Andres hat gesagt, das Geld gehöre den Pflegebedürftigen.
Ich will es noch einmal sagen: Die Pflegebedürftigen haben Anspruch auf die Leistungen. Diese werden ihnen nicht genommen, sie werden sie bekommen. Das wollen wir überhaupt nicht ändern. Ich lege Wert darauf zu sagen, daß wir keine Schmälerung dieser Ansprüche wollen. Im Gegenteil: Es ist in der Tat so, daß wir in der Pflegeversicherung sicher noch Korrekturbedarf haben. Das will ich nicht in Abrede stellen. Es ist aber nicht akzeptabel, die Beitragsmittel auf Halde zu legen, um so weniger, als wir die Senkung der Lohnnebenkosten nach wie vor als eine Losung der Koalition, als ein erstrebenswertes Ziel hier immer wieder postulieren.
Sie müssen doch die heutige Debatte im Zusammenhang mit der Debatte in der letzten Woche sehen, in der wir alle über die hohen Lohnnebenkosten immer einvernehmlich geredet haben. Die F.D.P. meint, diese Senkung der Lohnnebenkosten ist ein kleiner Schritt, den wir gehen sollten.
Wenn der F.D.P. vorgeworfen wird, sie wolle das nur aus Wahlkampfgründen - Frau Fischer hat ja wirklich geschimpft; das habe ich auch erwartet, ich gestehe es ihr auch zu -, dann darf ich vielleicht ganz bescheiden darauf hinweisen, daß sich die F.D.P. in
Dr. Gisela Babel
dieser Frage wirklich in guter Nachbarschaft befindet.
Derselben Meinung sind der Zentralverband des Deutschen Handwerks, der Bund der Steuerzahler, der Arbeitgeberverband, Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU und der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU, Julius Louven. Wenn es eine wirkliche Vertretung von Arbeitnehmerinteressen in diesem Lande gäbe, dann wären auch die Arbeitnehmer auf unserer Seite.
Die Opposition hat jetzt nur die Botschaft, es seien ja nur 5 DM im Monat - ein Glas Bier. Bei der Senkung des Solidaritätszuschlages hieß es, das bringe nur eine Pizza, bei der Pflegeversicherung, das bringe nur ein Bier. Allmählich wird eine ganze Mahlzeit daraus!
Ich will mich aber noch kurz mit den Gegenargumenten auseinandersetzen. Der Haupteinwand lautet, die Senkung des Beitragssatzes sei nicht nachhaltig, sie müsse in wenigen Jahren wieder rückgängig gemacht werden. Ein Rauf und Runter des Beitragssatzes sei nicht zu verantworten, sei eine schlechte Sache. Meiner Meinung nach ist ein Runter des Beitragssatzes immer eine gute Sache, auch wenn sie sich nur für einen mittleren Zeitraum aufrechterhalten ließe.
Aber woher weiß man denn, daß der Zufluß nicht gebrauchter Mittel versiegen und nicht gebrauchte Rücklagen verzehrt würden? Ich bin mittlerweile höchst skeptisch bei solchen Prognosen. Hat man denn die Überschüsse vorhergesagt? Nein. Hat man den dramatischen Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge vorhergesagt? Nein. Hat man den Rückgang der Steuereinnahmen vorhergesagt? Auch nein.
Und jetzt taucht, plötzlich und kommod, ein nicht autorisiertes Gutachten der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" auf. Alle stürzen sich darauf, alle stützen sich darauf. Wenn es dann nach vielen Schwierigkeiten gelingt, dieses Berichtes habhaft zu werden, dann staunt man in der Tat; denn es gibt in dem Bericht Prognosen in die Vergangenheit. Man prognostiziert, für das Jahr 1997 sei ein Beitragssatz von 1,8 Prozent notwendig. Wir haben allerdings 1,7 Prozent und einen Überschuß von 1,5 Milliarden DM gehabt. Ein solches Papier wird in der ganzen Bundesrepublik zur Grundlage der Argumentation gemacht. Ich kann mich darüber nur wundern.
Diejenigen, die aus Vorsicht eine Beitragssenkung ablehnen, weil sie meinen, das Geld werde in Kürze gebraucht, wären glaubwürdiger, wenn sie auch jede Leistungsausweitung ablehnten. Wenn Rücklagen geschont werden müssen, dann lassen sich auch keine Leistungsverbesserungen vertreten. Aber das ist ja nicht der Fall.
Im Gegenteil: Es gab ja Vorschläge zur Korrektur des Leistungspaketes, die weit über die jetzt diskutierten 260 Millionen DM hinausgehen. So ängstlich ist man also doch wieder nicht mit den Rücklagen, daß man das nicht für vertretbar hielte.
Zum Korrekturpaket noch folgendes - ich will das hier noch einmal ausdrücklich feststellen -: Es ist völlig richtig dargestellt: Ich habe hier mit verhandelt. Aber, Kollege Andres und Frau Fischer, ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht gewußt - und ich weiß nicht, ob Sie es wußten -, daß sich die Rücklagen in einem solch großen Ausmaß summieren. Die Frage, was aus diesem Überschuß werden soll, hätte sich mir sonst ganz anders gestellt. In der Tat wäre ich damals schon auf eine Beitragssenkung eingegangen. Ich habe gedacht - wie andere damals auch -, daß die Überschüsse aus diesem Bereich in einer Größenordnung von 7 bis 8 Milliarden DM lägen.
Frau Dr. Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Andres?
Ja, bitte schön.
Frau Dr. Babel, wenn ich mich richtig erinnere, haben wir unsere Verhandlungen im Oktober des letzten Jahres abgeschlossen. Da waren die Überschußzahlen der Pflegeversicherung aus dem Jahre 1996, die Überschußzahlen aus dem Jahre 1995 und die ersten Einschätzungen an Hand von Zwischenberichten und Fragerunden, die wir im Ausschuß gemacht haben - wie Sie sich erinnern können -, alle bekannt.
Darf ich noch einmal feststellen, daß es richtig ist, daß Sie in dem ausgehandelten Gesamtpaket einem Volumen von 260 Millionen DM zugestimmt haben und daß Sie in mehreren Gesprächen - hier sitzen weitere Zeugen - erklärt haben, es sei schwierig, das in der Koalition umzusetzen; vielleicht könne man das im Bundesarbeitsministerium noch so rechnen, daß man näher an die 200-Millionen-DM-Grenze komme; dann sei das leichter durchzusetzen. Ist das, was ich sage, alles zutreffend, oder ist das nicht zutreffend? Das würde ich gerne von Ihnen wissen wollen.
Herr Andres, Sie wissen, daß ich unbequemen Fragen niemals ausweiche und Ihnen auch nicht den Gefallen tue, irgend etwas zu leugnen. Das stimmt alles. Aber ich sage Ihnen: Das zeigt doch nur, daß ich schon damals das Leistungspaket politisch als sehr riskant eingeschätzt habe. Wenn Sie mir jetzt vorwerfen, ich hätte das Maß der Überschüsse nicht gekannt,
so würde ich auch diesen Vorwurf für meine Person akzeptieren. Aber ich sage Ihnen eins: Wenn ich diese Dimension und die Entwicklung gekannt hätte, dann hätte ich die Beitragssenkung für einen unver-
Dr. Gisela Babel
zichtbaren Bestandteil des Kompromisses angesehen, ganz sicher.
Wenn wir uns in dieser Frage nicht einigen können, sollten wir vielleicht einmal über die Frage einer Kapitalstockbildung nachdenken. Auch dort könnten wir langfristige Sicherungen einmal andenken.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. ist der Meinung: Wenn wir jetzt nicht das Signal zur Senkung der Lohnnebenkosten geben können, weil es hier keine Einigung gibt, läßt sich auch das Signal einer Leistungsausweitung nicht geben; das läßt sich nicht verantworten. So bleibt es künftigen Koalitionsverhandlungen vorbehalten, über die Reserven zu entscheiden.
Alle wissen: In jeder Koalition gibt es Auseinandersetzungen wie die jetzige. Sie sind dem Frieden ein wenig abträglich. Aber dafür machen sie unterschiedliche politische Auffassungen um so deutlicher.
Ich bedanke mich.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon erschreckend, wie die Debatte um die Pflegeversicherung zu einer alleinig fiskalischen degradiert worden ist. Ich denke, wir haben als Abgeordnete des Bundestages auch die Aufgabe, einmal über die eigentlich Betroffenen zu diskutieren.
Die Pflegeversicherung erhitzt seit Tagen wieder die Gemüter. Da inszeniert die F.D.P. ein Profilierungsschauspiel sondergleichen. Mit einer Senkung der Beiträge um 0,2 Prozent sollte eine psychologische Trendwende erreicht werden. Es fragt sich nur: Wofür? Die F.D.P. sagt, für eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt. Wir konstatieren da lieber nüchterner: Es sollte wohl eher eine Trendwende für die Wahlchancen sein.
Nun packt die Regierung einen Änderungsgesetzentwurf auf den Tisch, der die übergangsweisen Pauschalbeiträge für die Pflegestufen für weitere zwei Jahre gewähren soll. Eine unüberhörbare Forderung würde damit endlich realisiert. Ist das nun Einsicht in die Realitäten oder ein erstes Wahlbonbon?
Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Pflegeversicherung insgesamt großen Veränderungsbedarf hat, um auch nur annähernd das vorher Versprochene zu realisieren: die Situation der Pflegebedürftigen zu verbessern und sie aus der Sozialhilfe herauszuholen. Doch der uns heute vorliegende erste Pflegebericht zeichnet fast durchgängig eine Erfolgsstory. Vergessen gemacht werden soll, daß die abhängig Beschäftigten die gesamten Beiträge für die Pflegeversicherung so ganz nebenbei alleine bezahlen, also über 30 Milliarden DM im Jahr aufbringen.
Vergessen wird aber auch, daß durch die Kompensation der Aufwendungen der Arbeitgeber für die Pflegeversicherung nicht ein Arbeitsplatz geschaffen wurde. Zwar steht im Bericht, daß etwa 60 000 Arbeitsplätze im Pflegebereich mehr zu zählen sind, aber wie viele davon einfach nur durch Umwidmungen aus dem Krankenhausbereich entstanden sind und wie viele dafür in anderen sozialen Bereichen beseitigt wurden, ist nicht ersichtlich.
Nach der Darstellung im Bericht erfährt die Pflegeversicherung im Bereich der häuslichen Pflege eine hohe Akzeptanz. Allerdings beruht die Untersuchung der Universität Hamburg nur auf einer Befragung von Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern. Diejenigen, deren Anträge abgelehnt wurden, sind also in diese Untersuchung gar nicht einbezogen worden. Bei einer durchschnittlichen Ablehnungsquote von über 30 Prozent dürfte die Akzeptanz doch wohl nicht ganz so überzeugend sein. Zudem ist etwa die Hälfte der Antragstellenden mit den Begutachtungsergebnissen nicht einverstanden.
Die PDS fordert eine Korrektur der Pflegeversicherung und hat dazu schon vor geraumer Zeit einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir fordern erstens, daß durch die Einführung einer Pflegestufe Null pflegebedürftige Menschen, die mehrfach in der Woche, aber nicht täglich Hilfe- und Pflegebedarf aufweisen, Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung erhalten und von der Sozialhilfe unabhängig werden.
Die PDS fordert zweitens, daß behinderten Menschen in Einrichtungen ein gleichberechtigter Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung eröffnet wird, indem die Pflegekassen an den Kosten der pflegerischen Maßnahmen in einem angemessenen Umfang beteiligt werden.
Wir fordern drittens, daß die Pflegeversicherung von nicht sachgerechten Leistungen befreit wird, indem die Kosten für die medizinische Behandlungspflege durch die Krankenversicherung getragen werden.
Schließlich fordert die PDS, daß durch die Heranziehung der Arbeitgeber und der Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen endlich eine solidarische Finanzierung der Pflegeversicherung hergestellt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin auf die Anhörung zum Pflegebericht und auf die Ausschußberatungen zu den vielen Änderungsgesetzen und Anträgen gespannt. Ich fordere, daß sich die Regierungskoalition endlich auf eine realistische Betrachtungsweise besinnt und dringend erforderliche Korrekturen nicht weiter blockiert.
Ich gebe das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung , Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Ich will in meinem Beitrag erstens zum Pflegebericht, zweitens zur finanziellen Lage der Pflegeversicherung und drittens zu den Änderungsanträgen Stellung nehmen.
Erstens zum Pflegebericht. Gut, daß es die Pflegeversicherung gibt. 1,7 Millionen Menschen wird konkret geholfen. Ich sehe allerdings den Wert der Pflegeversicherung nicht allein im Geldverteilen.
Daß die Anträge auf Heimunterbringung zurückgehen, halte ich für einen Fortschritt.
- Das kann man nicht oft genug singen.
Ich sage nicht, daß wir keine Heime brauchen. Da will ich nicht mißverstanden werden. Ich will meinen großen Respekt und meinen Dank gegenüber denjenigen ausdrücken, die im Heim arbeiten. Der Pflegeberuf ist ein Beruf mit hohem Engagement.
Es entwickelt sich eine neue Infrastruktur differenzierter Pflegeangebote. Wir verlassen den Weg „entweder ambulant oder stationär". Es gibt eine neue Infrastruktur von teilstationären Tagespflegeplätzen und Kurzzeitpflegeplätzen. Ich glaube, das wird dem Leben gerechter als die Alternative „ambulant oder stationär".
Vor der Einführung der Pflegeversicherung gab es 330 Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Jetzt sind es fast 7000. 4000 Sozialstationen bzw. private Pflegedienste gab es vor der Einführung der Pflegeversicherung. Jetzt sind es fast 12 000. Das ist aus meiner Sicht die Basis für eine Sozialpolitik aus der Nähe und für eine nachbarschaftliche Kultur. Das Leben verändert sich: Arbeitnehmer sind mobiler geworden. Sie verlassen häufiger ihren Heimatort. Der Familienzusammenhang löst sich auf. Es gibt immer mehr Einpersonenhaushalte. Hier muß eine nachbarschaftliche Kultur des Helfens einsetzen. In diesem Punkt hilft die Pflegeversicherung.
Die Pflegeversicherung hilft den Angehörigen, also denjenigen, die pflegen.
Trotz allem, was wir für die Pflegebedürftigen tun, muß ich sagen: Eine Rundumversorgung ist es wirklich nicht. Wenn ich die Schlagwörter Sozialstaat und Rundumversorgung höre, dann muß ich sagen: Sehen Sie sich einmal eine Mutter an, die ihr pflegebedürftiges Kind rundum versorgt. Die wird mit Sicherheit auch durch die Pflegeversicherung nicht ausreichend versorgt.
Sie bekommt aber endlich einen Rentenanspruch. Es war eine Paradoxie, daß ausgerechnet diejenigen, die sich für ihre Angehörigen einsetzten, oft im Alter selbst ohne Rentenanspruch dastanden. Die Pflegeversicherung ist ein handfester Beitrag zum Ausbau der Sicherung von Frauen, denn es sind meistens Frauen, die ihre Angehörigen pflegen. Für rund 500 000 Frauen wird auf diese Weise zum erstenmal von der Pflegeversicherung ein Beitrag zur Rentenversicherung geleistet. Damit wird die soziale Lage im Alter für fast eine halbe Million Frauen verbessert.
Der Kollege Kauder hat schon auf den Arbeitsplatzgewinn hingewiesen. Das Statistische Bundesamt schätzt die Entlastung der Kommunen auf 10 bis 11 Milliarden DM. Davon höre ich nie etwas.
Die größte Bestätigung ist nicht das, was wir darüber sagen. 80 Prozent - der Kollege Kauder hat es gesagt - der Betroffenen sind mit der Lösung °einverstanden. 64 Prozent haben sie als einen Ansporn bezeichnet, sich für ihre Familien einzusetzen. Diese Personen melden sich alle nicht. Es melden sich nur diejenigen zu Wort - das ist in einer offenen Gesellschaft auch richtig -, die nicht zufrieden sind.
Die Pflegeversicherung ist nicht perfekt. Sie muß vor allem vor einem geschützt werden,
nämlich davor, daß sie so angesehen wird, als sei sie mit Blick auf alle Behinderten der Ersatz für alle Sozialarbeit und die Krankenversicherung. Das kann sie nicht leisten.
Das würde im übrigen auch den Pflegebedürftigen nicht helfen. Das würde eine neue Finanzierung erfordern. Insofern muß die Kirche im Dorf und die Pflegeversicherung bei ihrer Aufgabe bleiben. Es kann nicht sein, daß die Pflegeversicherung eingesetzt wird, um Aufgaben der Sozialhilfe auf die Pflegeversicherung zu verlagern.
Frau Kollegin Bläss, ich halte die Investitionsförderung Ost für einen großen Gewinn. Zu meinen erschreckendsten Erlebnissen nach der Wiedervereinigung gehörte der Anblick des Zustandes vieler Pflegeheime in den neuen Bundesländern. Er war in vielen Fällen unterhalb der Menschenwürde.
Zu den kritischen Bemerkungen: Die Länder haben nicht die Zusage gehalten, die Investitionskosten voll zu übernehmen. Sie leisten es unterschiedlich, auch Bayern und Baden-Württemberg. Es wurde vereinbart, daß die Investitionskosten von den Ländern übernommen werden.
Jetzt zur finanziellen Lage: Ich gebe zu, daß die Einführung der Pflegeversicherung eine schwere Geburt war. Aber das Kind steht auf festen Füßen. Es ist ein gewisses Kontrastprogramm: Bei Einführung der Pflegeversicherung - sie hatte noch keine Mark bezahlt - standen Leute um das Wiegenbett und haben gesagt: Nach einem Jahr 3 Milliarden DM Defizit. Jetzt streiten wir uns nicht über Defizite, sondern über den Überschuß. Die Untergangspropheten hat-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
ten nicht recht. Ich streite mich lieber über einen Überschuß.
Dies ist eine Sozialversicherung. Sie braucht Verläßlichkeit. Sie braucht ein Sicherheitskonzept. Sie braucht es mehr als jede andere Sozialversicherung. Sie bekommt keinen Bundeszuschuß wie die Rentenversicherung, sie hat keine Defizithaftung wie die Bundesanstalt für Arbeit. Die Beiträge werden nicht durch die Selbstverwaltung festgelegt wie bei der Krankenversicherung. Sie ist einnahmeorientiert. Daher braucht sie mehr Sicherheit.
Ich brauche kein Gutachten, verehrte Frau Kollegin Babel. Es langt mir, zu wissen, daß der Einnahmeüberschuß nach unseren Schätzungen in diesem Jahr 900 Millionen DM betragen wird. Wenn wir den Beitrag um 3,6 Milliarden DM senken, bekommen wir einen Ausgabenüberschuß. Dafür brauche ich keine Prognose, keine Vorhersage. Wenn wir den Beitrag senken, geben wir mehr aus, als wir einnehmen. Das wäre die Fahrt in die roten Zahlen. Das hat mit Prognosen nichts zu tun. Das ist eine ganz einfache Rechnung. Ich bleibe dabei: Sicherheit geht vor.
Auch in der Rentendebatte schlagen manche vor, die Rentenversicherung solle auf Kapitalanlagen umgestellt werden. Das sind 12 Billionen DM! Schon bei 10 Milliarden DM werden Gesetzgeber nervös und fragen sich, ob das nicht schon zuviel sei. Ich sage: Sicherheit geht vor.
Da bei einer Beitragssenkung die Einnahmen geringer sind als die Ausgaben, ist die Berg- und Talfahrt, die Fieberkurve eingeplant. Ich habe solche Fieberkurven-Erfahrungen bei der Rentenversicherung gesammelt. Dort waren wir nach den Vorschriften über die Schwankungsreserven 1995 gehalten, den Beitrag von 19,2 Prozent auf 18,6 Prozent zu senken. Darüber hat kein Mensch gesprochen. Im darauffolgenden Jahr, 1996, stieg der Beitrag von 18,6 Prozent auf 19,2 Prozent. Darüber haben alle gesprochen. Das ist nicht vertrauenwerbend. Ich gebe zu: Wenn man den Beitrag senkt, muß man auch eine neue Kompensationsdebatte führen. Es gibt ja heftige Verteilungskämpfe. Vielleicht müßte als Kompensation dann eine gesetzlich bezahlte Buß- und Bettagsstunde eingeführt werden. Diese Diskussion hilft der Pflegeversicherung nicht.
Sicherheit geht vor, gerade in einer soliden Sozialpolitik, zumal auch Risiken enthalten sind. Geldleistungen gehen zurück. Es werden mehr Sachleistungen in Anspruch genommen. Auch die demographische Entwicklung ist zu berücksichtigen. Also: Solide Sozialpolitik muß auf Sicherheit achten.
Jetzt zu den Leistungsverbesserungen. Ich würde sie nicht so nennen. Das sind Einführungsreparaturen, die bei jedem Einzug in ein neues Haus vorgenommen werden müssen. Ich bedauere, daß es
hierzu in der Koalition keine Einigung gibt. Warum sollte ich das verschweigen? Es gibt keine Einigung. Ich bedauere das.
- Nein, nicht nach Hause gehen. Es gibt rot-grüne Konflikte mit anderen Dimensionen, auf die ich jetzt nicht hinweisen will. Denn wir wollen dieses Thema nicht zum Wahlkampfthema machen.
Ich will nur sagen: Ich habe Verständnis für die Einführungsreparaturen. Sie sind auch „Taschenspielertricks" genannt worden. Ich muß Frau Babel in Schutz nehmen: Sie hat sich nicht an Taschenspielertricks beteiligt. Ich muß sie gegen Vorwürfe aus Ihrer Partei ausdrücklich in Schutz nehmen, das seien Taschenspielertricks.
Das haben Sie, verehrte Frau Babel, nicht verdient. Da will ich Sie ausdrücklich in Schutz nehmen.
- Aus Gründen der Koalitionsfreundschaft sage ich Ihnen das vertraulich.
Abseits aller Polemik muß gesagt werden: Das Pflegegeld, das dem Pflegebedürftigen in seinem Sterbemonat gezahlt wird, soll in Zukunft nicht mehr zurückgegeben werden müssen, wenn er vor dem letzten Tag des Monats stirbt. Muß man darüber diskutieren? Das kostet nur 30 Millionen DM.
- Ich will nur einmal die Dimension verdeutlichen. Wenn das Pflegegeld nicht auf den Unterhalt angerechnet wird, kostet das die Pflegeversicherung gar nichts. Es kostet nur den Mann etwas, der seiner Frau Unterhalt bezahlt. Das hat mit Pflege überhaupt nichts zu tun.
Ich komme zur Kurzzeitpflege. Um Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen zu können, muß mindestens zwölf Monate lang gepflegt worden sein. Wenn der Pflegende vor Ablauf dieser zwölf Monate krank wird oder einen Unfall hat, hat er keinen Anspruch darauf, die Mutter oder den Vater oder den Mann für vier Wochen in Kurzzeitpflege zu geben. Die vorgesehene Änderung kostet 20 Millionen DM. Man sollte nicht so tun, als ginge es um riesige Leistungsausgaben. Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, wenn man einen Hauch von Sensibilität hat.
Zu den Pflichtbesuchen. Sie dienen der Beratung. Warum machen wir sie? Erstens um den Familien zu
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
helfen - man braucht Tips -; zweitens um zu prüfen, daß das Pflegegeld wirklich beim Pflegebedürftigen ankommt. Viele von denen, die aufopferungsvoll Hilfe leisten, begrüßen diese Kontrollbesuche nicht. Die müssen sie jetzt auch noch bezahlen. Das ist keine hohe Sozialpolitik, sondern ganz einfach: Man würde die Akzeptanz eines solchen Pflichtbesuchs erhöhen, wenn man davon absehen würde.
Wir stimmen in der Frage der Übergangslösung für die stationäre Pflege überein. Daher besteht Hoffnung, daß wir sie umsetzen können. Laßt uns bei dem weiteren Streit die Tassen im Schrank lassen. 260 Millionen DM gegen 3,6 Milliarden DM. Es kann doch niemand sagen: Wenn du die Haustür reparieren willst, mußt du erst einmal das Dach abdecken. Das ist doch völlig unproportional.
- Ich kann doch ausnahmsweise einmal mit Ihnen übereinstimmen. Ich bin trotzdem nicht für wechselnde Mehrheiten. Ich finde es wichtig, daß die finanzielle Grundlage der Pflegeversicherung nicht gefährdet wird. Das ist für mich das Wichtigste.
Ich lasse mir selbst am heutigen Tag, der kein besonders guter Tag ist - das gebe ich zu -, nicht die Befriedigung darüber nehmen, daß die Pflegeversicherung vielen Menschen zum erstenmal handfest und konkret hilft.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Karl Hermann Haack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will an das anschließen, was der Herr Bundesarbeitsminister Blüm gesagt hat; denn es ist exakt unsere Auffassung: Die Einführung der Pflegeversicherung war richtig.
Es ist eine lange Debatte - sie begann 1985 - zu diesem Thema geführt worden. Wir haben uns interfraktionell, zuletzt im Vermittlungsausschuß, verständigt. Die Pflegeversicherung ist zum 1. Januar 1995 eingeführt worden. Zu diesem Termin begann die Beitragspflicht. Die Kostenübernahme für die ambulanten Leistungen wurde zum 1. April 1994 und die für die stationären Leistungen zum 1. Juli 1996 eingeführt. Wir alle, die wir im Ausschuß für Arbeit und Soziales sitzen, haben uns darauf verständigt.
Wir wissen um den Druck der kirchlichen Träger, der Selbsthilfegruppen und der Träger der freien Wohlfahrtspflege, die mehr in der Pflegeversicherung wollten, als wir bei einem Beitragssatz von 1,7 Prozent zu leisten imstande waren. Das heißt, es gab bis vor ein paar Wochen eine gleichgerichtete Betrachtung der Pflegeversicherung in diesem Hause.
Der Kollege Andres hat darauf hingewiesen, daß wir im letzten Jahr zusammengesessen und Berichterstatterrunden abgehalten haben, um das Notwendigste - wie es der Herr Bundesarbeitsminister gesagt hat - zu reparieren. Ich will das nicht aufzählen.
Aber Frau Dr. Babel, es stimmt mich schon verdrießlich - um nicht zu sagen: Es ist eine Unverschämtheit -, wenn jemand stirbt, der Mitglied der Banner Ersatzkasse oder der AOK ist, und die Familie keinen Kondolenzbrief, sondern einen Brief bekommt, in dem steht: Zahlen Sie das Pflegegeld für den letzten Monat zurück, denn er ist gestorben.
- Der zu Pflegende. - Sie stellen sich hierhin und sagen: Das ist ein Glas Wein und macht in der Summe eine Pizza, eine Mahlzeit.
Das ist sozialpolitische Kaltherzigkeit.
Ich wüßte nicht, daß in der Traditionslinie der deutschen Sozialpolitik jemals so argumentiert worden wäre.
- Daß Sie sich jetzt über diesen von mir geschilderten Zusammenhang aufregen, zeigt, daß Sie nichts begriffen haben. Sie haben nichts begriffen.
Die soziale Pflegeversicherung war nichts anderes als ein Kompromiß. Dem Argument der Arbeitsplatzsicherung haben wir mit der Festschreibung des Beitragssatzes von 1,7 Prozent Rechnung getragen. Wir haben zur Kenntnis genommen, daß die Pflegeversicherung Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor mit sich gebracht hat.
Wir haben gemeinsam einige Probleme in der Pflegeversicherung abgearbeitet, die auch Gegenstand des Berichts der Bundesregierung sind. In diesem Zusammenhang will ich feststellen: Es ist viel Kritik an der Pflegeversicherung geübt worden. Aber daß Beschäftigte aus stationären und ambulanten Dienstleistungseinrichtungen zu uns gekommen sind und Kirchen, die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas oder Selbsthilfegruppen gesagt haben, es reicht nicht, es muß dieses und jenes gemacht werden, ist doch Ausdruck dafür, daß sie die Pflegeversicherung im Prinzip akzeptiert haben und sagen: Wir wollen mit unserem Sachverstand einen Beitrag leisten, damit die Pflegeversicherung noch besser nach vorn kommt.
Wir Sozialpolitiker haben gesagt: Wir haben abzuwägen, wie tief wir mit der Beitragsbelastung durch die vier sozialen Sicherungssysteme in die netto ver-
Karl Hermann Haack
fügbaren Einkommen der Arbeitnehmerschaft und in die Gewinne der Arbeitgeber hineingreifen können, um mehr Aufwuchs zu machen. Wir haben die Antwort gefunden: Wir machen den Kompromiß bei 1,7 Prozent. Das haben wir in stundenlangen Gesprächen mit den Betroffenen und mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Pflege leisten, diskutiert, und dann haben sie es begriffen.
Wir haben in unendlichen Runden, bei denen ich Herrn Kauder nie gesehen habe - das will ich hier festhalten -, das Thema Abgrenzungskatalog abgearbeitet. Das war der Versuch der Krankenkasse, sich zu Lasten der Pflegeversicherung zu entlasten. Diesen Versuch haben wir gemeinsam abgeschmettert.
Wir haben gemeinsam mit den Trägern der Einrichtungen und mit den Arbeitnehmervertreterorganisationen das Problem des Standardpflegesatzmodells abgearbeitetet. Dabei befürchteten die Betroffenen, sie würden nur noch rasiert, und es würde der Grundsatz „satt und sauber" realisiert, und mehr sei nicht drin.
Da haben wir gesagt: Nein, wir schieben das weg. - Auch das haben wir gemeinsam gemacht.
- Ich war immer dabei. Ich habe Sie aber nicht gesehen.
Wir haben Briefe der Wohlfahrtsverbände und der Kirchen sowie eine Sammelpetition erhalten, im Hinblick auf die Sie gesagt haben, wir müßten die drei Stufen ändern. Wir müssen eine Lösung für unter Demenz Leidende und für Altersverwirrte finden. Der Betreuungsaufwand muß finanziert werden. Wir haben eine Auseinandersetzung mit den überörtlichen Sozialhilfeträgern geführt, weil wir gesagt haben: Das ist der Versuch, sich nochmals zu Lasten der Pflegeversicherung zu entlasten.
All dies haben wir gemeinsam verabredet, und wir haben gesagt: Da wir in unserer Vertrauensarbeit für die Pflegeversicherung so erfolgreich waren, müssen wir jetzt ein Zeichen setzen und etwas tun. Dies geschah in Form der Berichterstatterrunde - diese hat unter anderem im Plenarrestaurant stattgefunden -, in der wir uns auf zentrale Punkte, die regelungsbedürftig waren, verständigt haben.
Gerd Andres und der Bundesarbeitsminister haben die regelungsbedürftigen Punkte genannt. Beide haben gesagt, die geplanten Änderungen kosten 260 Millionen DM. Auf über 9 Milliarden DM beläuft sich die Rücklage der Pflegeversicherung.
Wir haben aus dem Chaos des Hauses Seehofer bezogen auf die Beitragsgestaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung gelernt und haben gesagt: Ein Rauf und Runter bei den Beiträgen gibt es nicht. Taschenspielertricks nach dem Motto: „Ich senke die
Beiträge und fasse zusätzlich in die Patientinnenoder Patiententasche" machen wir nicht mit.
Bei der Rentenreform haben wir gemeinsam gesagt: Wenn in der Sozialpolitik ein Bündnis gesellschaftlicher Gruppen besteht, dann muß dies in der Sozialpolitik auch seinen Niederschlag finden, indem die Leute eine klare, verständliche Linie haben, die sie nachvollziehen können.
Aus all diesen Erfahrungen haben wir gelernt und gesagt: Wir machen in der Pflegeversicherung nicht das, was die Koalition mit der Gesundheitskasse und mit der Rentenkasse gemacht hat, sondern wir belassen die Rücklage - der Herr Bundesarbeitsminister hat das mit der Fieberkurve beschrieben - in der Pflegeversicherung.
Nun muß man auch sagen, warum. Es besteht Einvernehmen darüber, daß es in den sozialen Sicherungssystemen auf Grund des Aufwuchses von Arbeitslosigkeit eine Implosion, einen Einnahmesturz gibt. Da liegt das Problem und nicht im Mißbrauch.
Das ist eine Frage des Arbeitsmarktes, die hier nicht zur Debatte steht; ich erinnere nur daran.
Der zweite Punkt ist folgender: Es gibt eine Enquete-Kommission „Demographischer Wandel". Ein Grund für die Einführung der Pflegeversicherung waren der demographische Wandel und der Zerfall der Familienstrukturen, durch die die Pflege nicht mehr aufgefangen werden kann. Daher ist es richtig, sich genau anzugucken, wie sich der demographische Wandel vollzieht. Dabei kommt die Enquete-Kommission zu dem Ergebnis - federführend ist Professor Wille, der dem F.D.P.-Spektrum zuzurechnen ist; das will ich hier nur einmal sagen -, daß der demographische Faktor in den nächsten Jahren eine Leistungsausweitung und konsequenterweise eine Beitragserhöhung bedeutet. Folglich haben wir, weil wir das schon im Dezember wußten, gesagt: Wir lassen auch angesichts des Faktors demographischer Wandel die Finger davon.
Hinzu kommt - dies haben der Bundesarbeitsminister, Gerd Andres, Frau Fischer und auch andere gesagt -, daß die Geldleistungen zurückgehen. Es kommt zu einem Aufwuchs bei den Sachleistungen, und damit wird das Ganze teurer.
Nun kommen Sie mit Ihren 0,2 Prozent, von denen Frau Fischer zu Recht gesagt hat, das sei die Kriegskasse der fußlahmen F.D.P., die sich noch mühselig zum 27. September hinschleppen müsse
und für die Handwerkerverbände, die Malerinnung, die Kassenzahnärztliche Vereinigung und die Apothekerverbände die Flagge hochhalten müsse, nach dem Motto: Wir schützen euer Geld. Wir können mit Geld umgehen.
Karl Hermann Haack
Ich sage Ihnen voraus: Sollten Sie wieder in diesem Parlament sitzen und sollten Sie wieder eine Koalition bilden, was Gott verhindern möge, dann werden Sie alle diese Argumente wieder einsammeln und wieder genau da landen, wo wir im Dezember vorigen Jahres gewesen sind: in der hinteren Ecke des Restaurants, in der wir dieses kleine 260-MillionenDM-Paket beschlossen haben, das Sie aus politischer Albernheit und Opportunismus heute ablehnen. Sie sollten sich schämen.
Herr Kollege Andres, Sie haben einem Mitglied des Hauses „Sie August" zugerufen. Das ist ein unparlamentarischer Ausdruck der persönlichen Mißachtung. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf.
- Herr Kollege Andres, wenn Sie das wiederholen, erteile ich Ihnen einen zweiten Ordnungsruf; ich verwarne Sie.
- Das habe ich zur Kenntnis genommen.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Westerwelle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Haack, ich habe bei Ihrer Rede wirklich den festen Eindruck bekommen, daß Sie die klassische Arbeitsteilung, wie sie in der öffentlichen Diskussion immer wieder stattfinden soll, betrieben haben: Auf der einen Seite dieses Hauses sitzen die Gutmenschen, die für das Verteilen der Wohltaten zuständig sind, und auf der anderen Seite diejenigen, die mit ihren frostigen Gesetzen der Ökonomie kommen.
Sie können nicht in der letzten Woche zu Recht die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland kritisieren und erklären, sie sei auch auf die hohen Lohnzusatzkosten zurückzuführen, aber wenn dann konkrete Vorschläge zur Senkung der Lohnzusatzkosten gemacht werden, dies eine kalte Politik nennen. Die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen ist die wichtigste Aufgabe in diesem Land und entspricht auch der sozialsten Politik in diesem Lande.
Deswegen will ich noch auf eine weitere Sache eingehen: Es ist schon bemerkenswert, daß die Gutmenschen in diesem Lande der Auffassung sind: Es ist zwar genügend Geld in der Kasse vorhanden, um die Leistungen auszuweiten, es ist aber auf keinen Fall genügend Geld in der Kasse vorhanden, um die Beiträge zu senken, damit die fleißigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in diesem Lande etwas
mehr von dem, was sie erarbeitet haben, auch behalten können.
Als dritten aus meiner Sicht notwendigen Punkt möchte ich die Aussagen derer erwähnen, die damit zu tun haben und sich damit auseinandersetzen. Sie mögen die Frage nach Handwerkern, Selbständigen, Freiberuflern und mittelständischen Unternehmern vielleicht als eine Frage nach der Klientel abtun. Wir stellen fest, daß der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist und zu Recht die Senkung der Lohnzusatzkosten einfordert. Deswegen sollte die deutsche Politik auch diesen Weg gehen; denn das Gros der Arbeits- und ebenfalls der Ausbildungsplätze entsteht im Mittelstand. Deswegen bin ich froh darüber, daß sich die Handwerksorganisationen und die mittelständischen Organisationen für die Senkung der Beiträge ausgesprochen haben.
Im übrigen möchte ich Sie auf eine Sache einmal hinweisen, - ich habe das gerade eben gesehen -: Ich empfehle Ihnen sehr, den Kommentar der Zeitung „Die Wochen zu lesen, die ja normalerweise mehr in Ihre Richtung tendiert. Dort heißt es:
Häuft die Pflegekasse weitere Milliarden an, wird es wirklichkeitsfremden Sozialpolitikern nicht an Phantasie fehlen, neue Lücken im sozialen Netz zu entdecken, diese mit milder Geste zu schließen, den Sparstrumpf zu leeren und dann notfalls die Beiträge zu erhöhen.
Beklemmend ist, dass ein so winziger Schritt wie die Beitragssenkung, der niemandes Besitzstand schmälert, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein wenig entlastet, nur von der FDP und der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU unterstützt wird.
Ich möchte Ihnen dazu nur sagen - das ist aus meiner Sicht genau der Punkt -: Sie betrachten das, was an Beiträgen eingegangen ist, als Ihre persönliche Goldreserve und als Sparstrumpf für die Verteilung weiterer Wohltaten, während wir sagen: Es gehört den Beitragszahlern, und deswegen können die Beiträge auch gesenkt werden.
Eine letzte Bemerkung möchte ich zur Koalition machen.
Einen Moment, Herr Kollege Westerwelle. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Kollege Andres, ich erteile Ihnen einen zweiten Ordnungsruf. Sie haben hier mit mir über die
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Handhabung der Geschäftsordnung nicht zu debattieren. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie bei einem dritten Ordnungsruf des Saales verweisen werde.
Herr Kollege Westerwelle, Sie können fortfahren.
Darf ich den letzten Satz noch sagen?
Bitte, Sie haben einen Schlußsatz.
In meinem Schlußsatz möchte ich nur noch eines sagen: Herr Blüm hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es in dieser Frage einen Dissens in der Koalition gibt. Das ist überhaupt keine Frage.
Aber wenn ich die Zeitungen lese und mir die Grabenkämpfe innerhalb der SPD ansehe, kann ich nur feststellen, daß diese Koalition immer noch die reinste Friedensbewegung ist.
Herr Kollege Haack, Sie können antworten.
Herr Präsident, ich will das gerne tun. - Herr Westerwelle, Sie haben die Steuerreform erwähnt, und ich sage Ihnen dazu meine Meinung als Mittelständler. Ich beschäftige in unserer Apotheke zehn Mitarbeiter, und mit ihnen habe ich darüber debattiert, ob die SPD blokkiert oder nicht. Ich habe denen etwas ganz Einfaches gesagt: Wenn man an einem gesamtgesellschaftlichen Frieden interessiert ist, kann man es nicht wie die Koalition machen, die die Gewinner auf der Habenseite der Steuerreform bestimmt, auf der anderen Seite aber die Sollseite der SPD und dem SPD-geführten Bundesrat zuschiebt. Wir sollen also, um die Habenseite zu finanzieren, zum Koalitionsfrieden beizutragen und den Erfolg der Koalition zu sichern, in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer greifen; ich denke da etwa an die Nacht- und Sonntagszuschläge für Krankenschwestern.
Wenn Sie Konsens anmahnen und sagen, Sie wollten keine herzlose Gesellschaft, dürfen Sie sich nicht darüber aufregen, daß ich sage, daß Sie herzlos sind, weil das die Anlage Ihrer Politik ist. Das, was Sie hier bis zum 27. September machen, ist darauf ausgerichtet, daß zum Beispiel die Kassenzahnärztliche Vereinigung für Sie wirbt, damit Sie über 5 Prozent kommen. Das Theater dieser Monate ist also schlicht und einfach eine Überlebensstrategie von Ihnen.
Im Zusammenhang damit stehen auch die 260 Millionen DM. Wir geben doch nicht 9 Milliarden DM aus, auch nicht 5 Milliarden DM, auch nicht 3 Milliarden DM, sondern 260 Millionen DM, und zwar dafür, daß beispielsweise im Sterbemonat das Pflegegeld nicht zurückgezahlt werden soll.
Was hat das mit Arbeitsplätzen zu tun? - Gar nichts.
Deswegen war Ihre Einlassung hier vollkommen falsch.
Ich gebe dem Abgeordneten Johannes Singhammer das Wort.
Zugleich ist es das klammheimliche Einverständnis vieler Kritiker, daß sie mit ihren Unheilsprophezeihungen und Schwarzmalereien völlig falsch lagen.
Die Einführung der Pflegeversicherung - daran ist im Zusammenhang mit dem ersten Bericht über den Vollzug der Pflegeversicherung sehr wohl zu erinnern - war wie kein anderes Reformprojekt von Anfang an von düsteren Vorhersagen und von Versuchen begleitet, die Menschen zu beunruhigen. Zuerst hieß es, die Fundamente seien brüchig. Dann sollte der Pleitegeier über dem Bauwerk schweben. Schließlich wurde der alsbaldige Verfall und Abbruch als zwangsläufig prognostiziert. „Start ins Pflegechaos", „Jahrhundertskandal", „Antragsstau", „500000 Anträge unbearbeitet", „Drei zusätzliche Feiertage als Kompensation", „Die zweite Stufe verschieben", „Diebstahl an den Rücklagen der Pflegeversicherung" - so beschuldigte die SPD noch vor Jahresfrist die Bundesregierung.
Milliardendefizite wurden vorhergesagt, und nichts davon ist eingetroffen. Die Berufspessimisten haben nicht recht behalten. Statt Milliardenlöcher zu stopfen, sprechen wir darüber, was mit den angesammelten Überschüssen von mehr als 8 Milliarden DM geschehen soll. Wer statt des vorhergesagten finanz-
Johannes Singhammer
politischen Nirwana einen Juliusturm geschaffen hat, hat zuallererst Anerkennung verdient. Deshalb danke ich der Bundesregierung und dem Bundesarbeitsminister für diese Punktlandung.
Es gab für diese fünfte Säule des sozialen Sicherungssystems kein Vorbild. Deshalb entspricht es konservativer Politik, sorgsam mit den angesammelten Rücklagen umzugehen. Die demographische Entwicklung und die zu beobachtende Umstellung von Pflege- auf Sachleistung, also auf professionelle Pflegedienste, werden wahrscheinlich zu höheren Ausgaben führen. Deshalb wollen wir, daß der Beitragssatz so bleibt, wie er ist und daß alle, die zu Recht auf die Pflegeversicherung vertrauen, nicht durch ein Hü und Hott verunsichert werden. Wir brauchen weder eine Beitragserhöhung noch eine Beitragssenkung. Es gibt auch keinen Anlaß, das Prinzip der Pflegeversicherung zu ändern oder auch nur daran zu denken. Die Ausgaben richten sich nach den Einnahmen, und so soll es auch bleiben.
Weil aber die Pflegeversicherung nicht nur beispielhaft, sondern auch beispiellos ist, bedarf sie eines Feinschliffs, einer Anwort auf die Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung. Das hat nichts mit Leistungsausweitung zu tun. Worum es dabei geht, ist schon erwähnt worden: Die Größenordnungen sind verkraftbar.
An allererster Stelle nenne ich das, worum es uns geht und was uns ein großes Anliegen ist. Bisher erlischt mit dem Tag des Todes eines Pflegebedürftigen der Anspruch auf Pflegegeld. Wenn pflegende Angehörige für den gesamten Monat Pflegegeld erhalten haben, müssen sie den anteiligen Betrag zurückzahlen. Wir wollen, daß für den Rest dieses einen Sterbemonats zu viel gezahltes Pflegegeld nicht zurückgefordert wird. Wir wollen auch, daß die Pflegepflichteinsätze bei Begutachtung nicht dem Pflegebedürftigen angerechnet werden. Und warum soll die Tages- und Nachtpflege nicht auf das versprochene Niveau der häuslichen Pflegesachleistungen angeglichen werden? Weshalb sollen die Leistungspauschalen in der stationären Pflege nicht beibehalten werden, also die bereits jetzt bestehende Praxis fortgesetzt werden? Das zu tun ist insbesondere auch deshalb wichtig, weil die Pflegekassen und die Einrichtungsträger im Hinblick auf laufende Vergütungsverhandlungen zu Recht Klarheit erwarten.
Es ist grundsätzlich kein Fehler, wenn die Opposition uns dabei unterstützt. Es wäre aber ein Fehler, zu glauben, daß die Meinungsunterschiede zwischen den Koalitionsparteien zu einem unterschiedlichen Abstimmungsverhalten führen würden. Wir werden die weiteren Beratungsverfahren nutzen, um gemeinsam eine gute Lösung zu finden. Die Diskussion wird zugleich eines zeigen: Statt um den Sozialabbau geht es um den Umbau des Sozialstaats. Am Beispiel der Fortentwicklung der Pflegeversicherung kann man sehen, daß hier ein neuer, gewaltiger Eckstein
im Gefüge des Sozialstaats geschaffen worden ist, der hält und auf den sich die Menschen in unserem Land verlassen können.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/9772, 13/9773, 13/8681, 13/9816, 13/8941, 13/9219 und 13/9528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e und den Zusatzpunkt 1 auf:5. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 16. Dezember 1997 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn- Drucksache 13/9815 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschußb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Gert Weisskirchen , Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFür eine Stärkung der OSZE- zu dem Antrag der Abgeordneten Ludger Volmer, Angelika Beer, Amke DietertScheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDer Weg zu einem Sicherheitsmodell für Europa im 21. Jahrhundert:Die OSZE reformieren und weiterentwikkeln- zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Gysi, Heinrich Graf von Einsiedel, HannsPeter Hartmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und Europäische Friedensordnung- Drucksachen 13/6092, 13/5888, 13/5800, 13/9265 -Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Freimut DuveLudger VolmerUlrich Irmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Februar 1998 19961
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirschc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Gysi, Heinrich Graf von Einsiedel, Hanns-Peter Hartmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSNATO-Osterweiterung und Europäische Friedensordnung- Drucksachen 13/7297, 13/9648- Berichterstattung:Abgeordnete Klaus Francke Karsten D. Voigt (Frankfurt)Angelika BeerUlrich Irmerd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN- zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDSBericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotentiale
- Drucksachen 13/7389, 13/7805, 13/7797, 13/ 9649 -Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Gert Weisskirchen Angelika BeerDr. Olaf Feldmanne) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Gysi, Heinrich Graf von Einsiedel, Hanns-Peter Hartmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDSAtomwaffenfreie Zone in Mittel- und Osteuropa- Drucksachen 13/7889, 13/9650- Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger Karsten D. Voigt
Gerd PoppeUlrich IrmerZP1 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDRatifizierung der Beitrittsprotokolle zum Nordatlantikvertrag und weitere Umsetzung der NATO-Rußland-Akte- Drucksache 13/9858 -Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß VerteidigungsausschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Bundesregierung dem Außenminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 16. Dezember vorigen Jahres habe ich in Brüssel gemeinsam mit meinen 15 NATO-Kollegen die Protokolle über den Beitritt Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns zum Atlantischen Bündnis unterzeichnet.
Es war ein historischer Augenblick und ein großer Erfolg euroatlantischer und auch deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Wer hätte vor neun Jahren geglaubt, daß sich die Welt in so kurzer Zeit im Sicherheitsbereich so grundlegend verändert, vor allem hier in Deutschland, durch das damals noch die Trennlinie zwischen Ost und West, der Eiserne Vorhang, ging?
Ich bin sicher, daß der Bundestag heute dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf mit überwältigender Mehrheit zustimmen wird. Es wird ein Signal an alle unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa sein, das lautet: Deutschland bleibt sich seiner besonderen Verantwortung und Verpflichtung aus Geographie und Geschichte bewußt. Wir sind - und werden es auch bleiben - der Anwalt der Reformdemokratien bei ihrer Rückkehr in ein freies und ungeteiltes Europa. Gerade in Deutschland, das der NATO aus der Zeit der Teilung des Landes und Berlins so sehr viel verdankt, sollten von keiner Seite falsche Töne zur NATO und NATO-Öffnung kommen. Wenn man eine verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik betreiben will, verbietet sich das.
Unsere Landsleute in der ehemaligen DDR sind von EU und NATO bei der Wiedervereinigung mit offenen Armen aufgenommen worden. Das war bei denjenigen, die durch ihren Freiheitswillen mit entscheidend dazu beigetragen haben, daß es zur Wiedervereinigung kommen konnte, bisher jedenfalls nicht so. Auch aus diesem Grund haben wir diesen Ländern gegenüber eine zentrale und wichtige Verpflichtung, ihnen zu helfen, wenn es um ihre Hineinführung in die euro-atlantischen Strukturen geht.
Daß uns damals geholfen wurde, haben wir nicht vergessen. Wir Deutsche haben wahrhaftig am eigenen Leib erfahren, was Teilung bedeutet. Um so mehr freuen wir uns heute, daß aus ehemaligen Gegnern Partner und Freunde geworden sind.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
- Vielleicht können Sie einmal für Ruhe sorgen; man kann sich ja kaum konzentrieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien Sie bitte etwas ruhiger, und hören Sie dem Bundesaußenminister zu. - Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, beim 50jährigen Jubiläum des Bündnisses im April 1999 werden Polen, Tschechen und Ungarn aller Voraussicht nach als neue Mitglieder dabeisein. Damit wird eine Entwicklung gekrönt, die in den 70er Jahren mit den Ostverträgen und dem KSZE-Prozeß begann und an der Deutschland ganz wesentlich beteiligt war. Ecksteine dieser Politik waren Vertrauensbildung, die Bereitschaft zu Abrüstung und Rüstungskontrolle, aber eben auch die feste Haltung gegenüber der Bedrohung durch Mittelstreckenraketen. Der Doppelbeschluß des Bündnisses stand für beides.
Nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht, der Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion begannen die Europäische Union und die NATO gemeinsam mit dem Neubau des europäischen Hauses. Die Öffnung und Erweiterung von NATO und Europäischer Union sind dabei zusammen mit der Vollendung des Binnenmarkts und der Einführung des Euro die strategischen Weichenstellungen. Es muß betont werden: Die Öffnung der NATO richtet sich gegen niemanden.
Sie wird vielmehr, zusammen mit der Erweiterung der Europäischen Union, die Stabilität in ganz Europa festigen. Polen, die Tschechische Republik und Ungarn werden Bündnismitglieder mit allen Rechten und Pflichten werden, und sie werden aktiv zur Sicherheit der Allianz beitragen.
Natürlich ist die Öffnung der NATO - genauso wie die Erweiterung der EU - nicht zum Nulltarif zu haben. Aber diese Investition wird sich lohnen; sie wird sich auszahlen.
Die direkten Kosten für die Allianz und damit für uns halten sich in einem überschaubaren Rahmen. Sie betragen in zehn Jahren nicht mehr als 0,02 Prozent der gesamten Verteidigungsanstrengungen der dann 19 Mitgliedstaaten. Das hat Generalsekretär Solana letzte Woche hier in Bonn nochmals festgestellt.
Die gemeinsame Verteidigung ist - ich glaube, das kann man sagen - damit nicht nur kostengünstiger. Es entspricht auch seit fast 50 Jahren unserer Überzeugung, daß mit einer gemeinsamen Verteidigung
dem Rückfall in eine nationale Außen- und Sicherheitspolitik ein für allemal der Weg verbaut ist.
Auch aus diesem Grund war und bleibt es wichtig, das Bündnis gegenüber den Staaten zu öffnen, die bisher ausgeschlossen waren. Integration und Zusammenarbeit bleiben die Schlüssel für eine zukunftsgerichtete Außenpolitik. Der NATO-Gipfel in Madrid hat eindeutig festgestellt: Die Allianz bleibt weiter offen für neue Mitglieder; dafür setzt sich auch die Bundesregierung nachdrücklich ein. Wann der nächste Öffnungsschritt kommen wird, ist jedoch offen und sollte auch vorerst offenbleiben. Dabei sind Umsicht und Bedacht besser als vorschnelle Festlegungen.
Sinn und Zweck des ganzen Prozesses muß ja mehr und nicht weniger Sicherheit für ganz Europa sein.
Die Politik der Öffnung der NATO muß drei Prinzipien genügen: erstens der Bekräftigung und Aufrechterhaltung des Prinzips der freien Bündniswahl als eines Grundbausteins des neuen Europa, zweitens der Vermeidung sicherheitspolitischer Grauzonen und drittens der Schaffung kooperativer Sicherheit in Europa, und zwar mit und nicht gegen Rußland.
Die Einbindung dieses großen und wichtigen Landes in die europäische Zusammenarbeit ist und bleibt mit das wichtigste Fundament der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur. Ich glaube, ich kann wirklich mit Recht sagen, daß die Bundesregierung viel dazu beigetragen hat, daß dieses notwendige Vertrauen entstanden ist.
Für den weiteren Öffnungsprozeß geht es wieder darum, mehr Vertrauen zu schaffen und zu entwikkeln. Dies erfordert die konsequente Fortentwicklung der regionalen Zusammenarbeit, der Transparenz und der politischen und wirtschaftlichen Vernetzung. Deshalb ist es so entscheidend, daß das Bündnis an seinem umfassenden kooperativen Öffnungskonzept festhält.
Der erste Pfeiler hierfür ist die Verstärkung der Zusammenarbeit auch mit den Staaten, die beim ersten Öffnungsschritt zunächst nicht zum Zuge kamen, über den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat und das intensivierte Programm „Partnerschaft für den Frieden".
Der zweite Pfeiler ist, die sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit mit Rußland und der Ukraine auf eine neue Stufe zu heben. Der NATO-
Rußland-Rat hat inzwischen bereits zweimal auf Außenministerebene getagt, und zwar mit guten Ergebnissen. Dieser Tisch funktioniert, weil, wie Generalsekretär Solana es formuliert hat, die Bündnismitglieder wie auch Rußland wissen, daß die Zusammenarbeit in einer total veränderten Welt alternativlos geworden ist.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Das gemeinsame Engagement von NATO- und Nicht-NATO-Partnern in Bosnien zeigt, daß dies auch in der Praxis funktioniert. Das russische Kontingent bei SFOR umfaßt 1 336 Soldaten. Die russischen Soldaten erleben so den täglichen Kontakt zur NATO, arbeiten mit der NATO für den Frieden und lernen die NATO auch als Partner kennen.
Rußland wird auch bei einer SFOR-Nachfolgeoperation dabeisein. Wenn sie kommt - sie wird wohl kommen -, muß das eine europäisch-amerikanisch-russische Gemeinschaftsaufgabe bleiben.
Ähnliches gilt für die annähernd 400 ukrainischen Soldaten. Daß das Verhältnis zu diesem ebenfalls großen und wichtigen Partner auf eine feste Grundlage gestellt wurde, ist von ganz erheblicher Bedeutung. Damit hat die Ukraine eine ihrem Gewicht entsprechende Position in der europäischen Sicherheitsarchitektur eingenommen.
Der dritte Pfeiler des europäischen Zusammenwachsens im Bereich der Sicherheit ist die OSZE. Sie hat im Baltikum, in Bosnien und vor allem in Albanien gezeigt, was sie im Bereich der präventiven Diplomatie und der Krisenvor- und -nachsorge in der Praxis leisten kann. Wir haben uns bei den Langzeitmissionen finanziell und auch personell sehr stark engagiert. Wir sind auch treibende Kraft bei den Arbeiten an der europäischen Sicherheitscharta. Wir brauchen in Europa Institutionen, die sich ergänzen und die sich gegenseitig nicht behindern. Was die OSZE und das Verhältnis zum Europarat anbelangt, so werden wir uns ein wenig darüber unterhalten müssen, damit es da keine Überschneidungen und Doppelarbeit gibt. Außerdem müssen wir die Handlungsfähigkeit der OSZE bei der Konfliktvor-
und -nachsorge weiter verstärken, auch und gerade im Fall eines Dissenses einzelner Mitglieder.
Der vierte Pfeiler unseres kooperativen Öffnungskonzepts ist die Abrüstung und Rüstungskontrolle. Die Vertragsstaaten des KSE-Vertrages haben inzwischen einen Konsens erreicht, der für die schweren konventionellen Waffen in Europa ein neuartiges System nationaler und territorialer Obergrenzen einführt. Diese auf einen deutschen Vorschlag zurückgehende Initiative des Bündnisses belegt, daß militärische Zurückhaltung für die NATO kein Lippenbekenntnis ist. Das ist gerade im Zusammenhang mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten eine ganz wichtige sicherheitspolitische Flankierung.
Für die neue europäische Sicherheitslandschaft werden immer weniger Soldaten und Waffen benötigt. Die NATO hat bereits erste konkrete Schritte angeboten und verzichtet auf über 8 100 Waffenquoten in Depots. Deutschland ist zu mindestens 10 prozentigen Reduzierungen bereit, und auch die anderen Partner werden da mitziehen. In diese Einschätzung und Erwartung schließe ich gerade die neuen Mitgliedstaaten ein.
Lichtenberg hat einmal gesagt: „Was hilft der Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen! "
Die NATO und die Europäische Union haben sich das zu Herzen genommen und auf die Jahrhundertchance des Falls von Mauer und Eisernem Vorhang reagiert. Beim Außenministertreffen im Juni 1996 in Berlin - an sich ja schon ein wirklich historisches Ereignis: die NATO tagt in Berlin - wurde das Wort von der „neuen NATO" geboren - zu Recht. Denn so wie die Europäische Union hat sich auch die NATO tiefgreifend gewandelt. Sie bleibt der Nukleus der europäischen Sicherheitsarchitektur. Die Sicherheit und die Stabilität Europas sind dadurch gewachsen.
Der Anlaß unserer heutigen Debatte ist der schönste Beweis dafür. Darüber sollten wir uns gemeinsam freuen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karsten Voigt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ratifizierung der NATO-Erweiterung ist ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung Europas. Sie ist auch ein Schritt zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Erst recht ist sie ein wichtiger Beitrag zu einem qualitativ neuen Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn. Ich finde es ausgesprochen gut, daß wir die Ratifizierungsdebatte vor dem US-Senat beginnen und daß wir die zweite Lesung im Bundestag voraussichtlich zu einem Zeitpunkt durchführen, also abschließend über dieses Thema beraten werden, bevor der US-Kongreß entscheidet. Damit machen wir deutlich, daß wir die NATO-Erweiterung nicht ratifizieren, weil wir den Amerikanern blind folgen, sondern deswegen ratifizieren, weil wir sie unserer eigenen Interessenlage und Überzeugung gemäß für richtig halten.
Erstens. Indem wir die sicherheitspolitischen Wünsche und Interessen unserer unmittelbaren Nachbarn als ebenso wichtig erklären wie unsere eigenen Interessen - das ist ja der Kern einer Bündnisverpflichtung -, schaffen wir die Voraussetzung für eine dauerhaft stabile Interessengemeinschaft, Partnerschaft und Freundschaft mit den Polen, Tschechen und Ungarn sowie später mit weiteren Staaten und Völkern.
Zweitens. Dies ist zugleich eine demonstrative Absage an frühere Perioden deutscher Geschichte, in denen deutsche Kaiser, Könige und Kanzler deutsche Interessen zu Lasten unserer östlichen Nachbarn durchzusetzen versuchten. Daß die Interessengemeinschaft zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn möglich geworden ist, dafür danken wir Sozialdemokraten insbesondere Willy Brandt und Helmut Schmidt. Aber wir Sozialdemokraten haben ebenso keine Schwierigkeiten, zu sagen, daß sich in
Karsten D. Voigt
diesem Prozeß auch diese Bundesregierung verdient gemacht hat.
Diese Kontinuität zu unterstreichen ist deshalb wichtig, weil damit deutlich wird, daß diese Politik - ganz egal wie die nächsten Bundestagswahlen ausgehen - fortgesetzt werden wird, weil wir Sozialdemokraten uns als Garanten dieser Politik - in welcher Koalition auch immer - empfinden.
Drittens. Gerade weil wir den polnischen Wunsch nach Mitgliedschaft in der NATO und der EU ausdrücklich unterstützen, können wir mit Rußland enger zusammenarbeiten, ohne daß dadurch irgendein Grund für Mißtrauen zwischen Polen und Deutschland gegeben wäre. Dies gilt für Deutschland in seinem bilateralen Verhältnis mit Rußland; das gilt auch für das Verhältnis zwischen der NATO und der Europäischen Union auf multilateraler Ebene.
Ohne die NATO-Osterweiterung wäre der NATO-
Rußland-Rat nie zustande gekommen. Insofern wird Rußland durch die Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union nicht ausgegrenzt. Es wird vielmehr, wenn es dies will, enger als je zuvor in seiner Geschichte mit den europäischen und transatlantischen Institutionen verbunden werden. Dies kann bis hin zu einer quasi Assoziation mit der Europäischen Union und der NATO führen, wenn Rußland dies will und seine inneren und die außenpolitischen Entwicklungen entsprechend sind.
Viertens. Die Osterweiterung der NATO und der Europäischen Union vollendet die multilaterale Integration Deutschlands, die in den 50er Jahren nach Westen erfolgreich begonnen wurde. Sie schließt alle deutschen Alleingänge, unter denen Deutschlands Nachbarn, aber auch die Deutschen selber in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder gelitten haben, praktisch aus. Deutschland wird wahrscheinlich auch künftig eine aktivere Ostpolitik als andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO betreiben.
Aber diese aktive Ostpolitik wird nicht dazu führen, daß Deutschland zwischen Ost und West pendelt, wie es manche nach der Wiedervereinigung befürchtet haben, oder daß es sich dem Westen entfremdet. Deutschlands Interesse ist es vielmehr, künftig zur Stabilität östlich seiner Grenzen beizutragen, indem die dortigen Staaten und Völker soweit wie möglich die bisher auf den Westen beschränkten Lebensstandards und ökologischen Standards erreichen sowie an den positiven Wirkungen der bisher auf Westeuropa beschränkten Freiheits- und Friedensordnung teilhaben.
Fünftens. Ich habe bis Anfang 1990 geglaubt, daß die Spaltung Europas vor allen Dingen durch eine Stärkung neuer gesamteuropäischer Institutionen wie der OSZE zustande kommen würde. Weil ich selber dies geglaubt habe, werfe ich es niemandem vor, wenn er früher genauso gedacht hat. Aber eine so stabile Friedens- und Freiheitsordnung, wie wir sie durch die gemeinsame Mitgliedschaft in einer sich erweiternden Europäischen Union und NATO erreichen, können wir mit unseren östlichen Nachbarn nicht allein durch eine gestärkte OSZE, für die ich natürlich bin, erreichen. Deshalb habe ich ab 1992 nicht nur für die Osterweiterung der Europäischen Union, sondern auch für eine zügige Erweiterung der NATO geworben.
Ich appelliere noch einmal gerade an diejenigen bei den Grünen, die sich als Erben der demokratischen Revolution von 1989 empfinden, sich nicht den außen- und sicherheitspolitischen Konsequenzen dieser Revolution zu verweigern und sich nicht von ihren Freunden in allen osteuropäischen Staaten zu entfremden. Das tun Sie faktisch.
Eine deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die im Widerspruch zu allen unmittelbaren Nachbarn steht, ist keine Friedenspolitik, kann keine Friedenspolitik sein.
Sechstens. Das Ziel, die Spaltung Europas aufzuhalten, indem Mittelost- und Osteuropa die Chance zur Verwirklichung seiner politischen und wirtschaftlichen Strukturen erhält, ist nicht in einem Schritt zu erreichen. Deshalb müssen diesem ersten Schritt der NATO-Erweiterung weitere Schritte folgen; da stimme ich Bundesaußenminister Kinkel voll zu. Ich gehe nur einen Schritt weiter: Die NATO-Osterweiterung muß in Phasen, aber ohne Pausen erfolgen.
Deshalb bin ich dafür, 1999 nicht nur Polen, Tschechien und Ungarn endgültig in die NATO aufzunehmen, sondern mit dem nächsten Schritt, der NATO- Öffnung für mindestens zwei zusätzliche Mitglieder, zu beginnen.
Siebtens. Es ist gut, daß parallel zur ersten Runde der NATO-Osterweiterung mit den Verhandlungen über eine Osterweiterung der Europäischen Union begonnen wird. Das ist vor allen Dingen für die baltischen Staaten wichtig. Ich freue mich ausdrücklich, daß mindestens ein baltischer Staat - hoffentlich aber mehrere - die Chance hat, bei der ersten Runde der EU-Erweiterung dabeizusein. Das ist ein ganz, ganz wichtiges Signal.
Ich wünschte, daß wir den Wunsch der baltischen Staaten, als volle Mitglieder an allen europäischen und transatlantischen Strukturen teilzuhaben, schneller erfüllen könnten, als es möglich ist. Man muß den baltischen Staaten aber sagen, daß wir diesen Wunsch respektieren und ihn, auch wenn wir ihn erst langfristig und über verschiedene Zwischen-
Karsten D. Voigt
schritte erfüllen können, nicht aus dem Blick verloren haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Diese Debatte ist jetzt nicht mehr sehr kontrovers, weil wir alle damit rechnen, daß wahrscheinlich etwa 90 Prozent des Bundestages zustimmen werden. In Wirklichkeit aber ist die mit der Ratifizierung der NATO-Osterweiterung verbundene Vorstellung, die keineswegs, wie Journalisten meinen, allein in den USA entstanden ist, sondern mindestens in gleichem Maße in Deutschland, eine Vorstellung, die auf eine stabile gesamteuropäische Friedensordnung, wie ich es zu Beginn gesagt habe, hinzielt.
Nach den umwälzenden Revolutionen seit 1989 -es waren ja mehrere hintereinander - haben wir jetzt die Chance, die Revolutionen nicht zu Prätexten für neue Instabilitäten in Europa zu machen, wie es damals insbesondere wegen der Umbrüche und der Gewalt in Jugoslawien viele gefürchtet haben, sondern die Osterweiterung der Europäischen Union zur Reform der Europäischen Union und die Osterweiterung der NATO zur Reform der NATO zu nutzen und beides zusammen, Vertiefung und Erweiterung dieser Institutionen, zu einem Netzwerk gesamteuropäischer institutioneller Zusammenarbeit zu verknüpfen, damit dieser Kontinent der Vielfalt nicht unter seiner Vielfalt leidet, sondern endlich Kräfte aus der Vielfalt zieht und eine gesamteuropäische Friedensordnung gestaltet.
Danke.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Professor Dr. Karl-Heinz Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme - erstens - ohne Abstriche mit dem überein, was der Außenminister gesagt hat, und möchte auch für meine Fraktion erklären, daß wir überein- und zustimmen. Zweitens stimme ich mit dem meisten von dem überein, was der Kollege Karsten Voigt gesagt hat. Ich gestehe allerdings, daß ich seine Aussage, vielleicht hätten auch die unionsgeführten Regierungen - vor allem die jetzige - dazu beigetragen, diesen Prozeß zu begünstigen, als maßlose Untertreibung einstufe. Die Wirklichkeiten waren, um es vorsichtig zu formulieren, ein ganz klein wenig anders.
An diesem Tag, an dem wir im Parlament beginnen, aus den unglaublichen Veränderungen der letzten Jahre die konkreten Konsequenzen für die europäischen Strukturen zu ziehen - wir tun es mit Freude -, gestatte ich mir, mich an jene Personen zu erinnern, für die das hier Anstehende, emotional vielleicht wichtiger als alles andere ist: an Mazowiecki
und Geremek in Polen. Mit ihnen habe ich während der Zeiten des Kriegsrechtes - zu einer Zeit, Kollege Voigt, in der sie auch manchen aus Ihrer Fraktion gerne als Gast in Polen gesehen hätten - diskutiert und habe mir von ihnen erläutern lassen, was denn die polnische Idee von der Zukunft Europas sei. Unter der Bedrohung von Gefängnis und Gewalt haben sie formuliert: Wir „Solidarnosz-Polen" - um es in Kurzfassung zu sagen - wollen alles tun, damit Deutschland wieder ein Deutschland wird. Ein demokratisches, geeintes Deutschland als Nachbar ist Ziel Nummer eins der polnischen Außenpolitik. Denn nur mit einem geeinten demokratischen Nachbarn können wir in Frieden nebeneinander und miteinander leben.
Es waren dieselben Personen und viele mehr - der damalige Gewerkschaftsvorsitzende Lech Walesa an der Spitze -, die formuliert haben: Wir wollen unseren Platz da haben, wo wir hingehören: in Europa, mit euch Deutschen zusammen, unter demselben Dach, im selben System.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kann nachempfinden, wie diesen Personen - einer der Genannten ist heute polnischer Außenminister - heute zumute ist, wenn sie jetzt erleben, daß das, was damals für uns Traum war - ich habe nie geglaubt, daß ich eines Tages hier stehen würde, um zu diesem Thema, dem Beitritt Ungarns, Tschechiens und Polens zur NATO, reden zu dürfen -, anfängt, für diese Länder, für diese Menschen Wirklichkeit zu werden.
Ich gestatte mir, auch an diejenigen zu erinnern, die dies wesentlich mitbewirkt haben. Wir sind gewohnt, uns auf die Schultern zu klopfen mit den Worten, jeder habe so seinen Anteil an der Geschichte; vor allen Dingen dann - auch das kennen wir -, wenn die Geschichte gut ausgeht. Aber ich möchte an die erinnern, die noch nicht wußten, ob sie gut ausgeht, und trotzdem gekämpft haben. Das waren Leute wie József Antall in Ungarn, das waren die Männer und Frauen der Charta 77, und es waren vor allem auch Arbeiter der Leninwerft in Danzig und des Traktorwerks Ursus in Warschau. Sie haben gekämpft: für die Ideen, die ich Ihnen gerade genannt habe, und für ihr Volk - und damit für uns. Daß dies alles so gekommen ist, verdanken wir ihnen. Ich glaube, wir haben auch die Pflicht, ihrer zu gedenken, die wesentlich dazu beigetragen haben, daß wir dieses Thema heute hier erörtern können.
Unseren Ruhm mag jemand anders beurteilen. Aber daß dies ein Traum für die Polen, die Ungarn, für die Tschechen war, kann, so glaube ich, jeder nachvollziehen, der in der Vergangenheit ihren Kampf um Freiheit hat mitverfolgen können und hier und da auch unterstützen dürfen. Manchmal kommt die egoistische Frage: Und wir? - Ich glaube, auch für unser Land erfüllt sich mit der Entwicklung, die
Dr. Karl-Heinz Hornhues
wir jetzt entscheidend einleiten, die Verwirklichung eines Teils von Hoffnung, über die mancher früher gelächelt hat. Wer hat denn nicht gelächelt, als früher einmal ein französischer Präsident während eines Besuches in Deutschland über Europa „vom Atlantik bis zum Ural" gesprochen hat? Wer hatte da nicht ein verschämtes Lächeln im Gesicht?
Wir haben angefangen, diese Chance eines umfassenden Europas nach gleichen Werten, Idealen und Zielvorstellungen gemeinsam zu realisieren. Dies war und ist - und wird es, so hoffe ich, auch bleiben - immer der Nukleus deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Der Kern der Lehre, die wir aus der Geschichte gezogen haben, hieß: Wir wollen Freiheit und Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Wohlstand und Zukunft für unser Volk entwickeln - mit unseren Nachbarvölkern gemeinsam und, wenn immer es geht, nicht wieder gegen sie. Dies ist für mich immer die Kurzformel für das gewesen, was wir Europapolitik genannt haben.
Wir haben jetzt die große Chance und sind damit beschäftigt, ein weiteres Stück, einen entscheidenden zweiten Teil zu realisieren. Es war ein geographischer Zufall oder Zufall der Geschichte, daß wir dies zunächst in Richtung Westen und nicht in Richtung Osten machen konnten. Ich denke, es ist, wenn man es bedenkt, gerade für unser Land, für unser Volk von entscheidender Bedeutung, daß, nachdem wir die Einheit gewonnen haben, dieser Prozeß in Richtung Osten fortgesetzt werden kann.
Wer sich in der Nachbarschaft umhört - Herr Kollege Voigt, wir kommen ja gerade aus der Nachbarschaft zurück -, wird bei aller Bescheidenheit nicht bestreiten können, daß wir Deutschen, vorneweg auch die Bundesregierung, einen entscheidenden Anteil an diesem Erfolg, an dieser Entwicklung haben.
Ich bin stolz und glücklich, das sagen zu können. Deswegen gestatte ich mir, meiner Regierung zu danken: dem Bundeskanzler, dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister, der mich einmal in einer anderen Funktion in die Position gebracht hat, die mich heute zu meinen Erinnerungen führt; ich konnte nämlich ein wenig dabeisein, als wir uns bemühten, den Polen zu helfen, diesen Weg zu gehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist angeklungen: Das, was wir heute einleiten, ist ein erster Schritt. Es ist, bezogen auf die NATO, ein erster Schritt zur Öffnung. So glücklich auch die einen darüber sein mögen, es sei doch die Sorge anderer Länder angefügt, dies könne der erste und letzte Schritt sein. Dieser Schritt macht nur dann keinen Sinn, wenn er der letzte Schritt wäre. Denn dann bleibt das Ganze Stückwerk.
Deswegen sollten Bulgarien und Rumänien sowie die baltischen Länder wissen: Wir kämpfen dafür, daß auch ihnen so bald wie möglich die Tür zur NATO offensteht.
- Pardon. Slowenien habe ich vergessen. Es wird vermutlich noch der eine oder andere dazukommen, wenn er sich vielleicht ein wenig verändert, der uns dann auch herzlich willkommen ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch diese NATO-Erweiterung ist wieder nur ein Teil eines Gesamtprozesses, von dem hier schon sowohl beim Außenminister wie beim Herrn Kollegen Voigt die Rede war, der insgesamt unterstützt, gefördert werden muß, damit er gelingt. Wir brauchen die Stabilität. Wir brauchen das enge Miteinander.
Wir stehen gegenwärtig in einer Phase von besonderer Bedeutung, was wir vielleicht bei all den anderen Themen, die wir auch zu debattieren haben, ganz vergessen. In wenigen Tagen werden wir den Vertrag von Amsterdam ratifizieren. In ein paar Wochen werden wir das Protokoll zur NATO-Erweiterung endgültig ratifizieren. Zugleich steht die parlamentarische Beratung über die Einführung des Euro an; im April soll sie abgeschlossen sein. Die Europäische Union leitet ihre Öffnung mit dem Verhandlungsbeginn in wenigen Monaten ein. Meine verehrten Damen und Herren, wir haben viel zu tun, um diese Prozesse zu unterstützen. Ich glaube, es lohnt sich, daß wir uns darum bemühen und darum kämpfen.
Bei all dem sei ein Land nicht vergessen, in dem oft das Gefühl herrscht, alle diese Entwicklungen seien gegen es gerichtet: Rußland. Ich glaube, dieses Gefühl, gegen das man kaum argumentieren kann, muß überwunden werden, weil all dies keinen Sinn machen würde, wenn es sich um Entwicklungen gegen Rußland handelte. Wir wollen diese Entwicklung mit Rußland. Deswegen war es gut, sinnvoll und vernünftig und wurde gerade aus Deutschland heraus in besonderer Weise gefördert, daß vor dieser Entwicklung hin zur NATO-Öffnung eine besondere Akte zwischen der NATO und Rußland vereinbart wurde. Nach allem, was man hört - der Generalsekretär der NATO war ja vor wenigen Tagen im Auswärtigen Ausschuß; er hat dies nachdrücklich bestätigt -, läuft die praktische Kooperation vorzüglich.
Wir müssen allerdings darauf achten, daß nicht hier und da versehentlich durch Entwicklungen in der Bürokratie oder durch die Vertretung von Interessen aus Kleinigkeiten Gegensätze werden, die nicht gewollt sein können. Wir brauchen das Miteinander mit Rußland. Rußland muß mit dabeisein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Kollege Voigt hat eingangs eine wichtige Bemerkung gemacht, die ich so nicht glauben kann; denn im Verlaufe seiner Rede hat er sie selber in Frage gestellt. Er hat behauptet, daß diese Politik - die ich für eine der glücklichsten in der europäischen Entwicklung überhaupt halte - auch bei einem Regierungswechsel nicht gefährdet werde. Im weiteren Verlauf hat er dann vermutlich den mir nachfolgenden Redner ge-
Dr. Karl-Heinz Hornhues
meint, als er fragte, wie dieser es denn verantworten wolle, dem polnischen oder dem tschechischen Nachbarn in die Augen zu gucken und zu sagen: Nein, ihr nicht; ihr bleibt draußen vor der Tür.
Unsere Frage von seiten der Koalition, vor allen Dingen auch von meiner Fraktion, ist: Wie stabil ist denn diese Politik, die wir hier betreiben und die von der Oppositionsfraktion Nummer eins, der SPD, als erfolgreich, gut und sinnvoll angedeutet worden ist? Wie stabil wird es denn sein, wenn die SPD mit jener Fraktion eine Koalition eingeht - -
Der Herr Abgeordnete Voigt hilft Ihnen jetzt. Ihre Redezeit ist nämlich zu Ende. Aber er hat noch eine Frage an Sie.
- Eine Kurzintervention.
Dann hat er mir nicht geholfen; das hätte mich auch sehr gewundert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns bleibt am Schluß die Frage: Was heißt das denn: „Es ist sicher, daß die Politik so bleibt"? An die Grünen gerichtet: Stimmen Sie zu, oder stimmen Sie nicht zu?
Wir werden zustimmen. Wir haben selten einem Antrag so freudig zugestimmt, wie wir es in wenigen Wochen tun werden. Wir werden zustimmen, weil wir glücklich und froh sind, die Polen, Tschechen und Ungarn bei uns in unserem Haus Europa begrüßen zu dürfen.
Danke schön.
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Karsten Voigt, SPD-Fraktion.
Zuerst einmal freut es mich, wenn der Kollege Hornhues genau wie ich die Möglichkeit zu einer rotgrünen Mehrheit in Bonn sieht.
Ich hoffe, daß er sich später in der Opposition ebenfalls konstruktiv verhält.
Darüber hinaus möchte ich eine klare Antwort geben - nicht eine persönliche, vielmehr ist das bei uns in der Partei- und Fraktionsführung verschiedentlich beraten worden -: Die Mitgliedschaft in der NATO und die positive Bewertung der NATO-Osterweiterung als nicht abgeschlossener Prozeß, der fortgeführt werden muß, ist - wie eine Reihe weiterer Punkte - für uns eine unabdingbare Voraussetzung für jede Koalition. Es ist überhaupt keine Frage, daß es sich Deutschland nicht erlauben kann, in dieser Frage in irgendeiner Beziehung zu wabbeln.
Die Grünen wissen das genau. Deshalb ist alles das, was sie jetzt machen, Rhetorik; denn sie wissen genau, daß sie eine rotgrüne Koalition nicht hinkriegen werden, ohne daß sie diese und ihre anderen abweichenden Zielvorstellungen in der Koalition preisgeben.
Danke.
Eine Antwort, bitte, Herr Professor Hornhues.
Herr Kollege Voigt, ich bin ein wenig überrascht, daß Sie den Streit, wie es bei Ihnen denn sein soll, wenn ..., jetzt schon führen. Vielleicht überlassen Sie zunächst dem Wähler das Votum; dann können Sie sich in Ruhe weiter streiten.
Ich glaube, daß Ihre Intervention deutlich gemacht hat, welches Risiko man eingeht, wenn man sich zu sehr auf Sie stützt.
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Ludger Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß die SPD hier Koalitionsverhandlungen führen will, bevor sie ihren Kanzlerkandidaten nominiert hat, finde ich etwas verwegen.
Wenn die Ratifizierung der NATO-Osterweiterung ansteht, dann heißt dies für die grüne Partei, daß ein falscher Schritt kurz vor dem Abschluß steht. Gleichwohl wird er Realität werden.
Wir kritisieren nicht den Wunsch anderer Länder, in die NATO aufgenommen zu werden. Ihr Anliegen ist völlig legitim. Aber wir sind nach wie vor der Meinung, daß die NATO nicht die geeignete Organisation ist, um die notwendige gesamteuropäische Sicherheitsordnung herzustellen.
Ludger Volmer
Sicherheit kann es nur mit und nicht gegen Rußland geben. Perspektivisch muß es dieselbe Sicherheit für Deutschland wie für Polen, für Frankreich wie für die baltischen Staaten, für Spanien wie für Bulgarien, für die USA wie für Rußland geben.
Die Erweiterung der NATO um drei Staaten schließt andere aus. Die Ankündigung, schrittweise auch mit anderen zu verhandeln, um den Eindruck eines kontinuierlichen Erweiterungsprozesses zu erwecken, ist nicht in der Lage, das eigene Fernziel zu definieren. Sollen das Baltikum, die Ukraine und Rußland dazugehören? Wie berechtigt sind die russischen Sicherheitsinteressen?
So wie die Westmächte die Zustimmung zur deutschen Einheit davon abhängig gemacht haben, daß Deutschland Mitglied in der NATO bleibt, so wurde Rußland zugesichert, daß die NATO die gesamtdeutsche Mitgliedschaft nicht als strategischen Vorteil gegen Rußland wenden würde.
Deutschland steht beiden Seiten gegenüber im Wort. Deshalb muß die Bundesregierung eine deutliche Antwort auf die Frage geben, wie sie die NATO-Erweiterung mit der russischen Sicherheitsperspektive verknüpft sehen will.
Beschwichtigend zu sagen, die Dinge seien alle im Fluß, und das Verhältnis des Westens zu Rußland sei so freundlich wie noch nie, weicht dem Kern des Problems aus.
Will man Rußland draußen halten, dann gilt unser Argument, die Osterweiterung verschiebe die Grenzen einer letztlich antirussischen Allianz nur nach Osten. Will man Rußland ebenfalls aufnehmen? Warum erspart man sich nicht alle Mißverständnisse und beginnt sofort damit?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thiele?
Ich möchte gerne durchgehend reden. Wir können uns noch hinterher über Kurzinterventionen austauschen.
Wenn die auf der Basis der NATO-Rußland-Grundakte entstandene Zusammenarbeit und die gemeinsame Praxis beim Bosnien-Einsatz so vielversprechend sind, wie die Verfechter der Osterweiterung behaupten, dann frage ich: Warum bietet man Rußland nicht sofort mehr an? Wir wären dafür.
Anschließend wäre die NATO nicht mehr die NATO;
sie wäre kein Verteidigungsbündnis mehr gegen einen ohnehin nicht existierenden Feind aus dem
Osten. Sie wäre vielmehr ein kollektives Sicherheitssystem für West und Ost.
Wenn man NATO-Generalsekretär Solana zuhört, dann kommt fast Rührung auf. Die NATO erscheint als Sammlungsbewegung für alles Gute in der Welt, die an Humanität sogar die Caritas übertrifft.
Er sagt kein Wort über Rüstungsmärkte, über die Option des atomaren Ersteinsatzes und über weltweite Kampfeinsätze. Herr Solana macht das brillant.
Wenn man allerdings den Bericht über die jüngste Wehrkundetagung in der FAZ - zweifellos kein linkes Blatt - liest, so stellt sich das Bild anders dar. Danach wird im Falle der Irak-Krise, die nach NATO- Statuten kein Bündnisfall ist, von Bündnisverpflichtungen geredet. Rußland scheint von der Grundakte längst nicht so begeistert zu sein wie Herr Solana. Der Dissens über die Osterweiterung bleibt bestehen. Diese gilt als regelrechter Stolperstein auf dem Weg zu einer wirklichen westöstlichen Sicherheitspartnerschaft.
Wir halten diesen Schritt für falsch, weil er in eine Sackgasse führt.
Wir sehen aber, daß er Realität wird. Um so wichtiger ist deshalb aus friedenspolitischer Sicht die Frage, welche Prozesse daneben und dagegen unterstützt werden müssen, damit Friedenspolitik im Sinne von Völkerverständigung, radikaler Abrüstung und Deeskalation weitergehen kann. Die Lösung kann nur darin liegen, daß die einzige Organisation gestärkt und zum Kernelement westöstlichen Interessenausgleichs gemacht wird, die Nordamerika, Westeuropa, die ostmitteleuropäischen Staaten und die GUS-Staaten umspannt: die OSZE.
Die NATO-Erweiterung hat den negativen Effekt gehabt, daß sich die Sicherheitsinteressen zahlreicher Länder auf diesen Prozeß fixieren und daß sich das in der OSZE-Charta von Paris entworfene europäische Sicherheitsmodell fatal auf den Militärapparat NATO verengt hat. Wer, wie in der Grundakte proklamiert, die OSZE stärken will, der darf ihr nicht die schwierigen Aufgaben eines zivilen Wiederaufbaus nach entsetzlichen Kriegen auflasten, ohne ihr die nötigen Ressourcen zu geben. Investitionen in die konfliktpräventive Arbeit der OSZE sind allemal billiger als eine Militärintervention der NATO.
Prävention kann Blutvergießen vermeiden. Ein Militäreinsatz zwingt immer zur Entscheidung, wessen Blut vergossen werden soll. Wir entlassen die Regierung nicht aus der Verantwortung, nachzuweisen, daß sie alles tut, um zivile Organisationen, die zivile Konfliktbearbeitung leisten können, mindestens so handlungsfähig zu machen wie die militärische Organisation.
Ludger Volmer
Die negativen Auswirkungen der NATO-Erweiterung können gemildert werden, wenn die OSZE endlich statutenmäßig als Regionalorganisation der UNO ausgewiesen und zur alles überwölbenden Instanz würde. In ihre sicherheitspolitischen Diskussionsforen kann der Transatlantische Kooperationsrat aufgelöst werden. Hier müßte das operative Koordinierungszentrum jeglicher Konfliktbearbeitung liegen, damit endlich die Zivilisten und nicht die Militärs das erste und das letzte Wort haben.
Danke.
Ich erteile dem Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele, F.D.P.-Fraktion, zu einer Kurzintervention das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Volmer, Sie haben viel darüber geredet, wie die NATO verhandeln sollte. Ich habe aber von Ihnen kein Wort darüber gehört, wie Sie überhaupt zur NATO stehen. Aus meiner Sicht ist die NATO tragendes Element dafür, daß es überhaupt zu diesem Frieden gekommen ist und daß es überhaupt dazu kommen konnte, daß die Länder Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO wollen. Der Wille dieser Bevölkerung ist unstreitig. Sie wollen dabeisein. Diesem Willen wollen wir nachkommen.
Jetzt frage ich mich und vor allem Sie und die Grünen, was Sie denn dagegen haben, diesem Willen der Völker nach Frieden und Sicherheit zu entsprechen.
Ich frage Sie auch, was Sie dagegen haben, daß NATO-Soldaten im ehemaligen Jugoslawien unter Einsatz ihres Lebens dazu beitragen, daß der Frieden gesichert wird. Ich kann daran nichts Schlechtes erkennen. Im Gegenteil, ich freue mich darüber, daß der Frieden derzeit auf diesem Wege gesichert wird.
Deshalb meine zentrale Frage: Wie stehen Sie zur NATO? Wollen Sie sie weiter abschaffen, oder was haben Sie eigentlich vor?
Zur Beantwortung bitte, Herr Volmer.
Herr Kollege, hätten Sie grüne Programme jemals wirklich gelesen, wüßten Sie, daß wir weder aus der NATO austreten noch sie abschaffen wollen.
- Lesen Sie genau nach.
Wir wollen seit Beginn der 90er Jahre eines, nämlich die Chancen, die das Ende des kalten Krieges bietet, nutzen, um zu einer wirklich transatlantischen, euroatlantischen Sicherheitspartnerschaft zu kommen, die alle ehemaligen Feindstaaten des kalten Krieges einbezieht und Rußland nicht ausschließt.
Wir glauben, daß es nur dann eine neue Sicherheitsarchitektur geben kann, wenn man den schwierigsten Fall als erstes ins Auge faßt, nämlich inwieweit Rußland in eine solche Struktur integriert werden kann.
Die NATO-Osterweiterung geht den anderen Weg. Ein Teil der Befürworter suggeriert, es könne nach den drei Aufnahmen weitere geben. Ein anderer Teil derer, die diese drei Aufnahmen befürworten, ist der Meinung, es solle keine weiteren Aufnahmen mehr geben. Wir sind wegen der Schwierigkeit des zweiten Schrittes der Auffassung, daß schon der erste Schritt falsch ist, weil er in eine Sackgasse führt.
Warum hat der Westen 1990 und 1991 nicht die Aufforderung Polens und der Tschechoslowakei ernst genommen, die OSZE zum alles überwölbenden sicherheitspolitischen Instrument zu machen, die NATO einzugliedern und die Sicherheitspolitik insgesamt weg von der Fixierung auf den militärischen Zweck als erweiterte Sicherheitspolitik zu definieren, die demokratische, soziale und ökologische Faktoren ins Zentrum rückt? Eine moderne Friedenspolitik geht von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus. Dies kann die NATO nicht realisieren, weil sie aller Rhetorik zum Trotz im Kern nichts anderes ist und bleiben wird als ein Militärbündnis.
Wenn man eine andere Sicherheitspolitik will, muß man - an der NATO vorbei - andere Institutionen stärken. Faktisch läuft es im Moment aber so, daß sich die NATO zum Nukleus macht. Der Außenminister hat gerade bestätigt, daß er dies so möchte. Wir sagen: Damit werden mehr Chancen verspielt, als gewonnen werden. Als Opposition fühlen wir uns in der Pflicht, auf diese Fehlentwicklung hinzuweisen.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Gysi, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich bitte ganz kurz folgendes Szenario vor: Im Juli 1990 reist Bundeskanzler Kohl in den Kaukasus zum Präsidenten der damaligen Sowjetunion, Michail Gorbatschow, um mit ihm über die Bedingungen einer Zustimmung zur deutschen Einheit zu verhandeln. Einer der strittigsten Punkte war, ob ein Gesamtdeutschland Mitglied der NATO und das Territorium der damaligen DDR sofort voll in die NATO-Strukturen eingebunden werden kann - übrigens eine Bedingung der USA für deren Zustimmung zur deutschen Einheit.
Andrea Gysi
Gorbatschow erklärt dem Kanzler, daß er zustimmen könne, wenn erstens die Grenzen Deutschlands ein für allemal festgelegt seien, zweitens die ABC- Waffenfreiheit Deutschlands garantiert bleibe und drittens im Gebiet der ehemaligen DDR so lange keine NATO-Truppen stationiert werden, wie sich dort sowjetische Truppen aufhalten.
Daraufhin erklärt der Bundeskanzler, daß er die einzelnen Bedingungen von Gorbatschow zwar ganz in Ordnung finde, daß aber auch klar sei, daß sich die NATO gen Osten ausdehne, osteuropäische Staaten im Falle ihres Beitrittswunsches aufgenommen werden, dabei auch die baltischen Staaten einbezogen werden, die nukleare Erstschlagsdoktrin aufrechterhalten bleibe und die Abrüstung durch den KSE-Vertrag über lang oder kurz aufgegeben und ein Selbstverständnis der NATO als weltweit zuständiges Interventionsinstrument entwickelt werde.
Ich frage Sie erstens: Wie wäre wohl die Antwort ausgefallen? Zweitens. Haben nicht auch Sie den Eindruck, daß in dieser Geschichte irgend etwas ein bißchen unfair gelaufen ist?
Natürlich, die Geschwindigkeit, mit der der Zusammenbruch der Sowjetunion, des Warschauer Vertrages und des gesamten realsozialistischen Blocks folgte, hat 1990 wohl niemand absehen können. Das Szenario macht aber deutlich, mit welcher kalten Zielstrebigkeit die Lage der Sowjetunion und dann Rußlands genutzt wurde, um den NATO-Staaten und der NATO ganz objektiv einen gigantischen Machtzuwachs zu organisieren, und daß es an einer gewissen Fairneß in der Beziehung zwischen NATO und Rußland fehlt, weshalb Sie argumentieren können, soviel Sie wollen: In Rußland bleibt das Gefühl des Untergebuttertseins bestehen.
Wenn hier heute die NATO-Osterweiterung gefeiert wird und wenn man, Karsten Voigt, in vorauseilendem Gehorsam - und nicht, weil man sich gegenüber den USA als besonders selbstbewußt behaupten will - ganz schnell ratifizieren will, dann sollten Sie dabei nicht aus dem Auge verlieren, welche Risiken damit in Kauf genommen werden.
Erstens. Die NATO-Rußland-Grundakte ist mühsam ausgehandelte Voraussetzung für die NATO- Osterweiterung gewesen. Sie ist völkerrechtlich unverbindlich geblieben, was sich in einem Punkt, den ich gleich ansprechen werde, für die NATO-Seite als ganz nützlich erweist. Ausgeblieben ist, die Doktrin eines nuklearen Erstschlags abzuschaffen. Ausgeblieben ist auch, eine verbindliche Erklärung darüber abzugeben, die Stationierung von Atomwaffen auf den Territorien der Beitrittsländer in der Zukunft ein für allemal zu unterlassen.
Zweitens. Konstitutives Element der Grundakte ist die Anpassung des KSE-Vertrages an die neue Lage. Wer in den letzten Tagen die Presseberichte gelesen hat, wird festgestellt haben: Die Verhandlungen sind nicht nur blockiert, sondern die USA schlagen Aufrüstung - nicht Abrüstung - vor und torpedieren somit die Fortsetzung dieser Verhandlungen.
Vorschläge, nach denen die Obergrenzen überschritten werden können, bedeuten das Ende dieser Verhandlungen, wenn sie übernommen oder zum Gegenstand dieser Verhandlungen werden, Deshalb ist es aus Sicht der NATO sehr schlau gewesen, diese Grundakte unverbindlich zu lassen. Man kann das eine oder andere im nachhinein nämlich ganz anders machen, als man es gegenüber Rußland feierlich versprochen hat.
Wir dürfen gespannt sein, wie die Bundesregierung auf die US-Vorschläge reagiert. Wenn man sich ansieht, wie Kanzler Kohl auf der sicherheitspolitischen Tagung Vasallentreue gegenüber den USA geschworen hat, wo er - übrigens verfassungswidrig - Militärbasen angeboten hat, dann muß man sagen: Es ist nur Schlimmes zu befürchten.
Drittens, zwar war nach den Worten des NATO-Generalsekretärs das Verhältnis zu Rußland nie so gut wie jetzt, aber wir werden beobachten müssen, wie sich beispielsweise Vorschläge bei den KSE-Verhandlungen auf dieses Verhältnis auswirken. Wer kann eigentlich garantieren, daß die neuen Erweiterungsrunden, die Vorschläge bezüglich der baltischen Staaten, nicht genau diese Kooperation komplett aufs Spiel setzen? Wer kann eigentlich garantieren, daß in Rußland Verhältnisse ausbleiben, in denen dieser Zangengriff der NATO nicht mehr hingenommen wird?
Viertens. Möglicherweise wird mir vorgeworfen, ich sähe das zu pessimistisch. Ich werfe der Bundesregierung vor, daß sie zweckoptimistisch redet und eiskalt interessengeleitet handelt. Wie oft haben wir uns hier Reden des Außenministers anhören dürfen, in denen er das Prinzip „KSZE first" hochhielt, während er mit seinen Kollegen das Prinzip „NATO first" umsetzte. Mittlerweile bezeichnet er die Stärkung der OSZE als dritte Säule.
Wir nehmen zur Kenntnis, daß sich die erste Erweiterungsrunde wahrscheinlich nicht aufhalten läßt. Wir lehnen sie natürlich ab. Das Ärgerlichste an der ganzen Entwicklung ist, daß es tatsächlich eine Alternative gegeben hätte: nicht Alleingang, nicht nationale Außenpolitik, sondern eine Kooperation im Rahmen der OSZE.
Es ist übrigens nicht so, wie es wieder einmal behauptet wurde, daß Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei damals keine andere Idee gehabt hätten, als in die NATO hineinzustürmen. Vielmehr waren es genau diese Länder, die gefordert haben, die OSZE zur Grundlage für eine europäische Sicherheitsarchitektur zu machen. Das ist abgelehnt worden. Deshalb stellt sich für diese Länder natürlich die Frage, wie sie damit weiter umgehen wollen.
Andrea Gysi
Die Diskussion mit diesen Ländern darf nicht unterbleiben. Wir respektieren selbstverständlich deren Wunsch nach Beitritt in die NATO, aber deshalb muß man - das habe ich schon einmal gesagt - den Kopf nicht an der Garderobe abgeben, sondern man muß offen und deutlich mit ihnen über die Risiken dieser Entwicklungen diskutieren können, was Sie jedesmal verweigern wollen.
Wenn Sie schon aus logischen Gründen unserem Antrag zur OSZE nicht zustimmen können, dann setzen Sie sich wenigstens für eine atomwaffenfreie Zone in Mittel- und Osteuropa ein. Bei dieser Thematik sind Sie - das hoffe ich zumindest - im Moment immer noch bei den schönen Reden denn beim eiskalten Umsetzen gegenteiliger Planungen.
Ich danke Ihnen.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich darum bitten, daß sich alle Abgeordneten hinsetzen.
- Kritik am Präsidenten ist nicht zulässig.
Ich erteile dem Abgeordneten Günter Verheugen, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das kurze Geplänkel mit dem Versuch, doch noch ein wenig innenpolitisches Kapital aus der Sache zu schlagen, hat eine gewisse Bedeutung: Es gibt die Möglichkeit, deutlich zu machen, was Kontinuität und Berechenbarkeit der deutschen Außenpolitik bedeuten. Ich glaube, das sollte niemand unterschätzen. Ich sage das vor allem Herrn Volmer.
Unsere Partner und Nachbarn wollen von uns, auch von Ihnen, wissen, welchen Weg Deutschland in den nächsten Jahrzehnten - Jahrzehnten, wohlgemerkt - gehen wird.
Hier und heute haben wir die Möglichkeit, eine Antwort zu geben, die nicht nur für uns, sondern vor allen Dingen für all diejenigen, die mit uns zusammen in Europa leben, wichtig ist.
Vergessen Sie bitte eines nicht - das wundert mich bei Ihrer Argumentation -: Es mag ja sein, daß es vielleicht 1990 einen Weg gegeben hätte, um so etwas wie eine gesamteuropäische Friedensordnung in einer neuen oder in der Ausweitung einer anderen
Institution zu schaffen. Es muß Ihnen aber doch bei dieser Überlegung auffallen, daß alle unsere Partner in Europa diesen Weg für nicht gangbar gehalten haben und statt dessen einen anderen vorgezogen haben.
Eines geht nicht: Wir können nicht einerseits sagen, wir wollen endlich eine gemeinsame europäische Außenpolitik, und es ist schlimm genug, daß wir sie nicht haben, und wenn es andererseits an einem bestimmten Punkt nicht nach unserer Mütze geht, dann wollen wir keine gemeinsame europäische Außenpolitik mehr.
Noch ein Punkt, Kollege Volmer: Sie wissen ja, daß ich sehr viel Sympathien für den Gedanken der OSZE als der präventiven und Konflikte friedlich lösenden Sicherheitsorganisation für ganz Europa hege. Es gibt aber einen zentralen Unterschied zwischen der OSZE und der NATO: Die OSZE ist auf dem Konsensprinzip aufgebaut. Sie ist eine Organisation, die nur dann handeln kann, wenn sie einen Konsens von Malta bis Tadschikistan hat. In wirklich schwierigen Fragen wird sie diesen Konsens nicht erreichen, das heißt, die OSZE kann nicht der Ersatz für ein wirklich handlungsfähiges Sicherheitssystem in dem Augenblick sein, wenn es darauf ankommt. Zur Zeit haben wir Gott sei Dank eine solche Situation nicht, aber sie kann doch eintreten.
Deshalb bitte ich Sie, nicht zu ironisieren, wenn im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Osterweiterung der NATO von der historischen Dimension gesprochen wird. Es lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte unseres Jahrhunderts: Sie werden feststellen, daß der größte Teil unserer Nachbarn in diesem Jahrhundert von Deutschland überfallen oder besetzt worden ist, und was es ausmacht, wenn wir jetzt mit allen unseren Nachbarn - ich bitte die Schweizer und die Österreicher um Verzeihung, wenn ich sie ein wenig einbeziehe, wo sie formal nicht einbezogen gehören -, wenn wir mit all unseren westlichen und östlichen Nachbarn und Dänemark in einem Bündnis sind. Sie werden erkennen, was das für die langfristige Sicherung des Friedens in der Mitte Europas bedeutet, wenn Sie sich die historischen Dimensionen ansehen.
Es gibt aber auch ganz unmittelbare, nicht langfristige Wirkungen, die sich aus der Ratifizierung der NATO-Erweiterung ergeben. Der Sicherheitsrahmen für die Transformationsprozesse in den früheren Warschauer-Pakt-Staaten wird stabil. Ich sage Ihnen: Die NATO-Osterweiterung garantiert den Erfolg der demokratischen Transformation in den beitretenden Ländern noch nicht, obwohl ich nicht die geringsten Zweifel habe, daß sowohl Polen als auch Ungarn als
Günter Verheugen
auch die Tschechische Republik am Ende erfolgreich sein werden. Die NATO allein garantiert es nicht. Aber sie schafft einen Sicherheitsrahmen, innerhalb dessen die notwendigen ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse erfolgreich verlaufen können.
Die Mitgliedschaft in der NATO oder der Wunsch, Mitglied in der NATO zu werden, beeinflußt schon heute das Verhalten dieser Staaten gegenüber ihren Nachbarn. Es ist interessant zu sehen, wieviel Nachbarschaftskonflikte innerhalb Europas in den letzten Jahren gelöst werden konnten, auch so extrem schwierige Nachbarschaftskonflikte wie etwa der zwischen Rumänien und Ungarn. Wir sollten nicht unterschätzen, was das bedeutet.
Aus deutscher Sicht kommt noch eines hinzu: Selbst wenn man Probleme, die mit der NATO-Osterweiterung verbunden sind und die niemand leugnet, höher einschätzt, als ich es jetzt tue, darf man doch eines nicht vergessen: Was wollten denn eigentlich unsere Nachbarn? Was wollten denn eigentlich die Polen, die Tschechen und die Ungarn und einige andere mehr? Wollten sie warten, bis wir vielleicht dieses schöne gesamteuropäische Sicherheitssystem haben, oder wollten sie ein deutliches Zeichen, daß sie dazugehören? Wollten sie ein deutliches Signal, wohin ihre langfristige Orientierung geht? Wollten sie vor allen Dingen die Gewißheit, daß sie in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien akzeptiert sind?
Ich glaube, es war wichtig für diese Länder, daß ihnen dieses Zeichen gegeben wurde. Wir konnten sie nicht gut auf irgend etwas in der Zukunft vertrösten. Es ist gut, daß die europäischen Integrationsprozesse gleichzeitig verlaufen, wenngleich wir wissen, daß die zeitliche Synchronisation nicht möglich ist. Der EU-Erweiterungsprozeß ist komplizierter und wird mehr Zeit in Anspruch nehmen.
Ich will auf etwas hinweisen, das mehr ist als ein Schönheitsfehler und in der heutigen Debatte noch nicht vorgekommen ist. Ursprünglich waren es vier mitteleuropäische Staaten, die als Visegrad-Gruppe in die NATO eintreten wollten. Einen davon haben wir unterwegs verloren. Das ist die Slowakei. Man sollte hier doch einmal ein Wort zur Slowakei sagen.
Wir können nicht glücklich darüber sein, daß dieses Land in der Mitte Europas - das ist es - aus beiden großen Integrationsprozessen, die wir zur Zeit haben, ausgeschlossen ist. Es ist weder ein erkennbarer Kandidat für die NATO-Mitgliedschaft noch ein erkennbarer Kandidat für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
- Das weiß ich doch. Ich sage es auch gleich, Herr Irmer.
Der Grund liegt nicht darin, daß wir etwa die Slowakei nicht als einen solchen Partner wünschen wie
Polen, Ungarn und die Tschechische Republik, sondern der Grund liegt darin, daß die Innenpolitik der Slowakei - das hat Auswirkungen auf ihre Außenpolitik - dazu geführt hat, daß sie die Standards und die Bedingungen nicht erfüllt. Das festzustellen reicht aber nicht. Man muß sich schon einmal Gedanken darüber machen, welche Chancen wir haben, die Slowakei in die Integrationsprozesse einzubeziehen.
Ich sehe einen einzigen Weg und möchte alle Kolleginnen und Kollegen dazu aufrufen, daran mitzuwirken. Wir haben in Ländern, in denen der Transformationsprozeß langsamer verläuft als in anderen und erschwert ist, nur eine Chance, nämlich die, die demokratischen Potentiale in diesen Ländern zu stärken, mit ihnen zusammenzuarbeiten, sie zu ermutigen und mit einem gewissen langen Atem dafür zu sorgen, daß sie die Verhältnisse in ihren Ländern aus eigener Kraft ändern können.
Die Slowakei wird eines Tages dazugehören. Es liegt an ihr selbst. Aber wir müssen den Menschen in der Slowakei sagen, daß sie nicht deshalb ausgeschlossen sind, weil irgend jemand die Slowakei nicht will, sondern weil sie eine Regierung haben, die eine europaunverträgliche Politik betreibt.
Letzter Punkt. Der Außenminister und mein Kollege Karsten Voigt haben schon darauf hingewiesen: Es handelt sich um einen offenen Prozeß. In der Tat wäre das, was wir heute tun wollen, nicht zu begründen, wenn es eine exklusive Veranstaltung für drei Staaten wäre. Wenn wir die Sicherheitsbedürfnisse dieser Staaten akzeptieren, warum dann nicht die anderer Staaten? Wenn wir sagen, daß die demokratische Transformation honoriert werden muß und soll, dann gilt dies natürlich nicht nur in drei Fällen. Darum ist es so wichtig, daß die Offenheit des Prozesses nicht ein Schlagwort ist, sondern in der Politik, die wir tatsächlich betreiben, auch sichtbar wird. Wir sollten uns nicht damit begnügen, zu sagen: Eine weitere Runde wird irgendwann kommen; wann, das wissen wir natürlich nicht, und wer dabeisein wird, das wissen wir auch nicht.
Wir sollten schon sehr klar sagen: Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt den Beitrittswunsch der baltischen Staaten, die Bundesrepublik Deutschland unterstützt den Beitrittswunsch Rumäniens, die Bundesrepublik Deutschland unterstützt den Beitrittswunsch Sloweniens und will mit ihrer Politik dazu beitragen, auch durch die Zusammenarbeit mit Rußland, auch durch die Verwirklichung der Ziele der NATO-Rußland-Akte und auch dadurch, daß diese Akte mit Leben erfüllt wird, daß dem Beitrittswunsch dieser Staaten so schnell wie möglich entsprochen werden kann.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt, CDU/CSU- Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich darf gleich zu Beginn an das anschließen, was Kollege Verheugen gesagt hat. Wir sind hier mit Fragen konfrontiert, bei denen es sich schickt, demokratisch in die gleiche Richtung zu denken und zu arbeiten. Was Sie, lieber Kollege Verheugen, zur Slowakei gesagt haben, findet unsere volle Unterstützung. Wir müssen die demokratischen Kräfte stärken. Das Problem in der Slowakei hat einen Namen: Es heißt Meciar. Es kann uns überhaupt nicht zufriedenstellen, daß sich ein Land mitten in Europa selbst in eine solche Abseitsposition hineinmanövriert hat. Wir haben dort alle eine Aufgabe.
Wir sind heute dabei, der NATO eine neue Geschäftsgrundlage zu geben. Ein kleiner Blick zurück sei noch einmal erlaubt, um auch das, was Karsten Voigt angedeutet hat, mit Leben und Namen auszufüllen. Ich lese nicht alle Reden, die gehalten werden, und ich behalte auch nicht alle im Kopf, aber die großen richtungsweisenden Reden dieses Jahrzehnts muß man im Auge behalten. Das sage ich jetzt ohne Soupçon: Der Bundesverteidigungsminister hat - es ist, glaube ich, ziemlich genau sechs Jahre her - in London eine Rede gehalten, die sich schon zu einer Zeit sehr präzise mit der Frage der NATO-Erweiterung beschäftigt hat, in der sie auch hier noch nicht ganz unumstritten gewesen ist. Ich bin sehr froh, daß Volker Rühe hier einen Schritt nach vorne getan hat. Ich stehe nicht an zu sagen, daß mit der Zeit immer mehr gefolgt sind. Die Bundesregierung vertrat dabei jedenfalls von Anfang an eine einheitliche Linie. Ich möchte ausdrücklich auch Außenminister Kinkel in den Dank mit einbeziehen.
Ich bin überzeugt davon, daß in den anstehenden Beratungen der Bundestag das Beitrittsprotokoll mit großer Mehrheit ratifizieren wird. Karsten Voigt hat es angedeutet; ich muß heute mehrfach auf ihn Bezug nehmen, ausgenommen seine eigenartigen Versuche, eine nicht Realität werdende Koalition zu schmieden, die völlig divergent ist.
Er hat von einer Mehrheit von 90 Prozent, die er erwartet, gesprochen. Ich teile diese Erwartung. Ich kann bei dieser Gelegenheit aber nur hoffen, daß andere Parlamente von Mitgliedstaaten ihren Ratifizierungsbeschluß nicht mit Einschränkungen für die Zukunft versehen.
Es ist absolut wünschenswert, daß wir nach der ersten NATO-Beitrittsrunde die Tür für die, die draußen geblieben sind, nicht zuschlagen. Wir sollten
vielmehr in allen Ländern der Allianz zwei Dinge tun:
Erstens sollten wir ein klares Bekenntnis zur gemeinsamen Verantwortung, die durch die Mitgliedschaft in der NATO übernommen wird, abgeben, verbunden mit der Bereitschaft zu einer vernünftigen Lastenteilung diesseits und jenseits des Atlantiks.
Zweitens sollten wir die klare Botschaft an diejenigen Beitrittsbewerber richten, die in der ersten Runde nicht zum Zuge kommen, daß die Tür für sie offen bleibt.
Deswegen sollten wir - ich tue das hier - insbesondere an den Kongreß der Vereinigten Staaten von Amerika, der nach uns ratifizieren wird, appellieren, den grundsätzlichen sicherheits- und stabilitätsstrategischen Ansatz der NATO-Erweiterung nicht auszuhöhlen und nicht Tendenzen nachzugeben, nach der ersten Beitrittsrunde weitere Wünsche grundsätzlich auszuschließen oder auch nur faktisch zu erschweren.
Andererseits muß aber auch in den Beitrittsstaaten deutlich werden, daß es sich bei der NATO nicht um ein militärisches Defensivbündnis handelt, sondern um ein Sicherheitsbündnis. Selbstverständlich bleiben die Fragen des Einsatzes militärischer Mittel im Rahmen der Krisenbewältigung und auch der Bündnisverteidigung wesentliches Element. Sie ist kein Militärbündnis, aber diese Fragen bleiben ein wesentliches Element. Das ist aber nicht alles. Die Solidarität der NATO lebt vom Nehmen und Geben. Wer der NATO beitritt, muß wissen, daß dafür auch die Bereitschaft abverlangt wird, den demokratischen Wertekanon und den Komment innerhalb der NATO für sich anzuerkennen.
Auf diesem Weg - das ist bereits gesagt worden - hat es erhebliche Fortschritte und erstaunliche Erfolge bereits vor dem Vollzug der Erweiterung gegeben. Ich erinnere beispielsweise an die gute Art und Weise, in der Minderheitenrechtsfragen in Polen verankert und grundsätzlich gesichert worden sind.
Nicht zuletzt im Hinblick auf die engen Kontakte zur Nordatlantischen Allianz hat sich die stabilisierende Rolle des Dialogs für die Zukunft auch der deutschen Minderheit in Polen sehr segensreich ausgewirkt. Das ist ein gutes Beispiel für das Wirken der NATO jenseits von Divisionen und Flugzeugen. Es ist auch erfreulich, daß sich in Polen und Ungarn durch die jeweiligen Referenden überzeugende Mehrheiten bei der Bevölkerung für einen NATO-Beitritt gezeigt haben, obwohl bekannt ist, daß dieser Beitritt die eigene staatliche Politik und auch die staatlichen Haushalte fordern wird.
Ich darf jedoch auch auf eines der Länder zu sprechen kommen, das nicht nur mir in dieser Hinsicht Sorge bereitet. Mit Unverständnis und Überraschung hört man manche Töne, die in der politischen Debatte Tschechiens angeschlagen werden. Ich werde den Verdacht nichtlos, daß einige politische Kräfte in Prag kurzfristige wahltaktische Vorteile vor die mit-
Christian Schmidt
tel- und langfristige Zukunftsperspektive ihres Landes stellen.
Die Bürger Tschechiens sollten sich dadurch nicht irritieren lassen. Mit der politischen Instrumentalisierung von antieuropäischen und antideutschen Reflexen läßt sich im 21. Jahrhundert kein Staat mehr machen.
Tschechischen Politikern, die eine solche Haltung zeigen, wie sie leider auch von der größten Oppositionspartei in Prag, den Sozialdemokraten, demonstriert wird,
muß klar sein, daß sie ihrem Land damit den Weg in die europäische Integration und in die NATO erschweren. Diese Sorge gibt es übrigens auch in anderen Hauptstädten der Allianz. Wer beispielsweise in der „New York Times" von gestern den Artikel von Herrn Friedman gelesen oder gehört hat, was am Wochenende am Rande der Wehrkundetagung in München von amerikanischen Politikern gesagt worden ist, der merkt, daß es hier ein Problem gibt. Auch das, was in den letzten Wochen an äußerst unerfreulichen Tönen im Hinblick auf die deutsch-tschechischen Beziehungen aus Prag zu hören war, macht diesen Prozeß nicht leichter.
Deswegen ist mein ernsthafter und dringender Appell an die politisch Verantwortlichen im NATO-Beitrittsland Tschechien, nicht wegen einer vermeintlich populären rückwärtsgewandten Politik und der Aussicht auf einen Wahlerfolg die Zukunft ihres Landes aufs Spiel zu setzen.
Das Jahr 1968 und die Charta 77 waren doch Signale für den Weg zu den freien Ländern dieser Welt. Wir wissen, daß es in Tschechien, beginnend mit dem Präsidenten, sehr viele gibt, die diesen Weg vollenden wollen.
Die NATO- und insbesondere die EU-Mitgliedschaft verlangen offenen und fairen Umgang miteinander. Da kommt natürlich auch die Frage der Entschlackung der nationalen Rechtsordnung von menschenrechtswidrigen Dekreten wieder auf, und es bleibt Aufgabe unseres Dialogs mit dem zukünftigen NATO-Partner, dies zu erreichen. Bei den beginnenden Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union werden ebenfalls solche Fragen gestellt werden. Das sollten alle wissen.
Der Weg ist klar, die Richtung ist auch klar. Es ist nur kein Weg, der zum Nulltarif zu haben ist, sondern es erfordert Anstrengungen von allen Seiten. Ich hoffe, daß wir mit dem Beitritt den Weg für einen vernünftigen Dialog und für ein vernünftiges Miteinander in Europa und im Nordatlantischen Bündnis eröffnen und daß in den Jahren darauf die Europäische Union ihren Beitrag auf ihre Art und Weise leisten kann. Wir werden aber das, was ich gesagt habe, dabei immer im Auge behalten.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor sich Karsten Voigt und Karl-Heinz Hornhues aufgefordert fühlen, hier die Bedingungen einer klaren Europapolitik für ein mögliches Regierungshandeln der Grünen zu definieren, wäre es vielleicht sinnvoll, sich klarzumachen, daß es zwei sehr eigenständige Traditionen bei den Grünen gibt.
Die eine besteht darin, daß sie ihre Konflikte und ihre Diskussionen - auch hier - offenlegen. Die zweite besteht darin, da es eine sehr eigenständige Tradition grüner Ostpolitik gibt, die aus dem Friedensmanifest 1981 herrührt, in dem der entscheidende Satz heißt: Wir sind nicht loyal zu Regierungen, wir sind aber loyal zu Bewegungen. Wenn Sie sich darüber wundern, daß Grüne keine Probleme damit haben, von Geremek, von Onyszkiewicz, von Dienstbier und von anderen auf das allerherzlichste begrüßt zu werden, dann hat das damit zu tun, daß ich zwar viele Grüne in den 80er Jahren auf Untergrundkongressen der dortigen Friedensbewegung gesehen habe, aber sehr wenige von Ihnen - auch wenn ich vielleicht den einen oder anderen ausnehmen müßte. Im Prinzip war es so.
Ich möchte jetzt zur Sache kommen und von der anderen Tradition sprechen. Viele werden mit mir darin übereinstimmen, daß es wünschenswert gewesen wäre, nach 1989 die OSZE so zu stärken und auszubauen, daß eine Friedensarchitektur Europas allein auf diesem Fundament hätte errichtet werden können. Viele, zumindest auf der linken Seite des Hauses, werden mit mir die Bundesregierung darin kritisieren, daß sie zu wenig getan hat, um diesen Ausbau voranzubringen.
Nur: Dies ist keine Antwort auf die Sicherheitsbedürfnisse derer, die jetzt den Beitritt zur NATO begehren. Mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion werde ich deshalb diesem Begehren zustimmen.
Denn wir wissen erstens, daß wir die Sicherheitsbedürfnisse unserer Nachbarn nicht mit deutscher Ar-
Dr. Helmut Lippelt
roganz bevormunden dürfen; zweitens, daß wir unsere Beziehungen zu Rußland erst dann unbelastet ausbauen und vertiefen können, wenn niemand in Polen, Tschechien und in Ungarn befürchten muß, dies geschehe auf Kosten seiner Sicherheit.
Polen und andere Länder Mittel- und Osteuropas wollen aus der Lage zwischen den ehemaligen Großmächten Rußland und Deutschland heraus, die ihnen über Jahrhunderte hinweg Zerstörung und Teilung gebracht hat. Sie wollen sich in Europa fest verorten. Dem stimmen wir zu und sagen, daß es in Zukunft auch nicht im entferntesten mehr den Anschein einer erneuerten Rapallo-Politik geben darf.
Jetzt spreche ich wieder für die gesamte Fraktion. Daraus folgt dreierlei - das hören Sie nicht so gern -:
Erstens. Die NATO-Osterweiterung mit der klaren Perspektive nicht nur der Assoziation - hören Sie gut zu, Karsten Voigt! -, sondern auch des Beitritts eines demokratischen Rußlands, wenn es denn als ein demokratischer Staat gefestigt ist, muß ein offener Prozeß sein. Die NATO bedarf zu ihrer Raison d'être keines Außenfeindes mehr und ist mit der NATO-Rußland-Grundakte längst auf dem Wege - da werden Sie zuhören müssen - vom Militärbündnis zum kollektiven Sicherheitspakt; dies ist ein Weg, den wir ausdrücklich begrüßen.
Zweitens. Die Osterweiterung bedeutet in militärischen Termini den Übertritt von zirka einer halben Million Soldaten aus dem ehemaligen - so definierten - Vertragsgebiet Ost in die festen Strukturen der NATO. Das bedeutet aber auch, daß die Erweiterung eine einschneidende Abrüstungs- und Reduzierungsrunde ermöglicht. Wer, wenn nicht Deutschland - jetzt nur noch von Freunden und alliierten Armeen umgeben -, muß damit den Anfang machen? Das geht über zehn Prozent weit hinaus.
Wir kritisieren ausdrücklich, daß die Bundesregierung in der mit wenig Transparenz geführten KSE- Anpassungsrunde die bisherigen Anteilshöchstgrenzen erst in nationale Obergrenzen und dann in regionale Obergrenzen für eine imaginäre Rundumverteidigung umdefiniert hat.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Vielen Dank; ich komme zum letzten Satz.
Wir kritisieren, daß sie damit den Status quo zu legitimieren versucht.
Drittens. Nach der Errichtung und den international vertraglich festgeschriebenen atomwaffenfreien Zonen in Lateinamerika, im Südpazifik, in Südostasien und in Afrika ist es jetzt in der Tat an der Zeit, eine solche auch für Mittelosteuropa zu errichten, zu der dann auch Deutschland gehören muß. Selbst wenn die PDS einmal nicht mehr hier sein sollte, was wir ja nicht wünschen wollen,
werden wir diese gemeinsame Forderung immer weiter vertreten.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war ja außerordentlich gespannt darauf, wie sich Bündnis 90/Die Grünen hier heute präsentieren würden. Sie haben erst einmal die für Ihre Fraktion zur Verfügung stehende Redezeit auf zwei Sprecher aufgeteilt: Herr Volmer hatte fünf Minuten, Herr Lippelt hatte vier Minuten. Herr Volmer ist dagegen; Herr Lippelt ist dafür. Vielleicht spiegelt sich darin schon das Abstimmungsverhalten dieser Fraktion wider.
Die Frage von Herrn Thiele von vorhin ist ja nicht beantwortet worden. Herr Volmer, Sie haben gesagt: Nein, nein; wir wollen die NATO nicht auflösen. Ich habe mir einen Zettel mitgenommen mit dem zweiten Entwurf des Programms zur Bundestagswahl 1998 von Bündnis 90/Die Grünen. Er ist datiert: 12. Dezember 1997; das ist auf den Tag zwei Monate her. Sie können natürlich sagen, daß Sie das noch ein paarmal ändern werden. Das erwarten wir auch. Dort steht - ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin -: Die langfristig angelegte antimilitaristische Strategie von Bündnis 90/Die Grünen zielt darauf ab, Militärbündnisse und nationale Armeen in eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung aufzulösen.
Sie muß auch die NATO ablösen und bietet die Voraussetzung für umfassende Abrüstung.
Meine Damen und Herren, klarer geht es ja nicht. Das heißt, egal was Herr Lippelt hier gesagt hat, der gnädig noch drei Länder in die NATO aufnehmen will - die Bündnisgrünen wollen die NATO und, wie ich hier lese, auch die nationalen Armeen auflösen. Also stimmt es: Auch die Bundeswehr soll verschwinden.
Wenn ich mir die Kollegen betrachte und mir anschaue, wo sie herkommen, dann kommt mir folgendes in den Sinn: Der Kollege Poppe beispielsweise hat zu denen gehört, die in der DDR Dissidenten gewesen sind und die gegen das kommunistische Gewaltregime aufgetreten sind. Er tritt heute dafür ein, daß man den mittel- und osteuropäischen Nachbarn
Ulrich Irmer
den Wunsch erfüllt - den äußern sie selbst -, Mitglied der NATO zu werden. Kollege Poppe weiß genau, wovon er redet, und er weiß genau, wovon die Länder reden, die in die NATO und in die EU auf genommen werden wollen.
Generalsekretär Solana hat letzte Woche auf die Frage, warum denn eigentlich neue Länder in die NATO hineinwollen, die Antwort gegeben: Das ist ganz einfach; aus denselben Gründen, weshalb die Länder, die drinnen sind, nicht aus der NATO herauswollen. - Das ist in der Tat eine ganz verblüffende Erkenntnis.
Uns hat die NATO über 40 Jahre hinweg Sicherheit und Frieden garantiert. Wir möchten das nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Alles, was ich hier in bezug auf die Friedensbereitschaft Rußlands höre, höre ich sehr gern; alles, was ich darüber höre, daß man mit dem überwölbenden System der OSZE die Sicherheit garantieren könne, klingt sehr schön. Nur: Es ist Zukunftsmusik. Ich möchte den Bürgern heute, im Jahre 1998, in Deutschland und in Europa - und zwar in Westeuropa wie auch in Osteuropa - nicht sagen: Verlaßt euch darauf, daß diese Träume eines Tages wahr werden. Ich möchte, daß es so bleibt, wie es in der Vergangenheit war. Ich möchte friedensbereit sein und mit jedem über Konflikte sprechen und verhandeln. Ich bin dafür, daß wir über die OSZE, die wir stärken wollen, Konfliktmanagement und Konfliktprävention betreiben.
Aber ich sage gleichzeitig: Es wäre ein bodenloser Leichtsinn, wenn man die Bereitschaft, sich notfalls auch zu verteidigen, nicht aufrechterhalten würde. Das haben die Länder, die jetzt beitreten wollen, klar erkannt, und dem sind auch wir verpflichtet.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Volmer?
Ich gestatte sehr gern eine Zwischenfrage.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, die Idee eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems mit einem friedlichen Rußland sei eine Utopie, sei ein Traum. Würden Sie dem Bundeskanzler zustimmen, der nach der Luxemburger EU-Tagung über die Perspektive von Außenpolitik wörtlich sagte: Für die Außenpolitik gilt, daß die Utopisten die wahren Realisten sind?
Vielen Dank, Herr Kollege Volmer, für diese Vorlage. Selbstverständlich stehe ich wie eh und je fest hinter meinem Bundeskanzler und dem, was er immer sagt. Das ist überhaupt keine Frage.
Er hat sich gemeinsam mit unserem Außenminister Klaus Kinkel beharrlich dafür eingesetzt, daß wir nicht denjenigen den Stuhl vor die Tür setzen, die zu uns wollen, weil sie ein Sicherheitsbedürfnis haben. Ich erinnere daran, daß Klaus Kinkel 1992- da war er kaum ein paar Monate Außenminister - auf einem außenpolitischen Kongreß meiner Partei hier in Bonn ganz klar gesagt hat: Wir wollen die Aufnahme der Länder, die diese selbst anstreben, in die EU und in die NATO, und zwar möglichst vor Ende dieses Jahrhunderts. Das war von Anfang an unsere Politik. Wir sind jetzt im ersten Schritt erfolgreich gewesen.
Lassen Sie mich noch etwas zur Utopie sagen. Selbstverständlich muß und darf man Utopien haben. Man sollte sie auch haben. Auch ich pflege sie. Aber ich darf über den Utopien nicht die harten Realitäten vergessen. Ich darf vor allem nicht, weil ich eine eigene Utopie pflege, anderen, die realistischer sind, sagen: Das, was ihr verfolgt, ist falsch.
Was Sie hier an den Tag legen, Herr Volmer, ist eine unglaubliche Arroganz. Sie sagen, die Tschechen, die Ungarn und die Polen wollen zwar zu uns und die Bulgaren, die Rumänen, die Balten und die Slowenen auch, aber wir wissen das besser. Wir haben nun einmal diese Tradition, den zweiten Strang unserer Parteigeschichte, und daher wissen wir, daß das alles nicht in Frage kommt und daß das ein Irrweg ist.
Herr Volmer, wer sind Sie denn, daß Sie den Leuten sagen: Ihr irrt euch; das ist alles falsch, was ihr sagt? Wissen Sie, was Sie sind? - Sie sind Schwärmer, Träumer, Utopist und lassen jede Realität vermissen. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wäre der NATO-Doppelbeschluß damals nicht in die Tat umgesetzt worden. Ich behaupte hier einfach: Dann hätten wir noch heute den kalten Krieg und das Blockdenken,
und dann läge der heutige Tag, an dem wir uns über die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO unterhalten, noch in weiter Ferne.
Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen, daß dies selbstverständlich nur die erste Runde sein kann. Die Bundesregierung muß hier mit Rücksicht auf andere größere Zurückhaltung üben. Wir haben als Abgeordnete eine größere Freiheit, uns ganz klar zu äußern. Ich habe es für falsch gehalten, daß man Slowenien und Rumänien nicht in die erste Runde der Öffnung mit einbezogen hat. Ich habe das eigenartige Argument gehört, daß man Slowenien nicht aufgenommen habe, liege daran, daß es ein Teil des ehemaligen Jugoslawien sei.
- Das wollte ich gerade sagen, Herr Kollege Verheugen. Erfreulicherweise haben wir heute eine überraschende, geradezu verblüffende Übereinstimmung.
Man kann doch dem Lande Slowenien, das bereits einen überaus erfolgreichen und konstruktiven Weg hinter sich hat und weiter geht, nicht vorwerfen, daß es früher zu Jugoslawien gehört hat und deshalb für
Ulrich Irmer
uns nicht in Frage kommt. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade durch eine größere Anerkennung der slowenischen Bemühungen könnte man hier auch für andere in diesem Gebiet ein Zeichen setzen,
nämlich daß es sich lohnt, sich gesittet, zivilisiert, demokratisch und den Menschenrechten verpflichtet zu verhalten. Manche in der Nachbarschaft hätten das Zeichen weiß Gott bitter nötig. Sie sollten sich an Slowenien ein Beispiel nehmen.
Die baltischen Staaten sind einstweilen nicht dabei. Ich stimme all denen zu, die gesagt haben: Auch die baltischen Staaten müssen diese Chance haben. Ich will noch einmal betonen, weshalb wir es immer vorgezogen haben, nicht von einer Erweiterung der NATO zu sprechen, sondern von einer Öffnung. Ich sehe zwar, daß die NATO nur gewinnen kann, wenn diese Länder hinzukommen, weil die NATO nicht nur eine militärische Organisation ist, sondern auch für Werte steht. Eine solche Wertordnung wäre, auch als europäische Wertordnung, unvollständig, wenn sie sich auf den Club der bisherigen Mitglieder beschränken würde. Sie wird erst dadurch vollständig, daß Europa Gesamteuropa wird.
Deshalb sage ich noch einmal: Ich rede nicht von einer Erweiterung der NATO, bis heute nicht. Die NATO hätte, so wünschenswert die Beitritte sind, auch ohne diese Vergrößerung weiterleben und ihre Aufgabe sinnvoll erfüllen können.
Es geht doch in erster Linie darum: In der Charta von Paris, die von der damaligen KSZE beschlossen wurde und die auch von der damaligen Sowjetunion unterschrieben worden ist - Rußland ist ihr Rechtsnachfolger - wurde festgeschrieben, daß jedes Land für sich selbst das Recht hat, zu entscheiden, ob es einem Bündnis angehören will und, wenn es dies will, welchem es angehören will. Wenn diese Länder jetzt zu uns kommen und sagen: „Wir wollen in der NATO mitwirken; wir wollen zu euch gehören; wir wollen damit unsere Zugehörigkeit zu Europa und seinen Werten unterstreichen", dann ist zu fragen: Wer sind denn wir, daß wir mit der Arroganz der Grünen sagen: „Wir wollen euch nicht haben?" Diese Länder und die weiteren, die zu uns kommen wollen, sind uns herzlich willkommen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß es nicht nur purer Zufall ist, daß außer der ersten Lesung zur NATO-Osterweiterung heute auch noch ein paar Themen im Zusammenhang mit der Abrüstung auf der Tagesordnung stehen. Ich hoffe, sie sind nicht
deshalb auf die Tagesordnung gesetzt worden, weil man gedacht hat, man müsse sie irgendwann einmal hier im Plenum erledigen. Ich hoffe vielmehr, daß uns der Zusammenhang zwischen dem Thema NATO-Osterweiterung und dem Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle bewußt ist. Denn wenn Transparenz, Abrüstung und Vertrauensbildung nicht in ganz verstärktem Maße in Europa weiterentwickelt werden, dann wird das eben nicht eintreffen, was der Herr Minister hier als Ziel der Osterweiterung geschildert hat, nämlich die Stabilität in ganz Europa zu festigen und das Fundament einer neuen Sicherheitsarchitektur zu legen, das nicht zu weniger, sondern zu mehr Sicherheit führt. Deshalb ist dieser Zusammenhang wichtig.
Die internationalen Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle haben Erfolge, aber auch Rückschläge gehabt. Ich erwähne nur das Minenprotokoll und das Chemiewaffen-Übereinkommen, die erfolgreich waren. In anderen Bereichen haben wir weniger Fortschritt. Aber ich glaube, das Wichtigste - Herr Minister, auch Sie haben das erwähnt - ist die Frage des KSE-Abkommens. Dieses Abkommen ist ein Eckpfeiler der europäischen Abrüstung. Es hatte in der Vergangenheit positive rüstungskontrollpolitische Wirkungen. Das ist bei uns allen völlig unbestritten. Es hat die Gefahr strategischer Überraschungsangriffe und groß angelegter Offensivhandlungen in Europa gebannt und so wesentlich zur sicherheitspolitischen Stabilität beigetragen.
Angesichts der NATO-Osterweiterung kommt den Verhandlungen zur Anpassung des KSE-Vertrages an die veränderten sicherheitspolitischen Bedingungen besondere Bedeutung zu, um eben diese Stabilität zu bewahren. Nach der Unterzeichnung der NATO-Rußland-Grundakte haben wir alle erwartet, daß der Abrüstungsprozeß neue Impulse erhält und die Anpassung des KSE-Vertrages bis zum formalen Beitritt der neuen NATO-Mitglieder, also bis zum April 1999, abgeschlossen sein wird.
Die Vorschläge des „basic document", an deren Zustandekommen die Bundesrepublik nicht unwesentlich beteiligt war, liegen auf dem Tisch. Die beteiligten Staaten haben zum großen Teil Vorschläge zur Verringerung ihrer Obergrenzen gemacht. Das müßte eigentlich bedeuten, daß es Fortschritte gibt. Das Abrücken vom Gruppenansatz - das wurde hier in einem Beitrag problematisiert -, der ja vom Ost-West-Gegensatz geprägt war, hin zu nationalen und territorialen Obergrenzen sollte gleiche Sicherheit für alle Vertragsstaaten garantieren.
Zusammen mit der Versicherung der NATO-Staaten, keine wesentlichen permanenten Stationierungen von Fremdtruppen in den Beitrittsländern zu beabsichtigen, wäre das Ziel des KSE-Vertrages, einen Sicherheits- und Stabilitätsraum in Europa zu garantieren und jede destabilisierende Erhöhung der Zahl der Streitkräfte in den verschiedenen Regionen Europas zu verhindern, in erreichbare Nähe gerückt. Aber, meine Damen und Herren, leider haben wir im Moment die alarmierende Situation, daß der gesamte Vertrag in seiner Substanz zerstört werden kann. Auf diese Gefahr wollen wir auch in unserem Antrag,
Uta Zapf
den wir hier eingebracht haben, hinweisen. Wir müssen uns als Parlament damit beschäftigen.
Im Rahmen dieser Neuverhandlungen gibt es zwei Vorschläge: Zum einen verlangt Rußland an seiner Südflanke größtmögliche Flexibilität und einen erheblichen Anstieg der erlaubten Waffen in diesem Raum. Nachdem im Mai 1996 die vereinbarte Flankenregelung einigermaßen zufriedenstellend getroffen worden ist, bedeutet dies einen erneuten Anstieg der Konzentration konventioneller Waffen. Dies widerspricht, so meine ich, dem Geist des Vertrages.
Aber auch die USA schlagen ihrerseits vor, für Zwecke der Krisenstabilisierung zusätzlich, oberhalb der vereinbarten territorialen und nationalen Obergrenzen, eine zeitweilige Verstärkung von zwei Divisionen für jedes NATO-Land zuzulassen. So könnten im Krisenfall zum Beispiel in Polen, in Ungarn, in Tschechien, in der Bundesrepublik, in Norwegen und auch in anderen NATO-Staaten jeweils zwei zusätzliche Divisionen stationiert werden. Damit wird der Kerngedanke des Vertrages, die Stabilität, klar hinweggefegt.
Meine Damen und Herren, dies bereitet besondere Sorge, weil solche zusätzlichen Stationierungen nicht nur für NATO-Operationen zulässig sein sollen - das halte ich für einen ganz unerträglichen Punkt -, sondern auch für nationale amerikanische Operationen, die nicht mit der NATO im Zusammenhang zu stehen brauchen. Dies ist unakzeptabel.
Beide Forderungen können dazu führen, daß es bei den Anpassungsverhandlungen zu keiner Einigung kommt und der gesamte KSE-Prozeß gefährdet ist. Dies, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht zulassen; denn der KSE-Vertrag ist einer der Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsstruktur.
Ein zweiter Eckpfeiler ist unserer Auffassung nach die Organisation, die in den Diskussionen hier schon eine Rolle gespielt hat, nämlich die OSZE. Ohne eine Stärkung der OSZE ist eine künftige Sicherheitsarchitektur in Europa nicht möglich. In diesem Punkt stimmen wir, glaube ich, in diesem Hause doch weitgehend überein; denn sonst wäre es nicht zu dieser gemeinsamen Beschlußempfehlung gekommen, die heute - leider nebenbei - mit erledigt wird. Darin fordern wir eine Stärkung der Organisation der OSZE.
Ich denke, wir wissen, daß sie im Bereich der Krisenprävention, der diplomatischen Prävention von Krisen, wirklich Großartiges geleistet hat. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß sie in Bosnien eine ungeheuer wichtige Leistung vollbracht hat, die dort für die Abrüstung, aber auch für die Stabilisierung der zivilen Gesellschaft unabdingbar ist. - -
Frau Abgeordnete, die Redezeit ist längst zu Ende.
Ich bin sofort fertig. - Das heißt: Sie ist im Moment in eine neue materielle und personelle Dimension vorgestoßen.
Gerade deshalb ist es wichtig, die Vorschläge zur OSZE, die wir gemeinsam gemacht haben, zügig in die Realität umzusetzen. Ich glaube, wir alle werden uns verstärkt darum kümmern. - Es tut mir nur leid, daß der Minister sich das jetzt nicht mehr anhören wollte.
Bevor ich im Rahmen dieser Debatte dem letzten Redner das Wort erteile, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß im Anschluß eine Fülle von Abstimmungen erfolgt.
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Volmer ist der beste Beweis dafür, daß das, was Karsten Voigt hier geschildert hat - die Kontinuität, die wir nach einem Regierungswechsel zu erwarten hätten -, wirklich nicht zutreffend ist.
Mir scheint, es ist ganz deutlich geworden, daß hier ein Sicherheitsrisiko für die Politik der Bundesrepublik Deutschland, eine Art sicherheitspolitisches Garzweiler, droht, Herr Kollege Volmer.
Ich glaube, daß es sich trotz der großen Mehrheit, die wir für die NATO-Öffnung erhalten werden, lohnt, sich mit den Argumenten der Gegner der NATO-Öffnung wie denen des Kollegen Volmer auseinanderzusetzen.
Erste Frage: Ist es wirklich wahr, daß die NATO- Öffnung, also das, was wir jetzt hier diskutieren, eine Ausweitung der Militärmaschinerie, eine antirussische Allianz, wie Sie das genannt haben, nach Osten darstellt?
Wenn wir uns die Lage richtig vergegenwärtigen, stellen wir fest, daß die Idee der NATO-Erweiterung nicht bei irgendwelchen dunklen Strategen in Brüssel, Washington oder Bonn entstanden ist, sondern in den Köpfen der Leute in Tschechien, in Ungarn, in Polen und in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Die haben doch an unsere Tür geklopft. Sollen wir die Tür versperrt lassen und nicht hinhören?
Dr. Friedbert Pflüger
Ich glaube, daß es unsinnig ist, hier von einer „Expansionsstrategie" zu sprechen. Vielmehr ist es eine Strategie gegen Instabilität, gegen das Wiederaufleben von Nationalismen. Das ist etwas völlig anderes.
Ich bin stolz darauf, daß meine Fraktion und diese Bundesregierung mit als erste und mit am entschiedensten für diesen historischen Prozeß gekämpft haben.
Das ist wirklich wichtige europäische Politik gewesen.
Zweitens. Ist es wirklich richtig - was der Kollege Volmer sagt -, daß Rußland isoliert und aus Europa herausgedrängt wird und daß neue Gräben geschaffen werden?
Nein. Wir haben mit Rußland den NATO-RußlandRat vereinbart: Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten, Kooperation mit Rußland. Darüber hinaus gibt es die NATO-Rußland-Grundakte und eine gemeinsame Agenda mit Rußland. Das läuft doch: zum Beispiel auf den Gebieten Energiesicherung, Bekämpfung der Kriminalität, Bekämpfung des Terrorismus, nukleare Sicherheit, Abrüstung, Nonproliferation. Da funktioniert doch einiges; von Bosnien brauche ich jetzt gar nicht zu reden. Das hat doch nichts mit der Isolierung von Rußland zu tun. Nein, wir wollen mit Rußland diesen Prozeß gestalten, weil nur das Frieden bringt in Europa.
Aber ich füge hinzu: Dies wird um so leichter sein, je mehr Rußland die Souveränität und die Bündnisfreiheit der Länder in Mittel- und Osteuropa tatsächlich akzeptiert - stärker noch als bisher.
Drittens. Herr Volmer und die Kollegin Gysi haben hier gesagt, die erste Runde der NATO-Öffnung führe zu Diskriminierung und Enttäuschung derjenigen, die nicht dabei sind. Ich kann nur sagen: Natürlich konnte die NATO nicht alle auf einmal aufnehmen. Das hätte sie funktionsunfähig gemacht. Aber enttäuscht sind die gar nicht. Die sind voller Hoffnung. Ich sage für meine Fraktion - ich glaube, ich kann es auch für die ganze Koalition sagen -: Wir werden diese Hoffnung nicht enttäuschen. Der Prozeß der NATO-Öffnung geht weiter. Wir werden die NATO weiter öffnen.
Es ist noch zu früh, über konkrete Länder und Zeitpläne zu reden. Man sollte erst einmal das jetzige Protokoll ratifizieren, die ersten drei Länder aufnehmen. Aber im NATO-Dokument von Madrid werden schon die ersten beiden weiteren Kandidaten erwähnt: Rumänien und Slowenien. Nach der Konsolidierung in Sofia gehört Bulgarien dazu. Ich nenne auch das Baltikum. Die Kollegen Verheugen und Schmidt haben ferner völlig zu Recht auf die Slowakei hingewiesen. Auch für sie sind wir offen, wenn sich dort die Reformdemokraten durchsetzen. Österreich ist ebenfalls immer willkommen.
Und natürlich, so füge ich hinzu, würden wir uns alle in diesem Hause freuen, wenn Frankreich wieder zur militärischen Integration dazugehörte. Denn die Franzosen brauchen wir, auch um ein stärkeres europäisches Gewicht innerhalb der NATO zu entfalten.
Die NATO bleibt also offen für neue Mitglieder.
Es gibt ein weiteres Gegenargument, das allerdings nicht der Kollege Volmer gebracht hat. Eher von Kommentatoren und eher von der konservativen Seite wird die Frage gestellt: Bleibt das ein funktionsfähiges Bündnis, wenn sich die NATO öffnet, oder wird das ein Debattierclub? - Ich finde, das ist eine sehr ernstzunehmende Frage. Aber auch diesbezüglich kann ich nur darauf verweisen, sich die Realität anzuschauen. Auf der Herbsttagung der NATO im letzten Jahr haben wir die institutionelle Reform der NATO beschlossen. Es gibt jetzt direkt unterhalb der strategischen Ebene nur noch zwei Kommandozentralen. Die vier Kommandoebenen der NATO wurden generell auf drei reduziert. Statt 60 Headquarters sind es jetzt nur noch 25.
Das heißt, die NATO ist bereits schlanker und flexibler geworden. Ich finde, daß sie damit die Voraussetzungen geschaffen hat - trotz mancher Probleme, die es immer noch gibt -, sich für neue Mitglieder zu öffnen. Aber, Kollege Volmer, das kann man nicht auf einmal machen. Damit würde man diese Allianz überfordern. Wir machen das schrittweise. Aber diese Schritte - ich sage es noch einmal - müssen folgen; und sie müssen ohne Pause folgen, damit der Prozeß als solcher erkennbar bleibt.
Schließlich ist immer wieder über die Kosten geredet worden - interessanterweise in der heutigen Debatte weniger als sonst. Das hat seinen guten Grund. Ich kann mich an die Horrorzahlen erinnern: Der amerikanische Kongreß hat davon gesprochen, das würde 130 Milliarden DM kosten; die Rand Corporation hat von 42 Milliarden DM gesprochen; das Pentagon kam noch im letzten Jahr mit einer Studie heraus, nach der sich so um die 35 Milliarden DM ergaben. Jetzt sehen wir die tatsächlichen Zahlen:
Dr. Friedbert Pflüger
Die NATO wird in den nächsten zehn Jahren 1,5 Milliarden DM bezahlen müssen. Wenn man das auf den Anteil Bonns umrechnet, dann bedeutet das etwa 30 bis 50 Millionen DM.
Das meiste davon wird man wahrscheinlich sogar aus den laufenden NATO-Haushalten finanzieren können. Ich finde, das sollten Sicherheit und Stabilität in Mittel- und Osteuropa uns wirklich wert sein, meine Damen und Herren,
zumal die Zeche in dem Moment, in dem es dort wieder Instabilitäten, Konflikte und Kriege geben würde, für uns alle sicher teurer werden würde. Deshalb glaube ich, daß wir auf dem richtigen Weg sind.
Ich komme zu meinem letzten Gedanken: Natürlich gibt es Verlierer dieser NATO-Öffnung. Die Verlierer sind die Falken im Kreml, die Isolationisten in Amerika und die Nationalisten in Europa.
Ich finde, das sind die richtigen Verlierer! Wir finden es gut, daß diese Leute jetzt mit dem Prozeß der NATO-Öffnung auf der Verliererseite stehen und daß wir eine Politik haben, die langfristig die Vereinigten Staaten von Amerika an Europa bindet.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/9815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Stärkung der OSZE, Drucksache 13/ 9265 Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/6092 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/ CSU, F.D.P. und SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grilnen zur Reform und Weiterentwicklung der OSZE, Drucksache 13/9265 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5888 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/
CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur OSZE, Drucksache 13/9265 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5800 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/ CSU, F.D.P., SPD und einer Stimme von Bündnis 90/ Die Grünen bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen im übrigen und gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur NATO-Osterweiterung, Drucksache 13/9648. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 7297 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD und einer Stimme von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen im übrigen gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Jahresabrüstungsbericht 1996, Drucksachen 13/7389 und 13/9649. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Jahresabrüstungsbericht 1996, Drucksache 13/9649. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/ 7805 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS zum Jahresabrüstungsbericht 1996, Drucksache 13/9649. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/7797 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS angenommen.
- Entschuldigung, das habe ich übersehen: Eine Gegenstimme und eine Enthaltung bei der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einer atomwaffenfreien Zone in Mittel- und Osteuropa, Drucksache 13/9650. Der Ausschuß empfiehlt, den
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Antrag auf Drucksache 13/7889 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD und zwei Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen gegen drei Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und gegen die Stimmen der PDS angenommen.
- Das war so; ich habe mitgezählt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/9858 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a bis 18g sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
18. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartmut Koschyk, Rainer Eppelmann und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Markus Meckel, Siegfried Vergin und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Gerald Häfner, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Dr. Rainer Ortleb, Dr. Max Stadler, Ina Albowitz und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
- Drucksache 13/9870 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen
- Drucksache 13/9818 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 2186/93 des Rates vom 22. Juli 1993 über die innergemeinschaftliche Koordinierung des Aufbaus von Unternehmensregistern für statistische Verwendungszwecke
- Drucksache 13/9696 -
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Schiffssicherheitsanforderungen in der Seefahrt an den internationalen Standard
- Drucksache 13/9722 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Adelheid Tröscher, Reinhold Hemker, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Entwicklungspolitische Bildung im Zeitalter der Globalisierung
- Drucksache 13/9607 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Fograscher, Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Aktive ,Bevölkerungspolitik als Schwerpunkt in die Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen
- Drucksache 13/9608 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck , Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsgrundlage für die Vergabe öffentlicher Aufträge: Koppelung der Auftragsvergabe an Frauenfördermaßnahmen
- Drucksache 13/9813 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Margareta Wolf , Halo Saibold, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Wettbewerbspolitik für Innovationen, Umweltschutz und Arbeitsplätze
- Drucksache 13/9305 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 19a bis 19j und 190 bis 19x. Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 19 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
- Drucksache 13/9609 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- Drucksache 13/9812 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Kauder
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/ CSU, F.D.P., SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Bautätigkeit im Hochbau und die Fortschreibung des Wohnungsbestandes
- Drucksache 13/9342 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
- Drucksache 13/9872 -Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Mertens Josef Hollerith
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkte 19c bis 19 e:
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 22. April 1996 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Aserbaidschan andererseits
- Drucksache 13/8695 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/9652 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ursula Schönberger
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft vom 21. Juni 1996 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Usbekistan andererseits
- Drucksache 13/8696 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/9653 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ursula Schönberger
e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 28. November 1994 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Moldau andererseits
- Drucksache 13/8697 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
- Drucksache 13/9654 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ursula Schönberger
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/9652
Vizepräsidentin Michaela Geiger
bis 13/9654, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die den drei Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind die Gesetzentwürfe mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 f:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. Juni 1996 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Bau einer Straßenbrücke über den Rhein zwischen Altenheim und Eschau
- Drucksache 13/8686 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/9788-
Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/9788, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD, Bündnis 90/ Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 g:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Februar 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kuba über die Seeschifffahrt
- Drucksache 13/8709 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
- Drucksache 13/9789 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Konrad Kunick
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/9789, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 h:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner und der Gruppe der PDS
Bedarfsgerechte und gebührenfreie Auszahlung von Lohnersatzleistungen wiederherstellen
- Drucksachen 13/9592, 13/9829 -Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Jäger
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Bevor wir zur Abstimmung kommen, hat die Abgeordnete Heidi Knake-Werner, PDS, nach § 31 der Geschäftsordnung die Möglichkeit, eine Erklärung zur Abstimmung abzugeben. - Bitte schön.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern mein Abstimmungsverhalten zu der Beschlußempfehlung erklären.
Ich stimme der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu, weil ich möchte, daß auch zukünftig Arbeitslosen ohne Girokonto das Arbeitslosengeld oder die Arbeitslosenhilfe kostenfrei zugestellt wird. Über 100 000 Arbeitslose haben kein Girokonto und müssen nach der neuen Gesetzeslage seit dem 1. Januar 1998 damit rechnen, daß ihnen bei Zustellung zum Beispiel durch den Briefträger bis zu 40 DM abgezogen werden können; so jedenfalls gestern der Staatssekretär Günther auf Nachfrage der Kollegin Blunck von der SPD.
Zweitens stimme ich der Beschlußempfehlung zu, obwohl sie einen zweiten wichtigen Teil unseres Antrags nicht mehr enthält, nämlich den Teil, daß das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe künftig auf Wunsch der Betroffenen auch vierzehntägig und nicht nur vierwöchentlich ausgezahlt werden können.
Allein die Umstellung auf den neuen Auszahlungsmodus hat in der Verwaltung der Bundesanstalt - so jedenfalls gestern der Präsident der Bundesanstalt, Jagoda - zu Auszahlungsverzögerungen von mehreren Wochen geführt. Viele Betroffene haben ihr Geld bis heute nicht. Die Arbeitsverwaltung hat das Verfahren immer noch nicht im Griff. Die finanziellen und moralischen Probleme, die den Arbeitslosen geschaffen wurden und werden, stehen in keinem Verhältnis zu den Einsparungen von Zins- und Verwaltungskosten bei der Bundesanstalt.
Drittens stimme ich der Beschlußvorlage zu, weil es nach meiner Einschätzung der erklärte Wille einer Mehrheit im Fachausschuß war, Arbeitslose bei ihren ohnehin knappen Einkünften nicht noch zusätzlich zu belasten. Diese Belastung ist auch durch nichts zu rechtfertigen. Außerdem war diese Mehrheit davon überzeugt, daß das Recht auf ein Girokonto leider heute immer noch nicht für alle Menschen in dieser
Dr. Heidi Knake-Werner
Gesellschaft verwirklicht ist. Appelle reichen hier nicht, wie eine Fülle von Beispielen vor Ort zeigt.
Viertens.
- Es mag Ihnen reichen, aber vielleicht hilft es Ihnen ein wenig, aufgeklärt zu werden.
Ich stimme der Beschlußvorlage auch deshalb zu, weil ich es unsinnig finde, darauf zu warten, bis die große Koalition von CDU, CSU, F.D.P. und SPD aus dem Mustopf kommt und uns hier in vier Wochen wieder mit einem fast Bleichlautenden Antrag beschäftigen wird. Diese sogenannte Gemeinsamkeit der Demokraten richtet sich nicht gegen die PDS, sondern geht auf Kosten der Arbeitslosen. Das wird Ihnen demnächst auf die Füße fallen.
Danke schön.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/9592 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ CSU und F.D.P. gegen die Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Damit müssen wir noch über den Antrag in der Ursprungsfassung abstimmen. Wer stimmt für den Antrag der PDS auf Drucksache 13/9592? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 19 i:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/12/EWG über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren
- Drucksachen 13/8615 Nr. 2.54, 13/9657 - Berichterstattung:
Abgeordnete Gerda Hasselfeldt
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 19j:
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Sechsten MwSt-Richtlinie 77/ 388/EWG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
- Drucksachen 13/8615 Nr. 2.46, 13/9658 -Berichterstattung:
Abgeordnete Gerda Hasselfeldt
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 0:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Gila Altmann (Aurich), Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
20 Jahre nach Seveso; 10 Jahre nach Sandoz - mehr Sicherheit bei Chemikalien
- Drucksachen 13/5202, 13/9691 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Harald Kahl Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Jürgen Rochlitz
Dr. Rainer Ortleb
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/5202 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 19p:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 287 zu Petitionen - Drucksache 13/9775 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 287 mit den Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der gesamten Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 q:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 288 zu Petitionen - Drucksache 13/9776 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 288 mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen
Vizepräsidentin Michaela Geiger
die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 r:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 289 zu Petitionen
- Drucksache 13/9777 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Sammelübersicht 289 mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 s:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 290 zu Petitionen
- Drucksache 13/9778-
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 290 mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 t:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 291 zu Petitionen - Drucksache 13/9779 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 291 mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 u:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 294 zu Petitionen
- Drucksache 13/9782-
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 294 mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 19v:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 292 zu Petitionen
- Drucksache 13/9780 -
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/9868? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Änderungsantrag mit
den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 292 mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 w:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 293 zu Petitionen
- Drucksache 13/9781 -
Dazu liegt uns ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/9865? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Regierungskoalition bei Enthaltung der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 293 mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 x:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 295 zu Petitionen
- Drucksache 13/9783 -
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/9867? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Sammelübersicht 295 mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksachen 13/8035, 13/9212, 13/9540, 13/9770 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ottmar Schreiner
Vizepräsidentin Michaela Geiger
Wird das Wort zur Berichterstattung erwünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung gewünscht? - Das ist der Fall.
Zu einer Erklärung erteile ich der Abgeordneten Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es ist mir ein Wunsch und ein Anliegen, jetzt, nachdem es ein Gesetz zur Regelung der ambulanten Psychotherapie gibt, einige Worte zu meinem Abstimmungsverhalten zu sagen.
Nach 25 Jahren Psychiatrie-Enquete war es endlich möglich, ein Gesetz zu bekommen, das die Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Grunde den somatisch Kranken gleichstellt. Es ist an sich unverzeihlich, daß es so lange gedauert hat. Daß es aber dieses Gesetz in der heutigen Form gibt, ist - das möchte ich betonen - der außerordentlich konstruktiven Arbeit und dem konstruktiven politischen Wirken der Oppositionsparteien in diesem Haus und in den Ländern zu verdanken.
Es ist absolut wichtig, hervorzuheben, daß es auf Grund der Weigerung der Regierung, notwendige Grundlagen in diesem Gesetz zu verankern, die politische Pflicht und Aufgabe von uns war - ich habe das auch für mich so gesehen -, sicherzustellen, daß die Gleichstellung psychisch und somatisch Erkrankter im System verankert und diese Forderung nicht weiter vertagt wird. Insofern ist es verständlich, die positiven Ergebnisse, die wir erzielen konnten,
entsprechend zu bewerten und unsere eigenen Anteile daran nicht zu schmälern.
Es gibt aber in diesem Gesetz dennoch einige Mängel,
zu denen zum Beispiel gehört, daß es nach wie vor nicht möglich ist, Psychotherapeuten, die nicht deutscher Staatsangehörigkeit sind, die Approbation - -
Frau Kollegin, Sie dürfen nicht zur Sache sprechen, sondern nur zu Ihrem persönlichen Abstimmungsverhalten.
Ja. - Dann sage ich noch einmal, warum
- darf ich jetzt? Wollen Sie es hören? Auch wenn Sie es nicht hören wollen, sage ich es Ihnen jetzt -
dieses Gesetz einen großen Makel hat, der eine Zustimmung meinerseits nicht ermöglicht. Der Makel ist, daß die Methodenvielfalt und die Versorgung psychisch Erkrankter
mit Formen der Psychotherapie, die sich etabliert haben, ausgegrenzt sind und deren Weiterentwicklung äußerst erschwert wird.
Diese groben Mängel würden von der Sache her eigentlich ein Nein begründen. Um den positiven Teil des Gesetzes, den konstruktiven Prozeß zu unterstreichen, werden wir uns der Stimme enthalten. Das zeigt, daß der Prozeß um die Verbesserung der Psychotherapie noch lange nicht abgeschlossen ist.
Danke.
Es muß dann heißen: werde ich mich der Stimme enthalten. Sie haben ja zu Ihrem persönlichen Abstimmungsverhalten gesprochen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/ 9770? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und einer Enthaltung aus der PDS angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Neunten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Neuntes SGB V-Änderungsgesetz -9. SGB V-ÄndG)
- Drucksachen 13/8039, 13/9212, 13/9541, 13/ 9640 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, unter Aufhebung des Gesetzesbeschlusses vom 28. November 1997 den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/9640? - Gegenprobe! — Enthaltungen? - Die Beschlußemp-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Jetzt rufe ich Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksachen 13/1439, 13/8917, 13/9544, 13/ 9639 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heribert Blens
Wir das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Erklärungen? - Auch nicht.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/ 9639? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD abgelehnt worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege, zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften und zur Anpassung anderer Rechtsvorschriften
- Drucksachen 13/6441, 13/7778, 13/8180, 13/
8268, 13/9638, 13/9837, 13/9838 -
Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 13/ 9838? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Bündnisgrünen gegen die Stimmen von SPD und PDS angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
zur aktuellen Lage im Irak
Es liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Rudolf Seiters.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die IrakKrise und die Diskussion über eine militärische Intervention bilden das zentrale außenpolitische Thema der vergangenen Wochen. Die diplomatischen Bemühungen blieben bislang ergebnislos. Der Irak wird erneut zum Testfall für die Solidarität der Staatengemeinschaft und - mehr noch - für die amerikanisch-europäischen Beziehungen.
Es gibt einen Konsens in der Staatengemeinschaft, daß die Diplomatie Vorrang vor dem Einsatz militärischer Mittel haben muß. Wir wissen aber auch, daß ein Zeitpunkt kommen kann, in dem die Mittel der Diplomatie erschöpft sind. Es ist deshalb wichtig und notwendig, daß der Deutsche Bundestag in aller Klarheit Stellung bezieht - wenn es nach uns geht, mit einer gemeinsamen und verantwortungsvollen Haltung an der Seite der Bundesregierung.
Zur Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion lassen Sie mich folgende Bemerkungen machen:
Erstens. Es kann keine Abstriche an der vollständigen Erfüllung der Waffenstillstandsresolution Nr. 687 der Vereinten Nationen durch den Irak geben. Die Kooperation mit den UNO-Inspektoren ist eine Minimalforderung an ein diktatorisches Regime, das nach allen Erkenntnissen über biologische und chemische Massenvernichtungswaffen verfügt und ganz offenbar alles daransetzt, weitere Vorräte aufzubauen. Wir akzeptieren weder, daß der Irak die Zusammensetzung des Inspektorenteams bestimmen kann, noch daß er bestimmte Objekte für tabu erklärt.
Es kann auch kein Junktim geben nach dem Motto, daß die Völkergemeinschaft zuerst das Sanktionsregime lockert und der Irak anschließend die Inspektorenteams der UNO nicht mehr behindert. Der Irak muß die Waffeninspektionen ohne Einschränkung zulassen. Massenvernichtungswaffen in der Hand eines Despoten sind für die Staatengemeinschaft der ultimative Ernstfall.
Zweitens. Es müssen zuerst alle verfügbaren politischen und diplomatischen Mittel eingesetzt werden, um den Irak zur Kooperation zu bewegen. Aber ich sage auch: Die bisherigen Angebote von Saddam Hussein sind allesamt Scheinangebote, die für eine politische Lösung des Konflikts nicht ausreichen.
Deshalb darf als Ultima ratio eine militärische Operation nicht ausgeschlossen werden. Wer dies täte, würde zum taktischen Spielzeug in den Händen von Saddam Hussein. Die „Süddeutsche Zeitung" hat völlig recht, wenn sie schreibt: Eine Diplomatie ohne Schwert ist eine Diplomatie ohne Wert. - Diese Einsicht sollten sich alle Mitglieder des Sicherheitsrates zu eigen machen.
Drittens. Wir können in der gegenwärtigen Diskussion nicht ausdrücklich genug darauf hinweisen, daß die Verantwortung für die Eskalation des Konflikts allein bei der irakischen Regierung liegt und das Sanktionsregime des Sicherheitsrats an der Notlage
Rudolf Seiters
der irakischen Bevölkerung keine Schuld trägt. Saddam Hussein versucht nicht nur, die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Mitgliedern des Weltsicherheitsrates auszunutzen. Er scheut auch nicht davor zurück, sein eigenes Volk als Geisel zu nehmen. Die Zurückweisung des Angebots der Vereinten Nationen, das Programm „Öl für Lebensmittel" aufzustocken, zeigt die Gewissenlosigkeit des irakischen Regimes auch gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Viertens. Natürlich müssen wir uns der Frage stellen, wie die Bundesrepublik Deutschland zu dem Einsatz militärischer Mittel durch die USA und Großbritannien steht, wenn die politischen und diplomatischen Mittel erschöpft sind. Die CDU/CSU- Bundestagsfraktion wird eine militärische Operation politisch klar unterstützen, auch mit Blick auf die Nutzung militärischer Basen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang nachdrücklich das klare Wort von Bundeskanzler Helmut Kohl bei der Konferenz für Sicherheitspolitik in München.
Wir erklären unsere Unterstützung dabei nicht nur aus Solidarität mit den USA, sondern auch und vor allem aus der sachlichen Überzeugung, daß die zivilisierten Staaten dieser Welt ein eigenes Interesse an der Beseitigung der tödlichen Potentiale von Saddam Hussein haben müssen. Wenn etwa Israel mit B- und C-Waffen bedroht würde, könnte doch wohl Deutschland nicht gleichgültig am Rande stehen.
Fünftens. Natürlich müssen wir auch die Frage stellen: Was ist das politische Ziel eines militärischen Einsatzes, und was kommt danach? Das politische Ziel kann ja nur lauten, Saddam Hussein zur Kooperation mit der Staatengemeinschaft zu zwingen und die in der UNO-Resolution beschlossene
Vernichtung, Beseitigung oder Unschädlichmachung aller chemischen und biologischen Waffen, aller Kampfstoffbestände ... bedingungslos
zu akzeptieren.
Niemand kann mit letzter Sicherheit sagen, daß dieses Ziel erreicht wird. Die Alternative wäre jedoch,
daß wir zulassen, daß Saddam Hussein seine Gewalt
ausbaut und irgendwann auch erneut einsetzt - vielleicht gegen Israel, vielleicht gegen Kuwait, vielleicht gegen den Iran oder andere arabische Nachbarn.
Sechstens. Ich halte es nicht für in Ordnung, wenn jetzt manche Kritiker wieder von einem imperialen Verhalten der Amerikaner reden und sich selbst anschließend auf den falschen Grundsatz „Diplomatie und nur Diplomatie" zurückziehen. Wenn vom Irak - das ist der Hintergrund der Beschlüsse der Vereinten Nationen - eine tödliche Gefahr ausgeht, dann sollten wir den USA dankbar sein, daß sie im Kampf gegen diese Gefahr die volle Last und Verantwortung auf sich nehmen, und wir dürfen - als Deutsche, aber auch als Europäer - keinen Zweifel aufkommen lassen, wo wir in dieser Auseinandersetzung stehen. Das Bündnis zwischen Europa und Amerika ist ohne Zweifel in der Lage, auch einmal Meinungsverschiedenheiten auszuhalten. Das Entscheidende ist dabei
eine gemeinsame Risiko- und Verantwortungsteilung. Wir haben den Wunsch, daß es in dieser Frage baldmöglichst zu einer klaren, gemeinsamen europäischen Haltung kommt, weil es auch um gesamteuropäische Interessen geht. „Globalisierung" - so schrieb in diesen Tagen „Die Welt" - „trägt nicht nur wirtschaftliche Züge". Wir können deshalb außenpolitisch nicht im Kreis der eigenen Probleme verharren. Wir müssen auch zur Eindämmung der vom Irak ausgehenden Gefahren einen europäischen Beitrag leisten.
Siebentens. Schließlich noch ein Wort zur innenpolitischen Diskussionslage. Wir begrüßen die jüngsten öffentlichen Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Scharping, weil es schon sehr wichtig wäre, wenn wir hier zu einer breiten Gemeinsamkeit kämen.
Für unverantwortlich halte ich jedoch die Erklärungen führender Sprecher der Grünen, zum Beispiel von Herrn Trittin, wonach die USA - wörtliches Zitat - „unverschämt" die Vereinten Nationen für ihre nationalen Ziele zu instrumentalisieren versuchten, wodurch die UNO an Glaubwürdigkeit verliere. Das sind völlig inakzeptable Bemerkungen; sie werden weder den USA noch den Vereinten Nationen gerecht.
Herr Kollege Fischer, Sie sollten das für Ihre Fraktion vor diesem Hause zurücknehmen.
Es ist genau umgekehrt: Die Weigerung des Irak, seine Verpflichtungen zu erfüllen, so hat der UNO- Sicherheitsrat am 14. Januar festgestellt, ist ein klarer Bruch der entsprechenden UNO-Resolutionen. Die USA und wir stehen voll auf der Grundlage dieser Entschließungen. Es muß dabei bleiben, daß es bei Massenvernichtungswaffen keine falschen Kompromisse geben darf. Deswegen sage ich an dieser Stelle für unsere Fraktion: Die Bundesregierung hat die volle Unterstützung für die Haltung, die sie in dieser Frage eingenommen hat.
Sie wird hoffentlich auch die volle Unterstützung dieses Hauses bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne hat eine Delegation des slowakischen Parlaments Platz genommen, die wir im Sinne guter Nachbarschaft herzlich begrüßen. Wir wünschen der Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Parlamenten alles Gute.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß wir uns heute mit dem Irak beschäftigen, liegt nicht an uns, sondern an der Politik des Irak und des Diktators Saddam Hussein.
Seine Regierungszeit ist die Geschichte eines skrupellosen und verbrecherischen Regimes. Dieses Regime hat nicht nur in großem Umfange Massenvernichtungswaffen produziert, sondern - das sollten wir nicht vergessen - sie auch eingesetzt. Ich erinnere an den wiederholten Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene kurdische Bevölkerung im Nordirak sowie an den massiven Giftgaseinsatz gegen den Iran. Saddam Hussein hat zweimal einen Angriffskrieg begonnen: Anfang der 80er Jahre gegen den Iran und Anfang der 90er Jahre gegen Kuwait.
Geflohene irakische Führungspersönlichkeiten, die über Massenvernichtungswaffen und über deren Entwicklungsprogramme berichtet haben und im Vertrauen auf entsprechende Zusagen zurückgekehrt sind, wurden, wie der Schwiegersohn Saddam Husseins, ermordet. Es gibt verheimlichte Lager- und Produktionsstätten für Massenvernichtungswaffen, und es steht völlig außer Frage, daß die internationale Gemeinschaft alles tun muß, um sicherzustellen, daß der Irak keine Massenvernichtungswaffen mehr besitzt, erlangt oder künftig produziert.
Natürlich wäre es wünschenswert, daß auch das Regime selbst verschwände und der Irak eine friedliebende, demokratische Regierung erhielte.
Ungeachtet dessen muß man auf die Bilanz der Inspektionen der Vereinten Nationen hinweisen. Diese Bilanz spricht eine deutliche Sprache: Zwischen 1991 und 1997 wurden im Irak insgesamt mehr Waffen zerstört als im ganzen zweiten Golfkrieg. Das irakische Programm zum Bau von Atomwaffen konnte aufgedeckt und vollständig beseitigt werden. Von den insgesamt 819 Scud-Raketen, die bis 1991 aus der damaligen Sowjetunion importiert worden waren, konnte der Verbleib von 817 zweifelsfrei aufgeklärt werden, so daß allem Anschein nach der Irak - mit Ausnahme dieser zwei - über keine Scud-Raketen mehr verfügt. Ebenso wurde bei den Inspektionen eine große Menge von chemischen und biologischen Waffen festgestellt, die dazugehörige Artilleriemunition entdeckt und unter der Aufsicht der Vereinten Nationen vernichtet. Angesichts dieser Tatsachen sollten wir uns keine Illusionen über die irakischen Motive machen, die hinter der Obstruktions-
und Verweigerungspolitik gegenüber den Inspektionen der Vereinten Nationen tatsächlich stehen.
Seit der Sicherheitsratsresolution 687 vom 3. April 1991 hat der Irak Verpflichtungen zur Beendigung von Programmen zur Herstellung von A-, B- und C- Waffen sowie zur Offenlegung und kontrollierten Zerstörung aller vorhandenen Bestände von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen mit einer Reichweite von mehr als 150 Kilometern übernommen. Diesen Verpflichtungen gegenüber hat Saddam Hussein eine Politik der Lüge, der Verheimlichung und der Verweigerung betrieben.
Diese Politik zielte ganz eindeutig darauf ab, im Besitz von Massenvernichtungswaffen zu bleiben und die Möglichkeiten ihrer Produktion und Weiterentwicklung zu erhalten. So wurde beispielsweise jahrelang von irakischer Seite die Existenz eines biologischen Waffenprogramms geleugnet und erst unter der erdrückenden Beweislast der Vereinten Nationen zugegeben. Dabei zeigte sich, daß der Irak über ein umfassendes biologisches Waffenprogramm verfügte, bei dem er nach eigenen Angaben unter anderem 30 000 Liter biologische Kampfstoffe hergestellt und zum Teil in Waffen abgefüllt hat. Es handelt sich dabei um 19 000 Liter eines Stoffes, der Lebensmittelvergiftungen verursacht, um 2000 Liter Aflatoxin, das Leberkrebs verursacht, und um mindestens 8400 Liter der extrem gefährlichen Milzbrandbakterie Anthrax, von der eine Spore in der Lunge reicht, um einen Menschen zu töten. Es kann nicht sicher gesagt werden, ob diese von den Vereinten Nationen festgestellten Mengen tatsächlich abschließende Zahlen sind.
Im Bereich der chemischen Waffen verfügte der Irak über ein umfassendes Waffenprogramm, in dessen Rahmen unter anderem Senfgas, Sarin, Tabun und der gefährliche Kampfstoff VX hergestellt wurden. Bis 1991 hatte der Irak insgesamt mehr als 20 000 Tonnen Chemiewaffenvorprodukte produziert oder importiert und fast 4000 Tonnen ChemiewaffenKampfstoffe produziert. Es ist auch darauf hinzuweisen, daß sich der Irak bis 1991 rund 250 000 Stück entsprechender Artilleriemunition beschafft hat, von denen bisher unter Aufsicht der Vereinten Nationen 40 000 vernichtet worden sind.
In den letzten Tagen ist im übrigen festgestellt worden, daß allein bei der Wasserversorgung Bagdads etwa 13 Tonnen Chlor verschwunden sind. An einer anderen Stelle ist eine nicht ganz so große Menge Phosphat verschwunden. Jeder weiß, was aus dieser Verbindung alles entstehen kann.
Ich sage das hier deshalb, weil wir uns auch in Deutschland dessen bewußt sein müssen, daß alle diese Entwicklungen zum Teil auch mit fehlerhaften politischen Einschätzungen, mit kleinkarierter Taktiererei und mit mancher Skrupellosigkeit zu tun haben; denn es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß der Aufbau dieser Kapazitäten im Irak ohne die Hilfe
Rudolf Scharping
deutscher Firmen und manche andere Nachlässigkeit nicht zustande gekommen wäre.
Mit diesen Zahlen möchte ich auch darauf aufmerksam machen, daß im Bereich der Chemiewaffen-Artilleriemunition, im Bereich der Chemiewaffen-Kampfstoffe und besonders im Bereich der biologischen Waffen der Verbleib und die Größenordnung der nach wie vor bestehenden Bestände ungeklärt sind. Es gibt große Aufklärungslücken über den Verbleib und auch über die zahlenmäßige Größe selbstproduzierter Raketen und der dazugehörigen Komponenten.
Ich sage dies alles hier vor dem Deutschen Bundestag, weil man unter diesen Umständen davon ausgehen muß, daß der Irak weiterhin über unentdeckte Bestände von biologischen und chemischen Waffen verfügt. Die Hinweise dafür sind erdrückend. Seit Oktober 1997 wurden die Recherchen der Vereinten Nationen an 38 Orten behindert, an 14 gänzlich verweigert. Saddam Hussein hat seit 1991 40 sogenannte Paläste bauen lassen. Man kann sich nur sehr schwer vorstellen, was diese Paläste eigentlich mit Wohnanlagen zu tun haben sollen; denn es gibt sehr belastbare und leider auch sehr ernstzunehmende Hinweise darauf, daß in diesen sogenannten Palästen Massenvernichtungswaffen entwickelt oder produziert werden, und zwar sowohl biologischer wie chemischer Art. Angemeldete Inspektionen vor Ort werden so lange verzögert, bis - wie man durch Luftbilder belegen kann - durch den Abtransport von Materialien Beweismittel weggeschafft worden sind. Im übrigen muß man der deutschen Öffentlichkeit vielleicht auch noch sagen, daß ein Teil dieser Anlagen eine mehrere Quadratkilometer große Ausdehnung hat; einige davon beispielsweise in der Größenordnung einer Stadt wie Washington D.C.
Deshalb sage ich, daß die Kontrollen, die Inspektionen durch die Vereinten Nationen auch in Zukunft ohne jede Einschränkungen erfolgen müssen.
Deshalb sage ich, daß die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates sehr eindeutig von einem uneingeschränkten Zugang zu allen Gebäuden und Einrichtungen sprechen, was den Zugang zu den Palästen ebenso einschließt wie den zu den riesigen Arealen, die sie manchmal umgeben und die nachgewiesenermaßen militärisch genutzt werden.
Zur Zeit spielt in der Öffentlichkeit eine Rolle, daß der Irak angeboten hat, acht solcher „Paläste" Kontrollen zugänglich zu machen. Ich muß aber an dieser Stelle darauf hinweisen, was das praktisch bedeutet: Der Irak versucht, zwischen den „Palästen" und ihrem jeweiligen Areal zu unterscheiden, und zwar so, daß er auf den Arealen uneingeschränkte Kontrollen durch die Vereinten Nationen zulassen will, und zwar durch Inspektionsteams, in denen die 21 Entsendernationen vertreten sind. Für die „Paläste" -
also für die Gebäude - will der Irak allerdings nur einen sogenannten diplomatischen Besuch unter Beteiligung des Leiters der UN-Inspektion zulassen.
Ich werte diesen Hinweis als einen kleinen Fortschritt in dem Sinne, daß vielleicht weiterer Druck noch eher zu einer zivilen, zu einer politischen, zu einer diplomatischen Lösung führt. Ich will aber auch sagen, daß dieses Angebot nichts anderes als der Versuch ist, erneut zu verschleiern, daß in diesen sogenannten Palästen Massenvernichtungswaffen hergestellt und auch weiterentwickelt werden könnten.
Für die SPD-Fraktion füge ich hinzu, daß es nicht akzeptiert werden kann und darf, daß Saddam Hussein die Art und Weise der Inspektionen bestimmt, daß er die Inspektionen selbst ablehnt und daß er die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mißachtet. Im Gegenteil: Der Irak muß die eingegangenen Verpflichtungen erfüllen.
Den Charakter dieses Regimes kann man auch daran erkennen, daß dieser Diktator sein eigenes Land mit blutiger Gewalt und Unterdrückung regiert, mit einer menschenverachtenden Haltung, die leider nicht beispiellos ist und die große Besorgnis hervorrufen muß. Obwohl zum Beispiel die Aufhebung der Sanktionen an die Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungen durch den Irak gebunden worden ist, haben die Vereinten Nationen dem Regime immer wieder angeboten, Öl auf dem Weltmarkt verkaufen zu können und mit dem Erlös Lebensmittel und Medikamente einzuführen. Dies ist über Jahre hinweg abgelehnt und das Leiden der Bevölkerung für innenpolitische Zwecke mißbraucht worden. Erst 1996 war der Irak überhaupt bereit, eine entsprechende Regelung zu akzeptieren.
Auch das jüngste Angebot des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, dieses Programm mehr als zu verdoppeln, ist vom Irak kategorisch abgelehnt worden. Ganz offenkundig steht dahinter die Absicht, nicht nur das eigene Volk auf eine unglaubliche Weise für eine verbrecherische Politik bluten zu lassen, sondern auch den Spielraum für spätere Ölverkäufe zu erhalten, mit denen wieder Waffenkäufe ermöglicht werden können.
Ich habe sehr ausführlich über das Regime im Irak gesprochen, weil ich den Eindruck habe, daß einige in der öffentlichen Debatte an diesen Tatsachen vorbeisehen, und weil ich denke, daß wir als Teil der internationalen Gemeinschaft und als Mitglied der Vereinten Nationen auf diese irakische Konfrontationspolitik klar und eindeutig reagieren müssen.
Rudolf Scharping
Manchmal entsteht in Teilen der deutschen Öffentlichkeit und der politischen Landschaft der Eindruck, als seien die USA - und nicht der Irak - das Problem.
Bei der Erörterung der deutschen Außenpolitik gegenüber dem Irak möchte ich auf die besondere Verantwortung Deutschlands hinweisen. Ich habe unsere besondere Verantwortung wegen der Beteiligung deutscher Firmen an der Bereitstellung von Know-how und der Ermöglichung der Produktion von Massenvernichtungswaffen erwähnt. Ich nenne ebenfalls die leider mangelhaften Rüstungsexportbestimmungen und die Kontrolle, die nicht vernünftig funktioniert hat und vielleicht hier und da nicht funktioniert. Ich sage, daß angesichts der Region, um die es sich dreht, und angesichts der Sicherheit Israels Deutschland eine besondere Verpflichtung hat, klar und deutlich der irakischen Aggression und der Produktion von Massenvernichtungswaffen entgegenzutreten.
Wir in Deutschland müssen ein vorrangiges Interesse daran haben, daß die Glaubwürdigkeit und die Autorität der Vereinten Nationen gewahrt bleiben. Bei der Durchsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrates gegenüber dem Irak geht es nicht nur darum, ein gefährliches Regime zu einem völkerrechtlich konformen Verhalten zu veranlassen; es geht nicht nur darum, den Irak als Bedrohungsfaktor für Stabilität und Sicherheit der ganzen Region möglichst auszuschließen. Wir müssen uns ebenfalls darüber im klaren sein, daß ein Erfolg Saddam Husseins zugleich eine Ermutigung für Despoten in anderen Teilen dieser Welt darstellen würde, daß es sich nämlich am Ende doch lohnen könnte, mit Massenvernichtungswaffen Gewaltpolitik zu betreiben.
Keine Regierung, keine Partei, die es mit der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Verbreitung ernst meint, darf diesem Diktator erlauben, daß er auch nur hinsichtlich eines einzigen Kommas von den Resolutionen der Vereinten Nationen abweicht.
Selbst ein kleiner Erfolg des irakischen Regimes kann für die globale Sicherheitslage und insbesondere für die Autorität der Vereinten Nationen neue Risiken und neuen Schaden bedeuten.
Daraus ziehe ich folgende Schlüsse: Es müssen alle politischen und diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den Irak zur Befolgung der Sicherheitsratsresolutionen zu bewegen.
Die gegenwärtigen Bemühungen der französischen
und russischen Regierung und auch die Erklärung
des italienischen Ministerpräsidenten Prodi in Rom geben zu der Hoffnung Anlaß, daß vielleicht doch noch eine friedliche Lösung gefunden werden kann. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt solche Bemühungen Frankreichs, Rußlands, Italiens und anderer Staaten nachdrücklich.
Das eigentliche Ziel - nämlich die ungehinderte Erfüllung der Inspektionsaufträge - darf nicht aus dem Auge verloren werden. Saddam Hussein setzt mit seiner Taktik auf die Unentschlossenheit des Sicherheitsrates, auf eine Eigendynamik der Verhandlungen um der Verhandlungen willen, auf ein monatelanges Feilschen, das eine Unterminierung der UN- Autorität mit sich bringen könnte.
In der „Frankfurter Rundschau" steht heute in einem Kommentar folgendes:
Während sich die Mitglieder im Sicherheitsrat in den Haaren liegen, fährt Saddam Hussein seine B- und C-Waffen fröhlich durchs Land spazieren und gibt einen nach dem anderen - von Giftgas und Milzbrandbakterien inzwischen geputzten - Palast zur Besichtigung frei. So machen die Sicherheitsratsmitglieder sowie die Golfanrainer einen Verbrecher wieder groß und verkennen die Gefahr, daß Saddam Hussein das blödsinnige Spiel - wie vor sieben Jahren schon einmal - mißdeuten kann und imstande ist, die Waffen, die er besitzt, einzusetzen.
Genau das darf nicht geschehen.
Noch im Herbst des letzten Jahres konnte der Irak durch die Androhung gewaltsamen Einschreitens zu einem - leider vorläufigen - Einlenken bewegt werden. Auch jetzt sollten wir keine Illusionen haben: Sollte es eine befriedigende politische Lösung nicht geben, muß man die Resolution der Vereinten Nationen auf andere Weise durchsetzen. Schon die Drohung mit einem militärischen Vorgehen ist notwendig, um den diplomatischen und politischen Bemühungen einen Hintergrund zu verschaffen, der halbwegs erfolgversprechend sein könnte.
Schon deshalb kann es eine Teilung unserer Solidarität und unserer politischen Unterstützung nicht geben, weder für die diplomatischen Bemühungen Rußlands und Frankreichs noch für das entschlossene Vorgehen der USA, Großbritanniens und anderer Staaten, auch in Europa.
Es liegt einzig und allein an Saddam Hussein. Er entscheidet über die Mittel und trägt die Verantwortung für die Folgen. Um es noch einmal zu sagen: Es geht um die Einhaltung des Völkerrechts. Ich füge
Rudolf Scharping
hinzu: Das hat nichts, aber auch gar nichts mit imperialer Politik zu tun.
Mittlerweile haben auch die Niederlande, Spanien, Portugal, Polen, Tschechien und Ungarn ihre Unterstützung deutlich gemacht. Das ermutigt und hilft vielleicht, eine gemeinsame Haltung auch innerhalb der Europäischen Union zu erreichen. Denn wenn die Europäische Union eine stärkere, gleichberechtigte Rolle in den transatlantischen Beziehungen für sich reklamiert, dann muß sie auch in der Lage sein, gerade in solchen zugespitzten internationalen Situationen gemeinsam Politik zu betreiben und damit ihr Gewicht deutlich zu machen.
Alle EU-Staaten verurteilen das irakische Regime und verlangen die Durchführung der Beschlüsse der Vereinten Nationen. Sie sind sich einig über den verbrecherischen Charakter des Regimes. Sie wollen keine Beschädigung der Glaubwürdigkeit und der Autorität der Vereinten Nationen. Also sage ich: Je einheitlicher Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika handeln, um so wahrscheinlicher wird eine gewaltsame Auseinandersetzung vermieden und der Irak zum politischen Einlenken gebracht werden können.
Frankreich beispielsweise weiß als eine alte Großmacht, daß Diplomatie ohne Durchsetzungsfähigkeit keinen Wert hat. Frankreich gehörte zu jener alliierten Streitmacht, die Kuwait von der irakischen Okkupation befreite. Wir sollten also jenseits grundsätzlicher Erwägungen bei der Unterstützung der USA auch die konkreten Bedenken Frankreichs ernst nehmen, die ja nicht nur bei uns, sondern auch in den Vereinigten Staaten diskutiert werden.
Solche Bedenken sind: Was kommt denn nach den militärischen Schlägen, wenn sie nicht ihr Ziel erreichen, das Macht- und Vernichtungspotential des Irak nicht empfindlich eingeschränkt und die Machtstrukturen Saddam Husseins nicht erschüttert werden? Was bedeutet das für die künftigen Waffeninspektionen selbst? Könnte nicht die Machtbasis von Saddam Hussein durch eine Welle des Nationalismus und Antiamerikanismus gefestigt, könnte nicht der Nahost-Friedensprozeß nachhaltig beeinträchtigt und könnte es nicht auch zu einer falschen arabischen Solidarisierung mit dem Irak-Regime kommen?
Diese Fragen sind in meinen Augen nicht nur berechtigt, sondern ernst. Sie müssen bei jedem konkreten Vorgehen abgewogen werden. Auch deshalb wäre es wünschenswert, wenn der Kontakt zwischen den europäischen Staaten, und zwar zwischen allen europäischen Staaten, und den USA eng und vertrauensvoll wäre, mit dem Ziel, eine gemeinsame Strategie zu verfolgen.
Außerdem sind in unseren Augen klare politische Ziele notwendig, die geeignet sind, Stabilität und Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten zu erhöhen. Das bedeutet, daß sich die Europäische Union stärker engagieren muß. Das bedeutet, daß die Europäische Union gemeinsam mit den USA auf Fortschritte im Nahost-Friedensprozeß dringen muß, auch um zu substantiellen Fortschritten auf der Linie „Land für Frieden" zu gelangen, was mit Blick auf den Iran eine zusätzliche Glaubwürdigkeit, zum Beispiel auch für das Programm „Öl gegen Lebensmittel", bedeuten könnte.
Schließlich sollten Schritte eingeleitet werden, um einen multilateralen Ansatz zur Beseitigung und zum Verbot von Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten aufzubauen - übrigens nicht nur dort, sondern schrittweise weit darüber hinaus.
Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei abschließende Bemerkungen machen. In der deutschen Öffentlichkeit ist vielleicht nicht so bekannt, daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Kontrolle der Sicherheitsratsresolutionen behilflich war. Von 1991 bis 1996 hat Deutschland bei diesen Inspektionen intensiv mitgewirkt und Unterstützung geliefert. Das halten wir für richtig. Das verbinden wir übrigens auch mit Dank an alle Beteiligten.
Meine Damen und Herren, im übrigen sage ich, daß wir in einer sehr kritischen Situation das ruhige und klare Abwägen ebensowenig versäumen dürfen wie die Konzentration auf Möglichkeiten, den drohenden und eskalierenden Konflikt friedlich, politisch und im Dialog beizulegen. Gelingt das nicht, dann muß den Sicherheitsratsresolutionen auf andere Weise zum Durchbruch verholfen werden.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Amke Dietert-Scheuer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Irak sind seit dem Ende des zweiten Golfkriegs rund 1 Million Menschen gestorben, 4 000 bis 5 000 Kinder verhungert, und ein Drittel aller Kinder ist chronisch unterernährt. Man kann sicher nicht behaupten, Herr Seiters, daß die UN-Sanktionen nicht die Ursache dafür sind.
Auf der anderen Seite ist es natürlich auch richtig, daß Saddam Hussein alles andere getan hat, um die Folgen dieser Sanktionen für die Bevölkerung abzuwenden. Dennoch: Die gesamte irakische Bevölkerung wird zwischen der Brutalität des Saddam-Regimes und dem UN-Embargo zerrieben und immer weiter in ein absehbares Massensterben hineingetrieben.
Dies ist der konkrete Hintergrund, vor dem meine Vorredner einer zumindest indirekten deutschen Be-
Amke Dietert-Scheuer
teiligung an einem Militärschlag gegen den Irak das Wort reden, bei dem nach offiziellen amerikanischen Angaben eine Schonung der Zivilbevölkerung, wie es sie angeblich beim vorigen Krieg gegeben hat, nicht mehr zu gewährleisten sei. Dennoch versichert die Bundesregierung - leider auch Herr Scharping - die USA ihrer rückhaltlosen diplomatischen Unterstützung. Der Kanzler sagt sogar vollmundig die Erlaubnis der Nutzung von Militärbasen in der Bundesrepublik zu. Den Bundestag vorher dazu zu befragen fällt ihm natürlich nicht ein.
Hier geht es nicht um die Frage einer sinnvollen Politik gegenüber dem Irak, sondern um das Ziel der Bundesregierung, sich immer mehr auch bei militärischen Aktionen ins Spiel zu bringen.
Dabei weiß auch die Bundesregierung sehr wohl, daß mit einem Militärschlag in der Sache absolut nichts erreicht würde.
Es ist natürlich unstrittig, daß der Irak gegen die UN-Resolutionen verstößt, indem er der UNSCOM den Zugang zu zahlreichen Einrichtungen verweigert.
Wir sind uns auch einig, daß es ein legitimes und notwendiges Ziel der UN ist, die restlichen Massenvernichtungswaffen aufzuspüren, zu vernichten und den Irak auch in Zukunft an der Wiederaufrüstung mit Massenvernichtungswaffen zu hindern. Aber was soll jetzt ein Militäreinsatz bringen?
Erstens. Es ist kaum anzunehmen, daß die im Irak vermuteten Massenvernichtungswaffen durch Bombardements getroffen oder beseitigt werden können. Abgesehen davon kann man sich vorstellen, welch verheerende Folgen es für die irakische Bevölkerung hätte, wenn dadurch biologische und chemische Kampfstoffe freigesetzt würden.
Zweitens. Die Durchsetzung der UN-Resolutionen und die Arbeit der UNSCOM würden im Anschluß an einen Militärschlag wahrscheinlich vollends verspielt. Auf die große Bedeutung und die Erfolge dieses UNSCOM-Programms hat Herr Scharping bereits hingewiesen.
Drittens. Im Irak würde ein Militärangriff nicht zu einer Destabilisierung des Regimes oder gar zum Sturz von Saddam Hussein führen. Im Gegenteil: Die irakische Bevölkerung würde sich angesichts der Bedrohung von außen mit ihrer Regierung solidarisieren. Genau diese Folge hat ja auch schon die Sanktionspolitik der UN gezeitigt.
Viertens. Zum Argument der Bedrohung Israels: Das ist natürlich ein sehr ernstzunehmendes Argument und von großer Bedeutung.
In der gegenwärtigen Situation wäre ein Angriff Saddams gegen Israel aber nur denkbar als Reaktion auf
einen Angriff gegen sein Land. Eine Gefahr für Israel würde also durch einen Militärschlag nicht abgewehrt, sondern gerade erst hervorgerufen.
Fünftens. Die Rolle der Vereinten Nationen bei der Friedens- und Konfliktlösung würde durch einen amerikanischen Alleingang nachhaltig geschwächt. Dies gilt insbesondere in bezug auf das Ansehen der Vereinten Nationen in der arabischen und islamischen Welt.
Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist natürlich auch die völkerrechtliche Bewertung eines möglichen Angriffs. Die Amerikaner gehen von einem Fortleben der Resolution 678 aus und leiten daraus ihr Recht auf einen erneuten Militärschlag ab, unabhängig davon, ob diese Interpretation rechtlich haltbar ist oder nicht. Diese Auslegung kann von den USA nicht nach eigenem Gutdünken vorgenommen werden, sondern muß beim UN-Sicherheitsrat liegen.
Auch Völkerrechtler des Max-Planck-Institutes halten deshalb einen Militäreinsatz ohne einen neuen Beschluß des UN-Sicherheitsrates für völkerrechtswidrig.
Für die UN-Politik stellt sich aber auch ein generelles Glaubwürdigkeitsproblem. Ich sage es noch einmal: Selbstverständlich teilen wir die Forderung nach Abrüstung der Massenvernichtungswaffen des Irak.
Der Irak ist aber bei weitem nicht der einzige Staat in der Region, der über Massenvernichtungswaffen verfügt.
Selbst wenn die Vernichtung sämtlicher irakischer Massenvernichtungswaffen gelänge, verfügt der Irak weiterhin über das Know-how zur Produktion chemischer und biologischer Waffen und wird wahrscheinlich innerhalb kurzer Zeit wieder derartige Waffen produzieren. Verhindert werden kann dies nur - wenn denn überhaupt - durch eine umfassende Abrüstung in der Region, insbesondere der in der Region vorhandenen ABC-Waffen.
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, die Kriegsvorbereitungen der USA weder politisch noch logistisch zu unterstützen.
Die USA fordern wir auf, eine diplomatische Lösung der Krise zu ermöglichen und militärische Interventionen zu unterlassen. Ein wesentliches Element einer möglichen diplomatischen Lösung wird es sein
Amke Dietert-Scheuer
müssen - unter der Voraussetzung des Einlenkens Saddams bei der Rüstungskontrolle -, diejenigen UN-Sanktionen zu lockern, die die irakische Bevölkerung direkt in Mitleidenschaft ziehen, und deren Aufhebung in Aussicht zu stellen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Zur Sache haben die Kollegen Seiters und Scharping alles gesagt, was notwendig war. Wir haben hier eine präzise und solide Darstellung der Situation gehört; ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Mir hat es aber doch etwas den Atem verschlagen, als ich gehört habe, welche Position die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier vortragen läßt. Das ist völlig auf der Linie dessen, was Herr Seiters eben zitiert hat. Herr Trittin hat - ich will das wiederholen - geäußert:
Die Vereinten Nationen verlören dadurch an Glaubwürdigkeit, daß die Amerikaner sie „unverschämt" für ihre ganz nationalen Ziele zu instrumentalisieren versuchten. Statt die UN in eine „unnötige Konfrontation zu jagen", solle Washington seine Schulden bezahlen.
Natürlich soll Washington seine Schulden bezahlen. Aber was hat das hiermit zu tun? Meine Damen und Henen, das ist doch eine abenteuerliche Verwechslung und bewußte Verdrehung von Ursache und Wirkung.
Wenn ich jetzt höre, mit welchen Krokodilstränen Sie die allerdings traurigen Auswirkungen der Embargomaßnahmen auf die Zivilbevölkerung beklagen, kann ich Sie nur daran erinnern: Sie waren es doch, die damals, beim ersten Golfkrieg, die Allianz verurteilt haben, die gesagt haben, hier dürfe man unter gar keinen Umständen militärisch eingreifen, sondern müsse sich auf das Mittel des Embargos zurückziehen. Sie haben doch diese Embargos gefordert. Jetzt sind sie in Wirkung, und Sie jammern und weinen Krokodilstränen.
Sie sagen uns hier, was alles nicht geschehen darf. Sie malen aus, was die Folgen eines Militärschlages sein könnten, und zwar sowohl in der Hinsicht, was nicht erreicht werden könnte, als auch in der Hinsicht, was an ungewünschten und unliebsamen Nebeneffekten auftreten könnte. Das mag zwar alles richtig sein. Aber Sie müssen sich dazu bequemen, hier zu sagen, wie Sie es denn haben wollen.
Es ist doch gesagt worden: Ein Militärschlag ist die Ultima ratio, das heißt, nur einzusetzen, wenn alle anderen Bemühungen, alle anderen Mittel versagt haben. Sie müssen uns einmal die Frage beantworten: Sollen wir uns als Staatengemeinschaft von einem menschenverachtenden, Massenvernichtungsmittel einsetzenden Diktator wie Saddam Hussein auf Dauer auf der Nase herumtanzen lassen?
Damit öffnen Sie doch der Willkür weiterer Diktatoren, die auf ähnliche Gedanken kommen könnten, Tür und Tor.
Diesen Ihren Anspruch kann ich nicht verstehen: Sie wissen, wie die Weltprobleme zu lösen sind. Sie haben für alles eine Antwort. Sie - das haben wir ja wieder bei der Debatte um die NATO-Öffnung gehört - wissen genau, wie sich jeder einzelne zu verhalten hat. Sie wissen, was die Ungarn machen sollen. Sie wissen, was die irakische Zivilbevölkerung machen soll. Jetzt wissen Sie genau, was die Amerikaner machen sollen.
Ich fordere Sie, die Sie als Fernethiker
mit hohem moralischen Anspruch durch die Welt reisen und Gott und die Welt belehren, was moralisch vertretbar sei oder nicht, auf: Schauen Sie einmal in den Spiegel! Bedenken Sie einmal das, was Sie hier gerade geboten haben: Sie sagen einerseits, das sei nicht so schlimm, was der da mit den Massenvernichtungsmitteln macht - natürlich unschön, aber letzten Endes müsse man das hinnehmen -, und andererseits sind die Amerikaner für Sie die eigentlichen Bösewichte. Angesichts dieses Eindrucks, der hier entsteht, kann ich Ihnen nur sagen: Das grenzt an moralische Verkommenheit, was Sie uns hier bieten.
Da muß sich Ihr Fraktionsvorsitzender und da müssen sich die anderen aus Ihrer Fraktion, die ja manchmal ganz vernünftige Reden halten, schon fragen lassen: Wo steht denn Ihre Partei eigentlich? Herr Fischer, billigen Sie das, was Herr Trittin gesagt hat? Billigen Sie das Schauspiel, das uns Ihre Kollegin Dietert-Scheuer gerade vorgeführt hat? Wo stehen Sie?
Zur SPD: Herr Scharping, Respekt vor der Haltung, die Sie eingenommen haben. Aber wenn sich die Ihnen hier an den Hals schmeißen und Sie nach wie vor ernsthaft überlegen, mit denen eine Koalition einzugehen, dann muß ich auch Ihnen die Frage stellen: Was soll denn der staunende deutsche Wähler davon halten, wenn er so etwas geboten bekommt?
Suchen wir also die Feinde nicht dort, wo sie nicht sitzen! Die USA werden es sich, wenn sie denn genötigt sein sollten, zum letzten Mittel eines militärischen Schlages zu greifen, genauestens überlegen, ob sie ihre Soldaten in die Gefahr schicken. Ich halte es für eine Unverschämtheit, den Amerikanern zu
Ulrich Irmer
unterstellen, daß sie die Menschenleben ihrer eigenen Söhne leichtfertig aufs Spiel setzen würden.
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht?
Ja.
Herr Kollege Irmer, es gibt ja im ganzen Hause Übereinstimmung darüber, daß der Irak gezwungen werden muß, vollkommenen Zugang zu den Stellen zu gewährleisten, an denen Waffen vermutet werden.
Aber angesichts der sehr martialischen Worte von „moralischer Verkommenheit" darf ich Sie fragen: Wie verhält es sich mit der Resolution 678 des Sicherheitsrates? Glauben Sie tatsächlich, daß ein amerikanisches Eingreifen ohne Zustimmung und neuen Beschluß des Sicherheitsrates völkerrechtlich legitim ist? Diese Frage muß der intellektuellen Redlichkeit wegen gestellt werden.
Ich darf eine zweite Frage anfügen: Glauben Sie, daß es legitim und sinnvoll ist, einen solchen Militärschlag zu führen, wenn anschließend die UNSCOM- Operation unmöglich ist? Oder glauben Sie - das muß man einfach kommunizieren -, daß Saddam Hussein durch einen Militärschlag dazu gebracht werden kann, die Aufnahme der Inspektionen wieder zuzulassen, ohne daß wir mit Bodentruppen vor Ort sind?
Herr Kollege Brecht, zu Ihrer ersten Frage: Das ist, wie jeder hier im Hause weiß, streitig. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die alte Resolution des Sicherheitsrates einen Militärschlag decken würde oder nicht. Darüber kann man getrost unterschiedlicher Meinung sein. Das werden sich diejenigen, die eventuell militärisch eingreifen müßten, genau überlegen. Hier ist mit Recht dazwischengerufen worden: Stellen Sie diese Frage doch einmal Ihrem Fraktionsvorsitzenden Scharping! Der wird keine andere Antwort wissen als die, die ich hier zu formulieren versucht habe.
Zu Ihrer zweiten Frage. Ich habe eben ganz klar gesagt, daß nicht garantiert werden kann, welchen Erfolg ein Militärschlag haben wird. Das heißt, es ist fraglich, ob durch einen solchen Militärschlag die verbliebenen Massenvernichtungswaffen getroffen und damit beseitigt werden können. Es ist sowohl fraglich, wie der Irak reagieren wird, als auch, wie die Nachbarschaft reagieren wird. Ich kenne diese Problematik. Das alles muß sich jeder, der sich für einen Militärschlag ausspricht, mit großem Verantwortungsbewußtsein überlegen; er muß entsprechend kalkulieren. Es ist aber keiner ein Prophet!
Ich kann nur noch einmal sagen: Wenn man Diktatoren vom Schlage eines Saddam Hussein gewähren läßt und wenn man sagt, die Staatengemeinschaft sei nicht bereit, der Mißachtung aller UN-Beschlüsse entgegenzutreten, und sie lasse sich das gefallen, dann öffnen wir doch der Willkür jedes wild oder verrückt gewordenen Usurpators Tor und Tür. Das war leider seinerzeit, als Saddam Hussein Kuwait überfallen hat, die Ratio; das ist auch heute die Ratio.
Die Amerikaner würden doch nicht im nationalen Interesse handeln. In welchem denn? Haben die Amerikaner etwa das nationale Ziel, jetzt den Irak in die Knie zu zwingen?
Die Amerikaner würden sich zum Vollstrecker dessen machen, was die Staatengemeinschaft will. Sie würden das Risiko tragen. Daß wir als Deutsche - zumal wir gar nicht gefragt werden - uns an militärischen Aktionen wegen Fehlens der Voraussetzungen nicht beteiligen, steht für mich völlig außer Frage. Wir müssen das eigentlich gar nicht erwähnen, weil uns niemand gefragt hat und weil eben die entsprechenden Voraussetzungen fehlen. Aber daß es nicht auch nur den geringsten Zweifel daran geben kann, daß wir in dieser Auseinandersetzung moralisch und ideell an der Seite unserer amerikanischen Verbündeten stehen, ist für mich - und hoffentlich auch für die ganz klare und eindeutige Mehrheit dieses Hauses - eine bare Selbstverständlichkeit.
Wer für sich die große Moral in Anspruch nimmt, immer mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt läuft und alles besser als alle anderen weiß, der sollte sich wirklich einmal die Skrupel machen, darüber nachzudenken, was in solchen Situationen eigentlich geschehen kann. Frau Dietert-Scheuer, Sie haben uns gesagt, wie schrecklich das alles - auch das, was von Herrn Scharping vorgetragen wurde - sei. Sie haben mit keinem Wort erwähnt, wie Sie eine solche Konfliktlage lösen könnten.
Diese Antwort sind Sie uns schuldig.
Sie predigen nur Moral, versperren vor den Realitäten aber völlig die Augen und erkennen auch nicht an, daß wir auf unsere Partner angewiesen waren und weiter angewiesen sind und daß es deshalb in unserem ureigenen Interesse liegt, unsere Bündnisse zu pflegen und unseren Verpflichtungen nachzukommen. Wenn das die Politik in diesem Lande werden sollte, dann, meine Damen und Herren, gehen wir einer ungewissen und unsicheren Zukunft entgegen. Sorgen wir alle dafür, daß das nicht geschieht!
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Helmut Lippelt das Wort.
Herr Irmer, über den zweiten Teil Ihrer Rede läßt sich reden. Aber die Tiraden des ersten Teils haben mich zu dieser Kurzintervention veranlaßt.
Lassen Sie mich dazu folgendes sagen: Ich teile in keiner Weise die Betrachtungsweise von Jürgen Trittin. Es gibt aber auch von mir hinreichend Presseerklärungen, auf die ich mich beziehe, wenn ich jetzt sage: Die Art und Weise, in der Sie die Partei in Haftung genommen haben, entspricht nicht dem, was Sie selber wissen können.
- Moment.
- Ich habe mich zu dieser Sache mindestens so viel wie irgendein anderer geäußert.
Eines ist ganz klar: Natürlich ist es völlig richtig, daß die Erfüllung der Waffenstillstandsbedingungen durchgesetzt werden muß. Weiterhin ist es natürlich völlig richtig, daß es, wenn ein Angriff auf Israel drohte, mit der Diplomatie zu Ende wäre; das ist auch meine Überzeugung.
Aber die nachdenklichen Fragen - deshalb melde ich mich auch - hat Herr Scharping leider erst am Schluß gestellt. Nachdem ganz klar ist, worin wir uns völlig einig sind, muß die Diskussion dieser nachdenklichen Fragen beginnen. Das hätte ich von den nachfolgenden Rednern, zum Beispiel Ihnen, Herr Irmer, erwartet.
Wir haben hier heute in der Diskussion gehört - das ist ja richtig; auch ich habe die Berichte gelesen -, daß aus den sogenannten Arealen offensichtlich Lkws herausfahren. Bloß, ist Ihnen der Hinweis entgangen, der in der „FAZ" schon vor fünf Tagen zu lesen war, daß sie möglicherweise in Kerbela sind, das heißt in den heiligen Stätten des Islam? Deshalb ist das Problem, vor dem wir stehen, die Unmöglichkeit, diesen Konflikt militärisch zu lösen.
Wenn wir so weit übereinstimmen, daß wir jetzt die Diskussion beginnen müssen, wie wir aus diesem Dilemma herauskommen, dann müssen wir vielleicht noch einen zweiten Gesichtspunkt betrachten - der macht mir Sorge, und darauf möchte ich eine Antwort haben -: Sie lesen doch überall, daß der Truppenaufmarsch noch in vollem Gange ist, daß er nächste Woche oder nach Ende der Olympiade seinen Höhepunkt hat. Sie wissen doch auch, daß es nach militärischem Denken fast unmöglich ist, einen solchen Aufmarsch über längere Zeit durchzuhalten. Da stellt sich die Frage: Was geschieht, wenn solche Kosten einmal entstanden sind?
Hier gibt es einen ganz verhängnisvollen Mechanismus. Deshalb müssen wir das hier diskutieren, aber anders, als wir es hier begonnen haben.
Wollen Sie antworten?
Herr Kollege Lippelt, zum zweiten Teil Ihrer Ausführungen verweise ich auf das, was Herr Scharping vorher hier ausgeführt hat: Herr Scharping hat gesagt: Die Drohung mit einem militärischen Schlag ist notwendig, um die diplomatischen Bemühungen zu unterstreichen, zu flankieren und gegebenenfalls zum Erfolg zu führen.
Das heißt, was im Augenblick dort an militärischem Einsatz vorbereitet wird, ist in sich ein Teil des Versuches, den Militärschlag möglicherweise zu vermeiden. Insofern halte ich das, was dort geschieht, für völlig richtig.
Zum ersten Teil Ihrer Frage: Herr Kollege Lippelt, Sie wissen, daß ich Sie schätze. Wir haben im Auswärtigen Ausschuß schon vielfach miteinander diskutiert. Aber wenn Frau Dietert-Scheuer hier im Namen Ihrer Fraktion spricht, dann wird sich Ihre Fraktion schon die Frage gefallen lassen müssen, ob das, was sie hier gesagt hat, auf Ihre Billigung stößt. Da hilft es nichts, wenn Sie sich in allen möglichen Presseerklärungen davon distanzieren.
Es ist leider auch so, daß vernünftige Äußerungen, die ich Ihnen jetzt einmal unterstellen möchte, von den Medien wesentlich weniger gerne aufgegriffen werden als so ein Unsinn, wie Herr Trittin ihn hier verzapft hat. Sie können nichts dafür, daß man Ihre Pressemitteilungen nicht abdruckt; aber das ist nun einmal die Realität.
Ich sage noch einmal: Die Diskussion findet jetzt in dieser Stunde im Deutschen Bundestag statt. Wenn Sie hier Frau Dietert-Scheuer das vortragen lassen, was sie gerade gesagt hat,
dann muß sich Ihre Fraktion und Ihre Partei dafür in die Haftung nehmen lassen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Tippach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Irmer, ist Ihnen aufgefallen, daß Sie immer nur denen Respekt bekunden, die genau Ihre Meinung vertreten,
und daß Sie diejenigen, die eine andere Meinung haben, als „Unsinn plappernd", „abenteuerlich" usw. beschimpfen? Vielleicht sollten Sie einmal darüber nachdenken, was da in Ihrer Wertestruktur nicht ganz stimmt.
Weil wir gerade bei der Wertestruktur sind: Ich hätte mir gewünscht, Sie würden bei anderen UN- Resolutionen, die nicht erfüllt worden sind - siehe
Steffen Tippach
Verminung von Häfen in Nicaragua durch die USA, siehe Golan, siehe Südlibanon -, genauso entschlossen vorgehen, wie Sie es jetzt hier fordern.
Es stellt sich für mich die Frage, warum Sie das nicht tun.
Es ist schon richtig, Herr Kollege Scharping: Es liegt nicht an der SPD, daß diese Debatte heute stattfindet. Es liegt an der PDS, die zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde beantragt hat. Die anderen Fraktionen, insbesondere die CDU/CSU und die SPD, haben nur mit Vorbehalten eine vereinbarte Debatte zugelassen. Das finde ich um so bedenklicher, als es nicht um den berühmten umfallenden Sack Reis in China, sondern um zentrale Fragen internationaler Politik geht. Es geht um Völkerrecht; es geht um die Strukturen der Vereinten Nationen; es geht generell um die Zukunft der Vereinten Nationen selbst. Vor allem geht es um Tausende von Menschenleben.
Vieles in der derzeitigen Irak-Krise ist Spekulation, Wortspielerei und Täuschung. Wovon können wir ausgehen? Mar ist: Die UN-Resolution 687 fordert die vollständige Zerstörung des irakischen Potentials an Massenvernichtungswaffen und der entsprechenden Produktionsanlagen. Klar ist auch, daß wohl nur Saddam Hussein selbst genau weiß, ob und in welchem Umfang noch biologische und chemische Waffen im Irak vorhanden sind. Bekannt ist ebenso, daß der frühere Leiter der UNSCOM-Mission, Ekeus, bereits 1995 feststellte, daß der Irak keine militärische Bedrohung mehr darstelle.
In diesem Haus herrscht Einigkeit darüber, daß die vollständige Umsetzung der UN-Resolution 687 in keiner Weise in Frage gestellt werden darf. Dissens besteht jedoch in der Wahl der Mittel. Genau in diesem Punkt geht es an die Substanz; denn in der Resolution 687 ist an keiner Stelle vom Einsatz militärischer Mittel die Rede. Sie sind dort nicht vorgesehen. Auch wenn ich Saddam Hussein für einen der größten lebenden Verbrecher halte, so muß ich feststellen, daß seine Beseitigung von keiner UN-Resolution gefordert und gedeckt wird.
Wenn Bill Clinton also am 14. November 1997 sagte: Falls der irakische Diktator nicht abgesetzt werde, bleibe die Blockade „bis ans Ende aller Zeiten", dann mag ich das persönlich verstehen; völkerrechtlich ist es aber nichts anderes als Willkür. Denn die Schlinge, die die US-Außenministerin Albright immer enger um den Hals von Saddam Hussein gezogen sieht, würgt nicht Saddam selbst, sondern sie würgt das irakische Volk. Die Folgen des Embargos für die Menschen sind hinreichend bekannt. Sie sind in den vorherigen Redebeiträgen beschrieben worden.
Aber anstatt etwa der Initiative des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, die nicht nur von dem Irak, sondern auch von den USA abgelehnt wurde, weitere Vorschläge in dieser Richtung folgen zu lassen, werden zunehmend Bedrohungsszenarien entwickelt. Es werden nationale politische und wirtschaftliche Interessen an der UNO vorbei militärisch durchgesetzt. In diesem Punkt kann ich Herrn Trittin nur zustimmen.
Ich finde es schlicht skandalös, daß sich die USA die Vereinten Nationen zur Beute gemacht haben und führende deutsche Politiker von Kohl bis Verheugen das auch noch toll finden und unterstützen. Ein eigenes Profil entsteht eben nicht, indem man - um den Kollegen Verheugen laut „ADN" zu zitieren - „die amerikanische Drohposition gegen den Irak vorbehaltlos unterstützt",
sondern indem man den eigenen Verstand benutzt und sich fragt, auf welcher Grundlage ein militärisches Vorgehen am Golf überhaupt gutgeheißen werden kann und was das eigentlich bringen soll. Gerade weil der größte Beitrag zum Entstehen des A- und C-Waffenpotentials aus der Bundesrepublik Deutschland stammt, sollte sich dieses Land nicht schon wieder an der Aufweichung und Verwässerung des Völkerrechts beteiligen.
Ich bin der festen Überzeugung, daß ein militärischer Schlag gegen den Irak für die Durchsetzung der Resolution 687 nicht nur nichts bringen wird, sondern daß er im Gegenteil die Lage weiter verschärfen wird, Tod und Elend bringen und im schlimmsten Fall für die Freisetzung biologischer und chemischer Kampfstoffe sorgen wird.
Die PDS hat am 26. November 1997 einen Antrag für eine friedliche Lösung des Konflikts am Golf in dieses Parlament eingebracht, der sich aus heutiger Sicht geradezu prophetisch liest. Ich zitiere den ersten Abschnitt der Beschlußvorlage:
Eine dauerhafte Lösung der Krise am Golf ist nicht in Sicht. Neue Eskalationen sind vorgezeichnet; der Einsatz militärischer Gewalt ist nach wie vor nicht auszuschließen. Die jüngste Verschärfung des Konflikts hat aber deutlich gemacht: Eine gerechte und dauerhafte Lösung des Konflikts ist weder mit der andauernden Knebelung des Irak zu Lasten der Zivilbevölkerung noch mit militärischer Gewalt zu erreichen. Es ist an der Zeit, jetzt einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu suchen.
Dieser Antrag mit konkreten Lösungsvorschlägen, die ja in der Debatte permanent gefordert wurden, liegt derzeit in den Ausschüssen des Parlaments. Ich hoffe auf eine schnelle Beratung und Verabschiedung. Sie ist dringend nötig, um aus der existierenden Gewaltspirale auszubrechen.
Ich bin fest davon überzeugt, daß die einzig dauerhafte Lösung für diesen Konflikt eine zivile, eine diplomatische Lösung ist. Eine solche ist nur durch die Vereinten Nationen und durch das Engagement ihrer Mitgliedstaaten zu erreichen. Wir haben dazu einen Entschließungsantrag vorbereitet, der Ihnen vorliegt und für den wir um Zustimmung bitten möchten.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesaußenminister Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Volmer, würden Sie bitte noch eine Sekunde warten, weil ich Sie ansprechen wollte. Ich wollte sagen, daß ich hoffe, daß heute sehr viele Ihre Rede zur NATO-Erweiterung gehört haben. Ich hoffe auch, daß viele die Rede von Frau Dietert-Scheuer zu dem Thema, das uns im Augenblick beschäftigt, gehört haben.
Ich will Ihnen sagen, warum. Herr Kollege, wir beide sitzen sehr oft zusammen im Ausschuß. Ich habe von Ihnen selten irgendeine Stellungnahme gehört. Nun halten Sie hier eine Rede und halten draußen Vorträge. Von Herrn Fischer, der hier sonst bei allem und jedem dazwischenruft und das große Wort führt, hätte ich erwartet, daß er auch heute einmal etwas sagt.
Nachdem er alles und jedes hier im Parlament laut kommentiert, wäre ich sehr gespannt gewesen, zu hören, wie er Ihre beiden Reden kommentiert hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die zentralen Punkte noch einmal nennen. Erstens. Ein einziger trägt die Verantwortung für die jüngste Konfrontation mit den Vereinten Nationen: Das ist Saddam Hussein. Zweitens. Er muß dafür sorgen, daß der Irak alle Resolutionen des UN-Sicherheitsrates erfüllt. Drittens. Es muß politisch alles, aber auch alles versucht werden, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Viertens. Die Gefahr, die von einem Irak im Besitz von Massenvernichtungswaffen ausgeht, kann niemanden gleichgültig lassen, weder die anderen Staaten der Region, vor allem Israel, noch Europäer und Amerikaner.
Deshalb gilt: Sollte der Irak die Zusammenarbeit weiter verweigern und sollten alle politischen Bemühungen ohne Erfolg bleiben, kann und darf eine militärische Aktion nicht ausgeschlossen werden. Für diesen Fall gilt: Die USA und Großbritannien können sich auf die Solidarität Deutschlands verlassen, und zwar absolut.
Ich begrüße es sehr, daß sich der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Scharping, heute in so eindeutiger Art und Weise dieser klaren Haltung angeschlossen hat. Ich begrüße es auch - das erspart mir einiges, was ich hier sagen wollte -, daß Sie, Herr Kollege Scharping, das Bedrohungspotential dargestellt haben. Das ist im wesentlichen der Inhalt des amerikanischen Briefings. Dem habe ich noch etwas aus dem Briefing von Herrn Butler hinzuzufügen, den ich extra gebeten hatte, hierherzukommen. Ich will klar und deutlich sagen: Nach dessen zweistündigem Briefing war ich erheblich besorgter als vorher.
Im übrigen glaube ich, daß gerade wir Deutschen allen Grund haben, daran mitzuwirken, daß kein weiteres Mal Schreckliches durch einen Diktator geschieht. Einer wurde zu spät gebremst. Diesen müssen wir rechtzeitig bremsen.
Die Unterrichtung und das Briefing durch Herrn Butler haben im Kern ergeben: Bei den ballistischen Raketen läßt sich nicht ausschließen, daß der Irak aus Eigenproduktion und Teilen unbeaufsichtigt zerstörter Raketen neue Raketen zusammensetzen kann. Er hat mir gesagt, bei den Nuklearwaffen - das wurde er vom Sicherheitsrat gefragt - sei wohl alles in Ordnung. Bei den chemischen Waffen fehlen insbesondere Nachweise über Produktionseinrichtungen und Vorprodukte für den gefährlichsten Kampfstoff, das Nervengas VX. Bei den biologischen Waffen sind die Widersprüche in den irakischen Angaben am schwerwiegendsten. Er hat es so ausgedrückt: „ein tiefes schwarzes Loch" . Eine Reihe von Komponenten und Vorprodukten könnten noch vorhanden sein, vor allem der besonders haltbare biologische Kampfstoff - Sie haben darauf hingewiesen, Herr Scharping - Anthrax.
Es gab - das muß auf die Person Saddam Hussein fokussiert werden - in der Vergangenheit einfach zu viele Lügen, es gab zuviel Geheimniskrämerei, es gab zuviel Ausweichen, es gab zu viele falsche Angaben, im übrigen auch bewußt falsche Fährten, als daß man ihm heute glauben könnte. Auch darauf hat Herr Scharping hingewiesen.
Ich habe Richard Butler für die Erfolge gedankt, die die UNSCOM und im Nuklearbereich die IAEA - das darf man nicht vergessen - in der Vergangenheit erzielt haben. Dazu hat Deutschland durch die Bundeswehr in der Tat Entscheidendes beigetragen, Herr Kollege Rühe. Ich habe die Soldaten, die dort im Einsatz waren, zweimal besucht und habe ihren Einsatz erlebt. Sie waren dort über lange Jahre mit zwei Transall und Hubschraubern im Einsatz. Die Bundesregierung hat dafür insgesamt 100 Millionen DM aufgebracht. Ich finde, das sollte man einmal sagen dürfen.
Im übrigen haben wir auch mit Experten im UNSCOM-Team einen Beitrag zu diesen Erfolgen geleistet. Im Augenblick haben wir wieder zwei hochqualifizierte Fachleute in diesem Team, die sich dafür einsetzen, daß aufgeklärt werden kann.
Jetzt ist entscheidend, daß der Irak entsprechend der Verpflichtung aus der VN-Resolution 687 rückhaltlos Klarheit schafft. Daß dies bisher nicht geschah und - das ist das Entscheidende; allein darüber habe ich mich eine halbe Stunde mit Butler unterhalten - die Art, wie sich der Irak im Umfeld der Kontrollen insgesamt verhält, verstärken eindeutig den Verdacht, daß da einiges, wahrscheinlich sogar viel zu verbergen ist.
Wir können als Staatengemeinschaft keine Grauzone dulden. Es muß vollständig überprüft und aufgeklärt werden. Wir reden hier über furchtbare Massenvernichtungswaffen. Man sollte auch nicht ver-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
gessen, daß der Irak diese Waffen bereits mehrfach eingesetzt hat: im Krieg mit dem Iran und gegen seine eigenen kurdischen Mitbürger.
Vor allem wenn es um die Sicherheit und Existenz Israels geht, ist für uns Deutsche besondere Wachsamkeit und Solidarität selbstverständlich. Deshalb hat die internationale Gemeinschaft das Recht, vollständige Aufklärung zu verlangen. Eine Unschuldsvermutung für den Irak kann es insbesondere auf Grund des vorausgegangenen Tuns leider nicht geben.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch hat Saddam Hussein es in der Hand, eine politische Lösung der Krise zu ermöglichen. Er muß ohne Wenn und Aber so mit der Staatengemeinschaft zusammenarbeiten, wie der Sicherheitsrat es in seinen Resolutionen von ihm gefordert hat. UNSCOM muß uneingeschränkten Zugang zu allen Einrichtungen bekommen, die verdächtig sind. Das sind nicht nur die Paläste, sondern - wie Herr Butler mir in eindrucksvoller Weise erzählt hat - vielmehr auch die umliegenden Areale und ganz bestimmte Gebäude, von denen man glaubt, präzise zu wissen, was sich darin befindet. Bagdad muß seine Potentiale an Massenvernichtungswaffen rückhaltlos aufdekken und UNSCOM übergeben. Wenn der Sicherheitsrat bestätigt, daß der Irak alle seine Verpflichtungen erfüllt hat, dann können die Sanktionen, die natürlich die Menschen treffen, aufgehoben werden.
Ich persönlich setze meine Hoffnung auf Rußland, auf die Türkei und auch auf Frankreich. Diese drei Länder - wenn überhaupt jemand Beziehungen zum Irak hat, dann diese Länder - haben im Augenblick zweifellos die Möglichkeit zu helfen. Ich hoffe, daß es noch gelingt, zu einer diplomatischen Lösung zu kommen. Ich will auch deutlich sagen, warum ich diese Hoffnung habe: weil ich annehme, daß Saddam Hussein weiß, daß es, wenn es zu einem militärischen Schlag käme, diesmal ernst würde und daß dies keine begrenzte Aktion wäre, vielleicht sogar gar nicht sein könnte. Wir setzen alles daran, um den Irak noch zum Einlenken zu bewegen. Was bisher zugestanden wurde, reicht nicht.
Wir stehen in intensivem Kontakt mit den USA und den Partnern und Freunden in der Europäischen Union. Die Erfahrungen mit Saddam Hussein - auch das ist, glaube ich, entscheidend - zeigen aber leider, daß er nur unter Druck zur Befolgung der Sicherheitsratsresolutionen bereit ist. Die Staatengemeinschaft kann nicht akzeptieren, daß er ihr immer auf der Nase herumtanzt. Deshalb muß die militärische Option fortbestehen. Gerade wer eine friedliche Lösung will, darf da nicht wackeln.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ziemlich genau sieben Jahre her, daß wir drüben im Wasserwerk saßen und über eine Resolution debattiert und nachgedacht haben, die unsere Position zum damaligen Krieg am Golf darstellen sollte. Wir haben uns sehr schwergetan; viele haben sich schwergetan, manche tun sich heute noch schwer.
Weiße Tücher wurden hinausgehängt. Das war das politische Kredo derjenigen, die sich heute mit verschiedenen Pressemeldungen darzustellen versuchen. Ich darf noch einmal das aufgreifen, was Kollege Lippelt - allen Respekt vor seiner persönlichen Position und vor der manch anderer - gesagt hat. Aber der Parteivorsitzende - Sie sagen dazu „Sprecher" - der Partei der Grünen vertritt hier einen Kurs der weißen Tücher und einen Kurs der Wirklichkeitsverweigerung. Das ist das eigentliche Problem, über das man noch sieben Jahre später reden muß: sieben Jahre und nichts dazugelernt.
Ich habe vor kurzem bei einer privaten Feier mit einem alten Herrn - er war knapp 90 Jahre alt - gesprochen. Beim Hinausgehen fragte er: Glaubst du, daß es da zum Schießen kommt? Ich habe die Hoffnung ausgedrückt, daß die diplomatischen Bemühungen verhindern, daß die Ultima ratio eingesetzt werden muß. Er sagte beim Verabschieden: Wenn es sein muß, dann muß es wohl sein; denn es gibt nichts Schlimmeres, als Diktatoren gewähren zu lassen; das weiß meine Generation.
Das heißt, daß wir diejenigen, die die Mittel haben und sie auch anwenden können, in der internationalen Gemeinschaft unter Einsatz der Möglichkeiten, die wir haben, unterstützen müssen und werden. Im übrigen würde ich mir den Kopf über die genaue Ausführung solcher Aktionen nicht zerbrechen. Ich bin kein General und weiß auch nicht, wie das im einzelnen durchzuführen ist. Die Frage ist doch, ob ich das politisch will und es für notwendig erachte. Alles andere sind Stellvertreter- und Ersatzdiskussionen und führen am Thema vorbei.
Ich darf auf Ausführungen des Kollegen Brecht - er hatte vorhin eine Zwischenfrage gestellt - eingehen. Sein Fraktionsvorsitzender hat in einem beachtenswerten Vortrag alle Argumente zusammengestellt, die auch von der Bundesregierung vorgetragen werden. Vielleicht ist das auch zum Nachlesen für den einen oder anderen in seiner eigenen Fraktion gedacht. Ich will es nicht weiter in die Diskussion einbringen.
Es stellt sich die Frage, ob man den Wald vor lauter Bäumen eventuell nicht sieht. Ich sehe auch, Kollege Brecht, daß es für den Tag danach natürlich Fragestellungen gibt und wir uns über diesen Tag Gedanken machen müssen. Hoffentlich müssen wir sie uns über einen Tag danach machen, der nicht eintritt, weil doch noch einer einlenkt: der einzige, der es kann und auf den es ankommt, nämlich Saddam Hussein, und zwar ohne Kompromisse. Für den Fall, daß er es nicht tut, müssen wir Vorsorge treffen.
Christian Schmidt
Das heißt für mich zweierlei: Es bedeutet zum einen, ganz klar zu erkennen, daß wir ein genuin europäisches Interesse daran haben, daß diese Problematik geklärt wird. Wir müssen in unserer deutschen Position im Rahmen der europäischen Partner bis hin - im größeren Europa gedacht - zu Rußland für eine einheitliche Haltung werben. Ich glaube, wir sind gar nicht so weit davon entfernt.
Wir müssen uns aber auch klarmachen, daß das Gewährenlassen, das Ausbauen von Reichweite, das Sammeln von Giftgas den Staat Israel treffen kann und irgendwann auch ins NATO-Gebiet hineinreichen und viel früher und viel stärker auf europäische Gebiete zielen könnte, als das jenseits des Atlantiks der Fall ist. Deswegen haben wir ein genuin europäisches Interesse daran, und ich weigere mich einfach, den durchscheinenden platten Antiamerikanismus, den manche noch pflegen und offensichtlich nicht aus den Köpfen herausbringen, wie er 1968 produziert worden ist, auf das Jahr 1998 fortzuschreiben. Nein, unser europäisches Interesse wird in dieser Angelegenheit mit berücksichtigt und zu berücksichtigen sein.
Wir brauchen also die enge Abstimmung unserer Position. Wir müssen dabei beachten, daß wir nicht zwischen Alternativen wählen können. Wir werden und müssen klar sagen, daß uns das Existenzrecht Israels an allererster Stelle am Herzen liegt und daß wir den Rat und die Meinung derer in Israel nicht beiseite schieben können. Sie warten auf uns. Unsere Freunde hören zu, was hier heute in Bonn diskutiert wird, und verfolgen, wie wir uns zu diesen Fragen stellen. Um so mehr bedarf es einer klaren Antwort.
Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, der den Tag danach betrifft. Die - wie Rudi Seiters gesagt hat - Geiselnahme des irakischen Volks durch den eigenen Diktator ist ein Problem. Darüber hinaus ist ein Problem, daß dadurch ein Sympathiepotential entstehen könnte, daß Hussein mit falschen Propagandabemerkungen und falschen Propagandaaktionen versucht, im arabischen Raum Beute zu machen und weitere Geiseln zu nehmen. Deswegen bedarf es sicherlich einer differenzierten Politik, insbesondere unter Beteiligung der Europäer, die die klugen und weisen Staatsmänner im arabischen Bereich, die bereit sind, sich zu engagieren, miteinbezieht. Dazu gehören König Hussein von Jordanien, Präsident Mubarak von Ägypten und einige andere.
Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß die Europäer gemeinsam mit den Amerikanern versuchen, für die Zeit danach zu klären, wie die Gewichtungen und die Stabilitätsstrukturen im Mittleren Osten sein werden. Es führt nach allem kein Weg daran vorbei, daß wir der Realität ins Gesicht sehen, daß wir sie wahrnehmen und nicht vor ihr flüchten. Einige flüchten vor der Realität: Sie sitzen hier und dort. Man muß ganz deutlich sagen: Eine Partei, die nicht weiß, wie sie sich in existentiellen Fragen, in
Fragen des Überlebens der Menschheit, äußern soll, ist weder hier noch sonstwo regierungsfähig.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Lummer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, welche geniale Regie dazu geführt hat, daß zwei Schwarze nacheinander reden. Ich kann ja einmal den Versuch machen, als Vermittler oder so etwas zu reden.
Es gibt ganz gewiß Zeiten, in denen es sehr gut und vielleicht auch notwendig und richtig ist, daß man trefflich miteinander streitet - zwischen Regierung und Opposition und anderenorts -, damit sich aus These und Antithese eine schöne Synthese entwickelt. Aber es gibt auch Zeiten, in denen es notwendig und wichtig ist, zu einer gemeinsamen Position zu kommen. Ich glaube, damit haben wir es jetzt zu tun.
Zweifellos sind hier kritische Fragen gestellt und begründete Einwände vorgebracht worden. Ich bin der letzte, der all das, was da gesagt worden ist, vom Tisch wischt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es weiß niemand genau, wie die Kriegsziele aussehen. Es weiß niemand genau, welche Wirkung die Schläge haben werden. Es weiß auch niemand genau, was danach kommt, wie die Politik danach aussieht, wenn es zum militärischen Schlag kommt.
Manche erinnern sich daran, daß dieser brutale Diktator irgendwann einmal mit dem Wohlwollen mancher internationalen Macht unterstützt worden ist, als er einen bösen Krieg führte. Manch einer erinnert sich daran, daß bei der Einhaltung von Resolutionen der Vereinten Nationen mit zweierlei Maß gemessen wird. Mancher - wie Herr Brecht - verweist darauf, daß die völkerrechtliche Lage nicht ganz eindeutig ist.
All diese Zweifel sind nicht ganz unbegründet. Man muß sie abwägen, wie es der Kollege Voigt neulich und der Kollege Scharping hier heute gesagt haben. Man muß schließlich Prioritäten setzen und zu einer Entscheidung kommen; denn Politik kann sich in solch kritischen und historischen Situationen nicht damit begnügen, Fragen zu stellen, sondern sie muß irgendwann entscheiden. Eine Güterabwägung muß gemacht werden.
Wenn Sie alle diese Fragen summieren und sich als verantwortlicher Politiker in die Person des Präsidenten der Vereinigten Staaten oder eines anderen hineinversetzen und entscheiden müssen, dann kommen Sie bei einer solchen Güterabwägung zu einem ganz bestimmten Ergebnis. Es ist wichtig, daß dieses Ergebnis möglichst eindeutig und einstimmig ausfällt; denn sonst ist die Wirksamkeit der Politik in Frage gestellt.
Heinrich Lummer
Um welche Frage geht es denn dabei? Natürlich will niemand - als Priorität - militärische Mittel einsetzen. Wir wollen diplomatische Mittel einsetzen, auf der anderen Seite aber natürlich auch erreichen, daß die Resolutionen der Vereinten Nationen erfüllt werden. Das tun wir nicht um der Resolutionen selbst willen, sondern weil wir wissen: Wenn es nicht gelingt, diesem Menschen Massenvernichtungsmittel zu entziehen, dann wird er sie irgendwann einsetzen. Dann ist der Krieg irgendwann vielleicht schlimmer da, als wenn heute ein militärischer Einsatz erfolgt. Auch der Golfkrieg ist damals kein Mittel um des Krieges willen gewesen, er diente auch nicht nur dazu, Kuwait zu retten, sondern er war so etwas wie eine zwangsweise Abrüstung, nicht nur als Nebeneffekt oder Nebenziel. Auch wenn jetzt ein Schlag erfolgte, wäre dies ein Teil der Zielsetzung.
Wenn man also diese Resolution durchsetzen will, dann kann es, bezogen auf dieses Regime, unter Umständen notwendig sein, militärische Macht einzusetzen. Wenn man daran dauernd zweifelt, herumnörgelt und das in Zweifel stellt, dann untergräbt man jede Glaubwürdigkeit der Drohung, militärische Mittel einzusetzen. Dann wird es auch auf diplomatischem Wege nicht mehr möglich sein, zu einem anständigen Erfolg zu kommen. Das heißt, der diplomatische Erfolg hängt möglicherweise von dieser Bereitschaft und von der Glaubwürdigkeit militärischer Drohung ab. Das muß doch auch von den Grünen zu kapieren sein.
Es wäre schön, wenn wir dabei zu einer gemeinsamen Position kämen.
Im Ergebnis heißt das für mich nach aller Abwägung ganz einfach: Im Zweifel sind wir auf seiten der Vereinigten Staaten und unterstützen sie. Das heißt, im Notfall muß der militärische Einsatz erfolgen. Das heißt auch, noch leben wir in der Hoffnung, daß die Einsicht wächst und diplomatische Lösungen möglich werden. Sie werden deshalb möglich, weil wir auch mit der Erfahrung leben - diese will ich mit einem Zitat von Karl Kraus deutlich machen -, was Krieg oftmals, nicht immer, in der Praxis bedeutet. Karl Kraus hat nämlich gesagt:
Krieg ist zuerst die Hoffnung, daß es einem bessergehen wird, hierauf die Erwartung, daß es dem andern schlechtergehen wird, dann die Genugtuung, daß es dem andern auch nicht bessergeht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechtergeht.
Das sollte man tunlichst vermeiden.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/9888. Es wird sofortige Beschlußfassung gewünscht. Wir müssen jetzt erst darüber abstimmen, ob wir sofort über den Entschließungsantrag entscheiden wollen. Wer stimmt für die sofortige Abstimmung? - Gegenstimmen! -Enthaltungen? - Damit ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sofortige Beschlußfassung gewünscht.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen, wobei auch eine Stimme der Grünen für Ablehnung war, abgelehnt worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung des Bundestages zum Schwangerschaftskonfliktgesetz und zur beabsichtigten Neuordnung der kirchlichen Beratungstätigkeit
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Inge Wettig-Danielmeier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor zweieinhalb Jahren haben hier Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU, F.D.P. und SPD den Kompromiß zum Schwangeren- und Familienhilferecht vertreten und, von unterschiedlichen Überzeugungen kommend, auch nachdrücklich begrüßt. Das scheint auch jetzt noch trotz unterschiedlicher politischer Richtungen der Fall zu sein.
Dennoch hat die Debatte der letzten acht Wochen viele Frauen tief verunsichert. Ich denke, wir tun gut daran, daß nicht nur einzelne Stimmen, sondern der Bundestag in seiner Gesamtheit deutlich macht, daß wir unabhängig von kirchlichen Weisungen und manchen Schwierigkeiten an dem eingeschlagenen Weg festhalten.
Schließlich sind auch gläubige Christen, wie sie im Zentralkomitee der deutschen Katholiken organisiert sind, sich einig, „daß das gesetzliche Konzept zum Lebensschutz in Deutschland in der Unbedingtheit des Ziels, das ungeborene Leben zu schützen, im Weltvergleich singulär ist" .
Dem Wunsch des Papstes, die katholische Kirche solle in ihren Beratungsstellen keine Bescheinigungen mehr ausstellen, wollen die deutschen Bischöfe nun nachkommen. Noch liegt eine Übergangszeit vor uns. Die Bischöfe wollen nach einer Lösung des Problems suchen. Wir werden das abwarten. Aber unzweifelhaft ist: Eine Konfliktberatung ohne Schein verstößt gegen den § 219, der jede anerkannte und in der Regel öffentlich finanzierte Beratungsstelle verpflichtet, die Beratung zu bescheinigen.
Inge Wettig-Danielmeier
Wir Sozialdemokraten könnten auf den Schein verzichten. Unser Glaube an die Vernunft der Frauen ist groß genug.
Aber das Bundesverfassungsgericht wollte das ebensowenig wie CDU/CSU oder F.D.P. Die verpflichtende Beratung gehört zum vereinbarten Schutzkonzept.
Wir würden es bedauern, wenn die katholischen Bischöfe bei ihrer Haltung blieben und so den Frauen in Konfliktsituationen den Rat versagten. Welche Frau, die sich in dem schweren Konflikt befindet und nicht weiß, ob sie es wagen kann, ein Kind auszutragen oder nicht, sucht eine Beratungsstelle auf, die ihr den Ausweg eines Abbruchs von vornherein versperrt? Ohne Schuld bleibt die Kirche wohl in keinem Fall. Das zu entscheiden, ist ihre Verantwortung. Unsere Verantwortung ist, dafür zu sorgen, daß Beratungsmöglichkeiten für Frauen in Konfliktsituationen vorgehalten werden, wenn nicht mit der katholischen Kirche, wie wir es im Interesse der katholischen Frauen wünschten, dann ohne die Kirche.
Die finanziellen Folgen müssen Länder und Kommunen bedenken.
Die Beratungsstellen in der Bundesrepublik erfüllen ihre Aufgaben in aller Regel ohne Tadel.
Die Interpretation des Bundesverfassungsgerichtsurteils durch die Frauenministerin ist glücklicherweise vom Kanzler zurechtgerückt worden. Richtig ist, daß dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht auferlegt worden ist und daß dafür statistische Daten vorgehalten werden müssen. Richtig ist auch, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche immer zu hoch ist. Das ist angesichts der sozialen Lage in der Bundesrepublik aber nicht verwunderlich.
Hier ist in der Tat der Gesetzgeber gefragt.
Was ist bisher in der Praxis getan worden, um Frauen in schwierigen Situationen zu helfen?
Wie können Mütter besser unterstützt werden? Wie können sie Beruf und Kind vereinbaren? Warum ist der Erziehungsurlaub so wenig flexibel? Wann endlich ist Familie nicht mehr gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Abstieg? Am § 218 muß nicht herumgebastelt werden. Zu Überlegungen über mehr Lebensschutz durch mehr Hilfen zum Leben muß aber das ganze Parlament bereit sein.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich eigentlich unverständlich, daß die SPD dieses Thema zum Anlaß einer Aktuellen Stunde nimmt; denn die Politik ist derzeit nicht gefordert. Dieses Thema eignet sich auch keinesfalls für den Wahlkampf.
Erst zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir nach langwieriger Diskussion endlich einen Kompromiß gefunden. Bereits 1992 hatten wir, Frau WettigDanielmeier, im Rahmen einer Reihe von Begleitgesetzen gerade im Hinblick auf den Schwangerschaftskonflikt Gesetze beschlossen, die helfen, Familien und Alleinerziehenden das Leben leichter zu machen.
Das Beratungskonzept, das wir 1995 beschlossen haben, war Teil des Kompromisses. Es ist eine Beratung zum Leben; mit dieser Beratung soll die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigt werden. Der Frau soll geholfen werden, die bestehende Konfliktlage durch Rat und Hilfe zu bewältigen. Zweck der Schwangerschaftskonfliktberatung ist es, positiv Wege aufzuzeigen, damit sich die Frau für das Kind entscheiden kann. Es ist Aufgabe der Beratung, sich für das Lebensrecht des Kindes einzusetzen. Aber: Die Entscheidung für das Kind trifft natürlich die Schwangere selbst. Der Beratungsschein ist eine Bestätigung dafür, daß eine Beratung stattgefunden hat, nämlich die Beratung zum Leben.
Die katholische Kirche ist geradezu dazu prädestiniert, diese Beratung zum Leben durchzuführen - aus ihrem Selbstverständnis heraus, aus ihrer Verantwortung gegenüber dem ungeborenen Leben und aus ihrer Verantwortung gegenüber in Not geratenen Frauen. Diese Aufgabe hat die katholische Kirche in hervorragender Weise in ihren Beratungsstellen erfüllt. Ich danke an dieser Stelle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen katholischen Beratungsstellen.
Das Anliegen der CDU/CSU ist es, daß die katholische Kirche diese Beratung fortsetzt. Daher begrüße ich das Wort der Bischöfe, nach neuen Wegen zu suchen und die bestehenden Spielräume zu nutzen. Die katholischen Beratungsstellen müssen auch weiterhin ein Teil des pluralen Angebots bleiben; denn sie sind eine wichtige Säule im gesetzlichen Beratungskonzept. Wir können und wollen auf ihren Dienst zum Schutz des ungeborenen Lebens und im Interesse der Frauen nicht verzichten.
Die Situation der Bischöfe ist nicht einfach. Ich freue mich, daß sie aus dem Papstbrief keine voreiligen Schlußfolgerungen gezogen haben, sondern besonnen reagieren. Ich vertraue darauf, daß sie einen Weg finden, der es auch in Zukunft den Frauen, die
Maria Eichhorn
eine Abtreibung in Erwägung ziehen, ermöglichen wird, weiterhin diese katholischen Beratungsstellen aufzusuchen. Ich begrüße, daß sich alle Parteien für den Verbleib der Kirche in der Schwangerschaftskonfliktberatung einsetzen. Aber ist es schon interessant, zu sehen, wer sich in dieser Frage zu Worte meldet.
Meine Damen und Herren, ich halte überhaupt nichts von der Forderung, daß der Staat aus der Förderung der Beratungsstellen aussteigen sollte.
Die Drohung, die finanziellen Mittel zu streichen, ist fehl am Platz. Die Politik ist derzeit nicht gefordert. Wir müssen der Kirche jetzt die Möglichkeit geben, Vorschläge zu machen. Wir sollten in Ruhe die Entscheidung der Bischöfe abwarten. Ich gehe davon aus, daß die Kirche im Interesse des Lebensschutzes und im Interesse der Frauen einen Weg finden wird, weiterhin im Rahmen des gesetzlichen Rahmenkonzepts zu bleiben.
Es spricht jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst Bayern, dann die Frauenministerin und nun die katholische Bischofskonferenz: Alle rütteln sie an einem Gesetz, das Sie hier in sehr großer Koalition verabschiedet haben.
Wir Grüne haben dieses Gesetz immer abgelehnt. Vieles von dem, was wir befürchtet haben, ist inzwischen eingetreten. Bayern hat einen Sonderweg eingeschlagen, über den Karlsruhe noch entscheiden muß. Die Frauenministerin ist schon bei der Verabschiedung des Kompromisses aus den Koalitionsreihen ausgeschert und hat in vorauseilendem Gehorsam quasi am Vorabend des päpstlichen Ukas eine Überprüfung des Gesetzes vom Bundesverfassungsgericht gefordert. Das ist wirklich unglaublich.
Jetzt fordert die Deutsche Bischofskonferenz die Politik auf, die Kirche aus ihren Nöten zu befreien und das Gesetz zu verschärfen. Dazu sage ich: Ohne uns, meine Damen und Herren!
Die Letztentscheidungsinstanz in diesem Lande ist nicht Rom.
Gesetze macht hier der Bundestag und nicht der Vatikan. Gesetze müssen unserer pluralen Gesellschaft gerecht werden. Damit muß auch Herr Ratzinger leben.
Es ist selbstverständlich Sache der Kirche, wie sie sich zur Abtreibung stellt, und es ist ihr Recht, sich gegen Schwangerschaftsabbrüche auszusprechen. Sie muß sich entscheiden, ob sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Beratung bleiben will. Es ist jedenfalls für uns Grüne keine Frage: Beratungsstellen dürfen nur anerkannt und gefördert werden, wenn sie sich an die Gesetze halten.
Die Anmaßung, die Praxis der nichtkatholischen Beratungsstellen als zu lax zu kritisieren, wie es Bischof Lehmann getan hat, weise ich scharf zurück, müssen wir alle hier schärfstens zurückweisen.
Viele katholische Beraterinnen machen eine gute Arbeit. Dies gilt aber genauso für die Beratungsstellen von Diakonie, Pro Familia und anderen.
Es ist nicht die Aufgabe der Politik, darüber nachzudenken, wie sie der Kirche helfen kann, ihr Gewissen zu beruhigen. Was im Moment ansteht, ist einzig und allein eine Entscheidung der Kirche:
Bleibt sie auf der gesetzlichen Grundlage in der Beratung, oder meldet sie sich ab? Das würde ich persönlich sehr bedauern.
Allerdings ist es Aufgabe der Politik, den zynischen Umgang mit den Frauen anzuprangern.
Was ist das für eine Frauenministerin, deren Kampfeswillen immer nur im Zusammenwirken mit klerikalen, reaktionären Altmännerriegen zum Tragen kommt?
Sie hätte wirklich Besseres zu tun. Wo blieb denn ihr Engagement, als es darum ging, die Kürzung der Lohnfortzahlung für Schwangere im Krankheitsfall zu verhindern?
Was tut sie, um das Erziehungsgeld vor dem endgültigen Abgleiten in die Lächerlichkeit zu bewahren? Welche Hilfe bietet sie den Familien, damit sie nicht immer mehr in Armut abgleiten?
Rita Grießhaber
Statt dessen haben wir es mit einer Ministerin zu tun, die nicht in der Lage ist, gegenüber dem Vatikan klare Worte zu finden, einer Ministerin, die selbst am Gesetz zündelt und die der Kanzler aus wahltaktischen Gründen gerade noch zurückpfeift.
Eine Politik, die sich nicht klar zum Selbstbestimmungsrecht der Frauen bekennt, eine Politik, die statt dessen immer wieder versucht, den Frauen strafrechtliche oder moralische Knüppel in den Weg zu schmeißen, machen wir nicht mit.
Wenn Sie sich im Land umhören, so werden Sie feststellen, daß wir mit dieser Haltung nicht allein sind. Die meisten haben diese permanente Verunsicherung, Bedrohung und Diffamierung von Frauen satt.
Wir sehen: Diese Regierung ist auch frauenpolitisch am Ende. Die Wählerinnen werden ihr hoffentlich die Quittung geben.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die F.D.P.-Fraktion ist es selbstverständlich - ich erkläre dies hier auch unmißverständlich -, daß es Sache der katholischen Kirche ist, darüber zu befinden, ob sie sich im Rahmen des geltenden Schutzkonzeptes an der verpflichtenden Beratung mit Ausstellung der Beratungsbescheinigung auch künftig beteiligen will oder nicht. Deshalb sind wir auch ganz unaufgeregt und sehen das Schutzkonzept konkret nicht als gefährdet an, wenn sich die katholische Kirche wirklich zurückziehen sollte. Denn der Beitrag der katholischen Kirche ist nicht so groß, daß er nicht auch gegebenenfalls ersetzt werden könnte.
Beträgt ihr Anteil an der Schwangerschaftskonfliktberatung im Freistaat Bayern zirka 25 Prozent - es wäre doch anzunehmen, daß dort der Anteil eher hoch liegt -, so wird er im Bundesdurchschnitt schätzungsweise eher niedriger, nämlich mit Sicherheit unter 20 Prozent, liegen.
Wie gesagt: So, wie diese Entscheidung alleinige Sache der katholischen Kirche ist, ist es andererseits alleinige Sache des Staates, sich von der wie auch
immer ausgehenden Meinungsbildung der katholischen Kirche nicht abhängig zu machen.
Der Staat hat vielmehr rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen, wie die durch das Ausscheiden der katholischen Kirche eventuell entstehende Lücke bei der Erfüllung des Beratungsauftrages geschlossen werden kann. Das dürfte auf Grund der vorliegenden Zahlen nicht so schwer sein.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt, daß sich die Bundesregierung klar dahin gehend geäußert hat, daß das geltende Recht nicht geändert wird. Das ergibt sich ganz eindeutig aus der Antwort der Bundesregierung auf meine schriftliche Frage mit Datum vom 3. Februar. Sie haben auf meine Frage, welche Maßnahmen denn nach Auffassung der Bundesregierung zu ergreifen sind, wenn in katholischen Schwangerschaftsberatungsstellen ab 1999 keine Bescheinigungen mehr ausgestellt werden sollten, unmißverständlich geantwortet: Es ist Sache der Länder, die aus ihrer Sicht notwendigen Entscheidungen zu treffen. Das heißt, die Bundesregierung beabsichtigt nicht, das Schwangerschaftskonfliktgesetz und damit auch die §§ 5 ff. über die Beratung zu ändern.
Ich begrüße diese eindeutige Haltung, weil es zu Beginn dieses Jahres Irritationen gegeben hatte. Deshalb hat die Bundesregierung die Unterstützung der F.D.P.-Bundestagsfraktion.
Das zeigt aber auch, daß hier die Länder gefordert sind; denn wenn sich die Kirche zurückziehen sollte, müssen die bisher für die Schwangerschaftskonfliktberatung aufgewendeten Mittel auf andere Träger umgeleitet werden. Der Staat ist verpflichtet, seine Gelder so auszugeben, daß das Schutzkonzept für das ungeborene Leben realisiert werden kann. Sie haben insoweit einen Sicherstellungsauftrag hinsichtlich wohnortnaher pluraler Beratungsstellen zu erfüllen, wie dies auch für die Bereitstellung ambulanter oder stationärer Einrichtungen für einen Abbruch gilt.
In diesem Zusammenhang möchte ich schon jetzt deutlich machen, daß das Gebot des § 8 Schwangerschaftskonfliktgesetz, nämlich für ein plurales Angebot wohnortnaher Beratungsstellen zu sorgen, dem Staat verbietet, nach willkürlichen Maßstäben gesellschaftlich relevante Trägerorganisationen von der Beratung auszuschließen. Das Pluralitätsgebot kann auch nicht so gedeutet werden, daß sich der Staat von Stimmungen und Meinungsänderungen der Beratungsinstitutionen abhängig macht. Der tatsächlichen Ausgestaltung des Schutzkonzeptes für das ungeborene Leben kommt gerade im Licht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts große Bedeutung zu.
Deshalb bedaure ich, daß im Zusammenhang mit der neu losgebrochenen Diskussion die schwierige
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Konfliktlage der Frau, die keinen anderen Ausweg als eine Abtreibung sieht, so sehr in den Hintergrund getreten ist. Ich sage es ganz offen: Die Lage der Bischöfe erfüllt mich nicht so mit Sorge wie die Konfliktsituation der Frauen.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion würde alles daransetzen, möglichst jede Abtreibung zu verhindern; denn wir alle wissen, daß das Niveau der Abtreibungen gerade in Deutschland mit 130 000 im Jahr hoch liegt, was mich aber nicht in Besorgnis versetzt und woraus keine verfassungsrelevanten Konsequenzen gezogen werden müssen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Unterschied zu allen anderen Parteien hier im Deutschen Bundestag begrüßt die PDS den in Aussicht gestellten Ausstieg der katholischen Kirche aus der sogenannten Schwangerschaftskonfliktberatung ausdrücklich. Die katholische Glaubenslehre erklärt den Fötus zum Kind und sieht Abtreibung folglich als Mord. Auf dieser Grundlage kann eine Beratung nicht ergebnisoffen sein, wie es das Gesetz vorschreibt. Insofern ist das Verdikt aus Rom nur konsequent. Sollte die katholische Kirche ihre Ankündigung wahrmachen, wird den Frauen, die auf konfessionellen Rat Wert legen, eine zusätzliche Hürde auf dem Weg zum Schwangerschaftsabbruch aufgebaut. Sie müssen dann zusätzlich eine zweite Beratungsstelle aufsuchen, um den Schein zu bekommen.
Aber das liegt in der Verantwortung der Kirchen, nicht des Parlaments. Das Parlament muß die Anmutung zurückweisen, auf dem Wege einer Gesetzesänderung zur Lösung eines innerkirchlichen Problems beitragen zu sollen.
Das ist der völlig verfehlte Versuch, den Gesetzgeber für ein kircheninternes Problem in Mithaftung zu nehmen, das sich aus den Glaubensgrundsätzen dieser Kirche selbst ergibt.
Vor allem kann es nicht angehen, daß die ohnehin schon völlig inakzeptablen gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch noch weiter verschlechtert werden. Denn die verlangte Beihilfe liefe auf eine Quadratur des Kreises hinaus, die die katholische Bischofskonferenz sich da vorgenommen hat. Die Chuzpe, ein derartiges Anliegen überhaupt an das Parlament zu richten, zeigt erneut sehr deutlich, daß es dringenden Handlungsbedarf gibt, die grundgesetzlich proklamierte Trennung von Staat und Kirche im politischen Bewußtsein tatsächlich zu verankern.
Das eigentliche Problem sehe ich darin, daß in einer Demokratie - in einem säkularen Staat wohlgemerkt - die katholische Kirche den Versuch unternimmt, ihre Moralauffassung zur einzig gültigen zu erklären. Der Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche, nur sie könne eine ethisch tragfähige Beratung gewährleisten, ist wirklich unerträglich. Die Arbeit aller nichtkonfessionellen Beratungsstellen wird damit diskreditiert. Das weise ich hier auf das schärfste zurück.
Die aufgeregten Bitten von den Bündnisgrünen bis hin zur CSU, die katholische Kirche möge doch die Beratung ungewollt schwangerer Frauen nach den gesetzlichen Vorgaben fortsetzen, sind völlig unangebracht. Beratungsstellen in katholischer Trägerschaft wird es auch weiterhin geben, wenn auch ohne Vergabe des Beratungsscheins. Nirgendwo wird das Beratungsnetz zusammenbrechen. Der Kniefall vor der katholischen Kirche verdeutlicht die völlig unangemessene Bedeutungszuweisung, derer sich die Kirchen hierzulande in vielen Bereichen erfreuen dürfen. Das ist dabei das eigentliche Problem.
Ebenso klar ist unsere Haltung zur Frage der Finanzierung. Sollte die katholische Kirche aus der Beratung ausscheren, sind die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Finanzierung nicht mehr gegeben. Es versteht sich von selbst, daß die Beratungsstellen in katholischer Trägerschaft dann keine Mittel mehr für die sogenannte Schwangerschaftskonfliktberatung erhalten können.
Ein Wort möchte ich noch an Frau Nolte richten. Die Energie, mit der Sie sich für die Verschärfung der §§ 218 und 219 eingesetzt haben und einsetzen, habe ich bislang in allen anderen Fragen bezüglich der Situation von Frauen schmerzlich vermißt. Ich erinnere nur an die Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Meine Damen und Herren, der Brief aus Rom hat die unsägliche Fehlkonstruktion des § 219 des Strafgesetzbuches und auch des sogenannten Schwangerschaftskonfliktgesetzes wieder in das öffentliche Bewußtsein gerückt. Die entmündigende Pflicht zur Teilnahme an einer Beratung ist mit dem Recht von Frauen auf Selbstbestimmung nicht vereinbar. Die einseitige Zielfestlegung auf den Schutz des ungeborenen Lebens steht der gesetzlich vorgeschriebenen Ergebnisoffenheit diametral gegenüber. Dem kann nur durch die Abschaffung der Zwangsberatung und perspektivisch durch die Streichung der entsprechenden Paragraphen im Strafgesetzbuch abgeholfen werden.
Eine gesetzliche Liberalisierung der §§ 218 und 219 wird kommen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das Thema - da bin ich auch sicher - wird im Wahlkampf eine Rolle spielen. Die CDU hat
Christina Schenk
allen Grund, diese Diskussionen zu fürchten, insbesondere in Ostdeutschland. Dem Papst sei Dank!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Edith Niehuis.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die gesellschaftliche Diskussion, die sich um den Papstbrief und die Stellungnahme der katholischen Bischöfe rankt, bedarf, Frau Eichhorn, der Reaktion dieses Parlamentes.
Es steht ein Gesetz zur Diskussion, das eine sehr hohe demokratische Qualität hat. Quer durch die Parteien haben Abgeordnete dieses Parlaments das Schwangeren- und Familienhilfegesetz verabschiedet. Angesichts der Art und Weise der Diskussion in der katholischen Kirche möchte ich hier noch einmal an diese demokratische Qualität unseres Gesetzes erinnern.
Mit Blick auf den § 218 haben wir im Lebensschutzkonzept einen Paradigmenwechsel vorgenommen. Der Geist und Buchstabe des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes ist, daß Schwangerschaftskonflikte nur mit der Frau, nie gegen die Frau gelöst werden können.
Wenn dies so ist, kann konsequenterweise nur die Frau über die Lösung ihres Konflikts entscheiden. Der Schein ist dabei nebensächlich. Gesellschaft und Staat verzichten parallel darauf, die Frau mit Strafe zu bedrohen. Wir sollten statt dessen soziale und wirtschaftliche Hilfen sowie eine gute Beratung anbieten.
Was die Beratung anbetrifft, haben wir in den Verhandlungen unterschiedliche Meinungen gehabt. Ich war der Meinung - ich bin es auch noch heute -: Die beste Beratung ist die freiwillige Beratung.
Andere wollten der Frau so viel Entscheidungsfreiheit nicht zubilligen und bestanden auf einer Pflichtberatung. Es wird niemand bezweifeln, daß gerade die katholische Kirche die freiwillige Beratung nicht wollte. So kam in das Gesetz, daß jede Frau, die eine Schwangerschaftskonfliktberatung aufsucht, den Anspruch auf einen Beratungsschein hat, der besagt, daß eine dem Lebensschutz dienende, aber ergebnisoffene Beratung durchgeführt wurde.
Wer diesen neutralen Schein - und er ist neutral, weil die Letztentscheidung bei der Frau liegt - als „Lizenz zum Töten" diskreditiert, der hat unser
Schwangeren- und Familienhilfegesetz nicht verstanden.
Er kriminalisiert durch die Wortwahl nicht nur die Frauen, die einen ihnen von Gesetzes wegen zustehenden Schein erhalten, sondern auch die Beraterinnen, die den Schein ausstellen müssen. Wir, Frau Eichhorn, müssen uns als Parlament vor diese betroffenen Frauen stellen.
Solange das Gesetz die Pflichtberatung vorschreibt und damit auch den Schein, werden nur die Beratungsstellen anerkannt werden können, in denen nach Recht und Gesetz gearbeitet wird.
In der „Rheinischen Post" haben Sie, Frau Nolte, gesagt, wenn die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nicht zurückgehe, müsse das Gesetz nachgebessert, was in Ihrer Terminologie heißt: verschärft werden. Wenn wir die Wirkung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes überprüfen, dann geht es, wie auch das Bundesverfassungsgericht gemeint hat, nicht um eine Verschärfung des Gesetzes, sondern nur um die Frage: Reichen die wirtschaftlichen und sozialen Hilfen für Frauen, Familien und Kinder im Sinne eines Lebensschutzkonzeptes aus?
Darum hätten Sie in der „Rheinischen Post" mehr über Ihre Politik als über dieses Gesetz nachdenken sollen.
Sie wissen sicherlich, daß der Deutsche Caritasverband angesichts der wirtschaftlich bedrückenden Situation vieler Familien und Alleinerziehender das Thema „Arme Familien - arme Gesellschaft" zum Thema des Jahres 1998 gemacht hat. Die Kinderkommission des Bundestages, in der alle Parteien vertreten sind, hat Anfang Februar die zunehmende Armut von Kindern beklagt und festgestellt, daß Armut nicht länger ein Randgruppenproblem ist, sondern sich immer mehr in die Mitte der Gesellschaft verlagert.
Angesichts dieser Diskussion ist es meines Erachtens zynisch und der Problematik nicht angemessen, wenn man, wie die Ministerin Nolte, mit dem Finger auf die Frauen im Schwangerschaftskonflikt zeigt oder sich wie die katholischen Bischöfe mit dem Für und Wider eines neutralen Beratungsscheines aus-
Dr. Edith Niehuis
einandersetzt. Wer dies tut, lenkt von den Problemen in der Gesellschaft ab.
Wer Frauen im Schwangerschaftskonflikt helfen will, der sollte nicht den Papstbrief lesen, sondern die Position der katholischen und evangelischen Bischöfe in ihrem „Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland".
Die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands hat recht, als sie am 27. Januar erklärte:
Wenn sich die Kirche weigert, die Pflichtberatung zu dokumentieren, dann weicht sie vor Konfliktlagen zurück, in die schwangere Frauen geraten können, und verschließt davor die Augen.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Danke schön.
Das Wort bekommt die Abgeordnete Bärbel Sothmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Papstbrief an die deutschen Bischöfe vom Januar hat uns alle sehr beunruhigt. Er hat auch innerhalb der katholischen Kirche zu den unterschiedlichsten Reaktionen geführt. Er bedeutet: Beratung ja, Beratungsschein nein - ein scheinbar auswegloses Dilemma.
Ich begrüße sehr, daß die deutschen Bischöfe bereits signalisiert haben, daß sie die Beratungstätigkeit grundsätzlich fortsetzen wollen; denn gerade die kirchlichen Beratungsstellen halte ich für besonders geeignet, Frauen in Konfliktsituationen zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihnen Perspektiven für ein Leben mit Kind zu eröffnen.
Die katholischen Beratungsstellen haben bereits Tausenden von Frauen geholfen, ihr Kind trotz größter Probleme auszutragen. Sie leisten hervorragende Arbeit. Danke dafür!
Die Frage an die katholische Kirche ist nun: Kann sie mit der vom Papst geforderten Quadratur des Kreises dem Schutz des Lebens weiterhin gerecht werden? Oder wird sie nicht eine große Chance verpassen, zum Schutz des ungeborenen Lebens beizutragen, wenn es den Beratungsschein beispielsweise bei der Caritas nicht mehr geben sollte? Die Ausstellung eines Beratungsscheins nach stattgefundener Beratung ist - wir haben es heute schon ein paarmal gehört - außerdem ein gesetzlicher Auftrag.
Die katholische Kirche hat hier in der Tat schwierige Probleme zu lösen. Diese Probleme darf sie jedoch nicht auf den Gesetzgeber abladen.
Genau dies versuchen einige zur Zeit; denn einige Vertreter der katholischen Kirche fordern, das Abtreibungsrecht zu verschärfen. Sie fordern von uns, das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, auf das wir uns 1995 nach jahrelangem Kampf, nach quälenden Diskussionen und zähem Ringen geeinigt haben, jetzt wieder in Frage zu stellen. Dazu sage ich nein.
An unserem Lebensschutzkonzept dürfen wir nicht rütteln.
Für die Haltung der Kirche und des Papstes habe ich viel Verständnis und sehr großen Respekt.
Auch ich bin und bleibe eine Gegnerin der Abtreibung und der Fristenlösung. Ich habe dem Gesetz damals nur zugestimmt, weil ich davon überzeugt bin, daß dieser Kompromiß die einzige Möglichkeit war und ist, sowohl das ungeborene Leben zu schützen als auch den Frauen in Konfliktsituationen umfassend zu helfen.
Wir wissen alle - auch das ist heute schon gesagt worden -: Der Schutz des ungeborenen Lebens ist nur mit der und nicht gegen die Mutter möglich.
Bei der Frau liegt die Entscheidung. Unser Schutzkonzept ist keine Fristenregelung, Schwangerschaftsabbruch ist nach wie vor rechtswidrig, die Rangfolge „Lebensrecht vor Selbstbestimmungsrecht" bleibt erhalten, und bei der Beratung steht der Schutz des ungeborenen Lebens im Vordergrund. Diese Regelung folgt den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsrecht.
Eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wäre für uns alle nicht hilfreich. Sie wäre politisch, so meine ich, auch nicht durchsetzbar. Denn bei einer erneuten Abstimmung sehe ich vor allem die Gefahr, daß es aus falschverstandener Liberalität zu einer reinen Fristenlösung kommt. Dann bleiben Beratung und Lebensschutz ganz auf der Strecke. Eine Gesetzesänderung kommt für uns also nicht in Frage.
Aber eines muß ich ganz klar anmahnen, nämlich die bessere Umsetzung der im Gesetz vorgegebenen Hilfen für Frauen in Konfliktsituationen. Wir brauchen mehr und bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten - dieser Appell geht an die Länder -, wir brauchen mehr Unterstützung für Alleinerziehende, zum Beispiel bei der Wohnungssuche, wir brauchen insgesamt ein besseres Klima für Kinder in unserer Gesellschaft.
Bärbel Sothmann
Hier ist ein Bewußtseinswandel dringend erforderlich. Dabei sind wir alle gefordert.
Gerade in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung müssen Kirche und Staat weiter gemeinsam Verantwortung übernehmen. Kirche und Staat müssen an einem Strang ziehen; denn sie haben den gleichen, ganz klaren Auftrag: für die Menschen dazusein und sie in schwierigen Situationen zu stützen. Ich hoffe sehr, daß die katholische Kirche ihre schwierige Aufgabe meistern wird und bei ihren Beratungen eine Lösung findet, die allen Beteiligten gerecht wird.
Danke.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der katholische Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, mit dem ich seit mehr als 25 Jahren befreundet bin, hat in einem „Spiegel"-Interview vor einer Woche unter anderem gesagt:
Es geht nicht darum, das ganze Gesetz zu kippen, aber es muß Änderungen geben. Eine solche Forderung ist in einer Demokratie auch keineswegs ehrenrührig.
Ja, gewiß, die Kirchen haben das Recht, sich einzumischen, und das Parlament hat das Recht, der Einmischung zu folgen oder ihr in der Sache zu widersprechen. Ich widerspreche den Bischöfen meiner Kirche in dieser Sache.
Bischhof Kamphaus hat nämlich recht, wenn er in dem „Spiegel"-Interview fortsetzt:
Es bleibt auch dabei: Wir wollen ungeborenes Leben nicht gegen die Mutter schützen, sondern mit ihr.
Das genau ist der Kern. Weil das Ja zum Leben, das Ja zum Kind nur mit der Frau, nicht aber gegen sie möglich ist, hat sich dieses Parlament mit großer Mehrheit für die Grundentscheidung ausgesprochen: Beraten statt Strafen.
Wollen die katholischen Bischöfe - ich rede nicht von der katholischen Kirche, weil es meine Überzeugung ist, daß die Mehrheit der katholischen Christen die Mehrheitsmeinung des Bundestages teilt - diese Grundentscheidung in Frage stellen? Sie sagen nein. Dann müssen sie sich aber auch der inneren Logik unseres Gesetzes stellen. Das Ja zum Kind ist ganz elementar an die verantwortliche Entscheidung der Frau gebunden. Diese Möglichkeit zur verantwortlichen Entscheidung setzt Straffreiheit voraus. Die Straffreiheit setzt die ergebnisoffene Pflichtberatung voraus. Das war gerade eine der Forderungen der katholischen Kirche.
Die Straffreiheit setzt für die Frau die Bescheinigung über die Beratung voraus. Das ist die Logik des Gesetzes.
Die Beratungsbescheinigung in Frage stellen heißt deshalb die innere Logik der gesetzlichen Regelung insgesamt in Frage stellen. Die Fixierung auf den Schein ist ohnehin falsch, und seine Denunziation als Tötungslizenz ist auf schlimme Weise demagogisch.
Dieser Schein bescheinigt das vertrauensvolle und verantwortliche Beratungsgespräch - nicht weniger und nicht mehr - und respektiert die schwangere Frau als einen Menschen mit der Fähigkeit zu verantwortlicher Entscheidung. Sollte dieser Respekt, diese selbstverständliche Anerkennung der Frau als entscheidungsfähiges - also moralisches - Wesen, der eigentliche Stein des päpstlichen, des kurialen Anstoßes sein? Als katholischer Christenmensch möchte ich das nicht annehmen. Wir, dieses Parlament, sollten dem auch nicht nachgeben.
Es gibt also, liebe Kolleginnen und Kollegen, keinen wirklichen Grund, das Gesetz zu ändern. Das Gesetz ist nach langjähriger intensiver Beratung beschlossen worden. Es entspricht im wesentlichen den Erfahrungen, dem Selbstanspruch und dem Selbstwertgefühl insbesondere auch der ostdeutschen Frauen. Das Gesetz ist mit großer Mehrheit als Folge von Gewissensentscheidungen von Abgeordneten beschlossen worden - mit großer Zustimmung bei evangelischen und bei katholischen Christen. Es gibt keinen Anlaß, das Gesetz zu ändern, zumal ich keinen Weg sehe, aus dem Dilemma, einerseits beraten zu sollen, andererseits aber keinen Beratungsschein mehr ausstellen zu wollen, herauszukommen. Diesen Lösungsweg sehen Bischof Lehmann und bisher auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken nicht. Ich bestreite den Bischöfen nicht die Ernsthaftigkeit ihres Bemühens, das Zeugnis für das Leben nicht Zweifeln ausgesetzt zu sehen. Aber wegen des vermeintlich anstößigen Beratungsscheins aus der Beratung auszusteigen wäre unterlassene Hilfeleistung gegenüber Frauen in einer schwierigen Entscheidungssituation.
Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! Das ist kein sonderlich christliches Motto. Deshalb sollte die katholische Kirche in der Beratung bleiben - um der Frauen und der Kinder willen, um der Beraterinnen und Berater willen, die eine so gute Arbeit machen, und im übrigen auch um der Glaubwürdig-
Wolfgang Thierse
keit des Zeugnisses der katholischen Kirche willen. Nächstenliebe ist ihr wichtigstes Zeugnis.
Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Reinhard Göhner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das geltende Abtreibungsrecht ist gerade einmal 28 Monate in Kraft. Ob sich das jetzige Recht bewährt und welche Verbesserungen notwendig sind, das läßt sich nach meiner Überzeugung nach einem so kurzen Zeitraum - auch im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen - nicht abschließend beurteilen. Eine so sensible und grundlegende Materie, die das wichtigste Rechtsgut, das Leben, betrifft, ist keine Materie, an der man als Gesetzgeber alle paar Jahre herumbasteln sollte.
Eine der Einsichten, warum wir uns damals zu einem fraktionsübergreifenden Kompromiß zusammengerauft haben, auf der Grundlage dessen, was uns das Verfassungsgericht in dem 93er Urteil vorgeschlagen hatte, war gerade die Erkenntnis, daß ein Rechtsfrieden auf der Basis dieser Konzeption der Beratungsregelung, wie sie das Verfassungsgericht konzipiert hatte, auch dem Zeugnis des Lebensschutzes in unserer Gesellschaft mehr dienen würde als die Fortsetzung jahrzehntelangen Streits.
Ich meine, wir sollten bei der Diskussion im Moment aufpassen, daß dieses wichtige Gut des Rechtsfriedens in diesem Bereich nicht unnötig aufs Spiel gesetzt wird. Jeder von uns weiß schließlich, daß das geschriebene Recht, zumal die strafrechtlichen Regelungen, nur eine begrenzte Wirkung für den effektiven Schutz des Lebens entfalten kann. Jeder von uns weiß, daß Hilfe und Beratung wichtiger sind als eine wie auch immer ausgestaltete strafrechtliche Regelung.
Die Pflichtberatung ist nun einmal in der Konzeption des geltenden Rechts das wichtigste, zentrale Element. Der Kompromiß bestand damals eigentlich darin, daß die einen auf den Grundsatz der Freiwilligkeit bei der Beratung verzichtet haben, indem sie gesagt haben: „Gut, wir akzeptieren die Pflichtberatung", und daß die anderen gesagt haben: „Gut, wir verzichten auf die justiziable Überprüfung der Entscheidung der Frau durch einen Dritten."
Damals, im Gesetzgebungsverfahren, haben beide Kirchen aus guten Gründen die Pflichtberatung und die Ausgestaltung der Pflichtberatung sehr unterstützt und begleitet. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage, die der Papst mit seinem Brief aufwirft, ist - jedenfalls auf der Basis des Standpunktes der Kirche - für mich uneingeschränkt nachvollziehbar. Sie ist nicht neu, und sie ist nur mit einer Abwägung hinsichtlich der Auswirkungen der Beratungstätigkeit zu beantworten.
Auf der einen Seite gibt es die Sorge, daß durch die Ausstellung des Beratungsscheines der Eindruck
erweckt werden könne, die Kirche billige oder ermögliche die Entscheidung für die Abtreibung. Auf der anderen Seite gibt es die übrigens auch in dem Brief des Papstes eindrucksvoll zum Ausdruck kommende Sorge, daß schwangere Frauen in Not mögliche Hilfe und Beratung der Kirche nicht erreichen könnte.
Bischof Kamphaus, der hier eben schon zitiert wurde, hat in einem sehr lesenswerten Beitrag in der „FAZ" vor acht Tagen berichtet, daß im Bistum Limburg 54 Prozent der beratenen Frauen, die in Erwägung einer Abtreibung zu den katholischen Beratungsstellen gekommen sind - 54 Prozent! -, die Schwangerschaft fortgesetzt haben. Es spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß dabei auch Kindern das Leben geschenkt wurde, die möglicherweise ohne gerade diese Hilfe und diese Unterstützung das Licht der Welt nicht erblickt hätten.
Meine Frage auch an die katholische Kirche lautet deshalb, ob dieses Zeugnis für den Lebensschutz nicht der überzeugendste Beitrag der Kirche ist, den diese überhaupt erbringen kann.
Daß ohne Ausstellung des Beratungsscheines viele Schwangere, die eine Abtreibung erwägen, von diesen Beratungsstellen nicht mehr erreicht würden, haben uns viele Beraterinnen auch und gerade der katholischen Beratungsstellen immer wieder bestätigt.
Die Probleme, die die katholische Kirche mit der Ausstellung der Beratungsscheine hat, beruhen allerdings nach meiner Überzeugung auf einem recht fundamentalen Mißverständnis. Zum Teil wird auch in der katholischen Kirche argumentiert, der Beratungsschein sei die notwendige Voraussetzung für die Straffreiheit der Schwangeren im Falle der Abtreibung. Das ist falsch.
Diese Auffassung übersieht, daß es auch im neuen Recht eine Regelung gibt, den § 218 a Abs. 4, daß die Schwangere auch ohne Beratungsbescheinigung nach erfolgter Beratung bei einem Abbruch durch den Arzt innerhalb von 22 Wochen straflos bleibt. Das ist die Regelung aus der alten Indikationsregelung des § 218 Abs. 3, die vom Verfassungsgericht nicht beanstandet worden ist und die heiß umstritten war.
Die Beratungsbescheinigung hat nur eine Bedeutung für die Straffreiheit des Arztes. Die Konzeption der Pflichtberatung beruht gerade darauf, daß es die Konfliktberatung durch eine anerkannte Stelle gibt, dann die Entscheidung nach vorheriger Beratung mit der Folge der Straffreiheit der Schwangeren. Den Beratungsschein von einer anerkannten Stelle muß sich der Arzt vorlegen lassen. Das führt zu seiner Straffreiheit in diesem Zusammenhang.
Möglicherweise - das ist mein Wunsch - kann unter Berücksichtigung dieses in vielen Diskussionen, wie mir scheint, auch in der katholischen Kirche übersehenen Sachverhaltes der Regelung im Strafgesetzbuch im § 218a Abs. 4 eine Lösung gefunden werden, daß die Tätigkeit in der jetzigen Form fortgesetzt wird. Ich würde mir das wünschen.
Dr. Reinhard Göhner
Ich finde, es sollte der katholischen Kirche in besonderer Weise zu denken geben, daß hier von allen Seiten des Hauses die Tätigkeit der katholischen Beratungsstellen in so positiver Weise gewürdigt wird. Diese Tätigkeit ist für die Kirche das überzeugendste Zeugnis, das sie für den Lebensschutz erbringen kann.
Das Wort hat die Abgeordnete Hanna Wolf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen hier nicht mehr zu einer Debatte über eine Reform des § 218 zurückkehren. Nein, wir haben diese Reform. Es hat lange genug gedauert: Jahre, Jahrzehnte, über ein Jahrhundert. Die Reform des § 218 ist ein Kompromiß, der die überwältigende Mehrheit des Deutschen Bundestages gefunden hat.
Wir halten an unserem Gesetz fest, auch wenn die katholischen Bischöfe schon im November 1995 in ihren eigenen Beratungsrichtlinien sagen, daß „sich die katholische Kirche mit diesem Gesetz nicht abfinden" werde. Wir halten an unserem Gesetz fest, auch wenn die Diözese Fulda aus der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung ausgestiegen ist und andere vielleicht noch aussteigen werden.
Der Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit die Einhaltung des Gesetzes angemahnt, als die Bayerische Staatsregierung Mitte 1996 die nicht bundeskonformen Ausführungsbestimmungen im Bayerischen Landtag durchgedrückt hat. Deshalb, Frau Eichhorn, müssen wir hier immer wieder debattieren: weil es diese Bayerische Staatsregierung, getragen von der CSU-Mehrheit, gibt.
Die bayerischen Ausführungsbestimmungen lassen die bischöflichen Richtlinien deutlich erkennen.
Wir lassen auch nicht zu, daß Ministerin Nolte wieder an dem Gesetz rütteln will,
auch wenn sie am liebsten nochmals nach Karlsruhe gegangen wäre.
Wenn sich die Bischöfe in einem Dilemma zwischen geistlichem Rat und weltlichem Gesetz sehen, so müssen sie dieses Dilemma selbst lösen.
Wenn das bedeutet, daß die katholische Kirche aus der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung aussteigt, weil sie keine gesetzlichen Beratungsscheine mehr ausstellen will, dann müssen die Länder dafür sorgen, daß das Netz von ortsnahen pluralen Beratungsstellen wieder ergänzt wird. Gerade in Bayern müßten dann erhebliche Fördermittel für freie Träger neu verteilt werden. 46 Prozent der § 218-Beratungen freier Träger werden in Bayern von katholischen Beratungsstellen durchgeführt.
Ich wende mich entschieden dagegen, daß die Qualität nicht katholischer Beratungsstellen in Zweifel gezogen wird - so wie es Bischof Lehmann getan hat -,
nur weil sie eine gesetzeskonforme und ergebnisoffene Beratung durchführen und den gesetzlich geforderten Beratungsschein ausstellen.
Wir haben diese Kriterien unter anderem eingeführt, weil wir davon überzeugt sind, daß eine solche Beratung mehr Chancen hat, werdendes Leben zu schützen. Herr Hüppe, das haben heute alle in diesem Hause bestätigt - außer Ihnen vielleicht.
Ich erinnere daran, daß nicht die katholischen Beratungsrichtlinien, sondern die bundesgesetzlichen Richtlinien maßgeblich sind. Auch die bayerischen Richtlinien weichen bereits davon ab und verlangen, daß die Frau ihre Abbruchgründe nicht nur nennen soll, sondern nennen muß.
Wir waren und sind der Meinung, daß es uns mit dem Kompromiß zur Reform des § 218 gelungen ist, werdendes Leben besser zu schützen als vorher. Daß wir damit nicht jede Abtreibung verhindern können, liegt an der Kompliziertheit der Lebensrealitäten.
Der Paradigmenwechsel „Hilfe statt Strafe" ist das beste Schutzkonzept. Seine Umsetzung könnte aber tatsächlich besser sein. An den „Hilfen" mangelt es noch. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Hilfen in seinem Urteil von 1993 benannt. Wir fordern sie für eine kinderfreundliche Gesellschaft ein. Das beinhaltet - jetzt zitiere ich aus dem Urteil - „die Gleichstellung von Mann und Frau in der Teilhabe am Arbeitsleben."
Ich frage die Bundesregierung: Wo ist das Gleichstellungsgesetz, das auch in der Privatwirtschaft gilt?
Kinderfreundliche Gesellschaft heißt auch - ein weiteres Zitat - „rechtliche und tatsächliche Maßnahmen, die ein Nebeneinander von Erziehungsarbeit und Erwerbstätigkeit für beide Elternteile ... ermöglichen. "
Diese Bundesregierung favorisiert jedoch ein Nacheinander von Erziehungs- und Erwerbsarbeit allein für Mütter. Dann besteht aber kaum noch eine Chance für eine qualifizierte Erwerbsarbeit. Die Diskussion über die 620-Mark-Jobs sind ein Beispiel dafür, wie es für Frauen in der Realität aussieht.
Kinderfreundliche Gesellschaft heißt auch - ein letztes Zitat aus dem Urteil - „Regelungen, die auf eine Verbesserung der institutionellen oder familie-
Hanna Wolf
ren Kinderbetreuung zielen" wie „Leistungen im Rahmen des sogenannten Familienlastenausgleichs, insbesondere das Erziehungsgeld"
Wo aber ist in Deutschland die qualifizierte Ganztagsbetreuung für Kinder jeden Alters? Was haben Sie aus dem Erziehungsgeld und dem Erziehungsurlaub gemacht? Was haben Sie nicht alles im Bereich des Familienlastenausgleichs gekürzt!
Schwangere in Konfliktsituationen brauchen echte Hilfe. Die Beraterinnen stehen aber mit leeren Händen da, weil diese Gesetze fehlen. Sorgen wir für entsprechende Gesetze und lassen wir Rechtssicherheit walten, indem wir die reformierten §§ 218 und 219 des Strafgesetzbuches nicht in Zweifel ziehen lassen.
Danke schön.
Ich gebe der Abgeordneten Ilse Falk das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht ganz einfach, am Ende einer Debatte noch zu Wort zu kommen.
Es ist sehr vieles und sehr Wichtiges gesagt worden, manches in einer Schärfe, die dem Thema, wie ich finde, nicht angemessen ist, und manches sehr Kluges von beiden Seiten des Hauses. Auch das will ich zugestehen.
Als Protestantin wollte ich mich zu diesem Thema ursprünglich gar nicht zu Wort melden, weil ich meine, daß das Thema ganz stark mit der katholischen Kirche verbunden ist und dort ausgetragen werden sollte. Aber
- das Aber kommt ja schon - ich fühle mich dafür verantwortlich, daß die verpflichtende Beratung im Gesetz steht, weil ich mich damals massiv dafür eingesetzt habe. Ich möchte erklären, warum mir diese Beratung auch als eine verpflichtende Beratung so wichtig gewesen ist und warum ich meine, daß diese Beratung auch dem Lebensschutz dient, was ausdrücklich als Ziel im Gesetz steht.
Erstens. Wir machen überall die Erfahrung, daß Gespräche Konflikte lösen können, hilfreich für diejenigen sein können, die mit diesem Konflikt allein nicht klarkommen. Es ist wichtig, daß in einer Konfliktsituation Gesprächspartner zur Verfügung stehen, die neutral und vorurteilsfrei sind. Dazu sind nicht immer nur die Angehörigen oder Freunde geeignet. Deswegen sind neutrale Beratungsstellen wichtig, und zwar neutral im gesamten Bereich, ob kirchliche oder andere Beratungsstellen.
Zweitens. Es ist ein wichtiger Punkt, daß diese Beratung ergebnisoffen geführt wird. Denn wenn das
nicht der Fall ist, wird der Schritt in diese Beratung überhaupt nicht gemacht. Das haben wir befürchtet und auch definiert. Offenheit der Beratung selber bedeutet auch Offenheit der Darlegung der Probleme, die einen beschäftigen.
Diese beiden wesentlichen Punkte haben dazu geführt, daß wir sie in das Gesetz hineingeschrieben haben. Meiner Meinung nach bedeuten sie auch nicht mehr und nicht weniger. Die Pflicht selber, die damit verankert ist, heißt: Wenn die Beratung eine Pflicht sein soll, muß sie auch überprüfbar sein, und wenn sie überprüfbar sein soll, muß irgendein Dokument darüber ausgestellt werden, daß sie stattgefunden hat. Dem dient der Beratungsschein als Nachweis dieser Pflichterfüllung und eben nicht als „Lizenz zum Töten" .
Daß das Ganze ein Versuch ist, Konflikte durch das Gespräch und das Angebot konkreter Hilfen zugunsten des Lebens zu lösen, und daß dieser Versuch viel zu oft mißlingt, wird sicher von niemandem bestritten. Aber durch die Verweigerung des Nachweises darüber, daß man überhaupt um eine Problemlösung gerungen hat, wird meines Erachtens nicht ein Kind mehr das Licht der Welt erblicken.
Lassen Sie mich noch einen zweiten Aspekt ansprechen, weil dies auch immer wieder durch die Pressemitteilungen geistert - heute morgen hat sich auch Frau Nickels dazu geäußert -, nämlich das Thema Entziehung der staatlichen Unterstützungsleistungen. Da dies auf Nordrhein-Westfalen abhob, will ich ein paar Zahlen zu Nordrhein-Westfalen nennen. Daran wird deutlich, welch wichtige Funktion die dortigen katholischen Beratungsstellen wahrnehmen. Es gibt dort insgesamt 167 Beratungsstellen. Davon sind 65 unter katholischer Trägerschaft, also der Caritas, des SKF und der katholischen Eheberatungsstellen. Sie führen die Schwangerschaftskonfliktberatungen für alle Ratsuchenden durch, egal welcher Religion oder welcher Nationalität.
1996 waren es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen 30 000 Beratungen. Davon waren 20 Prozent reine Konfliktberatungen, was auch den allgemeinen Zahlen des Caritas-Verbandes in Deutschland entspricht. Damit decken die katholischen Beratungsstellen 40 Prozent des gesamten Angebots an Schwangerschaftsberatung ab.
Dafür bekommen sie aber nur 20 Prozent aus Landesmitteln, das heißt, 2,9 Millionen DM. Die Kirche selber zahlt zusätzlich - das sage ich auch im Hinblick auf die „leeren Hände", die hier genannt worden sind - 12 Millionen DM, also 76 Prozent, aus eigenen Mitteln. Dazu kommen noch 3 Millionen DM aus bischöflichen Hilfsfonds sowie Mutter-und-KindEinrichtungen als ergänzende Hilfen. Da wird also eine ganze Reihe von Dingen getan, die bei der Entscheidung für ein Kind sehr wichtig sind; denn ein Kind wird auch nach seiner Geburt begleitet.
Ilse Falk
Deshalb, meine ich, belegen diese nüchternen Zahlen, wieviel mit diesen Einrichtungen für das Leben getan wird und wie wichtig es ist, daß die katholische Kirche - und das wünsche ich mir - im staatlichen Beratungssystem bleibt.
Die Bischöfe haben sich ja auch einstimmig für eine Fortsetzung der Schwangerschaftskonfliktberatung ausgesprochen. Wir sollten ihnen zutrauen, gemeinsam nach einer tragfähigen Lösung für die Neugestaltung der Beratungsarbeit zu suchen. Wünschenswert ist es, daß diese nach den Bestimmungen des Gesetzes erfolgt, da ich von seiner Richtigkeit und Wirksamkeit für den Schutz des ungeborenen Lebens überzeugt bin. Daher sehe ich keinen Anlaß für eine Gesetzesänderung.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Herta Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, obwohl der bzw. die eine oder andere das zu Beginn dieser Debatte vielleicht in Zweifel gezogen hat, es war gut, daß wir die Debatte heute geführt haben.
Es war auch gut, daß wir eigentlich auf allen Seiten dieses Hauses in den tragenden und wichtigen Fragen im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftskonflikt und der gesetzlichen Regelung Klarheit haben.
Schauen Sie, Frau Eichhorn, wir reden hier nicht nur deshalb über dieses Thema, weil auf Grund des Briefes aus Rom in der deutschen Öffentlichkeit Verunsicherungen spürbar waren. Aber allein diese Verunsicherungen sind, glaube ich, ein vernünftiger Grund, hier darüber zu reden.
Das war kein Thema, das sich irgendwelche Journalisten aus den Fingern gesogen haben; sondern es waren viele Frauen - übrigens immer mehr junge Frauen, die für diese Fragen, die hier diskutiert werden müssen, überhaupt kein Verständnis mehr haben -, die uns gefragt haben: Darf diese Verunsicherung, die hier betrieben wird, eigentlich weitergehen?
Es ist gut, daß diese Verunsicherung heute aufhört. Es ist gut, Klarheit zu schaffen.
Aber es kommt noch ein zweiter Punkt hinzu. Um Weihnachten herum gab es die merkwürdige Intervention von Ihnen, Frau Ministerin Nolte, die ich nicht ganz verstanden habe. Auch wir sagen sehr häufig, daß jede gesetzliche Regelung ständig auf ihre Tragfähigkeit und ihre Berechtigung überprüft werden muß. Aber das, was zur Verunsicherung der Menschen draußen, insbesondere der Frauen, in diesem Zusammenhang beigetragen hat, war, daß Ihre Äußerung nur so verstanden werden konnte, als sollte nochmals eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht angeregt werden, und zwar in dem Sinn, die Komponente der Strafe für Frauen oder für Beteiligte zu erhöhen. Das wäre doch ganz falsch.
Ich hatte eigentlich erwartet, Sie würden das hier heute selbst klarstellen.
Ich verstehe Ihr Verhalten aber so, daß auch Sie das als klargestellt betrachten.
Deswegen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehe ich jetzt davon aus, daß das gesamte Haus der Auffassung ist, daß die Grundkonzeption für die Regelung des Schwangerschaftskonfliktes, die wir beschlossen haben, nämlich Hilfe und Beratung statt Strafe, völlig unumstritten ist.
Ich persönlich halte sie für richtig. Ich will gar nicht wiederholen, wie schwer es war und wieviel Zeit es bedurfte, sie mit der großen Mehrheit aller Seiten durchzufechten. Zu dieser Konzeption gehört natürlich die Beratung. Deswegen ist es richtig, daß dieses Gesetz fordert: Wir brauchen gute Beratungsstellen; wir brauchen pluralistische Beratungsstellen. Das ist auch der Grund, warum viele von uns gesagt haben, es wäre falsch, wenn eine Gruppe, nämlich die der katholischen Kirche, aus dem Beratungssystem ausbrechen würde. Es muß jedoch völlig klar sein, daß dann, wenn eine Schwangerschaftskonfliktberatung erfolgt ist, eine Beratungsbescheinigung ausgestellt werden muß. Das entspricht dem Gesetz.
Wer dieses Gesetz will und die innere Logik dieses Gesetzes nicht in Frage stellen will, muß sich auch so verhalten.
Meine Damen und Herren, zum Prinzip Hilfe und Beratung statt Strafe gehört eben auch die Hilfe. Wissen Sie, Frau Nolte, wenn Sie zu Weihnachten gesagt hätten, ja, mich beunruhigen die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche, ich halte sie für zu hoch, dann hätte ich das verstanden, aber auch nur dann, wenn Sie als Bundesfamilienministerin gesagt hätten: Wir müssen die Komponente der Hilfe verstärken.
Ich habe Ihnen das sehr deutlich gesagt, ich habe Ihnen auch gesagt, Sie hätten jeden Anlaß dazu, die Komponente der Hilfe zu verstärken. Ich halte überhaupt nichts davon, hier ein Schwarzer-Peter-Spiel zu beginnen, bei dem der Bund auf die Länder zeigt
Dr. Herta Däubler-Gmelin
I und die Länder auf den Bund. Es hat überhaupt keinen Sinn, sondern Sie haben zusammen mit uns, wenn es uns um die Frauen und das werdende Leben geht, die Aufgabe, die Hilfe für die jüngeren Frauen, die sich in Schwangerschaftskonflikten befinden, und deren Familien zu erhöhen.
Es gibt ein paar Punkte, die wir gemeinsam - ich freue mich sehr darüber - anmahnen und deutlich machen müssen: mehr berufliche Chancen, mehr berufliche Sicherung für die Frauen. Wir müssen erreichen, daß die Absenkung der Sozialhilfe und die Schwierigkeiten mit der Sozialhilfe wieder aufgehoben werden. Die Frage der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und deren Streichung auch für Schwangere, liebe Frau Nolte, muß Sie doch jeden Tag und jede Nacht plagen!
Daß es heute immer noch so ist, daß die Hilfe der Stiftung „Mutter und Kind" freiwillig, ohne Rechtsanspruch gegeben wird, plagt mich seit Jahren.
Daß es Landesstiftungen gibt, die überhaupt nicht bezahlen, weil Sozialhilfe gezahlt wird, plagt mich noch mehr.
Das ist wiederum ein weites Feld der Tätigkeit.
Lassen Sie mich noch etwas sagen: Wir haben beschlossen, daß Kindergärten in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen müssen. Aber auch dabei bringt es nichts, nur mit dem Finger auf die Länder zu zeigen, sondern wir haben gesagt, das ist auch eine Bundesaufgabe; das heißt, auch da ist die gemeinschaftliche Verantwortung gefordert.
Ein letzter Satz: Wir wissen alle genau, daß eine gesetzliche Regelung hinsichtlich Schwangerschaftskonflikten die Probleme eigentlich nicht lösen kann, und zwar weder die der Schwangerschaftskonflikte noch die - Herr Hüppe hat das eingeworfen -, die mit dem schrecklichen Ereignis in Oldenburg zusammenhängen. Kein Gesetz kann das. Daß wir dennoch mit allen Beteiligten reden müssen, daß wir dennoch den Beratungsstellen sagen müssen, macht weiter, ihr macht das gut - das bezieht sich keineswegs nur auf die katholischen -, ist freilich auch wahr. Wenn das bei der heutigen Debatte herauskommt, finde ich das gut.
Herzlichen Dank.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Heiner Geißler.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema ist die Frage, ob die katholischen Beratungsstellen in der Schwangerschaftskonfliktberatung bleiben oder nicht. Frau Nolte hat dafür ungefähr 50 Prozent ihrer Argumentation in Anspruch genommen. Ich teile die Konsequenzen, die sie, was die Notwendigkeit einer Änderung der beschlossenen Gesetze anbelangt, gezogen hat, nicht. Sie darf aber sehr wohl darauf hinweisen, daß das Bundesverfassungsgericht erklärt hat, daß, wenn das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht gewährleistet ist, der Gesetzgeber verpflichtet ist,
durch Änderung oder Ergänzung der entsprechenden Vorschriften auf die Beseitigung der Mängel und die Sicherstellung eines dem Untermaßverbot genügenden Schutzes hinzuwirken. Das hat die Ministerin getan, das ist ihre Pflicht, und ich kann sie deswegen nicht kritisieren. Das war mein erster Punkt.
- Wenn Sie im Chor rufen, kann ich Sie schlecht verstehen.
Ich habe aus einer Reihe von Anmerkungen und Diskussionsbeiträgen - ich rede nicht von Herrn Thierse - eine nicht gerechtfertigte Kritik an der katholischen Kirche in Deutschland herausgehört. Sie können den Papst meinetwegen kritisieren. Aber die katholischen Bischöfe in Deutschland haben sich mit überwiegender Mehrheit dafür ausgesprochen, daß die Konfliktberatung bleibt. Das gilt auch für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und den Sozialdienst katholischer Frauen. Wir sollten alle die Katholiken - das ist die überwiegende Mehrheit, und darum geht es; es geht nicht um Rom oder Neapel -, die auf der Grundlage des Gesetzes die Konfliktberatung weiterführen wollen - dazu gehört die überwiegende Mehrheit der katholischen Bischöfe -, nicht mit einer so dummen Kritik überziehen, sondern sie in dem Ziel unterstützen, dies weiterhin zu ermöglichen.
Wir wollen, daß die katholische Kirche in den Beratungsstellen und auch insgesamt im sozialen Bereich präsent bleibt.
Eine Förderung - so ist gesagt worden - hängt davon ab, ob sich die Beratungsstellen an das Gesetz halten. Darüber kann man sicherlich reden. Aber das gilt natürlich für alle. Das heißt, alle Beratungsstellen müssen sich dem Gesetz verpflichtet fühlen. Die Beratung soll, Frau Wolf, ergebnisoffen geführt werden, aber mit dem Ziel, das ungeborene Kind zu schützen. Das ist die rechtliche Situation. Das gilt für alle.
Der Kollege Göhner hat etwas Richtiges zu der Definition „Schein als Tötungslizenz" gesagt. Ich glaube, diejenigen, die so argumentieren, machen einen Fehler, indem sie nämlich die Konfliktsituation, in der sich viele Frauen befinden, wenn sie schwan-
Dr. Heiner Geißler
ger werden, offenbar nicht zur Kenntnis nehmen. Ich kann eine solche Frage naturrechtlich grundsätzlich beurteilen; das ist mehr die Position der katholischen Kirche. Ich kann sie aber auch individualethisch, und ich kann sie situationsethisch beurteilen. Beide moralischen Konzeptionen sind legitim. Letzterer Auffassung ist zum Beispiel die überwiegende Mehrheit der evangelischen Kirche.
Dann muß doch klar sein: Für die Frauen, die sich im Konflikt befinden, ist dieser Schein natürlich keine Tötungslizenz, sondern die Voraussetzung dafür, daß sie überhaupt zu einer Beratungsstelle gehen. Das ist die gesetzliche Lage, die wir haben.
Lassen Sie mich einen letzten Gesichtspunkt anführen. Der zentrale Irrtum, der bei dieser Diskussion vorhanden und auch ein bißchen in der Stellungnahme aus Rom erkennbar ist, besteht darin, anzunehmen, daß wir die Konflikte, in denen sich die Frau befindet, mit dem Strafrecht lösen könnten. Das ist ein fundamentaler Irrtum;
denn in der Weimarer Republik - daran möchte ich nur erinnern - gab es, obwohl die Frauen in solchen Fällen ins Zuchthaus kamen, pro zwei Geburten eine Abtreibung. Es hat dem ungeborenen Kind und der Situation der Frauen nichts genützt. Das ist der Ansatzpunkt - da sind wir uns einig; ich möchte dies ausdrücklich bestätigen -: Eine Änderung des Strafrechts hilft uns überhaupt nicht weiter. Sie führt uns ins Elend. Statt dessen müssen wir gemeinsam für eine Verbesserung der Hilfen, eine Verbesserung der Situation der Frauen und der Familien sorgen. Wahrscheinlich bleibt dafür nur die nächste Legislaturperiode übrig. In den nächsten fünf Monaten können wir da wenig erreichen. Aber in der nächsten Legislaturperiode muß das Erziehungsgeld erhöht werden, müssen die Einkommensgrenzen und das Kindergeld erhöht werden.
- Mir dürfen Sie das nicht sagen. Als das unter meiner Federführung alles eingeführt worden ist, waren Sie noch dagegen oder noch gar nicht im Parlament.
Ich bedanke mich.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. - Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Ländern
- Drucksache 13/9377 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit
- Drucksache 13/9866 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Knoche
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Abgeordneten Angelika Pfeiffer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Notwendigkeit der Verabschiedung des GKV-Finanzstärkungsgesetzes läßt sich an einer Zahl festmachen: Im Januar 1998 ist die Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern von 19,4 auf 21,1 Prozent gestiegen, in meinem Wahlkreis sogar auf über 24 Prozent. Es ist somit die vordringlichste Aufgabe der Politik, hier endlich eine spürbare Trendwende herbeizuführen, um auch den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern eine positive Perspektive zu geben.
Nun haben wir aber in der vergangenen Woche in einer mehrstündigen Debatte unterschiedliche Konzeptionen zum Abbau der Arbeitslosigkeit diskutiert. Allem Streit zum Trotz waren drei Übereinstimmungen feststellbar:
Erstens. Niemand streitet dem anderen das ernsthafte Bemühen ab, im Interesse der Arbeitslosen die Rahmenbedingungen in Deutschland verbessern zu wollen.
Zweitens. Keiner, aber auch keiner kann zur Zeit in Deutschland Patentrezepte zur Lösung dieser Frage vorweisen, die abschließende Antworten bieten.
Drittens. Parteiübergreifend sind wir uns mit Arbeitgebern und Gewerkschaftlern und allen anderen darin einig, daß die Lohnzusatzkosten zumindest nicht weiter steigen dürfen; im Gegenteil: Wenn möglich, sollten sie sogar gesenkt werden.
Genau dieser dritte Punkt war das ausschlaggebende Moment für dieses Gesetzgebungsverfahren zum Finanzstärkungsgesetz. Die Einzelsachverständigen, die Krankenkassen, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber haben in der Anhörung im Gesundheitsausschuß übereinstimmend erklärt, daß ohne dieses Gesetz Beitragssatzsteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung im Osten unvermeidlich sind.
Meine Damen und Herren, ich brauche nicht weiter auszuführen, warum dies unter allen Umständen vermieden werden muß. Erfreulicherweise haben dies nicht nur die Sachverständigen in der Anhörung so gesehen, sondern zuvor bereits die verantwortlichen Bundes- und Landespolitiker. Auf Initiative von
Angelika Pfeiffer
Minister Seehofer wurde eine Grundkonzeption erarbeitet, die wir heute beinahe unverändert verabschieden können. Sollte es, Herr Minister, jemals einen Orden im Finanzstärkungswesen geben, dann sollten Sie ihn kriegen, weil Sie vehement an unserer Seite gestanden haben.
- Ja, das muß auch einmal gelobt werden.
Die Grundkonzeption des Gesetzes sieht ein zeitlich abgestuftes Maßnahmenbündel vor. Vor jeder Fremdhilfe steht dabei die Eigenhilfe an erster Stelle. Danach werden Krankenkassen, aber auch die Länder verpflichtet, ihrerseits alle Sparmöglichkeiten auszuschöpfen. Dabei handelt es sich um das Festschreiben einer Selbstverständlichkeit. Da dies möglicherweise nicht von allen so gesehen wird, hat die SPD die Anhörung im Gesundheitsausschuß unter anderem auch dazu genutzt, um insbesondere von den Krankenkassen zu erfragen, ob mit den im Gesetz verwendeten Formulierungen dem erwünschten Sparzwang tatsächlich der notwendige Nachdruck verliehen wird. In breiter Übereinstimmung haben sowohl die Krankenkassen als auch die Einzelsachverständigen die Gesetzesvorgaben für ausreichend erachtet.
Die Spitzenverbände der Krankenkassen haben in diesem Zusammenhang erklärt, daß die Sofortmaßnahmen zwingend in Verbindung mit der Selbsthilfe gesehen werden müssen. Die von uns eingeräumten Möglichkeiten, sich auf freiwilliger Basis innerhalb der jeweiligen Kassenart gegenseitig zu unterstützen, werden als zielführend angesehen, da diese freiwilligen Hilfen von Auflagen abhängig gemacht werden können. So kann durch Selbstkontrolle dafür gesorgt werden, daß die zusätzlichen Mittel nicht für unnötige Leistungen ausgegeben werden.
Das Jahr 1998 ist nach der Anlage des Gesetzentwurfs von Sofort- und Selbsthilfemaßnahmen geprägt. Diese derzeitigen freiwilligen Hilfen von Westkassen bzw. -kassenarten zugunsten ihrer Partnerkassen im Osten dürfen nach unserer Überzeugung nicht dadurch gefährdet werden, daß Hilfen deshalb unterbleiben, weil etwaige dafür notwendig werdende Beitragssatzanhebungen zu Zuzahlungserhöhungen auf Grund des Koppelungsmechanismus im 1. NOG führen. Obwohl wir an diesem Mechanismus grundsätzlich festhalten, haben wir doch andererseits die Formulierung eines Ausnahmetatbestandes vor allem in der praktischen Umsetzung als sehr schwierig angesehen und haben uns in der Koalition dafür entschieden, den Koppelungsmechanismus bis zum 31. Dezember 1998 auszusetzen. Außerdem erwarten wir eine Beitragssatzanhebungswelle schon deshalb nicht, weil alle maßgeblichen Kassenarten sowie größere Einzelkassen erklärt haben, ihre Beiträge bis Ende 1998 stabil zu halten.
Nicht ganz unkritisch wird von den Sachverständigen und auch von den Sozialdemokraten die von uns unter Beachtung enger zeitlicher und sachlicher Grenzen eingeräumte Erlaubnis zur Darlehensfinanzierung betrachtet. Die vorgetragenen Bedenken
sind ernst zu nehmen, und wir nehmen sie auch ernst. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß mit diesen Krediten für eine Übergangszeit das größere Übel einer Beitragssatzanhebung verhindert werden soll. Nur die außergewöhnliche Situation in den neuen Bundesländern rechtfertigt eine solche Vorgehensweise.
Zentrales Element des Gesetzentwurfes bildet die Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs ab dem Jahr 1999. Das ist ein sehr großer Erfolg. Genau dieser Punkt hat aber leider zu einem wenig erfreulichen Streit mit den Ländern BadenWürttemberg und Bayern geführt. Die beiden Länder akzeptieren zwar eine solidarische Hilfe für die Ostkassen in den nächsten drei Jahren, wollen danach aber regionale Strukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung verbindlich einführen. Dabei ist noch unklar, ob es sich um regionale Beitragssätze oder um einen regionalen Risikostrukturausgleich handelt. Es versteht sich von selbst, daß von seiten der Union alle Versuche unternommen werden, mit diesen beiden Ländern einen Konsens zu finden.
Nach unserer Überzeugung sind wir den beiden Ländern sehr weit entgegengekommen; weiter geht es nicht. Ich bitte insoweit zu berücksichtigen, daß wir das Ausgleichsvolumen im ersten Jahr auf 1,2 Milliarden DM begrenzt haben. Weiterhin haben wir das Gesetz befristet, so daß es im Jahr 2001 ausläuft. Dafür haben wir vom AOK-Bundesverband, von Einzelsachverständigen und auch von der SPD herbe Kritik einstecken müssen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie heute um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Meine Kollegen aus Baden-Württemberg und Bayern bitte ich, auf ihre Länder einzuwirken, damit wir auch in dieser Frage einen Konsens finden. Für uns Ostdeutsche ist das sehr wichtig.
Danke.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Professor Dr. Martin Pfaff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im achten Jahr nach der deutschen Einheit gibt es immer noch eine Mauer quer durch Deutschland, und zwar eine Sozialmauer in der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Es ist Zeit, diese Mauer niederzureißen und auch im Gesundheitswesen ein gesamtdeutsches Solidarsystem einzuführen. Es ist höchste Zeit, daß wir auch im Gesundheitswesen sagen können: Wir sind ein Volk von gleichen Bürgerinnen und Bürgern, von gleichen Regionen, ein Land, in dem nicht die eine Region „gleicher"als die andere ist.
Mit dem heutigen Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätten wir gemeinsam die Chance, diese Mauer vollständig niederzureißen. Leider wird die heutige Entscheidung aber nicht nur von dem
Dr. Martin Pfaff
Wunsch „Deutschland, einig Vaterland" beflügelt. Vielmehr wird die heutige Entscheidung durch den Druck der Ereignisse und den drohenden Kollaps der Ostkassen erzwungen, auch durch das „mene, mene tekel upharsin", das die Regierungskoalition immer öfter und immer deutlicher an der Wand lesen muß. Auch das gehört zur vollen Wahrheit.
Lange Zeit drohte das Gesetz zu scheitern: nicht am Widerstand der Opposition im Deutschen Bundestag, nicht an der Blockade im Bundesrat. Nein, das Gesetz drohte zu scheitern, weil sich die Ministerpräsidenten Bayerns und Baden-Württembergs einer Fortführung der gesamtdeutschen Solidarität verweigern wollten und im Rahmen dieser Sofortmaßnahme für die Ostkrankenkassen schon einen überwiegend regional gestalteten Risikostrukturausgleich verankern wollten. Herr Bundesminister Seehofer, bei solchen „Parteifreunden" brauchen Sie wirklich keine Gegner mehr; das muß man Ihnen hier mit aller Deutlichkeit bescheinigen.
Da lobe ich mir den Kollegen Zöller, der in entwaffnender Offenheit - ich sage das auch mit Respekt - gesagt hat: Wir sind diesen beiden Bundesländern entgegengekommen; wir haben ja Brücken gebaut. Der erste Pfeiler dieser Brücke, so sage ich, ist die zeitliche Befristung der gesamtdeutschen Solidaritätsbekundung für den Osten. Auch das war keine Forderung der Expertengruppe. Der zweite Pfeiler besteht in der finanziellen Begrenzung auf 1,2 Milliarden DM für drei Jahre. Der dritte Pfeiler stammt aus dem Alibi-Auftrag an den Sachverständigenrat, nämlich Fragen zu beantworten, deren Antworten schon lange klar sind, und Daten zu liefern - ich will das nicht überbetonen, um die Sache nicht zu gefährden -, die nur sehr schwer von den Kassen zu erstellen und von den Sachverständigen auszuwerten sind.
Die Antwort der „Gesundheitsweisen" auf die erste Frage kann doch nur lauten: Auch in Zukunft wird ein gesamtdeutscher kassenartenübergreifender Risikostrukturausgleich unabdingbar erforderlich sein; auch in Zukunft würde eine totale Regionalisierung zu fatalen Konsequenzen für die Versorgung der schwächeren Regionen führen; auch in Zukunft gilt es, amerikanische Verhältnisse in Deutschland zu verhindern. Das werden die Sachverständigen sagen; sie können gar nichts anderes sagen.
Der vierte Pfeiler, der ebenfalls für die Brücke in Richtung Bayern und Baden-Württemberg gebaut wurde, ist, daß die Sozialmauer nicht sofort und ganz fällt, sondern daß es nur einen Ausgleich der Finanzkraft gibt, was von der Sache her gesehen in der Übergangsphase ja sinnvoll ist; das möchte ich ausdrücklich betonen. Aber die Faktoren, die den Finanzbedarf bestimmen - Alter, Geschlecht, Zahl der Mitversicherten -, werden in den nächsten Jahren weiterhin getrennt ermittelt. Der geteilte Risikostrukturausgleich wird in dieser Weise fortgeführt. In der Sprache der Juristen heißt das: Die Trennung der Rechtskreise West und Ost bleibt weiterhin bestehen.
Die Regierungskoalition ist aber nicht in der Lage, schon heute, verehrter Herr Ausschußvorsitzender, verbindlich zu verkünden, daß danach ein gesamtdeutscher Risikostrukturausgleich wirklich eingeführt wird. Dies zeigt, auf welcher Ebene der Handlungsinkompetenz sich diese Regierungskoalition heute befindet.
In drei Punkten wurde von der Expertengruppe deutlich abgewichen. Die Experten sagten: Wir wollen eine Rechtsangleichung zwischen West und Ost, eine gleiche Beitragsbemessungs- und eine gleiche Versichertenpflichtgrenze. Warum sollen denn die mit den breiten Schultern im Osten nicht auch einen größeren Beitrag leisten? Wie können wir das denen im Westen erläutern? Die Experten forderten zu Recht keine zeitliche Befristung und auch keine finanzielle Begrenzung.
In unseren Augen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, führen diese Brückenpfeiler zu mehrfachen Mängeln, weil sie eine richtige, das heißt eine systemkonforme Lösung durch Kurzfristmaßnahmen ersetzen, ohne jedoch eine befriedigende Perspektive für die Beantwortung zweier zentraler Fragen zu geben. Die Legalisierung der Kreditfinanzierung mag ja ein Gebot der Stunde sein; denn sie wird faktisch bereits praktiziert. Aber sollte man nicht auch eine echte Perspektive einfordern? Wie sollen denn die Ostkrankenkassen diese Defizite, die sie über Kredite finanzieren, zurückzahlen? Eine befriedigende Lösung ist nicht erkennbar.
Das zweite ist die Frage, wie es wohl mit dem Ziel der Kostenbegrenzung aussieht; denn es werden zwar allgemeine Maßnahmen angesprochen, der Gesetzentwurf enthält aber keine Mechanik, die der Erwartung gerecht wird, daß dies auch wirksam umgesetzt wird. Im Klartext kann man hier erkennen, daß die Konzeption des ersten und zweiten Neuordnungsgesetzes eigentlich gescheitert ist; denn sonst bräuchten Sie diese Maßnahmen gar nicht durchzuführen.
Weil es aber um eine pragmatische Übergangslösung geht, die nach dem 27. September 1998 schnell korrigiert werden kann, sind diese unbefriedigenden Maßnahmen nicht als unverzeihliche Todsünden einzustufen. Nein, sie sind eher läßliche Sünden wider den Geist des Risikostrukturausgleichs, wider den Geist von Lahnstein. Sie verhindern nichts; sie ermöglichen eine kurzfristige Lösung. Sie sind Schritte in die richtige Richtung, auch wenn sie nicht weit genug gehen.
Die SPD wird sich deshalb in ihrer Mehrheit nicht verweigern, diesem Gesetz zuzustimmen, eben weil eine schnelle Lösung möglich ist. Jetzt eine Prinzipiendiskussion im Stile von Stoiber und Teufel zu führen oder auf die reine Lehre zu verweisen würde aus der Sicht der Ostkassen ungefähr einer Situation entsprechen, als wenn man einem Schwimmer, der sich im Schwimmbad mit letzten Kräften an der Oberfläche halten kann - das Wasser schon oberhalb der Nasenspitze -, noch erklären würde: Im Prinzip möchte ich Ihnen gerne helfen; aber eigentlich müßte das Schwimmbad umgebaut werden, so daß Sie in diese Situation gar nicht hätten kommen können. Im
Dr. Martin Pfaff
Prinzip möchte ich Ihnen gerne helfen; aber haben Sie bitte Verständnis dafür, daß ich mit meinem neuen Anzug nicht ins Wasser springen kann. Ja, im Prinzip würde ich Ihnen gern helfen, aber Sie wissen ja, Sie befinden sich im falschen Teil des Schwimmbads. - Nein, dies ist keine Zeit für Theorie, auch keine Zeit für die reine Lehre, dies ist eine Zeit zum Handeln.
Dazu sind wir bereit.
Wir erkennen, daß Sie zusammen mit diesem Gesetz einen anderen unseligen Mechanismus zu Recht aushebeln wollen und ein Moratorium in bezug auf die Koppelung von Beitragserhöhung und Zuzahlungserhöhung nach dem 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz vorhaben. Das ist richtig. Das ist aber nicht nur für 1998, sondern auch für die Zeit danach richtig.
Die gute Nachricht für die Bürgerinnen und Bürger lautet: Diese Aussetzung wird im Wahljahr nicht dazu führen, daß Zuzahlungsorgien auf sie zukommen. Die noch bessere Nachricht lautet: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr könnt am 27. September verhindern, daß diese unselige Maßnahme in der Zukunft in Deutschland überhaupt zum Tragen kommen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß appelliere ich an alle Fraktionen dieses Hauses. Ich sagte schon: Wir kennen die Probleme, die es hier gibt. Es geht aber darum, den Ostkassen schnell und pragmatisch zu helfen. Wir stimmen mit großer Mehrheit dem Gesetz zu, nicht weil wir der Regierungskoalition aus einer selbstverschuldeten Patsche heraushelfen wollen, nein, sondern weil wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Osten aus einer Notlage helfen wollen, die sie weder selbst verschuldet haben noch aus eigener Kraft verändern können.
Ich sage es noch einmal: Ich appelliere an alle Seiten des Hauses, entweder diesem Gesetz zuzustimmen oder es zumindest nicht zu verhindern. Es gibt Anlässe, bei denen gestritten werden muß; es gibt aber auch Anlässe, bei denen die Gemeinsamkeit aller Demokraten gefordert ist. Heute können wir - ich meine: heute müssen wir - zeigen, daß wir kompromiß- und konsensfähig sind,
wenn es um die Solidarität mit unseren Brüdern und Schwestern im Osten Deutschlands geht.
Ich gebe das Wort der Abgeordneten Monika Knoche.
Sehr geehrte Herren und Damen! Es kann und wird nicht sein, daß einer sehr kritischen Position, für die ich hier stehe, abgesprochen wird, daß sie in Solidarität mit den neuen Bundesländern vertreten wird.
Sicher, die Situation in den neuen Bundesländern zwingt dazu, eine solidarische Lösung schnell und wirksam herbeizuführen. Aber wozu ich nicht bereit bin, ist, den ganzen Kontext außen vor zu lassen, in dem dieses Gesetz bewertet werden muß. Ich sage es so: Bundesgesundheitsminister Seehofer ist - und das zeigt die Notwendigkeit dieser Hilfsmaßnahme - nie ein gesamtdeutscher Gesundheitsminister gewesen. Hätte er je die kritische Lage der gesetzlichen Kassen und die Ursachen der Defizite im Auge gehabt,
als er im Bayerischen Wald spazierenging und das erste Neuordnungsgesetz erfunden hat, hätte es dieses Desaster niemals gegeben.
De facto ist die Aussage dieses Gesetzes: Er muß auf Grund der Realität, der offenkundigen Finanzierungskrise, das Kernstück seines Jahrhundertreformprojektes aufheben. Es ist das Eingeständnis des umfassenden Scheiterns der Gesundheitspolitik dieser Regierung.
Denn die Regelung, die hier seitens der Koalition gefunden worden ist, nämlich Beitragssatzanhebungen mit Bestrafungen in Form von Zuzahlungen zu verbinden, erweist sich in den neuen Bundesländern als ein vollständiges Desaster. Es kann keinerlei Akzeptanz für diese Regierungspolitik erreicht werden, wenn auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit die Menschen in den neuen Bundesländern nun auch noch bei Beitragssatzerhöhungen mit erhöhten Zuzahlungen bestraft werden würden. Sie wissen selber, daß dies nie und nimmer akzeptiert worden wäre.
Aber ich sehe auch einen anderen Zusammenhang. Ich sehe ebenfalls, daß das heutige Ergebnis schöner dargestellt wird, als es in Wirklichkeit ist, weil es von einer ganz bedeutenden Debatte überdeckt worden ist. Die Tatsache, daß die Gesundheitsstrukturgesetzgebung ausnahmslos an den Bundesländern vorbei gemacht worden ist, also die Umgehung des Föderalismus, hat diesen Regionalismus, diesen Süd-Separatismus überhaupt erst hervorgebracht.
Jetzt so zu tun, Herr Seehofer, als würden Sie diese
Kräfte domestizieren, als seien Sie derjenige, der die
gesamtsolidarische Regelung, den gesamtdeutschen
Monika Knoche
Risikostrukturausgleich vor den Widersachern in der eigenen Partei, in den eigenen Reihen rettet, ist ein Hohn. Diese Interessenlage, aus der Gesamtsolidarität in den sogenannten Wettbewerb der Regionen einzusteigen, ist entstanden, weil Sie den Konsens in dieser Gesundheitsstrukturgesetzgebung verweigert haben. Das ist Fakt.
Wir haben mit unseren Anträgen, die Gegenstand der Anhörung gewesen sind, eine hohe Akzeptanz bei allen gesetzlichen Krankenkassen dafür gefunden, daß es möglich und notwendig ist, schon heute in der vollen Systematik Lösungen zum Erhalt des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleiches zu finden. Diese Lösungen sind bei geeintem Willen möglich. Ich bin nicht bereit, einem Gesetz, das diese Grundprinzipien seinem Wesen nach zur Disposition stellt, das Jawort zu geben. Aus diesem Grund hat meine Fraktion einen Antrag und heute einen Entschließungsantrag eingebracht, der zeigt, daß dieses Problem im Interesse der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, der Chancengleichheit der Menschen in allen Bundesländern geregelt werden kann.
Danke.
Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Westen haben wir durch das 2. NOG Einsparungen erzielt. Wir haben Stabilität im Bereich Ausgaben und Einnahmen erreicht. Daher können die Krankenkassen im Jahre 1998 die Beitragssätze stabil halten. Die Krankenkassen haben uns signalisiert: 1998 keine Beitragssatzsteigerung.
Probleme haben wir in der Tat in den neuen Bundesländern, weil die Arbeitsplatzsituation dort sehr problematisch ist und die Arbeitsplätze teilweise wegbrechen. Also sind die Ausgaben entschieden höher als die Einnahmen.
Jetzt haben wir, die Koalition, uns mit den Krankenkassen und den anderen Leistungserbringern zusammengesetzt und eine Konzeption entwickelt, die realistisch und sehr pragmatisch ist. Wir sagen nämlich: Zunächst müssen im Bereich der Ausgaben Einsparungen erzielt werden. Im letzten Quartal sind bei den Ausgaben schon 4,8 Prozent eingespart worden. Ich denke, das ist eine recht beachtliche Zahl. Wir sollten würdigen, daß hier Einsparungen erzielt worden sind.
Ich bin sicher, dieser Prozeß wird sich fortsetzen. Das ist Selbstverantwortung der Beteiligten.
Ein zweiter wichtiger Weg, den wir jetzt eröffnen, sind kasseninterne Stützungsmöglichkeiten, um Beitragssatzerhöhungen zu vermeiden. Auch das ist Selbstverwaltung und Selbstverantwortung.
Die dritte Möglichkeit in dieser Übergangsphase ist, die Kreditaufnahme zu akzeptieren. Auch dies halte ich für ein wichtiges Instrument, denn wir befinden uns auch im Wettbewerb.
Die vierte Möglichkeit ist in der Tat der Risikostrukturausgleich. Wie steigen wir in diese Problematik ein? Wir haben uns entschieden, als Grundlage die Grundlohnsumme zu akzeptieren. Das entspricht einem Umfang von 1,2 Milliarden DM. Dies können wir auch mit Blick auf den Westen verantworten. Wenn wir heute die volle Vereinigung im Gesundheitssektor herbeiführen würden, würde dies bedeuten: Es müssen finanzielle Mittel in Höhe von über 4 Milliarden DM vom Westen in den Osten fließen. Das ist - das muß ich hier sehr deutlich sagen - für die Versicherten im Westen finanziell nicht zu verkraften.
Daher bitte ich, die Anstrengungen der Koalition zu akzeptieren. Wir wollen im Osten helfen; wir sind wirklich entschlossen. Aber wir müssen auch die finanziellen Zwänge im Westen berücksichtigen. Von daher sind wir diesen Weg gegangen. Ich halte ihn für einen verantwortungsvollen Weg.
Das Thema Risikostrukturausgleich ist zwischen Bund und Ländern nicht einfach zu diskutieren. Es ist ein ausgesprochen sensibles Thema. Wir wollen es auch nicht überziehen. Ich bin froh, daß wir uns jetzt entschieden haben, diese Thematik noch einmal wissenschaftlich aufzubereiten, um zu sehen, welche Vor- und Nachteile durch den Risikostrukturausgleich entstehen. Dann müssen wir politisch entscheiden.
Ich sage das sehr deutlich: Es gibt mehrere Alternativen. Es gibt nicht nur die Alternativen der Ausdehnung und der Beibehaltung, sondern auch die Möglichkeit der Rückführung des Risikostrukturausgleichs. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, hinter welcher Position die F.D.P. in einem großen Umfange steht. Es kann also auf Dauer nicht Umverteilung sein, sondern mehr Rücksichtnahme. Wir hoffen, daß wir durch den Risikostrukturausgleich die Wettbewerbsnachteile in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung ausgeglichen haben.
Wir, die wir 1992 bei diesem Gesetz mitgewirkt haben, wissen, daß wir alle gesagt haben: Der Risikostrukturausgleich darf nur während einer Übergangsphase gelten. Es soll kein Dauerinstrument sein.
- Doch. Das ist damals während der Verhandlungen auch mit Ihnen besprochen worden. - Ich denke, das Gesetz wird von allen Beteiligten akzeptiert. Sie haben uns Mut gemacht, diesen Weg zu beschreiten.
Dr. Dieter Thomae
Wir werden ihn gehen. Ich bin froh, daß von Ihrer Seite das Signal kommt, hier mitzumachen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?
Bitte schön.
Herr Kollege Dr. Thomae, Sie sagen, es sei allen Beteiligten klar gewesen - ich nehme an, Sie meinen die Vereinbarungen in Lahnstein, die dann zum Gesundheitsstrukturgesetz geführt haben -, daß der Risikostrukturausgleich nur zeitlich beschränkt gelte. Können Sie mir dann sagen, wo dies im Gesetz steht?
Das haben wir nicht in das Gesetz hineingeschrieben.
Aber in den Gesprächen, die dort geführt worden sind, war klar, daß der Risikostrukturausgleich nur für eine Übergangsphase vorgesehen wird, um die Wettbewerbsnachteile von gewissen Kassen zu beseitigen.
Ich gebe der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem finanziellen Kollaps der Krankenkassen in den neuen Bundesländern wird dort ein weiteres Mal etwas vorweggenommen, was als kommende Bedrohung auch über den alten Bundesländern schwebt. Der wirtschaftliche Katastrophenkurs in Ostdeutschland, unter anderem gekennzeichnet durch zunehmende Massenarbeitslosigkeit und sinkende Einkommen, hat zu massiven Beitragsausfällen und damit schon heute zu einer unhaltbaren Finanzlage der Krankenkassen geführt. Aus eigener Kraft kann sie nicht mehr bewältigt werden.
Um Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden, müssen viele Kassen zusätzlich zu den schon gesetzwidrig aufgenommenen Darlehen Beitragserhöhungen von mehreren Prozentpunkten vornehmen. Die gleiche Gefahr für die westdeutschen Kassen konnte vor dem Hintergrund einer günstigeren Wirtschaftslage durch die Gesetze im Rahmen der dritten Stufe der Gesundheitsreform und ihre massiven Zuzahlungserhöhungen lediglich ein weiteres Mal hinausgeschoben werden. Aber auch hier führen Arbeitslosigkeit und eine sinkende Lohnquote zu entsprechenden Einnahmeverlusten der Kassen, während gleichzeitig alle systembedingten Mittelverschwendungen im Gesundheitswesen, ergänzt durch die neuen Milliarden-Geschenke an die Pharmaindustrie, unvermindert weitergehen.
Das daraus resultierende Szenario ist wie nach jeder bisherigen Gesundheitsreform auch diesmal absehbar: Nach kurzer und leichter Erholungsphase sind die nächsten Defizite bereits vorprogrammiert. Allerdings wird dies im Westen vor dem Wahltag nicht akut. Anders in Ostdeutschland: Hier platzt das Debakel der Krankenkassen mitten in das Wahljahr. Damit sehen sich Regierung und Koalition im eigenen politischen Interesse zum Handeln verdammt. Minister Seehofer hat dies - wenn auch viel zu spät - erkannt und in kurzer Zeit zusammen mit den betroffenen Ländern und Kassen ein durchaus respektables Maßnahmenbündel geschnürt.
Die wichtigste und hilfreichste Maßnahme ist zweifellos der vorgesehene Übergang zu einem gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich. Aber genau an diesem Punkt hat sich der Minister seinen Schneid auch gleich wieder abkaufen lassen. Als Ergebnis der Intervention eigener südlicher Parteifreunde wurde der neue Risikostrukturausgleich, der ohnehin nur auf die Grundlohnsumme bezogen ist, gegen jede Systemlogik einer Beschränkung nach Zeit und Umfang unterworfen. Das ist nicht zuletzt deshalb schlimm, weil damit den Kassen die notwendige Sicherheit für eine mittel- und langfristige Finanzplanung genommen wird.
Andererseits hat die Koalition - nicht ohne Bauernschläue - die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und den in seinen Folgen ebenfalls unberechenbaren Automatismus zwischen Beitragssatz- und Zuzahlungserhöhung exakt für das Wahljahr außer Kraft gesetzt. Natürlich ist dies auch ein erstes großes Eingeständnis des Scheiterns der dritten Stufe der Gesundheitsreform. Weitere werden folgen.
Meine Damen und Herren, trotz dieser Hintergründe und handfesten Schwächen des Gesetzes gilt: Die mit ihm ergriffenen Maßnahmen sind heute im Interesse der gesundheitlichen Versorgung der Menschen in Ostdeutschland unverzichtbar und zielen zumindest in eine richtige Richtung. Wir werden dem Gesetz deshalb zustimmen.
- Ich habe auch im Ausschuß am Ende zugestimmt. Sie müssen eben ein bißchen hinhören.
Ich sage es noch einmal: Wir tun dies einzig und allein deshalb, weil es im Interesse dieser Menschen ist. Wie Kollege Pfaff schon gesagt hat: Die Menschen in den neuen Bundesländern können nichts für diese verfehlte Politik.
Ich sage auch noch einmal: Aus meiner Sicht ist dies eine ganz kurzatmige Schadensbegrenzung, mehr nicht.
Dr. Ruth Fuchs
Wir werden auch dem Entschließungsantrag der Grünen zustimmen. Es wird sich - die Kollegin Monika Knoche ist darauf klar und deutlich eingegangen - aus meiner Sicht wirklich nur um eine kurzfristige Schadensbegrenzung handeln. Eine reformorientierte Gesundheitspolitik, die längerfristig tragfähig ist, kann nur realisiert werden, wenn man auch den Punkten, die im Entschließungsantrag der Grünen benannt sind, zustimmt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Es spricht der Abgeordnete Roland Richter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Knoche, wenn man Ihren Ausführungen zuhört, dann kann einem schon übel werden.
Das, was Sie über die Argumentation und die Forderung von Ministerpräsident Teufel hier gesagt haben, ist, wenn man aus Baden-Württemberg kommt, schon eine ganz besondere Form der Politik.
Ich sage Ihnen einmal, was der Ministerpräsident von Baden-Württemberg bei dieser Diskussion tut: Er weist darauf hin, daß die Baden-Württemberger Jahr für Jahr 1,65 Milliarden DM in den Risikostrukturausgleich einzahlen. Das ist Geld, das von BadenWürttemberg fließt und in anderen Ländern ausgegeben wird. Nichts wird derzeit in den neuen Bundesländern ausgegeben; ausgegeben wird nur in den alten Bundesländern. Dann muß natürlich gefragt werden: Ist dieser Risikostrukturausgleich im Rahmen einer Solidarität untereinander noch gerechtfertigt?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Knoche?
Selbstverständlich.
Sie sprechen hier die Politik von Herrn Teufel, Herrn Stoiber und Herrn Biedenkopf an.
Es ist doch eindeutig so - Sie können mir widersprechen -, daß es die Intention des Risikostrukturausgleiches ist, die unterschiedlichen Risiken, die die gesetzlichen Krankenkassen auch auf der Einnahmeseite haben, im gesamtdeutschen Interesse auszugleichen,
daß mit der Aufforderung, aus diesem Risikostrukturausgleich auszusteigen und sogar die Beitragssätze zu regionalisieren,
die Grundlage für eine Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse aller gesetzlich Versicherten untergraben wird und
daß es sich dabei ausschließlich um ein regionalegoistisches Interesse handelt,
bei dem ich der Meinung bin: Wenn solches Fürstentumsdenken die Republik regieren würde, dann ginge die Gesamtverantwortung ganz verloren.
jemand sagen, wo die Frage ist!)
Stimmen Sie mir darin zu, daß Ihr Minister diese Kernfrage sehr wohl erkannt hat und die Interessen in den eigenen Parteien gegen die Interessen des Ministers gerichtet sind?
Zunächst einmal, Herr Abgeordneter: Wenn Sie auch noch die zweite Zwischenfrage, die von Professor Pfaff, zulassen, können Sie beide Fragen in einem Aufwasch beantworten. - Sind Sie einverstanden?
Bitte Herr Professor Pfaff. Ich hoffe aber, daß es diesmal wirklich eine Frage ist.
Natürlich, Herr Präsident.
Herr Kollege Richter, ist es nicht so, daß die Wettbewerbsfähigkeit auch der Baden-Württemberger Regionalkassen eigentlich erst durch diesen kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich gewährleistet ist, so daß viele der Regionalkassen in Baden-Württemberg, die ansonsten erhebliche Probleme im Wettbewerb hätten, hauptsächlich davon profitieren?
Die Zahl 1,65 Milliarden DM, der Betrag, den die Baden-Württemberger in den Risikostrukturausgleich einzahlen, ist bereits um den Betrag bereinigt, den die baden-württembergischen Regionalkassen von den anderen Kassen erhalten. Das heißt, das sind reine Nettozahlungen.
Roland Richter
Jetzt ist die Frage: Gehen diese Nettozahlungen bei sparsamen Kassen ein, oder werden in anderen Ländern andere Formen der Ausgabenpolitik durchgeführt? Dazu möchte ich einmal ein paar Zahlen nennen, liebe Frau Knoche. Die Ausgaben der AOK in Berlin liegen bei 2 600 DM pro Kopf der Versicherten; in Baden-Württemberg bei etwa 1 500 DM. Das heißt, die AOK in Berlin gibt im Vergleich zur badenwürttembergischen AOK pro Versicherten fast das Doppelte aus, und zwar mit Hilfe von Geld, das aus Baden-Württemberg kommt. Wenn dieses Geld ausgegeben werden müßte, weil die Versichertenstruktur dramatisch anders wäre, dann würde ich einen Teil Ihrer Argumentation durchaus gelten lassen. Aber man muß wissen, daß die Berliner einen erheblichen Überhang an Krankenhausbetten haben, der mit genau diesem Geld aus Baden-Württemberg finanziert wird.
Es kann ja wohl nicht richtig sein, daß die Beitragszahler in Baden-Württemberg mit 400 Betten pro 100 000 Einwohner auskommen, während die Berliner eine sehr viel höhere Zahl an Krankenhausbetten zur Verfügung stellen. Das kann mit Solidarität nicht mehr umschrieben werden.
Dieser jetzt vorliegende Gesetzentwurf geht einen Mittelweg zwischen einem regionalisierten Risikostrukturausgleich, wie wir ihn derzeit in beiden Rechtskreisen haben, und einem vollen Risikostrukturausgleich. Er begrenzt nämlich die Ausgleichsleistungen. Das ist im Grunde genommen genau die Forderung, die Erwin Teufel erhoben hat: Er will eine klare Begrenzung mit dem Ziel, daß diejenigen, die Geld anderer Leute ausgeben, sparsamer mit dem Geld umgehen. Ich glaube, von daher ist der Vorschlag, der aus Baden-Württemberg gekommen ist, sinnvoll.
Ich gebe aber zu, daß es in den Verhandlungen nicht möglich war, den Vorschlag bereits in diesem Gesetzeswerk unterzubringen, weil man natürlich argumentieren kann, daß zunächst einmal vernünftige wissenschaftliche Grundlagen geschaffen werden müssen, bevor man abschließend eine Entscheidung trifft. Ich glaube aber, daß die Entscheidung am Ende in diese Richtung laufen muß, weil nur so ein fairer Ausgleich zwischen den Ländern ermöglicht wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Ja.
Seien Sie vorsichtig, lieber Herr Kollege Lohmann! - Herr Kollege Richter, wenn
Sie für die Begrenzung dieses Finanzausgleichs in Höhe von je 1,2 Milliarden DM für die Jahre 1999 bis 2001 eintreten und dies für sachgerecht halten, können Sie mir dann erklären, wieso Sie in den Gesetzentwurf schreiben:
Die Darlehensaufnahme bedarf der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn ... die Darlehen innerhalb von längstens zehn Jahren zurückgezahlt werden.
Können Sie mir einmal sagen, wie die Begrenzung auf drei Jahre damit zusammenpassen soll, daß die Kassen die Rückzahlung der Darlehen innerhalb von zehn Jahren nachweisen müssen? Damit geben Sie doch zu, daß die Kassen voraussichtlich zehn Jahre benötigen, aber Sie legen die Finanzierung nur auf drei Jahre an. Wie paßt das zusammen?
Herr Kollege Kirschner, wenn Sie das Gesetz in seiner Gesamtheit lesen, werden Sie feststellen, daß bereits ein Nachfolgegesetz, das in drei Jahren wirksam werden muß, angekündigt ist.
Es macht ja wohl relativ viel Sinn, die Konditionen für den Zeitraum zu beschreiben, auf den man sich festlegt. Der Fakt, den Sie gerade angesprochen haben, nämlich der zehnjährige Finanzplan, muß in dem Nachfolgegesetz natürlich entsprechend berücksichtigt werden. - Ich glaube, damit ist Ihre Frage hinreichend beantwortet.
Meine Damen und Herren, wenn man die Argumente, die aus Bayern und Baden-Württemberg in den letzten Monaten gekommen sind, ohne Scheuklappen - ob von rechts oder von links - betrachtet, stellt man fest, daß viele grundsätzlich gute Ideen enthalten sind, die man in der Diskussion natürlich weiterentwickeln muß. Ich weiß, daß diese Überlegungen bereits in Lahnstein eine gewisse Rolle gespielt haben. Dort hat man sich darauf verständigt, daß es am Ende regionalisierte Beiträge geben soll. Das Beispiel AOK Baden-Württemberg zeigt ja, daß eine Regionalisierung der Beiträge in der Tat diejenigen mit niedrigen Beiträgen belohnt, die in ihrem Land eine sparsame Gesundheitspolitik organisieren. Von daher sollten wir, so glaube ich, gemeinsam dafür eintreten, daß diese Form der Umverteilung von Sparsamen zu Verschwendern künftig anders geregelt wird. Am Ende sollten wir einen fairen Ausgleich erreichen, der auch die Länderinteressen genügend berücksichtigt.
Deshalb haben eine ganze Reihe von Kollegen aus der Landesgruppe der CDU Baden-Württemberg eine persönliche Erklärung vorgelegt, die sie zur Abstimmung abgeben. In dieser Erklärung machen sie deutlich, daß sie hoffen, daß das Nachfolgegesetz, Herr Kirschner, in der Tat die Interessen der Länder berücksichtigen wird. Wir werden aber, weil die der
Roland Richter
Einnahmesituation in den neuen Ländern verheerend ist, aus Solidarität dem Gesetz zustimmen.
Denn wir glauben, daß die Form der Solidarität, wie wir sie bei diesem Gesetz formulieren, eigentlich ein guter Ansatz wäre, die künftige Gesamtlösung darzustellen.
Herzlichen Dank.
Nun gebe ich dem Abgeordneten Hans-Hinrich Knaape das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das GKV-Finanzstärkungsgesetz ist ein pragmatischer Lösungsversuch zur Kompensation des Defizits der Krankenkassen in den neuen Bundesländern. Aus Verantwortung und Solidarität stimmen wir diesem Gesetz zu.
Uns ist jedoch bewußt, daß dieses Gesetz nicht nachhaltig auf die Senkung der Kostensituation in der GKV einwirken wird. Aber Zeit zur politischen Diskussion mit Verzögerung beim Handeln ist jetzt nicht gegeben.
Insofern stimmen wir diesem Notgesetz zu.
Erstens: Der Appell der Kassen, intern Solidarität zu üben, muß vollzogen werden.
Zweitens: Ab 1999 ist mit einem gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich schrittweise und in einem vertretbaren Umfang die innerdeutsche Solidarität der Krankenversicherten herzustellen, auch wenn dieser Risikostrukturausgleich zunächst nur den Grundlohnausgleich vorsieht und auf 1,2 Milliarden DM begrenzt ist.
Wir haben schwer daran zu tragen, daß wir den Versicherten in den alten Bundesländern finanzielle Belastungen zumuten. Wir sehen uns daher in einer moralischen und politischen Pflicht, diese Solidarität auch bei den Bürgern und bei den Kassen und Leistungserbringern in den neuen Bundesländern anzumahnen und einzufordern.
Die Sofortmaßnahmen des Gesetzes werden jedoch politisch durch die Regierungskoalition belastet, indem keine Sicherheit in der Frage signalisiert wird, wie es nach 2002 in der GKV weitergehen soll.
Wenn eine Prognoseunsicherheit in der Finanzentwicklung als Grund dafür angegeben würde, so wäre das als Anlaß für eine zeitnahe Überprüfung und Anpassung zu akzeptieren. Der Risikostrukturausgleich zwischen Ost und West soll nach Ansicht der Koalition jedoch nicht weiterentwickelt, sondern abgewikkelt werden. Wie anders ist der Auftrag an den Sachverständigenrat im Art. 5 a in dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung sonst zu verstehen? Herr Dr. Thomae wurde ja noch deutlicher.
Die Grundlohnentwicklung wird auch in den kommenden Jahren in den neuen Bundesländern eine negative Tendenz haben. Daraus ergibt sich, daß der Bereich der Arbeit nicht zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme ausreichen wird, wenn nicht - und das ist die Forderung der SPD - strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen durchgeführt werden.
Gerade in diesem Bereich handelt die Regierungskoalition nicht. Darin liegt auch der Mangel des Gesetzes. Den Krankenkassen müssen gesetzlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten zugestanden werden, zum Beispiel beim Abschluß von Verträgen mit ärztlichen Leistungserbringern, die auf die Erfordernisse der Patienten abgestellt sind. Wir fordern daher folgendes:
Erstens. Die Kassen und ihre Vertragspartner in den neuen Bundesländern müssen kurzfristig eigene Beiträge für nachhaltige Einsparungen erbringen.
Das betrifft aber nicht nur die Senkung der Verwaltungskosten und ein kritisches Verordnen von Medikamenten durch die Ärzte, sondern auch ein Überdenken der Versicherten, wo sie sich eine Selbstbeschränkung auferlegen können,
insbesondere wenn es sich um Störungen der Befindlichkeit oder um Fahrkostenerstattungen handelt.
Zweitens. Der Krankenhausbereich entzieht sich, da er weitgehend der Landeskompetenz unterliegt, nachhaltigen Sparmaßnahmen durch den Bundesgesetzgeber.
Die Überkapazitäten der stationären Versorgung müssen durch die Länder bereinigt werden, und davon - das ist wichtig - müssen die niedergelassenen Ärzte einen finanziellen Gewinn haben, wenn sie durch eine Intensivierung der ambulanten Versorgung den Sicherstellungsauftrag garantieren. Insgesamt aber ist die ärztliche Aufgabenteilung von angestellten und niedergelassenen Ärzten zum Nutzen der Patienten zu verändern. Andererseits darf es keinen Mißbrauch im kommunalen Aufgabenbereich geben, wenn zum Beispiel auf Kosten der GKV das Rettungswesen saniert und verbessert wird.
Drittens. Schließlich muß die Solidarität unter den Versicherten gewahrt sein. Es ist nicht zu vermitteln und schürt Gefühle der Entsolidarisierung im Westen, wenn bei gleichem Einkommen über der Bemessungsgrenze der Ostdeutsche finanzielle Vorteile gegenüber dem Westdeutschen hat. Insofern ist es nur gerecht, wenn die Koalition durch die Einfüh-
Dr. Hans-Hinrich Knaape
rung des Art. 3 a des Gesetzes die - an die wahrscheinliche Beitragserhöhung der GKV in den alten Bundesländern gekoppelten - konditionierten Zuzahlungen bis zum 31. Dezember 1998 aussetzt.
Gleichzeitig - dies ist das Wesentliche - sagt dieser Artikel, daß die Gesundheitsgesetzgebung dieser Regierungskoalition in immer kürzerer Zeit Nachbesserungen nötig macht. Insofern ist das GKV-Finanzstärkungsgesetz - welch wohlklingender Name! - in Wirklichkeit auch ein Finanzdopinggesetz.
Der Einsatz bisher unerlaubter Instrumente wird sanktioniert. Es legitimiert einen Systembruch der deutschen Sozialversicherung, indem 1998 - wenn auch unter strengen Auflagen, genauso wie beim Doping; man darf sich nur nicht erwischen lassen - Kredite aufgenommen wurden und werden. Es ist ein Eingeständnis der Bundesregierung, daß ihre Wirtschaftspolitik gescheitert ist, daß sich ihre Wahlversprechen seit 1990 nur zu schillernden Luftblasen aufblähten, die dann lautlos zerplatzten.
Aber die Intention des Gesetzes ist solidarische Hilfe von West nach Ost: sofort und unkompliziert. Die unterschiedlichen politischen Auffassungen der SPD-Fraktion zur Gesundheitspolitik möchte ich ausdrücklich hervorheben. Nur aus Solidarität zu den GKV-Versicherten in den neuen Bundesländern stimmt die SPD-Fraktion dem Gesetzentwurf zu.
Wir distanzieren uns von der Entwicklungstendenz - die sich ebenfalls im Gesetz abzeichnet -, sich ab 2002 vom gesamtdeutschen, kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich zu verabschieden. Dies werden wir den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkampf nahebringen.
Ich danke Ihnen.
Ich gebe dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es nach der deutschen Einheit 1990 in kürzester Zeit erreicht, daß wir in den neuen Ländern ein sehr hohes Niveau an medizinischer und pflegerischer Versorgung im Gesundheitswesen haben. Heute kann man sagen, daß die pflegerische und medizinische Betreuung der Menschen in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den alten Bundesländern absolut identisch ist. Dies verdanken wir in allererster Linie den Gesundheitsberufen, den Frauen und
Männern, die dort tagtäglich Dienst für den Menschen leisten.
Wir sollten auch an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, daß das oberste Ziel unseres Tuns heute ist, das Erreichte für die Zukunft zu erhalten.
Es stimmt: Wir haben in den neuen Bundesländern bei den gesetzlichen Krankenkassen Finanzprobleme. Aber ich denke, man muß zwei Dinge hinzufügen:
Erstens. Diese Finanzprobleme haben nicht die gesetzlichen Krankenkassen und auch nicht die neuen Bundesländer zu verantworten. Sie sind im besonderen eine Folge der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit. Es wird auch in diesem Zusammenhang sehr deutlich, daß die schönsten Sozialansprüche nur auf dem Papier stehen, wenn die Quelle, aus der sie finanziert werden, nicht sprudelt: unsere Volkswirtschaft.
Ich möchte zweitens darauf hinweisen, daß die Finanzschwäche der Krankenkassen in den neuen Ländern durch keine Gesundheitsreform - wie auch immer man sie gestalten würde - ausgeglichen werden könnte.
Drittens. Uns ist der Weg versperrt, den man in den letzten Jahrzehnten gelegentlich beschritten hat, nämlich Finanzprobleme in der Sozialversicherung mit Beitragserhöhungen zu beantworten, weil wir sonst in den neuen Ländern das Grundproblem, die Arbeitslosigkeit, noch weiter verschärfen würden. So führt kein Weg an der Hilfe der Westkassen für die Ostkassen vorbei. - Ich bin froh, daß wir in sehr rascher Zeit nach sehr intensiven Gesprächen ganz offenkundig einen großen Konsens in unserer Gesellschaft erzielt haben. - Diese Westhilfe ist um so einfacher möglich, als sie von den Westkassen erbracht werden kann, ohne daß im Westen die Beiträge erhöht werden müssen.
Dies wiederum ist darauf zurückzuführen - wir werden die entsprechenden harten Zahlen in drei bis vier Wochen veröffentlichen können -, daß wir auch durch die Gesundheitsreform dafür gesorgt haben, daß die gesetzlichen Krankenkassen aus hohen Defiziten in ausgeglichene Haushalte zurückfinden.
Es ist gut, daß die Westkassen und damit die Versicherten - es sind ja nicht die Bundesländer, die helfen, sondern die Beitragszahler, also Arbeitnehmer und Arbeitgeber - in diesem hohen Maße Solidarität beweisen. Es ist gut, daß wir mit den neuen Bundesländern und den Krankenkassen in den neuen Bundesländern - völlig unstrittig - vereinbart haben, daß zu dieser Hilfe auch die Eigenverantwortung und die Eigenhilfe der Krankenkassen im Osten treten. Wir konnten in den letzten Monaten merken, daß den Worten bereits Taten gefolgt sind und daß dort eisern
Bundesminister Horst Seehofer
gespart wird. Auch das werden wir in wenigen Wochen mit Zahlen erhärten und beweisen können. Es liegt also der klassische Fall vor, daß jemand unverschuldet in Not kommt, Eigenverantwortung wahrnimmt, aber gleichzeitig auch solidarische Hilfe aus dem Westen erfährt.
Wir helfen über den grundlohnbezogenen Risikostrukturausgleich; der niedrige Grundlohn ist nämlich die Ursache für die Probleme. Nun ist über den Risikostrukturausgleich - ich kann diese Einschätzung niemandem ersparen - in den letzten Monaten mit zu großer Schlichtheit von zu vielen geredet worden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schuster?
Ja.
Herr Minister, ich habe an Sie zwei kurze Fragen. Meine erste Frage: Der Kollege Thomae hat vorhin hier öffentlich erklärt, daß das Instrument des Risikostrukturausgleichs bereits in Lahnstein befristet vorgesehen worden sei. Können Sie das bestätigen - ja oder nein?
Meine zweite Frage: Sie haben eben ausgeführt, daß die Bilanzen der Krankenkassen deutlich besser sind als befürchtet. Würden Sie mir zustimmen, daß das nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß viele Patienten erheblich zuzahlen?
Herr Dr. Schuster, in der zweiten Frage stimme ich Ihnen zu. Es handelt sich um ein Ergebnis, das durch Sparen bei den Krankenkassen, Ärzten und allen Beteiligten, aber auch durch Zuzahlung erreicht worden ist. Es ist richtig, daß ich immer gesagt habe: Wenn wir auf der einen Seite das hohe Niveau an medizinischer und pflegerischer Versorgung in Deutschland erhalten wollen, ohne an die Kernsubstanz unserer solidarischen Krankenversicherung heranzugehen, und auf der anderen Seite die Arbeitskosten nicht mehr erhöhen können, brauchen wir zusätzliche Mittel, um dieses Leistungsniveau zu erhalten. Genau das ist das Instrument, das erfolgreich ist. Wir halten das hohe Leistungsniveau, ohne daß wir die Beiträge und damit die Arbeitskosten zusätzlich belasten müssen.
Dieter Thomae hat völlig zu Recht die Dinge so geschildert, wie sie sind. Die Befristung ist nicht im Gesetz vorgesehen, aber die Koalition war sich immer darüber im klaren, daß wir mittel- und langfristig überprüfen müssen, ob das Volumen des Risikostrukturausgleichs zwischen Geber- und Nehmerländern richtig angelegt ist. Ich bin aber im Gegensatz zu den Südstaaten der Meinung, daß die Überprüfung zu gegebener Zeit auf Grund harter Fakten und nicht auf Grund hypothetischer Zahlen für das Jahr 2002 oder für spätere Jahre erfolgen sollte.
Wie gesagt: Zum Risikostrukturausgleich ist mit großer Schlichtheit gesprochen worden, denn zwei Dinge werden permanent übersehen: Erstens. Der Risikostrukturausgleich gleicht nicht unwirtschaftliche Ausgaben aus, sondern er ist einnahmeorientiert.
Zweitens. Es werden nicht die Kosten für überzählige Krankenhausbetten in Berlin durch Zahlungen aus Baden-Württemberg oder Bayern ausgeglichen. Es werden vielmehr Risiken ausgeglichen, für die die Krankenkassen nichts können.
Die Kosten für die überzähligen Krankenhausbetten werden durch den Risikostrukturausgleich nicht ausgeglichen,
auch wenn das noch tausendmal behauptet wird.
Weder freiwillige Leistungen noch Verwaltungskosten oder überdurchschnittliche Ausgaben werden im Rahmen des Risikostrukturausgleichs ausgeglichen. Deshalb ist es einfach ungerecht, zu sagen, der Risikostrukturausgleich belohne Unwirtschaftlichkeit. Ich würde niemals auf die Idee kommen, daß die AOK Bayern und die AOK Baden-Württemberg unwirtschaftlich arbeiten, nur weil sie nachgewiesenermaßen zusammen 2,6 Milliarden DM aus dem Risikostrukturausgleich erhalten. Das wäre dann gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Unwirtschaftlichkeit. Nein, sie erhalten zusammen diese 2,6 Milliarden DM, weil sie Risiken versichern, für die sie nichts können. Das ist der Grundgedanke des Risikostrukturausgleichs.
Es ist meines Erachtens nur logisch gedacht, daß man in der Zeit, in der die Kassen und damit die Beitragszahler in den alten Bundesländern den Menschen in den neuen Bundesländern helfen, nicht höhere Zuzahlungen auf Grund von Beitragserhöhungen vorsieht.
Das ist denklogisch. Auch wenn es tausendmal als Einbruch, Rücknahme und Vergewaltigung des Gesundheitsministers apostrophiert wird - dies läßt mich ziemlich ruhig -: Wir werden das Instrument - so wie im Gesetz vorgesehen - ab dem 1. Januar 1999 wieder anwenden.
Meine Damen und Herren, wer jetzt - mit welchen Gründen auch immer - diese unbestritten notwendige Hilfe für die Menschen in den neuen Bundesländern verweigert und dieses Gesetz ablehnt, der verabschiedet sich von der erforderlichen Solidarität, die mit der inneren Einheit Deutschlands zu tun hat.
Bundesminister Horst Seehofer
Deshalb appelliere ich an den Bundesrat, diesem unverzichtbaren Beitrag zur Solidarität zuzustimmen. Dies ist aus meiner Sicht ein entscheidender Schritt, um die innere Einheit Deutschlands voranzubringen.
Auch wenn wir heute - so wie die Erklärungen gelautet haben - damit rechnen dürfen, daß es zu diesem Thema ein hohes Maß an Konsens und damit auch an Harmonie gibt, möchte ich doch am Ende meiner Ausführungen darauf hinweisen, daß ich in den letzten sechs Jahren viele Kontroversen mit verschiedenen Beteiligten führen durfte, aber daß im Rahmen dieser Kontroversen von Bayern und BadenWürttemberg bis zum heutigen Tage Ausführungen gemacht worden sind, die meine persönliche Glaubwürdigkeit beschädigen sollen und die in den kommenden Wochen noch zu Konsequenzen führen werden, weil das, was immer wieder behauptet wurde, von mir so nicht zugesagt worden ist.
Herr Professor Pfaff, ich gebe zu, daß man sich auch mehr vorstellen kann. Viele in der Koalition waren der Auffassung, es wäre an der Zeit, daß die Sozialmauer zwischen Ost und West auch im Gesundheitswesen endgültig und ohne Ausnahme fällt. Doch Sie wissen so gut wie ich, daß in einer Demokratie auch immer die Mehrheitsfähigkeit dazugehört. Aber wir werden von dem Ziel nicht ablassen, so schnell wie möglich - und sobald es wirtschaftlich verantwortbar ist - diese letzte Sozialmauer, die wir in Deutschland noch haben, zum Einsturz zu bringen. Daran hält die Koalition fest.
Das Gesetz hat Schwächen. Aber mir ist ein Gesetz mit Schwächen lieber,
als aus Schwäche überhaupt nicht zu handeln. Deshalb bin ich allen dankbar, die heute diesem Gesetz zustimmen.
Damit schließe ich die Aussprache.Es sind einige Erklärungen zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben worden, und zwar von der Kollegin Sigrun wisch, *) und von den Kollegen Klaus Bühler, Otto Hauser, Claus-Peter Grotz, Heinz Seiffert, Hans-Joachim Fuchtel, Egon Susset, Volker Kauder und Siegfried Hornung sowie weiteren Abgeordneten.**) Ich nehme Ihr Einverständnis dazu an, daß wir diese Erklärungen zu Protokoll nehmen.Dann kommen wir zu den Abstimmungen. Ich lasse zuerst über den von den Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Ländern, Drucksachen 13/9377 und 13/9866, abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuß-*) Anlage 2 **) Anlage 3fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalition, der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist.Dann treten wir in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit demselben Stimmenverhältnis in dritter Lesung angenommen worden ist.Dann kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/9869. Wer dem Entschließungsantrag zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 f auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck , Andrea Fischer (Berlin), Kerstin Müller (Köln), Dr. Antje Vollmer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichstellungs- und Antidiskriminierungsregelungen und gesetzliche Konsequenzen aus dem Benachteiligungsverbot für Behinderte im Grundgesetz- Drucksache 13/3931, 13/5595 -b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes- Drucksache 13/4984 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnungc) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungVierter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation- Drucksache 13/9514 -Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung SportausschußAusschuß für GesundheitAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismusd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje-Marie Steen, Dr. Ulrich Böhme , Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Metadaten/Kopzeile:
20026 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Februar 1998
Vizepräsident Dr. Burkhard HirschEinsatz von Gebärdendolmetschern bei wichtigen politischen Entscheidungsprozessen im Deutschen Bundestag- Drucksache 13/3110-e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer , Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAnerkennung der deutschen Gebärdensprache und der Gehörlosen-Gemeinschaft- Drucksache 13/9217 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung SportausschußAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für GesundheitAusschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzungf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Andrea Fischer , Volker Beck (Köln) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu der Großen Anfrage der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Karl-Hermann Haack , Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDArbeitswelt und Behindertenpolitik- Drucksachen 13/1333, 13/2441, 13/4972, 13/ 4991, 13/7534 -Berichterstattung: Abgeordnete Petra BlässEs liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sieben Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Abgeordneten Antje-Marie Steen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundespräsident Roman Herzog hat im November vergangenen Jahres aus Anlaß der Vorstellung der „Aktion Grundgesetz " der Aktion Sorgenkind einen wichtigen Satz gesagt. Ich zitiere:
Solange Menschen die Nachbarschaft sogenannter Behinderter ablehnen, solange Eltern dafür kämpfen, daß ihre Kinder nicht mit sogenannten behinderten Kindern gemeinsam zur Schule gehen, solange in Hotels, Gaststätten, Diskotheken und anderswo Rollstuhlfahrer als unerwünscht behandelt werden, habe ich große Sorgen, daß
wir noch meilenweit von der Umsetzung der Verfassungsnovelle von 1994 entfernt sind.
Der Bundespräsident sprach hier dezidiert das sogenannte Diskriminierungsverbot „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" an, das im Jahre 1994 im Grundgesetz verankert wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir alle haben uns gefreut, daß wir es nach jahrelangem Anlauf endlich geschafft hatten, diese Klausel in das Grundgesetz aufzunehmen. Welch hoffnungsvolle Erwartungen wurden geweckt, nicht nur bei uns Politikern, sondern vor allen Dingen bei unseren behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern!
Heute, gut drei Jahre nach der Verankerung des Gleichstellungsgebotes im Grundgesetz, sind wir eines Besseren belehrt worden. Menschen mit Behinderungen werden überproportional oft aus dem Arbeitsleben ausgegrenzt. Die Mobilität der Behinderten ist noch immer von strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen abhängig. Reiseunternehmen bieten aus Angst vor Ressentiments nichtbehinderter Touristen nur noch eine verschwindend geringe Zahl an Reisen für Behinderte an. Behinderte Kinder werden vom wichtigen integrativen Schulunterricht mit Nichtbehinderten zunehmend ausgeschlossen und müssen über eine Verfassungsklage versuchen, diesen zu erhalten. Bewohnern von Behindertenwohnheimen wird per Gerichtsbeschluß das Verweilen im Garten nur noch zeitweilig zugebilligt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich aus aktuellem Anlaß folgendes zu dem Urteil des Oberlandesgerichts Köln sagen, das vorschreibt, Mitglieder einer Behindertenwohngruppe nur noch zeitlich begrenzt in ihren Garten zu lassen, weil sie - ich zitiere aus der Klagebegründung des Klägers - „unerträglichen Lärm durch Schreie, Stöhnen, Kreischen und andere unartikulierte Laute verursachten" .
Es ist unverständlich und ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, wenn wir den anscheinend andersartigen Lebensformen behinderter Mitmenschen überhaupt keine Sensibilität, überhaupt kein Verständnis mehr entgegenbringen können. Das muß man sich einmal vorstellen: Da werden Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigt: nicht auf Grund der Lautstärke, also einer Lärmbelästigung, sondern weil die Art der Geräusche für Nachbarn angeblich nicht hinnehmbar ist.
Passen Menschen nicht in unsere vorgegebene Norm, entsprechen sie nicht unseren Vorstellungen, dann bleibt für sie kein Platz in unserer Gesellschaft - und das, obwohl es keine Norm für das Menschsein gibt. Meine Damen und Herren, es ist normal, verschieden zu sein. Das sollten wir gelernt haben.
So schwer die Urteile deutscher Gerichte nachzuvollziehen sind, viel schwerwiegender sind die Wirkungen, die von solchen Entscheidungen ausgehen. Es ist zu vermuten, daß wieder - wie bereits durch das sogenannte Flensburger Urteil - die Kräfte in ihrem Handeln und Entscheiden bestärkt werden, die
Antje-Marie Steen
Akzeptanz predigen, gleichzeitig aber Ausgrenzung leben. Auf den Nenner gebracht: Selbstverständlich ist man für Integration; aber das muß ja nicht gerade in der Nachbarschaft beginnen.
In meinem Bundesland, Schleswig-Holstein, soll auf Wunsch der Regierungsparteien das Ziel des Schutzes und der Förderung von Menschen mit Behinderung in die Landesverfassung aufgenommen werden. CDU und F.D.P. lehnen das ab, stimmen aber dem Ziel einer Förderung des Sportes zu. Soviel zur Glaubwürdigkeit einzelner Politiker, den Grundgesetzauftrag der Gleichstellung ernst zu nehmen und ihn zur Verfassungswirklichkeit werden zu lassen.
Menschen mit Beeinträchtigungen wollen kein Mitleid, keine falsch verstandene Fürsorge, keine Sonderrechte. Sie wollen die Realisierung und Durchsetzung längst überfälliger Bürgerrechte. Diesen Forderungen wird die Bundesregierung mit ihrer Politik der sozialen Kälte allerdings nicht gerecht. Selbständige und selbstbestimmte Lebensführung wird für Menschen mit Behinderung zu einem unerfüllbaren Traum, wenn über ihr Lebensschicksal nur noch unter fiskalischen Gesichtspunkten diskutiert wird. Das von der Bundesregierung selbst formulierte Ziel „Reha vor Rente, Reha vor Pflege" wird von ihr ständig ausgehöhlt, da nur noch Kostenvorbehalte die Qualität der Gesundheitsversorgung und Rehabilitation bestimmen. Diese grundsätzliche Richtung zieht sich wie ein roter Faden auch durch den Vierten Bericht über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation.
Nicht mehr das individuelle Bedürfnis ist maßgeblich, nein, der von Ihnen, meine Damen und Herren der Koalition, eingeleitete Paradigmenwechsel in der Gesundheits- und Sozialpolitik hat zunehmend fiskalische Kriterien als Wert- und Zielvorstellung in der Behindertenpolitik zugrunde gelegt.
Lassen Sie mich die behindertenfeindliche Politik der Bundesregierung auch an einer Gruppe von Menschen deutlich machen, die mir persönlich sehr am Herzen liegen: die Frauen mit Behinderungen. Im Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten führt sie sehr zutreffend aus, daß eine mangelhafte Datenlage in bezug auf die Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen besteht. Aber nicht nur die Datenlage ist unbefriedigend, nein, die nach wie vor bestehende doppelte Diskriminierung dieser Frauen ist eine beschämende Tatsache. So haben zum Beispiel schwangere Mitarbeiterinnen in den Werkstätten für Behinderte keinen Mutterschutz, da ihnen der Status des Arbeitnehmers mit allgemeinen Arbeitnehmerrechten fehlt. Für Frauen mit Behinderungen sind die Hürden zur gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft auf Grund ihres Merkmals „weiblich und behindert" doppelt so hoch. Ein Antidiskriminierungsgesetz muß also deutlich geschlechtsspezifische Inhalte formulieren, um den Belangen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen gezielt Rechnung zu tragen.
Die Bundesregierung hat es versäumt, Maßnahmen zur Umsetzung des Verfassungsauftrages in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes zu ergreifen, obwohl sie dafür in der politischen Verantwortung steht. Das Unterlaufen behindertenpolitischer Zielsetzungen wie Selbstbestimmung, Integration und Gleichstellung ist zum traurigen Alltag geworden. Dies hat auch die „Aktion Sorgenkind" erkannt und versucht, mit ihrer „Aktion Grundgesetz " dem entgegenzusteuern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unterstützen dieses Vorhaben uneingeschränkt. Für uns gehört zu einer zeitgemäßen Behindertenpolitik und Behindertenarbeit, das Gleichheitsgebot des Art. 3 mit einklagbaren Einzelgesetzen, verbindlichen Normen und einem Verbandsklagerecht auszugestalten, damit endlich ein menschengerechtes Lebensumfeld für alle geschaffen wird.
Unser Antrag, den wir heute zur Abstimmung vorlegen, zeigt, wie auch vor dem Hintergrund der Kostenfrage eine sozial verantwortliche Politik für die Behinderten gemacht werden kann. Ich hoffe, er findet hier Zustimmung.
Meine Damen und Herren, das Europaparlament hat bereits im Jahre 1988 die Anerkennung der Gebärdensprache gefordert. Inzwischen hat der Bundesrat einen einstimmigen Beschluß zur Einführung der Gebärdensprache gefaßt. Wir Sozialdemokraten freuen uns auch über den heute vorliegenden Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen, weil wir denken: Dieser Antrag ist eine gute Unterstützung unserer Arbeit zur Anerkennung der Gebärdensprache. Ich denke, wir alle hier im Bundestag sind aufgerufen, ein Signal zu setzen, und zwar nicht nur ein symbolisches, sondern ein inhaltlich gerechtes. Deshalb bitte ich Sie, unseren Antrag „Einsatz von Gebärdendolmetschern bei wichtigen politischen Entscheidungsprozessen im Deutschen Bundestag" endlich mit Zustimmung zu versehen.
Menschen, die nicht unmittelbar an den Beschlüssen, die sie möglicherweise direkt betreffen, teilhaben können, sind ausgegrenzt. Sie sind ausgegrenzt auch aus ihren bürgerlichen Rechten. Dies können wir nicht länger dulden.
Lediglich die Nachrichtensender n-tv und Phoenix senden jeweils die Nachrichten mit Hilfe eines Gebärdendolmetschers, so daß wenigstens ein Teil der Menschen - diejenigen, die diese beiden Sender sehen - daran teilhaben kann. Das ist aber unzureichend. Ich denke, wenn wir bereits entschieden hätten, dann hätte diese heutige Debatte schon ein Anfang sein können. Gebärdendolmetscher hätten übertragen können, was wir über die Lebenssituation der Hörgeschädigten diskutieren.
Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Sie diesen Schritt mit uns gemeinsam gehen. Dieser Schritt, dieses politische Signal ist überfällig; denn die behinderten Menschen sind es leid, kurz vor der Schwelle zum 21. Jahrhundert immer noch um die in der Verfassung garantierten Bürgerrechte kämpfen zu müssen, immer noch sozial ausgegrenzt zu sein.
Antje-Marie Steen
Anderssein ist normal, hat der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker formuliert, und darf nicht als Ausgrenzungstatbestand benutzt werden. Wir müssen lernen, Verständnis füreinander aufzubringen. - Ich denke, dies sollten wir von heute an nicht nur verbal, sondern auch inhaltlich tun.
Danke schön.
Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! In der Bundesrepublik Deutschland gibt es ein umfassendes und in seiner Anlage durchgängiges System von Sozialleistungen auch und gerade für behinderte Menschen. Trotz schwieriger Haushaltslage sind wir in den vergangenen Jahren bei der Eingliederung von Behinderten in die Arbeitswelt und in das gesellschaftliche Leben ein Stück vorangekommen. Dies belegt, wie ich glaube, eindrucksvoll der Vierte Bericht über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, in dem die Bundesregierung zu allen wichtigen Aspekten des Lebens von behinderten Menschen in Deutschland Stellung nimmt.
Frau Kollegin Steen, von einer behindertenfeindlichen Politik der Bundesregierung zu sprechen ist ja wohl ein Aberwitz. Fachleute und Behindertenverbände jedenfalls sehen das völlig anders. Mit denen sollten Sie sich einmal unterhalten. Aber vielleicht haben Sie die niedersächsische Landesregierung mit Herrn Schröder gemeint, der gerade bei den Behinderten zahlreiche Leistungen gestrichen hat.
Schauen Sie bitte einmal nach, was da alles passiert ist, aber sprechen Sie hier nicht von behindertenfeindlicher Regierungspolitik: Das ist wirklich ein Aberwitz!
Behinderte haben ein Recht auf Eingliederung in das Arbeitsleben und in die Gesellschaft. Seit November 1994 gilt das Benachteiligungsverbot. Das Grundgesetz gibt Behinderten einen unmittelbaren Anspruch darauf, nicht wegen ihrer Behinderung durch Entscheidungen und Maßnahmen der öffentlichen Gewalt benachteiligt zu werden. Unsere behinderten Mitbürger können arbeiten, und sie wollen auch arbeiten. Ziel der Regierungspolitik ist es, ihnen die Integration in die Arbeitswelt und damit mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
Die deutsche Einheit hat uns auch hier vor große Aufgaben gestellt. Bei der Schaffung von gleichwertigen Lebensverhältnissen für die Behinderten in den neuen Bundesländern haben wir aber große Fortschritte erzielt. So ist der Aufbau von Berufsbildungswerken und Berufsförderungswerken in den neuen Bundesländern weitgehend abgeschlossen.
Bundesweit gibt es 46 Berufsbildungswerke mit rund 12 400 Plätzen und 28 Berufsförderungswerke mit 14 400 Plätzen. Davon entfallen auf die neuen Bundesländer 8 Berufsbildungswerke und 7 Berufsförderungswerke mit jeweils etwa 2 400 Plätzen. Mit moderner Technik und innovativen Kommunikationssystemen werden dort behinderte Menschen ausgebildet und auf die steigenden Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereitet. Gute Vermittlungsquoten trotz hoher Arbeitslosigkeit zeigen: Wir sind auf dem richtigen Weg.
Beim Bau von Werkstätten für Behinderte in den neuen Länden haben wir ebenfalls Erfolge zu verzeichnen. Bundesweit gibt es 635 dieser Einrichtungen, davon 172 in den neuen Ländern. 155 000 behinderte Menschen werden in den Werkstätten betreut, beschäftigt und gefördert, allein 24 000 in den östlichen Bundesländern.
Große Anstrengungen wurden und werden mit Unterstützung der Bundesregierung unternommen, um behinderten Frauen die Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation zu erleichtern oder zu ermöglichen. So wendet sich das Rehabilitationsangebot der Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke nicht typisch an Männer, sondern ist generell auch für Frauen geeignet. Diese Einrichtungen sind in weitem Umfang von Pendlern erreichbar. Sie haben darüber hinaus Plätze mit Kinderbetreuung geschaffen.
Auch die Gesetzgebung ist bestrebt, die besondere Lebenssituation von Mädchen und Frauen mit Behinderung angemessen zu berücksichtigen. So sieht das neue Recht der Arbeitsförderung Regelungen zur Teilzeitrehabilitation vor, die insbesondere behinderten und von Behinderung bedrohten Frauen zugute kommen.
Die Angleichung der Lebensverhältnisse von behinderten Mitbürgern in Ost und West ist weit vorangeschritten.
Wir sind aber noch nicht am Ziel. Hierzu wird der Ausgleichsfonds des Bundes auch in Zukunft einen wesentlichen Beitrag leisten. Die Bundesregierung lehnt deshalb die vom Bundesrat vorgeschlagene Neuverteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und Ländern im Interesse der Behinderten ab. Der Bundesanstalt für Arbeit stünde sonst für die Eingliederung Schwerbehinderter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weniger Geld als bisher zur Verfügung. Das ist jedoch bei der überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten nicht vertretbar.
Im Gegenteil: Es müssen alle Anstrengungen verstärkt und neue Wege gesucht werden, um arbeits-
Parl. Staatssekretär Horst Günther
lose Schwerbehinderte wieder in das Berufsleben einzugliedern.
Angesichts der ungünstigen Situation auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es dafür natürlich kein Patentrezept. Die Vorbildfunktion des Bundes mit seinem Beschäftigungsanteil von Behinderten in Höhe von nahezu 7 Prozent,
die allgemeinen arbeitsmarktpolitischen Instrumente sowie die Leistungen zur besonderen Förderung der Einstellung und Beschäftigung Schwerbehinderter aus Mitteln der Ausgleichsabgabe sollten die Arbeitgeber dazu bewegen, mehr Schwerbehinderte einzustellen.
Von Juli 1986 bis Ende Juni 1997 wurden mit diesen Mitteln rund 80 000 Menschen gefördert. Fast 2,3 Milliarden Mark gingen in diese besondere Förderung der Einstellung und Beschäftigung von Schwerbehinderten. Allein 1996 konnten mit Hilfe dieser Leistungen rund 9 100 Schwerbehinderte, davon etwa 2 400 in den neuen Bundesländern, wieder dauerhaft in das Arbeitsleben eingegliedert werden. Diese Förderung, seit 1986 gesetzliche Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit, wurde zuletzt 1994 erweitert. Danach kann die Beschäftigung älterer arbeitsloser Schwerbehinderter bis zu fünf Jahre bezuschußt werden, und zwar auch bei Arbeitgebern, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllt haben. Bis Oktober 1996 konnten auf Grund dieser Möglichkeit rund 2 000 langzeitarbeitslose Schwerbehinderte beruflich wiedereingegliedert werden.
Ich habe die Frage des Kollegen Graf - er ist leider nicht da - in der Fragestunde nicht ganz beantworten können, ob auch bei Arbeitgebern, die eine Ausgleichsabgabe zahlen, solche Menschen untergebracht werden können. Das ist möglich - ich hatte es auch angedeutet - und jetzt schon der Fall; sonst könnten wir nicht so viele Menschen wiedereingliedern.
Ein Teil der arbeitslosen Schwerbehinderten kann jedoch nur mit Hilfe besonderer Integrationsfachdienste in den allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Dies gilt insbesondere für Ältere, Langzeitarbeitslose, unzureichend beruflich Qualifizierte, aber auch wegen Art oder Schwere der Behinderung besonders Betroffene. Manchmal haben diese Menschen nur dann eine Chance, wenn der Wiedereingliederung eine längere Phase der Beschäftigung und Qualifizierung in einem besonders geeigneten Beschäftigungs- oder Integrationsprojekt vorausgeht. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat Konzepte für solche Integrationsfachdienste und Integrationsprojekte entwickelt. Noch im Frühjahr soll eine Anzahl dieser Integrationsfachdienste und Integrationsprojekte in einer Modellphase mit 200 Millionen DM aus der Ausgleichsabgabe gefördert werden. Falls sich die Modelle bewähren, werden wir über eine regelhafte Förderung entscheiden.
Wir müssen bei den Arbeitgebern den Anreiz weiter erhöhen, arbeitlose Schwerbehinderte einzustellen. Deshalb hat das Bundesarbeitsministerium vorgeschlagen, die besondere Förderung der Einstellung und Beschäftigung Schwerbehinderter aus Mitteln der Ausgleichsabgabe auf befristete Arbeitsverhältnisse auszudehnen. Dafür sind zunächst 100 Millionen DM vorgesehen. Über ein entsprechendes bundesweites Modellvorhaben wird der Beirat für die Rehabilitation der Behinderten noch in diesem Monat einen Beschluß fassen.
Patentrezepte zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit auch von Behinderten gibt es nicht. Auch Einfallsreichtum ist gefragt. Die genannten Modelle sind Beispiele dafür. Aber ohne die Arbeitgeber kommen wir nicht weiter. Darum appelliere ich an die privaten wie die öffentlichen Arbeitgeber, vor allem in den Ländern und Kommunen, wo noch große Deflzite vorhanden sind: Stellen Sie schwerbehinderte Arbeitslose ein! Diese Forderung kann man nicht oft genug wiederholen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 1994 haben wir das Grundgesetz geändert. Doch welche Konsequenzen hat das Benachteiligungsverbot für Behinderte? Bis heute praktisch keine. Politik und Rechtsprechung haben die Behinderten bitter enttäuscht. Die Politik hat seither nichts bewegt. Nichts ist besser geworden; manches ist schlechter geworden.
Bei der Sozialhilfe haben Sie die ambulante und häusliche Versorgung unter Kostenvorbehalt gestellt. Auch die Pflegeversicherung setzt Rahmenbedingungen, die wieder in Richtung „satt und sauber" gehen, statt Eigenständigkeit und Selbstbestimmung zu fördern. Eines Ihrer eindrucksvollen Beispiele aus dem Vierten Bericht der Bundesregierung möchte ich Ihnen gerne vortragen. Laut eigenen Angaben der Bundesregierung ist die Beschäftigungsquote der Behinderten von 5,9 Prozent im Jahr 1982 auf 3,9 Prozent im Jahr 1996 zurückgegangen - fürwahr ein eindrucksvoller Erfolg!
Auch in der Rechtsprechung hatte das Benachteiligungsverbot nicht die Wirkung, auf die die Bundesregierung in den Antworten auf die Großen Anfragen von SPD und Grünen schablonenhaft immer wieder verweist. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Integration von behinderten Schülerinnen und Schülern war eine herbe Enttäuschung für die Behinderten und ihre Verbände. Das skandalöse Urteil des Kölner Oberlandesgerichts, das die Andersartigkeit der Laute von Behinderten zur nicht hinnehmbaren Belästigung erklärt, ist ein weiteres Dokument des Ausschlusses von Behinderten. We-
Volker Beck
gen der Fremdartigkeit der von Behinderten ausgehenden Geräusche wurde richterlich ein zeitlicher Lärmstopp verändert. Dieses Urteil ist ein Skandal und ein verheerendes gesellschaftliches Signal.
Es ist höchste Zeit, daß die Politik reagiert. Das darf so nicht stehenbleiben.
Die Verbände der Behinderten betteln nicht mehr um Mitleid für Sorgenkinder. Sie erwarten Respekt. Sie verlangen gleiche Rechte und einen Nachteilsausgleich. Ihr Ziel ist die gleichberechtigte Teilhabe an dieser Gesellschaft. Das sind wir ihnen auch schuldig. Behindertenpolitik ist mehr als Sozialpolitik. Es geht um gleiche Rechte in dieser Gesellschaft. Das macht die bundesweite „Aktion Grundgesetz" deutlich.
Bündnis 90/Die Grünen haben deshalb ein Antidiskriminierungsgesetz für die Minderheit der Behinderten, aber auch die der Migrantinnen und Migranten sowie der Lesben und Schwulen vorgelegt. Ich hoffe, wir werden es demnächst hier im Hause gemeinsam diskutieren. Bei der Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz geht es nicht um eine Addition von Klientelinteressen, sondern um nicht weniger als den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft, um die demokratische Substanz.
Ein Antidiskriminierungsgesetz soll Diskriminierungen im öffentlichen und privaten Rechtsverkehr entgegenwirken. Wer im Rechtsverkehr benachteiligt wird, soll künftig einen Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld erhalten können. Verbände der Minderheiten sollen diskriminierende Arbeitgeber, Firmen und Vermieter auf Unterlassung verklagen können. Bündnis 90/Die Grünen setzen hierbei auf eine rein zivilrechtliche Lösung. Die Schaffung neuer Strafvorschriften lehnen wir ab. Sie sind unwirksam und verfehlt.
Wie dringend notwendig ein solches Antidiskriminierungsgesetz ist, hat sich unlängst wieder in Frankfurt gezeigt. Dort wurde eine Contergan-geschädigte Frau von einem Wirt aus der Kneipe geworfen. Ähnliches passierte unlängst in meinem Wahlkreis in der sonst so liberalen Stadt Köln. Solche Diskriminierung darf die Gesellschaft nicht hinnehmen.
Der Behinderte muß einen Anspruch auf Schadenersatz bzw. Schmerzensgeld erhalten, und der Wirt muß auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden. Wer Angehörige von Minderheiten so diskriminiert, bringt nicht die nach dem Gaststättengesetz erforderliche Zuverlässigkeit zur Führung eines Bewirtungsbetriebes mit. Dies muß ein Antidiskriminierungsgesetz klarstellen.
Eine Antidiskriminierungsgesetzgebung für Behinderte muß aber mehr leisten. Sie muß auch eine Novellierung des Baurechts, des Verkehrsrechts und des Telekommunikationsrechts umfassen, das bei seinen Normen die Vielfalt menschlichen Lebens berücksichtigt. Das haben wir in unseren Entschließungsanträgen ausgeführt. Ich hoffe, daß der Verkehrsausschuß zu dieser Frage eine Anhörung durchführen wird, weil wir mit den verschiedenen Behindertenverbänden gemeinsam klären müssen, wo die Defizite liegen.
Die Maßnahmen im Verkehrs- und Baurecht müssen im Gegensatz zu teuren Umrüstungen und Umbauten nicht unbedingt eine Mark mehr kosten. Sie erfordern lediglich den politischen Willen, bei der Normierung allgemeiner Vorschriften festzulegen, daß Behinderte ein Teil der Normalität sind.
Gerade in Zeiten knapper Finanzen sollte der Gesetzgeber wenigstens alle Möglichkeiten ausschöpfen, Diskriminierungen zu beseitigen, die keine zusätzlichen Kosten verursachen.
Aber auch im Sozialrecht, bei der Pflege und in der Arbeitswelt kann die Wertentscheidung des Verfassungsgebers nicht ohne Konsequenzen bleiben. Angesichts der eben von mir genannten Beschäftigungsquote muß man auch noch einmal über die Höhe der Schwerbehindertenabgabe diskutieren.
Unsere Rückschrittlichkeit in Sachen Bürgerrechte ist inzwischen sogar zum Standortnachteil für Deutschland geworden. Wegen Nichtbeachtung der behindertenfreundlichen Normen der Antidiskriminierungsgesetzgebung in den USA konnte der deutsche ICE dorthin nicht exportiert werden. Es ist also ein Wettbewerbsnachteil, wenn man hier so unmodern ist.
Wir brauchen auch dringend eine Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache. Wir haben vorgeschlagen, dies in einem GehörlosenGesetz zu regeln, mit dem wir die sozialrechtlichen Konsequenzen einer Grundsatzentscheidung sukzessive umsetzen wollen, weil auch wir das Blaue nicht vom Himmel herunter versprechen können. Obwohl wir uns wünschen würden, man könnte manchmal mehr durchsetzen, müssen wir an die Angelegenheit sukzessive herangehen. Lassen Sie uns diesen ersten Schritt gemeinsam gehen. Andere Länder in Europa haben so etwas mit Erfolg betrieben.
Ich möchte an Frau Steen anknüpfen. „Phoenix" überträgt jetzt die Nachrichten mit Gebärdendolmetscher. Wir begrüßen das ausdrücklich. Aber das reicht nicht aus. Behinderte haben nicht nur ein Recht, Nachrichten zu sehen, sich politisch zu informieren; vielmehr wollen Gehörlose auch die ganze Bandbreite von Entertainment aufnehmen. Warum gibt es angesichts der unzähligen Kanäle nicht einen Kanal, wo sich ÖffentlichRechtliche und Private zusammentun und ihre Programme, die sie ohnehin produzieren, in diesen gemeinsamen Kanal einspeisen, in dem ein Gebärdendolmetscher ständig eine
Volker Beck
Partizipation der Gehörlosen an diesem Entertainment und Infotainment ermöglicht.
Ich bin über die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage unserer Fraktion sehr enttäuscht. Aus purer ideologischer Borniertheit wird rundweg abgelehnt, ein Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg zu bringen. Sie vertrösten die Behinderten auf ein Sozialgesetzbuch IX, das nie kommen wird. Die Vorlage eines Entwurfs wird sukzessive von Anfrage zu Anfrage auf das nächste Jahr verschoben. Von dieser Bundesregierung haben die Behinderten offensichtlich nichts als Vertröstungen zu erwarten. Deshalb wird es dringend Zeit, daß wir andere politische Verhältnisse zugunsten der Behinderten durchsetzen.
Zu einer Kurzintervention auf den Beitrag der Abgeordneten Steen erteile ich das Wort dem Abgeordneten Koppelin.
Frau Präsidentin, ich habe mich gemeldet, weil die Kollegin Steen hier etwas gesagt hat, was ich so nicht stehenlassen kann. Die Kollegin Steen hat behauptet, CDU und F.D.P. hätten sich im Landtag von Schleswig-Holstein gegen die Aufnahme der - berechtigten - Gleichstellung von Behinderten in die Landesverfassung gewehrt. Frau Kollegin, wenn sie die Diskussion zur Landesverfassung im Schleswig-Holsteinischen Landtag verfolgt hätten, dann hätten Sie diese Darstellung so nicht machen können. CDU und F.D.P. haben gesagt - das trifft nicht nur auf Behinderte zu -, daß alles, was bereits im Grundgesetz festgeschrieben ist, nicht noch einmal in die Landesverfassung aufgenommen werden sollte, um sie nicht zu überfrachten.
Gegen Ihre Darstellung muß ich mich nicht nur als Landesvorsitzender der F.D.P. wehren, sondern auch - Sie wissen das - als langjähriger Vorsitzender der Lebenshilfe für geistig behinderte Kinder in Schleswig-Holstein. Ich muß mich einfach dagegen verwahren, daß Sie hier eine Darstellung machen, mit der Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als wollten CDU und F.D.P. die Rechte der Behinderten im Lande Schleswig-Holstein vielleicht nicht wahrnehmen. Selbstverständlich gilt das Grundgesetz auch im Lande Schleswig-Holstein.
Frau Abgeordnete Steen, ich erteile Ihnen das Wort zu einer Antwort.
Herr Kollege Koppelin, ich kann aus Ihrer Antwort nicht erkennen, wo ich
hier eine falsche Aussage gemacht haben soll. Es ist in mehreren Sitzungen eines Ausschusses gerungen worden - ich habe mir das heute noch einmal durch das Kieler Parlament bestätigen lassen -, über die Anträge der Regierungsparteien Grüne und SPD, nämlich über die Aufnahme in die Präambel der Verfassung; ich habe das zitiert. Das ist von der CDU und von der F.D.P. abgelehnt werden. Gleichzeitig befürworten CDU und F.D.P. aber - das ist in diesem Zusammenhang eine politische Äußerung meinerseits -, daß Sport und auch noch ein anderer Teil in die Präambel aufgenommen werden. Ich habe diese beiden Aspekte bewußt in einen Zusammenhang gebracht, und ich bleibe auch bei meiner Aussage, weil es nicht befriedigen kann, Herr Koppelin, daß das, was im Grundgesetz steht, nicht auch in einer Landesverfassung enthalten ist. Ich nenne Ihnen das Beispiel Thüringen, wo das der Fall ist. Da stellen Christdemokraten und Sozialdemokraten gemeinsam die Regierung.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Lühr, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist erst einige Monate her, daß wir uns mit den vielfältigen Problemen behinderter Mitbürgerinnen und Mitbürger in einer Debatte beschäftigt haben, zuletzt im Zusammenhang mit der Forderung nach einem eigenen Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen. Einige Wochen zuvor ging es um die Einsetzung einer Enquete „Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen" . In diesen Debatten, so meine ich, ist deutlich geworden, daß es weniger um neue Gesetze oder um noch eine weitere Kommission gehen kann als vielmehr um den Vollzug bestehender Gesetze und Verordnungen auf allen staatlichen Ebenen.
Natürlich rütteln Schlagzeilen auf, wenn Gerichte einem behinderten Mädchen in Niedersachsen die Teilnahme am gemeinsamen Unterricht in der Gesamtschule oder Behinderten in einem Wohngebiet den ungehinderten Aufenthalt im Garten verweigern. Der emotionale Aufruhr, den solche Schlagzeilen verursachen, differenziert allerdings nicht. Oft wird er so lange benutzt, wie sowohl der genaue Sachverhalt als auch die Urteilsbegründung nicht bekannt sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, daß aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz kein generelles Recht auf gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nichtbehinderten abgeleitet werden kann. Das Land Niedersachsen sei zwar grundgesetzlich zur begabungsgerechten Förderung von behinderten Kindern verpflichtet, es könne jedoch unter bestimmten Voraussetzungen von der Einführung eines gemeinsamen Unterrichts absehen, so zum Beispiel, wenn aus organisatorischen, personellen und finanziellen Gründen der Aufwand für diese Maßnahme unvertretbar erscheine. Die Realisierung des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Kindern stehe grundsätzlich unter dem „Vor-
Uwe Lühr
behalt des Machbaren und des finanziell Vertretbaren".
Auch ich bin der Meinung, daß behinderte Kinder möglichst in die Regelschulen integriert werden sollten. Es müßte aber unter uns, so meine ich, Einigkeit darüber bestehen, daß selbstverständlich eine Sonderschule im konkreten Einzelfall ein wesentlich geeigneteres Mittel sein kann, um ein behindertes Kind besonders zu fördern, als es die Teilnahme am gemeinsamen Unterricht in der Regelschule darstellt. Denn nicht alle Kinder sind integrativ zu beschulen. Sie dürfen mir das schon glauben; meine Frau ist Lehrerin für körperbehinderte Kinder. Ich bin sehr oft in diesen Einrichtungen. Da ist wohl etwas Wahres dran.
Wenn, wie in dem anderen Fall, ein Verwaltungsgericht die für unsere Ohren fremd - jetzt komme ich auf den Kollegen Beck zurück - und ungewohnt laut klingenden Laute von Gehörlosen nach den Werten des Immissionsschutzgesetzes bewertet, dann tun die Richter das, wie sie es bei Ruhestörungen durch Geigenvirtuosen, Tenöre oder Tennisspieler bisher auch getan haben. Natürlich wäre es weitaus besser gewesen - anstatt das Risiko eines Prozesses mit zweifelhaftem Ausgang einzugehen -, vorher stärker nach einer für beide Seiten verträglichen Lösung in eigener Verantwortung zu suchen und einen Kompromiß zu finden.
Der Kläger in diesem Prozeß hätte dem Konflikt beispielsweise durch bauliche Maßnahmen in seiner Wohnung begegnen können, an denen sich der Landschaftsverband finanziell beteiligt hätte. Viele andere Möglichkeiten wären auch hier denkbar gewesen. Die Verhärtung der Fronten war das bedauerliche Ergebnis einer leider unterbliebenen Kommunikation zur rechten Zeit. Ein Urteil eines Gerichts ist immer nur ein Alles-oder-nichts-Ergebnis, das den Verlierer unbefriedigt zurückläßt.
Das Beispiel habe ich erwähnt, weil daran deutlich wird, daß die Vorstellung, man könne Fälle dieser Art durch Änderung einer Vielzahl von Einzelgesetzen oder durch ein Antidiskriminierungsgesetz ausschließen, in die Irre geht. Sollte das Bundes-Immissionsschutzgesetz mit einer weiteren Sonderregelung zu ändern oder zu überfrachten sein? Ich glaube nicht.
Wie sähe denn der Schutz eines geforderten „umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes für behinderte Frauen und Männer mit einklagbaren Normen" in Verbindung mit einem Verbandsklagerecht in diesem Zusammenhang aus, wie es etwa vom „Netzwerk Artikel 3" in seinen Wahlprüfsteinen gefordert wird? Diese Wahlprüfsteine haben wahrscheinlich alle von Ihnen zugeschickt bekommen. Wenn der letzte der Prüfsteine lautet - ich zitiere -
Ist Ihre Partei bereit - und wenn ja, wie -, sich für einen generellen Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik einzusetzen, in der behinderte Frauen und Männer nicht länger als zu betreuende Objekte angesehen werden, sondern
als selbstbestimmte und sich selbst vertretende Bürgerinnen mit gleichen Menschen- und Bürgerrechten?,
dann stellt sich allen, die für Behindertenpolitik im Bund, in den Ländern und in den Kommunen Verantwortung zu tragen haben und hatten, die Frage nach dem Selbstverständnis. Auch ohne Art. 3 Abs. 3 Satz 2 haben weder das Grundgesetz noch die Verfassung der Länder, noch die Verantwortlichen in der Politik behinderte Frauen und Männer je als betreute Objekte angesehen. Auch für die Freie Demokratische Partei weise ich diesen abenteuerlichen Vorwurf entschieden zurück.
Die Fälle der Diskriminierung sind - so schlimm das in jedem Einzelfall auch ist - Einzelfälle. Aber Einzelfallregelungen sind eben nicht die Welt von Gesetzen.
Ich muß leider etwas abkürzen; meine Redezeit reicht nicht, auf Einzelheiten einzugehen. Das wird aber hoffentlich in den folgenden Ausschußberatungen ausgiebig möglich sein.
Abgesehen vielleicht von der einen oder anderen Änderung scheinen mir die gegenwärtig anwendbaren Gesetze ausreichend, wenn sie konsequent umgesetzt werden. Aus meiner Sicht wird das Ziel der gesellschaftlichen Integration behinderter Menschen nicht mit immer mehr und komplizierteren Gesetzen erreicht. Es kommt zunehmend auch auf das Bewußtsein und Engagement des einzelnen an, seine konkrete Verantwortung für behinderte Mitmenschen zu erkennen und entsprechend zu handeln. Insofern sehen wir der Diskussion der Anträge mit großer Erwartung entgegen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss, PDS.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inzwischen liegen 14 Vorlagen zu dieser behindertenpolitischen Debatte vor, aber nicht einmal eine ganze Stunde billigt sich dieses Parlament für die Diskussion zu. Das finde ich besorgniserregend,
besonders angesichts der Tatsache, daß selbst die Bundesregierung in ihrem Vierten Bericht konstatieren muß, daß eine tatsächliche Chancengleichheit von behinderten und nicht behinderten Menschen noch nicht erreicht ist.
Gerade die Ereignisse und Entwicklungen der letzten Monate zeigen: Menschen mit Behinderungen fühlen sich nicht nur bedroht, sondern sie werden
Petra Bläss
auch bedroht. Die Bundesregierung duldet diese Bedrohung nicht nur, sondern sie trägt auch zu einem Klima der Bedrohung und Verunsicherung bei, sei es durch die Regelung des § 3 a des Bundessozialhilfegesetzes, mittels derer Menschen gegen ihren Willen in ein Heim eingewiesen werden können, sei es durch die Entscheidung, Renten für Menschen mit Behinderungen zu erschweren und zu kürzen, sei es durch die Absicht, bestehende Nachteilsausgleiche ganz zu streichen, oder sei es durch die Duldung solcher Vorkommnisse, daß die Deutsche Bahn AG Menschen mit Behinderungen nicht dort aussteigen läßt, wo sie hinwollen.
Aufschlußreich für die regierungsoffizielle Behindertenpolitik war und ist die Koalitionsvereinbarung für die 13. Legislaturperiode. Die Ergänzung des Grundgesetzartikels 3 wurde hier noch nicht einmal erwähnt, geschweige denn Handlungsbedarf abgeleitet.
Die Situation behinderter Menschen hat sich in den letzten vier Jahren sowohl strukturell als auch materiell verschlechtert. Deshalb unterstützt die PDS das Anliegen der vorliegenden Gesetzentwürfe von SPD und Bündnisgrünen. Ein Antidiskriminierungsgesetz ist eine notwendige Grundlage für die Herstellung der Chancengleichheit behinderter Menschen.
Gerade die Gerichtsurteile der vergangenen Monate zeigen, daß die juristische Gleichstellung behinderter und nicht behinderter Menschen der materiellen Gleichstellung mittels Nachteilsausgleich bedarf. Die Kollegin Steen hat deutlich gemacht, wie wichtig es angesichts der Doppeldiskriminierung behinderter Frauen ist, hier einen geschlechtsspezifischen Ansatz zu verfolgen.
Erst wenn die von der Gesellschaft ausgehenden Barrieren und Hindernisse durch die Gesellschaft weitgehend auch materiell kompensiert werden, ist eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, eine wirkliche Chancengleichheit möglich.
Das von der PDS in einem bereits eingebrachten Antrag geforderte Leistungsgesetz ist für uns ein Weg, Chancengleichheit behinderter Menschen real umzusetzen.
Im Bericht wird ausgeführt, daß sich die Begriffsbestimmung „Behinderte" an den dreistufig aufgebauten. Behindertenbegriff der WHO anlehnt. Für den Bericht mag das noch gelten; aber in der Realität hat dieses Verständnis von Behinderung noch nicht Eingang gefunden. Im Schwerbehindertengesetz wird nach wie vor von einem - ich zitiere - „regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand" ausgegangen, was die Interpretation nahelegt: Die Person ist schuld, wenn sie bestimmte, auch öffentliche, Einrichtungen nicht nutzen kann, und nicht das gesellschaftliche Umfeld, das es zuläßt, daß noch immer Stufen und Züge mit teurem modernen Design gebaut werden, zu denen mobilitätsbehinderte Menschen keinen Zugang haben. Ich frage deshalb die Bundesregierung: Wo ist der Gesetzentwurf, der die Übernahme der WHO-Definition in das deutsche Recht vorschlägt?
Im März 1997 wurde im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ein Zwischenbericht der Europäischen Kommission beraten. In den Stellungnahmen der einzelnen Bundesministerien wandte man sich vehement gegen diesen sich international durchsetzenden Behindertenbegriff. Hat sich seitdem die Auffassung der Bundesregierung geändert? Ich denke und sage nein. Auch hier ist ein Politikwechsel dringend vonnöten.
Es spricht jetzt zu uns die Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Beck, Sie haben hier ja sehr engagiert gesprochen. Eines nur habe ich vermißt: ein einziges Wort zur Verantwortung des einzelnen. Ihre Rede war in der Summe ein Ruf nach dem Staat.
Sie haben den einzelnen und dessen Verantwortung für die Gesellschaft völlig außer acht gelassen. Ich habe das sehr vermißt.
Zu Frau Bläss möchte ich eines ganz kurz sagen: Ihre Aussagen zum Bereich der Behindertenpolitik machen mich unverändert übermäßig zornig. Denn das, was man sich im Umgang mit Behinderten in der ehemaligen DDR geleistet hat, das war so menschenverachtend, wie es schlimmer nicht sein kann.
Jetzt möchte ich zu dem viel wichtigeren Thema der Arbeitswelt und der Behindertenpolitik kommen. Ich möchte der SPD recht geben. Ihre große Anfrage „Arbeitswelt und Behindertenpolitik" beginnt mit dem Satz: „Die aktuelle Lage in Deutschland stellt die Behindertenpolitik vor eine große Herausforderung". Das ist sehr richtig. Das haben Sie völlig richtig beobachtet. Wir sind da einer Meinung. Allerdings - das kann ich als jemand, der langjährige Oppositionserfahrungen hat, nachempfinden - haben Sie sich gescheut, uns zu bestätigen, daß die Bundesregierung diese großen Herausforderungen im großen und ganzen recht gut meistert, um das einmal ganz deutlich zu sagen.
Es ist schade, daß wir in diesen Debatten nicht ehrlicher miteinander umgehen, vor allen Dingen deswegen, weil man in mancher Debatte vielleicht auch deutlich machen kann, welchen Unterschied es zwischen dem Bund und den Bundesländern gibt.
Birgit Schnieber-Jastram
Der ist nämlich sehr eklatant. Es gibt enorme Unterschiede in den sozialen Leistungen und auch in den Debatten zu einzelnen Themen. Herr Haack, ich erinnere noch einmal an die Debatte, die wir hier zum § 3 a des Bundessozialhilfegesetzes geführt haben. Die von der SPD geführten Bundesländer sind es gewesen, die in diesem Rahmen eine strenge Regelung wollten und es verhindern wollten, daß hier selbstbestimmtes Leben möglich ist. Was ist das in den Bundesländern für ein Eiertanz um die Milliarden, die durch die Pflegeversicherung bei der Sozialhilfe eingespart werden? Hochnotpeinlich ist das, was da in den Bundesländern stattfindet.
Ich zitiere Ihnen einmal aus meiner Heimatstadt Hamburg die Antwort des rotgrün geführten Senats, Herr Beck, auf eine Kleine Anfrage in diesem Zusammenhang: „Die bisherigen Einsparungen" , sagt dieser rotgrün geführte Senat, „wurden zur Haushaltskonsolidierung verwendet." Was ist das für eine Nächstenliebe? Hier wird eine ganz neue Auslegung von Investitionskosten erkennbar.
Ich könnte das fortsetzen, zum Beispiel im Hinblick auf die Umwandlung von Pflegeplätzen in Heimen. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie in rotgrün geführten Ländern regiert wird. Der Fiskus und das Geld zählen und nichts anderes, vor allem nicht die Nächstenliebe!
Noch ein Weiteres möchte ich Ihnen sagen: Der Bund kann, so glaube ich, nicht gemeint sein, wenn von mangelnder Integration Behinderter in die Arbeitswelt die Rede ist. Nach letzten Erhebungen von 1995 hat der Bund die vorgeschriebene Quote um beinahe 1 Prozent übererfüllt - im Gegensatz zu sehr vielen Ländern, mit der hervorzuhebenden Ausnahme des Saarlandes. Ich finde, das sollten wir unterstreichen. Denn wenn im Saarland einmal etwas vorbildlich ist, dann können wir das ruhig würdigen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Haack?
Bitte schön, Herr Haack.
Frau Schnieber-Jastram, sind Sie mit mir der Auffassung, daß wir es bei Einführung der Pflegeversicherung mit einer konzertierten Aktion der Länder zu tun hatten, möglichst viele Lasten der überörtlichen und örtlichen Sozialhilfe aus Länderfinanzinteressen in die Pflegeversicherung zu schieben, und daß sowohl die A-Länder wie die B-Länder in diesem Punkt gemeinsame Strolche sind?
Diese Auffassung teile ich völlig, kein Widerspruch. Wir wissen das ja auch voneinander, Herr Haack. Nur, kritisieren kann ich das für alle Länder gleichermaßen, und das tue ich hier auch. Ich lasse mir da doch nicht den Mund verbieten.
Also: Der Bund erfüllt seine Beschäftigungspflicht. Wer es leider nicht tut, das sind die privaten Arbeitgeber. Dazu hat der Staatssekretär Horst Günther hier eine Menge gesagt. Ich sage wie er: Ich finde das überhaupt nicht in Ordnung. An dieser Stelle müssen wir, Bund wie Länder, zum einen Vorbild sein, zum andern aber auch immer wieder appellieren, daß Mitmenschlichkeit und Solidarität nicht auf der Strecke bleiben.
Im übrigen können wir hier gar nicht viel machen. Wir können, wie in anderen Bereichen des Arbeitsmarktes, nur etwas anstoßen; denn Arbeitsplätze entstehen in der Wirtschaft und nicht in der Politik.
Übrigens schafft auch eine erhöhte Ausgleichsabgabe, wie sie von Ihnen gefordert wird, keine Arbeitsplätze. Ich sage nur zum Vergleich: Die Ausgleichsabgabe wurde zweimal, 1986 und 1990, erhöht. Die Zahl der Arbeitsplätze, Frau Steen, ist nicht gestiegen; die Quote ist vielmehr gesunken. Wir laufen also, wenn wir sie noch einmal erhöhen, eher Gefahr, daß wir die Vorbehalte verstärken und daß nicht ein Miteinander, sondern ein stärkeres Gegeneinander zum Vorschein kommt.
Ich finde, es ist vor diesem Hintergrund sehr viel sinnvoller, das Instrumentarium zu ergänzen. Das tun wir mit den Integrations- und Fachdiensten. Gucken Sie sich einmal vor Ort an, was dort passiert ist, welche erstaunlichen Leistungen, welche Vermittlungsergebnisse in solchen Bereichen erzielt wurden und wie viele tolle Betriebe, die am Ende sogar sehr gut wirtschaften, entstanden sind.
- München, Hamburg, Berlin. Es gibt eine Reihe von Beispielen. Frau Steen, ich lade Sie gerne ein. Sie können sie gerne besuchen. Das ist wirklich eine tolle Sache.
Ich hoffe, daß die Modelle einen positiven Verlauf nehmen und daß wir ein Stückchen weiterkommen, auch mit neuen Angeboten. Auch Kreativität ist hier nicht verboten.
Jetzt noch zu einem weiteren Thema, zum Ausgleichsfonds des Bundes. Wir finden, daß es so bleiben sollte, wie es ist. Dafür gibt es gute Gründe: Das Finanzverhalten der Länder hat uns allen immer wieder gezeigt, wie gerne solche Gelder genommen werden, um sie dann vielleicht in anderen Bereichen einzusetzen. Ich glaube, es ist gut, wenn wir diese Mittel bei der Bundesanstalt für Arbeit so konzentrieren, daß sie am Ende wieder bei denen, die sie gege-
Birgit Schnieber-Jastram
ben haben, bei den Arbeitgebern, zur Integration von schwerbehinderten Mitarbeitern ankommen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Bereich.
Für 1995 würden uns mehr als 200 Millionen DM für die Beschäftigungsförderung in diesem Bereich fehlen. Ich möchte sie, um es ehrlich zu sagen, nicht missen. Solche Modelle wären sonst nicht möglich. Auch der Beirat für Rehabilitation ist dieser Meinung. Änderung ist also nicht immer Fortschritt.
Zum Antidiskriminierungsgesetz. Auch ich finde das Urteil unerträglich; das muß ich ganz ehrlich sagen. Ich habe große Probleme nachzuempfinden, wie man dem einen Unterschied beimessen kann: Wenn sich Behinderte im Freien aufhalten, dann artikulieren sie sich auf ihre Weise. Vielleicht täten sie es auch lieber in anderer Form bei einer gepflegten Tasse Kaffee. Aber dies ist die einzige Möglichkeit. - Deswegen ist es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, dieses Urteil nachzuvollziehen. Nur, Justiz ist in Deutschland unabhängig.
Wir haben hier schon manchmal darüber diskutiert.
Es ist festzuhalten, daß das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes natürlich auch Auswirkungen auf die privaten Rechtsbeziehungen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen klar festgestellt, daß Grundrechte auch im Zivilrecht zu beachten sind. Ich gehe davon aus und hoffe, daß sich diese Auffassung bald auch in den niedrigeren Instanzen durchsetzen wird.
Deswegen glaube ich, daß es nicht nötig ist, nochmalige explizite Gesetzesänderungen vorzunehmen. Vielmehr ist es wichtig, das Diskriminierungsverbot stärker in der alltäglichen Rechtsprechung zu beachten.
Zu der Thematik Barrieren für Behinderte: Ich könnte von langen Diskussionen, auch in den Landtagen, berichten, weil ich diesen Komplex immer wieder verfolgt habe. Herr Beck, ich finde es maßlos, daß Sie hier nach Bonn schreien. Die Länder können in diesen Bereichen seit Jahren machen, was sie wollen. Sie haben alle Möglichkeiten. Und was passiert? - Nichts. Ich höre von den Grünen in Hamburg - Teil der dortigen rotgrünen Regierung - kein Wort dazu, nicht einen Vorschlag. Im Gegenteil: Immer wieder haben wir für diesen Bereich Mittel zur Verfügung gestellt, aber die Länder waren nicht in der Lage, ihre Komplementärmittel dazuzutun.
Es ist ein Offenbarungseid, wenn Sie in diesem Bereich nach Bonner Gesetzgebung schreien, aber vor Ort nicht die Busse bestellen, die die Behinderten besteigen können, nicht die entsprechenden Treppen bauen, keine behindertengerechten Zugänge zu öffentlichen Gebäuden gewährleisten können.
Wenn ich höre, daß Sie immer nach dem Bund rufen, fange ich an, mich unglaublich zu ärgern.
Abschließend möchte ich sagen - es ist schon ziemlich schwierig, dieses umfassende Thema in so kurzer Zeit zu diskutieren -: Dieser Vierte BehindertenBericht der Bundesregierung macht einige deutliche Feststellungen, von denen ich folgende herausgreifen möchte:
Die absolute und tatsächliche Chancengleichheit von Behinderten und Nichtbehinderten ist noch längst nicht erreicht. Diese Offenheit des Berichtes sollten wir akzeptieren.
Aber es ist nicht immer nur schlechter geworden, Herr Beck, wie Sie zu Beginn gesagt haben. Vieles ist auch ein Stückchen besser geworden. Wir befinden uns sicherlich nicht in Zeiten, in denen es rapide besser wird, es mit Meilenstiefeln vorangeht. Vielleicht wird es nur langsam besser, aber immerhin wird es Stück für Stück besser.
Noch eines ganz deutlich: Nicht die Bundesregierung ist für alles verantwortlich, sondern jeder einzelne ist mit seinem Verhalten den behinderten Mitbürgern gegenüber verantwortlich. Wenn wir dies nicht umsetzen - übrigens auch in anderen sozialpolitischen Bereichen -, dann sind wir eine sehr arme Gesellschaft, in der wirklich alles vom Staat und nichts mehr vom einzelnen gerichtet wird.
Ich erteile jetzt der Abgeordneten Margot von Renesse, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt eine Weile zugehört. Natürlich hatte ich Vorstellungen davon, was ich sagen will; ich werde das jetzt aber etwas anders gruppieren. Das Problem, vor dem wir stehen - offensichtlich teilt es die beiden Seiten dieses Hauses ziemlich genau -, ist, daß nicht alle verstanden haben, was man immer wieder merkt, wenn man mit Behinderten und ihren Verbänden zusammen ist: Behinderte von heute sind nicht mehr wie vor 20 Jahren bereit und dankbar für Mitleid, für erbarmende Hinwendung und für sozialpolitische Leistungen, die man auf Millionen oder Milliarden Mark beziffert und Bund oder Ländern zurechnet. Sie wollen tatsächlich nur das, was jeder und jede von uns, die wir nicht behindert, nicht anders, sondern sogenannte Normale sind, auch will, nämlich Anteil an einem der schönsten Sätze der Verfassung überhaupt, dem Art. 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich."
Sie wollen kein Mitleid, sie wollen Rücksicht. Sie wollen keine sozialpolitischen Leistungen, sie wollen
Margot von Renesse
Nachteilsausgleich. Das ist, so glaube ich, der entscheidende Unterschied zwischen dem Vierten Bericht über die Lage der Behinderten und den Anfragen von SPD und Grünen. Es geht nicht darum, Leistung auf Leistung zu häufen. Trotzdem bin ich - auch wenn ich keine sozialpolitische Expertin bin - traurig, daß vieles für viele, auch für Behinderte, in den letzten Jahren schlechter geworden ist. Die Behinderten wollen, daß Wirklichkeit wird, was die Bundesregierung im Vorspann zum Vierten Bericht schreibt: In der Gesellschaft muß etwas anders werden. Es darf nicht nur barrierefrei gebaut werden, vielmehr muß auch das Denken barrierefrei werden.
Das hat etwas mit dem rechtspolitischen Gespenst zu tun, das seit Jahren umgeht, mit dem mit dem häßlichen Wort „Antidiskriminierungsgesetz" bezeichneten Vorhaben, das nichts anderes einklagt als Gleichbehandlung, also ein Benachteiligungsverbot. Das bedeutet es auch im Zivilrecht. Lesen Sie einmal die Urteile des Verfassungsgerichts und des OLG Köln! Das sind ja leider nicht Entscheidungen von unteren Instanzen, sondern von oberen. In den Urteilen wurde durchaus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes einbezogen; darin steht auch manches Lebenswerte. Trotzdem gehen diese Gerichte - insbesondere das OLG Köln - davon aus, daß die speziellen Existenzäußerungen von Behinderten eine besonders schreckliche Belastung sind.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Dr. Babel?
Aber selbstverständlich. Bitte, verehrte Kollegin.
Frau von Renesse, Sie weisen zu Recht darauf hin, daß wir in der Verfassung diesen schönen Satz haben, der sich auf Behinderte bezieht und genau das anstrebt, was Sie formuliert haben. Sie sind im Verfassungsrecht ja durchaus versiert. Sind Sie nicht angesichts dieser Tatsache der Meinung, daß mit diesem Verfassungsgrundsatz die Justiz eine Richtschnur in der Auslegung der bestehenden Gesetze und in der Wertung der in Rede stehenden Güter hätte, die zum Beispiel bei diesem Kölner Urteil zu einer anderen Entscheidung hätte führen können, ohne daß man irgendein Gesetz hätte ändern müssen?
Liebe Frau Kollegin Dr. Babel, wenn Sie diese Urteile lesen, dann sehen Sie, daß die Gerichte Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes sorgfältig bedenken. Ich kann Ihnen recht geben: In hundert Jahren ist der Sickerungsprozeß erfolgt. So lange hat aber kein Mensch Zeit.
Wenn Sie mir den Vergleich gestatten, dann erinnere ich daran, daß vor 15 Jahren die Diskussion über ein Gleichstellungsgesetz - es ging um Art. 3
Abs. 2 des Grundgesetzes - an demselben Punkt war wie jetzt ein Gesetz zu Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Die rechte Seite des Hauses hat damals erklärt, so etwas bräuchte man nicht, das stehe doch schon in der Verfassung, das werde sich schon durchsetzen. Warum solle der Gesetzgeber sich denn dafür die Schuhe zumachen?
Und wo sind wir heute? Selbst die Regierungskoalition hat ein - wenn auch nicht vollkommen überzeugendes - Gleichstellungsgesetz vorlegen müssen. Sie werden in zehn Jahren ein Gleichbehandlungsgesetz vorlegen. Dessen bin ich mir so sicher wie nur was.
Es gibt nämlich auch völkerrechtliche Zwänge und solche, die sich aus der Rechtsvergleichung ergeben. Sie werden an demselben Punkt landen wie mit dem Gleichstellungsgesetz.
- Nein, Sie werden uns dann etwas in der Opposition vorhalten. Frau Babel, das ist doch klar.
Herr Lühr, Sie hatten die Frage gestellt, wie so etwas denn aussehen solle. Glauben Sie mir: Weder die Grünen - soweit ich das weiß - noch wir werden Sie dumm sterben lassen.
Wir werden Ihnen vorlegen, wie so etwas aussieht.
Es geht dabei nicht um den Staat, Frau Kollegin, sondern um die privatrechtlichen Rechtssubjekte. Mit Recht schreibt die Regierung im Vorspann zum Vierten Bericht über die Lage der Behinderten, daß die Gleichstellung der Behinderten erst durchgesetzt sein werde, wenn sie in der Gesellschaft durchgesetzt sei. Wie Sie richtig sagen, kann der Staat das nicht allein. Aber der Staat hat die Vorgaben für die Gesetze zu machen, an die sich im Konfliktfall auch die Gerichte zu halten haben.
Das ist das fundamentale Prinzip der Behindertenpolitik von heute, die die Behinderten in der Tat als normale Mitglieder unserer Gesellschaft ansieht, wobei normal nicht im Sinne des Nichtbehaftetseins mit regelwidrigen Ausfallerscheinungen - oder wie immer man das bezeichnet - zu verstehen ist, sondern als die Normalität, daß es Behinderte gibt. Das ist es.
Wenn ich mir zum Beispiel ansehe, wie das Haus meines Sohnes umgebaut worden ist, in dem ein fünfjähriger Rollstuhlfahrer - sein Sohn nämlich - lebt, dann weiß ich ziemlich genau, daß es auch mir als altem Menschen bekommen wird, so zu leben. Ihnen und uns allen wird eine barrierefreie Gesellschaft - nicht nur im Sinne der optischen und baurechtlichen Barrieren der Mobilität - gut bekommen: den Frauen mit Kinderwagen genauso wie den älte-
Margot von Renesse
ren Leuten, den Kindern und uns, den noch so tüchtigen Erwachsenen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/9861. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/9873. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 13/9860, zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4984, 13/9514 und 13/9217 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung beim Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Anerkennung der deutschen Gebärdensprache und der Gehörlosen-Gemeinschaft auf Drucksache 13/9217 soll beim Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zum Einsatz von Gebärdendolmetschern bei wichtigen politischen Entscheidungsprozessen im Deutschen Bundestag. Das ist die Drucksache 13/3110. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage „Arbeitswelt und Behindertenpolitik" , Drucksache 13/7534, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/4972 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Großen Anfrage „Arbeitswelt und Behindertenpolitik", Drucksache 13/7534, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/4991 abzulehnen. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/7534 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Lilo Blunck, Dr. Marliese Dobberthien, Wolf-Michael Catenhusen, weiter Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einsatz der Gentechnik und anderer neuartiger biotechnologischer Verfahren in der Lebensmittelproduktion
- Drucksachen 13/1549, 13/6872-Berichterstattung:
Abgeordnete Antje-Marie Steen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Marliese Dobberthien, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, wir zählten das Jahr 2010 und debattierten über Gentechnik in Lebensmitteln. Glauben Sie, wir würden uns noch an den altmodischen Werbespruch erinnern: „Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch",
wo doch das Genlabor die haltbare Frische längst besser garantiert als der Acker des Bauern? Schöne neue Welt?
Seit die Gentechnik zur Zaubertechnik gegen deutschen Innovationsrückstand und Arbeitslosigkeit aufstieg, ist sie in aller Mund und Magen, und die Agroindustrie freut sich. Frischer, kostengünstiger und unbedenklich seien die neuen Gen-TechProdukte, so die Botschaft. Sonst wären sie schließlich nicht zugelassen.
Wer nur stört, ist das Volk. Seit Jahren durchgeführte Umfragen zeigen sperrige Verbraucherinnen und Verbraucher. Zwei Drittel der Bevölkerung leh-
Dr. Marliese Dobberthien
nen die Gentechnik in der Lebensmittelproduktion ab. Echte Frische und Naturbelassenheit sind gefragt, nicht aber Manipulation oder gar Pfusch. Lediglich die rote Gentechnik in der Medizin genießt - trotz mäßiger Erfolge - Wohlwollen und Hoffnung.
Warum die breite Skepsis? Wegen geschürter Ängste? Oder Skepsis wegen Schönrednerei und Verharmlosung? Eine rationale und vor allem eine interessensfreie Auseinandersetzung über Nutzen und Risiken der Gentechnik in der Nahrungsmittelerzeugung läßt bis heute auf sich warten. Ich bin keine Gegnerin der Gentechnik, aber auch keine Freundin. Meine Haltung ist eigentlich eher leidenschaftslos. Viel wichtiger als Bekenntnisfragen ist mir daher die Bewertung einer immer komplexeren Technik und ihrer Folgen.
Vom technischen Fortschritt erwarten Menschen die Lösung von Alltags- und Umweltproblemen. Bisher hat die Gentechnik die Lebensmittel nicht gesünder gemacht und auch nicht die Ressourcen geschont. Kein Fluß ist sauberer, kein Boden reiner und keine Luft gesünder geworden. Gentechnik im FooBereich hat bisher allein der Agroindustrie genützt. Die Kreierung herbizidresistenter oder Insektengift produzierender Pflanzen hat neue Absatzmärkte erschlossen. Gentechnisch erzeugte Enzyme, Hefen und Aromen haben die Produktion verbilligt. All das ist nicht illegitim. Ist es aber schon ausreichend für die Freisprechung der Gentechnik in der Lebensmittelproduktion?
Gute Gründe sprechen gegen eine vorzeitige Unbedenklichkeitsbescheinigung. Langzeitfolgen sind nahezu unbekannt.
- Vorzeitig in dem Sinne, daß zur Zeit beschönigt wird. - Wer kann wirklich vorhersagen, wie sich gentechnisch veränderte Organismen im Boden verhalten? Was tun, wenn manipulierte Gensequenzen auf andere Pflanzen mit ungeklärten Folgen für ökologische Zusammenhänge überspringen? Können neue Resistenzen entstehen, wenn Antibiotikaresistenz - gene als Marker-Gen in Kulturpflanzen hineingebracht werden? Verbreiten sich gar neue Allergien über transgene Pflanzen?
Diese und andere Fragen sind offen. Zu jung ist die Gentechnik noch, um sie abschließend beurteilen zu können. Dennoch werden weltweit immer mehr gentechnisch veränderte Lebensmittel zugelassen. Auch in deutschen Supermärkten liegen sie. Oft ahnt der Verbraucher nichts davon. Zum Beispiel ist derzeitig und auch künftig Lecithin, gewonnen aus gentechnisch veränderter Soja, in fast jedem Keks und jeder Trockensuppe ungekennzeichnet zu finden.
Nicht die Gentechnik, sondern unser Nichtwissen und unser lückenhafter Kenntnisstand sind das eigentliche Risiko - ein Risiko, das nur beherrschbar bleibt, wenn strenge gesetzliche Regelungen, Genehmigungs- und Zulassungsverfahren gelten. Es ist unangemessen, wenn offene Fragen kleingeredet und Kritiker als Bedenkenträger desavouiert werden oder wenn auf Zeitablauf gesetzt wird.
Das ist vergleichbar mit dem Streit um die Novelfood-Verordnung. Sie wurde nach Jahren zähen Ringens erst im Mai letzten Jahres endlich verabschiedet. Sie ist voller Kompromisse über Geltungsbereich, Zulassungsverfahren und Kennzeichnungsregelungen. Unser Antrag, der vor drei Jahren eingebracht wurde, hat diese Mängel benannt und den Verhandlungsführern der Bundesregierung Verbesserungsvorschläge mit auf den Weg geben wollen. Das geht nun nicht mehr, denn die Novel-food-Verordnung ist längst in Kraft.
Ich glaube, es ist kein guter Stil, wenn die Beratung von Anträgen so lange verschoben wird, bis die Ereignisse sie überholt haben. So etwas ist eher kontraproduktiv. Die Geschichte ist noch immer nicht zu Ende. Entgegen dem Versprechen, Rechtssicherheit herzustellen, hat die Novel-food-Verordnung bei der Kennzeichnung exakt das Gegenteil bewirkt. Nach wie vor fehlen sämtliche Ausführungsbestimmungen. So gibt es trotz Verpflichtung keine Kennzeichnung. Der Verbraucher kann nicht erkennen, was er kauft.
Verantwortlich dafür ist das Chaos auf europäischer Ebene. Die Gremien der EG sind nicht in der Lage, sich zu einigen. Zwar gibt es seit Dezember 1997 endlich eine Empfehlung der Europäischen Kommission zur Kennzeichnung, aber der Ständige Lebensmittelausschuß hat diesem Vorschlag im Januar sein Plazet verweigert.
Nun ist der Ministerrat gefragt - und alles am Europäischen Parlament vorbei. Denn über die Kennzeichnungsvorschrift wird nur nach der Etikettierungsrichtlinie verhandelt und nicht nach der Novel-food-Verordnung. Sie wird ersteinmal lediglich für Produkte aus Genmais und Gensoja gelten. Dies ist ein Streit ohne Ende zum Schaden der Verbraucher und Verbraucherinnen. Sie fühlen sich für dumm verkauft.
Was ist denn bei einer Kennzeichnung so schwierig? Wer statt „gentechnisch verändert" nur „biotechnologisch modifiziert" schreiben will, wer - wie die Kommission - eine dubiose Kann-Bestimmung ersinnt - „Kann Gentechnik enthalten" -, konterkariert die Kennzeichnungspflicht.
Hier sagen wir nein.
Auch hinsichtlich der Analysemethode besteht Streit: Wird die sensiblere DNA-Methode oder das gröbere Proteinverfahren gewählt? Es herrscht Unklarheit.
Das Chaos hat vorerst nur eines bewirkt: Bedenken sind geblieben, der Widerwille ist gewachsen, Rechtssicherheit fehlt, und das Nachsehen haben die Verbraucher. Die verantwortlichen Minister der Bundesregierung - niemand ist hier - begnügen sich mit Presseverlautbarungen. So nicht, meine Herren Borchert, Seehofer und Rexrodt!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Editha Limbach, CDU/CSU- Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der SPD zum Einsatz der Gentechnik, den wir heute zu beschließen bzw. abzulehnen haben, ist für mich auch nach Ihrer Rede, Frau Kollegin Dobberthien, immer noch ein Gemisch von Forderungen nach Selbstverständlichkeiten und Forderungen nach längst bestehenden Regelungen und letztlich der Versuch einer gezielten Verunsicherung von Menschen in unserem Land. Das, was Sie, Frau Dobberthien, hier vorgetragen haben, war nicht rational.
Wenn ich so höre, welche Bedenken Sie haben, was sich alles entwickeln könnte, fällt mir eine Geschichte ein - ich bitte um Nachsicht, Frau Präsidentin, wir sind im Rheinland zur Zeit im Karneval, deswegen ist es ein etwas lockeres Beispiel, aber nicht, was die Sitten angeht -: Vor der Jahrhundertwende gab es in New York große Bedenken, ob man die Straßen der Stadt im Jahr 2000 noch würde begehen können. Denn man rechnete ob des steigenden Verkehrs mit Kutschen damit, daß sich der Pferdemist etagenhoch in den Straßen auftürmen würde. Heute stellt man eher die Überlegung an, ob man in den Straßen von New York noch ausreichend atmen kann, weil dort so viele Autos fahren. Auch dafür wird es mit der Zeit Lösungen geben.
Das heißt, die großen Sorgen, die man den Leuten ob irgendwelcher Techniken einredet - hier ging es um die Pferdekutsche, da geht es um etwas anderes -, sollte man vielleicht nicht auf die Seite schieben, aber so beachten, wie sie es verdienen, und so bewerten, wie es erforderlich ist.
Da ich gerade vom Apfel rede, noch ein anderes Beispiel: Dinge, die irgend etwas mit Genen zu tun haben, machen den Menschen Sorge und Angst. Wir sagen ihnen aber nicht, daß sie bereits dann, wenn sie in einen Apfel beißen - Äpfel gelten anerkanntermaßen als ein sehr gesundes Nahrungsmittel -, vielleich in einen Apfel, der im eigenen Garten auf einem Baum wächst, den schon der Großvater gepflanzt hat, ehe es die Gentechnik überhaupt gab, mit dem ersten Happen, den sie herunterschlucken, die gesamte Erbinformation des Apfelbaumes mitgegessen haben. Was ist daran eigentlich so schlimm?
Ich habe gesagt: Selbstverständlichkeiten. Damit meine ich zum Beispiel die starke Betonung des Vorsorgeprinzips in Ihrem Antrag. Es wird der Eindruck erweckt, es müsse noch Vorsorge getroffen werden. Dabei wissen Sie genausogut wie wir, daß Lebensmittel nur dann auf den Markt gebracht, zum Verzehr angeboten werden dürfen, wenn sie gesundheitlich unbedenklich sind. Das ist nicht etwa nur eine deutsche Regelung, sondern diese gilt in der ganzen EU und auch sonst.
Hinter dem Stichwort Vorsorgeprinzip versteckt sich für mich letztlich die grundsätzliche Ablehnung dieser neuen Technologie, die man - da man sie nicht direkt bestreiten und bekämpfen kann - sozusagen durch die Hintertür bekämpft. Das finde ich nicht ganz in Ordnung.
Frau Dobberthien, Sie haben recht darin, zu kritisieren, daß die Kennzeichnungsverordnung noch nicht in handhabbare Dinge umgesetzt wurde. Auch ich wünsche mir dies, aber weniger, weil Leute vor etwas gewarnt werden müßten. Es handelt sich nicht um einen Warnhinweis wie „Rauchen schadet der Gesundheit" oder „Zuviel Alkohol schadet der Gesundheit". Diese Hinweise haben eine ganz andere Qualität, als wenn dort steht, daß bzw. mit welchem Verfahren etwas gentechnisch verändert wurde. Auch ich kritisiere, daß die Kennzeichnungsverordnung noch nicht da ist. Es besteht noch ein Informationsmangel, aber es entsteht dadurch keine Gefährdung für Menschen. Auch das ist wichtig.
Ich finde es schon bemerkenswert: In diesem Punkt scheinen das übrigens ihre beiden Kanzlerkandidaten in Lauerstellung - ich bitte um Nachsicht, das ist wieder so ein rheinischer Ausdruck - wieder anders zu machen. Ich zitiere das einmal - ich zitiere ungern den politischen Gegner, aber ich muß es jetzt einmal machen -: Da sagt zum Beispiel der Gerhard Schröder, man habe den Eindruck, daß vor lauter Risikobetonung die Chancen der Gentechnik überhaupt nicht mehr wahrgenommen würden. Vielmehr müsse man die Vorgehensweise umdrehen und erst die Chancen und dann die Risiken ins Gespräch bringen.
Dann sagt der Oskar Lafontaine, die Risiken müssen wir nach wie vor diskutieren; aber es schien so, als wäre die Akzentverschiebung so stark geworden, daß man nicht auch die Fortschritte und Möglichkeiten sieht, die diese Technik bietet. Da kann ich nur sagen: Das schien oder scheint nicht bloß so. Wenn ich Ihren Antrag ernst nehme, dann ist es so.
Ich habe den Verdacht - ich bitte um Nachsicht, in einem Wahljahr ist man schon einmal eher etwas mißtrauisch; man braucht etwas Zitierfähiges für jedwede Gruppe; bei dem einen zitiert man eben das, was da paßt, und bei dem anderen etwas, was dort paßt -, Sie haben nach wie vor Streit in der SPD. Streit ist ja an sich nichts Böses,
aber ich würde mich freuen, wenn er auch einmal zum Ende gebracht würde.
Ich denke, nicht zuletzt auch durch unsere Bundesminister, durch Seehofer, durch Borchert, durch Rüttgers, hat sich die Meinung im Volk doch gedreht, dank der Maßnahmen, die wir getroffen haben: Gentechnikgesetz, Durchsetzung der Kennzeichnungspflicht - wenn sie auch inzwischen noch nicht so realistisch ist. Nebenbei: Auf dem deutschen Markt sind nach Auskunft der Länder überhaupt noch keine
Editha Limbach
gentechnisch veränderten Lebensmittel, wohl solche, bei denen Gentechnik im Spiel war; aber ich meine, wir können ja nicht auch noch alle Technikvorgänge kennzeichnen.
Bei der Medizin sind inzwischen über 70 Prozent für Gentechnik; wenn man gezielt fragt, noch mehr.
- Das sagen die Umfragen. - Wenn Sie die Lebensmitteltechnik nehmen, dann stellen Sie fest, daß der Anteil von Menschen ständig steigt, die Vertrauen in die Gentechnik haben. Das ist natürlich noch nicht die übergroße Mehrheit, aber eben ein ständig steigender Anteil.
Ein solcher Antrag könnte natürlich auch dazu dienen, diese Technik sozusagen nicht mehr auf dem geraden, sondern auf einem Umweg zu verteufeln.
Es paßt mit den Absichten und dem Versuch der beiden Aspiranten auf die Kanzlerkandidatur wiederum nicht zusammen, sich die Argumentation von Bundesminister Rüttgers, Seehofer oder wem auch immer zu eigen zu machen und nun selbst als diejenigen zu erscheinen, die die Bedeutung der Gentechnologie - als Ganzes die Biotechnologie, so muß man sagen - als für die Zukunftsentwicklung der Bundesrepublik und damit für den Arbeitsmarkt sehr wichtig halten. Auch das können Sie von den beiden Herren, die ich eben schon einmal nannte, hören. Sie haben das gegenüber Zeitungen in Interviews gesagt. Das muß eigentlich einmal erklärt werden.
Sie stellen sich also hin und sagen, das ist so wie der Bundesminister Rüttgers, wie die Bundesregierung, wie die CDU/CSU-Fraktion das sagen. Sie kommen hierher und sagen wieder anderes. Ich finde das nicht ganz klar. Ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bürger sind viel klüger, als Sie denken. Sie werden das nämlich verstehen. Sie fordern zwar zu Recht, das nur alles denkbar Mögliche zur Risikobegrenzung und -beherrschung getan wird. Sie fordern auch zu Recht Information und Aufklärung. Aber sie fordern ebenfalls - und ebenfalls zu Recht -, daß wir unsere Chancen für eine gute Zukunft, für mehr Arbeitsplätze, für den Wirtschaftsstandort und für eine ausreichende und gesunde Ernährung - und zwar nicht nur bei uns, sondern weltweit -, nutzen.
Wir haben, so meine ich, diese Erwartungen - natürlich nicht hundertprozentig, das kann man nie, aber weitgehend - erfüllt. Ich wiederhole noch einmal: Gesetzgebung zur Anwendung der Gentechnologie, Einsatz für die praktikable und umfassende Kennzeichnung durch die Förderung neuer Technologien. Wir werden das auch in Zukunft tun und deshalb den Antrag der SPD ablehnen, weil er in Teilen überflüssig, in anderen Teilen erledigt und im übrigen abwegig ist.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Halo Saibold, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich auf Frau Limbach noch stärker eingehen.
Aber ich kann nur ganz kurz zusammenfassen: Die Verbrauchertäuschung geht weiter, und die Industrie freut sich. Das ist die Quintessenz der heutigen Beratung zur Gentechnik in Lebensmitteln.
Dem verbraucherpolitischen Trauerspiel in Sachen Kennzeichnung wird immer noch kein Ende gesetzt. Im Mai 1997 atmeten viele Verbraucher und Verbraucherinnen auf, als lautstark verkündet wurde, daß nun gentechnisch veränderte Lebensmittel gekennzeichnet werden müssen. Doch das war eine bewußte Irreführung. Denn bis heute gibt es keinerlei Ausführungsbestimmungen, weder für die Negativ- noch für die Positivkennzeichnung auf EU- oder auch auf Bundesebene. Dies ist ein Armutszeugnis und ein Kniefall vor Herrn Maucher und anderen Bossen der Ernährungsindustrie.
Die Bundesregierung nimmt die Verbrauchersorgen nicht ernst. Im Gegenteil: Die Bundesregierung unterstützt und fördert trotz leerer Kassen die Gentechindustrie insgesamt mit mehr als 1 Milliarde DM im Jahr, -
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heinrich?
- und sie beteiligt sich aktiv an den Akzeptanzkampagnen. - Bitte, Herr Heinrich.
Frau Kollegin, Sie bemängeln die nicht vorliegende Umsetzung der Novelfood-Verordnung. Sind Sie mit mir der Ansicht, daß die Umsetzung eine Frage der europäischen Gesetzgebung ist und daß es keine nationalen Alleingänge geben kann?
Herr Heinrich, ich habe gesagt, daß es auf EU-Ebene keine Regelungen gibt, aber auch auf Bundesebene nicht.
Halo Saibold
- Ja. Das könnte man sehr wohl tun. Sie sehen ja, daß es jetzt in den Ländern versucht wird, weil man Sicherheit für die Verbraucher und Verbraucherinnen schaffen will, weil oben versagt wird. Ich kann Ihnen nur empfehlen, einmal nachzutragen, welche Irritationen in den Kreisverwaltungsämtern herrschen. Sie sind vollkommen überfordert. Es ist nicht geregelt, wie kontrolliert werden soll. Sie wissen überhaupt nichts. Ich sage Ihnen: Das schreit zum Himmel.
Die Bundesregierung hat über 340 000 Stück Hochglanzbroschüren durch das BML zur angeblich „Grünen Gentechnik" gratis verteilen lassen, und das Bundesforschungsministerium beteiligt sich am sogenannten ,,Bio-Tech-Mobil" ,
das nur in Bayern wegen des Volksbegehrens zu einer Propagandatour an Gymnasien unterwegs ist.
Dadurch ebnen Sie von der Regierung der Gentechnikindustrie mit einseitigen Informationen den Weg in die Schulen, der natürlich den Umweltorganisationen verschlossen bleibt. Das ist unverantwortlich.
Die Verbraucher und Verbraucherinnen wollen sich jedoch nicht länger für dumm verkaufen lassen. Viele weichen auf ökologisch erzeugte Produkte aus, weil sie die einzig sicheren Lebensmittel sind, die es noch zu kaufen gibt. Andere bringen ihre Ablehnung zum Ausdruck, indem sie Volksbegehren wie in Bayern und in Niedersachsen unterstützen, um endlich eine Kennzeichnung für gentechnikfreie Produkte zu erreichen. In Bayern wurden innerhalb von sechs Wochen fast 250 000 Unterschriften gesammelt. Das sind zehnmal mehr, als man für das Volksbegehren gebraucht hätte. Das ist ein eindrucksvolles Zeichen dafür, daß dringender Handlungsbedarf besteht und gentechnisch veränderte Lebensmittel abgelehnt werden.
Wir nehmen die Sorgen der Verbraucher und Verbraucherinnen ernst und wollen eine Prozeßkennzeichnung, die sicherstellt, daß vom Samen bis zum Teller keine bewußte Verwendung von gentechnischen Verfahren erfolgt ist.
Das muß erreicht werden, um eine weitere landwirtschaftliche Produktion und Bearbeitung von Lebensmitteln ohne Einsatz von Gentechnik sicherzustellen und zu ermöglichen.
Es muß deswegen gleichzeitig alles unternommen werden, um eine weitere unkontrollierte Ausbreitung von gentechnisch veränderten Substanzen zu verhindern. Einer ubiquitären Verteilung dieser Stoffe ist entgegenzuwirken, damit wir nicht in die gleiche Situation kommen wie bei den Schadstoffen oder bei den Chemikalien. Dazu müssen weitere Freilandversuche und insbesondere die Freisetzung von gentechnisch manipulierten Bakterien, wie sie nun in Bayern vorgenommen werden, gestoppt werden. Denn im Gegensatz zu Chemikalien vermehren sich lebensfähige Organismen.
Es wird Zeit, daß die Bundesregierung endlich reagiert und einen Verordnungsentwurf zur Positivkennzeichnung vorlegt, der für das ganze Bundesgebiet gilt. Die Volksbegehren in den einzelnen Bundesländern sind ja nur Hilfsinstrumente zur Erreichung einer bundeseinheitlichen Kennzeichnungsvorschrift für gentechnikfreie Lebensmittel.
Da es noch immer keinen Volksentscheid auf Bundesebene gibt, muß eben der Umweg über die Bundesländer genommen werden. Ich frage Sie: Wann handelt diese Bundesregierung endlich? Wir brauchen dringendst Sicherheit für die Verbraucher und Verbraucherinnen, für die Landwirte und für verantwortungsvolle Lebensmittelverarbeiter.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den wir heute beraten, ist zwar nicht mehr ganz taufrisch - er stammt aus dem Jahr 1995 -, aber er ist nach wie vor aktuell. Besondere Schlagzeilen machen immer die Freisetzungsversuche, bei denen man unter wissenschaftlicher Begleitung die Praxistauglichkeit und Risikoabschätzung erforschen will. Solche Freisetzungsversuche sind zur Verankerung des Vorsorgeprinzips nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern auch zur notwendigen Diskussion mit der Bevölkerung sehr hilfreich.
Weniger hilfreich ist aber, wenn radikale Gentechniker diese Felder verwüsten und somit auch jegliche Basis eines ausgewogenen Pro und Contra zerstören.
Gen- und Biotechnologie ist kein Teufelswerk, das die Schöpfung in Gefahr bringt, sondern das Nutzen menschlichen Wissens, um das Leben auf unserer Welt besser zu machen
und einer immer stärker wachsenden Weltbevölkerung mit einer kleiner werdenden Produktionsfläche ausreichend Nahrung zu verschaffen.
Im Pharmabereich ist der Einsatz der Gentechnik voll und ganz akzeptiert, da die Vorteile leicht erkennbar sind. Im Lebensmittelbereich, um den es heute geht, ist noch eine Skepsis weit verbreitet. Es wird der Eindruck vermittelt, daß der Einsatz der Gentechnik in der Agrar- und Lebensmittelproduktion nur Vorteile für den Hersteller hätte, daß die Produkte ungeprüft auf den Markt kämen und langfri-
Ulrich Heinrich
stig die menschliche Gesundheit gefährden würden. Die beiden Vorredner von der Opposition haben das wieder unter Beweis gestellt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Limbach?
Ja, bitte.
Bitte schön, Frau Limbach.
Herr Kollege, können Sie bestätigen, daß Lebensmittel durch die Gentechnik auch gesünder und besser gemacht werden können, wie zum Beispiel der Reis, der mit Vitamin A versehen werden kann,
wodurch in den Ländern, in denen Reis Grundnahrungsmittel ist, ein erheblicher Ernährungsmangel ausgeglichen werden kann?
Frau Kollegin Limbach, das kann ich ausdrücklich bestätigen. Ich werde im Laufe meiner Rede darauf noch zurückkommen. Lebensmittelhygiene ist ein sehr wichtiger Bereich in der gesamten Palette der Versorgung.
Insofern sind wir natürlich auch von daher daran interessiert, daß es in der Gentechnik weitergeht.
Ich möchte jetzt in meiner Rede fortfahren. - Wie sieht es aber in Wirklichkeit aus? Wo liegen heute die interessanten Anwendungsgebiete, in denen die Gentechnik zum Einsatz kommt? Da ist einmal die Lebensmittelverarbeitung zu nennen. Enzyme spielen dabei eine erhebliche Rolle. Enzymatische Methoden besitzen einen wichtigen und unentbehrlichen Anteil an den Verfahren der modernen Lebensmittelindustrie zur Herstellung des großen und vielfältigen Sortiments an Produkten für die menschliche Ernährung; denn Enzyme erlauben eine schonende und werterhaltende Verarbeitung der Rohstoffe. Verwendung finden sie vor allem in der Alkohol-, Backwaren-, Fleisch- und Milchindustrie.
Bei der Tierzucht gibt es ein erstes zugelassenes, aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen gewonnenes Enzym, das in Deutschland zugelassen wurde: der Tierfuttermittelzusatz Phytase. Dadurch gibt es eine bessere Verwertung des organisch gebundenen Phosphats und damit eine geringere Düngerbelastung auf unseren Feldern.
Hier ist auch das BST zu nennen, das die Milchleistung der Kuh erhöht. Dieses Verfahren ist äußerst umstritten und wird von uns abgelehnt. Gentechnisch veränderte Zusatzstoffe haben ebenfalls eine zunehmende Bedeutung. Hierbei handelt es sich in der Hauptsache um Geschmacksverstärker, Süßstoffe, Aminosäuren, Vitamine, Aromen und Konservierungsmittel.
Zur Sicherung des Hygienestatus von Lebensmitteln, Frau Kollegin Limbach, zur ernährungsphysiologischen Aufwertung und zur Optimierung der Produktionstechnik werden sogenannte Starter- und Schutzkulturen eingesetzt, die einen Verzicht auf klassische Konservierungsmittel ermöglichen. Die Liste der Bereiche, in denen die Gentechnik schon heute zur Verbesserung unserer Ernährung eingesetzt wird, ließe sich noch fortsetzen.
Wie sieht es mit der landwirtschaftlichen Urproduktion aus? Hier sind besonders die zweikeimblättrigen Pflanzen wie Tabak, Tomaten, Kartoffeln und Raps zu nennen, bei denen aus technischen Gründen die Möglichkeiten einer gentechnischen Veränderung einfacher sind als bei einkeimblättrigen Pflanzen, wie zum Beispiel dem Getreide.
Bei gut der Hälfte der bisher weltweit durchgeführten rund 4000 Freilandversuche ging es um die Ausprägung von Virus-, Herbizid-, Bakterien-, Pilz- und Insektizidresistenzen. Bei diesen Resistenzausprägungen ist keine Änderung der Eigenschaften pflanzlicher Produkte vorgenommen worden, sie unterscheiden sich also nicht von denen aus konventioneller Produktion.
Anders verhält es sich bei der gentechnischen Modifizierung von Pflanzen durch Veränderung von Speichersubstanzen wie Öl, Stärke und Proteine. Damit wird eine hochinteressante Entwicklung für nachwachsende Rohstoffe, aber auch eine Verbesserung der Ernährung ermöglicht. Diese Gentechnik kann auch erfolgreich angewandt werden, um allergieauslösende Proteine zu unterdrücken. Frau Kollegin Limbach, jetzt komme ich darauf: In Japan wurde eine Reissorte entwickelt, die auch für Reisallergiker verträglich ist.
Wissenschaftliche Anstrengungen gehen heute aber noch sehr viel weiter. Mit Hilfe der Gentechnik können Pflanzen an klimaungünstige Gebiete oder an salzhaltige Böden angepaßt oder gar selbstdüngende Pflanzen entwickelt werden. Diese gesamte Entwicklung vollzieht sich in einer außergewöhnlichen Geschwindigkeit. Demgegenüber haben die Verbraucher ein hohes Informationsbedürfnis und das Recht, zu erfahren, wie ihre Lebensmittel hergestellt werden und was sie enthalten. Verbraucher erwarten deshalb, daß unter Einsatz der Gentechnik hergestellte Lebensmittel umfassend gekennzeichnet werden. Kennzeichnung und Nachweis müssen aber für die Überprüfbarkeit und Einhaltung in einem engen Zusammenhang gesehen werden.
In bezug auf diese Nachweismöglichkeiten gibt es drei Kategorien:
Ulrich Heinrich
Erstens. Das Lebensmittel ist selbst der lebende genetisch veränderte Organismus: Tomate, Kürbis, Raps, Mais oder Soja.
Frau Präsidentin, bekomme ich noch ein wenig Redezeit?
Einen Satz noch, Herr Abgeordneter. Ihre Redezeit ist längst vorbei.
Es ist sehr schwierig, in so kurzer Zeit eine einigermaßen umfassende Darstellung darüber zu geben, was heute in der Lebensmittelindustrie alles gemacht wird.
Zweitens. Das Lebensmittel enthält vermehrungsfähige genetisch veränderte Organismen wie zum Beispiel Joghurt mit Milchsäurebakterien.
Drittens. Lebensmittel enthalten isolierte oder verarbeitete Produkte aus genetisch veränderten Organismen, aber nicht den lebenden veränderten Organismus und müssen deshalb auch nicht gekennzeichnet werden.
Das war aber wesentlich mehr als ein Satz. Bitte kommen Sie jetzt zum Schluß.
Ja. - Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Chancen viel größer sind als die Risiken - auch wenn der Mensch nicht alles machen darf, was er kann -, daß mit der Gentechnik die Nahrungsmittelqualität und die hygienische Sicherheit wesentlich gesteigert werden, nachwachsende Rohstoffe gezielter produziert, eine Entlastung der Umwelt stattfindet und die Lebensmittelversorgung der Weltbevölkerung verbessert werden kann.
Herr Abgeordneter, jetzt ist wirklich Schluß.
Die Gentechnik ist somit eine unverzichtbare Technologie, die international verbreitet ist und sich nicht mehr aufhalten läßt.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Wolfgang Bierstedt, PDS.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will nicht hoffen, daß die heutige Beratung des SPD- Antrages zu neuen Verfahren in der Lebensmittelproduktion der SPD dazu dient, vor der heißen Wahlkampfphase noch einmal das kritische Fähnchen zu schwenken, um dann in den Monaten danach in den unkritischen pauschalen Chor „Innovationen durch Gentechnik" einzustimmen. Der Antrag enthält doch immerhin die richtige Feststellung, daß der Einsatz neuer biotechnologischer Verfahren, insbesondere
der Gentechnik in der Lebensmittelproduktion, mögliche und schwer abschätzbare Risiken in sich birgt. Leider gilt diese banale Feststellung mittlerweile ja als kritische Stellungnahme.
Tatsächlich sind einige Teile des Antrages durch die Verabschiedung der Novel-food-Verordnung der EU, trotz Unklarheiten bei der Durchführung, bereits obsolet geworden. Durchgesetzt wurde keine wirklich umfassende und klare Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel, die gentechnisch verändert oder hergestellt wurden. Der Bundesregierung ist dabei vorzuhalten, daß ihre Vertreter öffentlich immer wieder von einer umfassenden Kennzeichnungspflicht gesprochen, in Brüssel jedoch eigentlich nichts für deren Festschreibung unternommen haben. Die dabei erhobene Forderung nach einer sogenannten praktikablen Kennzeichnungspflicht sollte letztlich - unter dem Vorwand technischer Durchführbarkeit - die „praktikabelste" Lösung für die Agrar- und Lebensmittelindustrie sein, die sie einerseits nicht stark einengt, die andererseits aber für Akzeptanz sorgt.
Meiner Meinung nach zeigt sich, daß jegliche Diskussion um eine Kennzeichnungspflicht im Kern an der Sache vorbeigeht und bewirkt, daß eine Grundsatzentscheidung - wollen wir überhaupt Gennahrungsmittel essen? wollen wir die Gefährdungen durch diese Lebensmittel in Kauf nehmen? - auf die Ebene von Grenzwerten, technischen Problemstellungen und Fragen der individuellen Wahl reduziert wird. Zwei Dinge stehen doch ganz deutlich fest: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung - vielleicht Sie und die Kollegen ausgenommen, die das gerne essen wollen - will Gennahrungsmittel nicht essen, und zudem bergen solche Nahrungsmittel schwer abschätzbare Unwägbarkeiten. Diese beiden Punkte müssen der Ausgangspunkt jeglicher Diskussion sein.
Dem vorliegenden Antrag dagegen merkt man den Spagat zwischen den berechtigten Einwänden gegen den Einsatz der neuen Gen- und Biotechnologien in der Lebensmittelproduktion und dem Bemühen an, nicht wirklich klar gegen diese Kreationen Stellung zu nehmen. So entsteht eine Mischung von Forderungen, die in sich nicht stimmig ist.
Ihr zweiter Punkt, die Risiko- und Sicherheitsforschung nach Markteinführung, ist im übrigen eine Beschreibung des jetzigen Zustandes: Wir erleben eine teils verdeckte großflächige Markteinführung von Gennahrungsmitteln, bei der die Menschen sozusagen als Versuchskaninchen herhalten müssen. Mir ist nicht zu vermitteln, wie ein Absatz, der mit der Formulierung „schwer abschätzbare Risiken" der neuen Lebensmitteltechnologien beginnt und am Ende die Rückholbarkeit der Produkte fordert, allen Ernstes in einem Antrag stehen kann, der dennoch die Zulässigkeit des Inverkehrbringens von gentechnisch manipulierten Lebensmitteln nur regulieren soll, wo doch die Nichtrückholbarkeit von gentechnischen Veränderungen von Anfang an ein wesentlicher Kritikpunkt an der Gentechnologie war.
Ich möchte noch eine andere Illusion benennen, die in diesem Antrag zum Vorschein kommt: die so-
Wolfgang Bierstedt
genannte freie Konsumentenentscheidung. Angesichts der Existenz von beträchtlichen Einkommensunterschieden sowie den Interessen und der Werbung der großen Lebensmittelhersteller erscheint es mir, bei welcher Kennzeichnung auch immer, recht abwegig, von freien Konsumentenentscheidungen zu sprechen. Für viele Menschen ist aus ihrer sozialen Situation heraus oftmals die Kennzeichnung der Lebensmittel in Mark und Pfennig das einzig Ausschlaggebende.
Kommen Sie bitte zum Schluß, Herr Abgeordneter.
Diesen kleinen Satz noch, Frau Präsidentin?
Gut, der letzte Satz.
Zweifelsfrei wird sich - so ist zu befürchten - folgende Entwicklung abzeichnen: Der Absatz von ökologisch erzeugten Lebensmitteln wird ob ihres hohen Preises stagnieren. Der Absatz von Genlebensmitteln wird ob ihres zu erwartenden niedrigen Preises massiv ansteigen. Die Genindustrie wird lauthals mit Häme reagieren, und wirtschaftliche Interessen werden wieder einmal über Wissenschaft und Vernunft gesiegt haben.
Besten Dank.
Das Wort hat jetzt die Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen heute alle vor einem reich gedeckten Tisch Europas. Schwierig wird für manche die Wahl besonders dort, wo neuartige biotechnologische Produktionsverfahren angewendet werden.
Wichtig für den Verbraucher sind deshalb Regelungen, die seine Gesundheit schützen und ihn über den Einsatz der Gentechnik informieren. Jeder muß das Recht haben, selber zu entscheiden, was er kauft.
In Deutschland steht die Sicherheit im Bereich Gentechnik an erster Stelle. Wir betreiben die weltweit umfangreichste und modernste Forschung hinsichtlich der Sicherheit gentechnischer Erzeugnisse. Es gibt gemeinschaftsrechtlich geregelte Prüfungsverfahren, die sicherstellen, daß gentechnisch veränderte Lebensmittel genauso unbedenklich wie herkömmliche Lebensmittel sind.
Dies scheint der SPD entgangen zu sein. Sie handelt, unbeschadet aller Entwicklungen, nach dem Motto: alle Jahre wieder. Schon 1994 wurde ihr fast gleicher Antrag abgelehnt. Heute muß ihr Antrag erst recht abgelehnt werden, weil die am 15. Mai 1997 in Kraft getretene EU-Verordnung über neuartige Lebensmittel klare Vorgaben für den gesundheitlichen Verbraucherschutz und für die Information der Verbraucher enthält.
- Man muß das gelegentlich auch einmal lesen, Frau Kollegin.
Nach dieser Verordnung ist Grundvoraussetzung für die Zulassung der Erzeugnisse der Nachweis des Antragstellers, daß sie keine gesundheitliche Gefahr für den Verbraucher darstellen, keine Irreführung bewirken und sich von einem herkömmlichen Lebensmittel nicht so unterscheiden, daß bei normalem Verzehr Ernährungsmängel auftreten. Kernpunkt der gemeinschaftlichen Vorschriften für neuartige Lebensmittel sind neben der Sicherstellung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit dieser Erzeugnisse zusätzliche Bestimmungen über die EU-einheitliche Kennzeichnung.
Alle neuartigen Lebensmittel, die gentechnisch veränderte vermehrungsfähige Organismen enthalten oder daraus bestehen, müssen gekennzeichnet werden.
Für Folgeprodukte, die aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellt wurden, solche aber nicht enthalten, besteht eine Kennzeichnungspflicht, wenn sie auf Grund einer wissenschaftlichen Beurteilung zu bestehenden herkömmlichen Lebensmitteln nicht mehr gleichwertig sind. In diesen Fällen müssen die veränderten Merkmale und das Herstellungsverfahren, mit dem sie erzielt worden sind, angegeben werden. Unabhängig davon ist auch auf vorhandene Stoffe hinzuweisen, die die Gesundheit bestimmter Bevölkerungsgruppen, wie Allergiker, beeinträchtigen könnten. Sie sehen, wir haben es mit einer umfassenden Vorschrift zu tun.
Seit dem 1. November 1997 gilt eine Ergänzungsverordnung der Kommission. Sie stellt sicher, daß die vor dem Inkrafttreten der sogenannten Novel-foodVerordnung genehmigten Gensojabohnen und der Genmais den gleichen Kennzeichnungsvorschriften unterliegen wie neuartige Lebensmittel. Sie sehen, daß der Antrag der SPD durch die zwischenzeitliche Entwicklung überholt ist.
Unser Ziel ist und bleibt unverändert, Frau Dobberthien, die Chancen der Gentechnik zu nutzen, die Risiken zu vermeiden und die Verbraucher umfassend zu informieren, und zwar über die Lebensmittel, bei denen Gentechnik eingesetzt wurde, und auch über solche Lebensmittel, bei deren Herstellung bewußt auf den Einsatz der Gentechnik verzichtet wurde.
Um endlich Klarheit bei der Kennzeichnung auf nationaler Ebene zu bekommen, prüfen Bund und Länder unter Beteiligung von Wirtschafts- und Verbraucherverbänden zur Zeit, wie zum Beispiel eine
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
einheitliche Kennzeichnung im Sinne von „gentechnikfrei" festgelegt werden kann.
Frau Dobberthien, ich kann mir einfach nicht verkneifen, Sie auf folgendes hinzuweisen: Irgendwie ist die SPD-Fraktion mit ihrem Antrag doch ein bißchen hinter der Zeit zurückgeblieben. Es gibt in Ihrer Fraktion durchaus Leute, die einen weitaus größeren Erkenntnisstand und Erkenntnisgewinn haben. Ich denke, daß Ihnen der Name Jens Katzek ein Begriff ist. Jens Katzek, ein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Kollegin von Ihnen, immer als Gentechnikgegner bekanntgewesen, und früher Mitarbeiter im Bund für Umwelt und Naturschutz, BUND, geht zu einem führenden deutschen Gentechnikunternehmen, der Klein Wanzlebener Saatzucht. Jeder weiß, daß dies ein Unternehmen ist, das sich überwiegend mit Gentechnik befaßt.
Er hat zum Beispiel Erkenntnisse erworben, die bei Ihnen bisher nicht in diesem Maße vorhanden sind. Für die radikalen Gegner der Gentechnik sieht Katzek die Gefahr, daß sie bald nicht mehr ernst genommen werden. BUND und Verbraucherverbänden drohe dann ein Glaubwürdigkeitsverlust. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns sachlich über diese Dinge reden und hier nicht irgendwelche Ängste schüren.
Vielen Dank.
Der letzte Redner im Rahmen dieser Debatte ist Matthias Weisheit, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es reizt mich jetzt, erst einmal nicht nach meinem Manuskript zu reden. Vor allen Dingen was die Begründung der Ablehnung unseres Antrags angeht, lief die Debatte bis jetzt schon so, wie ich es mir vorgestellt habe.Der Antrag ist zwei Jahre und neun Monate alt. Deshalb haben wir, die Antragsteller, nicht zu verantworten, daß er erst heute hier zur Diskussion steht. Es gibt eine gewisse Parallelität zwischen diesem Antrag und dem, was in Brüssel hinsichtlich der Novelfood-Verordnung passiert ist. Beides hat ungeheuer viel gemeinsam. Man hat manchmal schon den Eindruck, daß man diesen Antrag hier schleppen muß, so wie man ihn in Brüssel auch schleppen mußte. In beiden Fällen dauert es möglichst lange, bis diese Verordnung kommt, bis die Kennzeichnungsverpflichtung kommt, und man irgendwann dem staunenden Publikum sagen kann: Wozu braucht man eigentlich noch Kennzeichnung? Das ist alles so schwierig. Es gibt inzwischen so viel Lebensmittel; es ist nie etwas passiert. Wir brauchen das gar nicht mehr zu tun. - Das ist meiner Überzeugung nach die Taktik, die dahintersteckt.
Zu dem zweiten Punkt, der mir aufgefallen ist. Kollege Heinrich, Sie haben nach einem Loblied über all das, was man mit der Gentechnik machen kann, ein paar kritische Punkte angemerkt.
Es ist natürlich schon so: Nicht jeder, der Risiken aufzeigt, der sich überlegt, wie man Risiken minimieren kann, der damit vielleicht Ängste oder Lefürchtungen aufgreift, ist ein Gentechnik-Gegner, absolut nicht. Hier zu unterstellen, wir seien Gentechnik-Gegner oder möglicherweise sogar Gentechnik-Feinde - das wäre noch das bessere Wort -, und dann auch noch Jens Katzek, mit dem ich sehr guten Kontakt habe, als Kronzeugen zu bemühen, das halte ich nun wirklich für nicht ganz sauber und in Ordnung.Worauf es mir ankommt und was ganz wichtig ist: Was durch diesen Antrag ebenfalls erreicht werden muß, ist, daß die Kennzeichnung endlich kommt. Man kann darüber reden, soviel man will: Eine Umfrage, die im letzten Oktober oder November durchgeführt wurde, hat ergeben, daß über 90 Prozent der Verbraucher eine klare Kennzeichnung wollen. Das müssen wir ihnen letztendlich auch bieten; wir haben eine Verpflichtung dazu. Die Industrie tut sich und auch wir tun uns nicht weh, wenn wir diesem Wunsch nachkommen und die Kennzeichnung einführen, so daß die Verbraucher entscheiden können.Kollege Heinrich, das ist dann auch für die Landwirtschaft von Bedeutung. Es gibt genügend Bauern - speziell solche in Gebieten mit kleinbäuerlich strukturierter Landwirtschaft -, die sich intensiv darum bemühen, den Verbraucherwünschen nachzukommen. Wenn Verbraucher zu ihnen kommen und sagen: „Ich will von dir garantiert bekommen, daß du kein gentechnisch verändertes Futter verfüttert hast" , dann möchte der Bauer diese Bestätigung gern geben können. Deswegen braucht er auch eine Deklarierung des Sojaschrots im Futter. Das müssen wir ermöglichen; das muß gemacht werden. Das gehört zum ehrlichen Umgang mit einer solchen Technik. Darum geht es, und nicht um Feindschaft oder Gegnerschaft gegenüber der Gentechnik.
Mein Wunsch ist, daß das Ergebnis dieser Debatte ist, daß wir darüber Einigkeit erzielen und daß wir diese Kennzeichnung hinbekommen, so daß jeder weiß, ob er ein gentechnisch verändertes Produkt oder kein gentechnisch verändertes Produkt kauft. Wir werden dann ganz schnell sehen, wie sich der wirtschaftliche Erfolg darstellt. Man muß Personen, die das nicht wollen - es gibt Verbraucher, die das aus ethischen Gründen ablehnen -, die Chance
Metadaten/Kopzeile:
20046 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Februar 1998
Matthias Weisheitgeben, daß sie im Laden das kaufen können, was sie haben wollen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Einsatz der Gentechnik und anderer neuartiger biotechnologischer Verfahren in der Lebensmittelproduktion; Drucksache 13/6872. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1549 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Regierungskoalition gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung aus der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10a und 10 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 13/4796 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/9856 - Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Röttgen Ludwig Stiegler
Detlef Kleinert
c) Beratung des zweiten Zwischenberichts der Enquete-Kommission Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. Dezember 1995
zum Thema
Neue Medien und Urheberrecht - Drucksachen 13/3219, 13/8110 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich bitte die Damen und Herren Abgeordneten, entweder schnell den Saal zu verlassen oder sich ruhig zu verhalten, damit wir unserem ersten Redner zuhören können. Es ist dies der Abgeordnete Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Änderung des Urheberrechtsgesetzes, die wir heute nach langwierigen, aber sehr sorgfältigen Diskussionen und Erörterungen zum Abschluß bringen wollen, verfolgt zwei Ziele: Zum einen geht es darum, den europäischen Binnenmarkt auf dem Gebiet des Rundfunks herzustellen. Der Einrichtung eines solchen Binnenmarktes stehen unterschiedliche nationale Regelungen entgegen, die rechtliche Grenzen für den angestrebten Binnenmarkt auf dem Gebiet des Rundfunks darstellen. Zu diesen unterschiedlichen rechtlichen Regelungen zählen auch die unterschiedlichen Urheberrechte in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Darum dient das Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, das wir heute verabschieden werden, dazu, eine europäische Richtlinie umzusetzen, die wiederum Teil eines Harmonisierungsprogramms in dem Bereich der Rundfunkfreiheit im europäischen Binnenmarkt darstellt. Es geht also darum, den Binnenmarkt auf diesem Gebiet herzustellen, und das wird durch dieses Gesetz geschehen, indem die Richtlinie umgesetzt wird.
Das Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes geht allerdings in einer wichtigen Frage über die Umsetzung der Richtlinie hinaus. Es geht dabei um die Regelung der Vergütung der Urheber für die Kabelweitersendung ihrer Werke. Damit geht es um ein Kernanliegen des Urheberrechts, und zwar sowohl in der Bedeutung des Urheberrechts als Wirtschaftsrecht wie auch in der Bedeutung als Kulturrecht. Beide Bedeutungen sind angesprochen. Es geht darum, die Teilhabe der schöpferisch tätigen Urheber am wirtschaftlichen Erfolg ihrer Werke sicherzustellen.
Sie alle kennen die ,,Feuerzangenbowle", einen Roman, der mehrfach verwertet worden ist. Die meisten kennen ihn in der Verfilmung mit Heinz Rühmann. Es ist ein Roman, der außergewöhnlich erfolgreich war, der mehrfach verfilmt worden ist, der Millionen, vielleicht Hunderte Millionen DM eingebracht hat. Der Autor des Romans hat für 5 000 Reichsmark alle Filmrechte auf einen Schlag verkauft. Damit hat er am wirtschaftlichen Erfolg seines eigenen Werkes nicht teilhaben können.
Diese Situation ist nicht nur historisch, sondern auch heute noch zu befürchten. Es braucht auch heute noch Schutzmechanismen, die die Urheber vor dem Ausverkauf ihrer Rechte zu einem Zeitpunkt schützen, zu dem sie den wirtschaftlichen Erfolg ihres Werkes gar nicht absehen können. Zu diesem Zeitpunkt sind sie in der Situation, daß die wenigen starken Sendeanstalten sagen können: Friß oder stirb; wenn du mit uns ins Geschäft kommen möchtest, dann mußt du uns alle Rechte verkaufen. Dann ist für einen Apfel und ein Ei alles weg. In vielen Fällen werden wirtschaftlich erfolgreiche Werke verkauft. Derjenige, der die schöpferische Leistung erbracht hat, geht leer aus.
Norbert Röttgen
Es ist ein wesentliches, wichtiges Anliegen dieses Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, hier einen Schutzmechanismus einzubauen. Er ist nötig, weil die Marktbeteiligten eine völlig unterschiedliche Marktstärke haben. Wenige Sender als Nachfrager haben eine starke Macht gegenüber einer Vielzahl von einzelnen Anbietern, von einzelnen Autoren. Darum sind wir der Auffassung, daß es sowohl ein ordnungspolitisches Gebot ist, Bedingungen herzustellen, die ein Funktionieren des Marktes ermöglichen, als auch ein kulturpolitisches Gebot, damit diejenigen, die schöpferisch tätig sind, eine wirtschaftliche Grundlage für ihre Tätigkeit haben. Auch die Künstler leben nicht vom Brot allein. Aber ganz ohne Brot lebt es sich auch für Künstler schlecht. Darum ist es richtig, hier eine wirtschaftliche Grundlage zu schaffen.
Deutschland hat nicht nur ein Interesse daran, ein guter Wirtschaftsstandort zu sein, sondern wir wollen auch ein Kulturstandort sein. Dafür müssen wir auch eine Rahmengesetzgebung schaffen.
Das Ordnungsziel, das ich gerade beschrieben habe, wird mit dem Änderungsgesetz erreicht. Der Mechanismus dafür besteht darin, daß die Vorausabtretung des Vergütungsanspruches, also die Abtretung zu einem Zeitpunkt, zu dem der wirtschaftliche Erfolg ungewiß ist, nur an eine Verwertungsgesellschaft erfolgen kann, die kollektiv die Rechte wahrnimmt und darum waffengleich und marktstark auch gegenüber den Sendeanstalten ist. Gemeinsam ist man stark. Das gilt auch und gerade im Urheberrecht.
Es ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz aufgenommen worden, auch im Rahmen der parlamentarischen Beratungen, und zwar die Öffnung für betriebliche Vereinbarungen, für tarifvertragliche Regelungen. Auch das ist eine kollektive Regelung, wenn die Gewerkschaften und der Betriebsrat sich hier der Interessen und Rechte der Urheber, der Angestellten annehmen. Ich persönlich glaube, daß das praktisch nicht sehr relevant sein wird. Aber es ist auch hier sichergestellt, daß, wenn auf eine solche Weise eine kollektive Rechtewahrnehmung erfolgt, eine angemessene Vergütung für jede einzelne Kabelweitersendung erfolgen muß.
Es bleibt dabei: Die Urheber werden durch die kollektive Rechtewahrnehmung geschützt, weil sie schutzbedürftig sind. Insofern ist dieser Gesetzentwurf wirklich bedeutsam. Er setzt die entsprechende europäische Richtlinie um. Er ist ein wesentlicher Beitrag für die Ausgestaltung des Binnenmarkts auf dem Gebiet des Rundfunks. Er stärkt die Urheber. Er realisiert einen weiteren Teil des fundamentalen Anspruchs des Urheberrechtes, indem diejenigen, die schöpferisch tätig sind, an ihren kreativen Ergebnissen auch wirtschaftlich teilhaben. Darum ist dies für die Urheber und für den Kulturstandort Deutschland ein gutes Gesetz und ein großer Fortschritt, der ja auch in großem Konsens während der Beratung ins-
besondere im Rechtsausschuß verabschiedet worden ist.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Röttgen hat soeben geschildert, was wir zwar in edler Eintracht, aber in langer Zeit beraten haben. Im Bunde war ein Dritter, nämlich Herr Kleinert. Wir haben uns in der Sache am Ende nicht mehr gestritten. Daß es so lange gedauert hat, - im Hause des Vaters ist über einen reuigen Sünder mehr Freude als über hundert Gerechte. Insofern sei Ihnen das verziehen.
Der Gesetzentwurf ist ausreichend beschrieben worden. Deshalb kann ich mich auf die weitere Perspektive konzentrieren. Sie wissen, zur Beratung steht auch der Bericht der Enquete-Kommission. Auch diesen Bericht haben wir am Ende einmütig verarbeitet. Aber dieser Bericht ist längst noch nicht umgesetzt. Auch das, was Kollege Röttgen beschrieben hat, ist natürlich in diesem Gesetzentwurf nur zu einem kleinen Teil verwirklicht worden. Ich komme im weiteren Zusammenhang darauf zurück.
Wir müssen uns klarmachen: Die neuen Medien sind eine enorme Herausforderung an das Urheberrecht. Die Möglichkeiten der Nutzung, des Mißbrauchs und der Räuberei haben sich extrem ausgeweitet. Das digitale Zeitalter stellt das Urheberrecht vor völlig neue Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. In dieser Zeit brauchen wir einen adäquaten Rechtsschutz für die Autorinnen und Autoren.
Wenn wir daran nicht arbeiten, werden am Ende auf der digitalen Autobahn nicht Inhalte fahren, sondern irgendwelcher Schrott, Werbesendungen, „spam-mails" oder was auch immer. Wir müssen dafür sorgen, daß hier die Urheberrechte gerade im digitalen Zeitalter verwirklicht werden.
Hier müssen wir auch das Verhältnis von Verwerter zu Urheber überdenken. Es besteht eine erhebliche Erweiterung der Verwertungsmöglichkeit. Es ist für den Urheber fast unüberschaubar, wie seine Rechte verwertet werden. Es gibt eine Menge Gefährdungen. Es bestehen auch Abhängigkeiten. Wir haben eine enorme Konzentration in der Medienwirtschaft. Der einzelne steht immer größeren Konglomeraten gegenüber. Die Kaskade der Verwertung von Drehbüchern, Filmen und Musik sowie Sponsoringverträgen und sonstigen Möglichkeiten, die es gibt, wird immer größer. Die Verwertungsmöglichkeiten wachsen ganz enorm. Der einzelne kann das kaum
Ludwig Stiegler
mehr überblicken und kann kaum mehr sehen, wie er hier zurechtkommt.
Ich sehe eine besondere Gefährdung im Urheberpersönlichkeitsrecht. Heinrich Böll hat einmal beschrieben, daß die Autoren „verwurstet" werden, daß also über Sampling und andere Methoden immer kleinere Stücke aus Werken zusammengehäckselt werden, so daß neue Werke entstehen und sich der einzelne vor Entstellung seines Werkes nicht mehr schützen kann. So wird der einzelne zum Beispiel im Abspann eines Films oder am Ende einer Veranstaltung gar nicht mehr zur Geltung gebracht, obwohl auch er zur Entstehung dieses Films bzw. dieser Veranstaltung beigetragen hat. Auch die Autorinnen und Autoren leben davon, daß sie anerkannt werden.
Hier sehe ich eine der Hauptgefahren, da das angloamerikanische Recht das Urheberpersönlichkeitsrecht nicht kennt. Dort herrscht ein anderes Recht vor, das Copyright, bei dem im Grunde nur der Verwerter bzw. der Verleger im Mittelpunkt steht und nicht der einzelne Autor oder die einzelne Autorin.
Wir werden uns in der kommenden Legislaturperiode damit befassen müssen, wie wir die Rechte der einzelnen Autorinnen und Autoren an ihrem Werk, unbeschadet der materiellen Verwertungsmöglichkeiten, schützen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist das Urhebervertragsrecht. Der Bundestag verspricht der Branche seit der ersten großen Urheberrechtsreform im Jahre 1965 ein Urhebervertragsrecht. Wir haben mehrere Entschließungen im Parlament verabschiedet, haben es aber bisher im Grunde nicht geschafft, ein Urhebervertragsrecht zu beschließen, ein Vertragsrecht, das den einzelnen Autorinnen und Autoren Rechte gibt, die sie zu adäquaten Verhandlungspartnern gegenüber der nachfragemächtigen anderen Seite machen.
Wir haben jetzt zwei kleine Schritte gemacht. Mit dem jüngsten Gesetz über das Vermiet- und Verleihrecht und dem Gesetz über die Kabelweitersendung haben wir verhindert, daß die Autorinnen und Autoren ihre Rechte für ein Linsengericht hergeben. Man wird wirklich an diese Bibelstelle erinnert, wenn man die Praxis der Buy-out-Verträge bei den Sendern, aber auch bei den Verlagen studiert: Man bekommt schnell etwas Geld und ist dann abgespeist. Wir haben aber die Idee, daß durch das Urheberrecht für die Schutzdauer des Urheberrechts, also für 70 Jahre, nicht nur der Autor selbst, sondern auch seine Familie an den Erträgen seiner Werke beteiligt werden soll. Jeder Buy-out-Vertrag verwandelt unser Urheberrecht mehr oder weniger in ein Copyright nach amerikanischem Muster.
Jetzt kommt es darauf an, daß wir diese zwei Schritte, die wir gegangen sind, in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen und wirklich zu einem echten Urhebervertragsrecht kommen.
Das verhindert den Ausverkauf der Autorinnen und Autoren.
Gerade im Online-Zeitalter gibt es aber noch eine ganze Reihe anderer Regelungsnotwendigkeiten. Wir stehen vor der Aufgabe, die neuen Abkommen, die bei der Internationalen Vereinigung über den Schutz des geistigen Eigentums im Dezember 1996 abgeschlossen worden sind, zu ratifizieren und in nationales Recht umzusetzen.
Hier stehen, nebenbei gesagt, auch erhebliche Interessen etwa der phonographischen Industrie auf dem Spiel. Wenn es nicht gelingt, etwa das Kopierrecht im Internet anständig zu regeln, dann wird die phonographische Industrie wenig Chancen haben, ihre Investitionen und damit auch die beteiligten Komponisten, Sänger und Leistungsschutzberechtigten entsprechend zu bedienen. Es kommt darauf an, daß wir möglichst schnell die notwendigen Weichen stellen.
Meine Damen und Herren, wir haben also ein großes Arbeitspaket vor uns. Meine Bitte und die Bitte der Enquete-Kommission an das Justizministerium ist, daß die Rechtstatsachenforschung in diesem Bereich vorangetrieben wird. Das Justizministerium ist, was das Urheberrecht anbetrifft, ausgedünnt. Es wurde sehr viel an internationale Organisationen abgegeben. Das ist nicht etwa eine Kritik am Ministerium; das ist anerkennend gemeint. Hier zeigt sich die Qualität der Beamten. Sie sind eben auch international gefragt. Hier wäre es notwendig, für das Recht des digitalen Zeitalters die notwendigen Ressourcen herzustellen.
Im Grunde haben wir im Urheberrecht das Arbeitsrecht des digitalen Zeitalters vor uns. Das Tarifrecht, das nur aktuell für die Zeit der Beschäftigung oder die Zeit der freien Mitarbeit wirkt, ist nicht geeignet, alle Rechte der Autorinnen oder Autoren zu regeln; denn das Urheberrecht reicht in seiner Geltung über die Zeit der Beschäftigung hinaus. Es ist also notwendig, die entsprechenden Rechtstatsachen zu schaffen.
Es gibt jetzt eine hervorragende Festschrift für Schricker, die vom Max-Planck-Institut erstellt worden ist. Es gibt das Gutachten, daß das Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben hat. Herr Staatssekretär, ich schlage vor - da sind Herr Kleinert, Herr Röttgen und ich uns einig -, die Fähigkeiten der Institute und der Experten außerhalb des Hauses zu nutzen, die man auf Zeit durchaus mit bestimmten Projekten beauftragen, quasi „outsourcen" kann, wenn es denn durch die Personalpolitik des Bundesfinanzministers nicht gelingt, das Referat entsprechend aufzustocken. Es ist wirklich wichtig, daß wir sowohl die Harmonisierung in Europa vorantreiben als auch die notwendigen Tatsachenfeststellungen treffen, damit wir in der kommenden Legislaturperio-
Ludwig Stiegler
de für das Recht der Autorinnen und Autoren die adäquaten Rahmenbedingungen schaffen können.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist eine der seltenen Stunden in diesem Parlament, in der sich alle Parteien einig sind: Diesem Gesetzentwurf haben in den parlamentarischen Ausschußberatungen alle zugestimmt. Es ist völlig richtig, daß die Rechte der Autoren mit diesem Gesetzentwurf gestärkt werden. Man muß aber dazusagen, daß es noch viel zu tun gibt. Die Fraktionen sind sich nach dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission weitgehend einig, was zu tun ist, wo Regelungsbedarf besteht und was erst in der nächsten Legislaturperiode angepackt werden kann.
Ich glaube deshalb, daß es sinnvoller ist, zu streiten, als sich in Einigkeit zu ergehen. Auch angesichts der späten Stunde mache ich es deshalb sehr kurz: Wir werden diesem Gesetzentwurf - wie im Ausschuß - zustimmen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Kleinert, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Schlauch hat ein leuchtendes Beispiel gegeben, wie ich mich hier verhalten sollte. Ich fürchte, ich bin dem nicht so ganz gewachsen.
Zu dem, was Herr Stiegler gesagt hat: Wir sind uns bei der Weiterverbreitung urheberrechtlicher Leistungen über Kabel in dem Punkt einig, daß eine neue Geldquelle angeschlagen wird. Das ist an sich die Methode des Bundesfinanzministers. Egal wie, Hauptsache, man findet irgendwie ein Rohr, an dem man noch einen Zapfhahn ansetzen kann, damit man noch zu mehr Einnahmen kommt.
Unter diesen Umständen wollten wir uns der Sache nicht so gern nähern. Deshalb hat es auch etwas länger gedauert, wie Sie wissen, Herr Stiegler.
Wir haben versucht, zu begreifen - und möglichst zutreffend zu regeln -, was Sinn der Sache ist: Da, wo der Künstler Umsatz und Gewinn für ganz andere Leute ermöglicht - für Fernsehanstalten, für Rundfunkanstalten, Zeitungsverlage usw. -, die dann davon profitieren, wollen wir ihn beteiligen. Bei der
Weiterleitung durch Kabel entsteht in dem Augenblick, in dem ein zusätzlicher Umsatz geschaffen wird - an dem, so möchte man den Unternehmern wünschen, auch ein Gewinn hängt -, die Notwendigkeit, daß der Künstler, der dazu beigetragen hat, an diesem Gewinn beteiligt wird. Das ist richtig. Das haben wir hier auch richtig geregelt, aber eben punktuell.
Daß Sie, Herr Stiegler, eben auf die Aufgaben der Zukunft in diesem Bereich aufmerksam gemacht haben, ist nur ein Baustein des richtigen Denkvorgangs. Wir finden in dem Gesetzentwurf nämlich auch eine Widersprüchlichkeit: Wenn ich mit dem, was ich über den Ursprung dieser Beteiligungspflicht zu sagen versucht habe, recht habe - daß der Künstler nämlich nur da, wo ein zusätzlicher Umsatz- und Gewinnvorgang stattfindet, zu beteiligen ist -, dann haben wir uns bei der Regelung betreffend die Hausantennen schon verhältnismäßig unlogisch und sowieso unklar verhalten. Sowohl das, was uns der Wirtschaftsausschuß mit auf den Weg gegeben hat, als auch das, was wir selbst über die Gemeinschaftsantennen an größeren Wohnblocks hineingeschrieben haben, zeichnet sich nicht durch besondere Klarheit aus. Wenn man erst den Eindruck haben kann, es handele sich um ein ganz kleines Haus, dann aber auf einmal auf Grund des Klammervermerks feststellt, daß es auch mehrere Treppenaufgänge oder Übergänge zu anderen Häuserblocks geben kann und es lediglich auf die gemeinsame Verwaltung ankommt - da fällt mir, um einmal etwas Gehässiges zu sagen, die Neue Heimat ein -, dann gibt das rechtlich natürlich überhaupt nichts her.
Wir werden also dieses Stück, das wir heute gemeinsam verabschieden wollen, als einen Baustein und insbesondere in seiner Vorbereitung als eine Hilfe zum weiteren Nachdenken zu betrachten haben, wie wir das, was des Künstlers ist, sorgfältig auf allen Ebenen trennen. Für mich sind Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen als Hilfe für die Künstler besonders uninteressant. Ich kann mir das alles nicht so vorstellen. Wir gucken da einmal hin, und dann werden wir es sehen. - Das ist ein bekannter Spruch!
Ich glaube, es wird ein Beitrag für eine umfassende Regelung sein. Der Urheber soll an der Wertschöpfung so lange beteiligt werden - das haben auch Sie gesagt -, wie noch Einnahmen fließen. Das kann nicht in die Ewigkeit gehen. Die späteren Enkel haben ja ansonsten auch nicht mehr sehr viel Respekt vor ihrem Urahn. Warum sollen sie dann soviel Kohle einnehmen?
Aber solange da noch eine Verbindung besteht, soll das, was der Künstler - auch an wirtschaftlichem Gut - geschaffen hat, ihm und seinen Erben zugute kommen. Das ist nur punktuell angesprochen und kann nur Sinn machen, wenn wir es in ein Gesamtbild fas-
Detlef Kleinert
sen und die vielen Ungereimtheiten, die gerade am heutigen Vorgang deutlich werden, in Zukunft beseitigen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt, PDS.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schöpferische Leistungen als Voraussetzung für produktive gesellschaftliche Kommunikation und für kulturelle Entwicklung der Gesellschaft müssen angemessen gewürdigt und geschützt werden. Die wirtschaftliche Verwertung schöpferischer Leistung kann nur diesem Ziel untergeordnet sein. Es ist deshalb für uns nicht akzeptabel - wir teilen die während der Anhörung der Enquete-Kommission geäußerte Verwunderung der IG-Medien -, daß ökonomische Effizienz das erste Ziel und die Beseitigung von Hindernissen für die wirtschaftliche Verwertung die erste Aufgabe der weiteren Gestaltung des Urheberrechts sein soll.
Im vorliegenden zweiten Zwischenbericht der Enquete-Kommission wird der sogenannte Zielkonflikt zwischen Herstellung und Nutzung von Informationsgütern zum fundamentalen Dilemma hochstilisiert. Dabei wird der in der Urheberrechtspraxis zu konstatierende grundlegende soziale Widerspruch zwischen den Verwertern und den denen gegenüber in der übergroßen Mehrheit schwächeren, existentiell auf effektiven Schutz angewiesenen Urhebern in den Hintergrund gedrängt. Insgesamt bleibt festzustellen, daß dieser Zwischenbericht mit seiner politischen und sozialen Frontstellung nicht die Zustimmung der PDS-Bundestagsgruppe findet.
Wir sind der Meinung - übrigens wieder in Übereinstimmung mit der IG-Medien und dem Deutschen Journalistenverband -, daß es Zeit wird, die seit nunmehr fast viereinhalb Jahren vorliegende EU-Richtlinie in das Urheberrecht der Bundesrepublik Deutschland einzuarbeiten. Wir meinen, daß insgesamt eine akzeptable Regelung zum besseren Schutz der Urheber und ausübenden Künstler im Fall der Kabelweitersendung im Inland zustande gekommen ist.
Vor allem die Privatsender haben sich in dieser Hinsicht bisher beharrlich jeglicher tarifvertraglicher Regelung der Urheberrechte verschlossen. Sie lassen sich - gegen Zahlung eines einzelnen Honorars - generell alle Vergütungsansprüche abtreten. Aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist es zum Teil so, daß von den Erlösen der Kabelweitersendung nichts an die Urheber und Leistungsschutzberechtigten geht.
Es ist richtig und notwendig, daß die Ausgestaltung des Vergütungsanspruches bei der Kabelweiterverbreitung in § 20b des Urheberrechtsgesetzes als unverzichtbarer Anspruch geregelt ist. Nur auf diesem Wege ist zu gewährleisten, daß die Urheber und die ausübenden Künstler am Erfolg ihrer Leistung
teilhaben und dabei ihre im Verhältnis zu dem Sendeunternehmen objektiv schwächere Position kompensiert wird.
Hinsichtlich des Problems der Gemeinschaftsantennen ist eine urheberrechtliche Freistellung grundsätzlich auch gesetzlich zu verankern, da die Gemeinschaftsantennen in aller Regel lediglich die Funktion von Einzelantennen übernehmen, eben in gemeinschaftlicher Form ohne kommerziellen Charakter.
Da die in der vorliegenden Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses gegebene Definition einer auf nachbarschaftliche Verhältnisse beschränkten Gemeinschaftsantennensituation für den Status quo im Osten dieses Landes problematisch werden kann, haben wir uns trotz der Zustimmung unseres Kollegen im Rechtsausschuß entschlossen, nur mit einer Enthaltung zu reagieren. Die Formulierung des Kollegen Kleinert von vorhin hat meine Besorgnis noch einmal verstärkt. Ich persönlich halte nicht allzuviel von Regelungen, bei denen man nachkarten will.
Kollege Kleinert: entweder ganz oder gar nicht. Ansonsten ist diese Änderung mehrheitlich zustimmungsfähig. Aber diese Feinheit hätte man noch hineinbringen sollen.
Danke schön.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, daß wir hier hinsichtlich der Umsetzung dieser Richtlinie weitestgehend einig sind. Wir haben dazu lange gebraucht, Herr Kollege Stiegler. Wir haben auch lange miteinander gerungen. Das mag jetzt Geschichte sein.
Wir haben gerungen, weil natürlich ein Interessenausgleich zwischen den Urhebern auf der einen Seite, den Autoren, und den Veranstaltern auf der anderen Seite, zum Beispiel den Fernsehanstalten, vorzunehmen war. Dort, wo wirtschaftlich unterschiedliche Interessenlagen sind, braucht man manchmal etwas längere Zeit, um diese wirtschaftlichen Interessen miteinander auszutarieren. Ich bin froh, daß dies in langen Gesprächen nunmehr gelungen ist und das Ziel der Richtlinie erreicht ist, einen gemeinsamen Markt für die Veranstalter und Empfänger von Rundfunkprogrammen zu schaffen. Dazu sollen die ausschließlichen Rechte der Satellitensendung und der grenzüberschreitenden Kabelweitersendung angeglichen werden.
Bei der Satellitensendung findet die urheberrechtlich relevante Nutzungshandlung ausschließlich in dem Mitgliedstaat statt, in dem die programmtragenden Signale in eine ununterbrochene Kommunikationskette eingegeben werden. Allein in diesem Mit-
Parl. Staatssekretär Rainer Funke
gliedstaat kann die Sendung - ich beziehe das auf das Urheberrecht - erlaubt und verboten werden. Dies schafft nun endlich auch Rechtsklarheit und erleichtert den Rechteerwerb ganz erheblich.
Die Geltendmachung des Rechts zur Kabelweitersendung ist einer Verwertungsgesellschaft vorbehalten. Dies erleichtert den Abschluß von Verträgen, da der Nutzer es nur mit einer Verwertungsgesellschaft und nicht mit einer Vielzahl von Urhebern zu tun hat.
Die Punkte, die noch im Ergebnis streitig geblieben sind, haben die Kollegen Röttgen und Stiegler schon hinreichend ausgeführt, so daß ich im einzelnen darauf nicht einzugehen brauche.
Die Enquete-Kommission hat wichtige Arbeit geleistet. Ich glaube, sie hat unter der Leitung ihres Vorsitzenden Mosdorf sehr effektiv gearbeitet. Dafür sollten wir auch an dieser Stelle herzlichen Dank sagen. Es ist nicht selbstverständlich, daß eine Enquete-Kommission so intensiv arbeitet.
Sie hat deutlich gemacht, daß zur Anpassung des Urheberrechtes noch einiges zu tun ist. Sie haben zu Recht auf die Empfehlung des Gutachtens des MaxPlanck-Institutes hingewiesen. Es sind eine Reihe von wichtigen Berichten für künftige Gesetzgebungsarbeiten vorgelegt worden. Einige Empfehlungen werden schon im Zusammenhang mit der anstehenden Umsetzung der Ende 1996 im Rahmen der WIPO ausgehandelten Verträge über die Rechte der Urheber sowie über die Rechte der ausübenden Künstler und der Tonträgerhersteller aufgegriffen.
Herr Kollege Stiegler, Sie haben zu Recht die schwierige Personalsituation gerade in diesem Referatsbereich unseres Hauses angesprochen. Sie wissen, daß das Bundesjustizministerium die Urheberrechte immer auch als wesentliche Eigentumsrechte verstanden hat. Sie wissen ferner - das ist, so glaube ich, auch im Interesse des gesamten Hauses -, daß wir diese Urheberrechte immer ganz besonders geschützt haben. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Ich bin dankbar, daß Sie hier auf diese Personalsituation hingewiesen haben. Vielleicht haben wir es dadurch bei der Frau Kollegin Albowitz etwas leichter, die notwendigen Personalstellen zu bekommen.
- Ich glaube, ein gewisser öffentlicher Druck, um Personalstellen zu bekommen, kann nicht schaden, Herr Kollege Kleinert.
Was die Umsetzung gerade im digitalen Zeitalter angeht, haben wir eine Reihe von ganz neuen Aufgaben im Urheberrecht. Ich wäre dankbar, wenn Sie diese Arbeit mit unterstützen würden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes auf den Drucksachen 13/4796 und 13/9856. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS mit den Stimmen des Hauses im übrigen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Mehrheitsverhältnissen wie vorhin angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/8110 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. .
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 13/9695 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rezzo Schlauch, Margareta Wolf , Christa Nickels und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drittes Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 13/8907 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Der Kollege Börnsen betritt soeben zu unser aller Freude den Plenarsaal und hat das Wort.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
- Sie können auch einmal meine Brille probieren.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten meine Brille genommen - ich bin zwar jetzt Präsident, aber auch Sozialdemokrat - und Sie als Vertreter der Mehrheitsfraktion hätten durch die Brille der Opposition Ihr Manuskript gelesen!
Ich hätte auch Ihre Brille nehmen können. Ob mir nun die Brille von den Freien Demokraten oder die Brille des Präsidenten und damit die Brille eines Sozialdemokraten Scharfblick verschafft, wollen wir einmal abwarten. Vielleicht kann ich sie zur Hälfte meiner Rede wechseln, um zu sehen, mit welcher es besser geht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Eine Legende kehrt zurück" , heißt es in der Ankündigung des neuen Erfolgsfilmes „Comedian Harmonists". In diesen Tagen wird er über zwei Millionen Besucher erreichen. Das ist ein weiteres Beispiel für den anhaltenden Kinoboom in der Bundesrepublik Deutschland. Begabte Regisseurinnen und Regisseure, hochtalentierte Schauspielerinnen und Schauspieler, engagierte Produzenten und durchweg qualifizierte Filmschaffende sind die Grundlage dafür, daß der Film bei uns in Deutschland wieder und weiter Furore macht.
Die Behauptung vom Ende des Films in Deutschland bleibt eine Legende. Wir erleben eine anhaltende Renaissance des Kinos. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: 1996 wurden sechs deutsche Kinofilme sozusagen Besuchermillionäre. 1997 waren es bereits sieben. Schon am Anfang des Jahres 1998 haben wir zwei weitere sogenannte Besuchermillionäre. 35 Millionen Besucher haben diesen Boom der 15 Besten bewirkt, der insgesamt mit immerhin 35 Millionen DM gefördert wurde. Die dafür eingesetzten 22 Millionen DM allein an Referenzfilmförderung müssen nach den Grundlagen des Filmförderungsgesetzes in Investitionen in neue Filme umgesetzt werden: Kontinuität durch Erfolg, Erfolg durch Kontinuität.
Betrug der Marktanteil des deutschen Films 1996 bereits 16 Prozent, stieg er im vergangenen Jahr auf 17,3 Prozent an. Parallel zu dem packenden Push für den deutschen Film sind drei bemerkenswerte Kinorekorde festzustellen. Solche hat es in den letzten 20 Jahren nicht gegeben:
Über 143 Millionen Kinobesucher im Jahr 1997. Diese Zahl hatten wir das letzte Mal vor 20 Jahren. Fast 1,5 Milliarden DM Umsatz der deutschen Filmtheater. Das ist gegenüber 1996 ein Plus von über 11 Prozent. Mehr als 800 Millionen DM wurden im vergangenen Jahr in neue Kinocenter, vor allem in
Multiplex-Paläste investiert. Allein dadurch wurden 3 000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
Trotz der Macht der neuen Medien blickt die Kinobranche mit Optimismus und Risikobereitschaft in die Zukunft. Sie eröffnet Jahr für Jahr 300 und mehr neue Kinosäle. Es kommt zu einem Anstieg der Zahl von Kinos in fast ungeahnte Höhen.
Vor diesem Hintergrund erfolgt die Novellierung des Filmförderungsgesetzes. Darin eingeschlossen ist eine Strukturreform der Filmförderungsanstalt. Das bisherige FFG liefe - würden wir nicht handeln - zum Jahresende aus. Dann wäre Schluß mit der nationalen, standortunabhängigen, erfolgreichen Förderung des Wirtschaftsgutes Film. Dann wäre auch Schluß mit dem jährlichen Förderbeitrag von über 75 Millionen DM.
Damit wäre ein Modell zu Ende, das auf einem beispielhaften Selbsthilfegedanken beruht, nämlich: Wer am und vom Film profitiert, soll sich auch an dessen Förderung beteiligen, das heißt, die Filmnutzer haben auch die Filmförderer zu sein.
Leider hat dieser Gedanke nur bis zum Beginn der 90er Jahre Bestand gehabt. Die Videowirtschaft stieg aus, brach diesen Pakt, klagte gegen das Gesetz und verlor zweimal. Einen Abschluß des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht wird es noch in diesem Jahr geben.
Auch schlechte Beispiele machen Schule. Die privaten Fernsehsender sahen sich nicht mehr zur Solidarität genötigt, zumal die Länder in der Zwischenzeit Glanz, Glorie und vieles mehr des Films entdeckt hatten und als Lizenzvergeber das Fernsehen zur Filmabgabe anhielten, und dies mit Erfolg.
Gut 17 Millionen DM machte der Beitrag der Bundesländer 1997 für den Film aus, doch 50 Prozent - das muß man auch sagen - gingen davon in die Fernsehförderung zurück. Die anderen 50 Prozent haben weitgehend dem Standortbezug zu genügen und können nicht so unabhängig vergeben werden, wie es wünschenswert wäre.
Die Union begrüßt die Filmförderbereitschaft der Bundesländer. Diese trägt mit zur Stärkung des Filmstandortes Deutschland bei. Wenig hilfreich war allerdings die Einlassung, besonders von Nordrhein-Westfalen und Bayern, eine Pflichtabgabe der Sender zur Förderung des Filmes in Frage zu stellen.
Zwar stützt man damit den Gedanken der Union - sowenig Reglementierung wie möglich, soviel Freiwilligkeit wie nötig -, doch wurde so der Verhandlungsspielraum für die Bundesregierung eingeschränkt und die Mitwirkungsbereitschaft derer auf die Probe gestellt, die sich der Solidarität der Mitfinanzierung bisher nicht entzogen hatten.
Bricht ein Brückenpfeiler der Finanzierung weg, so zum Beispiel die Filmabgabe, ist grundsätzlich die gesamte Filmförderung gefährdet. Zweimal hat es in den vergangenen zwölf Monaten eine krisenhafte Si-
Wolfgang Börnsen
tuation um den Bestand der FFA in Berlin gegeben. Jetzt ist ihre Zukunft gewährleistet.
Nur mit nachhaltigen Förderbeiträgen lassen sich wirkliche Erfolge erzielen. Die Förderung der vergangenen Jahre hat die Bundesrepublik nach Frankreich in Europa zum Filmland Nr. 2 werden lassen. 250 Millionen DM werden in diesem Jahr in Deutschland vom Bund und den Ländern gemeinsam mit der Filmwirtschaft für den Kinofilm und seinen Unterbau, für die Anschubfinanzierung, die Ausbildung, die Absatz- und Abspielförderung ausgegeben. Auch die Eurimages, die europäische Komponente der Filmförderung, wird auf diese Weise gefördert.
Für den Medienstandort Deutschland ist der Film unverzichtbar. 300 neue deutsche Filme kommen pro Jahr auf den Markt. Allein die Videowirtschaft hat im letzten Jahr 1 000 Filme vorgestellt, die Fernsehsender insgesamt über 2 800 Filme in ihren Programmen in einem Jahr. Daß viele davon mit einem Millionenaufwand selbst produziert werden, soll ausdrücklich anerkannt werden. Unabhängig davon bleibt festzustellen: Das deutsche Fernsehen braucht den deutschen Film, wie auch der Film ohne das Fernsehen nicht mehr auskommt. Die deutliche Zuschauerresonanz ist ein Beleg dafür.
Doch nicht die Quantität allein ist entscheidend. Eine Förderung ohne Qualitätsanspruch kann es nicht geben,
auch deshalb, weil bei uns immer noch über 80 Prozent des Filmmarktes von US-Produktionen beherrscht werden.
Das hat die Union zu Beginn der Debatte um ein neues Filmförderungsgesetz in einem Neun-PunkteProgramm zur Stärkung des Filmstandortes klargestellt. Wir brauchen Qualität, wir brauchen Kontinuität, und wir brauchen - weil es den Film entsprechend ausmacht - Visibilität.
Der Film führt aus dem Alltag heraus, er ist ein Freizeitvergnügen mit Erlebnischarakter.
Das jetzt im Entwurf vorgelegte Filmförderungsgesetz enthält ganz eindeutig ein stärkeres Kulturprofil. Es baut die Produzenten-, Referenz- und Exportfilmförderung ebenso aus wie die Drehbuchförderung und die Funktion der Filmförderungsanstalt als Dienstleistungszentrale. Der Gesetzentwurf stabilisiert den Verwaltungsrat der FFA, das sogenannte Filmparlament, ohne Beschneidung seiner Aufgaben. Das wollen wir auch so. Es flexibilisiert die Filmweitergabe und fördert die Kooperation derer, die für den Film in Deutschland verantwortlich sind. Filmförderung aus einem Guß ist jetzt möglich.
Die kritisierte Zweckbindung von 25 Prozent der Beiträge der Fernsehsender ist filmorientiert ausgerichtet, sie ist gebunden an Dokumentationen, an Kinder- und Jugendfilme. Die Projektfilmförderung dominiert diesen Programmteil nachweislich. Wir wollen, daß Jungfilmer eine reale Chance erhalten. Deshalb plädieren wir für eine differenzierte Mittelvergabe, auch wenn sie von manchen als Reglementierung empfunden wird.
Viele bei dem großen Hearing zur Filmförderung vorgetragene Anregungen haben wir berücksichtigt, einige sind jetzt bei den anstehenden Ausschußberatungen noch aufzugreifen, ohne Gruppeninteressen zu entsprechen. Darüber sind wir uns über alle Fraktionsgrenzen hinaus ganz eindeutig klar.
Dazu gehört der Sachverhalt, daß sich deutsche Kinoerfolge noch nicht im Ausland verkaufen lassen, und die Überlegung, einen Filmbeauftragten der Regierung bzw. einen Filmbotschafter einzusetzen, um auf den Festivals überall in der Welt mit mehr Power präsent zu sein und die Filme weltweit zu vermarkten. Dazu gehört die Beobachtung, daß Hollywoodproduktionen mit Massenkopien einzelner Titel, mit massivem Werbeeinsatz den Auswertungsmarkt immer stärker beherrschen und es keine Gegenstrategien zu geben scheint.
Dazu gehört die erschreckende Tatsache, daß die Zahl der in Europa produzierten Filme ihren niedrigsten Stand seit 40 Jahren erreicht hat; allein England und Deutschland machen davon eine Ausnahme. Dazu gehört schließlich die Notwendigkeit, die Kapitalbasis für große Filme zu erweitern, privaten Investoren durch steuerliche Anreize eine Chance zu bieten, um den Produktionsstandort Deutschland zu optimieren.
Begrüßen - damit komme ich zum Ende - würde ich die Fortführung der bisher über die Fraktionen hinweg praktizierten Kooperation.
Eine Filmnovelle auf breiter parlamentarischer Grundlage wäre ein Gewinn für den Filmstandort Deutschland.
Ich bedanke mich, besonders auch für die Brille, Lisa.
Das Wort hat der Kollege Thomas Krüger, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der deutsche Film wie die deutsche Filmwirtschaft befinden sich im Aufwind. Mein Kollege Börnsen hat schon die notwendigen Fakten aufgezählt.
Die Erfolgsgeschichte des deutschen Films in den letzten Jahren spiegelt sich in einem gestiegenen Marktanteil wieder. 17 Prozent der deutschen Filme haben sich am Markt bewährt. Die steigende Anzahl von Kinobesuchern macht deutlich, daß wir es hier
Thomas Krüger
mit einem sehr interessanten und sehr expandierenden Wirtschaftsbereich zu tun haben. Es geht um den Medienstandort Deutschland.
Aber nicht nur um wirtschaftspolitische Aspekte geht es hier, sondern auch um kulturpolitische. Deshalb sollten wir Wert darauf legen, daß das Filmförderungsgesetz in seiner jetzigen Struktur, wenn wir es in den Ausschüssen beraten, auch unter diesem Gesichtspunkt geprüft wird. Denn es muß uns um die Verschränkung beider Dimensionen - erfolgreiche wirtschaftliche Filmförderung und kulturpolitische Anteile bei der Filmförderung - gehen.
Das 1992 novellierte Filmförderungsgesetz hat schon deutliche Verbesserungen gebracht. Ich weise hier vor allem auf die Referenzfilmförderung hin, die eine Art standortunabhängiger Faktor bei der Förderung des deutschen Films war. Aber der eigentliche Grund für den Push in den letzten Jahren sind die Länder gewesen, die sich hier engagieren, sehr viel Geld bereitstellen - das ist kein Abgabengeld, sondern Steuergeld - und dem deutschen Film maßgeblich aufhelfen. Ich darf auf den dem Präsidenten sehr gut bekannten Geschäftsführer der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, Dieter Kosslick, hinweisen, der von einer knallharten Standortpolitik gesprochen hat. Aber auch die Bayern lassen sich hier nichts nehmen. Wettbewerb zwischen den Ländern ist angesagt. Wir als diejenigen, die das Filmförderungsgesetz zu diskutieren haben, finden das durchaus legitim und gut.
Ausdrücklich sei auch auf das Engagement der Fernsehanbieter und der Videowirtschaft hingewiesen. Die Videowirtschaft operiert mit Verleihgarantien und unterstützt damit Produktionen. Auch das Fernsehen engagiert sich. Allerdings sehen wir mit etwas Skepsis, daß das private Fernsehen Zugriff auf Steuermittel hat und jetzt mit dem Einstieg in die Verwendung von 25 Prozent seiner Zahlungen für eigene Projekte versucht, seinen Einfluß auch auf Ab-gabenmittel, die über die Filmförderungsanstalt abgewickelt werden, zu steigern. Ich halte das für keine gute Politik.
Das Fernsehen betreibt eine kurzsichtige Politik, wenn es die anderen Branchen dominieren will.
Wir brauchen eine starke Fernsehwirtschaft, aber wir brauchen genauso starke unabhängige Produzenten, eine starke mittelständische Filmwirtschaft und auch eine gute Videowirtschaft.
Deshalb, meine ich, sollten wir die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß Synergie zwischen den verschiedenen Branchen möglich wird. Man darf auf die Strukturen in den Vereinigten Staaten von Amerika verweisen - dort ist der Film die zweitgrößte Exportbranche -, auf Frankreich, auch auf Großbritannien, die in den letzten Jahren für erhebliche Dynamik gesorgt haben.
Im Vorfeld dieser Gesetzesdiskussion gab es zum Teil geharnischte Kritik in den Feuilletons. Sie ist zum einen Teil durch Unkenntnis verursacht. Zum anderen Teil, was die Kritik an den Strategien der Fernsehwirtschaft betrifft, ist sie aber auch durchaus berechtigt.
Wir haben es im wesentlichen mit drei Problemen zu tun. Herr Kollege Börnsen hat darauf schon hingewiesen.
Zum einen: Die Bundesländer haben ein Interesse an Standortpolitik
- an der eigenen Standortpolitik -, und sie haben von daher unisono - man kann fast von einer Doppelblokkade sprechen; es geht hier ja nicht nur um Nordrhein-Westfalen, sondern auch um die Bayern - die gesetzliche Abgabe, die eigentlich das sinnvollere ordnungspolitische Instrument gewesen wäre, abgelehnt und in ihrer Stellungnahme zu verhindern versucht.
Nun hat auch die private Fernsehwirtschaft - das ist das zweite Problem - sowohl in der letzten Legislaturperiode massiv Einfluß auf die Arbeit der Filmförderungsanstalt genommen - ich weise darauf hin, daß faktisch in den Jahren 1993 und 1996 kein Beitrag gezahlt worden ist; sie hat der Filmförderungsanstalt ziemlich auf den Nerven herumgetrampelt, um es vorsichtig zu sagen - als auch das Parlament, das sich mehrere Male deutlich geäußert hat, und die anderen Zahlergruppen brüskiert. Ich will das hier deutlich machen und zu Protokoll geben. Deshalb müssen wir auch auf einen Brief hin, der von Herrn Doetz vom VPRT an Herrn Rexrodt geschrieben worden ist und der mir zur Kenntnis gekommen ist, deutlich machen: Der Gesetzgeber ist das Parlament. Wir lassen uns von den privaten Fernsehanbietern nicht erpressen,
wenn es darum geht, das Filmförderungsgesetz auszugestalten. Dabei müssen die Branchen, die an der Filmwirtschaft Anteil haben, insgesamt gesehen werden. Partikularinteressen dürfen nicht in den Vordergrund gerückt werden.
Drittens. Die Videowirtschaft klagt vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Abgabe. Sie fühlt sich übervorteilt, gerade auch gegenüber den privaten Fernsehanbietern. Aber ihr ist der Regierungsentwurf ein paar entscheidende Schritte entgegengekommen: Die Abgabe ist auf 1,8 Prozent gesenkt worden; die Special-interest-Programme sind von der Abgabe ausgenommen worden. Ich finde, dieses Signal sollte die Videowirtschaft aufgreifen.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen, daß wir als Abgeordnete es ausdrücklich begrüßen würden, wenn wir noch vor der Verabschiedung des Filmförderungsgesetzes die Vergleichsverhandlun-
Thomas Krüger
gen zwischen der Filmförderungsanstalt und der Videowirtschaft zur Kenntnis nähmen, um das Verfahren, das dort geführt wird, aus dem Weg zu bringen.
Mit dem Regierungsentwurf ist zwar eine Vielzahl von Hausaufgaben gemacht worden. Aber bestimmte Handlungen sind noch nicht vollzogen, die wir in unserer Ausschußarbeit zu realisieren haben. Ich möchte kurz einige Punkte ansprechen.
Erstens: Wir haben uns über die Frage eines gesetzlich geregelten verbindlichen Rechterückfalls zu verständigen. Es ist heute schon so, daß die Lizenzverträge nur vier Jahre umfassen. Warum versucht die Fernsehwirtschaft, hier sozusagen unverbindlich die Rechte den Vertragspartnern offenzuhalten? Das ist ein wirtschaftspolitisches Problem für diejenigen, die vom Fernsehen Geld bekommen, nämlich die unabhängigen Produzenten. Wir wollen nicht, daß unabhängige Produzenten zu Fernsehproduzenten werden. Deshalb brauchen wir eine solche gesetzliche Regelung des Rechterückfalls nach sechs oder sieben Jahren, auch um eine Eigenkapitalbildung der Produzenten zu fördern.
Zweitens: Stärkung der Absatzförderung. Es geht bei der Stärkung der Absatzförderung darum, daß Marketing und das Plazieren eines Films auf dem Markt ungeheuer viel Geld kosten, manchmal genausoviel wie die Produktion selber. Deshalb müssen wir diesem Bereich der Absatzförderung ein wesentlich größeres Augenmerk widmen. Mit dem Gesetzentwurf wird ein Schritt nach vorne getan. Man kann aber noch weitere Schritte gehen, beispielsweise anregen, daß in den Vertragsverhandlungen zwischen der Filmförderungsanstalt und der Fernsehwirtschaft ein Anteil für die Absatzförderung vorgesehen wird. Ebenso können wir die Absatzförderung bei der Videoabgabe nach § 67 a stärken.
Drittens: Stärkung der Referenzförderung. Wir wollen, daß die Fernsehwirtschaft und die Videowirtschaft nicht ausschließlich Projektfilmförderung machen. Die Referenzfilmförderung hat sich bewährt. Wir regen an, daß sich die Vertragspartner, die Filmförderungsanstalt und die Fernsehwirtschaft, freiwillig darauf verständigen, daß die Referenzfilmförderung neben der Projektförderung genauso stark weitergeführt wird, weil sie für die erfolgreichen Produzenten wichtig ist. Wir wollen nicht sozusagen einfach Projekte finanzieren, die dem einen oder anderen gefallen, sondern wir wollen erfolgreiche Filme fördern. Deshalb ist die Referenzfilmförderung sinnvoll.
Viertens: Wir wollen den Exportgedanken stärken. Das ist sehr schwierig. Aber wir können uns vorstellen, daß die Aufgaben der Exportunion überarbeitet und neu beschrieben werden. Ich denke, wir sollten in der Ausschußarbeit zu einem Entschließungsantrag kommen, der hierfür Impulse gibt und einen politischen Beirat für die Exportunion vorsieht. Ich glaube, daß wir uns darauf verständigen können.
Fünftens: Gremienstruktur. Für meine Begriffe sind die Gremien immer noch zu groß.
Ich will das an dieser Stelle - das steht vielleicht ein bißchen im Gegensatz zu dem, was mein Kollegen Börnsen gesagt hat - anmerken.
Ich halte eigentlich sehr viel von effektiven Gremien.
Es muß nicht jeder Bereich in den Gremien vertreten sein. Die Idee des Filmparlaments trägt nicht unbedingt zur Effizienzsteigerung der deutschen Filmwirtschaft bei. Wenn wir die Gremien schlanker und effizienter gestalten wollen, dann muß das allerdings auch fair passieren, und zwar unter Beteiligung der wichtigen Zahlergruppen und der entsprechenden Kompetenzen. An dieser Stelle geht es bei unseren Beratungen sicherlich um das Haushaltsrecht, das nach dem derzeitigen Vorschlag beim Präsidium liegen soll. Sicherlich geht es auch darum, daß der Gesetzgeber, der nach dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht im Präsidium vertreten ist, berücksichtigt wird.
Wir lassen uns von der Exekutive sehr viele Ratschläge gefallen, aber wir lassen uns nicht sozusagen durch die Hintertür ausbooten. Es gehört jedenfalls einer aus diesem Hause dort hinein, damit die aktuellen Diskussionen fortgeführt werden.
Lassen Sie mich in aller Kürze auf die weiteren Punkte eingehen. Wir wollen, um den kulturpolitischen Gedanken zu unterstützen und zu fördern, die Referenzschwelle bei der Förderung von Kinder-, Jugend- und Dokumentarfilmen auf 25 000 Besucher und vier Jahre festlegen. Gleichzeitig wollen wir bei der Verleihreferenzförderung und der automatischen Vertriebsförderung keinen Zuschuß, sondern bedingt rückzahlbare Darlehen vorsehen. Wir wollen Drehbuch- und Stoffentwicklungen sowie die Weiterbildung geringfügig stärken; denn das sind ebenfalls standortunabhängige Faktoren. Das darf man nicht unterschätzen. Die Qualifizierung in dem Bereich der Filmwirtschaft ist ein Keyfactor, ein Schlüsselfaktor, auch um erfolgreiches Personal im Bereich der Filmwirtschaft zu haben.
In bezug auf die Videowirtschaft sollten wir noch über einen Punkt reden. Leider sind die Kollegen aus dem Justizministerium nicht mehr da. Die Shop-inShop-Geschäfte bei der Videowirtschaft werden derzeit durch das Jugendschutzgesetz behindert. Ich habe mich mit dieser Materie einmal ausführlich beschäftigt. Es besteht in zweierlei Hinsicht ein Problem:
Zum einen wird verhindert, daß Kinder und Jugendliche an Kinder- und Jugendfilme herankommen, weil diese in bestimmte Videotheken gar nicht hereindürfen. Wir müssen etwas für die Griffnähe tun, damit solche guten Kinder- und Familienfilme ihre entsprechende Klientel erreichen.
Zum anderen sind bauliche Standards in Videotheken, die den Jugendschutz wahren, meines Erachtens durchaus möglich. Wir sollten uns hier zusammensetzen und einen Schritt nach vorne gehen.
Thomas Krüger
Meine beiden letzten Punkte: Wir wollen eine Prämienregelung für das Abspielen von Kurzfilmen anregen und einen Prüfauftrag betreffend die weitere betriebswirtschaftliche Struktur der Filmförderungsanstalt erteilen.
Meine Damen und Herren, mit diesen Vorschlägen würde die Filmförderungsanstalt stärker als bisher die standortunabhängigen Faktoren berücksichtigen und dem Anspruch einer Bundesfilmförderung entsprechen. Damit wären wir ein paar Schritte weiter auf dem Weg zu einer Politik der Synergien.
Die Diskussion wird weitergehen, sie wird aber aufmerksam verfolgt werden, weil sie die ordnungspolitischen Grundsteine für einen langfristig erfolgreichen deutschen Film legen wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Börnsen und Herr Kollege Krüger, mit fast allem bin ich einverstanden. Ich möchte allerdings doch noch ein bißchen die Knackpunkte in der wunderschönen Schilderung, die Sie gebracht haben, herausarbeiten.
Ein Knackpunkt ist, daß bei der Beratung und beim weiteren Procedere dieses Gesetzes der Begriff der Rückfallposition seitens der Regierung schon sehr früh in die Diskussion gebracht worden ist. Wer das nicht genau versteht, der muß sich das Procedere einmal ein bißchen näher angucken.
Im vergangenen Sommer tauchte ein Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums auf, der zwar nicht perfekt war, aber doch einige substantielle Verbesserungen für die Filmförderung beinhaltete, so zum Beispiel die Abgabepflicht für Fernsehveranstalter und die Koppelung von Filmförderung und Produzentenrechten. Aber es wäre natürlich zu schön gewesen, wenn wir diesen Referentenentwurf hier auch als Gesetzentwurf gehabt hätten. Es kam nicht so. Vielmehr ist der Bundeswirtschaftsminister natürlich, wie es seine Art ist, wieder in die Knie gegangen.
Alle Verbesserungen sind gestrichen worden.
Jetzt liegt uns ein Gesetzeswerk vor, Herr Börnsen - da habe ich bei Ihnen ein bißchen Klarheit vermißt -, das die Gefahr in sich birgt, daß es mittelfristig nicht zur Förderung beiträgt, sondern sich die ganze Geschichte dadurch erledigen könnte.
Trotz aller Mängel der bisherigen Förderung, die reformierbar ist, war eine Ihrer Grundideen - da stimme ich mit Ihnen überein - sehr reizvoll: Alle Branchen, die am Filmmarkt teilnehmen, sollen die
Förderung finanzieren. Doch weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft war bzw. ist dies gewährleistet. Die Lobby der Fernsehveranstalter, unterstützt von einigen sehr standortgeilen
Landesregierungen - sie sind genannt worden - ,
wird nicht annähernd so herangezogen wie andere Gruppen. Wieder einmal wird ihnen zugestanden, sich freiwillig an der Förderung zu beteiligen, obwohl ihre freiwillige Zahlungsmoral in der Vergangenheit katastrophal war und immer nur gesurft und gedealt worden ist.
Dieses alberne und entwürdigende Spielchen dürfen sie jetzt per Gesetz auf Kosten des deutschen Filmes wiederholen, frei nach dem Motto: Wer sich vertragswidrig verhält, wird dafür auch noch belohnt.
- Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt; ich komme aber gleich noch darauf zurück.
Herr Kollege Schlauch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Nein, ich gestatte sie nicht, weil ich nur noch eine Minute Redezeit habe. - Dieser Kniefall vor den Fernsehsendern genügt noch nicht. Man kommt ihnen noch weiter entgegen, weil man ihnen zugesteht, auch in die Fernsehförderung einzusteigen.
Ich kann nur sagen: Jemand - das ist an Ihre Adresse gerichtet, an eine politische Partei, die immer nur den Mittelstand im Auge hat -, der die Koppelung von Filmförderung und Produzentenrechten und den Rückfall der Rechte aufhebt, wird eine Entwicklung forcieren, durch die genau dieser Mittelstand durch den Rost fällt, sich in der Filmförderung nur noch starke Länder und Großproduzenten durchsetzen und gerade die mittelständischen Produzenten unter den Tisch fallen.
- Herr Börnsen, dann haben Sie selbstverständlich uns alle an Ihrer Seite.
Wenn das kein Koalitionsproblem sein sollte, dann ist zu hoffen, daß wir in der Frage der Koppelung von Filmförderung und Produzentenrechten und des Rückfalls der Rechte sowie in der Frage der Abgabepflicht - einer Pflicht, damit sich die Leute der Abgabe nicht entziehen können - in den Ausschußberatungen noch Verbesserungen erreichen. Den Dominoeffekt - wenn einer ausschert, ziehen alle an-
Rezzo Schlauch
deren nach - haben wir in der Vergangenheit gehabt. Wir sollten ihn für die Zukunft vermeiden.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ina Albowitz, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schlauch, Sie haben wieder meine sämtlichen Vorurteile bestätigt.
Ihre Staatsgläubigkeit ist unglaublich.
Meine Damen und Herren, die deutsche Filmlandschaft - das haben die Kollegen Krüger und Börnsen hier schon dargestellt - hat sich erheblich verändert, seitdem wir vor einigen Jahren über das Filmförderungsgesetz beraten haben. Sie hat sich positiv verändert; das zeigt auch die Berlinale, die gestern eröffnet wurde. Anders als in früheren Jahren liegt der Mangel an deutschen Wettbewerbsfilmen in diesem Jahr nicht in einem Mangel an Kandidaten begründet, sondern darin, daß Filme wie „Comedian Harmonists" oder „Campus" schon vor den Filmfestspielen in die Kinos kamen und zu Kassenknüllern wurden.
Der deutsche Film boomt. Es gibt neue und junge Schauspieler, es gibt neue und junge Produzenten und Hersteller; alle sind außerordentlich selbstbewußt. Das spricht auch aus den Briefen, die ich bekomme. Ich finde das gut. Das Selbstbewußtsein baut nämlich auf Erfolg und Können auf. Deutschland hat da gewaltig aufgeholt. Darüber sollten wir uns alle freuen.
Daran hat auch die Filmförderungsanstalt des Bundes einen kleinen Anteil. Meine Damen und Herren, die Zahlen sprechen für sich: Die FFA hat in diesen Tagen ihren Jahresbericht für 1997 vorgelegt und auf die Zahlen hingewiesen. 143 Millionen Menschen gingen im vergangenen Jahr in die Lichtbildtheater. Das bescherte ihnen eine Umsatzsteigerung von 12 Prozent auf 1,5 Milliarden DM. Um knapp 3 Millionen stieg 1997 die Zahl der für deutsche Filme verkauften Eintrittskarten. Insgesamt haben sich 24 Millionen Besucher im Kino einen deutschen Film angesehen. Diese Zahlen sprechen für sich, aber auch für das differenzierte Förderungsmodell der FFA. Die heimischen Produktionen konnten sich gegenüber der ausländischen Konkurrenz immerhin einen Marktanteil von über 17 Prozent erobern.
Im Gegensatz zum Kollegen Schlauch halte ich den vorgelegten Gesetzentwurf für richtungsweisend.
Die traditionelle Filmförderung wird fortgesetzt. Aber gleichzeitig haben wir den Einstieg in die Förderung von Fernsehfilmen gewagt und damit ihrer ständig wachsenden Bedeutung für die gesamte Produktionsbranche und den dazu gehörenden Arbeitsmarkt Rechnung getragen.
Aber ich sage auch in aller Deutlichkeit: Wir leben in einer Mediengesellschaft, die alle Bereiche unseres Lebens beeinflußt und die auch die Filmbranche verändert hat. Ich weise deswegen die Vorwürfe der Filmhersteller zurück. Nicht die Politik verschärft die Probleme der Mediengesellschaft, meine Damen und Herren, sondern Teile der Filmbranche. Wer sich heute noch wie ein Dinosaurier gebärdet und meint, staatlich errichtete Schutzzäune und Subventionsbiotope könnten vor Wettbewerb und Weiterentwicklung bewahren, hat die Zeichen der Zeit nicht begriffen.
Hier wird für niemanden die Uhr angehalten.
Auch für die F.D.P. ist klar: Alle, die den deutschen Film nutzen, sollen auch ihren Beitrag zu seiner Unterstützung leisten. Es stellt sich nur die Frage - hier gibt es wirklich einen Unterschied, Herr Kollege -: Muß das immer unter Zwang geschehen, wenn es andere Wege gibt?
Wir haben erreicht, daß sich die Fernsehanbieter jetzt freiwillig an der Finanzierung der Filmförderungsanstalt beteiligen. Wir erwarten - die Fernsehanstalten wissen das auch -, daß vor der Verabschiedung des Gesetzes der unterschriebene Vertrag vorliegt.
Etwa 3 Prozent der Mittel aus dem Filmförderungsgesetz fließen in die Förderung von fernsehgeeigneten Filmen. Dabei geht es nicht um Serien oder Billigproduktionen, sondern um hochwertige Filme, die im Fernsehen laufen, aber auch im Kino gezeigt werden können. Die Filmwirtschaft hat also wirklich keinen Grund zur Klage. 50 Prozent der Mittel fließen in die Filmproduktionsförderung. Auch die übrigen 47 Prozent kommen in erster Linie dem Film, seinem Verleih und seinem Export zugute.
Ein weiterer strittiger Punkt ist die Regelung des Rückfalls der Fernsehrechte. Ich bin ziemlich sicher - auch nach den Gesprächen, die ich inzwischen geführt habe und die wir auch miteinander geführt haben -, daß wir in den Ausschußberatungen zu einer für alle akzeptablen Lösung kommen werden.
Ina Albowitz
Es ging uns auch um eine Verbesserung der Strukturen der Filmförderungsanstalt. Das heißt aber nicht, Präsidium: kleiner, Verwaltungsrat: größer; vielmehr ist hier Verschlankung angesagt. Ich könnte mir eine andere Variante vorstellen. Ich denke, die werden wir auch so beraten.
Wir wollen im übrigen die Stellung der Produzenten stärken und damit langfristig den Weg zur Hilfe durch Selbsthilfe weisen.
Staatliche Eingriffe und Subventionen können nach Auffassung der F.D.P. den deutschen Film auf Dauer nicht am Leben halten. Er muß sich selbst so organisieren, daß er wettbewerbsfähig wird und bleibt. Da bei werden auch wir ihm gerne helfen. Ich bin sicher, daß wir uns hier gemeinsam auf eine neue FFG- Novelle einigen werden.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich am Ende der ersten Lesung der Novelle zum Filmförderungsgesetz hier - mit Einschränkungen beim Kollegen Schlauch -
eine breite Übereinstimmung in dem Wunsch feststellen zu können, noch in dieser Legislaturperiode zu einer Novellierung des Filmförderungsgesetzes zu kommen. Damit kann auch die wirtschaftliche Filmförderung des Bundes in Gestalt der Filmförderungsanstalt mit einem Fördervolumen von zirka 70 bis 80 Millionen DM fortgesetzt werden. Es wäre auch wirklich widersinnig, wenn der Bundesregierung und dem Bundesministerium für Wirtschaft die wirtschaftliche Filmförderung des Bundes aus der Hand geschlagen würde und wir uns in Zukunft nur noch auf die einzelnen Filmförderungen der Länder beschränken würden und beschränken müßten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Filmförderungsgesetz soll dazu beitragen, den Film- und Medienstandort Deutschland zu verbessern und die deutschen Filmproduzenten und die deutsche Filmwirtschaft insgesamt zur Produktion erfolgreicher Filme anzuspornen.Das Filmförderungsgesetz ist ein Abgabengesetz. Es bedarf daher auf der Aufkommensseite des angemessenen Beitrags aller Gruppen, die den Film nutzen, und auf der Ausgabenseite der gruppennützigen Verwendung der Beiträge für den deutschen Film. Die Art und die Höhe des Beitrags der einzelnen Gruppen waren deshalb - das ist auch heute zumindest in Ansätzen deutlich geworden - der strittigste Teil der Novelle zum Filmförderungsgesetz.Die Bundesregierung hat sich in erster Linie mit Rücksicht auf die föderalistische Struktur unserer Bundesrepublik dafür entschieden, von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und den privaten Fernsehanbietern in Form eines Abkommens mit der Filmförderungsanstalt einen freiwilligen Beitrag zu fordern, bei der Film- und Videowirtschaft hingegen eine Abgabe zu erheben. Eine solche Differenzierung können der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung vornehmen. Die freiwilligen Beiträge müssen dabei das Kriterium der Angemessenheit erfüllen.Bisher liegen - dafür ist den privaten Fernsehanbietern und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu danken - unterschriftsreife Abkommen mit jährlichen Beiträgen in Höhe von 10 Millionen DM vor.
- Ich gehe davon aus, Frau Kollegin Albowitz, daß es dazu noch weitere Gespräche geben wird. Der Bundestag hatte sich zur Höhe bereits geäußert.Ich denke, daß es am Schluß eine Einigung geben wird und daß das Filmförderungsgesetz, das eine ganze Reihe von Strukturverbesserungen für die deutschen Filmproduzenten und für die Fernsehsender mit sich bringt, an dieser Frage nicht scheitern wird.Ich appelliere auch an die deutsche Videowirtschaft, die durch den Entwurf der Novelle zum Filmförderungsgesetz teilweise entlastet wird - der Kollege Krüger hat das hier auch schon ausgeführt -, ihren Widerstand gegen eine gesetzliche Abgabe aufzugeben und in Zukunft die gesetzlich geschuldeten Beiträge zu leisten.
- Ich hätte fast gesagt: Stellen Sie eine Zwischenfrage. Aber ich bin praktisch am Ende meiner Rede
und auch kein Masochist, Herr Kollege Tauss, daß ich um viertel vor zehn abends unbedingt noch auf das Stellen einer Zwischenfrage bestehe.Auf der Ausgabenseite sehe ich nur noch wenige offene Fragen: die Frage der Förderung von fernsehgeeigneten Filmen, die Frage des Rückfalls der Rechte an den Produzenten, die Besetzung des Präsidiums, des Verwaltungsrates, der Vergabekommission. Das sind alles Fragen, bei denen es nach meiner Überzeugung durchaus zu einer baldigen Einigung kommen kann. Deswegen, liebe Kolleginnen und
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Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. Februar 1998 20059
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. KolbKollegen, hoffe ich auf eine zügige und möglichst einvernehmliche Beratung der Novelle zum Filmförderungsgesetz und eine baldige Verabschiedung des Gesetzentwurfes in diesem Hohen Haus.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.*) - Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/9695 und 13/8907 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt , Gila Altmann (Aurich), Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancengleichheit für die Schiene: Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen gegenüber anderen Verkehrsträgern
- Drucksache 13/9665 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell war vereinbart worden, für die Aussprache eine halbe Stunde vorzusehen. Ich höre aber, daß alle Redner ihre Beiträge zu Protokoll gegeben haben. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Dr. Dionys Jobst, CDU/CSU, Monika Ganseforth, SPD, Albert Schmidt , Bündnis 90/Die Grünen, Horst Friedrich, F.D.P., und Dr. Winfried Wolf, PDS.**) Ich gehe davon aus, daß das Haus mit diesem Verfahren einverstanden ist.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/9665 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
*) Anlage 4 **) Anlage 5
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e sowie den Zusatzpunkt 9 auf:
13. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Wohnungsmietrechts
- Drucksache 13/8778 - Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe
- Drucksache 13/9692-
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Gestaltung des Dritten Titels Miete, Pacht im Siebenten Abschnitt des Zweiten Buchs des BGB als Konsequenz aus der Reform des Wohnungsmietrechts
- Drucksache 13/8779 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick, Dr. Uwe-Jens Heuer und der Gruppe der PDS
Ausarbeitung eines Mietspiegelgesetzes
- Drucksache 13/8780 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Andrea Fischer , Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Änderung der Wohngeldverordnung zur Neueinstufung Berlins in Mietenstufe IV
- Drucksache 13/9664 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Helmut Wilhelm und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unbefristete Verlängerung der 20 %-Kappungsgrenze für ältere Wohnungen
- Drucksache 13/9836 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort für die Gruppe der PDS hat der Kollege Klaus-Jürgen Warnick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausgangssituation müßte eigentlich optimistisch stimmen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien sind sich darin einig, daß das Mietrecht so kompliziert ist, daß wirklich nur noch wenige hochspezialisierte und ausgefuchste Fachjuristen voll durchsehen. Das Nachsehen haben Mieter und Vermieter gleichermaßen.
Ein einfaches und auch für „normale" Menschen überschaubares Mietrecht ist deshalb schon lange überfällig. Bei der Verwirklichung dieses Ziels ist die Situation aber ziemlich paradox. Die Regierungsparteien setzten sich in ihrer eigenen Koalitionsvereinbarung im Herbst 1994 das Ziel, bis zum Ende der Legislaturperiode ein neues Mietrecht zu verabschieden. Zigfach wurde dieser Entwurf immer wieder großspurig angekündigt.
Nun, wo die Wahlen unmittelbar vor der Tür stehen, ist die Koalition nicht in der Lage, das fertige Papier einzubringen. Das macht auch Sinn. Denn welcher Politiker verkündet schon gerne vor Wahlen unangenehme Gesetze, zumal sie, wie hier beim Mietrecht, einen sehr großen Teil der Bevölkerung treffen? Aber den Mieterinnen und Mietern kann ich mit Blick auf eine eventuelle Wiederwahl der jetzigen Parteienkoalition nur warnend sagen: Aufgehoben ist nicht aufgeschoben. Oder frei nach Wilhelm Busch: Aber wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.
Denn daß bei einem Wahlsieg des Bundeskanzlers und seiner politischen Freunde solche und andere unangenehme Gesetzesentwürfe sofort wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden, kann sich jeder und jede an zehn Fingern abzählen.
Die PDS hat sich zu Beginn der Legislaturperiode ebenfalls vorgenommen, einen Entwurf für ein neues Mietrecht einzubringen. Im Gegensatz zur Regierungskoalition hat sie ihre selbstgestellte Hausaufgabe gemacht. Daß wir diese Aufgabe - unabhängig von der politischen Einschätzung - fachlich in hoher Qualität gelöst haben, bestätigen uns neben Fachverbänden selbst politische Gegner.
Wir zeigen auf, daß eine Vereinfachung nicht wie bei den Regierungsvorschlägen zwingend mit einer Verschlechterung der Rechte von Mieterinnen und Mietern verbunden sein muß, sondern auch mit mehr Demokratisierung und größerer sozialer Gerechtigkeit verbunden sein kann.
Der vorgeschlagene Gesetzentwurf läßt sich ohne Probleme als selbständiger Abschnitt „Miete" kompatibel ins BGB einfügen. Mehr Transparenz und Verständlichkeit sollen den Normalverbraucher dabei in die Lage versetzen, sich auch ohne juristische Vollausbildung im Paragraphengestrüpp zurechtzufinden. Wir treten für einen wirklich ausgewogenen Interessenausgleich von Mietern und Vermietern ein. Der Gesetzentwurf ist von dem Grundsatz geprägt, daß Wohnen ein Menschenrecht und die Wohnung für die Menschen mehr als nur eine x-beliebige Ware ist.
Deshalb sind Regelungen zum Mietpreisrecht enthalten, die als Grundlage für die dauerhafte Sicherung tragbarer Mieten deutliche Schranken gegen unangemessene Mieterhöhungen setzen. Die Miethöhe soll sich ausschließlich nach dem Wohnwert einer Wohnung und nicht nach willkürlichen und zufälligen Komponenten der Mietpreisentwicklung richten, also nach dem Grundsatz „Gleiche Miete für vergleichbare Wohnungen" und nicht danach, wann die betreffende Wohnung zufällig modernisiert wurde oder wie oft sie ihren Besitzer gewechselt hat.
Mieterhöhungen bei Wiedervermietung sollen ausgeschlossen werden. Die unheilvolle Entwicklung, daß die Mieten der letzten Jahrzehnte immer schneller als Einkommen, Löhne, Gehälter und andere Lebenshaltungskosten gestiegen sind, muß beendet werden.
Wenn sich die Mietenentwicklung zukünftig grundsätzlich am Sinken oder Steigen des Lebenshaltungskostenindexes orientieren müßte, wäre der unheilvolle Kreislauf der kontinuierlichen Aufwärtsspirale von Mieten durchbrochen.
Die Lösung kann auch nicht darin liegen, unter Verweis auf weiter steigende Mieten noch forcierter Wohneigentum zu fördern. Statt dessen muß das Mietrecht neben anderen wohnungspolitischen Instrumenten seinen Beitrag dazu leisten, daß die Mieten bezahlbar bleiben. Unser Entwurf fordert deshalb mehr Mietgerechtigkeit.
Um den aktuellen Wohnwert einer Wohnung für Vermieter wie Mieter zuverlässiger bestimmen zu können, ist die Erstellung von wohnwertbezogenen Mietspiegeln von großer Bedeutung. Die diesbezüglichen bisherigen Regelungen im Miethöhegesetz kranken an mehreren Mängeln. Die Aufstellung von Mietspiegeln ist nicht verbindlich. Es ist nicht geregelt, unter welcher Mitwirkung und nach welcher Methode sie zu erstellen sind oder wer die Kosten dafür übernehmen muß. Obendrein sind die mühsam erstellten Tabellen heute noch nicht einmal rechtsverbindlich. Diesem Fehler wollen wir mit dem eingebrachten Antrag zur Ausarbeitung eines Mietspiegelgesetzes begegnen.
Partnerinnen und Partner von Lebensgemeinschaften sollen im Mietrecht endlich gleichberechtigt behandelt werden.
Klaus-Jürgen Warnick
Völlig neu sind die verbindlichen Regelungen zur Mietermitbestimmung. Dies betrifft auch Regelungen zum Wohnungstausch, der zukünftig einfacher und ohne größeren Verlust von finanziellen und rechtlichen Positionen möglich sein soll.
Damit vor allem die sozial Schwächeren und Benachteiligten dieser Gesellschaft einen stärkeren Schutz erhalten, soll der Kündigungsschutz, vor allem für ältere Menschen über 70 Jahre, für Schwangere, Alleinerziehende, Kinderreiche und Menschen mit schweren Behinderungen, verstärkt werden. Die unmenschliche Räumung auf die Straße darf nicht mehr statthaft sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Diskussion in den Fachausschüssen werden wir sehen, ob unsere Vorschläge im Interesse der betroffenen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen oder, wie so oft, mit billiger Polemik gegen die PDS ignoriert werden.
Der Vorschlag der SPD zur Beibehaltung der 20 prozentigen Kappungsgrenze bei Wohnungen, die vor 1981 fertiggestellt worden sind und deren Quadratmeterpreis über 8 DM liegt, ist zwar als kleine Notmaßnahme zu begrüßen, aber für die große Volks- und selbsternannte Mieterpartei im Vergleich zu unserer Vorlage ziemlich dürftig.
Ich danke Ihnen.
Die weiteren Redner in dieser Debatte geben ihre Beiträge zu Protokoll. Es handelt sich um Dr. Dietrich Mahlo von der CDU/CSU, Iris Gleicke von der SPD, Helmut Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen und Hildebrecht Braun (Augsburg) von der F.D.P. sowie für die Bundesregierung den Parlamentarischen Staatssekretär Rainer Funke.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden ist. - Das ist so. Dann schließe ich die Aussprache.
*) Anlage 6
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/8778, 13/9692, 13/8779, 13/ 8780, 13/9664 und 13/9836 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung
- Drucksache 13/9817 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
Es war eine halbe Stunde für die Debatte vorgesehen. Ich höre aber, daß auch hier die vorgesehenen Redner ihre Beiträge zu Protokoll geben. Es handelt sich dabei um die folgenden Kolleginnen und Kollegen: Hans Raidel, CDU/CSU, Volker Kröning, SPD, Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Olaf Feldmann, F.D.P., Steffen Tippach, PDS, und für die Bundesregierung Staatsminister Helmut Schäfer.*) Ich gehe davon aus, daß das Haus einverstanden ist. - Kein Widerspruch. Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/9817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.